Sophie von La Roche
Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**
Von der Verfasserin des
Fräuleins von Sternheim

Erster Theil

Vorbericht des Herausgebers

Diese Briefe, die ich hier besonders Leserinnen gedruckt vorlege, bedürfen keiner Empfehlung; und wenn sie einer bedürften, wäre ich, wie ich mich sehr gerne bescheide, der Mann nicht, der ihnen diesen Dienst leisten könnte. Denn außerdem, daß ich, in der litterarischen und übrigen feinen Welt gleich unbekannter Alte kein Gewicht haben möchte, käme ich auch zu spät, da schon verschiedene dieser Briefe in der Iris gedruckt stehen.

[4] Also nur ein Paar Worte über diese Ausgabe in Gestalt eines ordentlichen Büchleins für sich selbst: –

Der oft unwahre Fürwand, »man hat mich ersucht, drucken zu lassen« ist hier nicht nur völlig wahr, sondern es wird sogar auch, da die Veranlassung zu diesem Ersuchen in der Iris zu Tage liegt, nicht einmal unwahrscheinlich seyn, daß verschiedene gute Frauenzimmer, von manchen Orten her, die Verfasserinn ersucht haben. – Ob außer mir Alten auch viele junge Mannspersonen? weiß ich nicht; sollte es aber fast nicht glauben, weil mir es scheint, als müßten viele darunter es fühlen, daß die Verfasserinn ihnen ihre[4] Puppen zu verderben und zu verschließen Willens ist.

Also hätte die natürliche Neigung der Frau Verfasserinn, ihre junge Schwestern zu verbinden, schon den Entschluß, »drucken zu lassen,« erzeugen und rechtfertigen können. Es kam aber noch eine Ursach hinzu. – Ich sagte diese gerne, weil sie so gut ist, als – – aber, wer würde nicht glauben, daß zwischen der Verfasserinn und dem Herausgeber eine Verbindung sey? Und, Gottlob! sag' ich, es ist eine da; aber sie hat keine Lobrednerey zum Zwecke.

Vielleicht wundert es einige Leser, warum ich Unbekannter die Ausgabe [5] besorge, und weder ihr Ehegemahl, noch der Herausgeber der Sternheim, noch der Iris, oder sonst jemand von ihren bekannten würdigen Freunden? Wenn ich noch jung wäre, könnte die nicht unerlaubte Absicht dabey Statt gefunden haben, mich bekannt zu machen; so aber, ist die Ursach blos diese: vorgedachte Männer sind jeder mit eignen, für das Publikum mehr oder minder nützlichen Unternehmungen beschäftigt, und ich Müssiggänger, in Vergleichung mit ihnen, konnte die männlichen Verrichtungen bey Besorgung des Drucks besser abwarten; deswegen bat ich darum, und erhielt meine Bitte.

Daß ich (in allem Ernste! ohne Vorbewußt meiner Freundinn,) auf den [6] Titel gesetzt: »Von der Verfasserinn des Fräuleins von Sternheim,« hoffe ich dey. Ihr dadurch zu entschuldigen, daß das schon in den letzten Bänden der Iris gesagt worden ist; denn sonst denke ich über diesen Stempel eben so, wie sie selbst.

Also bloße Nachricht (denn es soll weder Drohung noch Schmeicheley für Leser und Leserinnen seyn, da mirs vorkommt, als sagte ich dies hiermit im Namen meiner edlen Freundinn,) füge ich hinzu, daß ich noch Vorrath an Handschrift zur Fortsetzung besitze, und es nunmehr bey den Leserinnen hauptsächlich steht, wie bald sie den Verleger, Herrn Richter, zum Druck des [7] folgenden Bandes bereden, und dadurch die hier ungesagte gute Absicht der Verfasserinn befördern helfen wollen.


W–r, den 26sten März, 1779.

B**.

1. Brief
Erster Brief

Lassen Sie mich, meine geliebte, so lang gewünschte Freundin, einige Thränen über mein Schicksal weinen, das mich von Ihnen entfernt, und alle die süsse Freuden zerstört, die mir ihre Güte und Ihr Geist wechselsweise schenkten. Was ist Leben, Glück und Wissen, wenn sie nicht von antheilnehmender Liebe und Freundschaft mit genossen werden! – Wie lange wartete mein Herz auf diese irrdische Seligkeit! – Ihr feiner aufgeklärter Geist, Ihre edle, liebreiche Seele, haben mir solche in vollem Maaß gegeben. – [1] Sie erforschten mich, und da sie sahen, daß mein Herz gut ist, und mein Kopf denken und fassen kann, so waren Sie zufrieden, ohne zu fodern und zu hoffen, daß ich fehlerlos seyn sollte. – Ihre Gesinnungen waren zärtlich, Ihre Hochachtung aufrichtig, ohne den hohen Grad Schwärmerey, aus welchem die Unverträglichkeit entspringt. Sie sind das zweyte wahre Geschenk des Himmels, das mir zu Theil wurde; denn nachdem ich ein Herz voll Gefühl des Edlen und Guten erhalten hatte, so fehlte mir noch ein anderes, auch dessen Zeugniß ich mich stützen konnte. Ihre moralische Seele war mein zweites Gewissen, Ihr geübter Geist die Bewährung des meinigen. Ihnen ist weder die Lebhaftigkeit meines Kopfs, noch die überfliessende Empfindsamkeit meines Herzens jemals anstößig gewesen. –

Bey Ihnen, meine Mariane, kann ich mich der süssen Empfindung, jemand imhöchsten Grad hochzuachten, ohne Sorge überlassen; die Eigenschaften Ihres Geistes und Herzens versichern mich daß ich durch Sie den Schmerzen niemals fühlen werde, diese Gesinnungen [2] zurück zu nehmen. Ihre Bekanntschaft, Ihr Umgang war für meine Seele das; was ein heiterer Himmel, reine Luft und freye Aussicht in eine fruchtbare Gegend, einem Menschen ist, der lange verbannt war, eine niedrige Hütte, in einem sumpfigen mit unangebauten Bergen umgebenen Thale, zu bewohnen. Manchmal sah er einzelne schöne Büsche auf einer Ecke des Gebürgs. Mit Begierde und Freude stieg er dazu, an dem Geruch ihrer Blumen und ihrer schönen Gestalt sich zu ergötzen; aber häufige versteckte Dornen verletzten ihn; der lockere, wenige Sand, in dem der Busch stund, wich unter seinen Füssen; er wankte und beschädigte sich noch an umliegenden Felsstücken. Traurig kam er in seine Hütte zurück, und versuchte dann wieder einmal in trockenen Tagen, ein nah' an dem Felsen liegendes Stück grünen Rasen zu betreten. Der Gedanke, der so wohlthätigen Graspflanze gab ihm Zuversicht. Aber es deckte einen trügerischen Haufen von Schlamm, und er hatte Mühe, sich vor dem Sinken zu retten. Niedergeschlagen über die vergeblichen Versuche, blieb er in dem Kämmerchen seiner Hütte, und überdachte das [3] Glück derer, die auf einer schönen Anhöhe, mit Weingärten, Wiesen und Feldern umgeben, wohnen, und mit jedem Blick Freude fühlen. Nachdem aber ein Geschick ihn auch dahin rufte, ist gewiß jeder Athemzug Dank zu der gütigen Vorsicht. – Wie oft zog mich bey meinen ehmaligen Bekannten der schöne Schein von Sanftmuth und Güte! – wie sehr trogen und verwundeten sie mich! – Wie grundlos fand ich ein andermal die schönsten Anzeigen von Stärke und Edelmüthigkeit der Seele! – Nun reise ich mit meinem Oheim. Die Pflichten, welche ihm aufgegeben sind, und die Absichten seines Herumwanderns, führen ihn in verschiedene Gegenden. In einigen werden wir uns lange aufhalten; da will ich, während mein Oheim politische Beobachtungen sammlet, auf meiner Seite suchen jede thätige Tugend zu bemerken, welche ich in dem Laufe meiner Reise ansichtig werden kann. Darüber will ich Ihnen schreiben, und Sie können, nach Ihrer Lieblingsgewohnheit, und des Herrn Hume Anweisung zufolge, das Maaß meiner moralischen Kräfte nach dem Grade sympathetischer Bewegung berechnen, welche die Betrachtung übender Tugend in [4] mir hervorbringen wird; denn Sie pflegten so gern den Umfang eines öden oder angebauten Kopfs zu bestimmen, je nachdem Sie sein Vergnügen und Aufmerksamkeit bey den Unterredungen der Vernunft und Wissenschaften stark oder schwach sahen. In diesem Felde hoffe ich Nutzen für meinen Geist zu sammlen. Sie werden alles, auch den leisesten Gedanken, zu lesen bekommen, und mich also auf allen Seiten kennen lernen. – Denn, meins Mariane, meine Seele ist bey Ihnen, mit Ihnen allein redet sie durch mein Vertrauen, und in meinen Briefen mit andern redet meine Achtung, meine Höflichkeit, welches Abgaben und Anforderungen sind, die ich niemand versagen werde. – Aber Sie, meine Freundinn, Sie allein haben die besten Gesinnungen des Herzens

Ihrer

Rosalia. [5]

2. Brief
Zweyter Brief

Sie haben Recht, meine Freundinn. Sie haben Recht, wenn Sie mir sagen, daß der beste Trost, den ich jemals gegen die Schmerzen einer geraubten Freuds, oder eines mißlungenen Wunsches finden könne, in dem Gedanken der Erfüllung meiner Pflichten liege, und daß eine edle gefühlvolle Seele das Maaß dieser Pflichten in der Gewalt finde, die ihr zum Wohlthun gegeben worden. Ich sehe, daß meine Gesellschaft ein wahres Vergnügen für meinen theuren Oheim ist; und ich werde davon am meisten in den Stunden überzeugt, wo er sein Tagebuch mit mir durchlieset. – Er ist so gut, daß ihn mein Beyfall freuet. – Meine Sorgfalt für seine Gesundheit, das kleine Stück Munterkeit und Talente meines Geistes, meine Liebe für ihn, nennt er die Freude seines Lebens; und wenn er mir dieses sagt, so liebe ich den Entschluß mit ihm zu reisen, und fühl selbst die Entfernung von meiner Freundinn Mariane nicht mehr mit so viel Bitterkeit – denn es ist mir [6] süß, sehr süß, die Freude des Lebens eines rechtschaffenen Mannes zu seyn, und es in meiner Gewalt zu haben, Gaben des Glücks, die ich von meinem zwölften Jahre an von meinem Oheim genoß, mit Wohlthaten des Herzens zu belohnen! – Dennoch, meine Mariane, fühle ich, daß dieser Trost über die verlohrne Freuden Ihres Umgangs nicht so wirksam seyn würde, wenn ich die Erreichung meiner Absicht nicht vor mir sähe. – Ich erinnere mich hier, daß Sie einst sagten: »Nahes Glück reitzt und treibt zu Ausübung vieles Guten, so wie allein die gerade neben uns liegende Strafe vom Bösen zurück hält; denn wenn die in der weiten Zukunft ruhende Freude oder Elend viel Gewalt über uns hätten, so geschähe mehr Gutes; und weniger Böses.« – Ich wünsche würklich, daß die Idee von Belohnung bey der Kinderzucht mehr gebraucht werden möchte als die von Strafe, weil dabey der Geber und die Zusehende zugleich als Zeugen unsers Wohlverhaltens erscheinen, als solche geliebt werden, und natürlicherweise die Begierde entsteht, ihnen immer gefällig zu seyn. So, wie man im Gegentheil die Zeugen seiner [7] Fehler und seiner Strafen haßt, und oft aus der Begierde sich in rächen, die Fehler behält, die dem Vorgesetzten und andern am meisten Mißvergnügen geben. Die Menschen sind gewiß, im Ganzen genommen, viel edler und besser, als man glaubt. – Ich bin diese angenehme Ueberzeugung dem Nachdenken schuldig, mit welchem ich bemerkte, daß sich die schönsten jungen Leute so gern zum Krieg werben liessen, und sich dem Tode dadurch eher weihten, als die Natur es gefodert hätte. – Und meistens ist es die Versicherung des Lohns der Ehre, des Vorzugs, des Ruhms, der Tapferkeit, des Antheils an der Vertheidigung der gerechten Sache, die so viele Tausende ihrem sichern Tode entgegen führet. Mein Herz ist ganz gewiß, daß ein Fürst, der das Maaß der Strafen und Unkosten, die damit verbunden sind, in ein Maaß Wohlthat und Belohnung für den guten und arbeitsamen Bewohner seiner Staaten verwandelte, vielleicht in kurzer Zeit meistens lauter gute Unterthanen haben würde. Denn die Bande der Liebe ziehen die Herzen vester an, als die Ketten der Furcht. Sie hörten mich einst behaupten, daß die gelinde [8] Todesstrafe, mit welcher in England die Strassenräuber beleget werden, die gewisse Ursache bey, warum diese Art Bösewichter eine Gattung Großmuth unter ihre Uebelthaten mische, indem sie selten morden, und noch seltener einen Reisenden ganz ausplündern, sondern, nach Berechnung seines Weges, ihm lassen, was er nöthig hat. Dahingegen die schreckliche Strafe des Radbrechens in Frankreich die Summa der Diebstähle und Mordthaten nicht verminderte. – Aber, meine Mariane, wo komme ich hin! Die Stärke dieser Betrachtung giebt meinem Briefe einen harten Ton, unter dem nur Sie die sanfte Stimme einer bewegten Menschenliebe hören werden, welche sagt, daß, wenn wir das Gepräge der Glückseligkeit nicht auf den Ueberfluß des Reichthums und der Wollüste gelegt hätten, so würde man weniger Leidende und weniger Uebelthäter sehn. –

Rosalia. [9]

3. Brief
Dritter Brief

Ich schreibe Ihnen, meine Mariane, von einem schönen Dorfe, das auf einer kleinen Anhöhe liegt, die mir das Glück schaft, aus dem Fenster, wo ich sitze, eine Reihe der majestätischen Schweitzergebürge zu sehen. Die untergehende Sonne färbt sie Blau und Rosenroth, mit grossen Stücken Glanzsilber dazwischen. Meine Seele fühlt mit innigem Vergnügen die Grösse der Allmacht meines Schöpfers. Es freut mich, mein Daseyn aus der nehmlichen Hand erhalten zu haben! und es ist Ueberzeugung in mir, daß auch ich die Fähigkeit zu großen und edlen Handlungen in mir habe. – Ach, warum sind Sie nicht in diesem Augenblicke bey mir! Warum sieht das geistreiche Auge meiner Mariane diese schöne Gegenstände nicht mit mir! – Ihre Gegenwart würde meine Freude erhöhen; meine Blicke begegneten den Ihren; Sie kennten den Werth der Thräne, die in meinem zum Himmel erhabenen Auge schwimmt! – Meine, mit Bewunderung des Schöpfers gefalteten [10] Hände, die ich einsam an meine Brust drücke, würden Sie, beste Freundinn, und mit Ihnen Ihre tugendvolle Seele umarmen. Sie theilten das selige Gefühl des Lebens und der Anbetung unsers Schöpfers mit mir, und, auf Ihre Brust gelehnt, dankte ich ihm für Sie, für jede Tugend Ihres Herzens, und für die Schönheit Ihres Geistes! Denn, meine Mariane, ich könnte, ich bekenne es, ich könnte Sie nicht lieben, wie ich Sie liebe, wenn Sie nicht so viel Geist und Kenntnisse hätten, als Sie haben. – Aber, meine Freundinn, wenn die Stärke meiner Empfindungen bey dem nähern Anblick dieser Berge zunimmt: so bin ich begierig, wie ich sie ausdrücken werde! – Bald, meine Mariane, bald kann ich dieses wissen; denn wir gehen diese Stunde noch weiter, und mein Oheim sagte mir, da ich die Angst vor dem Nachtreisen verrieth, daß ich ohne Kummer seyn könne, weil während der Erndtezeit das Feld voller Bauersleute wäre, die wegen der Tageshitze des Nachts durch das Korn schnitten, und man also ganz sicher seyn könne. –

[11] Aus dem schönen St**. Dorfe W**.

Wie angenehm, meine Mariane, wie sehr angenehm war mir der Schutz meines Lebens aus der redlichen Hand der Arbeitsamkeit! Ruhig, unbesorgt, setzten wir unsern Weg fort, weil wir unter der Obhut der Tugend und des Fleisses waren. Mit dankbarer Liebe und mit Segen sah' ich die Schnitter an, und dachte: so schaffen übende Tugenden die Menschen wechselsweise zu Schutzgeistern des Glücks und der Freude ihres Nächsten; so, wie man vom Laster sagen kann, daß es seine Untergebene durch Verführen und Quälen der Guten zu Satans macht. –

Wir kamen den andern Tag sehr frühzeitig hieher, wo mein Oheim mit dem Oberbeamten des Grafen von St**. etwas zu bereden hatte. Wir wurden zur Tafel geladen, und erhielten die schmeichelhaftesten Höflichkeitsbezeugungen. Es war mir lieb, daß Nachmittags der Graf mit so vieler Aufmerksamkeit den ernsthaften Geschäftshandlungen beywohnte, weil ich dadurch das Glück hatte, um [12] seine Gemahlinn zu seyn, die eine liebenswürdige und verdienstvolle Dame ist, von deren angebauten Geist, Gottesfurcht, angenehmen Umgang und jeder Geschicklichkeit, die eine Frauenzimmerhand beseelen kann, ich schon lange hatte reden hören. Ich fand sie edel, natürlich, ohne das geringste Gepränge, weder auf ihren Stand noch ihre Talents. Die ungemein schöne Ordnung des Hauses zeugt von ihrer Einsicht in Wirthschaftssachen, und ihre zwey ganz vortreflich erzogene Söhne beweisen die feine Wahl, die man in den Fähigkeiten ihrer Lehrmeister gemacht hatte. Es freute mich, diese würdige Frau als eine so glückliche Mutter zu sehn, indem sie Geist, Talente und Character in ihren Kindern blühen sieht. Gerne hätte ich ihr meine besondere Verehrung und Liebe bewiesen, aber die Umstände hinderten mich, sie auszudrücken, und gewiß hätten sie auch ihre Empfindungen zurück gehalten. Ich wünschte ihr im Grunde meiner Seele jede Glückseligkeit ihres Ranges und fühle Zufriedenheit, diese meine wahre Gesinnungen bey Ihnen, meine Mariane, die mich kennt, so ganz ungekünstelt auszudrücken. Bey Ihnen haben weder Umstände [13] noch Personen die Gewalt, einen Nebel oder Rauch um mich zu ziehen, die meine wahre Gestalt undenklich machen würden! – Das Schloß W**. liegt auf einem Halbberg, möchte ich sagen, und gewiß, nach der Einrichtung der Zimmer, Eintheilung des Gartens und der Felder umher, kann man sagen, daß es einer der schönsten Edelmannssitze in ganz Deutschland sey. Uebermorgen Abend hoffe ich in einer Schweißerischen Gränzstadt zu schlafen. Da werde ich Freyheit und Vaterlandsliebe träumen.

Rosalia. [14]

4. Brief
Vierter Brief

Vorgestern Abend konnte ich nichts als ein kleines Zetteichen an Sie schreiben, weil die Post und mein Oheim mir die Zeit vorsagten, wo ich fertig seyn mußte. Gestern aber machten wir schon verschiedene Bekanntschaften, die meinem Oheim bey seinen Aufträgen nöthig seyn werden. Von all diesen Leuten aber habe ich nichts, als die Gesichter und den Ton der Stimme kennen gelernt, weil, wie Sie wissen, Anfangs der angekommene Fremdling sich nur zu einer freundschaftlichen Aufnahme zu empfehlen, und der Einwohner ihm höfliche Anerbietungen zu machen sucht. Ich kann Ihnen also noch ganz gemächlich die Gedanken und Wünsche erzählen, die seit den zwey letzten Tagen der Reise in mir liegen. – Ein inniger Wunsch ist, daß man bey Erziehung der Kinder, besonders aber der Knaben die Kenntniß der physikalischen Welt niemals verabsäumen möge, weil diese Kenntniß den Genuß des Lebens verdoppelt, und Spatziergänge und Reisen um so viel nützlicher [15] für uns und andere macht. Mein Oheim kennt jeden Baum, jedes Gesträuch; alle angebauete und wild wachsende Pflanzen. Ich, die bishero nur auf ihre Mannigfaltigkeit in Formen und Farben achtsam und empfindlich war, bis es nun auch bey den meisten für ihre Nutzbarkeit, die beynah eben so verschieden ist, als ihre Gestalt. Wenn ich Sie wieder sehn, und an Ihrem Arm längst der Ufer des schönen Flusses gehen werde, der die Gegend unserer Vaterstadt so angenehm macht, dann werde ich Ihnen von dem erquickenden Geiste, den man aus diesem Gewächse, von dem heilenden Balsam, der aus jenem zu ziehen ist, von den nährenden Tugenden so vieler andern, und dem tausendfachen Nutzen der Gehölze, Gebürge und Steine, aus ihrem Anblick reden können, und Sie werden den milden Einfluß bemerken, den das Nachsuchen des Gepräges der Wohlthätigkeit, womit Gott unsere physikalische Welt bezeichnete, auf unsere Seele hat. Denn jemehr Spuren ich davon erkannte, je inniger wurde meine Verehrung gegen den Vater der Natur und meine Liebe für meine Mitgeschöpfe. – Die Tage und die Wege verschwanden mir bey den lehrreichen [16] Unterhaltungen meines unschätzbaren Reisegefährten. Eine Stadt, ein zerfallenes oder wohlstehendes Schloß gab den Anlaß zu Auszägen der Geschichte von Deutschland, dessen grossen und kleinen Regenten; dem Zerreissen der alten, und Zusammenheftung der neuen Verfassungen. Aber wie sehr traurig war mir oft der Anblick von Dorfschaften, in denen entweder die harte Arbeit, welche der rauhe Boden erfordert, oder das Joch des Kummers und der Armuth, womit kleine Despoten ihre Unterthanen drücken, in dem Alter von zwanzig Jahren den Besitz und Genuß einer schönen Gestalt, der Gesundheit und Freuden der Jugend zerstören; da welke Wangen die Sorgen des weiblichen, und niedergeschlagene, unmuthige Gesichter das mühselige Leben des männlichen Geschlechts eben so deutlich zeigten, als ihre baufällige Wohnungen und elende Kleider. – Die hiesige Stadt ist sehr schön gebauet. Grosse, reinliche Straßen und Häuser. Unter vermögenden Personen scheint große Pracht zu herrschen; auch sollen viele Künstler hier seyn. Wissenschaften des Geistes aber müssen nicht sehr blühen, weil zwey Buchhändler kurz nach einander [17] Bauquerott gemacht haben, die Modekrämerinnen hingegen sich sehr bereichern sollen. – Dieses ist der Auszug von Antworten, die gestern der Hauswirth beym Abendessen auf die Frage meines Oheims ertheilte. – Wir werden etliche Wochen hier bleiben, und ich daher noch bessern Stoff zu Briefen an meine Mariane bekommen. – Jetzo einen schönen Tag! in Eil von


Ihrer


Rosalia. [18]

5. Brief
Fünfter Brief

Mein letztes Schreiben war klein, sagen Sie? – Ich fühlte es auch, meine Freundinn; aber, ich mußte abbrechen, weil ich mit meinem Oheim zu Gast essen mußte. Ich dachte aber nicht, daß der Verdruß, mich von Ihnen loszureissen, durch einen ganz eigenen Auftritt begleitet seyn würde.

Der Sohn des Hauses, wo wir assen, erzählte bey Tische seiner Schwester, daß sein schöner Freund St**. diesen Morgen von der alten Frau von B**. einen vergoldeten Becher zum Geschenk bekommen hätte. – Der Vater fragte nach der Ursache. – Es war Vorgestern früh, wegen des kleinen Regens, sehr übel die Berggasse hinunter zu gehen; die alte Frau von B**. wollte von ihrem Neffen nach Hause, und sorgte, sie möchte fallen, bat daher oben am Berge eine junge Magd, die im Hinuntergehen begriffen war, sie möchte sie mitnehmen und führen! Das unbesonnene Ding sagte ihr: alten Weibern [19] gebührte bey schlimmen Wetter zu Hause zu bleiben u.s.w. Herr St**. sprach mit mir, oben am Eckhause, sah die Thräne der alten Frau, und hörte die schlechten Reden der jungen Dirne, packt diese beym Arme: »Schweigt,« sagt er, »elendes Ding, und geht eurer Wege,« und reicht hierauf der Frau von B**. seinen Arm: »Wollen Sie, ehrwürdige Frau, sich auf meinen Arm stützen? Ich will Sie mit kindlicher Sorgfalt nach Hause führen.« Meine Alte sieht ihn an, ergreift seine Hand, und sagt gerührt: »Ja, führen Sie mich, mein schöner Sohn! Gott wird Ihre junge Jahre zu glücklichen Jahren machen, weil Sie sie so edel gebrauchen.« – Mein St**. bringt sie in ihre Wohnung, wo sie nach seinem Namen und Aufenthalt fragte, und heute früh schickte sie ihm einen vergoldeten Becher mit der Umschrift: »Zum gesegneten Andenken der liebreichen Begegnung der blühenden Jugend gegen das welkende Alter. Von Elisabetha von B**. an Hrn. St**.« – Mit Eifer sagte ich: Ihr Freund hat dieses Geschenk auf eine edle Art verdient, ich geb' ihm auch meinen Segen. – O, erwiederte er, bey seiner artigen Braut war er nicht so [20] glücklich, Beyfall zu finden. Sie wissen, sagte er zur Gesellschaft, daß St**. der schönste junge Mann ist, den man sehen kann, so wie die Frau von B**. die garstigste Alte, die noch dazu die Kleidung unserer Urälter Mütter trägt, St**. ist hingegen allezeit nach dem neusten Geschmack und in muntern Farben geputzt. Hierauf stützte das Fräulein von A**. ihren Spott, und trieb ihre Anmerkungen über die Verschiedenheit der Gesichter und Kleidung so weit, daß ich nicht weiß, wie es gehen wird, denn sie hat die enthusiastische Seite meines guten St**. verwundet.

Er kommt doch zu uns in die Gesellschaft, fiel die Schwester ein. – Ich zweifle sehr! Aber sie kommt gewiß, denn sie will mit Dir über ihn lachen, besonders da sie gehört hat, daß die junge Magd, die er so wegschleuderte, ein artiges Gesichtchen wäre. – Gegen Abend kam die Gesellschaft; die Braut auch, welche eine von den niedlichsten weiblichen Figuren ist, die ich jemals gesehn habe. Gleich sing sie an, die Beschreibung des Auftritts zu machen; von den Runzeln und der braunen Gesichtsfarbe der alten Frau zu reden, [21] auch gleich den Hrn. St**, bey seinem Eintritt ins Zimmer, damit aufzuziehen. –

So schön als dieser St**. mag Antinoiis gewesen seyn, als er sich mit sechs und zwanzig Jahren der Miene des männlichen Alters näherte. – Er trat mit etwas ernsten Gesichtszügen gegen die Frau vom Hause, ohne dem Fräulein von A**. eine Antwort zu geben. Diese fuhr unbesonnen fort: Es fehle ihm nichts, als die Falten und die Warzen der Frau von B**, so würde er eben so knurrig aussehen, wie sie! – Aber, ohne seine Braut anzublicken, kam er zu mir, küßte meine Hand, und sagte mit Bewegung: »Ich danke Ihnen, mit aller Empfindsamkeit meines Herzens, für den Segen, mit welchem Ihr schöner Mund die Erfüllung einer meiner Pflichten belohnte.« –

Denken Sie sich, meine Mariane, mein Erstaunen und die Aufmerksamkeit der ganzen Gesellschaft, welche mein Oheim zu einer unmäßigen Höhe trieb, da er einfiel: »Gewiß, meine Rosalia hätte über eine schöne Handlung der Nächstenliebe niemals gespottet. – [22] Ich weiß noch, wie mit vieler Achtsamkeit Du mit dem häßlichen und unfreundlichen Vater meiner Baase umgiengest!« – O, mein Oheim, sprach ich ganz verwirrt, alle Welt muß sagen, daß Sie zu viel Güte für mich haben! – Auch sahen alle meinen Oheim, mich und Herrn St**, an. Dieser hatte seine Augen auf mich geheftet. – Meine Bestürzung war ihm leid, und er wandte sich an den nächsten Tisch: »Spielen Sie fort, ich bitte recht sehr! die Schönheit der Seele ist allezeit mit Bescheidenheit verbunden. – Die Mademoiselle C**. will nicht mehr umsehn, da sie Sich so bewundert sieht.« – Ich gieng mit der Frau des Hauses in ein Fenster, wo ich mich über ihren Sohn beklagte, der die Ursache dieser Scene war, da er seinem Freund von meinem ihm ertheilten Lobe gesagt hatte. Es schmerzte mich, dem Herrn St**. zu seiner Rache Anlaß gegeben zu haben. – Gerne wäre ich zu dem Fräulein von A**. gegangen, und hätte mit ihr gesprochen, aber sie warf Feuerblicke gegen mich und meinen Oheim. Endlich ging sie weg, ohne vom Herrn St**. etwas anders, als eine tiefe Verbeugung erhalten zu haben. Nun [23] redte ihm alles zu, sich wieder auszusöhnen! Ich bat ihn darum als um eine Genugthuung für den Verdruß, den mir die Rachsucht seiner Eigenliebe dabey verursacht hätte. »O, verdammen Sie mich nicht,« sagte er, »Ihr Mißvergnügen durchbohrt mein Herz, aber, es ist unmöglich, ganz unmöglich, daß ich meine Verbindung mit dem Fräulein von A** vollziehe. Wir haben uns betrogen! es ist keine Simpathie unter unsern Seelen!« – Ich eilte durch ein Nebenzimmer fort; und zu Hause sagte mein Oheim bey der Wiederholung, daß oft die Umstände den Werth einer Handlung erhöhten oder verminderten. – Wäre der junge Mann weniger schön, oder hätte er diesen schuldigen Dienst der Menschenliebe einer schönen Frau angeboten, so hätte man nicht davon geredet. – Hätte seine Braut nicht gespottet, da ihn andere lobten, so hättest Du keinen Liebhaber an ihm bekommen; und gewiß hätte die alte Frau einem übel aussehenden Menschen kein so schönes Geschenk gemacht! – Das schlimmste ist, sagte ich, daß die Tugenden der Nächstenliebe so selten geworden sind, sonst würde man ihn nicht so gelobt und beschenkt haben! Aber [24] zum Liebhaber möchte ich keinen jungen Mann, der alles so arg nähme, und mir sein Herz nur in dem Augenblick seiner geschmeichelten Eigenliebe anböte.

Sagen Sie mir was über diesen kleinen Vorfall in der Liebeswelt! Der junge G**. war heut bey uns und versicherte, daß die ganze Heyrath aufgehoben wäre. St**. gäbe keinen Menschen mehr eine Sylbe Antwort, der vom Fräulein von A**. redete. –

Schönheit und Reichthum machen also auch Männer zu Stutzköpfen. Dennoch bekenne ich Ihnen, daß mir der Unmuth des von St**. sehr edel scheint. Denn auf was für einen andern Grund können wir daurende Liebe bauen, als auf übereinstimmende Neigungen?

Herr St**. unterbrach mein Schreiben. Der Mann ist wunderlich! er will mich und meinen Oheim überzeugen, daß der gestrige Tag hinreichend gewesen sey, ihm den ganzen Werth meines Charakters zu zeigen. – Ohne Zweifel denkt er dabey auch mir seine Verdienste bewiesen zu haben! – O, meine Mariane, wie froh würde ich seyn, von hier abzureisen, aber ich habe noch wenigstens drey Monathe hier auszudauren! –

[25]
6. Brief
Sechster Brief

Mein Oheim ist Heute sehr zeitig schlafen gegangen, weil er von dem Herumgehen in der Stadt gar müde geworden. Der Tag war schön, und unsere hiesige Freunde wollten, daß wir uns mit den Straßen und Gebäuden bekannt machen sollten. – Die vielen engen Gassen machten mich zu Herrn K**. sagen: daß die erste Anlage der Stadt von sehr nachbarlichen Leuten müssen gebaut worden seyn, weil sie die Häuser so fetzten, daß sie sich die Hände über die Straße reichen konnten. – Vielleicht, sagte er, geschah es auch, um die Gläser, bey einem alten deutschen Trunk, aus dem Fenster an einander zu stosen! –

Er führte uns in die Werkstätte von Künstlern, wo ich meinen herzlichen Antheil an der billigen Freude nahm, mit welcher ich sie, aus edler, gerechter Selbstzufriedenheit, auf die Geschöpfe ihrer Hand umherblicken sah. – Ich dachte, schätzbarer Mann, wie viel Vergnügen hat Dein Fleiß um Dich versammlet! [26] Du genossest es in der Kenntniß Deiner Fähigkeiten, in der Versicherung Deines Wohlstandes, und der Unterhaltung Deiner Frau und Kinder; die quälende Langeweile ist nie über Deine Schwelle gekommen, und wenn einst das Alter deine Hände steif macht, so kannst Du sie noch mit Dank zum Himmel erheben, daß Du sie den Müßiggang niemals Preis gabst, der Dich zum Laster und Verderben gezogen hätte! – So oft ich bey der Bude eines Handwerkers vorbey ging, wünschte ich ihm Seegen und daurende Kräfte. Kaufmannsgewölbe, die tausend Gegenstände der Nothdurft und des muthwilligen Vergnügens des Ueberflusses in sich faßten, waren mir angenehm zu sehen. Sie dünkten mich Wasserleitungen zu seyn, die den fruchtbaren Boden der Erfindung und der Arbeit des Handwerkers bewässern; so wie die unzählbare Nothwendigkeiten, die unsere Einbildung sich schuf, die Quellen davon sind. Also knüpft das Verhängniß den Ueberfluß an den Mangel, weil das überlaufende Maaß des Reichen der erquickende Antheil des Aermern wird. – Gewächse und Arbeiten von allen vier Welttheilen, Betrachtungen, die mein Oheim über [27] den Geist der Handlung machte, gaben mir einen schönen Blick auf die den ganzen Weltkreis als eine Kette umfassende Tugend der Redlichkeit und Treue, an welche der Handelstand bevestiget ist. – Es war ein Augenblick sonderbarer Bewegung in wir, da ich die Menge Zirkel dachte, die man in der physikalischen Geschichte unserer Erde beschreibt, und nur einen einzigen moralischen Kreis sah, der im Zusammenhang unsere Menschenwelt durchläuft; denn alle andere geistige Bande der Erdkinder sind nur in abgerissenen Stücken zu sehen! – Einen Wunsch fügte ich hinzu: daß, da der Wohlstand der Kaufleute sie verbindet, Treue und Glauben, als persönliche Eigenschaften, zu besitzen, und die Triebfeder des Eigennutzes hinreicht, sie in ihre Kinder zu pflanzen und als nöthige Tugend ihres Standes anzusehen; so sollten Gelehrte, in ihren Familien, auch das Glück haben, die eigne Vorzüge des Geistes und Denkens ihren Kindern einzugraben! – Meine Feder wiederholte hier den Gang meiner Empfindungen von dem ganzen Tage, weil ich unter allen, die uns begleiteten, Niemand gestimmt fand, diesen Ton zu hören, und ich Herrn St**, [28] der sich zu uns gedrungen hatte, keinen einzigen Zug meines Charakters weiter zeigen will. – Denn warum sollte ich das glimmende Feuer anfachen, da weder meine Neigungen, noch die Umstände meiner Bestimmung, sein Verlangen vortheilhaft sind? – Ich wollte mich also heut lieber in seiner Meynung heruntersetzen, und ihn dadurch beruhigen, als, meiner Eitelkeit zu Liebe, seine Hochachtung vermehren. – Möchten nur Sie, meine Freundinn, über die Verwendung dieses Tags, zufrieden seyn mit

Ihrer

Rosalia. [29]

7. Brief
Siebenter Brief

Es ist schön, meine Mariane, es ist gewiß sehr schön, wenn man die Gabe hat, sich Glück zu schaffen, da, wo andre nichts, als die gewöhnliche Lage des Hausstands sehen. – Gestern machte ich die Bekanntschaft einer Frau, welche diese Fähigkeit ganz besitzt, und ihre Unterredung mir der jungen Braut, so bey uns war, schien mir eine Anweisung zu seyn, wie man jedes Stück mühsam angebautes Feld mit einer Reihe ergötzender Blumen einfassen könne. – Die ganze Ordnung und Stärke der Gedanken kann ich Ihnen nicht wiederholen, nur einen Auszug, der sich mir stückweis einprägte. –

Nach den Glückwünschen, die Frau K**. dem artigen Mädchen gemacht, sagte diese halb ängstlich: »Ach, wenn ich hoffen könnte, in meinem Ehestande so munter und vergnügt zu seyn, wie Sie Madame, es sind!« – Das wird leicht seyn, mein Kind! Sie dürfen sich nur Ihre Verbindung als die Gelegenheit [30] vorstellen, die Sie haben werden, Ihren Verstand, Ihre Geschicklichkeit und die Güte Ihres Herzens zu zeigen. – Durch Ihre unausgesetzte zärtliche Achtsamkeit, die Liebe des Herrn B**. zu erhalten, werden Sie das beste Glück seines Lebens seyn. – Das Maaß Wohlergehn, welches gute Hausbediente wünschen, hängt auch nur von Ihnen ab. – Durch Gefälligkeit, Sanftmuth und Munterkeit im Umgang, werden Sie die Gewalt haben, den Freunden des Herrn B**. Vergnügen zu machen. Den Tag, wo Sie Mutter werden, müssen Sie nicht denken, daß Ihre Beschwerden und Sorgen sich häufen, sondern, daß ein Geschöpfe mehr lebt, dessen Glück und Wohlseyn aus Ihrem Herzen fliessen wird. – Ist dieses nicht eine angenehme glänzende Aussicht für eine junge Schöne? Der Grund des freudigen Tons meiner Seele ist die häusliche Zufriedenheit meines Gatten; das sorgenfreye Lächeln meiner Kinder; der frohe Diensteifer meiner Bedienten, und die vergnügte Miene unserer Freunde; weil ich zum Theil sagen kann, daß es mein Werk ist! – Glauben Sie, meine Liebe, die Vorsicht hat uns Frauenzimmern ein schönes Gebiet anvertrauet; [31] es kommt nur darauf an, wie wir es anbauen! – Wenn wir Tugenden und Klugheit ausstreuen: so wächst uns gewiß Liebe, Hochachtung und Wohlstand auf. Eigensinnig müssen wir nicht seyn, und Rosen ohne Dornen fodern, oder, daß der Stein, an den wir uns stossen, weich seyn solle! Merken Sie sich, mein Schatz, die Züge Ihres Geistes und Charakters, die Herr B**. bis jetzo an Ihnen belobte, und suchen Sie diese Eigenschaften vollkommen zu machen, weil dieses die Fesseln sind, die er freywillig um sein Herz band, und die ju ihm den Wunsch einer immerwährenden Vereinigung nach sich zogen. Seyn Sie auch sorgfältig auf die Erhaltung Ihrer Schönheit bedacht: denn die Natur hat den Reizen, die sie uns mitgetheilt, eine auf die Herzen der Männer ewig würkende Kraft gegeben. Feine Auswahl im Putze und der äusserste Grad von Reinlichkeit, sind die materiellen Stützen der häuslichen Liebe. Eine unveränderliche Gleichheit des Gemüths; Ausdruck der Hochachtung für die Verdienste des Gatten; liebreiches, nicht stockendes Schweigen, bey Unannehmlichkeiten; der heitre Ton der Zufriedenheit, bey seinem Anblick; [32] die Ueberzeugung, daß man ihm mit Vergnügen das Glück seines Lebens danke; daß man jede Pflicht der Gattinn, der Mutter, liebe; der Anbau des Verstandes, um die nöthigen Reize der Abänderung in den Unterredungen einstreuen zu können: – dieses, meine artige junge Freundinn, sind die tugendhaften Kunstgriffe, deren ich mich bediente, einen geistvollen, die schöne Welt kennenden Mann, zwanzig Jahre lang zärtlich, und mit seiner Verbindung vergnügt zu erhalten. Ohne Mühe erlangen wir nichts. – Der Bauer und Gärtner muß säen und pflanzen, um von der Erde Brod und Früchte zu ziehen. – Arbeiten des Geistes und der Hände, sind die Kette, an welche das Wohlsein und Unterhalt gehängt ist. Ihr Gatte wird für Ihr Glück, Sie müssen für seine Ruhe und sein Vergnügen sorgen; und nachdem Sie den Segen der Eltern, wegen getreuer Erfüllung der Pflichten einer guten Tochter, erhalten haben, so muß es Ihr Herz freuen, wenn Sie auch in Zukunft den Segen und das Lob des Gatten, als liebenswerthe Frau erwerben können. –

[33] Eine zärtliche Umarmung endigte diesen kurzen reizenden Unterricht, der für uns alle gut war; denn die zwo Baasen der Mad. G**. waren auch mit da. Das junge Bräutchen schien halb zu lächeln, halb zu weinen. Wir drey älteren aber hatten, glaube ich, das Aussehen, zu wünschen, diese schöne Vorschrift bald ausführen zu können, indem sie uns unfehlbar scheint.

[34]
8. Brief
Achter Brief

Diesesmal, meine Freundinn, schreibe ich in vollem Zorn an Sie, über Schwätzer, die mich hinderten, zwey Stunden eher mit Ihnen zu reden! – Artige Sachen hatte ich gesammlet, und meine besten Ideen dazu gedacht. Mit der Feder in der Hand saß ich da, meinen Brief anzufangen! aber, da ich weg mußte, um die Leute zu unterhalten, die auf meinen Oheim warteten, so wurde alles zerstört; die feinsten Gedanken sind verschwunden! Ich bin, wie eine Person, die schöne Blumen gepflückt hatte, und just begriffen war, ihrer Freundinn ein Bouquet davon zu binden: jähling kommt ein böser Geist, und wirft einen Haufen Sand, Spreu und Geniste auf ihr Blumenkörbchen. Nach dem ersten Unmuth sucht sie das Zeug wegzuräumen; aber die meisten Blumen sind zerknickt, haben theils ihre schöne Form, theils Blätter und alle den frischen Glanz verlohren! Ist man da nicht böse, meine Mariane? Nun ists noch dazu Zeit, zu Tische zu gehen, und da höre ich gewiß [35] nichts, das mir meine verflogene Gedanken zurück rufte.


Nachmittags 4 Uhr.


Da! gewiß ist selten ein Mißvergnügen allein! Ich denke aber, das ist eine Folge der üblen Stimmung des Gemüths, in welche uns das Erste versetzte. – Ich komme mit meinem halb mürrischen Gesicht ins Speisezimmer, und fand wider mein Vermuthen einen Fremden, der der feinste Beobachter moralischer Charaktere seyn soll. Auf diesem muß der trockne widrige Ausdruck, der auf meiner Stirne saß, eine schöne Wirkung gemacht haben! – Denn die heitre Miene, die ich bey dem Anblick meines Oheims bekam, konnte ihn nicht anders denken lassen, als daß ich diesem zu Lieb die wahre Beschaffenheit meines Gemüths verberge, und es vielleicht aus eigennützigen Absichten, und nicht aus der feinen zärtlichen Sorge für sein Vergnügen thue. – Denn was für Ursachen kann ein gesundes hübsches Mädchen von zwanzig Jahren angeben, die ihr verdrüßliches Aussehen, beym Eintritt in das gesellschaftliche Zimmer, entschuldigten? zumal, wenn ihre Glücksumstände durch die Liebe [36] eines Verwandten, wie mein Oheim, so vortheilhaft sind, muß man sie sorgenfrey achten, und ihre üble Laune einer verkehrten Gemüthsart, oder Ungeduld der Liebe zuschreiben; und beydes ist höchst nachtheilig! O, möchte ich, meine Mariane, für mein ganzes Leben, so schnell und so stark jeden Fehler meiner moralischen und geselligen Pflichten fühlen, wie jetzt meine geängstigte Eigenliebe dieses, dem Ruhme meines artigen Humors so schädliche Verhalten empfindet!

Herr L**. ist mit meinem Oheim und seinem Freund zu Besuch gegangen. – Er kommt wieder mit Ihnen nach Hause. Ich will Gelegenheit suchen, von meinem heutigen Gesicht zu reden! Dieser Mann soll nicht übel von mir denken, durchaus nicht; eher zehn Andre!


Abends 11 Uhr.


Ich bin mit mir ausgesöhnt! und Herr L**. hat mich gegen jede Besorgniß wegen seiner Gesinnungen gesichert.

[37] Er hatte bey Tisch, Mittags, sehr wenig geredt, und nur andre reden zu machen; wobey er mich, wie mich dünkte, mehr als die andern beobachtete. Nach der Zurückkunft, da mein Oheim auf einige Zeit in sein Zimmer ging, redte mich Herr L** ganz sanft, aber mit so ganz forschenden durchdringenden Blicken an. Ich gerieth in eine ganz sichtbare Verlegenheit, aus welcher mich nichts, als Freymüthigkeit erlösen konnte. – Ich sagte ihm, die Ursache meines Stottern und Erröthens wäre ein kleiner Kampf zwischen meiner Eigenliebe und der Wahrheit. Das unfreundliche Wesen, so er an mir müßte bemerkt haben, wäre Ursache daran. – Ganz fein, ganz schonend fragte er mich: warum ich deswegen besorgt wäre? – Weil ich die Hochachtung sah, die Sie meinem Oheim, und er Ihnen bewieß, so wäre mirs leid, daß er ein Verhalten von mir gesehen hätte, welches der glücklichen Nichte dieses unschätzbaren Mannes nicht anstünde. – Er lächelte beynah etwas satyrisch hierüber. – Dieses bewog mich, sogleich aus meinem Zimmer den Anfang meines Briefs an sie zu holen, und ihm solchen ganz im ernsten Schweigen zum Lesen zu geben. – [38] Er lächelte wieder, aber nicht mehr bitter; seine Augen, dünkt mich, wurden größer, glänzender, und gewiß war ein Ausdruck von staunender Achtung darinn, da er mir meinen Brief gab, und für mein Vertrauen dankte. Den Augenblick ward mir leicht, mit ihm zu reden, ob ich schon fand, daß alle seine Fragen nothwendigerweise charakteristische Antworten nach sich zogen. Er fragte auch nach der Mariane, an die ich alles schreibe. Er sah meine Seele, da ich von Ihnen sprach. Und nun endige ich meinen Brief mit einem herzlichen Gott sey Dank! daß ein edler, scharfsinniger Mann, und die geistvollste tugendhafteste Person meines Geschlechts, in jedem Augenblicke meines Lebens in meiner Seele lesen dürfen.

Rosalia. [39]

9. Brief
Neunter Brief

Seit fünf Tagen habe ich Ihnen nicht geschrieben; bald, meine Mariane, möchte ich bey lebenden Leibe an eine Seelenwanderung glauben, und denken, daß die meinige diese Zeit über nicht bey mir war. – O, Gefälligkeit, wie viel Opfer foderst du! Bald von der Wahrheit unsrer Gedanken, bald von unsern Empfindungen; trügest du nicht die Farbe der Menschenliebe, so würde ich dich hassen!

Die Frauenzimmer im Hause, wo wir wohnen, haben mich in den Wirbel ihrer Bekanntschaften und Ergötzungen gezogen, ohne daß sie eigentlich wissen, was sie mit mir thun sollen. Das Vermögen meines Oheims, die in Deutschland so seltene Erscheinung eines reisenden Mädchens von meinem Stande, macht, glaube ich, daß mich die einen zeigen, und die andern sehen wollen; und ich, meine Mariane, bin schwach genug, meinem Widerwillen zu Trotz, Einladungen nachzugeben, [40] die mir fünf ganzer Tage die Freude rauben, mich mit Ihnen zu unterhalten! Vorgestern dachte ich einen langen Brief an Sie zu schreiben, da kam noch Morgens Herr G**. von seinem Amte, und brachte seine Frau und Schwester mit, um sie in das Concert zu führen; da wurde ich gleich dem Frauenzimmer vorgestellt, in Gespräche verwickelt, und sah mein Zimmer erst beym Schlafengehen. Sie wissen, wie feyerlich ich meinem Oheim, nach meiner Augenkrankheit, versprechen mußte, in meinem Leben des Nachts nicht mehr zu lesen und zu schreiben; ich habe mir auch ein Gesetz gemacht, dieses seiner Liebe gethane Versprechen in keiner Gelegenheit zu übertreten; also konnte ich mich auch des Nachts nicht schadlos halten; und Gestern früh kam der muntre Schwarm der drey Töchter des Hauses, zweyer Nachbarinnen, Mad. G**. und ihre Schwägerinn, mit dem Caffee in mein Zimmer; da wurde vielerley, und auch von dem Concert gesprochen. Bey dem Artikel des Putzes hofte ich ihrer los zu werden, und noch einige Minuten zu einem Briefchen an Sie zu haschen, indem ich sagte, daß ich fürchtete, nicht Zeit genug zu meinem Aufsatz [41] zu finden: aber, die rauschende Frölichkeit dieser Personen bemerkte den leisen Wink nicht, womit ich sie um Räumung meines Zimmers bat; ich mußte harren, gefällig seyn, und den Wünschen meines Herzens ihre Befriedigung auf Heute anweisen.

Mad. G**. hat die heiterste Gemüthsart, die ich jemals an einer Person meines Geschlechts gefunden habe. Verstand und viel Belesenheit. Aber, da Lustigkeit der Hauptzug ihres Charakters ist; so sind alle Wendungen ihrer Ideen drollig, und auch die Farben ihrer Beobachtungen bunt. – In dem Concert, wo eine große Menge sehr artiger Personen beyderley Geschlechts war, bemerkte ich noch einen sonderbaren Schwung, den sie manchmal ihren Gedanken giebt, indem sie mir diese Gesellschaft als das Schauspiel eines Wettstreits nennte, den die Phantasie der Mutter Natur und die Einbildungskraft ihrer Kinder gegen einander hielten: wo Erstere ihre Weisheit, Stärke und Gewalt, in Verschiedenheit der Gesichtszüge, Größe und Kleine der Gestalt, in Mannigfaltigkeit der Physiognomie und dem Ton der Stimmen bewiese – [42] die Menschen hingegen, in der Abänderung der Verzierungen, in Wahl der Farben, Form der Kleider und Kopfputz, in künstlicher Anmuth der Geberden und des Bezeigens. – Mit vieler Schalkhaftigkeit behauptete sie dieses und jenes in dem einen und andern Gesichte zu lesen; sagte darauf, da sie mich starr angesehen, daß in meinem Kopf Ideen wären, die das Seitenstück zu ihren moralischen Betrachtungen ausmachten, und daß sie, ohne anders, es im ganzen wissen wolle! Jemehr ich mich weigerte, je ungestümer foderte sie; und da ich ein übereinstimmendes Stück zu ihrem Gemählde liefern, und die Ideen von Vielfältigkeit und Menge beybehalten mußte; so sagte ich: mein Nachdenken hätte sich auf die unendliche Summe des verflossenen und gegenwärtigen Vergnügens bezogen, das unser aller liebreiche Mutter, durch Fähigkeit, zu erfinden und zu genießen, unter ihre oft so undankbare Kinder ausgetheilt habe. So hätte, zum Beweis, jede Gattung der verschiedenen Kleiderzeuge dem Arbeiter, bey dessen Endigung, ein Gefühl von Freude, über seine Geschicklichkeit gegeben; die Person, die sich mit der Schönheit des Zeugs Ansehen gab, [43] auch ihr Antheil Vergnügen dadurch erhalten; so wäre es der Putzmacherinn, bey Erfindung der Moden, dem Frauenzimmer, die ihre Reize dadurch erhöhte, dem Tonkünstler bey der Aufsetzung und Fügung der Stücke gegangen, die wir gehört hätten. – Gewiß, sagte sie, es giebt viel kleine Freuden in der Welt, über die man, wie über die Millionen Grashälmchen, hingeht, die den schönen Rasen machen. Tausend Vergnügen werden von einem Theil unsers Gefühls ohne Nachdenken genossen, und ihr Daseyn erst bemerkt, wenn man, wie bey dem Spatzierengehen, auf einmal, bey Betretung des steinigten Weges, an das sanfte Gehen auf dem Grasboden denkt.

Dieser Ton rührte mich; ich hörte ihr staunend zu, und antwortete ihr mit zärtlicher Achtung. – Sie erwiederte dieses mit einem Drücken meiner Hand, und sagte: Es freue sie, daß ich ihr Achtung beweise; sie liebte mich auch besonders, weil ich so viel Geist hätte, alles aufzufassen, und man keinen Gedanken bey mir verlöhre. – Hiemit scheuchte sie meine pünktliche Zärtlichkeit ein wenig zurück; aber ich wurde gleich wieder so billig, [44] zu finden, daß wir alle nichts lieben, als was uns Vergnügen macht, und Frau G**. so freymüthig ist, es zu sagen.

Gefällt Ihnen diese Frau nicht auch, meine Mariane? Sie macht eine eigene Farbe im Character aus. – Ich werde einige Tage mit ihr aufs Land gehen, wo ich mit mehr Freyheit, in ganz reiner Luft, beim Gesang der Lerche, an meine Mariane denken und schreiben werde.

[45]
10. Brief
Zehnter Brief

Wie vortreflich ist Ihr vor mir liegendes Schreiben! wie gütig Ihre Freundschaft für mich! Ich kann auch die ganze weibliche Welt aufbieten, um mir noch eine Mariane zu weisen! Mit was für einer schmeichelhaften Wendung sagen Sie mir, daß Sie sehr zufrieden sind, in acht Tagen keinen Brief von mir gesehen zu haben. So macht es die edle Liebe, die Freude, das Glück des Freundes wird dem eigenen vorgezogen. Es ist Ihnen lieb, sagen Sie, daß mein Kopf und Herz Beschäftigungen hatte, die mich hinderten, Ihre Abwesenheit zu fühlen, und meine Arme auszustrecken, um von allen Wesen allein Sie zu umschlingen; und gerne wollen Sie meine feurige Zärtlichkeit für Sie in gemäßigte Wärme verwandelt sehen, wenn ich zugleich gerechter und liebreicher gegen andre werde. O, Mariane! gerecht war ich just in dem Augenblick, da Sie den vorzüglichsten Theil meines Herzens und meiner Hochachtung erhielten! Fodern Sie mich nicht auf, gerecht [46] zu seyn, denn da muß ich jedem geben, was ihm gebührt, und dann kommt noch viele Nahrung zu dem Feuer meiner Zärtlichkeit für Sie. – Aber liebreich, meine Mariane, liebreich und billig will ich seyn! – Ich weiß es, nicht jeder Geist kann, wie der Ihrige, angebauet, nicht jede weibliche Seele so groß, so edel, wie die Ihrige, seyn; aber, alle könnten doch – ich sehe Ihre Hand, die mir den Mund zuhalten will. – Ich schweige selbst, und gewiß, ich wollte nichts Hartes sagen. Sie wollen, daß ich durch Thaten rede! Ja, meine Freundinn, ich will; und da meine armen Briefe das einzige Kennzeichen sind, nach welchen Sie meine Handlungen beurtheilen können: so sollen diese beweisen, ob ich so gut werde, als Sie es wünschen; und gleich will ich mir eine artige, ganz romantische Begebenheit unsers Concerts zu Nutz machen, um Sie zu überzeugen, daß ich nicht so unverträglich bin, als der manchmal heftige oder nur eifrige Ton meiner Gedanken es vermuthen läßt.

Ich muß in meinem Gespräch mit Mademoiselle G**, nachdem sie gesungen hatte, billig [47] genug gewesen sein, und sie nicht verhindert haben, jede gute Eigenschaft ihres Verstandes und Herzens zu zeigen, weil Sie sich durch diese Unterredung eine vortheilhafte Heyrath zuzog. Sie hatte Italienisch gesungen. – Ich fragte, ob sie die Sprache verstünde? munter sagte sie mir: Signora fi. Ich redte gleich im Italienischen fort, und sie sagte sehr schön, sehr geläufig, alles Gute, was sie über meine Frage dachte. Wir vermutheten nicht, daß gleich hinter uns ein Fremder saß, der aus Venedig kam, und alles, was wir redeten, um so eher hörte, als es meistens von uns Deutschen geschieht, eine fremde Sprache stärker und lauter auszusprechen, als gewöhnlich die eigene. Ich sah wohl, daß, wie wir aufstunden, um die zweite Arie hören zu lassen, er ganz dienstfertig die zwey Stühle rückte, und seine Blicke mit Sehnsucht auf die schöne Blondine G**. heftete. – Aber nach dieser Arie ging Mademoiselle G** mit mir und ihrer Schwester auf und ab, und der Fremde verlohr sich. – Nach Endigung des Concerts, wie wir aus dem Gasthofe, wo es gehalten war, weggingen, stund er unter der Thüre, war sehr höflich, und sah uns nach. Das [48] Haus des Herrn F**, wo wir alle wohnen, ist nur sechszig Schritte davon; und den andern Tag, als ich Ihnen meinen ersten Concertbrief geschrieben, ließ sich Herr S**, Kaufmann aus Venedig, bey mir melden. – Ich stutzte und sagte, es müsse eine Irrung seyn; ich hätte die Ehre nicht, Jemand dasigen Orts zu kennen. Er bat aber so sehr, mich einen Augenblick zu sprechen, daß ich ihn auf mein Zimmer kommen ließ. Ich erkannte sein Gesicht, und war gleich wegen unsers Welschen Geschwätz besorgt.

Er entschuldigte seine Zudringlichkeit sehr artig und sagte: Er nennte sich S**, wäre ein Sohn des reichen Banquiers dieses Namens, und in der Absicht hierher gekommen, eine artige deutsche Frau zu holen. Er wäre eine Stunde vor dem Concert angelangt, und hätte es gleich mit Begierde angehört, wo er so glücklich gewesen wäre, nicht nur die schönste Stimme zu hören, sondern auch durch den Zufall einer Unterredung nahe gewesen zu seyn, in welcher das junge artige Frauenzimmer, so bey mir gesessen, den allervortreflichsten Charakter [49] gezeigt, und sein Herz auf alle Weise eingenommen hätte. Er wünschte und dächte, daß eine solche geistvolle Freundinn, wie ich, wissen könne, ob das Herz der liebenswürdigen Schönen noch frey wäre, und er also sich um ihre Gunst bewerben könnte. Er würde mir ewig für diese Güte verbunden seyn. – Nun kam ich völlig zu mir; denn anfangs dachte ich, er wollte mir Anträge machen! – Ich versprach, nach der Mademoiselle G** Freyheit zu fragen. – In dem Augenblick kam mein Oheim, sah mich bey einem Fremden allein, der mir die Hand küßte. Sein ernstes Gesicht machte, daß ich ihm gleich die Historie erzählte; da nahm er alles auf sich. Der Fremde speiste mit uns, redte Mademoiselle G** Italienisch an, blieb den ganzen Nachmittag bey uns, und hatte das Glück, sich ihr gefällig zu machen. Abends sprach er mit Herrn und Madame G**. Nach dem Souper war das Versprechen, und in vierzehn Tagen führte er sie weg, nachdem er einer noch jüngern Schwester das ganze Vermögen seiner Braut geschenkt, und dieser nur die nöthigen Reisekleider zu behalten [50] erlaubte. – Ist dies nicht ein artiger Roman? und sollten nicht junge Frauenzimmer recht sorgfältig seyn, lauter gute Sachen zu reden, auch wenn sie ganz allein zu seyn denken? Adieu! ich gehe nach R**.

[51]
11. Brief
Eilfter Brief

Von dem Schlosse R**, wo Herr G** als Oberbeamter seine Wohnung hat.


Wir sind vor sechs Tagen hieher gekommen, um die Hochzeit der Mademoiselle G** zu feyern. Wenn alles, was der Zufall bey dieser Heyrath versammlete, Vorbedeutungen von dem Schicksal der nunmehrigen Madame S** sind: so kann sie auf glückliche Tage rechnen. Ihre Geschicklichkeit in der Musik, ihre vernünftige Unterredung mit mir, erwarb ihr die Neigung ihres Mannes. Das Zeugniß, welches ihre Freunde von der Tugend und Güte ihres Herzens gaben, befestigte seine Liebe. – Mein edler, vortreflicher Oheim war ihr Freywerber. – Einer der würdigsten Geistlichen segnete ihre Ehe ein, und während der Trauung sah ich so viel redliche Hände der Landleute für ihr Wohlergehen zum Himmel erhaben, daß mein Herz Wünsche that, dereinst meine Gelübde [52] für neue Tugenden und für das Glück meines Freundes, auch unter der Fürbitte des Wohlwollens und der Gottesfurcht so vieler Menschen, abzulegen. Denn, ob mich schon die Thränen, die ich von den Wangen einiger Frauen fließen sah, auf einen, sie drückenden Hauskummer denken ließ: so war doch gewiß, daß sie in diesem Augenblick der Braut wünschten, daß sie glücklicher seyn möge.

Ich sagte der Neuvermählten, bey unserer Zurückkunft ins Haus, alle diese Anmerkungen, die auch einen angenehmen Eindruck auf sie zu machen schienen. Aber der tolle, unbesonnene Schmerz, der darauf entstund, verdrang das feine Bild moralischen Glücks, der häuslichen Liebe, so ich ihr vorgezeichnet hatte. – Es ist wahr, dieser Scherz machte auch die vorher weinende Frauen lachen; aber ich sagte doch in meiner Seele: Nein! so soll der feyerlichste Tag meines Lebens nicht entweihet werden! Der Tag, an welchem ich alle übrigen zu neuen Pflichten, nach den ewigen Gesetzen der Natur heilige, heiter und munter soll er vorbey gehen: aber, mit Koth soll man mein Brautkleid nicht bewerfen! – Diese jähe und so ganz rauhe Abänderung des [53] Tons der Gesinnungen, da man von dem Gebet um Segen, zu den elendesten Ideen überging, machte mich bey Tisch denken, daß wir unsern Geist eben so widersprechend behandeln, wie unsern Körper, dem wir eine Tracht heisser Speisen, und dann gleich in Eis gekühltes Getränke geben. Die Macht der Gewohnheit allein ist Ursache, daß wir dieses widersinnige Verhalten nicht anstößiger finden. Aber sollten nicht in dem ungleichen Gange unserer moralischen und physicalischen Wirthschaft einige Ursachen liegen, daß wir in unsern Charaktern nicht mehr so oft das Ganze und Große, und in unserer Gesundheit nicht mehr das Starke und Dauerhafte der alten Zeiten haben? – Sie können sehen, meine Mariane, daß ich an den Tischgesprächen nicht vielen Antheil nahm, weil ich diese Betrachtungen bey mir machte. Aber der Bräutigam war so feindenkend, daß er unvermerkt eine andre Wendung in die Unterhaltung brachte, indem er von den Gebräuchen sprach, die in Venedig, theils bey vornehmen und theils bey der gemeinen Hochzeitfeyer, gewöhnlich wären. Hier konnte ich wieder mit reden, und auch gerne zuhören, denn jeder [54] der anwesenden Männer wußte, von seinen Reisen her, etwas Eigenes zu sagen. – Endlich kam Musik, und man fing an zu tanzen; welchem Vergnügen ich mich, nach aller Munterkeit meiner Jahre, überließ. Bey dem zweiten polnischen Tanze aber, da ich ruhen wollte, und unvorsichtiger Weise zu nah' an einem Officier vorbey gieng, der ein sehr guter, aber rascher Tänzer ist, bekam ich einen so heftigen Schlag von dem Absatz seines aufgehabenen Fußes an den Seitenknochen des meinigen, daß ich nicht nur nicht mehr tanzen, sondern auch nicht gehen konnte, und in mein Zimmer mußte, um einige Mittel gegen die Schmerzen zu brauchen; worüber ich dann nachmals sehr froh war, weil ich dadurch von der Ceremonie des Strumpfbandraubes befreyt wurde. Ich konnte mich auch den andern Tag, da er mir viele Entschuldigungen wegen dieser Beleidigung machte, nicht enthalten, zu sagen, daß ich ihm mehr Dank wüßte, als er glaube; weil ich, ohne dieses Uebel an meinem Fuße, gewiß noch einen Schlag an den Kopf bekommen hätte, der mir viel unangenehmer gewesen wäre! Er konnte mich nicht begreifen, und sah mit einer[55] Miene um sich; als wollte er andre um die Erklärung fragen. Aber, Abends, da ich mich weigerte, das Pfandspiel mitzumachen, sagte er mir: Nun sehe ich, warum Sie mir so gerne vergaben, daß ich Ihren Fuß verletzte. – Ich konnte, meine theure Mariane, ich konnte nicht mitspielen! meine ganze Seele empörte sich, bey dem Gedanken von dieser oder jener Aufgabe, zur Lösung eines Pfandes, und ich ging, sobald die Rede davon war, in mein Zimmer, wo ich unter dem Fürwande einer Ueblichkeit bleiben wollte, weil ich wohl einsah, daß meine Weigerung als ein Eigensinn angesehen seyn würde, der alles andre Frauenzimmer beleidigte. Mein theurer Oheim kam zu mir, weil er in Wahrheit glaubte, daß ich nicht wohl wäre. Diesem sagte ich die wahre Ursache meiner Entfernung aus der Gesellschaft, und beschwerte ihn, sein Ansehen nicht gegen mich zu gebrauchen; daß ich ganz gerne in das Dorf gehen, und den Bauersleuten helfen wolle ihr Heu nach Hause bringen; daß ich im Garten, oder in andern Arbeiten den Mägden der Frau G** an die Hand gehen wolle, wie sie immer befehlen würde, nur nicht Pfand spielen![56] – »Aber Rosalia, Du bist ein Sonderling! die übrige Alle werden es übel nehmen.« Wenn nur Sie, mein Oheim, mir vergeben, und ich ein klein Fieber bekomme, so bin ich zufrieden. – »Wunderliches Mädchen! lieber ein Fieber, als einen Spaß!« Fragen Sie den Freund, den Sie mir gaben, ob er böse über mich ist, daß ich dieses wünsche? – »O, nun sehe ich Deine ganze Grille. Du willst nicht deutsch tanzen, damit Dich niemand in seine Arme kriege. Du willst nicht um Pfänder spielen, weil Du fürchtest, es möchte bey dem Auslösen ein Paar Mäulchen kosten. Denkst Du denn, daß er eben so sorgsam ist?« Ich denke und erwarte nichts, mein Oheim, als, daß meine Gesinnungen nicht mögen zu einem Opfer gefodert werden. – Ich war bestimmt, eine eigene Schattirung von Charakter zu haben! Lassen Sie mirs, ich will doch gut seyn! – Er drückte meine Hand und sagte: Aber, Mädchen, sieh zu! Du wirst eine verworfene Farbe werden. –

[57]
12. Brief
Zwölfter Brief

O, der schöne ländliche Auftritt, voll wahrer Liebe, den ich Ihnen beschreiben will, so wie er nach seinem ersten Eindruck in meiner Seele ist!

Heute kam ein verwittweter Becker aus dem benachbarten Orte zu Herrn G**, und bat, ihm bey der Oberherrschaft die Erlaubniß auszuwürken, daß er die Wittwe eines Weinschenken von R** heyrathen dürfte. – Herr G** sagt' ihm, es würde nicht seyn können; es wären schon mehrere Weinschenken und Becker da. Er hätte Befehl, eine gewisse Zahl zu halten, und würde deswegen die Schenke dieser Wittwe aufheben, da sie ohnehin verschuldet wäre. Hier traten dem guten Becker die Thränen in die Augen. Er flehte den Herrn Oberpfleger noch inständiger an. – Just wegen den Schulden möcht' ich sie haben, sagt' er. Hören Sie mich an! Ich war vor vier und zwanzig Jahren Beckerknecht bey der Wittwe ihren Vater; da war sie das schönste und bravste Mädchen, durch [58] alle Oerter ringsum. Ich hätte gern mein Leben für sie gelassen, so lieb war sie mir; aber ich war zu arm, und ihr Vater hatte viele Kinder, da konnten wir nicht ans Heyrathen denken, und ich mußte leiden, daß sie der Weinschenk kriegte! Da war mirs ohnmöglich, in R** zu bleiben, und weit weg konnt' ich auch nicht. Ich verdingte mich bey einem Becker in B**; da kam ich alle Sonntag und Feyertag in die Schenke, wo mein Bärbela war, und ließ mir einen Schoppen Wein geben. Aber oft zahlte ich den Wein, ohne ihn zu trinken, wenn ich hörte, daß ihr Mann sie anschnurrte. Wenn sie ein Kind stillte, oder wenn sie freundlich mit mir war, das war ein! Das Herz und Hals war mir zugezogen; ich konnte nicht bleiben; und war doch alle Feyertag wieder da. So wars, bis mein Meister starb; da nahm die Wittwe mich. Wir lebten gut mit einander. Ich ging nicht mehr so oft in Bärbeles Haus, obschon ihr Mann gestorben war; aber vergessen that ich sie nicht. Und wie ich Wittwer war und alles von meiner Frau erbte, da freute michs, daß ich keine Kinder hatte, weil ich gleich dachte, die Weinschenkin zu nehmen, [59] und ihr aus Schulden zu helfen. – Lieber Herr Oberpfleger! thun Sie mir doch die Freud verschaffen, daß ich die Frau krieg! »Ey, sie ist ja nicht mehr hübsch!« Das däucht Sie so! Sie gefällt mir als noch, und ich möcht ihr so gern ihre alte Tag ruhig machen! Sie hat sich so viel mit ihren Kindern und ihrem Mann geplagt! Wenn ich sie nur acht Tag' hab', da vermach' ich ihr alles, und sie ist doch mein gewest! – Herr G**. wurde bewegt; der Becker merkt' es, und streckte seine Arme nach ihm, mit der wiederholten Bitte, ihm zu dem letzten Glück zu helfen; er wolle gewiß ein guter Unterthan seyn, und Gott und Herrn G** für seine Frau danken. Er freue sich schon so viele Wochen darauf, seit er Wittwer wäre; wenn es nichts würde, so kränke es ihn todt. – Herr G** gab ihm die Hand, und versicherte ihm seiner Fürsprache. Das erleichterte mir und Madame G** das Herz; denn wir hatten im Nebenzimmer alles gehört, und wären gerne gekommen, für den Mann zu bitten, aber wir durften nicht. Bey der Zurückkunft ins Zimmer sagte Herr G** zu mir: Nun haben Sie einen Bauern-Roman [60] gehört! Das war dauerhafte Liebe! Er soll sie haben! – O, ich danke Ihnen dafür, sagte ich, ganz bewegt; und Frau G** fuhr fort: Was für Gepränge würde ein Mann von Stande machen, wenn er solche zärtliche Gesinnungen für seine erste Geliebte behalten hätte!

Mich, Mariane, freute seine Begierde, ihr Gutes zu thun, ihre Schulden zu bezahlen und ihre alten Tage ruhig zu machen! – War nicht der ganze Gang seiner Leidenschaft schön? voll redlicher Zärtlichkeit, ob er sie schon nicht nach unsrer künstlichen Sprache ausdrückte? –

Herr G** sagte, dies wäre der zweite sonderbare Charakter, den er unter den hiesigen Landeinwohnern gefunden hätte, indem vor zwey Jahren, da ein jung verheyratheter Bauer, wegen eines großen Vergehens, auf vier Jahre zum Schanzen verurtheilt worden, sein noch ziemlich gerüsteter Vater gekommen wäre, und sich angeboten, die Strafe für seinen Sohn zu tragen, und zur Ursach anführte: Er hätte noch Kräfte genug, vier Jahre zu arbeiten, so daß die Herrschaft nichts verlöhre; stürbe er dann, so wäre alles vorbey, [61] wo hingegen sein Sohn, ein junger starker Mann, seine Schande lange Jahre mit sich tragen, und auch seine arme Kinder darunter leiden würden. Nun könnte er sich bessern, und die vier Jahre über seine Güther wohl bauen und noch lange ein braver Mann seyn, damit wäre den Kindern und der Herrschaft mehr gedient, als mit ihm alten Mann, den das Unglück seines Sohnes zur Erde drücken würde! – Herr G** stellte ihm vor: er könne den Unschuldigen nicht anstatt des Schuldigen strafen. Der alte Mann sagte: Vater und Sohn wär' einerley. – »Euer Sohn würde das für Euch nicht thun.« »Darum ist er auch mein Sohn, und nicht alt genug, alles recht einzusehen.« – Herr G** gab einen Bericht an die Regierung über diese Sache, und der junge Bauer wurde wegen seines treuen Vaters begnadigt. – Mit gerührtem Herzen dankte ich Herrn G** für diese Erzählung, und pries ihn glücklich, diese Herzen bey seinen Untergebenen zu haben, und setzte hinzu, nun wäre mir Herrn Grays schöne Elegie auf einem Landkirchhof noch werther, als sonst! Er kannte sie nicht; aber, da ich sie immer in meinem Taschenbuch [62] habe, so gab ich sie ihm zu lesen. Sie gefiel ihm, und er ging hin, sie abzuschreiben, wie ich in mein Zimmer, um Ihnen diese zwey Anekdoten mitzutheilen. Sehen Sie sie als moralische Gemählde an, die ich auf meiner Reise zeichne, wie ein wandernder Landschaftmahler in seine Schreibtafel eine Gegend zeichnet, die seine Kenntniß rührt, und mit Dankbarkeit die Bäume bemerkt, unter deren Schatten sein Aug' desto freyer umher sehen konnte; noch weniger den kleinen einsamen Bauerhof vergißt, dessen Strohdach den Landmann deckt, der mit fleißiger Hand die Fluren umher anbaute, die so schön blühende Bäume zog, und das Bächelchen durch die Wiese leitete, welche zusammen dem Schönheit fühlenden Auge des geistreichen Mahlers so viel Reize zeigte. Er denkt: Ich will dich mahlen, kleine Hütte, die dem Manne zur Obhut dient, dessen Rechtschaffenheit ich auf seinen Feldern und Wiesen sehe! Ihr fruchtbaren Bäume, die ihr, von ihm gepflanzt, unter seiner emsigen Aufsicht in die Höhe wuchset, ihr sollt mein Gemählde, so wie diese Gegend verschönern! Vielleicht bleibt der getreue Abriß von dir, holde ländliche Aussicht! wenn [63] einst die Verheerung eines unseligen Krieges dich, Hütte, verbrannt, deine Bewohner verjagt, und die blühenden Bäume abgehauen hat! – Er schließt seine Schreibtafel, blickt noch mit einem segnenden Aug' auf das kleine Bauerguth, und sagt: Wie viel bist du glücklicher, armer Mann, als manche Reiche, die ich kenne! Ein jeder Blick, den du auf den Krais deines Lebens thust, zeigt dir aufwachsendes Gutes, so deine Hand säete und pflanzte; du kannst allezeit bey dem Untergang der Sonne, mit Zuversicht, um Segen für die Arbeit deines Tagwerks bitten, welches nicht alle Große, nicht alle Mächtige thun können, wenn der Schlaf ihre Augen schließt. –

Ich habe zwey moralische Scenen aus der Bauerwelt aufgezeichnet, deren Andenken der Zufall erhalten kann, wenn auch die verdorbene Sitten der Nachkommen die schöne Triebfedern dieser Auftritte auf lange Zeit zerstören sollten. –

Rosalia. [64]

13. Brief
Dreyzehnter Brief

Ich bin noch immer auf dem Lande, bey Herrn G**. Weil mein Oheim eine Reise von drey Wochen mit Hrn H** macht, so habe ich ihn gebeten, mich hier zu lassen, und dadurch Frau G** sehr erfreut, indem sie sich noch nicht in die Abwesenheit ihrer Schwester finden kann. Der Herr Pfarrer M** K**, einer der würdigsten Männer seines Standes, leistet uns oft Gesellschaft, und sein Umgang bereichert meine Seele. Durch ihn werde ich auch eine ganz besondere Person unsers Geschlechts kennen lernen. Frau G** hatte gestern Nachmittag zu schreiben, und ich bat Herrn M** K**, mit mir auf den alten Thurm des Schlosses zu steigen und mir die Ortschaften umher zu weisen. – Die Lage eines Weilers von ohngefähr sechs Bauerhäusern, und am Ende eines Fichten-Wäldchen, dünkte mich besonders schön, und er sagte mir, daß die Höfe zu seiner Pfarre gehörten, und daß ich Recht hätte, diesen Wohnplatz schön zu nennen, indem [65] der kleine Bezirk Erdreich dieses Ortes jede Anmuth und Wohlthat der Natur in sich faßte. Bey vier Jahren aber genössen die sechs Familien, so da wohnten, einen Schatz moralischen Gutes, der alles überträfe. – Ich sahe ihn da mit der Miene an, die man hat, wenn man über Etwas staunt und begierig ist, das Wunderbare ganz zu wissen. Er hieß mich das Fernglas nehmen, und am Ende des Fichtenwäldchens nach dem Bauerhause umsehen, das ich bis an den Gipfel mit Epich bewachsen sah, der an den Fenstern nett ausgeschnitten war, und mit dem hellrothen Ziegeldach einen artigen Abstich machte. – Dies, sagte Herr M** K**, ist das Wohnhaus einer der edelsten und seltensten Personen ihres Geschlechts, welcher die Vorsicht jedes Glück dieser Erde gab: aber, zu der Zärtlichkeit ihres Herzens einen so hohen Grad feiner Empfindung legte, daß das Gegengewicht ihrer Leiden all ihre Freuden und Vergnügen übertrift. Eine reizende Gestalt, jede Schönheit des Geistes, die ein gewisser Grad Kenntnisse einem Frauenzimmer geben kann; eine große Seele, voll jeder Tugend; Clavir-Spiel, Singen, Pastell-Mahlerey, und bey diesem [66] noch freye Gebieterinn über ein großes Vermögen. Aber, zum Unglück heftete sie ihre Liebe auf einen Mann, der ihre Empfindsamkeit nicht genug schonte, und ihr auch das Opfer einiger niedrigen Neigungen nicht machen wollte, während sie jähe und heftige Ausbrüche des Zorns an ihm ertrug; auch in vielen Stücken ihre Empfindlichkeit unterdrückte, und mit dem Uebermaaß ihrer Liebe vieles, was sie schmerzte, übersah; aber, da er anfing, mit einer Art Fühllosigkeit ihres jeweiligen Kummers zu spotten, und auch gegen andre von ihrer zu weit getriebenen Feinheit in geringschätzigen Ausdrücken zu reden: so verlohr sie den Glauben an das Glück der Liebe. Sie konnte den Gegenstand ihrer Zärtlichkeit nicht mehr als einen edelmüthigen Mann ansehen, nicht mehr hochachten. Ihre mißhandelte Zärtlichkeit, der Verlust der Hofnung, daß sie durch ihre Gesinnungen das Glück ihres Geliebten seyn würde, stürzte sie in eine Art von Schwermuth, die gleich in den ersten Monaten den Grund ihres Lebens angriff. Die Gewalt, welche elende Katzenstreiche von kleinen Coquetten über das Herz des Mannes hatten, den sie so innig liebte,[67] rauhe, unedle Begegnung, die sie von ihm erduldete, haben in der Stadt ihre Grube angefangen. Eine, ihr Herz zerreissende Zärtlichkeit führt sie dahin. Unschuld, Einfalt und Stille des Landlebens, haben sie bis jetzo erhalten: aber sie lebt nicht mehr, sie schmachtet nur!

Ich war äußerst aufmerksam und gerührt, denn ich hörte in alle dem den Gleichlaut des Tons meiner Art zu lieben. Dennoch sagte ich: Ach, warum konnte ihr edler Geist diese traurige Liebe nicht überwinden? – O, tadeln Sie sie nicht, sagte der würdige Mann, und fassen Sie das Ganze ihres Charakters zusammen. Ohne den hohen Grad feiner Empfindung würde ihre Seele nicht so edel, nicht so moralisch seyn, als sie ist. Ohne die Gabe des anhaltenden Fleißes und Festigkeit im Vorsatz, hätte sie die Stufe der Kenntnisse und Künste nicht erreichen können, die sie hat. Aber, eben die Triebfedern, welche diese Wirkungen in ihrem Verstande und Herzen hervorbrachten, mußten natürlicher Weise den Leidenschaften ihrer Seele die nehmliche Eigenschaften mittheilen. – Lächelnd setzte er hinzu: War nicht der eifrige Widerstand, den [68] Rosalia v. L** gegen das Pfandspiel machte, auch ein Stück fester moralischer und Liebe Feinheit? – Ich fiel ein: O, Herr M** K**, was holen Sie da für einen Beweis? – Denn, daß wir bey ernsthaften Anlässen nicht das Einzelne, sondern das Ganze, beurtheilen müssen. – Vergeben Sie mir diese Anmerkung, und lassen mich fortfahren, setzte er hinzu. – Meine Miene bezeugte ihm meine Aufmerksamkeit. – Ich beobachte, seit beynah vier Jahren, den Gang des Charakters der Fräulein v. Effen, und finde nichts stückweis, als ihr Glück. Sie bezog, ganz finster, ganz in sich gehüllt, zwey Stübchen auf einem dieser Höfe. Die süsse Ruhe der Natur besänftigte ihren Gram, und gab ihr den Entschluß, auf immer da zu bleiben. Sie baute sich ein ländliches Haus neben einem Bauer, den sie zu ihren Landwirthschafter behielt, und fing eine Schule für die Kinder des Weilers an, wodurch ich mit ihr bekannt wurde. Ideen von Verzierung, die sie mit aus der Stadt brachte, und ihre Freygebigkeit, sind Ursache, daß diese Höfe, obwohl nichts kostbares, nichts anders, als andre Bauernhäuser, dennoch etwas außerordentlich Reizendes [69] bey dem Simplen haben. Die Zufriedenheit, der Wohlstand, die Reinlichkeit, die nette Kleidung der Einwohner, die Reihen Bäume an den Häusern, die grüne Lauben und Rosenbüsche in jedem Garten, alles das ist ihr Werk; denn bey dem tiefen Widerwillen, den sie gegen alles, was Stadt- und große Weltmenschen angeht, hat, liegt ein ausgebreitetes Wohlwollen in ihr. Ich bin ihr Almosenpfleger gegen die in der Stadt wohnende Gegenstände ihres Mitleidens. Sie hat aber in den vier Jahren Niemand zu sich gelassen, als ihre Landfreunde, wie sie ihre Bauern und mich nennt; doch, denke ich, soll Rosalia L** eine Ausnahme finden, denn sie war von dem Sonderbaren, so ich von Ihrem Bezeigen bey dem Pfandspiele erzählte, ganz eingenommen, und der Gedanke, daß Sie Freunde sind, und bald wieder abreisen, hat sie zu meinem Vorschlag, Sie einmal zu den Schulkindern zu führen, ziemlich geneigt gemacht. Sagen Sie mir, ob Sie zufrieden wären, diese seltene Seele selbst zu sehen? – Gewiß, werthester Herr M** K**, würde ich den Tag segnen, an dem ich eine Person [70] sehen werde, die ihre Kummertage zu Tagen des Wohlergehens für andre macht. –

Ich fühle, o meine Mariane, ich fühle tausend simpathetische Bande, die mich an Henriette v. Effen ziehen. In zwey Tagen will mich Herr M** K** hinführen. Ich bin diesen Nachmittag schon zweymal auf dem Thurm gewesen und habe nach ihrem Hause gesehen. Die Farbe der Fichten dünkt mich melancholischer und die ganze Gegend sanfter, als sie mir vor dieser Nachricht schienen; und, meine Freundinn, Erinnerungen, Nachdenken und Vergleichungen, machen, daß ich diesen Brief mit thränenden Augen schließe.

Rosalia. [71]

14. Brief
Vierzehnter Brief

Ich komme von dem Fräulein von Effen. Noch ganz bewegt und mit thränendem Auge schreibe ich Ihnen, meine Mariane; aber, möge ich ja niemals den Mann sehen, der dieses Herz brechen konnte! – Doch, Sie werden lieber meine Erzählung, als meine Betrachtungen lesen wollen! –

Der Herr Pfarrer M** K** holte mich um halb acht Uhr ab. Ich war in Leinen, aber ganz nett angezogen. Während des Wegs wollte ich von Herrn M** K** unterrichtet seyn, welches die beste Art des Bezeigens bey dem Fräulein von Effen seyn würde? Er sagte mir aber, ich möchte nur meine Empfindung reden lassen! Es wäre bey diesem Frauenzimmer nicht, wie in der großen Welt, wo die aufrichtigste Hochachtung und die besten Gesinnungen des Herzens nicht allezeit geschätzt und beliebt seyn, weil da Menschen und Bekanntschaften so häufig abwechselten, sich verdrüngen und auslöschten, wie die Wellen einer unruhigen See. – Je näher [72] ich dem Hause kam, je stiller wurde ich, besonders, da wir einen Fußweg zwischen zween Gartenhecken gehen mußten, der sehr lang und nur für eine Person breit war. Das Fräulein hatte ihn auf beyden Seiten mit kleinen Gräben zum Ablauf des Wassers versehen, und in der Mitte pflastern lassen. Am Ende fand ich mich auf der Straße des Weilers. Die ungleich gesetzten Bauerhäuser, mit ihren Bouquetweis gepflanzten Bäumen, machten für mein Aug ein reizenders Ansehen, als wenn sie in einer ermüdenden geraden Linie stünden. Jetzo sieht bald ein Haus über die Ecke eines Gartens heraus, oder es liegt ein Stück Kornfeld zwischen den Bäumen des dritten und vierten Hauses. Ich blieb an der Seite stehen, und betrachtete einige Minuten die schöne Nachläßigkeit, durch welche sich Natur und Kunst mit einander verbunden hatten; dann gingen wir dreysig Schritt lang an einer niedrig gehaltenen Tannenhecke, die an der Mauer der Zimmer des Fräuleins von Effen gezogen ist. Unter dem Thorweg, der des Bauren Haus von dem ihrigen absondert, traten wir gleich drey Stuffen hoch auf einen kleinen Gang, und von diesem in die Schul- [73] und Spinnstube, wo zehn ganz ländlich, aber äußerst reinlich gekleidete Kinder, von verschiedenem Alter, auf Strohstühlchen saßen, und theils Baumwolle, theils Flachs spannen. Etliche, vier bis fünf Jahr alte Buben sassen auf dem Boden und zupften die Baumwolle; alle ganz gesund und vergnügt aussehend. Große Fenster in den Gemüsgarten und Viehhof stunden offen, gaben dem Zimmer frische Luft, und zugleich eine freundliche und nützliche Aussicht, weil die Kinder, während der Arbeit ihres jetzigen Alters, die Geschäfte ihrer künftigen Jahre und Berufs verrichten sahen. Alle stunden auf und grüßten den Herrn M** K** mit der Liebe, die ein guter Hirte von seinen Schaafen zu erwarten hat. Die älteste Tochter des Hofbauern, und die Hausmagd des Fräulein von Essen, waren auch da und arbeiteten fleißig mir. Ich sahe mich von Freude, Unschuld und Fleiß umgeben, und ein Frauenzimmer, nicht viel älter als ich, hatte dieses hervorgebracht! Herr M** K** überließ mich meinen Betrachtungen und sprach mit dem Einen und Andern der Kinder; indem schlug es Acht, und das Fräulein kam mit ihrer Köchinn, die einen Korb [74] voll Brod und Birnen hatte, in die Stube. Ihre Gestalt machte mich staunen, und mein Anblick goß eine leichte Röthe über ihr blasses, aber sehr edel gebildetes Gesicht. Herr M** K** sagte ihr: »Hier, mein Fräulein, ist Rosalia L**, die so begierig war, unsere Schule und die Stifterinn davon zu sehen.« Diese Begierde habe ich Ihnen, mein Herr Pfarrer, zu danken, weil Sie so vortheilhaft von mir und meinen Kindern redeten. – Dieses, meine Mariane, sagte ein schöner Mund, mit dem rührendsten Ton der Stimme. Stellen Sie sich dabey ein Frauenzimmer vor, etwas größer und schmächtiger, als ich; ein länglich Gesicht; eine hübsche griechische Stirne; große dunkelblaue Augen; vortrefliche Augbraunen; die schönste Leibesgestalt; einen edlen Gang, und Bewegung des Kopfs und der Arme; alles mit einem Gemische von Schwermuth und Güte durchdrungen! Denken Sie sich mein Herz, und was ich von ihrer Geschichte wußte: so sehen Sie gewiß Ihre Rosalia mit der Thräne der feinsten Empfindung gegen das Fräulein von Essen treten und halb stammelnd sagen: »O, möchten Sie wissen, wie sehr ich Ihnen [75] für die Erlaubniß danke, diese Stube und Sie zu sehen!« Sie blickte mich mit sichtbarer Bewegung an, nahm eine meiner Hände, die sie sanft drückte, legte ihr Gesicht an das meine, und dann sagte sie zu Hrn M** K** auf Englisch: »Ach, diese Thränen der edlen Zärtlichkeit fallen auf mein Grab!« – Gott wird es verhüten, sagte ich schnell, indem ich sie an meine Brust drückte. Sie lichtete sich mit halbem Lächeln auf und sagte ganz gesetzt: »Diese Hofnung kommt zu spät.« Herr M** K** war still, ich auch, und alle aufmerksam. Sie beobachtete es, und wandte sich gegen ihre Magd, indem sie daneben zu mir sagte: »Vergeben Sie! Aber meine guten Kinder arbeiten schon seit sechs Uhr. Sie müssen ihr Frühstück haben; nach diesem aber nehmen Sie und der Herr Pfarrer eines in meinem Zimmer an.« Da ging sie und theilte das Brod und die Birnen aus; besah das Garn; gab jedem Kinde die Hand; fragte das Eine nach der kranken Mutter, das Andre nach dem alten Großvater u.s.w. – Ich wunderte mich über den schnellen Schritt, mit welchem sie von dem rührenden Auftritt unsrer[76] Umarmung, zu dem Grad Heiterkeit überging, mit welcher sie das Frühstück austheilte. Herr M** K** sagte mir nachher, wenn ich oft um sie wäre, so würde ich diese Uebergänge des Aufopferns ihrer Selbst vielfach bemerken. Indem sagte das Fräulein den Kindern sehr liebreich: »Nun geh' ich mit dem Herrn Pfarrer zu reden, aber Mittags esse ich mit euch!« – wandte sich und gab mir mit vielem Anstand die Hand, und führte mich über den Thorweg, an der andern Seite in ihre Wohnung. Bey dem Eintritt in ihr Vorzimmer mußte der Anblick der sonderbaren Zierlichkeit einen Eindruck auf mich machen; Herr M** K** sagte mir auch, es wäre etwas Stutzendes, und dabey sehr Vergnügtes über mein Gesicht gegangen. Ich sah das Fräulein bey dem Fortgehen ins Wohnzimmer stillschweigend an, und sie machte gleich darauf eine Bewegung mit der Hand gegen Herrn M** K** und mich, indem sie auf die Stühle wies, und ging mit etwas wankendem Schritt in ein Cabinet. Das Vorzimmer ist Meergrün und weiß; das Wohnzimmer aber Cramoisi und weiß laquirt, weil alle Wände mit sehr schöner, aber [77] simpler Holzarbeit gemacht sind. Hohe Zimmer; die Fenster bis auf den Boden. Anstatt der Brustmauer ein schön eisernes Gitter, so, daß man die freye Aussicht auf Feld und Garten hat. Von Aussen sind auf die nemliche Brusthöhe Läden, die mit der Mauerfarbe übermahlt sind, und im Winter und bey übler Witterung zugehalten werden. Alle Schränke sind im Täfelwerk, so, daß die äußerste Ruhe und Einfalt in allem herrscht. Sie blieb lange weg, ohne daß indessen Herr M** K**, oder ich, redeten. Endlich brachte ihr Aufwartemädchen den Caffeetisch, und das Fräulein folgte. Ihre Augen schienen thränend. Sie schenkte uns eine Tasse ein und sagte: »Ich bin lange weggeblieben, aber mir war nicht ganz wohl, indem mir eine gewisse Art Freude so fremd geworden ist, daß ich sie nicht mehr zu tragen weiß.« Bey diesen Worten sah sie mich mit einem schmerzhaften Lächeln an, und ich erwiederte: Es würde mir sehr leid seyn, wenn das Vergnügen, so ich über ihre Bekanntschaft empfände, ihr auf irgend eine Art schädlich seyn sollte. »Nein, nicht schädlich! Es wird nur zu einer angenehmen Abkürzung meines[78] Weges!« Ehe ich, oder der Herr Pfarrer, etwas darauf antworten konnten, sagte sie zu diesem: »Sie wissen, daß ich freymüthig bin, und Ihnen, nach allem, was Sie mir von Rosaliens Charakter sagten, gern erlaubte, auch ihr ein Gemählde von mir zu machen. Ich fühlte eine innige Zufriedenheit, noch vor meinem Hingang eine Person zu sehen, von welcher mir mein Herz sagte, daß sie mir alles Verlohrne hätte ersetzen können, wenn ich sie früher gesehen hätte.« Ich näherte mich ihr auf dem Canapee und nahm ihre gegen mich liegende Hand: Mein theures Fräulein, wie sehr erheben Sie mich! und wie glücklich wäre ich durch Ihr Vertrauen und Ihre Liebe gewesen! – »O, Herr M** K**« sagte sie, ohne mir anders als durch sanftes Drücken meiner Hand zu antworten, »was haben Sie gethan, daß Sie unsere gütige Rosalia hieher führten! und wie unvorsichtig war ich für mich und Sie, meine edle Freundinn! denn Ihre und meine Ruhe leidet. –« Verzeihen Sie, sprach Herr M** K**, eine Absicht, die ich beynah vier Jahre fruchtlos sah, aber unermüdet fortsetzte. Ich [79] wünschte in Ihnen das Verlangen nach Glück und Leben wieder zu erwecken, weil dadurch die physikalischen Hülfsmittel auch mehr gefruchtet hätten. »Es ist weise Freundschaft in dieser Absicht, und mehr Tugend, als in meinem bisherigen Widerstreben! – Aber, meine werthen Freunde, ich glaube, daß mein Schicksal entschieden ist, denn ich bin unter der Last meines Kummers und meiner Empfindsamkeit so tief gesunken, so ermattet, daß ich nicht mehr Kraft genug habe, mich an der liebreichen Hand festzuhalten, die mich retten will!« Hier sah sie mich mit einer unbeschreiblichen Wehmuth an, erhob ihre schöne Augen einen Moment gen Himmel, und weinend sagte sie: »Rosalia! Ihre Freundschaft ist eine Blume, die an dem Rande meines Grabes sproßt. Sie müssen leiden, daß ich sie mit Thränen benetze! – Wie lange bleiben Sie noch auf dem Schlosse R**?« Noch einige Wochen, meine Henriette, und ich hoffe Sie alle Tage zu sehen. – Sie faltete ihre Hände mit einer freudigen Bewegung und wiederholte: »Noch einige Wochen! und alle Tage wollen Sie mich sehen! O, Herr M** K**, wie [80] schön wird der Abend meines Lebens!« Ich hoffe, antwortete Herr M** K**, es soll die Morgenröthe eines noch heitern Tages werden! – Mit einem halben Lächeln und einer unnachahmlichen Stimme und Bewegung des Kopfes, sagte sie darauf: »Gerne, sehr gerne will ich diesen Tag sehen! Aber –« Nun hörten wir die Kinder im Hofe, und sie sagte uns nach einigem Schweigen: »Diesen Morgen war ich sehr glücklich. Ich danke der Vorsicht und Ihnen dafür. Jetzt will ich mit meinen Kindern essen, und hoffen –« Herr M** K** nahm seinen Stock und Hut, und ich umarmte die liebe schwermüthige Henriette, mit einer bedrängten Zärtlichkeit. Sie legte ihren Kopf ein Paar Augenblicke auf meine Brust, und machte darauf eine sehr edle Verbeugung gegen uns beyde. – Morgen, meine Mariane, das Uebrige. Hätte ich doch Ihre Klugheit, bey meiner Liebe für das reizende Geschöpf! vielleicht könnte ich ihr Gutes thun, aber ich nähre gewiß nur ihre Empfindung, und diese tödtet sie. Wenn ich nur die etlichen Wochen noch hier bleibe, die ich ihr versprach!

Rosalia L**. [81]

15. Brief
Funfzehnter Brief

Der Herr M** K** und ich gingen den Fußsteig ganz still und trübsinnig hin. Auf dem Felde sah ich ihn an, und er fragte mich, wie mir Henriette gefiele? – Was für eine Frage, Herr M** K**? Mein ganzes Herz ist bey ihr geblieben. Aber, warum redeten Sie so wenig? warum kämpften Sie nicht gegen die düstre Anfälle der Schwermuth? – Gegen eine aufgebrachte Einbildung kämpfen, wäre eben so viel, als das Uebel mit Widerhaaken befestigen! Mein Schweigen und der ungestörte Gang ihrer jetzigen Empfindungen müssen sie zu heilen anfangen, oder es ist alles vergebens; ich habe nun über drey Jahre alle Mittel der Ueberredung und des Zuspruchs versucht. Meine Vorstellungen fanden eben so wenig Eingang, als Personen, die sie besuchen wollten. Ihre Bekanntschaft wird eine Aenderung hervorbringen. Der natürliche Hang zu zärtlichen Regungen, zu starken moralischen Zügen des Charakters, ist aufgeweckt; ich habe sie das [82] Leben niemals wünschen hören, als heute; und lange suchte ich nichts, als ihrer Zärtlichkeit eine andre Wendung zu geben, weil ich wohl sah, daß die immer gleiche Spannung ihrer Seelenkräfte ihr Leben sichtbar schwächte. – »Sie ist Heut auch über meine Liebe und meine Unterredung matt und krank geworden!« – Dieses schreckt mich nicht, wie mich ihr Muth würde geschreckt haben. – »Aber Muth zeigt Stärke an!« – Bey Gesunden! aber, bey dem Kranken ist er, was das letzte Auflodern der Flamme einer erlöschenden Lampe ist. Ich habe es bey der Aufnahme des Webers erfahren. – »Wie war dieses?« Er fing an zu erzählen:

Vor ungefähr anderthalb Jahren, kam gegen Abend ein großer Mensch sehr langsam und mühselig an das Fichtenwäldchen, weil er das eine Bein nur schleppte. Da er das Fräulein und mich erblickte, setzte er sich, hob beyde Hände auf und rief: O, Herr Pfarrer, erbarmen Sie sich meiner! – Ich eilte zu ihm, und sah in seinem Gesicht jeden Zug des Schmerzens und der Redlichkeit. – Was fehlt Euch, mein Freund? – Er wies mir sein Bein, welches durch einen Fall, den er von [83] einer Anhöhe gethan, und von einem Steine, der ihm nachgerollt, sehr beschädigt und ganz dick aufgelaufen war. Ich sagte ihm, ruhig zu seyn, ich würde für ihn sorgen; ließ ihn auch in den Ort tragen, Aufschläge machen, und alle sonstige Hülfe leisten, weil ich wußte, daß das Fräulein alles geben würde, was ihm nöthig wäre. Ihre Güte hat auch die natürliche Menschenliebe unserer Landleute erhöht, so, daß diese dem Menschen alle gute Dienste erwiesen. Sein dankbares Herz zeigte sich in jedem Worte. Bey seiner Erholung kam er zum Fräulein, um ihr zu danken, setzte aber die Bitte hinzu, daß sie ihre Wohlthätigkeit an ihm vollkommen beweisen, und ihn zum Weber des Orts aufnehmen möchte; er wüßte, daß sie viel spinnen ließe; er wäre ein guter Weber, und möchte gar gern sein Leben bey so guten Menschen zubringen, die er hier angetroffen habe. – Sie war über den Vortrag und die Wünsche dieses Menschen gerührt, und gestattete ihm nicht nur die Aufnahme in einem ihrer Häuser, sondern versprach, ihm eines zu bauen, und das gute Mädchen auszusteuren, das er heyrathen wollte. Dieser ganze Morgen war ihr munter vorbey gegangen. [84] Nachmittags kam ich, und sie erzählte mir das Ansuchen des Webers, und ihre Entwürfe zu seinem Glück. Ich dachte, die Gelegenheit sey vortheilhaft, in ihr einen Ruf zur Rückkehr in das gesellschaftliche Leben zu erwecken, da ich ihr vorstellte, wie schon allein aus ihrer Freundschaft für mich die Quelle so vieles Guten, das sie ihrem Nächsten bewiese, entstanden sey. Je größer der Kreis ihrer Bekannten würde, je mehr Gegenstände ihrer Menschenliebe sie finden könnte, ohne das Beyspiel zu rechnen, welches ihre thätige Tugend verbreiten würde. – Sie antwortete mir auch in einem ganz heitern Tone, und versprach mir, öfter davon zu reden. Sie ließ auch den jungen Weber und den Bauer mit seiner Frau kommen, deren Tochter er seit seiner Krankheit aus Dankbarkeit liebte. Ich mußte aufschreiben, was sie für die junge Leute thun wolle, um mit dem Oberbeamten zu reden, und Bauleute zu des Webers Hause zu bestellen. Sie fühlte die Freude der Eltern und Kinder mit ihnen, und unterhielt sich bey einer Stunde mit dem Entwurfe eines kleinen Landfests, das sie allen Einwohnern der Höfe bey der Hochzeit des Webers [85] geben wollte, wo auch meine Frau und Kinder dabey seyn sollten. Ich war froh, Ideen von austheilender Freude in ihr zu sehen; denn das Gute, so sie zwey Jahre lang gethan hatte, war gleichsam nur die Absicht, Schmerz und Elend von ihren Nebengeschöpfen zu entfernen. Und ihre melancholische Güte hatte immer Etwas so Ernsthaftes und Feyerliches, daß auch die Zufriedenheit der Leute nur durch stille Beruhigung, und nicht durch frohlockendes Vergnügen wahrgenommen wurde. Ich ging sehr getrost nach Hause. Aber, den andern Tag ließ mich ihre Jungfer holen, und ich fand sie so schwach, so niedergeschlagen, daß ich an nichts, als an die Rettung ihres Lebens denken konnte; und aus dem traurigen Abscheu, den sie gegen die öftern Besuche des Arztes zeigte, fand ich, daß ihr Widerwillen aufs Neue die Oberhand gefaßt hatte. Das Haus des Webers wurde gebanet, eingerichtet und mit drey Webstühlen versehen. Er nahm seine Frau, ohne daß die Frage von Freudentagen war; und ich fand sie öfter in Thränen als vorher. Ihre Kräfte wichen mit der Heiterkeit. Nur dieses Frühjahr erholte sie sich in etwas, da sie, auf mein Anrathen, [86] anfing, die Kräuterkenntniß zu lernen, sie nach den Monaten zu suchen, zu trocknen und zu bemerken. Sie hat sich auch, seit dieser Krankheit, nur mit den Schriften der Naturlehre beschäftiget. Was die moralische Welt der Menschen anginge, davon wollte sie nichts wissen, als was die beträfe, die bey ihr wohnten. Sie bat mich, ihren kummervollen Eigensinn mit Geduld zu tragen, und keine Gesellschaftsvorschläge mehr zu thun. – – Er that es auch, bis auf meine Bekanntschaft, da der gute Herr M** K** glaubte, sehr übereinstimmende Gleichheit der Seelen könnte nach und nach auf Henrietten wirken, weil der Zustand ihres Gemüths sehr gewaltsam wäre; und er behauptete, daß der kleine bilderreiche Schwung, den sie ihren Ausdrücken gegeben hätte, schon einen Grad Abänderung bezeichnete, und er wünschte nur, daß mein Aufenthalt in R** von einiger Dauer seyn mögte, indem er hofte, ich würde gern Etwas zur Genesung des edlen Mädchens beytragen. –

Sie denken wohl, meine Mariane, daß ich es versprach! aber, das Uebel liegt tief [87] in der Seele Henriettens! – O, wie sorgsam will ich den Gang meiner Empfindsamkeit beobachten! Sie könnte mich auch in einen Abgrund von Jammer führen, wo ich mein mir zur Glückseligkeit gegebenes Leben verseufzen müßte! –

Rosalia. [88]

16. Brief
Sechszehnter Brief

Heute, meine edle, geliebte Mariane, habe ich gewiß die beste Freude meines Lebens genossen, die Freude über das Glück meines Nebenmenschen.

Ich war mit Madame G** bey ihrem Bruder F**, der ein ganz vortreflicher Mann von Geist und Herzen ist, dessen bisherige Beschäftigungen aber, so mühsam sie waren, so treu und eifrig er sie besorgte, seinem Glück noch keinen festen Standort geschafft hatten, und auch der Größe seiner Talente nicht ganz gemäß waren. Mancherley Auswege und Wendungen hatte er versucht, um die Erfüllung seiner Wünsche zu erhalten, aber jeder Anschlag mißlang, und die Niedergeschlagenheit fing an, sich seiner zu bemächtigen, um so mehr, als er einige Kinder um sich aufwachsen sah, zu deren Unterstützung er sich nicht vermögend genug dachte. – Ich nahm, wie Sie glauben werden, Antheil an dem Kummer des rechtschaffenen, nützlichen Mannes und des Familien-Vaters, ohne daß [89] ich ihn lindern konnte. Heute aber theilte ich das Entzücken, über die Nachricht von einem ihm zugedachten Amte, in welchem sein Genie und seine Menschenliebe, in einem weiten Felde der Ehre und Nutzbarkeit handeln können.

Dieses Glück erhält er durch die Hand eines gerechten, edelmüthigen Freundes, den die Vorsicht bestimmte, dem wahren Verdienste die Hand zu reichen, und an die Stelle zu führen, wo der Bedrängte Schutz von ihm erhalten, und ein ganzer Staat die Freude genießen kann, daß ein tugendhafter Mann alle Kräfte seines Geistes und Lebens für das ihm anvertraute Amt verwendet. –

Hätten Sie doch, o! meine Mariane, das reizende Gemisch gesehen, das aus der so natürlichen Freude, über die Erhaltung des gesehnten Glücks, des Danks gegen die Vorsicht, der Liebe gegen den Landsherrn, und des Segens für den Freund, entstand! Hätten Sie auch die frohen Gelübde, und die Entwürfe eines edlen, für die Nebenmenschen nützlichen Gebrauchs der Gewalt, mit angehört! – Gott segne den vortreflichen Mann, der die Thräne der Freude über die Wange des besorgten [90] Rechtschaffenen herunter träuflen machte! Und ewig lohne die göttliche Vorsicht den Fürsten, dessen Seele den großen würdigen Entschluß faßte, das verfolgte Verdienst empor zu halten und zu beschützen! –

Wie glänzend erschien auch in diesem Augenblicke die eheliche und väterliche Liebe! – Eine gefühlvolle Frau, deren ganzer Stolz in dem Namen ihres Mannes liegt, drückte die Hand ihres Gatten an ihre Brust, und sagte mit so viel Zuversicht und Glauben an Tugend: »O! mein theurer geliebter Mann, wie sehr freue ich mich, Deine Talente in völliger Wirksamkeit zu sehen! – Wie viel Gutes wirst Du thun! wie viele Glückliche machen! – Alle Menschen, die ich erblicke, sind mir lieber, als sonst. Die Glücklichen und Vergnügten werden Zeugen von Deiner Rechtschaffenheit seyn, und die Leidenden von Dir getröstet und aufgerichtet werden! –« Was für eine Menge Gutes Du von mir denkst, meine Liebe! sagte er lächelnd. Auch wegen Dir, wegen Deiner Ruhe, bin ich froh! – Gegen seine Kinder wandte er sich, mit dem thränenden Auge und dem Tone der Seele eines treuen Vaters: [91] »Um Eurentwillen danke ich Gott am meisten, für die Befestigung meines Wohlstands! Nun habt Ihr ein Vaterland. Die Erde weicht nicht mehr unter Euren wankenden Schritten, und ich habe ein Ziel vor mir, dem ich Euch zuführen kann. Niemals, o meine Kinder, werdet Ihr Enten Vater gegen seine Pflichten und gegen seinen Rächsten handeln sehen.« – Die guten liebenswerthen Kinder, die mit Bewegung den Armen ihres Vaters zuliefen, gerührt waren, und es nicht ausdrücken konnten! Herrn Fr**, in dessen zum Himmel erhobenen Gesicht sich edle Empfindungen, edle Entschlüsse zeigten – O, Mariane, der Dank, die Gelübde des tugendhaften Herzens sind gewiß der würdigste Weirauch, den die gütige Vorsehung von ihren armen Erdenkindern erhalten kann! – Was mich noch innig freute, war, daß kein einziger Entwurf von Eitelkeit die Gesinnungen des Vaters und der Mutter entheiligte. Madame G** sagte auf einmal zu ihrem Bruder: Was werden nun Deine Feinde sagen? – Feinde, meine Schwester? mein Herz kennt keinen, und Gott soll mich vor den Gesinnungen bewahren, die einen [92] Feind bezeichnen. Mißvergnügte werde ich sehen; denn es ist natürlich, daß diejenigen, welche den Platz suchten, den ich erhielt, unzufrieden seyn werden: aber, der Gebrauch, den ich von Glück und Leben machen will, soll mir den Beyfall edler Seelen erwerben, und auch diejenigen Widriggesinnten wieder günstig machen. Ich habe in sehr vielen Gelegenheiten meine Miteinwohner gerechte und schöne Handlungen ausüben gesehen, warum sollten sie gegen einen Mann unbillig seyn, der ihnen den redlichsten uneigennützigsten Eifer für seine Pflichten und ihr Wohlergehen zeigen wird.

Würden Sie nicht, meine Freundinn, mit mir in Ihrem Herzen gesagt haben: Gott segne dich, Menschenfreund! wegen deines Vertrauens auf Gerechtigkeit und Güte deines Nächsten! – Wie liebte ich den Mann, der alles, was seine Nächstenliebe erkalten konnte, zurück stieß, und bey der Empfindung von Glück an nichts, als gute Thaten dachte! In mir erweckte er den Entschluß, der Idee von Feinden und Neidern niemals Platz zu geben, sondern mich zu befleißen, Freunde zu verdienen, weil gewiß der Tugendhafte [93] ihrer allezeit finden wird. Ich beobachtete die ausserordentliche Aufmerksamkeit der vier Kinder des Herrn Fr**, besonders von einem eilfjährigen Knaben. Die Mutter sagte mir: »Bin ich nicht glücklich, da ich meinen Söhnen nur sagen darf, folget den Fußstapfen Eures Vaters, so werdet Ihr verdiente Leute werden! Denn gewiß, Rosalia«, setzte sie hinzu, »das gute. Beyspiel der Eltern ist die beste Erziehungskunst! denn, Kinder ahmen leichter unsere Handlungen nach, als daß ihr Geist dem unsern nachdenkt.«

Herr Fr** fand die Gedanken seiner Frau ziemlich richtig; besonders den, von der Nachahmung, aus zwey Ursachen: weil Kinder ihre physikalischen Kräfte eher kennen und gebrauchen, als die moralischen, und, weil bey der Nachahmung der glückliche Genuß des freyen Willens wäre, welcher, bey Erlernung einer Vorschrift, nicht Statt habe. –

Frau G** hat keine Kinder, deswegen blieb sie bey diesem Theil der Unterredung etwas kalt, und Besuche verstörten sie ganz. Mir war es leid, denn ich liebe die Idee vom freyen Willen, und höre gern die verschiedene [94] Meynungen davon. – Meine Mariane denkt, es sey, weil ich gern eigensinnig bin! Nicht ganz deswegen! – Im nächsten Briefe mehr darüber, von

Ihrer

Rosalia. [95]

17. Brief
Siebzehnter Brief

Ich bin noch auf einen Tag in dem Hause des Herrn Fr**. – Vorgestern endigte ich meinen Brief an Sie mit dem freudigen Tone, den ich allezeit habe, wenn ich eine sonderbare Wohlthat des Himmels denke.

Sie wissen, meine Freundinn, wie sehr ich an dem Gedanken von edlen Beweggründen zu unsern Handlungen hafte, und daher die Dankbarkeit für genossenes Gute und die Liebe gegen meinen Schöpfer, allein zu Triebfedern meiner übenden Tugenden angenommen habe; und es freut mich, daß mein Herz gewöhnt ist, viel eher die Größe seiner Güte, als die von seiner Allmacht zu fühlen! Es ist mir daraus eine unerschöpfliche Quelle von unzerstörbarer Glückseligkeit entstanden, deren Genuß kein Zufall dieses Lebens in mir verhindern kann. Denn gewiß ist einmal, daß kein Augenblick unsers Daseyns kommt und da ist, in welchem wir nicht die Eigenschaften unsers Geistes oder unsers Herzens gebrauchen können.

[96] Sie wissen, wie fein ich die Wohlthat der Mannigfaltigkeit in unserer physikalischen Welt fühle, und daß jede abgeänderte Form der Kräuter, Steine und Gewächse, mir eine neue Empfindung von Vergnügen giebt. Auf diese Art verwende ich auch die Begebenheiten der moralischen Welt, und schlürfe, gleichsam mit einer Art geistiger Wollust, die verschiedene Ideen ein, die ich von verschiedenen Personen über einen Gegenstand ihres Nachdenkens höre.

Oft schon habe ich in Gesellschaften von dem freyen Willen des Menschen auf mancherley Weise reden gehört, oft schon ist sein Bild von großen Männern auf allen Seiten betrachtet und vorgestellt worden; so, daß ich weder den Sinn, noch die Kräfte haben kann, mich auf ihre Weise über diesen Theil unserer moralischen Welt auszudrücken; tiefes Denken und Urtheilen ist ohnehin meine Sache nicht; ich rede allein nach dem Gefühl meiner weiblichen Seele, mit meiner vertrauten Mariane.

Freyheit zu thun und zu lassen, ist, nach meiner Ueberzeugung, daß größte Glück dieser Erde; sonst würde die liebreiche Hand [97] unsers Schöpfers die Begierde frey zu handeln nicht in die Seele eines jeden Menschen gepflanzt haben. Seine göttliche Güte wollte uns dadurch die süsseste Freude des irdischen Lebens geben. –

Aus eigener Neigung das Gute zu thun, würden wir durch eine geheime Obermacht dazu geführt, so wären wir gut; aber gewiß nicht so glücklich, als durch den Gedanken der freyen Wahl. Für mich ist der Standort, auf welchem ich Gutes oder Böses wählen kann, die Annäherung des Genusses der höchsten Glückseligkeit. –

Sie, meine Mariane, und jede schöne Seele wird das Zeugniß geben können, daß jeder gute Entschluß, jede gute Handlung mit einem Gefühl voll Seligkeit begleitet ist, aus welchem das edle Sprichwort entsprungen seyn muß: daß die Tugend ihre eigene Belohnung in sich trage. Denn, was ist der Beyfall der ganzen Erde, gegen das innere Gefühl von Seligkeit bey einer edlen That? die nicht edel genannt werden könnte, wenn ich nicht in dem nemlichen Augenblick auch hätte niederträchtig handeln können! – O, ich kenne den Werth dieses innern Zeugnisses [98] so sehr, daß ich ganz ruhig dulden könnte, wenn meine übrigen Tage, ohne äußerliches Glück, der ganzen Welt verborgen dahin flössen. Die stille Erfüllung meiner Pflichten, die gute Verwendung meiner Tage, sind in meiner Gewalt, und in jedem Augenblicke kann ich die große Wohlthat des freyen Willens genießen. Denn, wenn auch eine fremde Macht den Gang meiner Handlungen stört: so bleibt mir doch die Freyheit des Geistes, dessen Kräfte ich in jeder Gelegenheit nützen kann. Der verkehrte Gebrauch, den wir meist von allen Gütern dieses Lebens machen, ist Ursache, daß uns beynahe jede Wohlthat schädlich geworden ist. Gott entzieht uns nichts von alle dem, was uns seine Schöpfergüte von Ewigkeit zur Erdenglückseligkeit bestimmte; es hängt von uns ab, wie wir sie verwenden wollen. Wie überfließend wäre das Maaß Seeligkeit der Großen und Mächtigen, wenn der freye Wille allezeit das Beste wählte!

Ich sahe, meine Freundinn, daß ich mich an einen wichtigen Gegenstand wagte, und sagte Herrn Fr**, er wäre Ursache an einer Art verwegenen Unternehmung meiner Feder, [99] weil mich seine Idee, über den Nachahmungsgeist der Kinder, dazu gebracht hätte, meine Gesinnungen vom freyen Willen zu schreiben. Ich gab ihm zugleich meinen Brief, den er mit Aufmerksamkeit und Lächeln durchlas, und ihn mir mit einem Ausdruck von Empfindung und Beyfall zurückgab, und dabey sagte: »Sie haben sich edle Merkstäbe zu dem Wege der Tugend gewählt! Wie viel glücklicher wären die Menschen, wenn sie mehr Gefühl für die göttliche Güte hätten! – Aber, ein anderes Frauenzimmer 1 fühlte, daß eben diese Güte den Mißbrauch des ganz freyen Willens sah, und ihn deswegen mit der Eigenliebe umwand, die uns durch Betrachtung der Folgen unserer Thaten vom Bösen zurückhalten und zum Guten ziehen sollte. Ich sagte meinen Kindern selbst auch, ihr habt die freye Wahl, gute oder böse Kinder zu seyn; aber ich lasse sie sorgfältig die Folgen ihrer Wahl empfinden, um sie die zweyte Wohlthat des Himmels, die Sorgfalt der Eigenliebe, recht gut gebrauchen zu lehren. Am allerempfindlichsten aber schärfe ich die schmerzhaften Folgen, [100] wenn sie ihre Freyheit gegen das Wohl eines Bruders, einer Schwester, oder Spielgesellschaft geübt haben, um des Nächsten Wohl zum ihrigen zu machen.«

Finden Sie, meine Mariane, diesen Mann nicht in allen Fällen recht schätzbar? Möge doch der gute Saame des Beyspiels und Unterrichts Wurzel in den Seelen seiner Kinder fassen! so werden fünf vortrefliche Menschen mehr in der Welt seyn. –

[101]
18. Brief
Achtzehnter Brief

Mariane! dieses Haus ist für mich seit vier Tagen eine moralische Schule geworden. Wie wenig kannte ich die Empfindungen von Seligkeit, die mich in der Familie der Madame G** erwarteten, als ich, bey dem Anfang ihrer Bekanntschaft, über die Zeit murrete, die ich ihrer Gesellschaft widmen mußte! Vorgestern glaubte ich den schönsten Auftritt gesehen zu haben, da ich die Freude der Tugend über das verdiente und erhaltene Glück in ihrem vollen Maaße betrachtet hatte; aber, wie übertreffend war die heutige Scene, da ich der Vorsicht mit der Bewegung des Entzückens für die Gewalt danken hörte, die man fand, einem Feinde Vergnügen zu machen! Der Zufall gab Herrn Fr** eine Gelegenheit, dem allernächsten Verwandten seines größten Widersachers einen wichtigen Dienst zu leisten. Er hätte es durch schöne Gründe ablehnen können. Schwierigkeiten waren auch genug da; aber ich sah ihn seine Hände falten, und mit der eindringenden [102] Stimme der Seele sagen: »O göttliche Vorsicht, wie sehr liebst Du mich! wie reichlich belohnst Du meine Leidensjahre! Du giebst mir Glück, und die Gewalt, jemand, der mir Böses that, Gutes zu thun!« – Glanz, aus welchem ehmals die Idee des Schimmers entstund, den man um das Haupt der Heiligen mahler, dieser Glanz war auf seinen Gesichtszügen verbreitet. Sein Gang, seine Stellung schien mir das Schweben einer Seele zu seyn, die über die Hülle ihres Körpers erhaben ist. Er küßte den Brief, der den Anlaß zu diesen Entzückungen gegeben hatte. Er nannte ihn ein sichtbares Zeichen der Güte der Vorsicht. »Möchte der Rachgierige,« sagte er, »nur einen Augenblick die Zufriedenheit meines Herzens fühlen! wie gerne würde er den Beleidiger vergeben und ihn umarmen! Denn es ist unmöglich, daß die Zufriedenheit, welche von der Tugend in unser Herz gegossen wird, nicht auch zugleich den höchsten Grad Menschenliebe in uns verbreitete!« – Er umarmte seinen eilfjährigen Sohn und sagte: »Gott gebe Deinem Herzen die Fähigkeit, auch einst diese Freude zu fühlen, und lasse sie, wie [103] bey mir, das überfließende Theil Glückseligkeit werden!«

Das Kind, so alles gehört hatte, fragte: »Papa, ist es denn eine so große Freude, seinem Feinde Gutes zu thun?« – »Ja, mein Sohn, es ist die größte Freude meines Lebens. Ich bin sicher, daß ihr Andenken die letzte Stunde meines Daseyns erheitern wird, wenn schon die Erinnerung vieles andern Vergnügens lange aus meinem Gedächtniß seyn muß.« – Madame G** fing wieder an, von seinen erlittenen Verdrüßlichkeiten zu reden, und sie her zu erzählen. – »Laß dieses, meine geliebte Schwester, ich sehe Deine ganze antheilnehmende Liebe in Deinem Eifer; aber, das gegenwärtige Gute muß die Spuren des vergangnen Bösen verlöschen. Wie klein ist die Summe meines Grames, gegen die unvermischte Freude, die ich wirklich genieße! Störe sie nicht, und laß mich wünschen, daß der widriggesinnte Mann eben so vollkommen vergessen möge, daß er mir Uebels that, als ich es vergessen werde, und o möchte er mich einst lieben können, wie ich ihn!« –

[104] »O, Bruder!« sagte Madame G**, »was für ein Mann bist Du? Kann Dir dieses Ernst seyn?« – »Ach, meine Liebe, wie traurig ist mir diese Frage! Wie selten muß die Tugend des Verzeihens der Beleidigungen, der Liebe und des Wohlthuns gegen Feinde geworden seyn, wenn ein Herz, wie das Deinige, an ihrer Möglichkeit zweifelt! Da überzeugst mich, daß unsere Freundinn H** Recht hat, den größten Theil ihrer besten und erhabensien Gesinnungen unter einem dichten Schleier zu verbergen.« – »Lieber Bruder, werde mir nicht so ernsthaft! werde nicht böse auf mich, sondern sage mir, wen kennst Du, der das bittre Unrecht, so Dir widerfuhr, auf diese Art genommen hätte? Ich fühle deswegen doch, daß dies, was Du sagst und thust, schön und vorzüglich ist, und Du bist mir diesen Morgen theurer und lieber geworden, als jemals, und ich freue mich, Deine Schwester zu seyn.« – Er umarmte sie und sagte dabey: »Deine Hochachtung ist mir sehr schätzbar, mein Kind; aber, glaube mir, ich würde die Güte der Vorsicht sehr wenig verdienen, wenn mein [105] Dank für erfüllte Wünsche, mit Gesinnungen des Hasses vermischt wäre. – Ich sehe aber,« setzte er lächelnd hinzu, »daß Du einem Frauenzimmer nicht so leicht vergeben hättest, wenn sie durch falsche und giftige Nachreden gegen Deine glückliche Verbindung mit Hrn. G** gearbeitet hätte.« – »O, nun lachte ich sie aus, denn ich bin seine Frau!« – »Spott ist Rache! Dünkt sie Dich denn so süß?« – »Und was Du sagst, ist Strafe! freut Dich dieses auch?« – »Wir wollen endigen, meine Liebe. Ich weiß, daß Dein Herz dem meinigen nicht widerspricht,« sagte Herr Fr**, mit einer liebreichen, aber doch etwas ernsten Miene.

Ich hatte nach dem langsamen Einschlürfen meiner Tasse Coffee mein Strickzeug genommen und still gearbeitet, während Herr Fr** und seine Schwester mit einander sprachen; aber manchmal erhob ich meinen Kopf, um den Ausdruck seiner Physiognomie zu beobachten. Er hatte es bemerkt; denn nach den letzten Worten gegen Frau G** näherte er sich mir, und sagte: »Den Beyfall Ihrer Seele habe ich in den Blicken gesehen, die Sie mir gönnten. Diese Blicke werden einst [106] für die Tugend Ihres Gatten Belohnung und Aufmunterung seyn.« Und hiemit ging er in sein Cabinet, und ließ uns staunend und gerührt zurück. Die Augen der Madame G** waren noch auf die Thüre geheftet, als ich sie umarmte und sie versicherte, daß der Tag, an welchem sie mir ihre Freundschaft schenkte, mit auf immer unvergeßlich seyn würde, weil ich dadurch das Urbild eines edlen und rechtschaffenen Mannes kennen gelernt hätte, und es freute mich, sie des Glücks, Frau eines G** und Schwester eines Fr** zu seyn, so würdig zu sehen. »Und mich freuts, daß Rosalia L** mir dieses mit Zärtlichkeit sagt.« – Darüber eilte ich in mein Zimmer, um ihnen dieses noch Vormittags zu schreiben; und ich glaube, Sie an meiner Hand auf die erhabenste Gegend der moralischen Welt geführt zu haben.

Rosalia. [107]

19. Brief
Neunzehnter Brief

Meine Mariane! wir sind zurückgekommen, und ich war jetzo zwey Tage bey Henrietten. – Ach, sie stirbt! Diese edle, schöne Seele wird uns entzogen. Sie hatte Recht! Freudige Bewegungen sind ihr nun eben so schädlich, als traurige – Sie hat mir ihr ganzes Herz geöfnet. – Eine doppelte Wunde ist ihr Tod. – Herr M**, lebhaft in Geist und Willen, fing mit den Beweisen seiner Leidenschaft an; gefiel, wurde geliebt, und daß so innig, daß niemand anders so viele Aufmerksamkeit erhielt, als nöthig gewesen wäre, die wahre Liebe des Herzens von den Aufwallungen eines vorübergehenden Geschmacks zu unterscheiden. M** war schön, voll Verstand und artigen Wesens. Witz und Feuer war in seinen Ausdrücken der Liebe. Ihre ganze Seele heftete sich an ihn. Damals stund sie noch unter der Gewalt eines Oheims, der die Heyrath nicht zugeben wollte, bis Herr v. M** einen anständigen Rang hätte. Ihre Zärtlichkeit war stark genug,[108] jeder Zögerung, jedes Hinderniß ungeachtet, ganz für ihn zu leben; – aber seine Liebe war nicht sein genug, um ihre edlen Gesinnungen zu schätzen, und er fing an, ihr zu begegnen, wie mir Herr M** K** gesagt hatte, als Herr v. T**, Vetter des v. M** ankam, und die Hochachtung aller Rechtschaffenen erwarb. Er sah das Fräulein von Effen und liebte sie schweigend. Er verehrte die Wahl ihres Herzens. Keine Klage, keinen Versuch, sich einzudringen, wagte er. Aber, er war in allen Gesellschaften, wo Henriette von Effen hinkam, und besonders im Concert, das ihr Oheim alle Woche zweymal gab, weil er sie da singen hörte. Er bemerkte zuerst die Fühllosigkeit des v. M**. Da Henriette aus eigener Zärtlichkeit die Arien, die sie am schönsten sang, nicht mehr in Gesellschaft, sondern allein für M** bey der Laute singen wollte, die sie vortrefflich spielte, und auch dieses Talent nur den Stunden widmete die sie den Besuchen des Herrn v. M** schenkte. Ihr niedlichster Putz, der schönste Ausdruck ihrer Physiognomie, ihre einnehmende Blicke, alles war allein dem Herrn v. M** geheiligt. Sie wollte für niemand [109] reizend seyn, als für ihn. Anfangs gefiel ihm dieses; aber bald nicht mehr. Seine Eitelkeit verlohr dabey. Er sprach mit seinem Vetter davon und führte ihn einst in diesen Stunden mit sich zu ihr. Niemals hatte sie von T** im rosenfarbenen Anzug gesehen, in welchem sie ganz bezaubernd aussah, und auch für M** ihr Portrait in dieser Kleidung machte, als sie von den zwey Freunden überfallen wurde, und M** seine Gewalt über ihren Geist auch darinn bewies, daß sie die Laute spielen und singen mußte, während sein Vetter da war. Ein ernster Blick und erhöhete Röthe ihrer Gesichtsfarbe war die Antwort auf sein anhaltendes Bitten. Dennoch spielte sie und sang, so gut, so voll Empfindung, daß der arme von T** Mühe hatte, seine Leidenschaft zu verbergen. Er saß etwas entfernt, an einen Tisch gelehnt Von M** kniete vor dem Fräulein von Effen, die mit ihrem Auge jeden zärtlichen Gedanken des Poeten ihrem geliebten M** zusang. Er war lauter Entzückung; aber gewiß nicht allein über ihre Reize und Liebe, sondern weil v. T** Zeuge von seiner Gewalt über ihr Herz war. Am Ende der Arie sagte M** [110] zu ihr: »Wie unaussprechlich glücklich macht mich Ihre Güte! War das Amo te Solo ganz für mich?« – »Gewiß, mein M**, um so mehr als mein Oheim heut früh die Einwilligung zu unserer Vermählung gab.« – Von M** ergoß sich in freudigen Ausrufungen, und von T** war wie vom Donner gerührt; kaum mächtig genug, von seinem Stuhle zu dem Fräulein zu gehen; zitternd ergriff er ihre Hand, küßte sie: »Angebetete Hand! Du bist mir entzogen!« – Mit einer heftigen Wendung umarmte er den von M**: »O, mein Vetter! verdiene Dem Glück!« – Hiemit eilte er aus dem Zimmer und Hause, ging in das seinige, und war in zwo Stunden aus S** – Henriette war betroffen und gerührt. »Lieber M**, was ist das? Warum haben Sie den guten von T** mitgebracht? Warum liessen Sie mich vor ihm reden und singen?« – »Verzeihen Sie, mein Engel! Aber, ich wollte Ihren und seinen Eigensinn ein wenig umführen. Er wollte niemals verliebt werden, und Sie für niemand mehr liebreizend seyn! Nun ist seine Kälte überwunden, und Sie haben einen Anbeter [111] mehr!« – Hier wande sie sich aus seinen sie umfassenden Armen los, und sagte ihm: »O, M**! wenn ich dieses nicht als Muthwillen ihres zu muntern Kopfs ansähe, wie elend machte mich dieser Mangel an feiner Liebe und Freundschaft!« – Er suchte sie zu beruhigen. Sie arbeitete auch selbst gegen ihre zu weit getriebene Foderungen der Zärtlichkeit. Er bemerkte ihr Nachgeben, und suchte sie in ein Gewebe von Buhlerey zu ziehen, da sie Männer, und et Frauenzimmer fesseln, und sie dann einander opfern sollten. Er wollte dadurch ihrem Bündniß mehr Reize geben, und das unausbleibliche Ermüdende verhindern, welches aus dem immer gleichen Gang ihrer Liebe entstehen würde.

Henriette hatte anders gerechnet. Sie gestund ihm zu, daß, wenn die Freyertage noch lange dauern sollten, und er keine Pflichten zum Beytrag des gemeinen Besten zu erfüllen hätte, möchte es wahr seyn. Sie wäre auch gelehrt worden, daß es schwer sey, ein männliches Herz ganz zu fesseln, deswegen hätte sie gesucht, Kenntnisse und Empfindungen in einem gewissen Grade von Vollkommenheit zu besitzen, um neben dem ermüdenden Genießender [112] Schönheit, durch Talente und Denken, seinen Geist zu unterhalten und zu befriedigen; welches alles gewiß, bey der edlen Besorgung eines Amtes, und bey den Folgen ihrer ewigen Verbindung, keine leere Stunden der Langenweile zulassen würde. – Er scherzte über ihre ernsthafte Art zu lieben; verband sich zu muntern Gesellschaften, in die Henriette nicht ging. Sie that alles, um ihn den Ton ihres Herzens lieben zu machen, und er seiner Seits suchte sie an den, von seinem Kopf, zu gewöhnen. So ging es bis an den Tod ihres Oheims fort; während dessen abnehmender Gesundheit sie sich weigerte, die Vermählung zu vollziehen. Nach diesem stieg die Verschiedenheit ihrer Gesinnungen so hoch, daß Henriette ihr Versprechen zurücknahm. Aber ihr Herz war gebrochen. Niemand hatte Antheil an ihrem Kummer genommen. – Man vergab ihr ihre Vorzüge nicht, und schalt sie gerade weg, eigensinnig. – Hier kam sie auf das Land, und wurde durch die Wohlthätigkeit ihres Herzens und den Umgang und Rath des würdigen Herrn Pfarrers M** K** ziemlich glücklich.

[113] Der Anbau der Gärten und Häuser, die Schule für Kinder, alles war Zerstreuung; aber, einmal bekam Herr M** K** einen Besuch von einem Jugendfreunde, der mit v. T**, nach seinem Abschiede von S**, England und Italien durchreiset hatte, und nicht Rühmens genug von dem edelmüthigen und liebenswerthen Manne machen konnte, der endlich der Tugend des kindlichen Gehorsams das Opfer einer geheimen Leidenschaft gemacht, und sich vor einem Jahre nach dem Tode seiner zwey Brüder vermählt hätte; er, Herr B**, wäre, mit Versicherung auf die beste Bedienung, indessen als Freund bey Herrn v. T**, der mit seiner Gemahlin recht artig lebte, und alle, die von ihm abhingen, glücklich machte. – Dieses erzählte Herr M** K** Henrietten, um ihr zu beweisen, daß eine zweyte Liebe, und Ueberwindung seiner gehegten Leidenschaft, edlen Seelen noch Glück vorbehalte. Er wußte nicht, wie viel Antheil Henriette an v. T** nahm. – Jedes Lob, das er in S** erworben; jedes Kennzeichen seiner reinen Liebe; sein verzweiflungsvoller Abschied und Abreise; die Unwissenheit, in welcher seine Verwandte beynahe zwey [114] Jahr über sein Leben und Aufenthalt gewesen; das Zeugniß übender Tugend; die genährte traurige Leidenschaft; alles sagte ihr, aber zu spät, daß dieses der Mann ihrer Seele gewesen wäre. Sie kämpfte gegen ihr Herz. Aber Herr M** K** hatte gegen seinen Freund der jungen Dame erwähnt, die durch die Liebe so unglücklich geworden sey, der es bey seiner Zurückkunft dem Herrn von T** erzählte. Dieser hatte sich, aus Gram, nicht um seinen Vetter befragt, und hörte nur jetzt, Henriette sey unvermählt und leide. – Schmerz trat in die Stelle der Zufriedenheit, und mit Thränen benetzte er die Wiege seiner neugebohrnen Tochter, die er Henriette hatte nennen lassen. – In der ersten Bewegung schrieb er dem Fräulein von Effen: »Sie sind unvermählt, und ich verheyrathet! – Ach, Henriette! was kostet mich mein unseliges Schweigen! und wie elend, wie unglücklich bin ich zwischen dem Verlangen nach Ihnen, und der Begierde, ein guter, ein gerechter Gatte gegen meine würdige Frau zu seyn!« – Nun war ihre Standhaftigkeit erschöpft. Sie wurde über dieses Schreiben [115] so krank, daß man sie mit Mühe rettete. – Das war just bey der Geschichte des Webers, wovon mir Herr M** K** gesagt, daß der Muth, den sie damals zeigte, von einer so traurigen Folge gewesen sey. – Sie antwortete auch ganz kurz, an v. T**: Sie würde sich in keinen Briefwechsel einlassen, aber seine Erinnerung an sie, wäre ihr schätzbar, und sie wünsche ihm jede Glückseligkeit, die die Tugend begleiteten. –

Alles dies wußte Herr M** K** nicht, und lange nach dieser Unruh war sie unglücklich, und nur ihre abnehmende Gesundheit ihr Trost.

Zwey ganzer Tage sammlete ich an diesen abgesetzten Stücken; denn sie war oft zum Fortreden zu matt, oft durch Thränen unterbrochen, aber einnehmend in dem ganzen Gespräch. Bey Erinnerung des unedlen Verfahrens von M** richtete sie sich auf, und sah voll Würde um sich. – Der Name v. T** gab ihr eine feine Röthe, und in Thränen glänzende Augen. Oft lehnte sie sich auf meine Brust, [116] oder drückte eine meiner Hände an ihr schwach klopfendes Herz voll Liebe. – Ich war ganz Empfindung, und sie sagte mir: »Ach, Rosalia! vor drey Jahren hätte eine Freundinn, wie sie, das Uebermaas meiner Zärtlichkeit erhalten! dadurch wäre mein Glück und Leben gerettet worden!«

[117]
20. Brief
Zwanzigster Brief

Mariane! ach, meine Thränen werden die Hälfte dieses Briefs auslöschen! – Ich komme von Henriettens Krankenbette. Der Pfarrer, M** K**, ist bey Herrn v. T** dessen stummer Schmerz jede Kraft seiner Seele zernagt.

Zehn Tage lang war ich mit Madame G** in H**. Ich verließ das Fräulein von Effen ziemlich wohl, und auch mit einer Art Genusses von Glück, weil sie einen ganzen Band ihrer Kräutersammlung zu ordnen hatte, und drey arme Jungen zu Handwerkern aufdingen ließ, wofür sie Kost- und Lehrgeld zahlte, und in ihrem Hause die kleine Aussteuer an Kleidung für zwo Mädchen gemacht wurde, die sie in die Stadt als Mägde anbringen wollte. Freylich war sie erstaunlich matt, und konnte die etlichen Tage, da ich bey ihr war, nur mit Mühe, von mir und ihrer Jungfer geführt, in ihrem Garten herum gehen, wo sie doch allezeit beym Untergange der Sonne seyn wollte, und süßer[118] Schwermuth voll in der Laube saß. In dem schönen Rasenstück, so vor der Laube liegt, ließ sie ihren Schulkindern das Abendbrod geben, nachdem sie vorher entweder nach einer Maultrumme in Reihen getanzt, oder um einen Kreis in die Wette gelaufen waren. Es freute sie innig, wenn ich mittanzte und freundlich mit den Kindern that, oder auch manchmal ihnen mit der Laute vorspielte und Etwas sang; doch bemerkte ich vor acht Tagen viel Vorbedeutendes in ihr, wenn sie die aufsteigenden Abendwolken betrachtete; ihr schöner Kopf an das Fenster gelehnt, in dem letzten falben Lichte, wie eine schon halb abgefallene Rose gegen ihren Busen hing; und ihr mattes Auge, mit Blicken der kindlichen Liebe, an den Himmel geheftet war, so sah ich den Gedanken der nahen Seligkeit mit den feinsten Zügen über ihr welkendes Gesicht verbreitet. Der tiefe Schmerz über ihren nahen Verlust war aber mit dem hohen Gedanken vermischt, daß aus dieser morschen Hütte eine Engels-Gestalt sich loswinden, und in die väterlichen Hände ihres ewigen Urhebers zurückgehen würde. – Der vorletzte Abend, den sie da zubrachte, war außerordentlich schön, [119] und ihre Seele heiter. Sie hielt meine Hand und sagte, schon mit dem Tone der Himmlischen: »O Rosalia! wie viel Glückseligkeit läßt Gott mich Kraftlose noch genießen! Den schönen Himmel, die fruchtbare Erde, sehe ich noch deutlich, und meine Seele fühlt jede Wohlthat, die uns daraus zufließt! Ich drücke noch die Hand einer zärtlichen Freundinn! und hier umgiebt mich die Freude der Unschuld von den Kindern meines Herzens!« – Hier schwieg sie eine Zeitlang, und sagte dann noch: »Seit drey Jahren habe ich den Saamen irdischer Tugend und Glückseligkeit um meine Nebengeschöpfe ausgestreut; ich hoffe, mein Tod soll die Wurzeln von beyden befestigen!« – Nun bemerkte sie das heftige Heben meiner Brust, und die Zähren, die über meine Wangen rollten. Sie küßte eine hinweg. »Ach, eine Thräne der wahren Liebe, um mich geweint!« sagte sie feyerlich, und gleich sank ihr Kopf, mit einem Seufzer, den bittre Erinnerungen ihr entrissen, auf meine Brust. Eine ihrer Hände, aus Schwachheit ganz an der Seite herunter hängend, die andere in eine der meinigen gefaltet, saßen wir lange stillschweigend, [120] bis sie die Abendkühle zu sehr fühlte und wir langsam bey aufgehendem Monde in das Haus gingen; sie sah noch um sich, und sagte lächelnd: »Ich bin froh, ich werde keine dunkle Nacht mehr sehen!« – Der übrige Abend war ganz artig, und den Morgen darauf kam der Arzt, den ich und ihre Jungfer hatten rufen lassen, mit dem Herrn Pfarrer M** K**. Der Arzt fand sie, wie er wollte, daß die Milchkur würken sollte. Er blieb den Tag über da, und war Nachmittags bey uns in der Laube, wo Henriette den würdigen Herrn M** K** in ein Gespräch von der Ewigkeit geführt hatte. Wäre mein Herz nicht so gerührt gewesen, so hätte ich Beobachtungen über die Würkung machen können, welche dieser Gegenstand bey uns hervorbrachte. M** K**, der verdienstvolle Gottesgelehrte, redte mit aller Ueberzeugung und voll sanften heiligen Eifers davon; doch war es natürlich, daß man auch hier und da den schuldigen Berufs- und Amtston bemerkte. Der Arzt, ein ganz vortreflicher Mann, hörte mit vieler Ehrerbietung zu; nur sah man, daß diese Scenen ihm bekannt waren. Henriette aber, am nächsten bey [121] dem Austritte aus diesem. Leben, sprach mit dem Tone des Gefühls von dem Glücke der Unsterblichkeit. Niemals, niemals werde ich den seligen Ausdruck ihrer Physiognomie vergessen, den sie hatte, als der Herr M** K**, um die anstrengende Unterredung abzubrechen, uns zeigte, wie schön die letzten Lichtstralen durch die Blätter der Laube einfielen, und sie ihr beleuchtendes Kleid ansahe, mit ihren Händen darüber streifte und sagte: »Bald werde ich in ein ganzes Gewand von Licht gekleidet seyn!« – Die ruhige Zuversicht, mit welcher sie jeden Theil ewiger Güte erwartete, war mir höchst ehrwürdig, und mußte in mir, da ich von ihrem Geschlecht, und beynah von ihrem Alter war, den Wunsch hervorbringen, daß ich dereinst meinem Tode mit der nemlichen Heiterkeit entgegen gehen möchte! Kaum hatte ich diesen Gedanken vollendet, so hörte ich die Stimme des jungen Hofbauern, und die Stimme eines Fremden, den ich zugleich erblickte, wie er an der Gartenthüre den Arm von der Hand des Bauern losriß und gegen die Laube eilte, indem er eifrig sagte: »Mein Gott, in ihrem Hause sollte ich seyn, und sie nicht sehn!« – [122] Henriette horchte schnell, beugte sich vorwärts und schlug mit Bewegung die Hände zusammen: »Ach, Rosalia! es ist von T**« – Hier war er am Eintritt der Laube, wo er, nach einem Blicke auf Henrietten, mit staunen dem Schmerz still stand. Ein großer, edel gebildeter, junger Mann, von neun und zwanzig Jahren, etwas hager und bloß, aber schöne und große Augen, die ich eben bemerkte, als er sie beynah gichterisch bewegte, und zu Henriettens Füßen stürzte, einen Theil ihrer Kleidung mit der äußersten Bewegung zwischen seine Hände faßte, an ihr aufsah und mit dem rührendsten Tone sagte: »Nach vier kummervollen Jahren seh ich sie wieder! Aber wie? Auf eine weinende Freundinn gestützt! einen Arzt! einen Seelsorger! und Ihre ganze Engelsgestalt zerrüttet! – O Vorsicht! ewige Vorsicht! zu was war ich aufbehalten!« – Hier küßte er mit Heftigkeit ihr noch in seinen Händen haltendes Stück Kleid, und ein Strom von Thränen floß aus seinen Augen auf Henriettens Gewand. Zitternd war sie auf mich gelehnt, ihre Augen gegen meine Brust gewendet. Ich hielt sie mit einem Arme umschlungen. [123] Sie hatte ihn nicht angesehen, bis er die Ausrufung an die Vorsicht that. Matt blickte sie da auf ihn, wurde etwas roth. Bey dem ersten Guß seiner Thränen zitterten ihre Lippen, und sie wurde ohnmächtig. Mein Schmerz war unbeschreiblich. Von T** riß sich mit Verzweiflung von der Erde auf und war mit uns ängstig bemüht, sie wie der zu sich zu bringen. Es dauerte eine halbe Stunde, eh der Arzt uns beruhigte, und wir sie in einem Stuhle nach Hause tragen konnten, wo sie zu Bette gebracht wurde, und stärkende Arzeneyen bekam, durch die sie erst gegen vier Uhr des Morgens Kräfte genug erhielt, um reden zu können. Da wollte sie mich durchaus nicht länger Wache halten lassen. Ich ging auch schlafen, aber um Sechs war ich an ihrem Bette, wo ich sie in einem matten Schlummer fand, der dem Arzte mißfällt. Meine traurige Unruhe erlaubte mir keine Erleichterung, als diesen Brief an Sie, meine Freundinn!

[124]
21. Brief
Ein und zwanzigster Brief

Die edle, die liebenswürdige Henriette ist nun in den Armen der ewigen Ruhe! Und ich, meine Mariane, winde mich um das Andenken jedes Augenblicks, den ich bey ihr zubrachte, sie handeln sah, reden hörte, und ihrer Liebe genoß. Die Wiederholung alles dessen, was ihre letzten Tage bezeichnete, ist der süsseste Trost, den ich mir geben kann. Hören Sie mich also noch alles erzählen, was seit meinem vorigen Briefe geschah.

Ich setzte mich an Henriettens Bette, wo ich mit gepreßtem Herzen, bald sie, bald den Arzt ansahe, um auf dessen Gesicht meine Hofnung, oder meine Furcht zu lesen. Seine tiefsinnigen Blicke und das jeweilige Schütteln seines Kopfs sagte mir alles. Ich ließ daher meinen Thränen freyen Lauf, so, wie ihre Jungfer, die am Bett kniete. – Endlich öfnete sie die Augen, und schwach, anfangs kaum verständlich, sagte sie: »Liebe Rosalia! und du, meine gute, treue Liese! kümmert Euch nicht, ich werde glücklich – [125] ewig glücklich.« – Nachdem erblickte sie den anbrechenden Tag, und wir mußten die Fensterladen ganz öfnen, daß sie den Garten und das Feld sehen konnte. Lächelnd bewegte sie die Augen umher, und sprach sanft: »Schöne Erde! aller deiner unschuldigen Freuden habe ich genossen!« – Der Arzt gab ihr erquickende Tropfen und ging hinaus, worauf ich nach einigen Augenblicken fragte, wie ihr wäre? »Schwach, sehr schwach, meine Rosalia! – Sie sehen, daß ich Recht hatte, zu sagen, daß ich keine Kraft mehr habe, Freuden zu tragen. Ihr süsser Anblick machte mich krank; der, von dem Herrn von T**, hat mich über das Vergangne und Gegenwärtige zu heftig bewegt, um es zu dauren.« – Nachdem schwieg sie lange, und verlangte dann ein Kästchen, das in einem Schranke der Mauer stund, ließ es aufmachen und gab mir daraus einen Ring, worauf ihr verzogner, Name, mit kleinen Brillanten, auf schwarzem Grunde steht. Sie steckte ihn selbst lächelnd an meinen Finger. Da aber meine Thränen auf ihre Hand fielen, blickte sie mich mit viel Empfindung an und streichelte mich. »Seyn Sie vergnügt, Rosalia! Sie waren [126] die letzte Freude meines Lebens. Für Sie sag' ich der Vorsicht den letzten Dank; denn durch Sie hat mein liebendes Herz das Glück der wahren Gegenliebe genossen. Ich weiß, daß ich in dem Ihrigen unvergessen bleiben werde, und daß Sie gerne manchmal mein Bild sehen werden.« – Hier gab sie mir ihr Miniaturgemählde, in himmelblauer Kleidung, mit einer Hand einen Schleyer von weißen Flor über sich ziehend, sehr schön gefaßt. – »Du, meine Freundinn Lise! sollst diesen Ring tragen.« (Den sie von ihrem Finger zog und ihr gab.) »Mein kleines Bild in Oel ist auch dein; die übrigen Kennzeichen meines Danks und meiner Liebe wird Herr M** K** in diesen Papieren finden.« – Herr M** K** und der Arzt kamen da würklich ins Zimmer. Sie reichte Erstern eine goldne schwarz emaillirte Dose: »Dieses Andenken erhält noch durch meine Hand einen Werth; nicht wahr?« – Dem Arzt gab sie eine ganz goldene, und nahm aus dem Kästchen noch ein großes und zwey kleine Futterale heraus, ließ es zumachen und gab die Schlüssel dem Herrn Pfarrer M** K**, der, wie ich, im feyerlichem [127] Stillschweigen da stund. Nach diesem war sie lange ruhig und dann blickte sie mich sehr rührend an. »Rosalia! noch einen Labetrunk von ihrer Hand!« Ich stützte ihren Kopf mit einem Arm, und mit der einen Hand hielt ich das Glas an ihren Mund. Sie bat, sie etwas höher zu legen, und wir bemerkten, daß sie über was nachdachte. Endlich fing sie an: »Wo ist Herr von T**? ich möchte ihn sehen! Aber, lieber Herr M** K**, bitten Sie ihn, daß er nicht zu bewegt sey!« Der Arzt, und wir alle, wollten sie von dieser Unterredung abhalten, weil sie solche zu sehr angreifen würde. »Ach, meine Freunde! ich fühle, daß ich nur noch wenige Schritte bis an das Ende meines Lebens habe! Lassen Sie mich diese kurze Zeit noch nach meinem Herzen genießen! Was soll T** so weit von meinem Zimmer thun? Mein Anblick ist ihm so werth –« Herr M** K** ging hinaus, ihn zu holen. Da drückte sie meine Hand – »Ach, Rosalia! was ist mein Schicksal mit den zwey Vettern! Der eine raubte mir Freude und Gesundheit, und dieser gute edle Mann befördert meinen Tod!« – Von T** kam. [128] Sie blickte ihn lächelnd an, und reichte mit der Hand nach ihm. Er näherte sich ziemlich gefaßt, küßte ihre Hand mit bebenden Lippen und fragte nach ihrem Befinden. – »Ziemlich wohl! Aber, müde an Geist und Leib.« – Mein Gott! erwiederte er, ich fürchte, mein unbedachtsames Eindringen hat Sie erschreckt und so krank gemacht! Ich werde es mir niemals vergeben. – »Sie hätten Unrecht, theurester T**; denn Ihr Anblick würde mir bey keiner Gelegenheit gleichgültig gewesen seyn, aber, meine vorherige Entkräftung hat mich zu jeder Bewegung untüchtig gemacht.« – Er sagte hierauf nichts, sondern küßte nur ihre Hand und blieb mit darüber gebogenem Haupte sitzen. Sie schwieg auch lange, und sagte dann mit flüchtigem Erröthen: »Sie haben eine würdige Gemahlinn, Gott segne Sie beyde! – Bitten Sie die Frau v. T**, dieses Andenken von der Freundinn des besten Mannes anzunehmen!« – Und da gab sie ihm das große und kleinere Futteral, wo in dem einen die kostbare Uhr, die mit der Agraffe reich mit Brillanten besetzt ist; in dem andern, Ohr-Rosen und eine Haarnadel war; in dem dritten, zwey gleiche[129] Ringe von großem Werth, wovon sie einen ihm reichte. »Diesen tragen Sie. Den andern, Ihre Gemahlinn. Ihre Tochter, die Sie in der Taufe meinem Andenken weihten, habe ich schon lange als das Kind meiner Seele zur Besitzerinn von Effenhofen gemacht. Ich hoffe, sie wird einst die guten Einwohner darinn lieben und glücklich machen.« – Herr von T** lag nun auf den Knien vor ihrem Bette, seine beyden Arme an dem Bettgestelle ausgespannt, und rief: »O Henriette! Henriette! was sollen all diese Anordnungen?« – »Sie sind das Einzige, was mich die Versicht für den zu spät geliebten Mann meines Herzens thun läßt!« sagte sie, und in dem nemlichen Augenblicke war sie aufgerichtet küßte die Stirne des Herrn v. T**, und mit Sammlung ihrer letzten Kräfte, legte sie ihre Hände auf ihre Brust, – »Von Dir, ewige Liebe! erhielt ich dieses gefühlvolle Herz! Rein, Rein, wie es aus Deinen Händen kam, gebe ich Dir es zurück.« – Mit einem Schrey des Schmerzes sank von T** auf die Erde. Henriette rufte: »Ach Gott!« ließ ihre Hände fallen, und verschied. –

[130] O Mariane! wie gerne hätte ich meine Seele auf ihren Händen, die ich küßte, ausgehaucht! Ich konnte nicht reden und nicht weinen. – Durch unsere Unruh und Mühe kam von T** zu sich, rafte sich auf, und stund mit gerungenen Händen, starre Blicke auf Henriettens Leichnam geheftet. – Auf einmal näherte er sich Liesen, die an der einen Seite des Betts kniete, und mir einem Schnupftuche den Todesschweiß von der Stirne des entwichenen Engels wischte. Er legte sein Gesicht einen Moment auf Henriettens Arm. – »Heilige, heilige Ueberreste!« sprach er mit dem wehmüthigsten Tone, betrachtete noch mit gesunkenem Haupte das kaltwerdende Bild, riß dem knienden Mädchen das Schnupftuch aus der Hand, hüllte sein Gesicht hinein, küßte es, faßte es in beyde Hände, eilte ins Vorzimmer, wo er sich vor einen Stuhl auf die Erde warf und laut schluchzend zu weinen anfing. – Ich ging traurig in mein Zimmer. Kurz darauf wurde mein Herz durch das Wehklagen der Dorfleute aufs neue zerrissen. O, die Liebe der wahren Tugend liegt tief in der Seele der Menschheit! Ich habe es bey der Leiche von Henrietten gesehen. – Was für [131] Trauer, was für Ehrerbietung war in allen, die sie zu der gewählten Ruhestätte begleiteten!

Sie liegt neben den Ueberbleibseln einer kleinen alten Capelle, am Ende des Dorfs, wo sie schon vor zwey Jahren, ohne daß man ihre Absicht wußte, auf die Seite gegen das Feld, ein halb rundes Dach, auf fünf schöne steinerne Säulen gestützt, hatte bauen lassen. Auf beyden Seiten der mittlern Säule ist es offen zum Eingang. Zwischen den andern aber, Bänke von Stein, wo sie oft hinging, sich setzte, und mit den Feldarbeitern sprach. Ein großer Stein deckt ihre Gruft, auf dem nichts steht als:


Ruhestätte

von

Henrietten von Effen,

24 Jahr alt.


In ihrem letzten Willen erhält die Tochter des Herrn von T** all ihren Schmuck, Silber und Effenhofen; der Herr von M** eine schwere goldene Dose, zum Denkzeichen ihrer Versöhnung; und das übrige Vermögen [132] geht in vier Theile. Den ersten ihren Verwandten; den zweiten für Erziehung armer Kinder; den dritten ihren Hausbedienten; und den vierten unter Arme auszutheilen.

Der Herr von T** will hier wohnen. Wenn er es thut, so lebt er nicht lange, denn alles nährt seinen endlosen Kummer. Er will in ihrem Zimmer wohnen, ihre Betten, alle ihre Möblen haben, ihr Messerzeug. – Er betete sie an, und ihr letzter Athemzug war das Bekenntniß ihrer Liebe für ihn! Morgen geht er weg, und Herr M** K** mit ihm.

Wie lange ist dieser Brief! Aber es war der letzte Auftritt, der ganz meine Seele erfüllte!

[133]
22. Brief
Zwey und zwanzigster Brief

Gestern ist der Herr von T** mit dem Pfarrer M** K** abgereiset. Er hatte sich bey Letzterm besonders nach mir erkundiget. Weil ich Henrietten so theuer gewesen, sagte er, müsse ich eine vortrefliche Person seyn. Herr M** K** gab ihm alle Nachrichten, und auch die, daß ich durch den Briefwechsel mit einer edlen Freundinn bewogen worden, eine genaue Beschreibung von allem zu machen, was sich seit meiner Bekanntschaft mir Henrietten zugetragen habe. – Urtheilen Sie, Mariane, wie begierig der gute Herr v. T** auf diese Papiere wurde! Es war mir auch unmöglich, ihm die Abschriften zu versagen. Er will sie seiner Gemahlinn weisen, bey welcher die so auffallende schönen Züge von Henriettens edler Seele, nicht nur eine Schutzschrift für seine daurende Liebe seyn würde, sondern auch zu einer Belohnung ihrer Großmuth dienen könnte, da sie selbst ihm die Reise zu Henrietten vorgeschlagen habe.

[134] Er hatte die Anschriften meiner Briefe in meinem Zimmer, unter manchen Thränen, stille durchgelesen, und bey dem Stück, wo die Frage von seinem Briefe an Henrietten war, erzählte er mir alle Umstände des Kummers, der ihn lange Zeit auf doppelte Weise marterte, da er Henriettens Bild nicht aus seiner Seele drängen, und den innern Vorwurf auch nicht vermeiden konnte, daß er so kalt gegen seine Gemahlin wurde, die seine traurige übermäßige Zärtlichkeit gegen ihr Kind, und sein trockenes, obgleich sehr ehrerbietiges Bezeigen gegen sie selbst nicht begreifen konnte. Er wäre darüber ganz elend geworden; hätte niemand, als seine Gemahlinn und seine Tochter gesehen, und endlich, da er einmal bettlägerig gewesen, habe er seiner Gattinn sein Herz eröfnet. Sie hätte viel geweim; lange still geschwiegen und ihn dadurch in die äußerste Aengstlichkeit gebracht; dann aber wäre sie von ihrem Stuhl aufgestanden, hätte sich auf das Bett gesetzt, seine beyden Hände in die ihrigen genommen, und ihm mit aller Würde und Eindruck der wahren edlen Güte des Herzens gesagt, daß sie ihm unendlich für sein Vertrauen danke, und ihm gestünde, daß sie [135] dabey gelitten habe; aber, daß sie gar wohl einsähe, was für eine unwiderstehliche Gewalt die Liebe über ein Herz haben könne; sie bedaure die junge Dame innig, und bäte ihn, zu ihr zu reisen, um entweder eine Aussöhnung mit ihrem ersten Liebhaber zu stiften, oder doch wenigstens durch sich selbst von dem Zustande des Fräuleins unterrichtet zu werden. Vielleicht könnte er dadurch Etwas zu der Wiederherstellung der Munterkeit und Gesundheit des Fräuleins von Essen beytragen; genösse den Trost, sie zu sehen, und würde eine richtige Idee von ihren Leiden und Wünschen erlangen, da er jetzo in der Ungewißheit, allein den Sorgen seiner Liebe und Bekümmernissen überlassen, sich abzehre, und alle, die ihm ergeben wären, zugleich unglücklich würden. –

Er hätte noch einige Tage gegen diese Reise gekämpft und sich auch aufgemuntert; theils, um seine Gemahlinn zu beruhigen, theils auch wäre ihm in Wahrheit nach Eröfnung seines leidenden Herzens leichter gewesen; seine Gemahlinn wäre dadurch in alle heilige Rechte einer Freundinn getreten, auf deren Seele er die seinige stützte; sie hätte ihn über acht Tage lang gehen lassen, ihn aber genau beobachtet;[136] dann wäre sie Abends in sein Cabinet gekommen, und hätte ihm mir einer zärtlichen Heiterkeit gesagt: »Mein lieber T**. Sie haben mir schon einigemal versichert, daß Sie mir eine Genugthuung schuldig sind, wegen des vielen Jammers, den mir Ihre Traurigkeit verursachte. War es Ihnen Ernst mit Ihrer Schadloshaltung?« – »Gewiß, meine Auguste, meine gütige Auguste! Sagen Sie, was soll, was kann ich thun, um Sie zu befriedigen?« – »Sie sollen die Anstalten gut heissen, die ich zu Ihrer Reise nach Effenhofen gemacht habe, und morgen früh mit Ihrem Kammerdiener dahin abgehen. Ich fodre es als einen Beweis Ihrer Achtung für mich, und bitte Sie, mich diese edelmüthige Handlung ausüben zu lassen. Die Vorsicht hat mich glücklich genug gemacht; ich bin Ihre Gattinn, die Mutter Ihres Kindes, Ihre Freundinn, und bey diesem Ueberflusse soll ich eine tugendvolle Unglückliche im Leiden wissen und hülflos lassen? Nein, mein T**, Sie sollen zu dem Fräulein von Essen. Sie sollen für sich diese Freundinn erhalten, und mir sie zur Freundinn erwerben. [137] Meine Seele ist über die Eifersucht der Eigenliebe erhaben, denn ich liebe dieses empfindungsvolle Frauenzimmer. Ich will Ihnen mit unserer Henriette nachreisen, wenn Sie es nach den Umständen gut finden werden. Aber morgen früh sollen Sie weg. Alle Sachen, auch unterlegte Pferde, sind bestellt; die Witterung ist schön, und der Beweggrund so, wie er vor dem Richteramt der wahren Menschenliebe bestehen kann.«

Er versprach es ihrer großmüthigen Liebe, und ging weg. Da er einen leichten Wagen hatte und überall sechs bestellte Pferde antraf, so konnte er den zweyten Tag so zeitig in Effenhofen seyn. Er schickte ihr den andern Morgen einen eigenen Boden zu Pferde, und meldete ihr die hofnungslosen Umstände der Gesundheit des Fräuleins. – In der Antwort der Frau von T** liegen alle Züge einer vortreflichen Seele. Sie dankte ihm, daß er nach Effenhofen gereiset sey, und sie hofte bessere Nachrichten; bat ihn auch, alles Mögliche beyzutragen, das verwundete Gemüth des lieben Fräuleins zu heilen. Aber, diese Bitte kam zu der Zeit, wo die edle Henriette schon über alle menschliche Leiden und Hülfe [138] erhaben war. Die Frau von T** kann über ihre Veranstaltung und Betreibung der Reise ihres Gemahls zufrieden seyn; ich denke, es mag sie was gekostet haben, ihren T** von sich zu der so feurig geliebten Henriette zu schicken! Ihr Opfer war groß, aber schön, und nun wird sie durch den Dank und die Verehrung ihres würdigen Gemahls tausendfach belohnt.

[139]
23. Brief
Drey und zwanzigster Brief

Wie viel, theure Mariane! wie viel habe ich Ihnen zu danken, da Sie mich so liebreich bey der Hand fassen, und mich mein Leben geniessen lehren! – Es dünkt mich auch, ich könne Sie versichern, daß Sie mich niemals mehr werden murren hören, wenn die Hand des Schicksals mir, anstatt des verlangten Guten, ein andres hinlegt. – Ich will nicht mehr, wie ein eigensinniges Kind, es von mir stoßen, sondern mit gelassenem Dank es annehmen und genießen. – Sie sollen aber doch auch wissen, was mich bey Ihrem gütigen Rath am meisten erfreute, was mich am stärksten lockte, ihm zu folgen. –

Sie wiederholten meine Klagen über die Entfernung von Ihnen und von meiner gewöhnten Eintheilung der Tage und ihrer Verwendung. Sie sagten: »Wenn ich Rosalia L** mit dem feinen Gefühle der Seele wäre, so würde ich wie sie, jedes genossene Gute, jede Freude der verflossenen Tage, das Bild meiner Freunde, und den Ort, wo ich [140] alles dieses im Besitz hatte, dankbar in meinem Gedächtniß bewahren; ich weihte ihrer Erinnerung sogar Augenblicke des gegenwärtigen Genusses; ich freute mich der Sicherheit, dieses alles in einiger Zeit wieder zu finden, und pflückte daneben mit ämsiger Aufmerksamkeit die Blumen des Vergnügens, die der Zufall auch auf fremden Boden für mich sprossen ließe; ich würde mir es nicht vergeben, wenn ich nur den Himmel, nur die Gegend unserer Mutter Erde, nur die Menschen lieben wollte, die ich bisher sah.« –

Ich fühlte, daß Sie gerechter sind, als ich. Meine, gegen die hiesigen Einwohner gehegte Gleichgültigkeit war mir leid. Ich nahm mir vor, billig zu seyn, und meine Liebe, meine ewig vorzügliche Hochachtung für Mariane, unterstützte diesen Vorsatz weil ich mich freute, Etwas zu thun, was Sie an meiner Stelle thun würden. O, wie unschätzbar ist der Werth der Tugend derer, die wir lieben, weil man die Neigungen des geliebten Gegenstandes so gerne annimmt! Ich habe würklich heute Blumen gepflückt, von deren Saamen ich auch bey uns auszustreuen suchen werde. Es gehr die Ausbreitung der [141] Gesellschaft und Gesetze an, die sich neun junge Frauenzimmer gemacht haben, und die damit ganz unfehlbar den Endzweck erreichen werden, jedes wichtige und reizende Verdienst unsers Geschlechts zu erlangen.

Es ist hier gewöhnlich, daß Männer, Frauen und junge Personen, jedes eine abgesonderte Gesellschaft halten. Sie kommen aber nicht öfter, als alle Woche einen Tag zusammen, und zwar immer wechselsweise von einem Hause um das andre. Diese Verbindungen nennen sie von langen Zeiten her, einen Freund schafts-Kranz, und den Tag der Zusammenkunft, den Kränzeltag. Eine Verwandtinn von Frau R** hat mich heute, da die Reihe an ihr war, dazu eingeladen und mir die Beschreibung ihrer Gesetze gemacht.

Jeden Donnerstag kommen sie mit ihrer Arbeit, Nachmittags um drey Uhr, artig geputzt, zusammen; trinken eine Tasse Coffee, aber nicht heiß, weil heißer Coffee der Schönheit und Reinlichkeit der Gesichtsfarbe schadet. Nach diesem geben sie einige Teller mit Obst und Confect. Von dem Letztern muß aber allezeit etwas von der Kranzgeberinn selbst gemacht[142] seyn. Ist es neu erfunden, oder erlernt, daß die andern es noch nicht wissen: so muß sie die Vorschrift mittheilen. Dann werden die Arbeitensgewiesen; von der, alle zwey Monat neu gewählten Vorsteherinn gelobt, oder getadelt. Jede muß das Neugelernte, oder die erworbene Vortheile, in Erleichterung der Mühe, oder zur Vollkommenheit des Ganzen, den andern mittheilen. – Dann müssen sie nach der Reihe sagen, was sie von ihren Freundinnen haben loben oder aussetzen gehört; Erläuterungen geben, und sind sie verbunden, alle eine, und jede alle zu vertheidigen. Der Putz wird auch durchgegangen; die Unkosten und die Art der Verfertigung gesagt; der wohlfeilere Kaufmann genannt. Dann wird erzählt, was man Schönes und Nützliches gelesen oder gehört, und sich eigen gemacht hat. Nachdem Etwas aus dem Schauplatz der Natur, einer Wochenschrift, eine Comödie, oder Poesie gelesen; darüber geredet und auf die Letzt für Arme etwas Geld gesammelt; und eine jede von ihnen lehrt ein armes Mädchen Lesen, Schreiben und Arbeiten, wodurch sie tüchtig weiden kann, einmal als gute Dienerinn glücklich zu werden. In den [143] Häusern, wo die Tochter Brüder hat, kommen auch diese mit ihren artigen Freunden gegen sechs Uhr in die Gesellschaft, welches natürlicher Weise Abänderung und Munterkeit unter sie verbreitet. Man hat mir darüber zwey recht artige Sachen erzählt, die ich Ihnen auch melden will. –

Das Kränzchen bestund vor einiger Zeit aus neun jungen Frauenzimmern, die mindeste Schöne war die Reichste, und saß einst bey ihrer vertrautesten Freundinn, als junge Herren kamen. Einer von ihnen bemerkte, daß er von diesen beyden betrachtet wurde, und sie von ihm redeten, und lag der einen so lange mit Bitten an, bis sie ihm gestund, daß Mademoiselle F** ihr gesagt: »Sie wisse, daß sie niemals wegen ihrer Person könnte geliebt werden, und daß man sie nur wegen ihres Vermögens suchen würde. Sie wünschte daher nur, mit ihrem Reichthum das Glück eines würdigen Mannes zu machen; zum Beyspiel, des rechtschaffenen jungen K**, den sein Oheim das wenige Gute, das er ihm bewieß, so theuer erkaufen ließe; und es würde ihre größte Freude [144] seyn, ihm durch ihr Vermögen unabhängig und vergnügt zu sehen.«

Herr K** ward durch diese Edelmüthigkeit gerührt; von der Einwilligung des jungen Frauenzimmers versichert, suchte er um sie an, erhielt sie, und würde durch seine Dankbarkeit und ihre zärtliche Liebe lange glücklich gewesen seyn, wenn er sie nicht in dem ersten Wochenbette verlohren hätte, wo sie nach dem Tod ihres Kindes nicht um Hülfe gegen ihre Schmerzen, sondern allein um die Zeit bat, ihr Testament zu machen, um ihrem geliebten Gatten ihr Vermögen, als das allein überbleibende Zeugniß ihrer Zärtlichkeit, zu versichern, und er dadurch in den Stand gesetzt würde, eine schöne liebenswürdige Frau nach seinem Herzen zu wählen, und durch ihren Besitz für alle die feine Achtung belohnt zu werden, die er ihr bewiesen hätte. – War dieß nicht eine schöne Seele, meine Mariane?

[145]
24. Brief
Vier und zwanzigster Brief

Hier gleich, in einem Athem, sollen Sie die erst letzthin vorgegangne kleine Geschichte dieser Mädchenwelt anhören. – Der Kränzeltag traf in ein Haus, wo ein schöner Garten ist, und also die Frauenzimmer zum Herumspatzieren gelockt wurden. In dem Hause eines Nachbarn der den ganzen Garten übersehen konnte, war den Tag vorher ein Freund angelangt, der sich mit dem Hausherrn belustigte, von Ferne dem Getändel und den Bewegungen der acht artigen Mädchen zuzusehen, als sie im Garten Saale ihren Coffee tranken und Etwas weniges arbeiteten. Wie sie aber aufstunden, bemerkte er eine sehr schön gewachsene muntere Brünette, die im Austreten aus dem Saale ein Buch aus der Tasche zog, darin blätterte, und auf einen Rosenstrauch zuging, bey dem sie sich gegen ihre, ihr folgenden Gespielinnen wandte, und ihnen, mit vielem Ausdruck in ihrem Gesicht, etwas vorlas; und nachdem sie alle sehr zufrieden darüber geschienen, redete sie etwas mit dem Frauenzimmer, [146] dem der Garten gehörte, die ihr eine einwilligende Verbeugung machte, worauf die Brünette wie ein Vogel in den Saal hüpfte, mit einem Körbchen heraus kam, in welches sie Rosen und andere Blumen sammlete. – Der Fremde fragte seinen Freund, wer diese Person sey? – Es ist die Tochter eines Gelehrten, des Herrn von U** – »Von U**?« fiel der Fremde ein, »wie ist ihr Taufname?« – Julie! – »Wie! Julie von U**? O Gott! ich bitte um alles, mein Freund, schaffen Sie mir das Glück, mit dem liebenswürdigen Mädchen nur einige Worte zu sprechen. Ich will Ihnen nach dem die Ursache erzählen; aber nennen Sie mich nicht!« – Kommen Sie; ich darf in den Garten, wenn ich will. Aber die Julie ist gefährlich! Wenn man sie einmal liebt, so ist es nicht leicht möglich, von ihr zu lassen, und Sie sind erst verheyrathet. – »Ach, führen Sie mich in den Garten. Morgen reise ich wieder ab.« –

Die beyden Herren kamen auch, mit dem Herrn und der Frau des Gartens, und machten dem Mädchen höfliche, aber stille Verbeugungen; nur Herr B**, welcher dem [147] Fremden versprochen, ihm eine Unterredung mit Julien zu veranlassen, fragte diese: Was sie mit dem Korbe voll Blumen machen wollte? Sie antwortete: »Ich bin heute so wacker gewesen, daß ich Erlaubniß habe, meinen Freundinn Blumensträusser zu pflücken, die ich wirklich austheilen will.« Dies sagte sie mit einem freundlichen Lächeln, und ging gegen die Reihe der Mädchen, wovon eine zu ihr sagte: »O, wie viele Rosen hast Du? –« »So viel unsrer sind, mein Schatz! Denn wir lieben sie alle auf den Backen, auf dem Munde, auf dem Wege unsers Lebens, und sogar möchten wir, daß alle Leute, die mir uns umgehen, Rosenfarbenen Humor hätten!« – Nun war sie bey der Vorsteherinn der Gesellschaft, gab ihr eine Rose, und eine »Sorgenblume mußt Du dazu nehmen, weil Du mit der Aufsicht für uns Uebrige beladen bist!« – Einer andern, deren Wangen von dem schönsten Roth glüheten, gab sie eine weiße Rose, und Violette Schlüsselblumen dazu; streichelte ihre Wangen. »Der Widerschein wird diese Rose färben, die andere hättest Du mit Deiner Wange beschämt.« – Die Schlüsselblume hatte sie genommen, weil des[148] Mädchens Liebhaber diesen Namen führte. Sie gab auch Julien einen Schlag, und drohte ihr: »O Du Schelm!« – Einem sanften schönen Geschöpf bot sie eine weiße Viole zu der Rose. »Nimm, meine Christine, sie ist schön und rein, wie Dein Herz!« – Einer andern sagte sie: Eine abwesende Person hätte sie gebeten, ihr Vergißmeinnicht zu geben. Diese artigen Einfälle unterhielten alle, die da waren; sie ließ sich auch nicht stören, da sie für jede einen Gedanken bereit hatte. »Meine bescheidene Charlotte, die demüthige Grasviole ist Dein,« sagte sie mit viel Empfindung; aber mit Schalkheit zu einer andern: »Liebe Helene, suche den Wendel selbst loszumachen, wenn Du ihn nicht liebst, ich habe mich vergeblich darum bemüht!«

Sie hatte aber die Wendelblume selbst darum gewunden, und dies ging den Bräutigam von Helenen an. – Nun blieben lauter Blumenknospen übrig, wo sie zu einer artigen Blondine sich stellte: »Liebe Baase, unsere Verdienste und unser Glück sind noch im Blühen, aber sprossen thun sie doch!« –

Der Fremde hatte nicht einen Blick von ihr gewandt, sie immer von Kopf zu Füßen betrachtet, [149] sich auf die Lippen gebissen, und seinen Huth mit Heftigkeit gediehet. – Herr B** nahm Julien bey der Hand und sagte: Er müsse sie etwas von ihrem Herrn Vater fragen. – Der Fremde ging nach. Wie sie weit genug von den andern waren, bot ihm Herr B** Juliens Hand. »Wollen Sie meine junge Freundinn führen?« – Der Fremde haschte nach ihr; Julie zog sie erröthend zurück. »Schöne Julie,« sprach er, »wissen Sie, daß ich Ansprüche auf diese Hand habe?« – Sie stutzte ernsthaft, »Wie so, mein Herr?« – »O, werden Sie nicht böse, ich bin unglücklich genug, Sie nicht eher gesehen zu haben! Hätte mir mein Vater dieses Bild gemahlt,« sagte er, wobey er auf ihre Person wies, »ich hätte es von meinen ersten Jahren an auf ewig in mein Herz geprägt; so, wie ich jetzo Ihre reizende Person und den liebenswürdigen Geist niemals vergessen werde.« – Er faßte nun ihre Hand, küßte sie oft und feurig: »Wie glücklich hätte diese mir bestimmte Hand mich gemacht! O mein Vater, wie elend bin ich auf mein ganzes übriges Leben!« – Die gute Julie und Herr B** begriffen nichts von alle diesem. [150] Da sie aber einer kleinen Laube nahe waren, führte Herr B** sie hinein und bat den Fremden, seine Bewegungen und Ausrufungen zu erklären, da er doch Julien nie gesehen hätte. –

»Ich bin der einzige Sohn des besten und geliebtesten Freundes vom Herrn von U**. Sie hatten einen Vertrag gemacht, ihre zwey ältesten Kinder mit einander zu verbinden. Aber ich wußte nichts davon, als bis ich nach meines Vaters jähem Tode von der Universität nach Hause gerufen ward, und unter seinen Papieren den Aufsatz und Juliens Namen fand. Ich wurde da freylich, wegen meiner geheimen Heyrath, zu der ich durch unzählige List gebracht worden, etwas betreten, weil ich glaubte, meinen Vater doppelt betrogen zu haben. Meine Frau und ihre Verwandte waren mir zuwider. Ich ließ sie doch in meine Vaterstadt kommen, wo ich ihr genugsames Auskommen angewiesen, und mir etliche Jahre zu reisen vornahm. Ich ging zuerst nach Italien, weil ich hier meinen Weg durchnehmen mußte, und auf die Gelegenheit zählte, die mir zugedachte [151] Julie zu sehen. Sie zogen mein Herz an sich, ohne daß ich Ihren Namen wußte; und Herr B** wird sagen, wie stark ich gerührt wurde, da ich ihn hörte. – Mein Vater kannte mein Herz und mein Glück besser, als ich. Aus Unvorsichtigkeit habe ich es verscherzt. Diese schöne blühende Gestalt wäre mein Eigenthum gewesen! Nun habe ich eine Frau, die älter ist, als ich, und dazu bösartig. O, mein lieber B**, wie unglücklich bin ich!« –

Julie war still, aber sie bedauerte ihn mit ihren Blicken. Er schwieg auch; Thränen füllten seine Augen; hundertmal küßte er ihre Hände. »Ein würdiger, ein sehr würdiger Mann soll Sie glücklich machen! – Sagen Sie nur, hätten Sie mich leiden können? Würden Sie mich von der Hand Ihres und meines Vaters angenommen haben? Liebenswürdige Julie, sagen Sie mirs! Es ist alles, alles Glück, was ich hoffen kann!« – Verwirrt, äußerst erröthend sagte Julie: »Ich glaube, ich würde ohne Widerwillen gehorcht haben!« – Er küßte ihre Hand zum Dank, redete aber nichts mehr; riß etliche Blätter der [152] Laube ab, an die Julie in ihrer Verwirrung gespielt hatte, steckte sie in seinen Busen und wandte sich von beyden weg. Herr B** führte Julien zu der Gesellschaft zurück, und ging dann allein mit seinem Freunde auf und ab, bis er sich genug erholt hatte; und den andern Morgen ganz frühe reisete er ab, nachdem er in einem Billet Julien tausend Gutes gewünscht, und sie gebeten hatte, manchmal an den unglücklichen I** zu denken, der sie niemals vergessen würde!

Herr von U** bestätigte die Wahrheit des Vertrags mit seinem verstorbenen Freunde, der Julien als ein artiges viel versprechendes Mädchen von eilf Jahren gesehen, und sie seinem Sohn bestimmt hätte. Alle bedauerten den schönen jungen Mann, und Julie selbst wünschte, daß er ihr möchte ganz eigen geworden seyn. –

War dies nicht, meine Mariane, ein ganz einnehmender Auftritt? Ich hätte mögen dabey seyn! Wie oft, meine Liebe, wie oft geschieht es, daß wir mit einem unüberlegten Schritt den Keim unserer künftigen Glückseligkeit zertreten, [153] den eine uns liebende Hand gepflanzt und gewartet hatte! – Eine sehr muntre Person sagte bey dieser Gelegenheit, die Vorsicht müsse ganz eigene, uns unbegreifliche Ursachen gehabt haben, daß sie den Leichtsinn gerade auf die Jahre legte, wo man am meisten Klugheit nöthig habe.

[154]
25. Brief
Fünf und zwanzigster Brief

Mariane! Ich war Heut in einer großen Gesellschaft. Männer, viele Männer, im eigentlichen Verstande genommen, waren da; manche wichtige Gegenstände der Unterredungen kamen zum Vorschein; alle wurden flüchtig behandelt, nur bey dem von der Religion blieben sie am längsten stehen. Billig wäre es, das Nöthigste und Beste am längsten zu betrachten; aber, meine Liebe! die Art, mit der etliche von den Männern von einigen Theilen der Religion redeten, war nicht gut! besonders schmerzte mich, daß gerade in Gegenwart der Hausbedienten solche Stücke berührt wurden, auf die sie nothwendig aufmerksam werden mußten. Der Mann, so davon redete, sprach mit dem Ton des Wissens und der Ueberzeugung. Ein Paar andere, die auch Anspruch an Scharfsinn haben, fielen ihm bey; der Hausherr war still, und natürlicher Weise sprachen die Frauenzimmer hier nicht mit. Meine Seele war ruhig, weil, dem Himmel sey Dank! meine [155] Religion in meinem Herzen und nicht in meinem Kopfe ist, und ich sie in Handlungen, nicht in Reden lege: aber die horchende Miene der Bedienten drang mich, einem der besten unter den Männern zu sagen: Ob der treue Glaube des gemeinen Mannes dem zweifelnden und grübelnden Gelehrten nicht eben so ehrwürdig seyn sollte, als die Unschuld der Jugend einer gewissen Gattung anderer Leute sey? Ich fände es sehr grausam, durch eine muthwillige Verwendung des Uebermaaßes an Geisteskräften den Frieden der Seele des Ruhigglaubenden zu stören. – Der edle empfindsame Mann sah mich ganz bedeutend an, gab mir Recht, und unterbrach den reisenden Lauf des Gesprächs. Ich war froh darüber; denn warum soll der auf einem zügellosen Pferde sitzende Reiter das Recht haben, dem redlichen Fußgänger seinen stützenden Stab zu entreissen? der ihn just vor dem Abgrunde bewahren wird, in welchen der andre stürzen kann. – Ich sagte dann mir selbst, warum sehen die Männer die Pflichten der Religion, die Unterwerfung ihres Geistes, so leicht als ein Joch an, das ihren Nacken drückt, und suchen sich davon loszuwinden? warum geschieht [156] dieses nur bey Männern von einer gewissen Klasse? Ist das Gefühl der Stärke, die ihnen die Natur giebt, oder das, von Freyheit, Willkühr, und Obergewalt, die ihnen Umstände und Gesetze geben, daran Ursache? Bald möchte ich das Letztere glauben! Denn unter dem weiblichen Geschlecht ist noch niemals eine Empörung über Glaubensartikel entstanden. Weil wir von Jugend auf, denke ich, an die Idee einer über uns herrschenden Menschengewalt gewöhnt sind, so kostet es uns gar keine Mühe, Vorschriften und Gesetzen zu folgen und nachzugeben, die das Gepräge des göttlichen Willens und Rathschlusses an sich tragen. Zudem machte ich noch die Bemerkung, daß unter dem gemeinen, auch von Uebermacht beherrschten Manne, von jeher die Schwärmer, und niemals die Bestürmer der Religion entstanden sind, so, daß der Muthwille und die Unbändigkeit, die aus dem Ueberflusse an Glücks- Geistes- oder Gewaltskräften entstehen, die Hauptursachen dieser männlichen Verkehrtheit seyn mögen. – Weiter, meine Liebe, gebührt mir nicht zu gehen! Doch freut mich innigst, bey den vielfältigen, oft zu eifrigen Widersprüchen gekommenen Unterredungen, über [157] den wahren Verstand dieses oder jenes biblischen Gedanken, immer bey Allen eine tiefe Verehrung für den göttlichen Ausspruch gesehen zu haben: »Liebe Gott über alles, und deinen Nächsten als dich selbst.« –

Möge dieses in alle meine Thaten des Lebens verwebt, und am Ende meiner Tage das, Zeugniß seyn, mit welchem ich den letzten Blick auf meinen Nebenmenschen, und den ersten in die Ewigkeit thun werde! –

[158]
26. Brief
Sechs und zwanzigster Brief

Könnte ich, o meine Mariane, nach dem Verluste der edlen Henriette noch jemand so sehr lieben, als ich Sie liebte, so hätte ich hier eine weibliche Seele gefunden, die mich anziehen würde.

Madame G** führte mich in eine große Gesellschaft, und sobald sie mich der Frau vom Hause vorgestellt hatte, sagte diese mit einer Art Zischerey: »Wissen Sie, daß ich Heute so glücklich seyn werde, die seltene Madame D** bey mir zu sehen? Vielleicht kommt sie nur, weil sie weiß, daß Sie da sind; aber ich werde sie doch auch besitzen.« – Madame G** sagte nichts »darauf; wandte sich aber zu mir, und sagte: Sie werden Madame D**, meine liebste Freundinn, und eine sehr schätzbare Frau sehen, auf die ich Sie bitte, aufmerksam zu seyn, denn ich will Ihnen von ihrem Charakter erzählen.«

Es kam eine ziemlich große, wohlgewachsene Frau, von vier und dreyßig Jahren, von [159] vielem Anstande, mit vieler Lebhaftigkeit in ihrem Bezeigen. Nicht besonders schön, aber eine Physiognomie, die einnehmend war. Viele von den Männern bewiesen ihr besondere Aufmerksamkeit. Sie redete aber meistens mit Frauenzimmern, und gab, da sie mit Madame G** war, ihrer Unterhaltung einen geistreichen und zärtlichen Ton, der mit einem ganz eigenen Ausdruck ihrer Gesichtszüge begleitet war, die sie immer reizender machten, indem ihre Stimme beständig sanfter und melancholischer wurde. Die Blicke der Madame G** waren aber während dem Reden ihrer Freundinn sehr bedeutend auf einen der anwesenden Herren geheftet, der nahe bey ihr saß, und in ein artig tändelndes Gespräch mit einer niedlichen Coquette verwickelt zu seyn schien. Ich suchte die Ursache des Ausdrucks der Augen von Madame G** in dem Manne, den sie betrachtete, und fand in Wahrheit in seiner ganzen Gestalt das, was für mich die edle schöne Größe des liebenswürdigen Mannes ist. Die Bildung seines Gesichts war nicht so regelmäßig schön, als seine Figur, aber Züge der Winkelmannischen Seelenruh, Züge des denkenden Geists, und [160] des festen Charakters, der nichts thut, als was er will und gut findet, waren in seinem Gesichte, welches durch das Gemische von Leichtigkeit der Ideen gegen die Coquette, nur um so interessanter wurde. – Madame D** sah gar nicht auf seine Seite, sondern führte ihre Unterredung bis zum Rührenden fort. – Madame G** drückte ihre Hände an ihre Brust und sagte mit Seufzen: »O, Sie liebe vortrefliche Frau! wa –« hier legte Madame D** geschwind ihren Finger auf den Mund der Freundinn, denn Herr C** hatte bey diesem Ausruf sich umgesehen, und sein flüchtiger Blick machte Madame D** äußerst erröthen. Aber dies machte sie sehr schön, denn es war die Rosenfarbe, welche Bescheidenheit und Liebe über die Wangen der Tugend verbreitet. Herr C** stützte nach diesem seinen Kopf auf den Stuhl, sah nicht mehr um sich, redte auch, wie mich däuchte, nicht mehr mit der nemlichen Fertigkeit, wie vorher. Aber Madame D** war stille, in sich gekehrt; und Madame G** sprach mit mir. Alles dieses zusammen sagte mir, daß Herr C** eine starke Rolle in dem Spiel hätte; doch [161] sahe ich erst ganz klar, nachdem wir zu Hause waren, und Madame D** hatte sagen gehört: »O, meine Freundinn, ich bin noch lange nicht stark genug, ihn in Gesellschaft zu sehn, lassen Sie mich immer in meinem Cabinet den süssen Kummer über seinen Verlust genießen! Ich bin glücklicher, wenn ich den leeren Platz ansehe, auf welchem er ehmals mir gegenüber saß, als wenn ich ihn selbst immer gleich liebenswürdig, meinem Herzen immer gleich werth, nahe bey mir, den reichen Schatz seines Geistes in kleinen Spielpfennigen austheilen sehe! Es ist unglücklich für mich, daß ich einsam die Stärke der sympathetischen Bande fühlen muß, die mich' an seinen Geist und Charakter heften; aber sollte er mich hassen, so ist mir sein Haß werther, als die Liebe eines andern Mannes.« –

Dieses und die Zärtlichkeit, mit welcher sie die Madame G** umarmte, zeigte mir eine traurige Leidenschaft; und ich sagte nach dem Essen zu Madame G**, was ich alles gehört, und jenes, was ich bemerkt hätte. – [162] »Sie waren also fein aufmerksam?« – »So, wie Sie es wollten, liebe Madame G**?« – »Nun, kommen Sie, ich will mein Wort halten.« – Und hier ging sie zu ihrem Schreibtische und holte diesen Aufsatz: Von dem Glück der edlen Liebe, welchen Madame D** in der Zeit verfertigte, da die reizende Hofnung einer Vereinigung mit Herrn C** in ihrer Seele blühte. Ich habe ihn aus dem Englischen der Frau D** in mein Deutsches übersetzt, und ich meyne, Sie werden mit mir bejammern, daß es nur die Träumerey einer schönen liebevollen Seele bleiben soll; denn Herr C** liegt in den Netzen einer feinen Coquette der großen Welt, und Madame D** verwirft alles, was Netz- und Schlingenartig ist. Sie will weder der Kunst, noch der List ihre Glückseligkeit zu danken haben, sagt sie ihrer Freundinn G**: aber in jedem Augenblick meines Lebens, und auch bey der geringsten meiner Handlungen will ich mir sagen können: »Wenn C** mich sähe, wenn er mich hörte, so würde er mir seine Hochachtung nicht versagen!« – Täglich vermehrt sie die Kenntnisse ihres Geists, und verwendet [163] ihr Vermögen zu Wohlthaten. Aber täglich entfernet sie sich mehr von Umgang und Gesellschaften; denn es hätte immer von ihr abgehängt, Herrn C** zu sehen, und sogar der Madame S** ihre Unternehmung auf sein Herz schwer zu machen. Aber das erste Merkmal von Vergnügen, das sie bey ihm über das Anlocken der Frau S** bemerkte, gab ihrer Hofnung eine tödliche Wunde, die sie in ihrem Hause verbergen will. – Einigemal hat er sie besuchen wollen: da sie aber ihren Leuten befohlen hatte, ohne Ausnahme jeder Mannsperson zu sagen, sie wäre nicht zu Hause, so kam er nicht wieder, und gewöhnte sich um so mehr an den Umgang der Madame S**, die ihn immer, auf der einen oder andern Seite, mit neuen Fäden einzuspinnen wußte. – Nur Gestern kam der Madame D** der Gedanke, ihn Einmal wieder zu sehen. Sie redete es mit Madame G** ab; wurde aber aufs Neue unglücklich, indem sich sein Bild aufs Neue in ihr zärtliches Herz prägte.

[164] Bild des Glücks der edlen Liebe.

Mylord Arundel, ein edler junger Mann, der unter dem Druck einer harten widersinnigen Erziehung die feine Empfindsamkeit seines Herzens für jede Schönheit der Tugend, und den aufkeimenden Scharfsinn seines Geists für das Edle und Große der Wissenschaften, ganz im Verborgenen nähren und erhalten mußte, weil er niemand um sich sah, der als liebreicher, geschickter Anleiter, oder als Gefährte, den schönen Pfad der Kenntnisse mit ihm in die Höhe steigen wollte. Aber, mit desto festerm Schritt ging er alleine. Ohne fremde Stütze war er verbunden, seine eigene Kräfte um so mehr hervor zu suchen, zu üben, und zu gebrauchen. Ein Nutzen, der ihn an alles Leiden seiner Jugendjahre mit Segen erinnert, weil er überzeugt ist, daß eine fremde Hand die ersten Funken seines Genies entweder ersticken, oder zu einem wilden Feuer hätte treiben können. Mit der Ruhe der Sanftmuth [165] und des gelassenen Leidens in seiner Miene, wuchs er auf. Die moralische Triebfedern seiner Seele halfen seinem Körper das reine Ebenmaaß der edlen männlichen Gestalt erreichen. Kenntniß und Gefühl des Sittlichschönen gab ihm das feine Auge für das Schöne der Natur und Kunst. Eine mit Nachdenken gemachte Reise durch Frankreich und Italien befestigte seinen Geschmack am Edlen und Großen, deren Kennzeichen er überall ausfindig machte, ob sie in einer Arbeit des Geistes, des Gelehrten, des Künstlers, oder in den tiefen Falten einer Seele lagen. Sein Vater hatte ihn zu einer sehr trocknen Amtsbeschäftigung gewidmet. Folgsam gegen das Leitband der Pflicht hatte er es ohne Widerstreben angenommen. Aber, sein Geist und Herz litten viel dabey. Seine Gesundheitskräfte erlagen; er wurde kränkelnd und etwas melancholisch. Im Verborgenen ausgeübte Wohlthaten versüßten allein seine ihm bitter werdende Tage, indem er, aus Mangel anhaltender Gesundheit, seiner Lieblingsneigung im Studieren nicht genugsam folgen konnte. Einsame Spatziergänge widmete er dem Nachdenken, weil er fand, daß die freye[166] Luft, der Anblick der schönen Natur und die Bewegung ihm Gutes that.

Eines Tages kam er, in der Hülle seiner Gedanken verwickelt, unvermerkt über drey Stunden von seinem Wohnsitz hinweg, als er, durch einen Rogenwind und die fallende Wassertropfen zu sich gerufen, um sich sah, und in einer ihm nicht sehr bekannten Ebene keinen Schutzort vor sich fand, als das in einer Entfernung an dem Ende einer Gartenmauer weit hervorragende Dach eines Chinesischen Sommerhauses. Dorthin eilte er, um sich etwas trocken zu erhalten. Die Fensterladen gegen die Seite, wo er herkam, waren zugeschlossen, weil eben der Wind den Regen dahin trieb. Er stellte sich auch auf die andere Ecke, und hörte da verschiedene Personen in dem Sommerhause mit einander sprechen. Die meisten waren über den Regen mißvergnügt, weil er einen abgeredten Spatziergang verhinderte. Eine sanfte Frauenzimmerstimme aber, nahe am Fenster, fing an von dem Vergnügen zu reden, das sie über die freye Aussicht der Gegend, und der sich sammelnden und nähernden Regenwolken empfunden habe. Sie setzte hinzu, es dünke sie, an ihrem Herzen einen [167] Theil der Erquickung mit zu fühlen, die den Bäumen, Wiesen und Feldern durch den so wohlthätigen Regen zukäme. – Eine etwas rasche Person schien ihr zu antworten, denn es wurde ihr ganz kurz gesagt: »O! Sie lieben den Regen nur, weil er Kälte mit sich bringt.« Der meiste Theil lachte hier. Aber nach einigen Augenblicken sagte die Damenstimme auf französisch: »Wie wenig kennt man mich, meine Freundinn, wenn ich der Unempfindlichkeit beschuldigt werde! Fände sich nur der Mann, den ich nach meinem Herzen lieben könnte, wie gerne würde ich meine Zärtlichkeit zeigen; aber sie soll eher mein Leben untergraben, und ungenützt mit mir vergehen, als einem der Männer, die ich kenne, zu Theile werden.« – »Ach, Emma!« sagte eine andere Stimme, »Sie sind zu feindenkend geworden! Sie werden; fürchte ich, niemals glücklich seyn! denn der Mann Ihres Herzens lebt nicht.« – Ganz melancholisch sagte die erste Dame: »Nun! so liebe ich mein Ideal von ihm, und Sie, meine Freundinn.« – Lord Arundel, aufmerksam und eingenommen von diesem Gespräch, stand ohne Bewegung da, als einer [168] von den Gästen ans Fenster kam und ihn erblickte; und da er ihn kannte, ihm sogleich zurief: er möchte doch in das Haus treten@ wovon die Thüre an der einen Seite offen stünde. – Gerne folgte er dem Rufe, der ihm Hofnung machte, das Frauenzimmer zu sehn, deren kleines Gespräch seinem Herzen so nahe gegangen. Gleich bey dem Ein tritt in das Zimmer blickte er an das Fenster, unter dem er gestanden hatte. Drey Damen saßen da, alle sehr artig; die Frau des Hauses und ihre zwo Töchter stunden nahe bey ihm; und eine Dame, nicht so schön als die andre, an ein gegenseitiges Fenster angelehnt. Die Herren bewillkommten ihn; die Damen machten stumme Knickse, und er erzählte, wie es zugegangen, daß er dahin gekommen sey. Aber während dem Gespräch horchte er auf den Ton der Damenstimmen, und suchte die ihm so angenehme Rednerinn unter zwo reizenden jungen Damen, die er wechselsweise mit Aufmerksamkeit beobachtete, indem er die so gefühlvolle Seele gewiß in der niedlichsten Figur zu finden dachte, und es vielleicht auch wünschte. – Begierig, welcher von beyden er eigentlich seinen Beyfall für Geist [169] und Person schuldig sey, wünschte er, daß sie reden möchten, als er auf einmal, zu seinem größten Erstaunen, hinter seinem Rücken die Stimme ertönen hörte: »Liebe Henriette! kommen Sie und sehen, wie schön die niedergehende Sonne das von dem Regen glänzende Wäldchen und das Feld in der Ferne mahlt« – Und diese Stimme gehörte der Dame, deren Reize am Verblühen waren. – Arundel war unwillig, wie ein Gärtner es werden könnte, der den blaßweissen Rosenstock mit reichern Blumen fände, als den, der reizendes Roth trägt. – Doch hatte die Dame durch den moralischen Ton ihrer Seele schon einige Rechte auf sein Herz erhascht. – Er betrachtete ihren Anzug, der in falbem Grau mit weißen Schleifen bestund. Durch eine Wendung, welche die Dame machte, sah er zu seiner Freude, daß die mangelnde Blühte ihrer Gesichtsfarbe durch eine sehr einnehmende Bildung ihrer Gestalt ersetzt wurde, und daß der Ausdruck einer moralischen Seele in ihrer Miene lag. – Nun fragte er nach ihrem Namen, und man nannte die verwittwete Lady Emma, die sich seit acht Tagen hier aufhielt. – Ein geheimer Zug näherte ihn [170] zu ihr, und er fing auch an, von der reizenden Abendröthe zu sprechen, deren Widerschein das Gesicht und die halbversteckte Brust der Dame dem Kennerauge sehr verschönerten. Ganz ungekünstelte Grazie, die durch die sittliche Bewegungen ihrer Seele über ihre ganze Person ausgebreitet war, machte mehr und tiefern Eindruck auf ihn, als er dachte. – Er blieb den Abend da, kam die folgende Tage öfter zu Pferde, welches er mit dem edelsten Anstand regierte.

Sein Umgang, die Erzählung von seinen Reisen, von der Verwendung seiner Tage, mit so viel Bescheidenheit er sie machte, gaben der guten Lady Emma mit dem Gedanken, du edler würdiger Mann! auch zugleich das volle Maaß »ewiger tugendhafter Liebe« für den Mann ihrer Seele. – Jeder Reiz ihrer Person, jeder Zug von Geist, jede edle Eigenschaft ihres Herzens schien, durch den Hauch der Liebe belebt, in einem neuen Glanze zu stehen.

Mylord Arundel widersetzte sich dem anziehenden Vergnügen, so er in ihrem Umgang fand, gar nicht; doch sah sein Beobachtungsgeist [171] bey jedem Schritt sorgfältig um sich. – Denn erst nach hundertfachen Wendungen, die er durch Fragen, durch fein veranlaßte Gelegenheiten der Lady Emma gab, ihren Charakter auf allen Seiten zu zeigen, erst da überließ er sein Herz der Freude über die wohlthätige Gewalt, die er der moralischen Schönheit über seine Seele gelassen hatte. – Er fühlte, daß allein die Liebe, und der Besitz eines gleichgestimmten Herzens, das Glück sey, dessen Mangel sein Leben so traurig und leer gelassen hatte. Doch furchtsam, wie der Mann von wahrem Verdienste es allezeit ist, wagte er lange nicht, von seiner Liebe zu reden. – Aber, wie glücklich machte er Lady Emma durch dieses Geständniß! wie sehr freute sie sich, dem von ihrem Herzen so lang gewünschten Manne zu gefallen, und Eigenschaften zu besitzen, wodurch sie ihn glücklich machen konnte! – Wie zärtlich waren ihre Berechnungen über das große Maaß der höchsten Freude, welches sie bey Erblickung ihres Arundel genieße! Wie viel größer, wenn sie nach einer kurzen Abwesenheit seine Hand an ihr von Liebe klopfendes Herz drückte; seine [172] Stimme, seinen Fußtritt hörte. Bey Emma und Arundel wurde der Seelentausch, den man bey wahren Liebenden behauptet, zur unerschöpflichen Quelle der reinsten Glückseligkeit dieser Erde. Die Zärtlichkeit der schönen Seele der Lady Emma, die edle Güte, die Wahrheit des moralischen Gefühls, welche jeden Schritt ihres Lebens bezeichneten, stärkte in Arundels Seele den Glauben und die Liebe der Tugend; so, wie die Größe und der Scharfsinn seines Geists, den Geist der Lady Emma immer mehr bereicherte, besonders da sie vereinigt eine Reise nach Italien und Sicilien machten, damit Lady Emma das glückliche Stück Erdreich mit eigenen Augen sähe, auf welchem der große Genius der Alten, mit so vieler Mühe, die ehrwürdigen Ueberreste seiner schönsten Werke aufbewahrt.

Hier ließ Lady Emma die ganze edle Figur ihres Arundel mahlen, wie er mitten unter zertrümmerten Stücken der größten Baukunst, die fein gearbeiteten Cypressen-Gewinde eines Aschenkrugs, mit dem tiefen Gefühle der Vergänglichkeit betrachtete. Der Lady Bild neben ihm, wie sie mit dem höchsten Ausdruck[173] zärtlicher Liebe eine seiner Hände hält, während ihr Auge ihm sagt: »O, mein Arundel! möge einst Dein seelenvoller Blick so auf dem Behältniß der Asche Deiner Emma verweilen! Der Geist meiner Liebe für Dich wird meine Ueberreste umschweben, und eben so dankbar, wie der Genius des Künstlers, der auf dieser Urne ruht, die Achtsamkeit Deines großen menschenfreundlichen Herzens bemerken!«

[174]
27. Brief
Sieben und zwanzigster Brief

Ich bin etwas traurig, meine Freundinn. Die zwey Damen G** und D** haben mich beynah überzeugt, daß das Bild der glücklichen edlen Liebe ein Traum sey, und daß sich kein Mann fände, der die Stärke der Zärtlichkeit einer Emma, oder einer Madame D** lieben würde.

Also, meine Damen! ist der Charakter eines Arundel Traum? während daß der von einer Lady Emma Wahrheit ist? Die Eigenliebe und Eitelkeit der Männer ist also ein viel niederträchtigeres elenderes Ding, als die unsrige? Und du, ehrwürdige Vorstellung des geistvollen, edlen, moralisch-empfindsamen Manns, du bist nichts, als Schattenbild, das meine gute Phantasie erschuf? – Könnte ich es so ganz glauben, meine Mariane, so möchte ich, auf Henriettens Grab gelehnt, heute noch meine von diesem Ideal erfüllte Seele ausweinen; denn ich kann nicht halb lieben, nicht zur Hälfte hochachten. – Das Beste, was wir Menschen dem Himmel [175] geben können, ist Verehrung und Liebe. Aus diesen zwey höchsten Gesinnungen besieht auch unsre Freundschaft, unsere vorzügliche Neigung für den Mann, an den der innere Ruf der ewigen Gesetze der Natur, und die Leitung eines Bilds vom Liebenswürdigen uns heften: und es sollte immer Tausende geben, deren körperliche Gesundheitskräfte hinreichen, mehr als einmal alle Zonen unserer physikalischen Welt zu durchreisen, und das schöne Gebiet des moralischen Kreises soll unter ihnen keinen Wanderer finden, der es mit eben dem Eifer, mit eben dem Anhalten durchginge, als die Andern Meere und Gebürge durchkreuzen? – Nein, meine liebe Madame D**, alte und neue Geschichten, das Bild selbst, so Sie mir von Ihrem geliebten Herrn C** mahlen, beweisen, daß es Arundels, Henris Mandevills, Rivers, und Grandisons geben kann, und giebt. – Würden den Tugenden des Herzens eben so viele Ehrenzeichen und Glücksgüter gegeben, als man sie dem Verdienste des Verstands anweiset, so würden wir eben so viel edle Thaten, als geschickte Arbeiten von unsern jungen Männern sehen. –

[176] »Das ist alles recht schön, recht gut, meine liebenswürdige Freundinn,« sagte Madame D**, »aber es ist noch nicht sicher, daß diese vortreflichen Leute eine von uns beyden lieben würden!« –

»Und meine D** hat sehr gut gesprochen,« fiel Madame G** ein. »Denn, wenn man Euch beyde recht nahe besieht, so seyd Ihr freylich bewundrungswerthe Frauenzimmer: aber, just diese Bewundrung hindert den Anfall der Liebe. – Ihr fordert Tribut; Ihr laßt niemand die Freude, Euch Etwas zu schenken. Meine D** da, hätte gewiß die Wagschaale bey C** übergezogen, wenn sie nicht zu stolz gewesen wäre, sich der S** gegenüber, mit Etwas Gefälligkeit zu wägen.«

»Ach, meine Liebe, Herr C** kannte meine gute Seite schon, und es ist sicher, in dem Augenblick, wo eine S** gefällt, ist es nicht mehr möglich, daß ich Etwas erhalte!«

»Und warum nicht? Hätte nur Ihre eigensinnige Feinheit nicht vergessen, daß der weiseste, edelste Mann auch Mensch ist; und daß in den Augenblicken, wo dieses Gefühl [177] redet, die kluge, hochachtungswürdige Freundinn das gefällige Weib zeigen muß. Hätten Sie dieses gethan, liebe D**, so wäre C** zu Ihren Füßen. – Ich weiß, wie sehr er Sie schätzte. Wären Sie nicht gleich völlig zurück geblieben, so hätten Sie selbst bey seiner anfangenden Achtsamkeit für die S** gewonnen. Er liebt der S** ihre Redekunst, und die Mühe, die sie sich um ihn giebt. – Wären Sie zur Seite gewesen, hätte er sagen können: S** ist anlockend; sie hat Witz; ich habe Eindruck auf sie gemacht; sie sucht mir zu gefallen; aber was ist ihre Seele gegen die Seele der D**! Tugend und wahrer Geist sind dieser eigen; die Hochachtung, die sie mir zeigt, kann Liebe werden; schon habe ich manchmal Zärtlichkeit in ihrem ernsten Auge gesehen; ihre Stimme ist sanft, wenn sie mit mir spricht; ein Paar Blicke haben mich gefragt, ob ich ihr die S** vorziehe? Ich habe dieser ihren feinen Fuß gelobt, und einige Minuten darauf sah ich, daß der Fuß der Frau D** sehr schön gebildet ist. S** ist niedlich, schön; D** edel gestaltet. Die Liebe dieser Frau ist süsser, als das Schmeicheln [178] der Coquette – – Und sehen Sie, so würde er gedacht haben, und genösse nun das Glück Ihrer Liebe, die Ihr Herz verzehrt.«

»O, Sie muthwilliges Geschöpf!« sagte Frau D** »Liebäugeln, meinen Fuß zeigen sollte ich, um das Herz zu erhalten, das ich damals zu beleidigen gedacht haben würde, wenn ich dieses als einen Weg dazu angesehen hätte? – Wenn ihn die S** glücklich macht, – ach, möge er es seyn! Der höchste Grad weiblicher Eitelkeit muß durch die Erfahrung dieses Mannes einen glücklichen Stolz empfinden. – Sie spielt mit ihm! Ich würde ihn als das größte Geschenk der Vorsicht mit Anbetung geliebt haben. – Nun ist es anders! aber ich werde nie aufhören, meine traurige Zärtlichkeit für ihn zu nähren! – Seine Liebe hätte mich glücklich gemacht. Aber seine Gleichgültigkeit nimmt ihm nichts von den Verdiensten, um derentwillen ich ihn ewig lieben werde.«

Eine Thräne endigte das Gespräch, und gewann ihr mein Herz. – O, meine Mariane! die Männer wollen also nicht geliebt, wollen nur geschmeichelt seyn? –

[179]
28. Brief
Acht und zwanzigster Brief

Noch immer, meine Mariane! bin ich an diesen fremden Boden geheftet: hunderterley große und kleine Ursachen rücken das Ziel unsers Aufenthalts weiter hinaus! – Gestern sprach ich darüber mit meinem Oheim, und ließ mir den Gang der Nachsuchungen über Recht und Unrecht erklären. Er lachte herzlich über meine Ausrufung, da ich dem Himmel dankte, daß unser Körper dem häßlichen Hin- und Hergehen, und vergeblichen Seitenschritten unsers Geists nicht unterworfen sey! – aber, gewiß ist auch, daß die stärkste Masse der physikalischen Welt das Ausdehnen. Zerreissen, Wiederzusammensetzen, Prägen und Modeliren nicht ausdauren würde, welchem unser Verstand, von den ersten Jahren an, auf so viele mühselige und unnütze Weise ausgesetzt ist. –

»Freue Dich darüber, Rosalie,« sagte er; »denn dieses beweiset Dir, daß der Urstoff Deiner Ideen unzerstörbar ist. Sonst hätte das Eigene Deines Charakters unter dem [180] Gehorsam gegen die Führung Deiner Jugend, und dem bisherigen Beugen nach der Gewalt der Umstände, erliegen müssen; und vielleicht würdest Du nicht die Hälfte Deiner Fähigkeiten entfaltet haben, wenn nicht Deine wunderliche Baase, und einige Widerwärtigkeiten Deinen Kopf und Herz geneckt hätten.«

Er hatte seine Hand freundlich nach mir ausgestreckt, und die meinige bey den letzten Worten etwas geschüttelt. Die Bewegung seines Kopfs fragte, ob es nicht wahr sey? – Ich gestund, daß er Recht hätte; aber zugleich sagte ich, unter zärtlichem Küssen seiner Hand, daß, wenn er mich nicht durch seine Güte gestützt hätte, so wäre gewiß jede Triebfeder meiner Seele zerknickt worden. –

»Das mag wahr seyn,« erwiederte er; »aber, hast Du denn vergessen, daß ich selbst Versuche gemacht habe, sogar die Stefte auszuziehen, an die einige von den Triebfedern befestigt sind? Aber, wenn ich sah, daß Du aus Dankbarkeit für meine Liebe alles aufopfern wolltest: so konnte ich nicht fortfahren, und ließ Dich nach der Anlage der Mutter Natur gehen, ungeachtet ich [181] sah, daß das Abstechende Deines Charakters mit dem Charakter Andrer, Dir manches Unangenehme zuziehen würde. Doch, da Du ein hübsches Mädchen wurdest, und Dein Kopf eben so leicht und munter, als Deine Seele empfindsam war: so dachte ich, es würde wohl einen jungen Mann geben, dem einmal das wunderliche Gemische von Schwachheit und Stärke, so in Dir liegt, eben so erträglich vorkommen könnte, wie mir.« –

Innig gerührt dankte ich dem besten Oheim für diese Gattung von Freyheitsbrief, den er mir durch diese Erklärung gab. Meine Seele athmet nun viel leichter, als in manchen vorigen Stunden. – Mein Oheim duldet mich gerne, so wie ich bin, und Mariane von St** liebt mich just deswegen! Das ist genug, genug Glück, von der männlichen und weiblichen Welt! Ungestört und ungetadelt sollen alle andre vor und neben mir gehen! Ich werde keinem zurufen, in meine Fußtapfen zu treten. Wenn ich nur unter dem Schutze der herablassenden männlichen Weisheit meines Oheims, an dem freundlichen Arme der weiblichen Tugend, die unter der Gestalt meiner [182] Mariane wandelt, den kleinen Weg meines Lebens durchgehen kann; sollten auch die schönen Hofnungen meiner zärtlichen Liebe zernichtet werden: so werde ich immer mich noch glücklich genug finden, wenn bey dem Genusse Ihrer Güte, mir das moralische Gefühl über Schönheiten des Geistes und der ausübenden Tugenden bleibt. – Adieu, meine Mariane! Warum, warum schreiben Sie so ungern! Wie viel verliert Ihre Rosalia dabey!

[183]
29. Brief
Neun und zwanzigster Brief

Abends 9 Uhr, von dem Schlosse R**.


Ich habe den heutigen schönen Herbsttag hier zugebracht; aber blos in der Absicht, Henriettens Grab zu besuchen, und deswegen kam ich in großer Gesellschaft, um von Frau G** weniger vermißt zu werden. Ich hatte das nemliche Kleid angezogen, in welchem mich Henriette das Erstemal sah; mich darinn umarmt, und ihren schönen Kopf auf meine Schulter gelehnt hatte. – Ich ging durch einen Umweg, zwischen den Feldern und Hecken, ganz allein. Ich, die sonst unmöglich allein durch die Straße einer Stadt gehen konnte. Aber das Gefühl von Tod, Ewigkeit, Tugend und Freundschaft, erhob mich über alle andere Empfindungen. Meine Seele dünkte mich größer, erhabener, als jemals. In dem weiten Luftraume war Ruhe um mich her, da der Landmann auf der welkenden Wiese, und dem kaum ausgesäeten [184] Felde, für seine arbeitsame Hand nichts zu thun hat. Nichts störte meine Bewegungen, nichts hinderte sie. Ich war nicht munter, Mariane, aber glücklich, sehr glücklich! Jeder Blick gen Himmel war in meinem Herzen ein süsses heitres Gefühl von dem Vaterlande, das mich näher dünkte, als während meinem Aufenthalte in der Stadt und in Häusern. – Die schöne braune Farbe des neugebauten Feldes ließ mich, mit ausgebreiteten Armen und mit innigem Gefühl, unserm großen liebenswürdigen Klopstock nachsagen: »Sey mir gegrüßt, Erde! mein mütterlich Land! die du mich gebahrest, und einst im kühlenden Schooße zu den Entschlafenen Gottes begräbst, und meine Gebeine sanft bedeckst!«

Mit diesem kam ich allmählig auf die kleine Höhe, wo ich rechter Hand Henriettens Wohnhaus, die gelben welkenden Blätter der Laube und die rothwerdende Epichwand des Nebenhauses sah; auf meiner Linken aber, die sich am blauen Firmament erhebende Stücke der alten Capelle und des runden Daches über Henriettens Grabe, ansichtig wurde. Ich blieb stehen. Eine Thräne trat, mit der Erinnerung [185] jeder Auftritte in diesem Hause, in mein Auge. – Edle selige Freundinn, Deinen Wohlstand, Deine Blüthe sahe ich nicht; nur Dein Verwelken und die zitternde Bewegungen, die der Hauch des Zufalls in den letzten Tagen Deiner Hinfälligkeit verursachte! Sanft, wie das Haupt einer zerstörten Blume, fielest Du zur Erde! – Ach, möchte mit Deinem letzten Blicke Deine reine Tugend mein Erbtheil geworden seyn! –

Nun war ich an ihrem Ruheplatze, und blieb am Eintritt stehen; nicht nur von dem Anblick ihres Grabes äußerst bewegt, sondern auch dadurch gerührt, daß ich meinen Schatten an ihrem Grabstein sah, wohin ihn die niedergehende Sonne warf. Ich weiß nicht, aus welcher gemischten Bewegung ich mich an eine Säule lehnte, und solche mit einem Arm umfaßte, eben, da ich in mir sagte: »Der Schatten der lebenden Freundinn über dem Staub der todten.« – Ich zog meinen Handschuh aus, sah auf Henriettens Miniaturbild, welches ich in ein Armband gefaßt habe, küßte es, und ging an den sie deckenden Stein. – Ein kleiner Schauer überfiel mich, und auch der Gedanke, warum bist [186] du herangegangen? Doch gleich zog ich auch meinen rechten Handschuh aus, breitete meinen ganzen Arm über den Stein hin, und ich konnte sprechen: »Ach, kalt, fühllos, wie Du! ist nun das Herz, in welchem die zärtlichste und feurigste Liebe wohnte, und aus welchem so viel thätige Tugend floß!« – Ein für Worte zu starkes Gefühl, ließ mich auf eine Zeit lang schweigen und weinen. Tief in meine Seele drang der Gedanke Verwesung! Aber ein Sonnenstrahl, der zwischen den Säulen einfiel, und Henriettens Bildniß beleuchtete, belebte auf einmal mit ganzer Kraft das Gefühl von Unsterblichkeit unsers besten Theils; mein Herz sprach: »Ja, glänzender, als die höchste Blühte Deiner irdischen Reize war, ist nun die verewigte Schönheit Deiner Seele! und ich, in vollem Genuß des Lebens und der Gesundheit, auf Dein frühes Grab gestützt, sehe die höchste Glückseligkeit in Deinem seligen Tode! – Das Beste, so ich nach diesem noch von der Erde begehren würde, ist eine Thräne der Freundschaft, die das Auge meiner Mariane auf meinem Grabe vergösse, wenn ihr Herz noch eine Zeit lang ein Zeuge [187] der Tugend des meinigen gewesen seyn wird.«

Aber, Mariane! warum kniete ich in dem Augenblicke, da ich an meinen C** dachte, nieder? warum flossen bey seiner Erinnerung meine Thränen häufiger, und warum fühlte ich mein Herz gepreßter, als vorher? – An dem Grabe einer viel liebenswürdigern Person, als ich bin, geschahe dieses. – Ach, wenn es Vorbedeutung wäre, daß mein Herz auch von der Hand meines Geliebten gebrochen werden sollte! – Ich konnte nicht mehr bleiben; rafte eine Handvoll Grashälmchen zusammen, die ganz dicht an dem Leichenstein hervorgesprosset waren, und küßte Henriettens Namen. – Die Kälte des Steins, die ich an meinen Lippen empfand, und welche auch zugleich im Ueberbeugen durch meinen seidenen Mantel auf meine Brust drang, gab mir eine Art von Erstarren. Ich ging heraus, mußte mich aber, weil ich etwas zitterte, niedersetzen; da kam der junge Weber mit seiner Frau, Henriettens treue Lise, und der Hofbauer, mit zwey Kindern, hinter der Capelle her, ohne zu reden, und die Männer mit den Hüten in der Hand. [188] Sie staunten mich an und schaueten umher, ob noch Jemand bey mir wäre? – Lise schlug die Hände zusammen, und sagte: »Ach, Sie lieben mein armes Fräulein noch!« fiel vor mir auf die Knie und weinte laut. Die andern stunden wehmüthig um uns her. Ich konnte es nicht länger aushalten, steckte mein Gras in die Schürze, und reichte den Leuten die Hände. – Lise sah das Bild, zog meine Hand an sich: »Ach, so sah sie aus, so schön war sie!« – Die andern drangen sich ehrerbietig, aber eifrig hinzu; und die Ausrufungen: Ach, Du wohlthätiger Engel! und das mit erhabenen Händen: Gott vergelte Dir! gingen mir durch die Seele. Weinend sagte ich: »Gott segne Eure dankbare Herzen, und lasse Uns einmal alle im Himmel bey ihr stehen, wie wir bey ihrem Grabe stehen!«

Wie schnell, meine Mariane, wirkten diese wenigen Worte auf die guten Leute! Alle Hände falteten sich; in jedem Gesicht war ein frommer Entschluß und ein Schimmer von seliger Freude. Sie faßten meine Hände, mein Kleid; gerade, als ob sie mir für die [189] Einladung dankten, und versprechen wollten, gewiß da zu seyn!

Henriette! vielleicht hat Deine Seele in den Unsrigen gelesen, und freute sich, daß bey Deinem Grabe Gelübde der Tugend gemacht werden! – Feyerlich dachte ich dieses, da ich noch ihr Grab ansahe. – Ich umarmte Lisen, winkte den Leuten, da zu bleiben, und ging langsam mit den letzten Strahlen der Sonne nach R** zurück, wo ich in mein Zimmer mich ein schloß, von meinem Grase Henriettens und meinen Namen zwischen Papier flochte, Ihnen schrieb, und itzt mit einer heiligen aber süssen Schwermuth schlafen gehe.

Ihre

Rosalia. [190]

30. Brief
Dreyßigster Brief

Da bin ich in der Stadt zurück; und da wir uns nun ein Jahr hier aufhalten werden, habe ich einen Plan für mein Vergnügen gemacht. Doch wenn jemals eine fremde Person Ursache hatte, den Charakter der hiesigen Einwohner zu lieben, so habe ichs, weil die meisten, die ich hier kenne, so viel Aufmerksamkeit für mich bezeigen, daß sie in alles eingehen, was sie von meinen Lieblingsneigungen wissen; denn sie befleißen sich, mir die Familien zu bezeichnen, worinn schöne moralische Auftritte vorkommen. Andre suchen in ihrem Gedächtniß charakteristische Züge hervor, die zur Ehre der Menschheit unsers Zeitalters dienen, und ich habe wirklich das Glück gehabt, in dem Zirkel, in welchem ich meistens lebe, dem Vergnügen des Lobens, das Uebergewicht über die Reize des Tadelns zu geben. – Ein Zufall veranlaßte die Bemerkung, daß verkehrte Begriffe von der Glückseligkeit, den Fortgang und die Ausbreitung der Tugend verhinderten. Hätte [191] man, zum Beweis, eben so viel Werth auf die Bekanntschaft und den Umgang mit Weisen und Tugendhaften gelegt, als man demjenigen Vorzüge ertheilt, der sich des vertrauten Zutritts bey Großen und Mächtigen rühmen kann: so würde die Begierde nach wahren Verdiensten des Geistes und Herzens eben so herrschend geworden seyn, als es der Ehrgeiz nach Rang und Titeln geworden ist. – Ein munterer, aber zugleich ganz vieldenkender junger Mann fiel hier ein: Er wäre überzeugt, daß dieser Wunsch sehr leicht erfüllt werden konnte, wenn das Glück der Tugend und Weisheit in sichtbaren Kennzeichen erschiene; oder wenn in jedem Lande ein Mittelpunkt vorhanden wäre, dem allein wahres thätiges Verdienst sich nähern dürfte. Ein einziger edler Mann kann dieses hervorbringen! Ich sahe, fuhr er fort, den Beweis davon, während meinem Aufenthalte in S**, wo einer der würdigsten Cavaliere eine angesehene Stelle bekleidet, und darinn nicht nur die Früchte seiner Gelehrsamkeit zum Besten des Landes verwendet, sondern als Schutzgeist der Rechtschaffenheit, der Kenntnisse und des redlichen Eifers für das gemeine Wohl erscheint; [192] dessen Haus der Tempel ist, wohin das verfolgte Verdienst sich flüchtet, und an dessen Händen alle edle, alle würdige Männer sich anschließen; dessen Achtung als Beweis dient, daß man Tugend und Wissenschaften besitzt. Diesem vortreflichen Manne wird das große schöne Land, worinnen er wohnt, noch auf späte Zeiten den Anbau des vaterländischen Verdienstes zu danken haben.

Urtheilen Sie, meine Mariane, von dem Bergnügen, so ich hatte, in diesem Gemählde ganz allein den w. R** S** v. G** zu sehn, den ich selbst kenne, und in diesem Augenblick die so seltene Freude genoß, nicht nur jeden Zug dieses Bildes als wahr zu erkennen, sondern noch jede liebenswürdige Eigenschaft der edelsten und stärksten Fühlbarkeit des Herzens dazu setzen konnte, welche so deutlich in der schönen Melancholie seiner Gedichte erscheint, und in seinem Privatleben herrscht!

Dieser ganz unvollkommne Umriß eines moralisch großen Mannes, ist der Anfang von charakteristischen Beschreibungen, die wir in dem Auszug unserer Gesellschaft, von lebenden Personen, und die wir selbst kennen, [193] machen wollen. – Wir sind nur fünf Verbündete. – Der Kreis unserer Bekanntschaft ist nicht groß! da wollen wir doch sehen, wie viel übende Tugend uns vorgekommen ist. Sie sollen allezeit Abschriften haben.

Herr Fr** sagt, es wäre eine der edelsten Beschäftigungen, die ich mir in dem letzten harmlosen Jahre meines Lebens machen könne; denn, sobald Herr C** seine Verbindung mit mir vollzöge: so würden andre und bestimmtere Sorgen an die Stelle der einseitigen Befriedigung meines Herzens treten; doch wünsche er; daß ich immer die Gewalt haben möchte, die Umstände nach meinen Gesinnungen zu beugen, weil sie sehr oft den Ausdruck und die Handlungen unserer Seele verhinderten. O, er hat Recht! denn wie oft habe ich dieses schon erfahren! Aber, mein Freund C** denkt wie ich; nur er wird meine weltliche Obergewalt seyn, und ich also in seinem Hause nach meinem Herzen leben können. Große süsse Hofnung

Ihrer

Rosalia. [194]

31. Brief
Ein und dreyßigster Brief

Eilf Tage, unausgesetzt, von einer Gesellschaft in die andere, ist mir beynahe unerträglich geworden. Aber, es war der jährliche Kreislauf von Visiten, welchen die Familie, mit der wir leben, zu Anfang eines jeden Herbstes bey denen macht, die nur als Bekannte, nicht aber als Freunde angesehen werden. – Mein Oheim fand dieses Betragen etwas sonderbar, weil er behauptete, daß in eilf Familien gewiß verschiedenes Verdienst wohnte, gegen welches diese Gleichgültigkeit ungerecht wäre. Madame G** sagte darauf: »Das mögen sich diese Leute gefallen lassen! denn es geht selbst der ganzen Reihe von Tugenden so; alle sind uns bekannt, aber mit wenigen sind wir vertraut, indem allezeit diejenigen vernachläßiget werden, die nicht in den Bund unsers Nutzens und Vergnügens gehören.«

Sagt nicht diese Frau ganz munter und nett triftige Wahrheiten? Vier dieser Herbstbesuche waren mir angenehm, weil wir sie in [195] den Landhäusern ablegten, wo diese vier Familien noch wohnten. Alle haben sehr schöne Gärten, doch zeichnet sich der von Herrn Sch**, der an dem Ufer des M** liegt, durch seine vortrefliche Lage und Anbau ganz besonders aus. Dieses Haus zog aber meine Aufmerksamkeit auch deswegen auf sich, weil ich darinn so viel Uebereinstimmendes in Allem fand. Die feinsten Sitten und Bewirthung; der Hausherr einer der artigsten und belebtesten Männer; die Frau voll der schätzbarsten Güte des Herzens; ihre Kinder liebenswürdig, mit dem, ganzen Ausdruck von Empfindung ihres Glücks und des Wohlwollens für alle andre Menschen. – Besonders aber schien uns allen einer der erwachsenen Söhne das wahre Bild eines schönen, edlen und sanftmüthigen jungen Mannes. Er führte mich durch alle Theile des Gartens und zeigte mir die Aussichten auf die Gegenden umher, mit sehr viel wahrer Fühlbarkeit für das Große und Schöne der Natur! Bey Tische hatte mir Jemand von seinem Hange zur Wohlthätigkeit und den Kenntnissen des Geistes gesprochen. – Ich wünschte ihm diese Stimmung der Seele auf sein ganzes Leben! Denn da er durch eine [196] große Erbschaft von seinem Oheim vorzüglich reich wird: so fehlt ihm zum Genuß vollkommner Glückseligkeit dieser Erde nichts, als die unveränderliche Dauer der edlen, tugendhaften Gesinnungen seines Herzens. Der heitere Abend gab mir noch etliche selige Augenblicke, da ich, auf das Geländer der Terasse gestützt, zu meinen Füßen den schiffbaren Fluß; zu meiner Rechten eine schöne Allee von hohen Bäumen; den Blumengarten; über dem Wasser vor mir unabsehbare Kornfelder, und zur Linken, Obstgärten, Dörfer, eine Reihe waldigter Berge, und die große, volkreiche Stadt sehen konnte, in welcher gewiß eine eben so große Summe moralischen Guten liegt, als mein Auge in dem weiten Gesichtskreise umher physikalische Wohlthaten sah. In der großen Gesellschaft, die sich hier versammlet hatte, war überhaupt unter den Männern viel Verstand, und das Frauenzimmer sehr liebenswürdig von Person und Sitten. –

Die Tage nach diesem war ich nicht ganz so zufrieden, weil ich die traurige Bemerkung machen mußte, daß man so selten Menschen findet, bey denen die Liebe des Guten und Edlen stark genug ist, daß sie sich in gesellschaftlichen [197] Unterredungen, mit Vergnügen auf einige Zeit lang bey guten Eigenschaften, edlen und großen Handlungen ihrer Nebenmenschen verweilten. Wie oft habe ich die Ermüdung und Langeweile gesehen, die die Stimme der Hochachtung hervorbrachte; da hingegen der Spötter und Verläumder Aufmerksamkeit und Vergnügen erregte! In der feinen Welt ist es niedrig und unanständig, von der Tugend eines Handwerkers, von der Rechtschaffenheit eines Bauren zu reden. Bey Räuber- und Betrügerhistorien hingegen hält man sich auf; und allein die Klasse der Künstler, die für den Pracht, die Ueppigkeit und die Wollust arbeiten, erhält noch einige Achtung. – Ich will Ihnen darüber morgen einen launigten Einfall von dem jungen Mann schreiben, der das Bild des Herrn von G** mahlte. Adieu! meine Mariane; Adieu, von

Ihrer

Rosalia. [198]

32. Brief
Zwey und dreyßigster Brief

Madame G** hat mich Gestern auf ihre eigene Art dazu gebracht, daß ich meinen Brief an Sie vorzeigte, während der junge Herr von O** noch da war. – Dieser fand meine Anmerkung zu ernsthaft, und fing an, die gesellschaftliche Gutartigkeit der Menschen zu vertheidigen, und zum Beweise anzuführen daß man so oft ein Frauenzimmer schön nenne, sie liebe und bewundre, ungeachtet man wisse, daß sie nur künstlich übertüncht wäre. – Dann heiße man jenen fromm, und verehre ihn als einen gottseligen Mann, weil man ihn fleißig beten sähe, obschon seine Handlungen auf zehnfache Weise bös und ungerecht wären; wie lange behielten nicht bloße Schwätzet den Namen vielwissender Leute? u.s.w.

»Schön, Herr von O**, sehr schön!« sagte Madame G**, »aber Ihr Scherz ist beißender, als Rosaliens Ernst!« – »In was für einem Tone hätte ich es sagen sollen, meine Damen? Rosaliens Ernst ist [199] meinem Herzen sehr schätzbar, weil er das Werkzeug ist, durch welches ihr Charakter so stark und so sittlich wurde; aber das Leben der besten Menschen würde sehr traurig verfließen, wenn sie das Ueble immer mit der tiefen Empfindung seiner Schädlichkeit betrachten wollten! Ich fühle an mir selbst, daß unsere Tugend nur Stückwerk ist, und wir sie überhaupt nur für die andre Welt nöthig halten, weil man sie meistens erst am Ende des Lebens mit vollem Willen und Kräften ergreift; so, wie man auf weiten und wichtigen Reisen an den Gränzen eines Landes die Geldsorten einwechselt, welche da gäng und gäbe sind.«

»Ein sehr artiger Gedanke, mein Herr!« sagte wieder Fr. G**. »Sie sehen also die Tugend nur als einen Sparpfennig für Ihre letzte Reise, und nicht als den nöthigen Reichthum dieses Lebens an? Ich möchte wohl das Ganze Ihrer moralischen Haushaltung kennen!«

»Sie haben zu befehlen, wenn ich sie vorweisen soll! Denn ich halte so gute Ordnung, daß ich keine Stunde der Untersuchung fürchten darf.«

[200] »Nach was für einer Mode richteten Sie sich, Herr Vetter, englischer oder französischer Sittenlehrer?«

»Nach keiner von beyden! Weil ihre Vorschriften nicht immer zu mir und den Sachen paßten, die ich mit einander verbinden wollte.«

»Das glaube ich: denn Moral und Galanterie vertragen sich selten!«

»Vielleicht habe ich die Kunst gefunden, sie zu vereinigen!«

»O, machen Sie uns die Probe davon!«

Ich hatte während dem kleinen Gespräch zwischen Madame G** und Herrn von O** immer fort gearbeitet, und wünschte in der That, etwas Näheres von dem Kopfe dieses jungen Mannes zu wissen, den ich, wegen des heitern Tones seines Geistes, sehr gerne in Gesellschaft antraf. Aber ich fürchtete, der spielende Witz der Madame G** würde ihn verhindern, etwas ordentlich von seinen Gesinnungen zu reden. Doch nach der Auffoderung, die sie gemacht hatte, nahm er seinen Stuhl, setzte ihn uns gegenüber, und sagte: »Ich werde ernsthafte und muntre [201] Sachen zu erzählen haben. Die Erstern sollen Mademoiselle Rosalie, und die Andern meiner Frau Baase gewidmet werden.«

»Gut,« sagte sie, »ich höre also das Beste; denn Ihre ernsthafte Sachen dünken mich närrischer, als Ihre muntern.« – »Ich hoffe,« sprach Herr von O**, »die Freundinn wird in diesem Stück anders denken, als die Baase!«

»Sie wissen, sagte er zu Madame G**, daß ich zu Hause vielen Unterricht erhielt, und auch nach dem auf einer hohen Schule studieren mußte. Ich befolgte beydes ziemlich gerne, aber meistens nur Maschienenmäßig; und erst auf meinen Reisen fühlte ich daß die Sachen, die man Denken, Wissen und Urtheilen heißt, in mir lagen und geschäftig seyn wollten; und daß ich von Ihnen im gesellschaftlichen Umgang mit Gelehrten. Künstlern und Damen, einen eben so nützlichen Gebrauch machen könnte, als ich in Gasthöfen, Kaufmannsbuden und andern Gelegenheiten, mit mei nem Gelde ihat.«

[202] »Diese Vorrede ist sehr artig gerathen, Herr Vetter; machen Sie sich aber bald an das Ende Ihrer Historie.«

»Sie finden es artig, und ich soll bald endigen! Das sieht widersprechend aus! – Doch, ich wollte eben sagen, daß ich unvermerkt ein Beobachter wurde, und durchgehends so viel Widerspruch unter dem Reden und Handeln der Menschen fand, und mich darüber ärgerte, daß ich mir vornahm, wenigstens in mir alles Mißtönende zu vermeiden.«

»Und also aus Ihrer Seele eine Harmonica zu machen!« fiel Frau G** ein. »Sie wissen aber, daß dieses Instrument aus lauter Glasstücken besteht; und daß, wenn eines davon bricht, ein ganzer Ton fehlt.«

»Und sehen Sie, liebe kritische Baase, ich will lieber einen Ton fehlen lassen, als daß alle ohne Uebereinstimmung seyn sollen; und, dem Himmel sey Dank! meine Seele ist nicht zerbrechlich.«

Frau G** wandte sich zu mir: »Dieses gehört Ihnen, Rosalia, denn hier ist Ernst.« Herr von O** fuhr fort: »Ja, Rosalia, ich wollte durchaus wissen, warum es dem [203] Moralisten manchmal geht, wie dem Landmann, der Korn für uns bauet, und dann oft selbst kein Brod zu essen hat. Ich fragte Leute, und las Bücher; aber es dauerte lange, ehe ich ins Klare kam: bis mir von ungefähr etliche Gedanken von dem Unterschiede aufstießen, der zwischen Seele, Geist und Herzen wäre. Da hatte ich meinen Leitfaden aus diesem Labyrinth.«

»Ein glückliches Gleichniß, Herr Vetter; denn es giebt dreyfaches Garn, das umeinander gedreht ist, wie Ihr Herz, Seele und Geist. Es wird aber schwach und verworren, wenn man es auftrillt.«

»Brav! meine Baase. Man sieht, daß Sie eine gute Arbeiterinn sind. Denn die Stärke Ihrer Anmerkung ist aus Ihren Beschäftigungen genommen. Es ist mir lieb, wenn Sie Acht geben wollen, wie ich meinen Faden brauchte. Ich schrieb der Seele alles zu, was unsterbliche Tugend heißt; dem Geiste, alles, was das Reich der Kenntnisse angeht, und dem Herzen, unser hier auf Erden nöthiges Gefühl für uns und andre. Ich sah, daß uns der Himmel einen großen Schatz verschiedener Glückseligkeiten [204] damit gegeben hätte, und versprach mir, keine davon ungenossen zu lassen. Ich will das, was den Theil meiner Seele angeht, nicht berühren, weil es das Heiligthum der Ewigkeit ist, und da ich alle meine Rathschlüsse abfasse. Aber, ich würde mirs nicht vergeben, wenn ich nicht eben so viel Begierde hätte, jede Tugend zu kennen, als ich habe, meinen Geist mit Wissenschaften zu bereichern. – Mein Herz liebt alle Freuden der Erde, und ist überzeugt, daß die Vorsicht damit zufrieden ist. Denn sie hätte sonst meine Sinnen nicht mit so viel Fähigkeit zum Genuß erschaffen. – Nur trage ich Sorge, daß ich in dieser Einrichtung nichts versäume, und nichts in Unordnung gerathen lasse, weil ich Leute kenne, die entweder ihren Kopf allein mit Ideen bereicherten und die Seele darben ließen, oder diese mit einem übermäßigen Enthusiasmus anfüllten, der ihnen den Gebrauch der Kräfte ihres Geists und das Gefühl ihres Herzens als unnütz und schädlich vorstellte. Andre, die weder ihre Seele noch ihren Geist in Betrachtung zogen, und allein dem Hange des Gefühls von Vergnügen nachgingen. – [205] Alle diese Trennungen machen nur halb gute, und halb glückliche Menschen, die ich immer mit Bedauren ansehe, und mich über meine wohleingerichtete Haushaltung freuen, in der ich alles habe, was Erdenglückseligkeit ist.« –

Frau G** sagte hier: »Für mein Schön Stück Geduld, mit der ich zugehört, darf ich doch sagen, daß ich die hoffärtige Historie eines Menschen weiß, der nur für sich denkt und lebt!«

Herr von O** wurde etwas roth, antwortete aber ganz ruhig: »Sie sind seherstreng, meine schöne Baase! Ich hoffe, Rosalie verdammt mich nicht, wenn ich das, was ich für andre thue, auch allein von andern erzählen lasse.«

»Nun, Rosalia!« sprach Frau G** zu mir, »der Mensch wird über alles böse, was ich sage! Geben Sie ihm doch eine Belohnung für die schönen Sachen, die er uns lehrte.« –

Von O** sah mich an, und streckte eine Hand nach mir aus, so, wie Jemand, der eine Gabe erwartet. Da ich ihn munter sah, und auch Madame G** durch etwas Ernsthaftes [206] von meiner Seite hätte können beleidiget werden, so sagte ich ihm: »Ja ich will Herr Fr** bitten, Ihr moralische Vormund zu werden! Denn, es dünkt mich, daß, wenn Ihr Kopf mit diesen Gütern zu viel spielt, sie mit einem Mal sehr stark verlieren könnten.« – Er küßte mir lächelnd die Hand; drohte der Madame G** mit dem Finger: »Sie sind Ursach, daß mich Rosalia für einen Spieler hält. Aber die Vormundschaft Ihres würdigen Bruders wird mir unschätzbar seyn.«

[207]
33. Brief
Drey und dreyßigster Brief

Es ist Nachts zwölf Uhr! und der Schlaf noch weit von mir entfernt, weil wir nach unserm Abendessen auf eine Unterredung kamen, deren Gegenstand ich schon oft betrachtet, aber nicht unter dem fürchterlichen Bilde gesehen hatte, wie er durch Jemand unserer kleinen Gesellschaft gemahlt wurde. –

Die Eigenliebe, welche mir als das höchste Geschenk des Himmels erschien, durch welche ich alles Gute dieser Erde, und auch die Hofnung der künftigen Glückseligkeit genießen, und mir eigen machen könnte, weil sie das Wohlseyn meines Selbst für Jetzo, und für die Ewigkeit zu besorgen hat: diese hörte ich diesen Abend unter den Götzen schildern, denn täglich Menschenopfer gebracht würden, um deren Altäre Bäche von Thränen und Blute fliessen! Ehrgeiz, Wollust und Neid, führeten die Schlachtopfer auf verschiedene listige Arten herbey, und würgten dann verdienstvolle Greise, unschuldige blühende Jugend und würdige Familienväter, ohne den [208] geringsten Grad von Mitleiden oder Reue zu empfinden. Stiegen dann über dem Nacken ihrer Schlachtopfer empor, und lächelten ihrem Abgott zu. – Grauen befiel mich, und mit einer Thräne im Auge sah ich den Redner an, der dieses Bild beschrieb, weil seine Gesichtszüge und der Ton seiner Stimme mir den Beweis zu führen schienen, daß seine redliche, empfindungsvolle Seele einst Augenzeuge, ja vielleicht der Gegenstand einer solche Scene des Abscheues gewesen seyn müsse. Und, o meine Mariane! ich hörte noch eine Familiengeschichte, durch welche meine Vermuthung bestätiget wurde. Die gute Madame Fr** wünschte kinderlos zu seyn, um dem doppelten Elend zu entgehen, ihre Kinder leidend, oder übelthätig zu sehen: und mir kam es höchst traurig vor, daß das mütterliche und menschenfreundliche Herz der Frau Fr** für das Glück und die Tugend ihrer Kinder keinen andern Zufluchtsort erblickte, als das Grab.

Unsere muntere Madame G** konnte den Tiefsinn, der uns alle mehr oder weniger befallen hatte, nicht zu lange ansehen, sondern wandte sich gegen ihren Mann und den [209] Herrn von O**, und verlangte zu wissen, wie sich eine gute wohlmeynende Seele vor den Bosheiten der Eigenliebe bewahren könne, und was wohl sie beyde für Mittel gebrauchen würden? »Ich,« sagte ihr Mann, »hoffe durch die Genügsamkeit geschützt zu seyn, mit welcher ich den Kreis meines Lebens, ohne Wünsche und Klagen, mit der redlichen Bemühung durchgehen werde, andern zu der Vermehrung ihres Glücks behülflich zu seyn.«

Herr von O**, welcher bemerkte, daß diese Antwort dem Endzweck der Madame G**, welche den Ton ins Muntre lenken wollte, nicht ganz gemäß war, sagte: »Und ich werde an dem künftigen Orte meiner Bestimmung sorgfältig acht geben, was für eine Gattung von Glück und Verdienst in derselben Gegend mit neidischen Augen betrachtet werden, und sodann beyde in der Stille zu genießen suchen. – Ich werde vor dem stolzen und mächtigen Ignoranten meine Wissenschaft, vor dem Wollüstling meine schöne Frau und artige Töchter, und vor dem geldgeizigen Menschen mein Gold verbergen. Ich machte mir auch einige Tugenden eigen, die man in jetzigen Zeiten eher [210] mit Spott als mit Hochachtung belegt, wie, zum Beyspiel, Mäßigkeit im Essen und Trinken; Bescheidenheit in Kleidung und Manieren; Uneigennützigkeit, Leutseligkeit, Arbeitsamkeit, die von Niemand beneidet werden, und dennoch ihrem Besitzer gesunde und vergnügte Tage schaffen.« – Madame G** gab ihm einen kleinen Schlag: »O, Sie übermüthiger Mensch! Wissenschaften, eine schöne Frau, artige Töchter, und dann Tugenden, die Sie verstecken wollen, um die Eigenliebe der andern zu schonen!« –

Wir hatten alle zu dem Plane des Herrn von O** gelächelt, aber jedes Auge war auf das Gesicht des Herrn Fr** gerichtet, in dessen zweifelnden oder bejahenden Zügen man das Richtige und Unrichtige eines Gedanken oder Urheils aufsucht. Er ließ sich aber nicht weit ein, sondern sagte nur zu seiner Frau Schwester: »Herr von O** hätte ganz Recht, an dem Anfange seiner Laufbahn die Gerechtsame seiner Eigenliebe gegen die Anfoderungen der andern ihrer genau zu berechnen, und sich durch Vorsicht gegen eine zufällige Gewalt zu schützen. – Hätte der vortrefliche Winkelmann dem elenden [211] Bösewicht, der ihn ermordete, nur seine Geschichte der Kunst, und seine Zeichnungen von Statuen vorgewiesen, so würde sich der Mensch niemals gegen ihn bewaffnet haben, weil er auf den ganzen Reichthum des Winkelmannischen Geistes keinen solchen Preis von Glück gesetzt hätte, als seine niedrige Seele auf den Besitz des Goldes warf, das ihm der edle Mann so unvorsichtig zeigte. Unsere eitle Eigenliebe reizt Andrer ihre, und wenn die Begierde Leidenschaft wird: so ergreift sie alle, auch die bösesten mit, um sich zu vergnügen.«

[212]
34. Brief
Vier und dreyßigster Brief

Mein lieber verehrungswerther Pfarrer M** K** kam heute in die Stadt, um bey einer vortreflichen alten Frau, die seine nahe Verwandtinn ist, mit seiner Frau und Kindern auf dem Jahrmarkttage das Abendbrod zu essen. Er lud mich ein, und ich würde gewiß eher die Tafel des Größten und Reichsten dieses Orts ausgeschlagen haben, als die einfache Mahlzeit dieser edlen Seelen. O, meine Mariane, was für schöne heitere Züge verbreitet die übende Tugend der Nächstenliebe über die Miene desjenigen, der sich der reinen edlen Absicht bewußt ist, Gutes aus diesem Beweggrunde zu thun! Erlauben Sie mir zugleich eine Art eigener Anmerkung, die mir sagte: daß natürlicherweise jede Tugend ihren eigenen Gegenstand und Ausdruck habe; daß übende Gerechtigkeit nachdrücklichen Ernst; frommer Eifer die Hitze des heiligen Feuers; das Mitleiden die Kennzeichen des antheilnehmenden Schmerzens; die Geduld Züge des niedergeschlagenen Geistes; [213] und die Standhaftigkeit die Spuren der Gewalt bemerken ließe, die wir manchmal über unser Gefühl ausüben. – Alles nöthige edle Bewegungen unserer Seele! Aber keine hat den schönen, sanften Ausdruck, der für mich Schattenbild eines seligen Geistes ist, den allein das Gefühl: ich habe Glückliche gemacht, über unser Wesen ausgießt. Hütten Sie die ehrwürdige Frau gesehen, bey der wir den Nachmittag zubrachten, so würde Ihnen das Gemählde von ihrem mütterlichen Leben noch viel schätzbarer seyn.

Frau B** ist von einer sehr guten Familie des gelehrten Standes, und brachte ihrem Mann einen großen Reichthum zu, aber seine Sorge für sie und die drey Kinder war nicht getreu, denn er opferte dem Spiele und Trunke beynahe das meiste und beste seines Vermögens auf, so, daß die gute Frau nach seinem Tode sich sehr zurück sah. Doch, da sie beynahe alles mögliche zu Gelde machte, so erzog sie damit ihre Kinder sehr gut. Die zwey Söhne gingen in Kriegsdienste; der Eine erwarb sich jedes Verdienst des rechtschaffenen Mannes, und hielt seine kleinen Einkünfte so zu rathe, daß er seinen edlen kindlichen[214] Herzen das Vergnügen geben konnte, seiner theuren Mutter zu schreiben, daß sie ihm ferner nichts mehr an Gelde schicken, sondern alles zu Sorge für ihre Gesundheit und Gemächlichkeit ihrer erlebten Jahre verwenden solle. – Dieser Brief kam just zu der Zeit, wo sich ein anständiger Freyer für die einzige Tochter zeigte. Da schrieb sie ihrem guten Sohn, sie würde seine großmüthige Verzicht auf den gerechten Antheil an ihrem Vermögen nicht angenommen haben, wenn sie nicht damit das Glück seiner liebenswerthen Schwester hätte bevestigen können, welcher sie damit ihre kleine Ausstattung vermehrt, und die vortheilhafte Heyrath mit einem schätzbaren Manne beschlossen hätte. – Der junge Mann, der ein eben so liebreicher Bruder, als guter Sohn war, freute sich, etwas für seine Schwester gethan zu haben; aber es schmerzte ihn, daß es die Mutter nicht genießen konnte. Er reisete daher zu dem Regiment, wo sein älterer Bruder stand; redte mit ihm über die Umstände ihrer guten Mutter, sagte ihm, was er gethan, und wies ihn die Briefe der Mutter, die sein Geschenk nicht für sich, sondern zum Besten der Schwester verwendet hätte,[215] und suchte ihn zu bewegen, für die Mutter das Gute zu thun, was er gewünscht hatte. Dieser Aeltere aber, ein flüchtiger Schwelger, der über einen Entwurf von Vergnügen zehnmal seine Mutter und Geschwister aufgeopfert hätte, spottete über ihn, und behauptete, die Mutter müsse schon zu leben haben, sonst würde sie seine Abgabe nicht wieder der Tochter geschenkt haben u.s.w. Der Jüngere ging mit einem zerrissenen Herzen weg, und suchte, wenigstens durch treue kindliche Briefe, das Herz seiner Mutter zu erfreuen. Der Andre forderte immer von ihr, und fuhr in seinem schlechten Leben fort, bis ihn endlich selbst zugezogenes Elend in sich gehen ließ, und er eben so abgezehrt und schaamvoll, als der verlohrne Sohn, in die mütterlichen Arme floh, die, nachdem sie von seiner Reue überzeugt war, bis auf die Stäubchen Ueberrest ihres Vermögens zusammen faßte, um bey dem, in ihrem Vaterlande üblichen Verkauf der Dienste, einen für den wiedergefundenen Sohn zu bezahlen, wo sie, nach der genauesten Berechnung ihres Unterhalts, nichts als Tausend Thaler zurück behielt, die ihr jährlich funfzig Thaler Zinse gaben, welche sie von den Leuten [216] zieht, denen sie ihr artiges Haus verkaufte und sich nur ein einziges Zimmer vorbehielt, in welchem sie die simpelsten Ueberreste ihres vorigen Wohlstandes vereinigt hat, und worinn der Geschmack an Reinlichkeit und Ordnung ein deutliches Anzeichen ist, daß sie in ihren jungen Jahren Ideen von Schönheit und Pracht hatte, weil sie Reichthum vor sich sah, Sie schnitt von dem geräumigen Zimmer durchaus einen Theil mit einer Tapetenwand ab, die sie auf dreyfache Art gebrauchte, da sie das mittlere Stück zu einer Alkove für ihr Bett verwendete, den einen Theil, mit einer Tapetenthür verschlossen, zum Bette für ein Mädchen, und den andern zu einem doppelten Schrank, für Kleidung, Weißzeug und nothwendiges Koch- und Eßgeschirr eingerichtet hat. Der übrige Theil des Zimmers ist mit der nehmlichen Tapete ausgeschlagen. Sechs gute Stühle, ein Spiegel, eine Comode, und ein Tisch, geben dem Ganzen ein gutes Ansehen. Ganz glatte Hauben, Manschetten und Halstücher von feiner nur gesäumter Leinwand, auf den dunklen altväterischen Zeugen ihrer Kleider, geben ihrer ganzen Person und schönem, obschon faltigem Gesichte, [217] das ehrwürdige Ansehen der edlen Genügsamkeit und Selbstständigkeit; denn sie will weder bey ihrem Schwiegersohn, noch bey ihren eigenen Kindern leben. Alles, was sie von ihrem Tochtermann annimmt, ist, daß er sie alle Jahre zu den Wochen seiner Frau abholt, und dann wieder zurückführt. In der Stadt ist sie sehr geschätzt, und viele Familien würden sich eine Freude daraus gemacht haben, sie öfters zum Essen zu laden; aber sie hat es allen, außer einem einzigen Freunde, abgeschlagen, bey diesem isset sie alle Sonntage.

»Ich bin,« sagte sie zu Herrn M** K**, »sehr dankbar für die Gesinnungen meiner Freunde und Kinder, aber so lange mein Hannchen und ich von meinen zwölf Kreuzern leben können, so will ich diese Güte nicht gebrauchen, und unabhängig bleiben.«

Dieses Hannchen ist ein armes Mädchen von dreyzehn Jahren, deren Mutter ehmals bey Frau Brane als Magd gedient hatte, und von ihr ausgestattet worden ist, weil sie da noch in guten Umständen war. Die Mutter des Mädchens ist schon einige Jahre todt, und der Vater starb, nebst zwey andern Kindern, an einer ansteckenden Seuche, gerad zu der [218] Zeit, wo Frau Brane, zum Besten ihres ältern Sohns, ihre Bedürfnisse auf ein Zimmer und funfzig Thaler jährlicher Reuten einschränkte. Da sie keine eigene Magd zahlen und ernähren konnte, dachte sie mit dem Geschenk, daß sie einer gelehnten geben müßte, das atme Kind zu erhalten und zu erziehen. – Doch die Abschrift eines ihrer Briefe an Herrn M** K** sagt mehr, als meine Erzählung.


Frau Brane an Herrn Pfarrer M** K**.


Freuen Sie sich mit mir, mein Freund! ich bin seit vierzehn Tagen sehr glücklich. Das Wenige, was ich aus dem Sturm gerettet, hat hingereicht, meinen älteren Sohn mit einem Amte zu versorgen. Seine gute und vermögliche Frau läßt mich hoffen, daß er in seinem häuslichen Leben glücklich seyn, und auch seine Kinder einst Etwas haben werden. Die rechtschaffene Familie, an die ich mein artig kleines Haus verkaufte, hat die Bedingung gerne eingegangen, mir das große Zimmer an der Nebenthüre zu lassen, und damit [219] habe ich alles erhalten, was mir, in meinen jetzigen Jahren, Menschen noch geben können. Ich wohne in dem Hause, worinn ich gebohren, in dem Zimmer, worinn meine Mutter als Wittwe gelebt hat; in dem Bette, worinn sie starb, werde ich auch meine Tage enden. Ich habe ihren silbernen Eßlöffel, ihre alte stoffene Kleider, die mich meinen Freunden noch mit dem Ansehen des alten Wohlstands zeigen; ich habe als treue Mutter meine Kinder versorgt, bin niemand nichts schuldig, und lebe unabhängig! Tadlen Sie mich nicht, ich bitte Sie, wegen der Beharrlichkeit, mit welcher ich alle Anerbietungen ausschlage. Ich bin durch Jahre und Kummer alt und schwächlich; ich muß viel Ruhe und wenig Speisen haben; Wein trank ich niemals, und Coffee habe ich mir gleich nach dem Tode meines Mannes abgewöhnt, lange kann ich nicht mehr dauren; meine Tausend Thaler machen noch ein Erbe für meine drey Kinder! Mein Sohn Ludwig aber soll meine Krankheits- und Wartkosten bezahlen; weil er allzeit wünschte, mir Gutes zu thun, so wirds ihn freuen, die Ausgabe für Labung und Pflege meiner letzten Tage zu besorgen. [220] Meine Zinsen geben mir alle Tage zwölf Kreuzer, und dabey blieben mir schon zwey Gulden übrig; alle Sonntage, da ich und mein Hannchen bey meinem treuen Vetter Wellen essen, geben mir noch zehn Gulden vier und zwanzig Kreuzer; zwey Monate, die ich bey dem Wochenbette meiner Tochter zubringen werde, eilf Gulden vier und zwanzig Kreuzer. Sehen Sie, da bleibt mir drey und zwanzig Gulden und vier und zwanzig Kreuzer! das giebt Holz, Licht, Mehl und Schmelzbutter. In unserm Städtchen ist es wohlfeil; ich kann alle Tage mein Fleisch und Brod essen, bin satt, frey und vergnügt; thue noch einer Waise Guts, da ich sie nähre, schütze und unterrichte; ihre Kleidungsstücke, Gemüs und Obst tausche ich für unsere Strickarbeit ein; bin also noch nützlich, und habe, was ich bedarf.

[221]
35. Brief
Fünf und dreyßigster Brief

Ich bin von unserm Tisch aufgestanden, an welchem mir ein moralisches Uebelseyn die Lust zum Essen raubte. Es kam kurz vor Mittagszeit ein artiger Mann zu Herrn G**, den er, gleich nach der Bewillkommung, eines veränderten Wesens anklagte.

»Zürnen Sie nicht,« sagte der Fremde, über meine Düsternheit; »es gehörte jedes Jahr Probe und Kenntniß Ihrer Rechtschaffenheit dazu, die ich von Ihnen habe, um mich noch Einmal aus dem Hause meines traurigen Freundes zu bringen, dessen Herz und Glück von der Hand desjenigen verwundet wurde, an den allein er sich mit allen Banden des Vertrauens und der Liebe seit einigen Jahren fesselte, da er alle andere Verbindungen ausgeschlagen, ja, sogar in dem Eifer für das Beste dieses Lieblings seines getäuschten Herzens, gegen andre ungerecht war.«

Herr F**, welcher mit uns aß, fühlte Abscheu und Erstaunen, welcher den rechtschaffenen [222] Mann bey Anhörung einer Niederträchtigkeit ergreift. »Es ist nicht möglich,« sagte er, »Sie mahlen das Bild zu schwarz.«

»Zu schwarz? Hören Sie mich nur!« – Und hier fing eine Geschichte an, die ich nicht wiederholen werde. Männer müssen diesen starken häßlichen Stoff ausarbeiten. –

»Warum dann,« sagte Herrn F**, »warum dieses abscheuliche Gewebe von Undank und Falschheit?«

»Um Gold, und um den Ruhm von Feinheit des Geists!«

Herr Fr** nahm seinen Schwager G** bey der Hand: »O, mein Bruder!« sagte er, »niemals, niemals wollen wir Glück und Ehre auf diesem elenden Wege suchen! Möge die Vorsicht meine Söhne durch einen frühen Tod aus meinen väterlichen Armen reissen, wenn ihre Seele nicht redlich, nicht edel genug ist, um bey Wasser und Brod, durch das Zeugniß ihres Herzens glücklich zu seyn; wenn sie Zeiten erleben sollen, wo der Heuchler und Verräther mehr, als der frevmüthige und gerechte Mann angesehen seyn wird!«

Ist nicht dieser Herr F** in jeder Gelegenheit ein moralisch edler Mann? In ihm [223] lebt eine der alten großen Seelen, aus denen sich republicanische Heldentugenden verbreiteten. – Möge der Kreis seines Ansehens und seiner Gewalt immer weiter werden! denn, ich bin überzeugt, daß sein Beyspiel Gute, und seine Menschenliebe Glückliche machen wird. – Dieses dachte ich, während daß er redte, und seine Schwester G** flüsterte mir ins Ohr: »Rosalia! Ihre Blicke auf meinen Bruder sind sehr bedeutend!«

»Möchten Sie,« sagte ich, »alle die Verehrung ausdrücken, die der theure Mann mir einflößt: so würde ich mit meinen Augen sehr zufrieden seyn.« –

»Gott helfe Ihrem armen C**,« erwiederte sie, »bey alle den Aufwallungen Ihrer Seele, wenn Sie eine Ihrer Lieblings-Verdienste erblicken!«

Mit diesem kleinen Geschwätz machte sie, daß ich einen Theil der Unterredung verlohr, die ganz wichtig gewesen seyn muß; denn ich sah den Fremden die Hand des Herrn Fr** nehmen, ihn durchdringend ansehen, und hörte ihn sagen: »Sie, Herr Fr**, Sie! nehmen so vielen edelmüthigen Antheil an dem Kummer des Herrn A**, Sie! die [224] vielleicht Ursache hätten, Freude darüber zu haben.« –

»Diese Art von Freude ist nicht für mich!« sagte Herr Fr** ganz ernsthaft. »Glauben Sie, daß ich eben so unfähig bin, mich an Feinden zu rächen, als ich es wäre, den Busen eines Freundes zu zerreißen.«

Madame G** war so muthwillig aufmerksam auf mich, daß ich auch deswegen in mein Zimmer eilte, wo mir der Charakter des Herrn F** um so schätzbarer erschien, als man selten Menschen findet, die ohne persönlichen: Eigennutz für die thätige Tugend eifern. Denn wie oft bleibt Geist und Charakter eines vortreflichen Mannes ungeliebt und ungeachtet, weil die kleinen Seelen, die ihn umgeben, ihn nicht zu ihren Absichten gebrauchen können; und wie oft wird ein bekannter Bösewicht geschützt und geduldet, weil er der Eigenliebe schmeichelt, oder dem Eigennutz dient! Herr Fr** aber bejammerte den Unfall eines Mannes, der ihm geschadet hatte, und sprach den Abend noch von der Entheiligung der Freundschaft, und des Vertrauens, als einer der größten Vergehungen, deren sich ein Mann schuldig machen könnte. Ich fühlte die Wahrheit einer [225] jeden Silbe, in dem Werth der Freundschaft meiner Mariane, deren Liebe mein höchstes Glück ist. Wie elend müßte ich werden, wenn ich die seligen Stunden vergäße, worinn Ihre edle Seele sich mit aller Freymüthigkeit mit mir besprach, Ihre Gedanken von Personen und Sachen anvertraute und auf die treuen Gesinnungen meines Herzens rechnete. Wie froh bin ich, die Unmöglichkeit dieses Vergessens in mir zu fühlen, weil ich mir es als den Gedanken eines Meuchelmords vorstelle, den man an der Ruhe und dem Glücke seines Freundes verübt. O, gewiß, meine Mariane, die zwey göttlichen Bilder, der Tugend und Freundschaft, sollen in meiner Seele auf immer die gleiche Verehrung genießen, und mit äußerster Sorgfalt will ich mich vor jeder Beleidigung hüten, weil ich allzeit beyde zugleich verwunden würde.

[226]
36. Brief
Sechs und dreyßigster Brief

Mariane! ich bin stolz geworden, und sehe mich, seit gestern früh zehn Uhr, als eine Person von außerordentlichen Vorzügen an, weil mir Herr Fr** in einer langen Unterredung einen unschätzbaren Beweis seiner Hochachtung gegeben hat. Doch würden Sie gewiß eben so wenig, als ich es dachte, den Anlaß dazu an meinem Putztische gesucht haben!

Herr Fr** frühstückte bey seiner Frau Schwester G**, mit welcher mein Oheim wirklich ein Hauß auf kommenden Winter bewohnt. Ich war, als ich gerufen wurde, schon angekleidet, aber Madame G** kam im Nachtzeug, und mußte dahero bald zum Anziehen eilen. Ich suchte sie aufzuhalten, indem ich sie versicherte, daß es noch Zeit genug zu ihrem Putze wäre. »Ja!« sagte sie, »wenn ich mich nur einmummeln wollte, wie Sie es machen! Aber ich will meine Person und meinen Geist in gleichem Werth erhalten.« Damit ging sie von uns; und Herr [227] Fr** fragte mich: Ob ich schon ein Frauenzimmer von so meisterhaftem Muthwillen gesehen hätte, wie seine Schwester? »Ich,« fuhr er fort, »habe mit Vergnügen bemerkt, wie besorgt sie sind, die Reize: Ihrer Person unter einer bescheidenen Kleidung zu verbergen. Ich weiß, daß Sie es aus einer doppelt seinen Empfindung thun, weil Sie nur für Herrn C** ganz schön seyn; und auch dem Uebel ausweichen wollen, daß für Sie, aus den Begierden des einen, und aus der Mißgunst des andern Geschlechts, entstehen könnte. Ich möchte aber sehr gerne daraus eine Bitte ziehen, die Ihre Seele zum Gegenstand hat, an der ich so schöne Züge gesehen, daß ich auch einen Schleyer darüber wünschte, den Sie nur vor den Augen des wahren Liebhabers abnehmen sollten, um bey andern das Mißvergnügen zu vermeiden, welches zu glänzende Vorzüge allezeit hervorbringen!«

Meine Mariane denkt wohl, daß ich hier, ungeachtet seines sanften Tons und Miene, stutzte und erröthete; er sagte mir aber gleich: »Werden Sie nicht unruhig, meine theure Freundinn, und sehen Sie alles, was ich [228] sage, als Sorgfalt für Ihre Glückseligkeit, und als Vertrauen auf Ihren Charakter an. Ihre Liebe der thätigen Tugend, der Kenntnisse des Geists, das lebendige Gefühl des Edlen und Schönen, sind bewundernswerthe und vortrefliche Eigenschaften Ihrer Seele; aber, glauben Sie nicht, daß die Stärke des Ausdrucks, mit welcher Sie solche zeigen, eine verletzende Art von Vorwurf, des geringern Grades oder des Mangels dieser Empfindungen ist? und der großmüthige Reiche sollte sich niemals im vollen Genuß seiner Güter vor die Augen des Dürftigen stellen.«

Hier fiel ich ihm in die Rede, und bat ihn, versichert zu seyn, daß, wenn die Idee von Reichthum und Mangel, auf diese Weise in mir gewesen wäre: so würde ich gewiß nicht oft von meinen herrschenden Neigungen geredet haben! Aber, setzte ich hinzu, es steht ja in jedes Menschen Gewalt, moralische Güter zu sammlen, und sie mit Wucher zu vermehren.

»Wie hart ist dieser Ausspruch, meine Freundinn! aber der Eifer hindert immer die Sanftmuth! Mir ist leid, daß ich jetzt [229] über ihren Einwurf nicht alles sagen kann, was ich wollte. Ich bitte Sie nur, nicht zu fest auf diesem Satze zu halten; und meistens zu denken, daß ehe der Mangel an Kenntniß, als der Mangel am Willen, die Ursache vieler Fehler unsers Nächsten sind. Und lassen Sie,« sagte er lächelnd, »diesen Gedanken zu dem Stück Schleyer werden, in den Sie Ihren moralischen Eifer hüllen wollen!«

Ich wollte ihm hierauf für seine Unterredung danken; aber er unterbrach mich, indem er mich bat, ihm einige meiner gesammelten Charaktere zu weisen, die ich so gleich holte, und nachdem er weg war, alles dies schrieb, und wahrhaftig bey der Wiederholung finde, daß mein hastiges Gutseyn etwas Unfreundliches hat. Warum verwiesen Sie mir es niemals?

[230]
37. Brief
Sieben und dreyßigster Brief

Nun habe ich mein Seelenbilderbuch wieder, und bin um ein Gemählde reicher geworden. – Gestern Abend gab mir Herr Fr** die Blätter zurück, und versicherte mich, daß er sie mit vieler Zufriedenheit gelesen hätte, weil er sie als Bildnisse glücklicher Menschen betrachtet habe; da er nur diejenigen glücklich nennt, welche ihr moralisches Leben in edlen und tugendhaften Handlungen genießen können. Er fragte mich zugleich um die eigentliche Ursache des Aufsuchens dieser Züge des menschlichen Herzens. »Um wirkliche Zeugnisse zu haben, wie gut wir seyn können, wenn wir wollen; und auch, um mir zu sagen, was andre gethan haben, das kannst Du auch thun.«

»Immer die Idee des Wollens!« sagte er. »Glauben Sie denn, daß man in seinem Leben oder in seinem Amte all das Gute thun kann und thun darf, was man wöllte? was heiligen Pflichten der Menschenliebe und der Klugheit gemäß wäre? Wie oft [231] muß man dem Eigensinne, dem Eigennutze und der Unwissenheit das Uebergewicht lassen! wenigstens sehr oft lange die beste und gerechteste Sache zwischen Dornbüschen durchschleppen, ehe man sie zum Ausgang bringt, weil die Obergewalt der Umstände den schönen Weg der geraden Strasse hinderten.«

»O, mein schätzbarer Freund! Sie machen mich besorgen, daß Sie aus Erfahrung reden, und daß Ihr edler Geist oft in seiner Wirksamkeit für das Beste und Rühmlichste gestört und gehindert wird; wie muß Ihnen da zu Muthe seyn!«

»Wie dem rechtschaffenen Landmanne, der sein angewiesenes Stück Feld mit treuem Fleiß und Mühe baute, dem aber Hagel, oder wilde Thiere alles verderben. Es schmerzt den guten Arbeiter, aber, er pflügt immer den Boden wieder. Säet gute Körner aus, und hoft endlich eine Erndte! – Aber, ich will von Ihren Papieren reden.

Ich habe die Geschichte Ihrer Henriette mit vieler Rührung gelesen; aber auch gefunden, daß ein wenig Biegsamkeit und Nachsicht gegen die zufälligen Schwachheiten [232] der Eigenliebe des Herrn M**, beyde glücklich gemacht, und alle ihr bittres Leiden und ihren frühen Tod verhindert hätte. Ich will Ihnen das Nebenstück zu diesem Charakter liefern. Aber nicht allein, um Ihre Sammlung zu verstärken, sondern damit einen Merkstaab mehr auf dem Wege Ihres Lebens zu befestigen; weil ich glaube, in Ihnen eine Zusammensetzung beyder Charaktere zu sehen, und also nothwendiger Weise denken muß, daß beynahe die nemlichen Folgen daraus entstehen könnten.

Ich habe,« fuhr er mit einem Seufzer fort, »eine sehr schätzbare Freundinn, deren fühlbares Herz in Rosaliens Jahren von moralischem Enthusiasmus glühte. Jede Triebfeder zu Tugend, Edelmuth und Güte lag in ihrer Seele, und viele Jahre haftete der schöne Wahn in ihr, daß man nur gute Eigenschaften des Herzens zeigen dürfe, um von den meisten Menschen geliebt zu werden, und daß es ihr bey der unausgesetzten Befolgung ihrer großen Grundsätze, gut zu seyn und Gutes zu thun, glücken würde und müßte. Aber sehr traurige Erfahrungen haben ihr bewiesen, daß man bey Ausübung [233] der Tugend eben so viel Behutsamkeit und Vorsicht nöthig habe, als der Bösewicht zur Ausführung seiner Ränke braucht: denn man ist ihrer Güte des Herzens und ihrem Wohlwollen begegnet, wie man dem freygebigen Reichen thut, in dessen Hause man satt nimmt und genießt, ihm aber nachher mit dem Namen eines Verschwenders bezeichnet. Was für grausame Rückgabe erhielt sie gegen die redlichste Hochachtung und Freundschaft! Wie viel Kummer und Leiden verbreitete ihr Glauben an edle Güte, und die Bescheidenheit, mit welcher sie ihre Einsichten andrer ihren unterwarf, über ihr ganzes Leben! Diese Frau, Rosalia, sollen Sie Morgen sehen. Die Stärke ihres Charakters mögen Sie nach der Leichtigkeit und Munterkeit ihrer Unterredung mit uns berechnen; denn ich weiß, daß ihr Herz wirklich unter einer Last von schmerzlichen Sorgen liegt, und daß sie das Ende ihrer Erdenglückseligkeit vor sich sieht. Sie könnte einen Theil davon durch gerechte Anklagen andrer erhalten: aber ihre Seele verwirft dieses Hülfsmittel. Auch mir, dessen wahre und treue Gesinnungen sie kennt, versagt sie die [234] Freude, ihr einen Theil dieser Last zu erleichtern. Sie faßte alle Kräfte ihres Verstands und Herzens zusammen, um ihr Schicksal allein zu tragen, und mit Shakepears König Lear sagen zu können: Unglück! sey mein Glück. Aber sie wird erliegen, wenn nicht die Vorsicht besonders über sie waltet.«

Urtheilen Sie, meine Mariane! von meiner Aufmerksamkeit bey dieser Erzählung, und wie begierig ich war, die Frau zu sehen, deren Charakter von diesem vortreflichen Manne so sehr geschätzt wird. Morgen gehen wir zu ihr; aber ich werde sie nicht recht sehen können, denn wir sind unser zu viele. – Ich will diesen und den morgenden Brief mit einander schicken. Gute Nacht, meine Freundinn! –

[235]
38. Brief
Acht und dreyßigster Brief

Wir haben bey Madame W** gefrühstückt. Eine sehr gefällige Munterkeit schien sie zu beherrschen; doch ganz kleine Theile der Unterredung zeigten mir ihre Empfindsamkeit und den moralischen Ton ihrer Seele. Sie mag einst schön gewesen seyn; aber nun sind ihre Züge durch Gemüthsleiden zerrüttet, und ihre Gesichtsfarbe blaß. Doch herrscht in ihrem ganzen Wesen etwas außerordentlich Einnehmendes. Madame G** stellte mich ihr vor, und sagte: »Sie werden gewiß mit der Bekanntschaft von Rosalia L** sehr zufrieden seyn, weil sie eine ganz seltene Empfindsamkeit mit sich gebracht hat.« Madame W** umarmte sie lächelnd, und sagte ihr nach: »Seltene Empfindsamkeit! Liebe boshafte Frau! Wie sehr stützen Sie sich auf meine Verschwiegenheit. Denn Sie wissen, daß ich vieles von der Zärtlichkeit dieses Herzens erzählen könnte!« wobey sie auf die Brust der Madame G** wies. –

[236] Herr Fr** sagte nichts von mir, gab aber den Gesprächen immer eine Wendung, in welcher nothwendiger Weise Madame W** ihren Charakter, obwohl in abgebrochenen Stücken, zeigen mußte. Als wir wieder nach Hause kamen, sagte ich dem Herrn Fr** ganz freymüthig, daß er durch diesen Besuch meine Neugierde über den Charakter der Madame W** nur gereizt, aber nicht befriedigt hätte. Er fand es wahr; und versprach mir, einen Pack ihrer Briefe an ihn, wo ich sie ganz sehen könnte, und aus denen er mir erlaubte, Auszüge zu machen.

Hier sind Abschriften davon. Ich bedaure, daß ich nicht alles, und besonders auch die Copien seiner Briefe, abschreiben durfte: sonst hätten Sie die ganze Stärke männlicher Freundschaft und Weisheit in seinen, und das höchste Maaß moralischer Fühlbarkeit einer weiblichen Seele in denen von Madame W** gesehen. In einen der ersten sagt sie ihm: Sie dankte dem Schicksal, einmal einen Mann gesehen zu haben, der die lebendige Hochachtung, die eine Frau für seinen Geist und Charakter zeige, nicht als gewöhnliche Bewegungen von Liebe beurtheile; und dann versichert [237] sie ihn: »Hätte ich Sie auch niemals gesehen, niemals das Glück Ihres Beyfalls erhalten und nur von Ihrer Rechtschaffenheit des Herzens, und den Kenntnissen Ihres Geistes reden gehört, so dächte ich für sie, wie jetzt, und wie ich vor ein halb Hundert vortreflicher Männer der alten und neuen Geschichte denke.« –

Dann einmal: »Ich danke Ihnen, edler Freund, für Ihre Freymüthlgkeit; Sie haben Recht, ich bin mit meinem Vermögen und meinen guten Gesinnungen zu freygebig, und es ist wahr, ich habe noch keine Seele gefunden, die für mich denken und thun würde, was ich immer noch fähig wäre, zum Besten anderer zu thun.« –

Wieder: »Was soll ich zu dem Vorschlage einer andern Einkleidung meines Charakters sagen? Wie sauer, mein Freund! o wie sauer, sollte mir dieses werden! Denn, wenn ich mein Herz vor den Augen Gottes entfalte, so danke ich ihm, daß er mir es so gab! Meine süsseste Glückseligkeit ist, den gegenwärtigen Augenblick meines Lebens an den Gedanken des letzten zu rücken, und dann mit kindlicher Liebe und Freude, Gott, Tod [238] und Ewigkeit mir vorzustellen. Die Wirkungen dieses Gefühls sind schon lange mit jeder Triebfeder meiner Handlungen und meines Denkens verbunden. Vor dem Auge des Himmels, darf ich mit Vertrauen, und vor den Menschen soll ich mit so viel Behutsamkeit erscheinen? Warum? Sagen Sie mir, warum?«

Hierüber hatte Herr Fr** einen großen sehr schönen Brief, über hohe, und herablassende liebreiche Tugend geschrieben, den er nicht bekannt gemacht haben will. Und hier sagte sie: »Es ist unmöglich, mein Freund! daß ich Ihnen den Dank meines Herzens, für die edle Bemühung Ihres Geistes ausdrücke. Ihre Unterscheidung der hohen und herablassenden menschenfreundlichen Tugend ist schön; aber beynahe zu fein, und etwas zu schmeichelhaft für mich. Aber Ihr Endzweck ist meine Ruhe, und die Befriedigung derer, womit ich lebe. – Ich ergebe mich, mein Freund, und rufe hier eine meiner alten Lieblings-Ideen zurück: daß eigentlich nichts Tugend genennt werden kann, als was wir zum Besten unserer [239] Nebenmenschen, mit Aufopferung unsers Selbstthun!«

In einem sagt sie, nach einer Krankheit: »Sie haben meine Geduld, meine Gelassenheit in Schmerzen gelobt, mein Freund! Ich werde alle Leiden, die ich von der Hand der Natur aufgelegt bekomme, beständig mit der anbetenden Unterwerfung tragen, die ich dem Urheber der Natur schuldig bin. Ich verdiene nicht weniger, als andere, zu leiden! und mein väterlicher Schöpfer wird mir nicht mehr als andern aufladen.« –

In den letztern liegt viel, aber unbenennter Kummer. Sie sagt unter andern: »Es ist mir leichter, mein Freund! viel leichter, eine drückende Last auf meinen Schultern zu behalten, als sie, auch durch die gerechteste Anklage, auf einen andern zu wälzen. Und der, dessen Hand meine Glückseligkeit so grausam verletzte; kennt meinen Jammer wohl, aber er macht es nicht, wie schon oft großmüthige Feinde thaten, die alle ihre Sorgen und Kräfte zur Heilung der von ihnen geschlagenen Wunde darboten.« –

In einem folgenden steht: Sie wolle ihr eigenes Ich für ihre übrigen Tage vor der ganzen [240] Welt verbergen, und allein durch ihren Geist mit den Menschen fortleben. Für das Glück ihres Herzens nichts mehr fordern, nichts mehr erwarten, aber für das Wohl Andrer alles thun, so weit ihre Kräfte reichten.

Sie gesteht Herrn Fr**, daß es ein Gemisch von natürlicher Großmuth, und einem, durch Erfahrung erlangten Mistrauen sey, welches sie hindere, ihm ihr leidendes Herz zu eröfnen, und seinen Trost und Hülfe zu genießen. – Sie fühle, daß sie dem Schicksal das Sonderbare und Einzelne ihres Charakters theuer bezahlen müsse: es solle aber, so viel sie es verhindern könne, bey dieser Abgabe niemand zu leiden haben, als sie. – Dieser Gedanke sey es, der die Heiterkeit ihres Tons unterhalte, indem sie den Becher der Freuden ihrer Kinder, Hausgenossen und Freunde, durch ein trauriges nachdenkliches Wesen nicht verbittern wolle.

Dann bittet sie ihn, ihr Freund zu bleiben, und versichert ihn, daß er keine Fehler des Charakters an ihr sehen solle, als die, welche die Anfoderungen des Eigensinns und Eigennutzens Andrer so benennen. Sie hoffe aber, die Gesinnungen, die Gott in ihre Seele gelegt [241] hätte, bis in ihren Tod zu behalten, weil ich gewiß sey, daß sie in der andern Welt werde seyn dürfen, was sie sey, und dort über ihre Empfindsamkeit nicht gespottet, und ihr Eifer für moralische Thätigkeit nicht werde getadelt werden.

O, der edle, der glückliche Stolz dieser moralisch stark fühlenden Seele! – Jeder Tag nähert sich dem Untergange ihrer eigenen Glückseligkeit, die sie nicht durch Vergehen, nicht durch Mißbrauch, sondern durch boshafte niedrige Ränke einer Person verliert, in welcher sie Edelmüthigkeit und Güte zu sehen glaubte. O Mariane! mein Herz fühlt beynah noch mehr sympathetisches Leiden für diese Frau, als bey Henrietten! Es ist auch ganz natürlich. Henriette trug eine einfache Last. Unabhängigkeit, Gewalt, Gutes zu thun, und die Freyheit, ihren Gram ganz zu geniessen, versüßte den Kelch ihres Kummers. Die Umstände hinderten sie nicht, davon zu reden. Sie wurde geliebt und bedauert, weil bey ihrem Schicksal die Eigenliebe und Eigennutz der andern nichts abzugeben, nichts zu wagen hatten. – Denn, meine Mariane, Eitelkeit und Vortheile sind die Gränzsteine [242] der freundschaftlichen Gesinnungen in den meisten Seelen. – Ich habe aber ganz deutlich in den Briefen der Madame W** gesehen, daß unter den vielfältigen Schmerzen ihrer Seele auch dieser liegt, unter dem Kreise ihrer Bekannten lauter Personen zu sehen, die immer auf ihre Großmuth, sie aber auf keine von ihnen zählen könnte, außer dem einzigen edlen Mann, der sie liebt, weswegen sie aber, aus feiner zärtlicher Gesinnung, gerade ihm alles verbirgt.


Abends zehn Uhr.

Ich schrieb Vorhergehendes Gestern; und heute früh, da kam Herr Fr** und fragte nach seinen Briefen, und meinen Auszügen, die ich ihm zu lesen gab, – »O, Rosalia!« sagte er, »Sympathie, ganz allein Sympathie, hat die Auszüge und Anmerkungen gemacht! Ich habe es vorher gesehen! Lassen Sie sich, liebe junge Freundinn, Henrietten und Madame W** zu Merkstäben, während ihrem Wandel unter den Menschen, dienen! Denn, da Sie das seltene Glück haben, diese zwey Charaktere in sich zu vereinigen; so könnte [243] Sie auch das seltene Elend treffen, welches das Schicksal Ihren Schwestern-Seelen bereitete. – Denn Madame W** ist gewiß das Seitenstück Ihrer Henriette. Diese lehnte sich, bey dem Einsturz des willkührlichen Baues ihrer Glückseligkeit, allein auf ihr Herz, und es brach unter der Last ihrer verlohrnen Wünsche und Empfindungen. Madame W**, als Gattinn und Mutter, in mehr Verhältnissen des Herzens, in mehr Uebung des Geistes, und bey mannichfaltern Leiden, stützt sich allein auf die Verstandskräfte ihrer Seele; leidet aber nicht weniger. Hätte sie im Anfang der Gewalt der Umstände nachgegeben, so wäre ihre Ruhe und Leben gerettet worden. Denn, es ist gewiß, daß die Ueberspannung ihrer Seelenkräfte die Kräfte ihres Körpers zermalmen werden.« – Hier ging er fort; und ich dachte: O Fr**, Madame W** ist die Gattinn deiner Seele! wie viel leidest du mit ihr!

[244]
39. Brief
Neun und dreyßigster Brief

Unser artiger Herr von O**, der Ihnen, meine Mariane, anfing, so gefährlich für mich zu scheinen, ist verliebt; aber nicht in Rosalien. Das Schicksal hat ihm eine ganz sonderbare Beute aufbehalten. Er bekommt Julie von U**, das einnehmende Geschöpf aus dem Zirkel der neun Mädchen, von welchen ich Ihnen schrieb. Der Gang ihres Kopfs und Herzens bildete sich, auf die schätzbarste Weise, allein nach ihren Empfindungen aus. Die Art, wie sie die Blumen unter ihre Freundinnen austheilte, konnte zu einer Probe ihres mit siebenzehn Jahren blühenden Witzes dienen. Die feine schonende Fühlbarkeit, mit welcher sie auch die kleinsten Sprossen der Eigenliebe ihrer Gespielinnen behandelte; die Art, mit welcher sie die ihrige unterdrückte; und die Sorgfalt gegen alles, was Züge einer Coquetterie seyn könnten, und dergleichen mehr, liefert mir einen neuen reizenden Charakter aus unserer Weiberwelt. Sie hatte immer, aus freyem Willen, alle [245] Putzstücke zurück gelassen, die ihr besser, als einer ihrer Freundinnen gestanden hätten, die sich der nehmlichen Art von Zierrath bediente. In Gesellschaft war alle ihre Achtsamkeit auf Frauenzimmer gewendet. Niemals suchten ihre Blicke oder Gebärden die Aufmerksamkeit einer Mannsperson anzulocken; sogar zeigte sie die Sanftmuth ihres Charakters und die Talente ihres Geistes am meisten in Gesellschaften ihres Geschlechts, und ließ in Gegenwart der Männer durch ihr Schweigen und ihre simple Kleidung immer der Artigkeit ihrer Gespielinnen den ersten Rang. Nur bey Tänzen gelungen ihre Anschläge des Versteckens ihrer Reize nicht. Ihr schöner Wuchs war nicht zu verbergen, und die edle, holde Art ihres Tanzes gab ihr unendliche Vorzüge. Mit neunzehn Jahren hatte sie den stärksten Feind ihres moralischen Charakters zu bekämpfen, weil alsdann die überwiegende Schönheit ihrer jüngern Schwester in voller Blühte war, und Julie in der Furcht, die sie hatte, verdunkelt zu werden, die Keime des Neides entstehen sah, die sie aber mit der Wurzel ausrottete, indem sie alle ihre Geschicklichkeit in Putzsachen für ihre Schwester [246] verwendete, deren Schönheit dadurch um so mehr erhöht wurde, und Julie allein durch die äußerste Nettigkeit, Anstand und einfachen Ton der Farben bezeichnet war. – Alle Kenntnisse einer guten Hauswirthin und vernünftigen Gesellschafterinn sind ihr eigen; aber die Grundsätze ihrer Bescheidenheit sind so stark, daß sie von dem mittelmäßigsten Weiberkopfe Lehren anhört, und überhaupt ihr Wissen nur in hie und da hervorbrechenden Ideen zeigt. Herr von O** hatte sie oft gesehen, für ziemlich artig, aber auch für sehr eigen gehalten; und hat erst auf dem Ball, bey der Verheyrathung ihrer schönen jüngern Schwester, die Reize ihrer Person und ihres Charakters entdeckt. Das Fest war in dem prächtigen Garten ihres reichen Schwagers. Juliens Kleid und Hut war von grauem Taffent, mit rosenfarbenen und weißen Flor und Bändern geziert. Alles so passend gemacht, daß das ganze Ebenmaaß ihrer Gestalt bemerkt werden konnte. Bey den englischen Tänzen wurde sie die Gesellschafterinn des Herrn von O**, dessen Aug' und Geschmack sie darinn ganz fesselte. Reine Fröhlichkeit war in ihren Zügen, Bewegungen [247] und Blicken. Die feurige Aufmerksamkeit des Herrn von O** machte Juliens Tante viel Vergnügen, weil sie diese Eroberung dem Liebling ihrer Seele schon lange gewünscht hatte. Beym Ausruhen saß Julie unter einer Gruppe der artigsten Mädchen, auf einer Grasbank, und lehnte sich nachläßig an den Fuß einer Urne. Ihre Stellung war einnehmend schön. Ueberbleibsel der Munterkeit und Röthe des Tanzens, mit einer Art Müdigkeit vermischt, der niedlichste Faltenbruch, den jemals ein Gewand machte, von dem schönen Grau und Rosenfarb auf dem feinen Rasen, ihre wohlgebildete Füsse artig gekreuzt, und ihr schöner Mund lächelnd gegen ihre Freundinnen – In Wahrheit, Mariane, ich war froh, meinen Freund von R** so viele Meilen weit von uns zu wissen; denn, erschien Julie von U** mir Mädchen so reizend, wie vielmehr mußte sie's in den Augen eines empfindsamen und feinen Kenners seyn! – Madame G** saß an meiner Seite, gegen der schönen Gruppe über, beobachtete aber ihren Vetter von O**, der halb hinter einen Baum stehend, Julien mit liebenden und gierigen Blicken betrachtete, besonders [248] da Julie etwas an die Urne mit einem kleinen Griffel schrieb. Sie überlas es mit einer nachdenkenden, aber höchst edlen und sanften Miene, die mich rührte und reizte. Ich ging zu ihr und sagte freymüthig, der Ausdruck ihres Gesichts, den sie während dem Schreiben gehabt, hätte mich lüstern gemacht, ihre Gedanken zu lesen. Sie sah mich liebreich an, schlug erröthend die Augen nieder, und sagte sehr grtig: ich hätte zu befehlen! Der Gedanke, den ich fand, durchdrang meine Seele mit dem ganzen edlen Ernst der ihrigen. Hier ruht man von euch, ermüdende Freuden des Lebens. – Ich umschlang sie mit einem Arm und küßte sie mit Rührung, indem ich sie um den Griffel bat und dann hinzu setzte: Wie schön ist Deine Ruhe, o Julie! weil Deine Freuden rein und edel sind, wie Deine Seele. – Sie wollte hier meine Hand küssen, aber ich umarmte sie und sagte: Ich hofte auf ihre Freundschaft und ihren Umgang. Sie antwortete hierauf: Sie achte sich durch meinen Beyfall sehr glücklich, und hätte meine nähere Bekanntschaft schon lange gewünscht. Hier kam von O** zu uns und bog sich mit [249] vielem Anstand gegen die Urne, um das Geschriebene zu lesen. Der schönste Ausdruck von Verehrung und Liebe breitete sich über seine edlen männlichen Züge aus. Er blickte auf mich mit einer Verbeugung, heftete aber seine Augen voll Zärtlichkeit auf Julien. Diese wurde darüber ein wenig verwirrt, und er sagte, mit der angenehmsten Bewegung der Hände gegen sie, die mich am Arme hatte: »Liebenswürdige Julie, gönnen Sie mir die edle Freude, Sie mit Rosalien so vertraut zu sehn!« – Sie erholte sich da, und dankte ihm für den Antheil, den er an ihrem Vergnügen über meine Güte nähme. »Sie danken mir,« erwiederte er, »für den Antheil, den ich an Ihrem Vergnügen nehme? Was wollen Sie thun, wenn ich Ihnen sage, daß Sie heute Alles für mich geworden sind, was Erdenglückseligkeit seyn kann?« – Julie wurde etwas lebhaft roth und sagte mit Ernst: »Ich werde nichts thun, mein Herr; denn auf einen Ball will ich nichts für Sie werden.« – Diese Antwort entzückte meinen scharfsinnigen Freund. Er wandte sich mit dem Feuer der Liebe gegen die Urne, umfaßte sie und sagte gegen Julien: [250] »Julie! der Ball hat nichts mit diesen Gesinnungen gemein; obschon Ihr reizender Tanz die Augen aller Männer entzücken muß. Hier,« indem er das, was Julie geschrieben, küßte, »bey diesem Aschenkrug, wo Sie Rosaliens Freundschaft erhielten, nehmen Sie, theure Julie! die Gelübde meiner ewigen Liebe und Verehrung an – Es freut mich,« sagte er zu mir, »daß Ihr Geist und Tugend Zeugen von diesen Gelübden sind, die ich niemals, niemals brechen werde.« – Julie, halb betreten, halb vergnügt, sagte: »Um des Himmels willen, Herr von O**, was sagen Sie da alles! Ewige Liebe und Gelübde, bey denen Sie die Tugend nennen.« – Er wollte wieder reden, sein Gesicht sah etwas traurig, sie fiel aber ein: »Nichts mehr, ich bitte Sie! aber, vor Rosalien will ich sagen, daß, wenn mein Gedanke bey dem Aschenkruge mir Ihre Hochachtung erwarb, und wenn sie dauert: so soll es mir das Angenehmste seyn, was ich je von einem Manne hören kann.« – Mit der schönsten Erröthung ließ sie ihn ihre Hand küssen. »Es ist genug, schätzbare Julie! es ist genug, daß [251] Sie einen Werth auf meine Hochachtung legen,« sagte er: »ich will Sorge tragen, daß alle meine Gesinnungen Ihrer gütigen Aufmerksamkeit würdig seyn mögen!«

Nun hatten die andern mit den Menuetten aufgehört, und von O** bat Julien um ihre Hand zu den neuen englischen Tänzen, weil mich mein Gesellschafter auch aufgesucht hatte. Von O** tanzte so schön, als er konnte, da er in Wahrheit liebe- und wonnetrunken war. Er hatte kein Aug, als für Julien, und sie keines als für mich. Sie tanzte artig, aber nicht mehr fa fröhlich, als vorher. Süsses Nachdenken lag in ihrer Miene, und so oft die Wendung des Tanzes sie zu mir führte, drückte sie mit Zärtlichkeit ein mei ner Hände, das gewiß zur Hälfte dem artigen von O** gehörte, mit welchem sie aber den ganzen übrigen Abend alle einseitige Unterredung vermied; mit mir und Madame G** hingegen in ein reizendes Gespräch gerieth. – Julie kommt Uebermorgen Vormittag zu mir. Madame G** will den von O** herführen; denn beyderseitige Verwandte wünschen diese Verbindung festzusetzen. –

[252]
40. Brief
Vierzigster Brief

Julie kam, wie ich Ihnen Vorgestern schrieb, zu mir, und ich war froh, daß Madame G** und Herr von O** nicht sobald kommen konnten, als sie wollten; denn da hatte ich Gelegenheit, Julien kennen zu lernen, die mir ganz ihr Herz entfaltete, welches seine schönste Wendung von der Hand einer edlen Dame erhielt, die sich nach dem frühzeitigen Tode ihres Geliebten vom Hof entfernte und einsam, nur seinem Andenken geweiht, die blühenden und reifen Jahre ihres Lebens, in einer steten, aber sanften Melancholie, hinbrachte. Der feine Geschmack, welchen die große Welt in ihr ganzes Wesen gelegt hatte, begleitete sie auch auf dem Lande in allem, was sie that; und Julie, die ein ganzes Jahr mit ihr verlebte, nahm den Ton ihres Denkens und ihrer Sitten an.

»Komme ich nicht zu früh?« sagte mir Julie mit der feinsten Freymüthigkeit. »Aber ich wollte wenigstens einige Minuten von der Zeit einbringen, die ich durch meine Abwesenheit [253] verlohren habe; denn vielleicht hätten Sie mir Ihre Freundschaft schon vor vier Monaten geschenkt, wenn ich hier gewesen wäre.«

Sie hielt mich bey der Hand und sah mir mit Sehnsucht in die Augen, nach meiner Antwort. »Gewiß, liebenswürdige Julie, hätten Sie mein Herz eingenommen, wie jetzt, vielleicht aber würden wir, ohne die Vermittelung einer schönen Urne, niemals so genau, verbunden worden seyn.«

Sie lächelte mit ein wenig Erröthen. »O ja, die Urne hat mir viel Gutes gethan!«

»Mir auch, mein Schatz,« sagte ich, indem ich sie umarmte, »aber,« setzte ich hinzu, »Herr von O** wird doch von uns dreyen der Erste seyn, von dem sie Kränze erhalten wird.«

Sie nahm ihren Arm verschämt von mir weg. »Warum reden Sie mir gleich von Herrn O**?«

»Weil ich Sie nicht einen Augenblick betrügen will, Julie. Er weiß, daß Sie hier sind, und wird auch kommen.«

Mit einer ungeduldigen Bewegung sagte sie: »Ach, ich wollte nur Freundschaft genießen, [254] und da kommt die Liebe und stört mich!«

»Liebe Julie! wie reizend ist Ihre Freymüthigkeit!«

»Wie gut sind Sie, dieses Freymüthigkeit zu nennen, da es unmöglich ist, Ihnen ein Geheimniß daraus zu machen, daß mir Herr von O** von Liebe sprach.« –

»Verzeihen Sie, Julie! aber ich habe Ihrem Gedanken einen doppelten Sinn gegeben.«

»Das ist mir nicht ganz lieb! Wollen Sie mir zur Vergütung die Ursache sagen?«

»Ich dachte, Julie fände, daß von O** würdig sey, ihr von Liebe zu sprechen!«

»Liebe Rosalia! sahen Sie dies in meiner Miene, oder meinen Worten?«

»In beyden, meine Freundinn, und es machte mir Vergnügen! denn, gewiß, von O** ist ein edler junger Mann.«

»Ich glaube es auch, Rosalia! Und nun will ich freymüthig seyn, und Ihnen bekennen, daß mich die Liebe des von O** freut. Sie ist die Erfüllung eines Wunsches, den ich schon lange hatte. Alles, was ich von seinem Geist und seinen Sitten kenne, sind [255] die Eigenschaften, die ich mir von der Vorsehung für meinen künftigen Geliebten erbat.«

»O! Julie, möge doch jeder edle Wunsch unsers Geschlechts wahr werden, wie dieser, den Sie thaten. Aber, sagen Sie mir, wo nahmen Sie das Bild des Mannes, den Sie sich wünschten? und wo nahmen Sie, wenn ich so sagen kann, den Ton der Urne her? denn ich weiß, Ihr Kopf war nicht allezeit so ernsthaft gestimmt.«

»Das ist wahr! Aber die Anlage muß in mir gewesen seyn, sonst würde dieser Ton nicht gleich gefaßt haben und herrschend geworden seyn, und, wenn ich das Glück, einen solchen Mann zu lieben, nicht in einem eilf Jahr daurenden Kummer über seinen Verlust, gesehen hätte: so würde ich auch nicht so sehr daran haften.«

»Und wo sahen sie dieses, mein Kind?«

»Das Jahr hindurch, da ich bey meiner Base auf dem Lande wohnte, wo ich eine liebenswerthe Dame von drey und dreyßig Jahren antraf, die ihre Schönheit, Jugend und Talente, der großen Welt, in der sie geliebt war, entzog, um ungestört dem [256] Verluste nachzuhängen, den sie gehabt hatte. Aus der Beschreibung ihres Geliebten, aus seinen Briefen habe ich das Bild des Meinigen zusammengesetzt; und, gewiß, ich hätte niemals lieben können, wenn ich kein Aehnliches gefunden hätte!«

Eben als ich ihr darüber Fragen thun wollte, kam Madame G** mit von O**, dessen Stimme wir zuerst hörten, da er den Bedienten sehr lebhaft fragte: Ob Julie von U** noch da wäre! und ich sagte ihr noch geschwind: »Julie, daß ist bedeutend, daß von O** gleich in dem Augenblick kommt, da Sie von dem Gegenstande Ihrer edlen Liebe reden! Aber ich verliere dabey die Geschichte Ihrer Lehrmeisterinn.« – Sie versicherte mich, sie aufzuschreiben und mir zu geben. Da waren meine zwey andre Frühstücksgäste im Zimmer! Madame G** gleich beym Tisch! Sie lobte uns Mädchen, daß wir mehr geschwatzt, als gegessen hätten, weil sie noch gute Sachen fände! – Von O** war einfach, aber doch prächtig geputzt. Glückseligkeit war in seinem Gesichte, so oft er Julien ansah, oder sie reden hörte; und niemals vorher hatte ich ihn so sanfte und [257] kluge Sachen sagen gehört, wie heute früh. – Madame G** aß; redte eine Weile mit mir, unterbrach auf einmal, aus Schalkheit, das kleine Gespräch zwischen Julien und O**, indem sie diesem sagte, uns die hübschen Bilder zu zeigen, die er in seiner Brieftasche habe – Er zuckte die Achsel und sagte: »Ich will gern gehorchen, aber Sie müssen mir bey Julien meine Vergebung erhalten helfen!« – Nun wies er ein Miniaturstück, worauf der Theil des Gartens mit der Grasbank war, wo Julie gesessen, ihre ganze Figur, Kleidung und Reiz, über die andern Mädchen erhaben, mit dem Griffel an die Urne schreibend; in einer kleinen Entfernung der Baum, und von O** mit den auf sie gehefteten Augen. – Julie war roth; lächelnd; ernsthaft; je nachdem sie das Bild, O**, oder eine von Uns ansah. Madame G** nahm selbst das Zweite und legte es vor Julien hin. Hier war meine Gestalt, neben Julien stehend, die mich mit äußerster Anmuth am Arm hielt. Von O** mit einer edlen Stellung die Urne umfassend, eine Hand auf seiner Brust, das Gesicht gegen Julien gewendet. Auf dem Fuße der Urne stund: [258] Nur hier, o Julie! wird meine Liebe enden.

Das edle Geschöpf war schon vorher, durch die Erinnerung des Fräulein von Schleebach, in eine zärtliche Wehmuth gestimmt gewesen. Staunen, Vergnügen, etwas Verschämtseyn, und die ihr so nah dringende Liebe des von O**, gewiß aber auch die hie und da muthwilligen Blicke der Madame G** störten ihre Fassung ganz. Sie zog die zwey Bilder vor sich hin; stützte ihren Kopf mit einer so sichtbaren Verlegenheit auf eine ihrer Hände, daß sie mich jammerte, und ich daher ein Papier aus meiner Tasche nahm, und Madame G**, die die Bedrängniß des artigen Mädchens nicht so sehr fühlte, wie ich, in ein Fenster führte, um ihr, wie ich sagte, den versprochenen Brief von Marianen zu weisen. Sie sagte mir leise: »Rosalia! ich bin noch besser, als sie da, mit ihrer Feinheit!« Riß mir den Brief aus der Hand, indem sie laut sagte: »Diesen Brief will ich den Abend lesen. Aber, die arme Frau, die auf Sie wartet, und die ich vergaß, die sollen Sie gleich sprechen.« Und damit zog sie mich nach der Thüre, und führte mich in ein Zimmer[259] gegenüber. »Nun« sagte sie, »weiß ich den Leuten nicht besser zu helfen, als Sie?« – »Ja, ja! aber Sie haben auch die arme Julie geplagt.« – »O, Sie weises Mädchen sehen immer mit Ihrem feinen Beobachtungsgeiste über die Sachen hin, die vor Ihnen liegen! Juliens Stunde ist gekommen. Sie hat O** Erklärung gewünscht, um die ihre dagegen zu geben, und jetzt wird all ihre Verlegenheit vorbey seyn.«

Nach einiger Zeit rauschte sie mit mir durch die zwey Nebenzimmer wieder zu den beyden guten Liebenden zurück, die nun am Fenster gegen den Garten stunden. Von O** das wahre Bild ehrerbietiger Zärtlichkeit, und Julie das, vom Glück der tugendhaften Liebe. O Mariane, dieser Anblick rufte mir die feyerliche Stunde zurück, wo ich meinem Freunde auf ewig mein Herz versprach. Seine edle Gestalt war auch ganz Liebe- und Ehrfurchtsvoll. – Wenn ich nur Juliens ihre gehabt hätte, um seiner Seele den Eindruck zu lassen, daß ich der vorzüglichen Achtung würdig bin, mit welcher er unter so viel liebenswürdigen Personen mich Glückliche wählte! – Julie bat mich um Erlaubniß, ein Paar von den [260] Zwergrosen zu pflücken, die in einem Stock vor dem Fenster waren. Ihre Stimme und Miene waren so rührend, daß man deutlich sehen konnte, wie die Bitte um Blumen nichts als der schöne Umweg war, auf welchem die Liebe gegen die Freundschaft zurücklehren wollte. Julie ward bald hernach abgeholt, und sagte mir bey der Abschiedsumarmung ins Ohr; »Rosalia! in Ihrem Zimmer habe ich Gelübde abgelegt; thun Sie auch welche für meine Glückseligkeit und für O** seine!« – Dieser ging nicht von der Thüre, bis er sie die lange Strasse durch gesehen hatte. Dann kam er voll Entzücken über Juliens Geist und feine Empfindung zurück. Ich hätte gern ein Dutzend Mädchen da zuhören lassen, um ihnen die Idee von dem wahren, Reiz zu geben, der den Mann von Verdiensten fesselt; denn, gewiß, in diesem Moment redete von O** mehr von Juliens Charakter, als von ihrer Person. Er sagte zu Madame G**, »Wie glücklich bin ich! Julie meine Geliebte, und Rosalia meine Freundinn!« – Ich sagte mit noch mehr Gefühl: Mariane ist Freundinn Ihrer

Rosalia L** [261]

41. Brief
Ein und vierzigster Brief

Julie U** an Rosalia L**.


Ich habe mich durch das Versprechen der Geschichte meiner theuren Lehrmeisterinn, wie' Sie sie nennen, zu etwas verbunden, das ich nicht werde ausführen können. Meine Feder ist ungeübt, und aller Reichthum meiner Empfindungen hilft mir nicht zu den Ausdrücken, die ich nöthig habe, um Ihnen mit Würde von der vortreflichen Dame zu reden, der ich den besten Theil meiner Glückseligkeit schuldig bin.

Ehe mein Vater einen Garten hatte, jammerte ich oft um das Glück, während dem Sommer auf einen zu wohnen, und mein Vater ließ mich darüber zu meiner Base nach Wiesenthal, deren Töchter ich mit einem so fein gebildeten Geist antraf, daß ich höchst unzufrieden über den versäumten Anbau meines Kopfs wurde, in dem freylich manche Sachen lagen, die von gutem Stoffe, aber nicht von der schönsten Form waren. Meine [262] junge Basen sagten mir, ihr Vater, noch mehr aber das Fräulein von Schleebach, hätten sie alle die Sachen gelehrt, die mir so wohl gefielen; und dann erzählten sie mir, daß Wiesenthal das allerentlegentste von den Gütern des Herrn von Schleebach sey; daß das Fräulein, nach dem Tode ihres Bräutigams, hieher gezogen wäre, und alle andre Verbindungen ausgeschlagen hätte; sie wäre aber immer gegen sie, auch mitten in ihrer Melancholie, sehr gütig gewesen; hätte sie Französich gelehrt, in schönen Arbeiten und artigen Manieren unterrichtet, und dann eine Menge ganz vortreflicher Bücher mit ihnen gelesen. – Kurz vor dem Abendessen wurde ich dem Fräulein in dem Gartenzimmer vorgestellt, als eine Verwandtinn, die den Sommer da zubringen würde, und dabey als ein gutes Geschöpf angerühmt. Ihre Gestalt und jede Wendung war voll Adel und Anmuth. Höflich fragte sie mich über meine gewohnten Zeitvertreibe in der Stadt, und sprach mit Empfindung von der Ruhe des Landlebens. Den andern Tag frühe machte ich ihr meinen Besuch in ihrem Zimmer, das Meergrün ausgeschlagen, und mit kleinen Landschäftchen [263] geziert war, die so fein, als Kupferstiche, mit der Feder gezeichnet sind. Ich dachte, es wäre ihre Arbeit, und fing an, davon zu reden; meine Basen: wollten mich davon abbringen, das Fräulein von Schleebach aber sagte ihnen: »Sie wollen mich schonen, meine Lieben; ich danke Ihnen sehr davor! Lassen Sie mich aber immer den süssen Schmerz genießen, ein Talent meines verewigten Freundes loben zu hören!« – Sie sah meine Basen freundlich dabey an, nahm mich bey der Hand und sagte: »Julie! Sie sollen gleich ganz mit alle dem bekannt werden, was ich auf der Erde noch am liebsten habe!« und da wies sie mir alle Zeichnungen, Bücher und Clavierstücke, die sie noch von ihrem geliebten Herrn von Gutendorf übrig hatte. Seine Briefe, Billette und Verse aber, bekam ich erst einige Zeit hernach zu sehen; als ich sie eines von seinen selbst gesetzten Stücken spielen hörte und dabey über ihre traurige Miene in Thränen zerfloß, da sagte sie zu mir: »Liebe Julie! Ihre Empfindsamkeit für meinen unheilbaren Kummer freut mich; aber, Sie könnten mich doch für eine Thörinn halten, wenn Sie[264] nicht den ganzen Werth der Ursache meines Traurens wüßten.«

Nun ging sie an eine Comode worinn sie in einer Schieblade ihre Gradkleidung und verschiedene graue raffente Brieftaschen, mit schwarzen Bändern umbunden, hatte. »Dies alles,« sagte sie, »muß mit mir in meinen Sarg gelegt werden!« und wies mir das Bild eines Chavaliers, in Hofuniform. Ein Gesicht voll Geist und Seele, welches den Adel seiner Gesinnungen bezeichnete, so wie sein Name den Adel seine Geburt. – Der höchste Grad des edelsten Ehrgeizes muß ihn belebt haben; denn er wollte jede Kenntniß des Geistes, jede Geschicklichkeit des Körpers besitzen, und suchte sich für beyde immer die vortreflichsten Meister aus, deren Wissenschaft er sich in kurzer Zeit eigen machte, und oft übertraf. Er besaß jede männliche Tugend des Herzens, jedes Talent, jede große und kleine Geschicklichkeit in dem vollkommensten Grade. – O, Rosalia, seine Briefe! wie viel zeigten die Vortrefliches in seiner Liebe, in der Mähe, die er sich gab, den Geist des Fräuleins von Schleebach zu verschönern! Wie viel großmüthige Entwürfe und Wünsche [265] waren darinn! – Das Fräulein brachte viele Tage damit zu, mir dies alles in seinen Papieren zu zeigen, und las mir die zärtlichsten, besonders die vor seinem Tode geschriebenen im Garten vor, wo sie einen Platz ausgesucht und mit einer hohen grünen Wand umgeben lassen. In der Mitte stehen vier Cypressen in Piramiden geschnitten; zwischen ihnen eine Urne, auf welcher der Namenszug des Herrn von Gutendorf, das Jahr und der Tag seines Todes steht. Die Urne wird halb von einer wild fortwachsenden Cypresse gedeckt, und auf beyden Seiten sind kleine Grasbänke. Die Urne, selbst ist auf einem erhöhten Rasen gestellt, so, daß während dem Blühen der weißen Rosenstöcke, die sich hinter ihr, am Fuße der Cypresse biegen, das ganze Cabinet die süsseste Schwermuth einathmen macht. – Das Fräulein selbst ist auch immer grau mit schwarzen Bändern gekleidet. Dies alles machte mich traurig mit ihr; aber ich sah auch dabey das Glück, wie sehr die Liebe für einen tugendhaften Gegenstand ein Herz veredelt und stärkt, ganz vortrefliche Sachen zu thun; denn, da der Schatten des Herrn von Gutendorf seine Geliebte noch eilf [266] Jahre nach seinem Tode in der schönen Gesinnung einer daurenden Zärtlichkeit erhielt; da sie immer noch alle Wissenschaften, die er besaß, alle guten Eigenschaften des Herzens liebte, was sollte er nicht im Leben über ihren Geist gewürkt haben! Sie wiederholte mit mir den ganzen Lauf ihrer Liebe und der Mühe, die sie sich gegeben, in allem, was sie that, der Achtung des schätzbaren Freundes würdig zu seyn. Bücher, die er ihr angerühmt, mußte ich auch lesen. Das Feine und Artige ihrer Manieren ahmte ich selbst, so viel möglich, nach; und auf diese Weise wurde ich in meinem Thun und Denken eine glückliche Copie des schönen Urbilds, das ich so unvollkommen gezeichnet habe. – Ich sagte ihr einmal, daß ich doch bedauerte, sie mit so viel liebenswürdigen Eigenschaften für die Welt und ihre Freunde verlohren zu sehn. – Sie antwortete: »Meine liebe Julie: die eigentliche Welt verliert an einer einzeln Person niemals, indem diese kleine Lücken gleich ausgefüllt sind. Für meine Freunde wäre ich mitten unter ihnen verlohren gewesen; denn mit meinem Gutendorf war alles Glück, alle Freude meines Lebens dahin. [267] Es schmerzte mich, andre erhalten zu sehen, und ihn todt zu wissen; glauben Sie, daß man mir dieses vergeben hätte? und daß, da meine Munterkeit fort war, ich noch eine beliebte. Gesellschafserinn gewesen, wäre? Ich hatte an unserm Hofe Größe, Pracht und Lustbarkeiten gesehen; sie blieben nach seinem Tode noch da; aber ich fühlte, wie wenig wahre Glückseligkeit in ihnen liegt, weil jede Zerstreuung, zu der sie mich lockten, mir meinen Kummer erneuerte. Er starh mit drey und zwanzig Jahren mit Vergnügen, weil er so edel gelebt hatte. Seine Liebe für mich dauerte bis in seinen Tod, ich will ihn bis an meinen lieben. Er war meine Welt! Das Andenken an diesen geliebten Todten hat mich immer noch glücklicher gemacht, als alle Lebenden nicht thun können! – In seinen Clavierstücken hör' ich den Ton seiner Seele, in seinen Briefen lebt seine Liebe. In seinen Büchern und Zeichnungen seh ich seinen Geist! – Ich weine freylich oft, aber mein Kummer ist süsser als Freuden.« –

[268]
42. Brief
Zwey und vierzigster Brief

Ihrem edlen menschenfreundlichen Herzen, meine Mariane! will ich das Gelübde ablegen, niemals, gar niemals, von dem Aensserlichen eines Gesichts mich hinreissen zu lassen, Etwas sicher Nachtheiliges von jemand zu denken, noch viel, viel weniger, zu sagen! Nein, es soll durch mich nimmermehr der Schmerz in eine Seele gebracht werden, den ich vor zwey Tagen, in der so gefühlvollen Madame D** entstehen sah, da sie in dem Augenblick, wo sie das Schönste, und vielleicht auch Schwerste that, was ein Frauenzimmer thun kann, das allerschiefeste Urtheil über ihren Charakter erdulden mußte; und dieß von einem Manne, dessen Hochachtung sie wünschte und verdiente. –

Der Aufsatz des Bildes der edlen Liebe, und die zwey Briefe, die ich vom Anfang der Bekanntschaft mit ihr, schrieb, müssen Ihnen, meine Mariane, bewiesen haben, wie fein diese Frau empfindet und denkt, und wie wahr die Güte ihres Herzens ist. Ihre natürliche [269] Anlage ist lauter Lebhaftigkeit und Thätigkeit. Aber sie stund immer unter einer Obergewalt, durch deren Handlungen und Denken die ihrigen gehindert und zurückgestoßen wurden. Dieses gewaltsame Zurückbalten der Triebfedern ihres Geistes und ihrer Empfindungen, der langjährige Kampf gegen sich und andre, das Aufopfern ihres Selbst, und zugleich das Festhalten an ihren Grundsätzen, hat natürlicher Weise nicht nur über ihre Seele, sondern auch auf ihre Person gewürkt. Einige Muskeln ihres Gesichts sind durch das Anspannen der Nerven zu scharf geworden, weil die innerliche Stärke ihres Charakters nicht so leicht die runde sanfte Falte der Nachgiebigkeit annehmen konnte. Die Zeit ihrer Freyheit erschien zu spät; das lange Pressen der Umstände hatte die Falten schon so genau bemerkt, daß sie auch da blieben, ob sie schon, alles Zwangs befreyet, den moralischen Gang ihrer Seele nach ihrer eigenen Wahl fortsetzen konnte. Und, sehen Sie, Mariane, just diese Züge, die als daurende Ueberreste ihres ertragenen Leidens da sind, um derentwillen man sie achten sollte, diese werden zum Grunde von Beobachtungen angenommen, aus dem [270] man diese und jene Fehler ihres moralischen Charakters entdeckt. – In dem Augenblick, wo sie sich, mit andern, in der Gesellschaft eines Mannes befindet, dessen vorzügliche Verdienste des Geistes und der Denkungsart allen, und auch ihr die Begierde einflößte, seinen Beyfall zu erhalten, und wo sie, um den Andern nicht im Weg ihres Vergnügens und ihrer Bemühungen zu stehen, die Wünsche ihres edlen Ehrgeitzes aufopfert, schweigt und zurücktritt, um andre genießen und schimmern zu lassen: da wird ihr Lohn mißkannt und sie selbst ganz unrecht beurtheilt. Es hat sie tief, sehr tief verwundet, und zu dem Entschlusse gebracht, auf immer verhüllt zu bleiben, und sich ganz aller Gesellschaft zu entziehen. – Ich aber bin auf dem Vorsatz gekommen, die äußerlichen Kennzeichen nicht als richtige Maaßstäbe des Geistes und Herzens anzunehmen! – Madame G** erschien hier im schönsten Lichte, in welchem jemals die weibliche Freundschaft stehen kann; da sie mir das Ganze von dem Charakter ihrer Freundinn schilderte. Ihr Mann, und von Ott, waren als Ankläger da, von denen ihr auf einer Seite der freundliche und verbindliche [271] Ton vorgeworfen wurde, den sie zu der Zeit, da sie in Gesellschaft gieng, gegen die Meisten hatte, und dann wurde ihr, auf der andern, ihr Einschließen und Zurückhalten geradaus mit den Erstern, als Begierde zu gefallen und Leute an sich zu ziehen, verwiesen.

»O, ihr Männer!« sagte Frau G**, »wie ungerecht werfet ihr das Beste unter das Schlechteste! Hundert Weiber dürfen ungescheut den Kopfputz von dieser, das Band jener, den Zeug hier; die Schleiffe da, in einem Zirkel bewundern, loben, entzückt darüber scheinen: und meine D**, welche bey Erblickung einer guten Eigenschaft des Geistes oder Herzens, ein eben so großes Vergnügen fühlt, als andre bey Moden und Putz, sie darf nicht sagen: Es freut mich, diese achtungswürdige Eigenschaft an Ihnen zu sehen? Auch hat sie Unrecht, meine Freundinn, sie har Unrecht, zu glauben, daß es viele Menschen gäbe, denen der Beyfall für ihre moralischen Bemühungen angenehm seyn kann.«

Herr G** sagte, Madame D** hätte ihren Beyfall und Achtung oft über das Maas [272] der Verdienste zugemessen, und gleichsam verschwendet!

»So, meine Herren! Ihr habt also allein Recht, wenn Heut Euer Auge durch einen schönen Fuß angezogen, Ihr darüber alle andere Mängel der übrigen Figur vergeßt und beschönigt! Morgen die helle Gesichtsfarbe einer andern Euch locken laßt, und immer diesen einzelnen Reizen die volle Summe Eurer Zärtlichkeit gebt, was für Fehler das Ganze auch haben mag! Meine Freundinn, die nach moralischer Liebenswürdigkeit umher sieht, und sich freut, den edlen Gang einer Seele, den Ton des Verstandes, die Güte des Herzens zu bemerken, und die Person, welche Eine oder Andres davon hat, nach dem Grade ihres Vergnügens darüber lobt und liebt: diese hat Unrecht, mit Menschenfreundlichkeit auf die gute Seite zu sehen, und sich von dem Fehlerhaften abzuwenden! O Rosalia, merken Sie sich das Schicksal meiner D**! Besonders aber, daß ihr dieses von edelmüthigen, von vernünftigen Männern zubereitet worden ist, die sie just als eine Frau betrachten, die auf Wucher leihet! Ihre Liebe zur Einsamkeit, ihre freywillige [273] Aufopferung alles dessen, was sie an Vorzug, an Anhänglichkeit hätte erwerben können, dies wird Coquetterie genannt! Der Wunsch, den sie bey dem Feymnärchen von Serpentio that, in ihrer Gewalt zu haben, jeden Reiz der Person, der Talente und des Charakters allein in der Gegenwart ihres Geliebten zu besitzen, und für alle übrige Männer Dame Serpentina zu seyn; war der auch Coquetterie? Hätte sie mir gefolgt, sie sollte mehr Tribut von euch erhalten haben; aber der Beste vom allen soll sie schadlos halten, und über die Ungerechtigkeit der andern trösten!« –

[274]
43. Brief
Drey und vierzigster Brief

Madame G** behielt mich Vorgestern noch eine Zeitlang in ihrem Zimmer, wo sie wiederholte, daß sie platterdings dem Herrn C** richtige Ideen von ihrer Freundinn geben und sie durch seine Liebe und Hochachtung, für alles, was sie bisher gelitten hätte, schadlos halten wolle! – Gestern sprach sie mir mit der nehmlichen Lebhaftigkeit davon, und sah dabey aus, wie Jemand, der einer schönen Aussicht zulächelt. – Ich wußte nicht, wie sie es anfangen wollte, besonders, da sie mir sagte, daß sie sich meiner bedienen würde, um das Hauptrad ihrer Maschiene in Gang zu bringen. Nun kam sie heut Mittag, um zwey Uhr, mich zum Spatzierenfahren, allein mit ihr, abzuholen, und ich mußte meine Uebersetzung des Glücks der edlen Liebe und die Abschrift des englischen Aufsatzes von Madame D** mitnehmen. Unterwegs sagte sie: »Rosalia! wir werden bey der Hütte des Hirten aussteigen, an der Hecke hingehen; und dort auf der kleinen Bank setzen wir uns, [275] und lesen ganz aufmerksam unsere zwey Papiere; da wird mein Bruder mit Herrn C** unvermerkt zu uns kommen, und über unser gelehrtes Aussehen ein wenig spotten; da werde ich behaupten, daß ich Englisch von Ihnen lernen wollte, und daß ich Sie bey dieser Uebersetzung angetroffen hätte, die Sie mir nun vorlesen müßten. – Mein Bruder versteht die Englische Sprache; Herr C** auch. Der Erste wird gleich unsre Papiere begehren, um sie mit Herrn C** zu lesen. Das Uebrige wird sich dann weisen.«

Alles gieng, wie sie es veranstaltet hatte: Herr Fr** und C** machten Anspruch auf unser Heft Papier. Ich war mit dem Ganzen nicht so völlig zufrieden, und vertheidigte ernsthaft meine Aufsätze gegen den Raub. Aber meine Madame G** erhielt die Oberhand. Die beyden Herren gingen mit ihrer Beute von uns, und wir fuhren zurück. – Herr Fr** kam spät, mit uns zu Nacht zu essen, und sagte seiner Schwester: C** hätte bey Lesung des Charakters von Arundel gestockt. Herr Fr** wäre eingefallen: »Mein Freund C**, dieser Lord und Sie sind nur [276] Ein Mann; denn jeder Zug dieses Charakters ist Ihrer!« – Am Ende wäre C** ganz besonders still und nachdenkend geworden; hätte ihn gefragt, ob wohl diese Aufsätze von mir wären? Fr** habe geantwortet, er glaube es nicht; denn, was sollte Rosalia L** mit der Idee einer Witwe, mit dem, mit so viel Zärtlichkeit gezeichneten Bilde des Herrn C** machen? – Dann hätte er ihm die Aufsätze bis den andern Tag lassen und versprechen müssen, nachzuforschen, woher sie kämen.

Wie alt ist dieser Brief geworden, meine Mariane! Aber die Treiberinn G** ist daran Ursache. Sie schleppte vor sechs Tagen mich und Madame D** in aller Früh nach R**, ungeachtet es regnigt aussah. Die Herren Fr**, C** und G** kamen nach, aber erst gegen Abend. Wir Frauenzimmer hatten, wegen der Gemächlichkeit des Aufsatzes, englische Hüte, und, nach dem Willen der Frau G**, auch alle drey, die hier neu aufgekommene Kleidung, von grauem englischen Marly, auf den Leib passend, an. – Mich däuchte, Herr C** stutzte etwas darüber. – Madame D** war anfangs auch [277] über seinen Anblick bewegt; doch glaubte ich zu bemerken, daß sie nach und nach sich dem süssen Gedanken überließ, den Mann, den sie liebte, von ihrer Rivalinn entfernt, und ganz aufmerksam gegen sie zu sehen: doch konnte sie nicht bey dem Nachtessen ausdauren, und gieng viel früher als wir übrige zu Bette. Ohne was zu reden, umarmte sie Madame G** und mich, mit einem Ausdruck in ihrem Gesicht, der die ganze Fülle ihrer edlen Zärtlichkeit, und ihrer geheimen Bekümmernisse anzeigte. Herr C** hatte ihr nachgesehen, und sagte dann zu uns beyden: »Ich glaube, Madame D** muß ihre liebste Freundinn seyn, denn ihr Umgang scheint mir in gleichem Maaß geistreich und zärtlich:« –

»Sie haben Recht,« sagte Frau G**, »es ist eine unschätzbare Frau, der ich alle Süßigkeit und allen Trost einer vertrauten Freundschaft zu danken habe.« –

Herr Fr** fiel ein: »Was ich am meisten an ihr achte, ist die Gelassenheit und Ruhe ihres Geists; sie beobachtet und empfindet richtig, sie hat viele Kenntnisse, thut viel [278] Gutes und sucht gar nicht zu schimmern, oder vorzudringen.« –

»Gewiß nicht,« sagte Frau G**, »sonst würde sie nicht auf den Gedanken bestehen, hieher zu ziehen! – Sie hat auch,« fuhr Frau G** gegen ihren Mann fort, »heute Früh, gleich wie wir angekommen sind, die Miethe für das an unsern Garten stosende kleine Landguth richtig gemacht. Ich habe dazu gedacht, ein regnigter Tag würde sie etwas zurück halten; aber es scheint, daß die trübe Witterung ihrer kleinen Melancholie am anständigsten war.« –

»Sie wird also noch einsamer leben, als bisher?« sagte Herr C**.

Jeder sagte hier noch etwas, zu ihrem Lobe. C** schwieg dabey; schlief aber, wie Herr Fr** erzählte, beynah gar nicht, und sah bey dem Frühstück tiefsinnig aus. Madame D** aber war in ihrem weißen Nachtzeuge ganz reizend, und die Sanftmuth ihres Wesens und Gesprächs nahm uns alle ein. Die drey Herren gingen, während wir Frauenzimmer uns kleideten, das gemiethete Landguth zu besehen. Wie sie wiederkamen, waren wir in dem großen alten Saale des Schlosses, [279] dessen Wände mit alten Fresko-Gemählden geziert sind. Herr C** näherte sich gleich der Madame D**: »Wir haben die schöne Einsiedlerhütte gesehen, worein Sie sich verbergen wollen. – Wird sie ihren Freunden eben so verschlossen seyn, als Ihr Haus es seit einiger zeit gewesen ist?« –

Frau D** that in der ersten Verwirrung die Frage: »Habe ich denn Freunde, die dieses bedauern?« und fing an, auf und ab zu gehen. Herr C** ging mit ihr, und Herr G** zu seinen Amtsleuten. Ich war in einer Ecke des Saals, mit Madame G** Schach zu spielen. Herr Fr** lehrte michs. Die muthwillige G** rief auf einmal ganz laut: »Schach der Königin!« – Ein Seitenblick machte mich aufmerksam, und ich sah die zwey Spatziergänger vor einem Gemählde, wovon Herr C** die Schönheiten erklärte; aber sein Auge voll Geist schien eher das mahlerische Ebenmaaß der Madame D**, als die richtige Zeichnung der Gruppen des Gemähldes zu betrachten. Madame G** stund auf, näherte sich ihnen, faßte beyde an den Armen. »Emma und Arundel bey den Ruinen!« sagte sie. Frau D** [280] wurde feuerroth, und senkte ihren Kopf und Blicke zur Erde; Herr C** aber nahm eifrig eine ihrer Hände und rief aus: »O, wie glücklich wäre ich; wenn Frau G** wahr gesagt hätte!« – Madame D** faßte sich; zog ihre Hand zurück. »C**! nichts Galantes von Ihnen, ich bitte Sie. Ihre kalte, ganz kalte Hochachtung, aber keine spielende, große Empfindungen! Gönnen Sie mir das Glück, Sie hochzuschätzen!« – Der rührende Ton ihrer Stimme bey diesem; ihr Blick auf ihn; eine süsse, flüchtige Cramoisinröthe über ihren feinen blassen Wangen, und das anmuthsvolle halbe Wegwenden ihrer ganzen schönen Person, war ein vortrefliches Bild! C** war voller Bewegung, und sah sie mit Lieb' und Feuer an. Sie neigte sich, und ging mit Frau G** weg. C** legte sich an ein Fenster. Er sah die beyden Frauen im Garten, und bat um Erlaubniß, sie zu begleiten; lief auch eilig fort. Madame G** kam eine Viertelstunde nachher allein wieder; küßte mich, und gab ihrem Bruder zugleich die Hand, indem sie, mit einer Thräne der Freude im Aug', uns sagte: »Nun ist meine D** glücklich, und zwar durch mich! [281] C** wird ihr Gemahl!« – Wir freuten uns; und die vier Tage über, da wir noch in R** blieben, nannten wir sie Emma und Arundel. Und da beyde frey und unabhängig waren, besorgte Herr Fr** den Trauschein vom Magistrat, und den fünften Tag, eine halbe Stunde vor unserer Rückreise in die Stadt, erhielten sie durch den so ehrwürdigen Pfarrer in R** ihre Einsegnung. Herr und Frau G** überließen ihnen das Schloß und alle Einrichtung, sammt der Köchinn und den Bedienten, auf so lange sie wollten. Denn sie wünschten, die ersten Tage ohne Zeugen und Geräusche hinzubringen. Nur schickte Madame G** der nunmehrigen Frau C** ihre Kammermagd mit Kleidung und Weißzeug hinaus. Sie sind auch noch nicht gesinnt, in die Stadt zu kommen, weil sie, wie sie beyde schreiben, sich von den verlohrnen Tagen ihres Lebens und ihrer Bekanntschaft zu besprechen hätten; ihr Landguth einrichteten, und sich auf den künftigen Sommer Spatziergänge aussuchten, um gegen die Langeweile gesichert zu seyn.

In der Stadt war viel von der schnellen Heyrath und von dem sonderbaren Geziere [282] der Frau C** die Rede, daß sie Niemand zum Zeugen haben wolle! Wie froh sie über den Verlust ihres Wittwenschleyers wäre! C** hätte immer den schlauen Weltweisen gewacht, wäre aber durch das altkluge Mädchen, Rosalia, und die Klopfjägerinn G** in das Netz der prüden D** getrieben worden! Sie möge aber Sorge tragen, ihn nicht zu sehr einzustricken, sonst würde er seine ältern Freundinnen um Hülfe bitten, welche leicht etliche Schleifen auflösen und dem fein singenden Vogel Luft machen würden, ohne sich an das Gegirre des zarten Weibchens zu kehren! – Madame G** sagt geradezu: Dies sey die Rache der abgewiesenen Liebhaberinnen und Coquetten, die beyde viel verlohren hätten.

[283]
44. Brief
Vier und vierzigster Brief

Ich komme so eben von einer recht sehr interessanten Spatzierfahrt zurück, welche Herr von Ott veranstaltet hatte. Sie wissen, daß er einer der Verbündeten ist, die zu der Sammlung thätiger Tugenden beytragen müssen. Er hätte, ich weiß nicht, wie? vor einiger Zeit die Bekanntschaft eines beynah achtzigjährigen Ordensgeistlichen gemacht, der ungefähr zwey Stunden von hier, als Pfleger von einem schönen Landguthe seines Gotteshauses wohnt, und durch seine heitre freundliche Gemüthsart (ich denke auch, durch seine Gastfreyheit) bey allen Benachbarten sehr beliebt war, und fleißig besucht wurde. – Diesem guten Mann trug das Schicksal vor einigen Monaten die Sorge für zwey Findelkinder auf eine für ihn sonderbare und rührende Weise auf!

Er hatte immer die Gewohnheit, sein Brevier in den schönen Sommertagen in einem Laubengange zu beten, der ziemlich lang, und da er völlig bedeckt ist, an dem Ende [284] gegen das Feld, ganz dunkel wird. ... Dahin ging der liebe Alte in diesem Monat Junius, gleich nachdem er Frühmesse gehalten hatte, und betete da ganz andächtig vor sich hin, bis er am Ende des Laubenganges mit seinen Füßen so stark an Etwas in dem Wege stößt, daß er darüber gegen die grüne Wand hinfällt. Den Augenblick hört er die Stimme eines kleinen weinenden Kindes, erschrickt, rafft sich auf, und sieht einen, mit einer grünen Leinwand gedeckten Korb vor sich, aus dem die Stimme kam. ... Er faßt sich, sieht nach, und findet in dem Korbe zwey neugeborne Kinder und einen großen Brief, der vorne auf ihr Bettchen angeheftet, und an ihn überschrieben war. Er machte ihn auf, und lieset, daß die zwey Kinder, noch ungetauft, seiner Menschenliebe anvertraut werden; daß sie Abends neun Uhr geboren und seit drey Uhr in der Früh auf diesem Platz wären, wo man wüßte, daß er seine Morgenandacht hielte, und während dem Gebete das gute Werk nicht von sich weisen würde, für die armen Findelkinder zu sorgen, für welche Vater und Mutter nichts thun könnten, als Gott bitten, daß er ihn lange erhalten möchte. Er sollte die Knaben [285] nach seinen zwey Namen, dabey aber auch jeden Joseph Fürchtegott nennen.

Der Gedanke über die Zulassung Gottes, daß ihm diese Last in den Stunden des Gebets zugeführt wurde, gab ihm Muth, den Entschluß zu fassen, sich, so lange er lebte, der Kinder anzunehmen. Er kniete hin und gelobte ihnen, vor den Augen ihres und seines Gottes, ihr Pflegevater zu seyn. Nahm den Korb mit seinen beyden Armen und trug ihn ins Haus, wo die Haushälterinn eben so viel Lärmens machte, als ehmals des Herrn Worthy seine Debora, wie der gute Toms Jones hingelegt wurde. Der Alte kehrte sich nicht daran, und ließ den Kirchendiener nebst den Gerichtsleuten kommen, um die Kinder zu taufen, und die ganze Begebenheit genau aufzuschreiben. Nahm eine Wärterinn an, und sorgte mit Vatertreue für die Findlinge; denn er lud einige Tage nach ihrer Aufnahme seine benachbarten Freunde zu Gaste, gab ihnen, wie gewöhnlich, recht gut zu essen und zu trinken, führte sie nachher zu seinen Zwillingen, wies sie ihnen, erzählte die Geschichte und sagte: Sie müssen auf dem Platz im Garten, wo er sie gefunden hätte, ihre Gesundheit [286] trinken. Sie gingen alle lustig in den Laubengang, wo sie kostbaren Wein bereit fanden, und auf des Pflegevaters und der Kinder Wohlseyn tranken. Hier aber zog er eine Rechnungsrolle aus der Tasche, und wies ihnen die Erlaubniß seines Prälaten und Mitgeistlichen, von den Einkünften des Guthes so viel auf die Gastfreyheit zu verwenden; er hätte bisher mit Vergnügen Gebrauch davon gemacht, und sie alle herzlich gerne bey sich gesehen; er hoffe auch, daß es in Zukunft eben so seyn würde, wenn sie sich einen Vorschlag wollten gefallen lassen, den er zum Besten der Findelkinder ausgedacht hätte. Indem er die erlaubten Ausgaben nicht vergrößern möchte: so dächte er, die zwey Kinder als tägliche Gäste zu berechnen, hingegen denen, die er bisher gesehen, eine geringere Anzahl Speisen vorzusetzen, und dieses Ersparniß für die armen Kinder zurück zu legen, um hiedurch mit dem anvertrauten Gute seines Gotteshauses und seiner Pflegkinder gleich getreu zu verfahren. Alle billigten seine Gedanken, und machten den Findlingen, nicht nur mit ihrer Einwilligung, zu Verminderung der kostbaren Schmäuse, sondern mit einem Stück Geld ein Geschenk. [287] Der liebe, ehrwürdige Greis dankte für seine Findlinge, und führt seit diesem Tage genaue Gastrechnung zu ihrem Besten. Wie wir hinkamen, fanden wir ihn in der Stube zwischen den zwey Wiegen sitzen, wo er das Eine schaukelte, und dem Andern, das schlief, die Mücken abwehrte, derweile ihre Wärterinn den Brey zurecht machte. Unser fremdes, und vielleicht etwas zu lebhaftes Ansehen machte ihn einen Augenblick stutzen; aber Herr von Ott sagte ihm gleich? »Verzeihen Sie, mein ehrwürdiger Freund, daß ich Ihnen fremdes Frauenzimmer bringe. Aber es sind zwey Bräute, die das Bild einer ihrer künftigen Tugenden in Ihnen sehen wollen; beyde waren über ihre Menschenfreundlichkeit gegen die armen Geschöpfe entzückt, und haben die kluge Wirthschaft Ihrer Wohlthätigkeit bewundert.« – Er wandte sich gegen uns, und sagte Julien, deren Hand er faßte und küßte, da er mit der andern den Alten wies: »Meine Julie! dieses ist das überfließende Maaß von Güte eines Mannes! wie schön muß ihre Wirkung in dem Herzen der Gattinn seyn, von welcher man sie erwartet!«

[288] Von Ott hatte uns gerührt und ein wenig aus der Fassung gebracht, die die nehmliche Bewegung in uns legte; denn wir küßten beyde die Hände des Greises und die Kinder, mit dem Vorsatz in der Seele, einst gute Mütter zu werden! – Die muthwillige Frau G** rief aus: »Das ist die Stimme des Berufs!« Aber dem alten Manne liefen Zähren über die Wangen, da er uns beyde mit dem Zeichen des Kreuzes segnete. Von Ott küßte unsere Hände und sagte uns, daß er sicher wäre, wir würden diesen Beruf getreu erfüllen.

[289]
45. Brief
Fünf und vierzigster Brief

Heute, meine Mariane, hat sich der Zufall eines Gemähldes bedient; um mir schon lang erkannte und gelernte moralische Grundsätze tiefer einzuprägen, und sie in meinem Kopf und Herzen zu thätigen Pflichten zu machen! – Es war ein Meisterstück eines der größten Mahler, eine Madonna vorstellend, welche dem kleinen Jesu aus einem Körbchen einige Blumen reicht. Die Zeichnung des Kopfs, des Gesichts, des Nackens und der Hände, ist, nach Ausspruch aller Kenner, vortreflich. Ausdruck der höchsten weiblichen Tugend und mütterlicher Liebe. Rein, vollkommen, wie die hand des göttlichen Schöpfers sie in Mutter-Seelen pflanzte, liegen sie in ihrem Auge, ihrem Lächeln und Zügen. Die Schönheit der Farbenmischung schimmert aufs Aeußerste in diesem Stücke! Ich betrachtete es nach allen diesen Theilen mit innigem Vergnügen, welches der Verstand über die Größe der Kunst, und mein Herz über den moralischen Ausdruck fühlte; aber [290] mein Aug erlaubte sich Untersuchung des Ganzen, und heftete sich auf die Stücke des blauen Mantels, welchen der Künstler um den mittlern Theil der Arme geworfen hat, und die Falten davon schienen mir leer, weil ich die fortlaufende Ründung und Linien des Arms und den Bug des Ellbogens nicht darinn fand. Ich sagte diese Bemerkung einem edlen scharfsinnigen Manne, der mit uns da war. Er bestritt meine Idee in etwas, und dadurch reizte er mich, meine Kunstrichterey zu vertheidigen und zu beweisen. Er schwieg lächelnd; nur kurze Zeit darauf hatte ich an der Hand eines andern herrlichen Bildes etwas zu erinnern, und hier fiel er ein: »Immer an dem Vortreflichsten etwas auszusetzen!« Der Ton seiner Stimme und seine Miene bewiesen mir, wie sehr tadelhaft er meine genaue Berechnung der kleinen Unvollkommenheiten fand. Aber es machte keinen besondern Eindruck auf mich, weil ich dachte, daß es meinem richtig sehenden Auge wohl erlaubt wäre, das Fehlende zu bemerken; aber einige Tage hernach kam mir eine Beurtheilung meines Charakters zur Hand, die mir eben so schmerzhaft fiel, als mein Tadel über die [291] zwey herrlichen Gemählde dem Schönheit fühlenden Mann. Ich wurde auch über einen fehlerhaft scheinenden Theil hart verdammt, wo ich in der That auch nichts anders verbrochen hatte, als der Mahler, der nicht alles Schöne, so er fühlte, am Tage mahlen wollte, und sogar nicht einmal den Nachtheil berechnete, den sein Genius, durch die Sorglosigkeit seines Faltenwurfs, in dem Auge des Fehler ausspähenden Beobachters erdulden dürfte oder könnte. Ich zeige auch selten das ganze Bild meiner Seele; ich werfe auch hie und da einen Schleyer, ein Stück Mantel, über einzelne, wohl formirte und mit dem Ganzen übereinstimmende Theile. Ich denke auch nicht an die schiefen Urtheile, welche schiefe Falten hervorbringen können und müssen: und nun will ich mich hinsetzen und mich bey dem Bilde der Madonna mit dem Gefühle des Wiedervergeltungsrechts trösten! – Es giebt ein moralisches Augenmaaß für die Züge der Seele, wie ich es für die Linien der körperlichen Schönheit und Regulärität habe, und wenn ich verabsäume, den Schleyer so um mich zu winden, daß die reine Gestalt der moralischen Bildung auch durch die Decke [292] leuchte: so muß ich's leiden, daß man etwas Verkehrtes vermuthe. Denn von wem, besonders von einem Frauenzimmer, wird man vermuthen, daß sie gute und vortheilhafte Eigenschaften verbergen würde, und daß sie in dem Augenblicke, wo sie Vorzug erhalten könnte, freywillig darauf entsagt? und doch bin ich so unbillig, zu klagen, wenn mir nicht dafür gedankt wird! Aber, ich danke dem Manne, der mit edlem Eifer meine Tadelsucht bestrafte, und mir die Anweisung gab, von meinen Nebenmenschen nicht mehr zu fodern, als sie von mir erhielten. Doch, meine theure Mariane, würde ich mir's niemals vergeben, wenn meine Nächstenliebe erst durch meine Selbstliebe erweckt und thätig gemacht worden wäre. Nein, sie ist nur verträglicher geworden! Denn, in Wahrheit, ich rügte alles zu lebhaft, was außer meinem Gefühl und Ueberzeugung war. – Was kann die Feldblume davor, daß sie nicht von einem Kunstgärtner gepflegt wurde? und was für ein Recht giebt das glückliche Loos einer guten Besorgung der Gartenpflanze, die andern mit Uebermuth hager und mangelhaft zu schelten? Was mich aber recht sehr verdrießt, ist, daß [293] ich bemerke, wie durch diesen Vorgang ein Theil meiner moralischen Empfindungen sinnlich geworden ist. Denn ein Blick, den ich auf das Bild einer Madonna werfe, die in meinem Zimmer hängt, giebt mir die lebhafteste Erinnerung zu milder Beurtheilung der Fehler, die ich an andern finde. Sogar ein blaues Kleid scheint mir ein Wink zu seyn, die Behutsamkeit für mich und andre nicht aus den Augen zu setzen. Ich dachte schon, von nun an lauter blaue Armschleifen zu tragen, weil ich den Armfalten eines Mantels von dieser Farbe, eine Wiederholung der Tugendlehre zu danken habe. Doch fürchtete ich die Macht der Gewohnheit, die mich durch täglichen. Gebrauch dieses Mittels gegen seine Wirkung unempfindlich machen könnte; zumal man immer eher auf die Falten des Nächsten, als auf seine eigenen sieht. Sie wissen, ich liebte die Mahlerkunst allezeit; nun gewiß mehr als jemals, weil sie der Anlaß war, daß ich in Zukunft mit mehr Genauigkeit auf die Verbesserung meiner eigenen Fehler denken werde.

Rosalia. [294]

46. Brief
Sechs und vierzigster Brief

Von Ott führte heute Nachmittag Julien und mich zu seiner Tante, die an dem äußersten Ende der offenen Vorstadt wohnt, und aus deren Hausgarten man gleich auf das Feld gehen kann. Madame G** kam nicht mit, weil die melancholische Empfindsamkeit dieses Frauenzimmers nicht den geringsten Ton des Schmerzens erträgt, und selbst ihr Neffe, den sie doch innig liebt, nicht oft zu ihr kommen darf, weil alle Stunden des Tages in Arbeits- und Andachtsübungen eingetheilt sind, und sie überhaupt mit niemand lebt, als einer Schulmeister-Wittwe und deren Tochter, die sie im Hause hat, und in Tisch und Wohnung unterhält; die hingegen beyde mit ihr das ganze Jahr für Arme Strümpfe stricken, Hemden und Hauben nähen helfen müssen; indem, wie sie sagt, das Gebet und ruhige Gutthätigkeit an Arme, der einzige Trost gewesen sey, den sie in den Bekümmernissen ihres Herzens gefunden habe.

[295] Ehe Ott uns hinführte, hatte Madame G** ein Paarmal über sein ernsthaftes Aussehen gelacht und dabey gesagt, es wäre das Gesicht, welches er bey seiner Tante H** geholt hätte. Julie fragte ihn da über die eigentliche Ursache der Einsamkeit dieser Tante, und er erzählte uns, daß sie die älteste Schwester seiner seligen Mutter wäre, die als Zwilling mit seinem in Venedig verstorbenen Oheim auf die Welt gekommen; darüber aber seine Großmutter das Leben verloren hätte, und vor ihrem Tode diese zwey Kinder der Liebe und Sorge ihrer ältesten achtzehnjährigen Tochter anempfohlen habe. Diese hätte auch jede mütterliche Treue an beyden bewiesen, und sie zu den liebenswürdigsten und artigsten jungen Leuten gemacht; das Vermögen mit der größten Vorsicht verwaltet; endlich seine Mutter glücklich verheyrathet, und seinen Oheim auf Reisen geschickt, an dem sie, von seinem achtzehnten Jahre an, eine vorzügliche Neigung für ein holdseliges sanftes Mädchen beobachtet hatte, welches die Tochter einer ihrer Freundinnen war. Als er mit zwanzig Jahren seine Reisen antrat, hatte sie die junge Eufrosine zum Frühstück [296] geladen, und diese mußte ihn eine selbst gestickte Brieftasche zum Geschenk auf die Reise mitgeben, und auf das erste Blatt schreiben: »Treue Freundschaft und Unschuld werden alle Tage für Ihr Wohlergehen beten!« –

Eufrosine war just sechzehn Jahr, und in der feinsten Blüthe der Schönheit, einsam erzogen; um so stärker war jede Neigung der Zärtlichkeit in ihrer Seele. Meine Tante wollte ihrem Bruder durch Eufrosinens Bild eine Schutzwehr um sein Herz legen, daher hatte sie veranstaltet, daß den letzten Morgen niemand anders da war, als sie beyde. Sie wußte wohl, daß ihr Bild den Eindruck von Eufrosinen nicht verdringen würde. Sie hatte auch gut gerechnet, denn mein Oheim nahm sie noch auf die Seite und bat sie mit wenig Worten: wenn es möglich wäre, das reizende Mädchen für ihn aufzuheben! Meine Tante versprach ihm, alles zu thun, diesen Wunsch seines Herzens zu erfüllen. Bruder und Schwester umarmten sich und nahmen mit vielen Thränen Abschied. Die holde Eufrosine weinte sympathetisch mit, mein Onkel küßte ihre Hände und bat sie, ihren Vetter Heinrich nicht zu vergessen. Sie versicherte ihn, mit[297] schluchzender Stimme, »daß sie gewiß immer an ihn denken würde.« Mein Onkel reisete vier Jahr lang, vergaß aber Eufrosinen nicht; besonders aber erkundigte er sich bey meiner Tante, ob sie wohl mit ihm nach Venedig ziehen würde, weil er dort sein Glück zu befestigen hofte. Alles war versichert, denn meine Tante hatte Eufrosinens Herz und den Willen ihrer Eltern nach den Wünschen ihres Bruders gelenkt, der als ein schöner liebenswürdiger Mann zurück kam, und seine Eufrosine nicht nur mit der edelsten jungfräulichen Gestalt und Anmuth, sondern auch mit jeder Tugend und weiblichen Geschicklichkeit begabt, antraf. Ihre, durch meine Tante in der Stille genährte Liebe für ihn, und die seinige für sie, wurde durch ihr beyderseitiges Verdienst zu der feurigsten Zärtlichkeit erhöht. Er hatte aus Venedig einen Portraitmahler mitgebracht, allein in der Absicht, den Eltern seiner Braut ein recht gutes Bild von ihr zurück zu lassen. Und da er sie einmal des Morgens in ihrem Zimmer besuchte, just da ihr Mädchen ihre wunderschöne blonden Haare auskämmte, und Eufrosine etwas in ihr Tagebuch schrieb, so ließ er sie für sich in dieser Stellung [298] mahlen. (Sie sollen das Bild bey meiner Tante sehen.) Alle Anstalten zu der Verheyrathung wurden gemacht; und da beyde Liebende das Fest ihres Glücks ohne Geräusch zu feyren wünschten, so wurde die Zeit der Badekur, die Eufrosinens Mutter alle Jahre zu gebrauchen pflegte, dazu bestimmt. Die Braut zog mit ihrer Mutter ins Bad, das zwey Stunden von der Stadt, nahe an einem Walde liegt. Mein Onkel ging ab und zu, weil er sich die Freude machte, während ihrer Abwesenheit eine Menge artiger Sachen in den Zimmern seiner künftigen Frau anzuschaffen, die sie nach ihrer Heyrath da finden sollte. Den Abend vor der Trauung, die auf einem benachbarten Dorfe in der Stille geschehen sollte, ging mein guter Onkel in die Stadt, um meine Eltern und Tante Abends mit sich hinaus zu nehmen, damit sie Morgens als Zeugen seiner Verbindung da seyn möchten; und, um die übrigen Badegäste nichts argwöhnen zu lassen, gingen Eufrosinens Eltern mit ihr, auf Einladung der Gesellschaft, in den Wald spatzieren. – Das edle, sanftliebende Geschöpf fühlte sich von den lärmenden Unterredungen des Haufens belästigt; sie wünschte, allein ihrem [299] Herzen und Nachdenken überlassen zu seyn; verlohr sich daher, sobald sie konnte, ins Gebüsch; und da sie vor dem Spatziergange ihrer Mutter gesagt hatte, daß sie so gerne zu Hause bliebe, so dachte diese, als man Eufrosinen vermißte, sie wäre heimlich zurück, und sagte es auch ihrem Mann. Der Abend war schön. Man hielt sich lang' auf, eh' man zurück gieng, und der Zufall wollte, daß des guten Kindes Eltern mit dieser Zögerung zufrieden waren, weil sie glaubten, ihre lieben Gäste aus der Stadt könnten noch zum Nachtessen zurecht kommen. Man kam nach Haus; es wurde nach Eufrosinen gefragt, sie war aber nicht da. Alle Zimmer wurden durchsucht, alle Leute gefragt: niemand hatte sie gesehen und nirgends fand man sie. Ihre Mutter glaubte, sie müsse auf dem Wege nach der Stadt gegangen seyn, und man schickte ein Paar Leute hin, die liefen so weit, bis sie der Kutsche begegneten, worinn mein Onkel war. Hier fragten sie eilig an, ob das Frauenzimmer bey ihnen wäre? »Was für ein Frauenzimmer?« sagte mein Onkel. »Ihre Braut, mein Herr! Sie ist seit dem Spatziergange im Walde nirgends zu finden, [300] und wir dachten, sie wär' Ihnen entgegen gegangen!«

Urtheilen Sie von dem Schrecken meines Onkels! Er setzte sich gleich auf eines der Pferde, und jagte ins Bad, erkundigte sich nach den Umständen, und vermuthete, daß sie im Walde verirrt seyn müsse. Bot große Summen Geldes für alle, die sich zum Aufsuchen vorthaten; ließ Strohfackeln machen, und eilte zuerst, mit einer großen Wachsfackel, dem Walde zu, wo er mit ängstlicher Stimme nach Eufrosinen rufte. Mein Vater, der Bademeister, und der Arzt, betrieben den Fortgang der Leute, die zum Nachsuchen bestellt waren. Meine Mutter blieb bey Eufrosinen ihrer. Aber meine gute Tante wollte ohne Einreden mit nach dem Walde. Sie hatte auch das traurige Glück, Morgens um drey Uhr, das liebe englische Mädchen zuerst zu erblicken, die mit allen Kräften durch verwachsene Bäume durchzudringen suchte, und einen hohlen wilden Schrey dabey ausstieß. Zwey Männer, die bey meiner Tante waten, eilten zu ihr, und diese mit der Fackel nach. Die arme Eufrosine drückte die Augen zu, schrie und sträubte sich erbärmlich. Die [301] Männer trugen sie meiner Tante zu, die über den jämmerlichen Anblick des lieben Mädchens in Ohnmacht fiel. Eine Viertelstunde darauf kam mein Onkel dahin, weil er rufen gehört hatte: »Wir haben sie!« Aber wie fand er seine Eufrosine? Ihrer Sinne beraubt. Gesicht, Brust und Hände zerrissen und blutend! Nichts auf dem Kopfe; ihre schönen Haare verwirrt und eine Menge ausgerauft; einen heischern Schrey, der furchtsam aus dem Munde kam, den vorher die sanfteste Stimme beseelte! Der äußerste Grad von Schmerz und Verzweiflung zerriß sein Herz. Er warf sich auf die Erde zu ihr, wo man sie sitzend hielte, und meine Tante, die sich erholt hatte, das Blut von ihrem Gesicht wischte. Der Arzt und mein Vater kamen auch. Mein armer Onkel bat den Ersten auf seinen Knien, ihr zu helfen. Sie ward ins Haus gebracht, ihre Wunden besorgt, und alles Mögliche zu Wiederherstellung ihrer Vernunft gebraucht. Aber sie war unwiederbringlich verlohren! Große Aerzte wurden zu Rath gezogen, die alle sagten, daß der höchste Grad ihrer Angst bey Erblickung der Fackeln müsse entstanden seyn, weil sie immer, wenn ein Licht ins Zimmer [302] kam, in Anfälle von Zittern, und ein die Seele durchdringendes Rufen nach meinen Onkel gerieth, der vier Monat lang neben ihrem Zimmer wohnte, und sein eigenes Leben über ihren hofnungslosen Zustand verseufzte. Wenn sie aus Mattigkeit schlief, kniete er neben dem Bette, küßte ihre Hände, stund auf, rang die seinigen mit Thränen des bittersten Grams, legte auch oft seinen Kopf neben dem ihrigen. Er wollte, ungeachtet ihres Zustandes, mit ihr getraut werden, um sie immer selbst zu besorgen; und man hatte Mühe, ihn darüber eine Verzögerung eines Monats einzureden. Ihr Wahnsinn wurde etwas sanfter; aber sie zehrte sichtbar ab. Zehn Tage vor ihrem Tode hofte man ihre Genesung, weil sie wieder mehr Worte aussprach, indem sie Augen und Arme gen Himmel erhob, und deutlich sagte: »Ach, Gott! es ist so spät, und Heinrich noch nicht da!« Eine nicht zu dämpfende brennende Hitze trocknete sie aus. Zwey Tage lang war nicht mehr so viel Feuchtigkeit in ihren Augen, daß sich die Deckel schließen konnten, und kaum konnte sie tropfenweis eine Erquickung niederschlucken. Mein Onkel war bedaurungswürdiger als sie. [303] Jeder Augenblick seines Lebens war Marter! Als der Arzt versicherte, daß ihr Leiden bald durch den Tod enden würde, betrachtete mein Onkel sie noch mit alle dem Gefühl seiner Liebe; bog sich über sie hin: »Eufrosine, meine Braut! dem Grabe muß ich Dich lassen! der Tag, wo Du mein werden solltest, war der Anfang Deines Todes!« – Ein Strom von Thränen floß aus seinen Augen; aber er und alle behaupteten, daß in dem nehmlichen Augenblicke die ihrigen eine Bewegung gemacht hätten, ja, daß ein Zug von Lächeln über ihr Gesicht gegangen sey. Mein Onkel ward entzückt. Er umarmte und küßte sie; aber, einige Minuten darauf war sie todt. Hier sagte er mit Stammlen: »Eufrosine! Dein letzter Blick war mein! Du bist die erste und einzige Liebe meines Herzens gewesen, Du sollst es noch im Grabe seyn, und bald, bald wird mich die Vorsicht, die Dich mir nahm, Dir wieder geben!« –

Er reisete fort, nachdem er nur ihr Bildniß und die Kleider, die sie zuletzt getragen, zu sich genommen hatte. Meine gute Tante, die für die arme Eufrosine und für meinen Onkel zugleich gesorgt hatte, wurde kränkelnd, [304] und blieb immer traurig. Einige Jahre darauf starb meine Mutter, und mein Onkel kurz hernach, der meiner Tante sein ganzes Vermögen zu ihrem Genuß zurück ließ, von dem sie den Ueberrest mir verlassen möchte. Der Gedanke des Unglücks, das ihren rechtschaffenen Bruder und seine tugendhafte Braut betroffen; der frühe Tod meiner Mutter; die Zerstörung aller, so vieljähriger Mühe, für das Wohl ihrer zwey Geschwister, haben ihren Geist und Herz eigentlich gequetscht, und sie ist wie Jemand, der unter dem Druck einer Presse Athem holen müßte. Aber gewiß, meine Freundinnen, es ist eine ehrwürdige Alte, die für mich Ueberrest eines der Tagend gewidmeten Tempels ist, den ich mich mit Ehrfurcht und Liebe nähere. –

Sie können denken, meine Mariane! daß Julie und ich bey den Thränen, die wir bey Eufrosinens Elend weinten, in die ganze Stimmung kamen, die die ernste Schwermuth des Frauenzimmers erfoderte. – Sie empfing uns sehr artig, betrachtete aber uns zwey Mädchen mit einer Gattung von Tiefsinn. Ott stellte ihr Julien als seine Braut [305] vor, welches sie mit ziemlicher Ruh in ihrer Miene anhörte. Wie ihr aber Julie die Hand, als ihre Nichte küssen wollte, umarmte sie sie, lehnte ihren Kopf auf Juliens ihren, und stille Thränen flossen über ihre ehrwürdige, aber blasse Wangen hinab. Wir waren alle ruhig. Nach wenigen Minuten richtete sie sich auf, nahm Ottens und Juliens Hände, legte sie zusammen mit einem innigen: »Gott segne Euch! und gebe dir, lieber Nepote, alles Glück, so sich Dein Onkel von seiner Braut versprechen konnte, wenn –« Hier weinte sie wieder, faltete aber ihre Hände und blickte gen Himmel: »Ich murre nicht! göttliche Hand! Ich murre nicht! Du hast sie ewig glücklich gemacht! Meine Thränen sind nur Erinnerung der Liebe.« – Wir schwiegen nach Ottens Beyspiel immer, wie er uns auch zuwinkte. Nachdem faßte sie sich ganz und führte uns in das Zimmer wo die Bildnisse von Eufrosinen und ihrem Bräutigam waren. Sie wies Julien das letztere und fragte sie: Ob nicht ihr Ott das Ebenbild seines Onkels sey? Wir fanden es alle. Julie sagte: Es freue sie sehr, daß er diesem rechtschaffenen Mann gleiche. »Er hat auch sein [306] Herz, liebe Nichte; und dafür danken Sie Gott; denn Sie werden dadurch eine sehr glückliche Frau werden!« –

Ich hatte indessen meine Augen auf Eufrosinens Bild geheftet, das in Lebensgröße und vortreflich gemahlt ist. Ein Zimmer mit hellbraunem Tafelwerk; durch ein großes Fenster fällt das Licht auf Eufrosinens Figur, die auf einem Stuhl ohne Lehne sitzt; ihre Kleidung ist reine weiße Leinwand, Rock und Corset, in welchem ihre schlanke Gestalt sehr schön ausgezeichnet ist. Ihre schöne Brust feinen Nacken und einen Arm sicht man von der Seite ganz. Rückwärts steht ein Aufwartmädchen etwas entfernt, die mit einer Hand die langen blonden Haare, und in der andern einen Kamm hält, aber auch, wie Eufrosine den Kopf gegen die Thür wendet, die eben aufgemacht worden. Eufrosinens Gesicht ist das allerschönste Oval, mit der feinsten Farbe einer Blondine. Eine niedlich gebogene Nase, ein kleiner Mund, der mit süsser Liebe lächelt; große blaue Augen, in welchen der Ausdruck himmlischer Sanftmuth ruht; die edelste Form der Stirne und des Hauptes. Mit dem freyen Arme zieht sie das blaue [307] Band ihres Corsets über ihre Brust, als ob sie sie schaamhaft damit in etwas decken wollte, der andre liegt mit einem Theil auf dem Tische, auf welchem ein Spiegel, ein Körbchen mit Blumen, Perlenschnüre und ein klein Tintenfaß steht. Noch mit der Feder liegt ihre rechte Hand auf dem Blatte eines kleinen Hefts Papier, worauf sie schrieb: »Tugend sey immer die Schönheit meiner Seele, und Heinrichs Liebe mein Glück!«

Die vollkommne und still reizende Schönheit des Bildes, die Erinnerung des grausamen Schicksals dieses holden Geschöpfs, füllte mein Auge mit Thränen Die Tante drückte meine Hand und sagte mit Seufzen: »Ach! sie verdient die Zähren jeder guten Seele. Denken Sie, was ich gelitten habe, wie ich den Engel, so elend zugerichtet, vier Monat lang leiden und endlich sterben sah! – Liebe, süsse Eufrosine!« sagte sie und küßte den Arm des Bildes gab dann Otten die Hand: »Ich danke Dir, daß Du den zwey wackern Frauenzimmern von Deinem Onkel und Deinen Tanten so gut geredt hast!« – Dann wies sie uns das Bild von Ottens Mutter. Erzählte von ihr, und versicherte Julien, [308] sie würde eine liebenswerthe Schwiegermutter gehabt haben. »Ich will Sie dafür ansehen« sagte Julie. »Es würde mich vergnügen, meine Liebe, wenn ich nicht allen Entwürfen von Freude entsagt hätte! Ich nehme jetzt von einem Tage zum andern, was mir Gott zuweiset.« – Hierauf gab sie uns ein recht artiges Abendbrod, und ging, nachdem sie die Wittwe und deren Tochter hatte rufen lassen, einige Augenblicke von uns, und band, bey dem Wiederkommen, Julien eine schöne Schnur orientalischer Perlen um den Hals, nebst einer sechsfachen Reihe von nämlicher Größe um die Hände, wobey sie auf Eufrosinens Bild wies: »Es sind die nemlichen, die darauf gemahlt sind. Mein Bruder hatte sie mir gelassen.« –

Wie es etwas später wurde und wir gehen wollten, fiel Otten ein, daß es Mondlicht wäre, wir wollten bey dem schönen Abend um die Stadt herum bey dem Einlaßthor nach Hause gehen, und indessen noch einige Zeit in der Tante Garten uns aufhalten. Das war ihr ganz Recht, und sie wies uns ihre liebe Einsiedeley, wie sie es nennte. Im Gehen wandte sie sich ungefehr um, und betrachtete [309] dann den Schatten ihrer Figur, mit einer etwas ernsten Miene. Ott nahm ihre Hand: »Liebe Tante, auf was sehen Sie?« – »Hier auf meinen Schatten; er dünkt mich das traurige Bild meines vergangnen Lebens zu seyn.« – »Aber sehen Sie nur, alle unsere Schatten sind so.« – »O, nein! der Umriß von den Eurigen zeigt die Frölichkeit Eurer Gebehrden und Eures Muths, so wie der meinige ein gebrochenes Herz und wankendes Leben anzeigt.« – Julie fiel hier recht liebenswürdig ein: »Ja, liebe Tante! Ihr zurückliegender Schatten sieht düster und jammernd aus, aber vor Ihnen sieht es helle. Ihre Brust wird von himmlischen Strahlen beleuchtet.« – Die Tante streichelte Juliens Backen: »Trostengel,« sagte sie, »Gott lasse Dich allezeit einen so erquickenden Gedanken für die trüben Tage Deines Ott finden!« – Wir küßten ihr alle drey, ungeachtet ihres Widerstands, die Hände. Sie segnete uns, und versprach für unser Wohl zu beten. Und nun gingen wir langsam, in uns gekehrt, den einsamen Weg hin. Als wir in die Allee kamen, deren Bäume schon meist entlaubt waren, schien der [310] Mond zwischen den Seitenhecken durch, und gab den gelben, auf den weißen Kieß zerstreuten, Blättern eine sanfte Farbe. Ott, der uns führte, blieb nach langem Schweigen stehen, sah uns beyde an: »Wie schön sind auch kühle Herbstabende, wenn man sie mit Liebe und Freundschaft genießt!« – Julie sprach: »Lieber Ott! ich denke, jeder Abend ist schön, wenn man den Tag mit der Tugend verlebt hat, wie wir heute gethan haben! Und, bey Ihrer daurenden Liebe wird mir auch der Herbst des Lebens, bey verwelkten Freuden, angenehm seyn!« – »Meine theure, schätzbare Julie,« sagte er mit Entzücken, »Ihre Tugend wird die welkenden Freuden unsers Lebens mit einem so sanften Lichte verschönern, wie der Mond diese abgefallene Blätter vor unsern Füßen färbt.« –

Dieses Gespräch war mir traurig süß. Denn ich konnte mich des aufsteigenden Wunsches nicht enthalten: »Ach, wenn der Geliebte meiner Seele hier wäre, und die Ruhe der Erde, und die alles Leiden besänftigende Strahlen des Mondes mit mir sähe! Wenn[311] ich in dem Ausdruck seiner geistvollen Physiognomie den nemlichen Grad von Liebe erblickte, die Julie in Otten siehet! Denn gewiß, meine Zärtlichkeit ist wie ihre!« –

So kamen wir nach Hause, voll seligen Tiefsinns, der die Tugend lieben macht.

[312]
47. Brief
Sieben und vierzigster Brief

Es ist gut, meine Mariane! es ist wohlthätig vom Schicksal, wenn es uns die Erfüllung kleiner Wünsche versagt, weil wir dadurch die freudigen und vergnügten Empfindungen der Seele versplittert genössen, und den erhabenen Reiz des großen Guten nicht mehr nach seinem ganzen Umfange fassen würden!

Schon lange begehrte mein Herz von der Vorsicht eine Erscheinung aus der schönen alten Welt, wo der Freundschaft, die sich zum Besten des Freundes aufopfert, Altäre gebaut wurden, und wo diese Bewegung der menschlichen Seele höher geschätzt war, als Liebe, weil sie edlere und schönere Thaten vor sich hat und hervorbrachte. Durch Sie, Mariane, bin ich mit jedem sanften, einnehmenden Zuge der weiblichen Freundschaft bekannt geworden. Sie haben alles für mich gethan, was Ihr edles Herz nach den Erfordernissen des meinigen thun konnte. Es giebt aber Fälle, in denen die Verfassung der bürgerlichen [313] Ordnung des Lebens unsere Neigungen beschränkt; so, daß sie nicht zu Handlungen werden können, und wo allein die Männer das große Vorrecht haben, von der Bewegung zum Entschluß, und von diesem zur That zu gehen. – Der Zufall, welcher gewiß, im Ganzen genommen, eine ungleich größere Anzahl guter, als schlimmer Sachen veranlaßt, hat mich vor zween Tagen auf den Platz gestellt, wo ich diese große Verschiedenheit unsers Wirkungskreises mit der Männer ihren ganz nahe und in dem schönsten Licht sehen konnte.

Herr G** that vor einigen Tagen den Vorschlag einer kleinen Jagd, die es, als Oberbeamter in R**, zu genießen hat, und bat die Uebenswerthe Familie und den Freund der ** dazu Madame G** nahm mich mit. Das Wetter war so schön, daß wir auf vier Tage da blieben, und uns aber, wegen Mangel der Zimmer, zu zwey und zwey, in Eines lagern mußten. Madame G** war bey mir. Madame ** und ihre Tochter wieder beysammen, und sodann Herr ** und sein Freund, gleich neben uns im dritten Stocke. Herr R** mit einem andern. – Wir waren alle sehr vergnügt. Nur den [314] zweyten Tag beym Frühstück bemerkte ich, nach einer kurzen Abwesenheit der Frau G**, daß ihre Stirne bewölkt war. – Ich blickte sie daher öfters an: sie sagte wir auch mit freundlichem Drücken meiner Hand, und sanfter, als jemals ihre Stimme war: »Rosalia! Ihre Augen fragen mich was; Sie sollens wissen, mein Schatz, sobald wir allein sind, denn es drückt mich hier!« (auf ihr Herz weisend)

Es war sieben Uhr des Morgens, als ein Theil der Gesellschaft gleich nach der ersten Zerstreuung des Nebels durch die Weinberge in das kleine Haasenwäldchen wallte. Madame ** ging mit. Ihre Tochter aber in ihr Zimmer, um sich ganz anzuziehen. Meine G** auf einen Augenblick in die Küche, und ich in unser Schlafzimmer, wohin sie kam und gleich anfing: »Rosalia! was ist Ihr Oheim für ein Mann? kann er einer Frau die überfließende Güte des Herzens vergeben? wäre er fähig, ihr ein Darlehn auf etliche Jahre zu machen?« –

»Liebe, liebe Madame G**, wie hastig thun Sie mir diese Fragen; und Sie sehen ja ganz unwillig dabey aus!« –

[315] »Vors Erste, mein Kind! ist mir sehr daran gelegen, es bald zu wissen; und dann, Rosalia! weis ich, daß die meisten Menschen die Züge des edlen, gütigen, großmüthigen Betragens gegen andre freylich gern erzählen hören, es mit Vergnügen in einer Geschichte lesen, entzückt davon reden; und dann, in der Gelegenheit, es selbst zu thun, durch die edelsten Ursachen zurück treten, und es von sich lehnen; freundschaftliche Bonde darüber zerreißen; aus einem brausendkochenden Kessel voll Sentiments, auf Einmal zum Eisklotz werden! – Ja wenn ich mein eigenes Herz nicht in mir schlagen fühlte, wenn ich meine W** nicht leibhaft, mit allen ihrem schönen bittern Kummer der Seele vor mir sähe; so glaubte ich selbst, daß Edelmüthigkeit und Menschenliebe Träumereyen der Poeten wären.«

»Was für ein trauriges Bild mahlen Sie mir, liebe Madame G**! Aber, leider ist jeder Strich wahr! – Sagen Sie mir die Ursache davon.«

»Die ist kurz gesagt, Rosalia: Meine theure, wenig gekannte, und oft mißhandelte W**, deren Empfindsamkeit ganz [316] für andrer Wohl und Uebel da ist, diese befindet sich in einer Bedrängniß, nicht durch Ausgaben der wollüstigen Tafel; nicht durch Weiblichkeiten des Putzes; nein! durch den, in der Ewigkeit schönen Fehler der überfliessenden Güte, Kummer und Elend von andern zu entfernen. Dies bat sie an den Rand eines unabsehbaren Jammers geführt, wo sie allein durch das Darlehn der kleinsten Summe von – – bis nach dem Tode ihres nächsten Verwandten gerettet werden kann. Ich bin elend,« fuhr sie mit Weinen fort, »sehr elend, daß ich es nicht thun kann! Sagen Sie, Rosalia, sagen Sie, würde Ihr Oheim mich darüber hören? Würde er darüber schweigen? Wärf' er nicht die würdige Leidende, und mich, und Sie, in die Korblake, wohin die Männer, in dergleichen Gelegenheiten, mit den Guten und Tugendhaften unsers Geschlechts zufahren, ohne sich zu sagen, daß sie ja alle, oft das Zehnfache, ohne Dank, und ohne Hoffnung der Rückgabe, verschwendeten!« –

»Liebe Madame G**, wie werth, wie unendlich werth wird mir Ihr Herz durch diesen Eifer, durch diese Thränen! Ich will [317] alles bey meinem Oheim versuchen. Er ist gütig; er ist rechtschaffen, und wenn er fehlt, so schweigt er doch; und dann schreibe ich an meinen C**; dieser ist gewiß so edel empfindlich, daß er meinem Herzen, und den verdienstlichen Leiden der Madame W**, diese Gefälligkeit erweiset. Wie viel Gutes thut er ohnehin! Er wird mich nicht umsonst flehen lassen.« –

»Aber, Rosalia! reden Sie mit Ehrerbietung mit Lobe von dem Herzen meiner lieben W**« – Hier ging sie von mir, nachdem ich sie innig umarmt hatte. Die vortrefliche Frau! wie unrecht geschieht ihr, wenn man, ihrer Lebhaftigkeit wegen, an ihrer antheilnehmenden Empfindsamkeit zweifelt! – Hierauf hörte ich im Nebenzimmer auf- und abgeben. Ich wurde besorgt, weil es männliche Tritte waren, daß einer von den zwey Fremden unser Gespräch gehört haben könnte! Und es war so. Denn kurze Zeit he nach kam Herr ** mit seiner edlen Gestalt, und einer vermehrten Bescheidenheit in seiner Miene, unter die Thüre meines Zimmers getreten. Die Bekräftigung meiner Sorge über sein Zuhören, machte mich erröthen, und er sah mich [318] mit einer Verlegenheit an, die ich nicht gleich begreifen konnte. – Ich war aufgestanden, und nach einigen Blicken auf die Erde, näherte er sich mir und sagte mit rührendem, aber männlichem Tone, indem er mich zu meinem Stuhl zurück führte: »Darf ich Sie bitten mich auf einige Minuten anzuhören?« – Ich etwas unruhig: »Ja ganz gerne!« –

Er fing an: »Ich will Ihnen, würdige Vertraute der vortreflichen Frau G**, nicht verhehlen, daß der Zufall mich das wichtige Gespräch hören ließ, worinn Sie beyde die Bedrängniß einer edlen Freundinn zu beben suchten. Möchten Sie mich nicht diesen Zufall benutzen lassen, und mir das Glück gönnen, den kleinen Vorschoß zu thun, der ihre Herzen aus der Verlegenheit zöge, worinn Sie sich befinden?«

Ich war verwirrt, verwundert, und konnte nichts, als: »O Herr **« sagen. Aber seine Stimme, seine Gesichtszüge, die Stellung, in der er mir dieses Anerbieten that, war der schönste vermischte Ausdruck von Edelmuth, Sorgsamkeit, Würde für sich, und Verehrung für meine Freundinnen: so, daß [319] der Eindruck davon alle meine Empfindung zu Thränen schmelzte. Ich sah ihn an; aber Zähren träufelten über meine Wangen. Er faßte meine Hand: »O, dieß sind gewiß die edelsten weidlichen Thränen, die ich jemals sah! Aber, theure Rosalia, ich habe Sie doch nicht beleidigt? Glauben Sie, daß mein Beweggrund, mir Ihnen zu reden und das Anerbieten zu thun, Ihrer Achtung nicht unwürdig ist: ich bitte Sie! lassen Sie mich ganz in der Stille Antheil an Ihrer gerechten Freundschaft für Madame W** nehmen, und erhalten Sie mir bey Madame G** die Erlaubniß, ihr diese Summe für die gute bedrängte Frau W** zu geben. Keine Seele soll es wissen! Der Kummer der Madame W** und der antheilnehmende Schmerz von ihnen beyden soll mir heilig seyn! Nehmen Sie mich nur in diesen Bund auf.« – Ich stund auf; ich drückte mit meinen beyden Händen die seinige, mit der er mich gefaßt hatte: »Gott segne Sie, würdiger, würdiger Mann! für diese edle Verwendung Ihrer Gewalt und ihres Vermögens! aber auch für die unaussprechliche Freude, welche Ihre Edelmüthigkeit mir [320] giebt. O, wie selten, aber wie göttlich schön, sind diese Züge einer erhabenen und gütigen Seele!« –

Hier kam Frau G**. Sie blieb stutzend stehen. Ich rief ihr aber zu: »Kommen Sie, und hören die schöne Ursache meiner Thränen und der Bewegung, in der sie mich sehen!« – Ich erzählte ihr alles: sie wurde bald blaß, bald roth. Endlich aber ergriff sie auch die eine Hand des Herrn **: »Die Vorsicht hat Sie in unsern Bund gezogen. Sie erhalten den Dank der besten Herzen dabey; und gewiß, schätzbarer Mann, verlieren Sie nichts. Ihr Glaube an weibliche Tugend und Rechtschaffenheit soll Sie nicht gereuen!« – Hier vergoß sie einen Strom von Thränen. Herr** wurde davon beunruhigt. Sie bemerkte es; und da sie sich etwas erholt hatte, sagte sie ihm: Sie wäre auf Einmal durch den Gedanken hingerissen worden, daß sie erst in dem Alter von etlichen und vierzig Jahren, nach so vielen Wünschen, so vielem vergeblichen Durchlesen der Bilder von Edelmüthigkeit, einmal die Hand eines Menschen fasse, dessen Seele jede kalte steinerne Hindernisse übersteige, um [321] uneigennützig Gutes zu thun. – Sie schrieb gleich an Madame W** die ganze Geschichte, mit Uebersendung der Summe, und diese antwortete ihr mit dem höchsten Gefühl der Verehrung, des Danks und der Freude, über den geleisteten Dienst. Doch, so groß dieser wäre, so hätte er ihr dieses hohe Maaß Freude nicht geben können; aber Glück und Ruhe aus der Hand des edelsten, besten Menschen zu erhalten, wäre für sie das, was ehemals die unmittelbare Absendung eines himmlischen Geistes gewesen, und sie danke der Vorsicht für die ausgewählte Hand, wie für die Hülfe selbst! – Sagen Sie, Mariane, war ich nicht glücklich, mich mitten unter diesen drey edlen Seelen zu finden? Geist, Güte, Edelmüthigkeit, in völliger Wahrheit und Wirksamkeit zu sehen! Wie selig ist das Gefühl, welches sich in unser Herz den Augenblick ergießt, in dem wir Jemand unsere Hochachtung geben! Güte, Wohlthätigkeit allein ist und kann das Gepräge des Ebenbildes unsers Urhebers in uns seyn. Es ist auch der einzige Zug seines göttlichen Wesens, den er deutlich und begreiflich vor unsere Augen und in unsere Herzen legte.

[322]
48. Brief
Acht und vierzigster Brief

Wie froh, meine Mariane, bin ich, über mein fühlendes Herz, das mich einen so wahren Antheil an den Leiden und Freuden meiner Nebenmenschen nehmen läßt! Und wie glücklich bin ich, während meinem Aufenthalte in dieser Stadt, wo mir so viele Gegenstände vorkommen, die meine Empfindungen in einer immer gleich starken und gleich reinen Bewegung erhalten! Sie wissen, daß ich mißvergnügt war, nach den vier ersten Prunktagen von Juliens Hochzeit nur Einen zu rasten, und den sechsten schon wieder zu einem Gastmahl und Tanz aufs Land zu reisen! Aber wie reichlich wurde ich schadlos gehalten! Nicht durch das Lachen der muntern Freude, oder durch das abwesende Bild von jetzigen und künftigen glücklichen Tagen, welche dieses Bündniß bezeichnen; nein, es war durch die süssen Thränen, der innigsten, tiefsten Rührung der Seele, bey der ich die Güte der Vorsicht aufs Neue erkannte, da sie jedem Gegenstande des Vergnügens eine unendliche [323] Mannigfaltigkeit gegeben hat. Wir waren nach dem Mittagsessen in den Baumgarten gegangen, in welchem, nach hiesiger Gewohnheit, eine Anzahl Bäume entweder einen runden ovalen, oder viereckigten Platz ausmachen, den man den Baumsaal nennt. Der Boden wird mit der äußersten Sorgfalt eben gehalten, und das Gras kurz geschnitten und gestampft. Zwischen zwey Bäumen eine Bank für vier Personen, dann zwey Bäume, etwas näher zusammen gesetzt, frey gelassen, weil man da in die Obstgänge spatzieren kann. Dann wechselsweise wieder Bänke und frey um den ganzen Saal; ausgenommen den Eingang, der ganz offen ist. Hier werden, während der Blüthe, und dann auch im Herbst, wenn das reife Obst an den Bäumen hängt, Tänze gehalten; mit dem einzigen Unterschiede, daß im Frühjahr jedes Mädchen und jeder junge Mann einen Strauß von Blüthe auf ihren Hüten träget, im Herbst aber so viel schöne Handkörbe beygebracht werden, als junge Leute da sind, die erst, so viel sie wollen, unter den vollen Zweigen tanzen, und dann jeder seinen Korb mit den schönsten Früchten zu füllen suchen; wo die jungen Mannsleute [324] selbst auf die Bäume steigen und für sich und ihre Tänzerinn dabey sorgen. Diese Körbe werden dann mitten in den Baumsaal gestellt, und ein Reihentanz darum gehalten. Auch, wann Mädchen dabey sind, die eine artige Stimme haben, Lieder dazu gesungen. Die ganze Obstlese aber wird erst den zweyten Tag hernach gemacht. Diese Gewohnheit gefällt mir ungemein! Es ist so viel Wahrheit und Einfalt der alten Zeit, mit Zierlichkeit und Kunst der Neuern verbunden! Jedes Alter hat seinen Antheil daran. Bey den ersten Tänzen sehen die Väter und Mütter zu; in die Reihen mischen sie sich öfters, und diese werden von den kleinern Kindern um ihre Körbgen auf der andern Seite auch gehüpft; so, wie auf einer dritten, bey der nemlichen Musik, auch Mägde und Bediente im Kreis lustig herum springen. Madame G** gab dieses Fest in dem schönen Baumgarten, den sie von ihrer Familie erbte, und ihn, wie sie sagt, wegen des grünen Saals, so lange sie lebt, behalten wird, weil sie sich darinn der süssesten Tage ihrer Kindheit und erwachsenen Jahre erinnert. Mir wird dieser Baumsaal auch unvergeßlich bleiben. Denn, als wir [325] eine Zeitlang Englisch getanzt hatten, so hieß es auf Einmal: Herr Kahn und seine Frau wären von ihrem Landguth herüber gekommen, um dem jungen Paare ihre Glückwünsche abzustatten. Ort und seine Julie liefen ihnen mit Eile entgegen. Wir waren alle stille, und ich bemerkte in Stellung und Mienen der meisten Anwesenden einen Ausdruck von Achtsamkeit des Herzens, wenn ich so sagen darf, und ein festes Blicken nach dem Eingange des Gartens. Man stellte sich auch in eine Art von sanfter Ordnung; so, wie etwas dergleichen zu geschehen pflegt, wenn in einer Gesellschaft eine Person von höherm Range angemeldet und erwartet wird; ausgenommen, daß hier keiner von den Seitenblicken, oder etwas von dem leisen Zischeln erschien, welche sich meistens bey der Ankunft eines unerwarteten, oder ungebetenen Gastes bey einem Theil der Versammlung zeigt. Madame G**, als Hauswirthinn, war ihnen auch entgegen gegangen, und ich konnte also niemand um den Aufschluß dieses kleinen Räthsels fragen. Endlich kamen sie, und mein staunendes Umgucken nahm zu. – Möchte ich nur, meine Mariane, den Eindruck ihrer [326] Figuren, wie sie von Ferne waren, und den, welche die moralische Stimmung ihrer Seele, bey ihrer Annäherung in ihren Gesichtern zeigte, recht beschreiben können! Ottens und Juliens schöne Personen kennen Sie schon. Diese waren, als Neuvermählte, mit den bunten Farben des Glücks und der Freude bekleidet. Herr Kahn, ein schöner junger Mann von vier und zwanzig Jahren, in einem hellgrauen seidenen Herbstzeug, mit silbernen Quastenknöpfen, sehr nett und zierlich angezogen; seine sehr edelgebildete Frau ganz weiß gekleidet, mit violetten Schleifen um den Hals, die Brüst, Arme und den Strohhuth, welches ihrer zärtlichen Gesichstfarbe und der süssen, ruhigen Traurigkeit, die in ihren Zügen lag, ganz reizend stund. Er hing am rechten Arm von Otten, und hielt mit seiner abhängenden rechten Hand seiner eigenen Frau ihre Linke, die sich mit dem rechten Arme an Julien anschloß. Gang und Haltung von allen war schön und edel! Wahre Freundschaft und Vergnügen, sich zu sehen, bey der Hand zu halten, war in jedem Gesichte. In Otten Spuren von Trunkenheit neu gefühlten Glücks; in seiner Julie, mit bescheidenem[327] Stolz, die Idee: Ich bin Ottens geliebte Gattinn! ich! und dabey noch der sorgsame Putz, immer gleich stark zu gefallen. Herr Kayn und sie, den ruhigen Ausdruck schon einige Jahre gewohnter Zufriedenheit. In ihm beobachtete ich etwas Wankendes der Schritte, und zu stark niederhängenden Kopf, mit beynah geschlossenen Augen. Frau Kahn machte uns allen eine sehr artige Verbeugung. Ort und Julie hatten beyde frey gelassen, und so bückte er sich auch. Jure besten Bekannten drangen sich um sie, und bewillkommten beyde. Ich sah sie erst wieder, da sie saßen, Otte vor ihnen stund und mit beyden ernstlich redete. Ich wandte mich zu Madame G**, die ich nach dem Zuge von Sonderbaren fragte, der seit der Ankunft dieser zwey Personen durch alles erschien? Sie antwortete: »Ich glaube es, gute Rosalia, daß Sie nicht wissen, was wir alle wollen! Mein Vetter soll es ihnen erzählen!« –

Ott kam eben auf uns zu. Sie sagte ihm meine Neugierde, und er versicherte, daß er mich gesucht hätte, um mir seine Freunde Kayn bekannt zu machen. Ich sagte ihm kurz alle meine gehabte Ideen. Er lächelte[328] etwas. »Wie schön mahlen Sie, meine Freundinn, und wie leid ist mirs, daß mein Kahn Ihre Physiognomie nicht sehen kann; denn, Rosalia, der edle, liebe Mann, ist blind!«

Ein tiefer Schmerz durchdrang mich, um so mehr, als ich von dem Platze, wo ich mit Otten redte, Kahn und seine Frau sehen konnte. »O, wie unglücklich ist das! Aber, wie kam es?«

»Aus einer elenden Ursache, Rosalia! Er war sechszehn Jahre alt, und wollte Abends seine Strumpfbänder losmachen, wurde über einen Knoten ungeduldig; will ihn mit einem spitzen Federmesser entzwey schneiden; dieses glitscht aus und gerade in ein Auge, das den Moment verlohren war, und die gewaltsame Vermundung, die schmerzhafte langsame Kur des einen Auges, hat die gänzliche Schwächung des andern nach sich gezogen.« –

Ich hatte meine Augen voll Thränen der Wehmuth, und Ott fuhr fort: »Glücklicher Weise ist, er Sohn des reichsten Hauses in unserer Grgend. Sein Vater suchte junge Leute aus, die ihm nach seiner Genesung vorlesen, Musik machen, und Gesellschaft [329] halten mußten. Er hat große Kenntnisse in allen Theilen der Philosophie und Historie, Sprachen, Poesie und Musik. Auf dem Clavier phantasirt er ganz ausnehmend, aber durch sehr melancholische Gänge und Auflösungen, weil er es am meisten in der Zeit übte, da nach der Heilung des verwundeten Auges ihm die Aerzte zugleich den gänzlichen Verlust des andern anzeigten. Auf dessen Erhaltung er immer gehoft, und sich über alle Schmerzen des erstern getröstet hatte! Nach der Zeit mengte sich Ausdruck der Zärtlichkeit darunter, als er lang Wünsche nach seiner Geliebten aus Bescheidenheit in sich verbarg. Sein Vater war drey Jahre abwesend. Erst nach dessen Zurückkunft eröfnete er der väterlichen Liebe sein Anliegen, und erst dann auch fragte er, ob die zwote Tochter des Herrn Puntig noch lebe und unverheyrathet sey? Die Versicherung über beydes war in vier Jahren der erste Augenblick Freude, die in sein Herz kam. Er hatte sie nur wenige Zeit vor seinem Unglück kennen gelernt, und durch sie das Erstemal Liebe gefühlt. Ihre Gestalt war in seiner Seele geblieben. Die Idee ihres ganzen[330] Geschlechts war für ihn allein mit ihrem Bilde verbunden. Jede poetische, oder mahlerische, und bildhauerische Beschreibung einer weiblichen Figur, war, in seinem Geiste, Lioba Puntig. Sein Vater willigte gleich in seine Wünsche, und versprach, das Mädchen so reich zu machen, daß sie sich sehr glücklich achten solle, seine Frau zu werden. Aber, mein guter Kahn wollte das nicht. Er wollte Liebe. Ich war damals von meinen Reisen zurück gekommen, und brachte alle Abende bey ihm zu. Denn wir waren von der Schule an Freunde gewesen. Ich gab mir alle Mühe, ihm einige Stunden zu versüssen; fand ihn aber meist tiefsinnig und traurig; doch war ihm meine Gesellschaft, wie er sagte, die liebste. Wie oft verließ ich ihn mit äußerstem Kummer! Wenn er mich mit Thränen und Seufzen umarmte, eine meiner Hände an seine Brust drückte, oder küßte, und dennoch niemals von seinem innern Weh mit mir sprach. Aber, nach der Unterredung mit seinem Vater, ließ er mich rufen, und fing an, mir für all meine Neigung und Güte für ihn zu danken. Er entschuldigte sein bisheriges Stillschweigen; [331] erzählte die Ursache, ohne seine Lioba zu nennen, und da er mir den Vorsatz seines Vaters bekannt machte, setzte er hinzu: er wisse, daß sein großes Vermögen ihm leicht eine Gattinn schaffen könnte, die ihre Eltern dazu verbinden, oder sein Gold locken würde. ›Aber, mein Herz will Liebe! Ach so viel, wie Du mich liebst,‹ sagte er; ›Du opferst mir so viele Monate, alle muntre Abendgesellschaften auf; Dein edles Herz nähert sich im Wohlthun, das Du mir beweisest; sag' mir, ich bitte Dich! liebest Du ein Mädchen in unserer Stadt? O, sag' mirs redlich!‹ – Seine Hand und seine Lippen bebten, als er mir diese Frage that, die allein aus der Sorge kam, daß ich ein Auge auf Lioba hätte. Ich versicherte ihn feyerlich, nein! Er umarmte mich: ›O, so stören meine Wünsche Dein Glück nicht, und Du bist den meinigen nicht hinderlich! Kennest Du Lioba Puntia?‹ ›Ja, aber nicht viel, denn sie soll melancholisch seyn, und läßt sich dahero nicht viel sehen.‹ ›Ach Gott‹, sagte er, ›vielleicht liebt sie einen Abwesenden, oder Untreuen! und doch kann ich nur mit ihr, nur durch sie glücklich [332] seyn!‹ – Er jammerte mich ungemein! Ich bat ihn, sich zu beruhigen, ich würde suchen, alles zu erfahren, was sie anginge. Er wollte, daß es noch den nemlichen Tag seyn mögte, weil er fürchte, sein Vater spräche morgen den ihrigen. Ihre jüngere Schwester ist an einen meiner Bekannten verheyrathet, und sie wohnen in Herrn Puntig Hause. Ich dachte gleich, ein melancholisches Herz hat allezeit was Edles in sich; und dann muß es das Mädchen freuen, daß sie von allen Gegenständen der sichtbaren Welt, und von ihrem ganzen Geschlechte, das Einzige ist, so in seiner Seele haften blieb, und Idee und Wunsch von Glück für ihn war. Ich redte gerad mit ihr. Ich nahm die Zeit, da ihre Schwester und Schwager ausgegangen waren. Schenkte der Jungenmagd ein schön Stück Geld, sie sollte die Lioba herauf bringen. Sie kam hastig, weil ihr das Mädchen gesagt es fehle dem Kinde ihrer Schwester Etwas! Sie erschrack, als sie mich im Wohnzimmer sah, und wollte gleich ins andre gehen. Das Mädchen sagte ihr aber, es wäre Nichts, als daß ich mit ihr sprechen wollte. Sie stutzte sehr und [333] war unwillig, daß das Mädchen sie mit dem Uebelseyn des Kindes erschreckt hätte! Ich war da zu ihr getreten, und faßte sie bey der Hand, weil sie wieder zu der Thüre hinaus wollte. Ich sagte: ›Es ist wahr, dem Kinde fehlt nichts; aber ich habe einen unglücklichen Freund. dem Ihr gütiges, mitleidiges Herz Trost geben könnte!‹ – Sie erröthete, und wollte ihre Hand wegziehen. ›Ein unglücklicher Freund von Ihnen, und ich? Herr Ott, was wollen Sie damit?‹ – ›Mein Freund Kahn ist gewiß unglücklich, und er möchte wissen, ob Lioba Puntig Mitleiden mit ihm hat?‹ – Hier fing sie an zu zittern und zu wanken. ›Herr Ott! Herr Ott!‹ stotterte sie. Sah mich starr an, und den Augenblick weinte sie heftig. Ich führte sie zu einem Stuhle und küßte ihre beyden Hände, ihr Schnupftuch und ihre Thränen. ›Tausend, tausend Dank, liebe Mademoiselle Puntig, für diese aufrichtige Bewegung Ihrer Seele! Es ist das Glück meines Kahns! Er liebt Sie, er betet Sie an; Sie, Ihre Liebe allein können sein Leben versüssen!‹ – Sie wandte sich um, lehnte ihren Kopf, mit dem Schnupftuch [334] vor den Augen auf den Stuhl, und hielt mit der andern zitternden Hand die meinige fest. Nun erzählte ich ihr kurz alles, was meinen Freund anging. Sie weinte stark, aber sanft. Endlich trocknete sie ihre Augen und suchte was in ihrem Schubsack; es war ein kleines Calenderchen von vier Jahren her, auf dessen vordersten weißen Blättchen ihr Name ausgeschnitten war. ›Da sagen Sie Herr Kahn, dies wäre das einzige und erste Kennzeichen seiner Freundschaft für mich gewesen, und ich hätte es mit zärtlicher Liebe bewahrt, und seit dem Leiden seiner Augen ist kein Tag vorbey gegangen, wo ich es nicht mit meinen Thränen benetzte! Wenn die reinste, innigste Liebe und Bedauren sein Glück machen kann: so wird er es in diesem Herzen finden.‹ – Hier wies sie auf ihre Brust. Und nach einigen Minuten sagte sie: ›Herr Ott! Sie haben mich überrascht; ich sah auf einmal alle meine Geheimnisse und mein Wohl in Ihren Händen! Ich bin aufrichtig, ich konnte mich nicht verbergen; ich überlasse Ihnen alles.‹ Ich eilte zu Kahn, den ich mit dem Fieber des Verlangens auf seinem Bette antraf. [335] Der gute Mensch wußte sich nicht zu fassen, und brachte seinen Vater noch des Abends zu Herrn Puntig. Ich führte ihn zu Lioba ins Nebenzimmer. Er konnte nicht reden. Sie eilte zu ihm: ›Ach Kahn! mein werther Kahn!‹ – und hier hatte sie seine beyde Hände an ihre Brust gedrückt, ihre zärtliche Blicke auf die geschlossenen Augen von Kahn geheftet; ein Strom von Thränen floß auf seine Hände. Er sank auf seine Knie: ›O, Gott sey Dank, diese Thränen sind Liebe!‹ Er küßte sie von seinen Händen weg. Lioba kniete hin bey ihm. Ich ging und sah noch an der Thür, daß sie seinen Kopf an ihr Herz drückte, während ihr schönes Auge bittend gen Himmel erhoben war. Nach einer guten Stunde kamen die Eltern und gaben Willen und Segen zu dem Bündniß. Von da an ist mein Freund ruhig, freudig und gesund. Sein Umgang und Unterredungen munter und voll Scharfsinn. Sie sollen mit uns, wenn wir Sie besuchen; und, gewiß, Ihr Geist und Herz werden sehr zufrieden seyn! Es ist unmöglich, ein vollkommners Bild wahrer Liebe und reiner Zufriedenheit zu sehen, [336] als Kahn und Lioba! Alle Welt schätzt sie hoch, und ihr Landhaus ist der Wohnsitz jeder edlen Anmuth des Lebens.«

Ich weiß nicht, Mariane, was diese Erzählung auf Sie wirkt; aber ich war in süsser Wehmuth zerflossen. Wir kehrten langsam zurück, und fanden den vortreflichen jungen Mann, mit der Flöte in der Hand die Musik zu den Tänzen accompagniren. Bey den Reihen um die Obstkörbe schloß er sich mit an. Seine zärtliche Lioba tanzte mit. Ott hatte mich ihr als die beste Freundinn seiner Julie vorgestellt, und beyden versprochen, daß sie mich in Kahnberg kennen und lieben würden.

Herr Kahn horcht sehr genau auf den Ton der Stimme. Es dünkte mich auch, daß er nach dem Lobe, so Ott von mir machte, mich ganz besonders belauschte, und sie hingegen auf meine Miene und Wesen Achtung gäbe. Hätten sie nur beyde merken können, wie viel Antheil ich an ihnen nahm! Denn, jedes Gefühl von Vergnügen, das meine Augen, durch die von der Abendsonne vergrößerte [337] Schönheit des Gartens und der Gegend umher genossen, der Anblick lauter frölicher Menschen, führten mich auf die Idee seines Verlustes zurück: und dann sah ich, daß das Auflehnen seines Herzens auf die Liebe seiner Frau, alles, alles für ihn war, und das Glück seiner Empfindungen und Kenntnisse verdoppelte. Ach, wie viel kann ein Mensch für den andern seyn! Und wie viel sind Sie mir!

[338]
49. Brief
Neun und vierzigster Brief

Ich bin vier Tage in Kahnberg gewesen, und hier hat mir Ott eine Probe seiner wahren Achtung für mich, und seiner feinen Empfindung für das Vergnügen seiner Freunde gegeben. Das Erste, weil er mir bey dem Aussteigen aus unsere Kutsche sagte: »Nun, Rosalia, kommen Sie in eine Gesellschaft, die allein für Sie ist! Lauter aufgeklärte edle Empfindungen des Herzens!« Madame Kahn war mit ihrem kleinen Sohn unten an den Stiegen und umarmte Julien und mich ganz herzlich. Ott war voraus, um seinen Freund an seine Brust zu drücken. – Das Haus ist nicht groß, aber sehr artig; hat auf einer Seite, so breit es ist, einen offenen auf Säulen gestützten Saal, dessen Fußboden der mit vieler Mühe geebnete und polirte Felsstein des Bergs ist, der just allein an dieser Ecke zu finden war; denn das Uebrige alles ist ein sich weit erstreckender fruchtbarer Hügel. Dieser Saal ist mit einem schön gehauenen Steingeländer eingefaßt, welches zwischen [339] den Säulen hinläuft, denn außerhalb ist keine Spanne breit Platz gegen den jähen Abhang des Felsens. Vom ersten Stockwerk geht aus dem Hauptzimmer wieder ein Balcon heraus, der an sich die Decke dieses untern großen Saals ausmacht. Alle die schöne und große Aussicht von hier ist aber für den liebenswürdigen Besitzer verlohren! Die Zimmer sind alle mit Geschmack eingerichtet; aber nirgend kein Gemählde; hingegen in allen schöne Abgüsse der besten Statuen, Brustbilder und Vasen der alten Zeiten, und alles Geräth und alle Verzierungen von den schönsten und mannigfaltigsten Formen, weil der gute Herr Kahn den Begriff und das Vergnügen von Ehenmaaß und anmuthiger Gestalt allein durch das feine Gefühl seiner Finger erhält. Die große Ordnung und Reinlichkeit in allem, Unterhaltung und Versorge ist die Arbeit seiner Lioba. Er hat zwey große Zimmer, worinn lauter Modelle von hunderterley Sachen und Erfindungen sind, die er sich kommen läßt, untersucht, vergleicht, beurtheilt, und über die Beschreibung ihres Nutzens oder ihrer Schönheit mit vielem Geiste spricht. Von Pflanzen hat er eine große Kenntniß, aber [340] Sie können nicht glauben, wie viel ich dabey litte, als ihm ein ganzer Korb voll Blumen, Gemüse Baumblätter und kleine Zweige gebracht wurden, die er aussuchte und mit unendlicher Feinheit befühlte, nannte, und auf einem großen Tisch in Linien nach der richtigsten Ordnung legte. Er besorgte die Blumentöpfe, die unter den Spiegeln stehen, und ich versichre Sie, daß er sie in einer sehr reizenden symmetrischen Vermischung aufstellt; die Blätter und Köpfe der Blumen so artig wendet, als je ein Frauenzimmer ein Bouquet an ihrem Busen, oder ihrem Kopfe, mit Grazie und Leichtigkeit anbringen könnte!

Bey diesen Statuen und Vasen war ich glücklich. Sie wissen, daß ich Winkelmanns Geschichte der Kunst mit so viel Eifer gelesen habe, und immer den Wunsch hatte, einige der großen Meisterstücke der Bildhauerey zu sehen. Ott hatte bey verschiedenen Anlässen diesen herrschenden Geschmack bey mir bemerkt. Er wußte auch, daß sein Freund Kahn vorzüglich die Annehmlichkeiten der Formen liebte. Wir waren des Rachmittags zum Evffeetrinken in dem Garten, wo in einem schönen runden Tempel die Statue der mediceischen Venus [341] steht, und in der Nähe dieses Tempels verschiedene Urnen nahe an Grasbänken ausgetheilt sind. Ott erblickte eine davon die ihn an diejenige erinnerte, auf welche Julie, auf der Hochzeit ihrer Schwester, die rührende Aufschrift gemacht, und sein Herz erobert hatte. Diese Erinnerung kam so lebhaft in sein Herz zurück, daß er mit großer Zärtlichkeit seine Julie rief, an die Urne führte, um diese einen Arm, und den andern um seine Frau schlang: »Julie! Sieh, dieser Aschentrug gleicht dem, bey welchem ich Deine schöne Seele ganz kennen lernte!« – Hier drückte er Julien an sein Herz und küßte die Thränen von ihrem Auge, welche die Freude über ihres Orten Liebe aus ihrem Herzen gebracht hatte. Wie glücklich sah sie ihn an! »Mit so viel Güte denkst Du daran, mein Ott! Weißt Du aber auch, daß Du mir, bey der nemlichen Urne, ewige Liebe versprachst?« – »Ja, mein Kind! Dir, und der Tugend! Ich werde sie mit gleicher Treue halten.« –

Kahn, seine Frau und ich, saßen auf der Rasenbank, nah dabey; sie horchten mit mir mit Rührung zu. »Mein Ott ist also auch [342] glücklich!« sagte Kahn, und küßte die Hand seiner Lioba. »Ganz gewiß,« fiel ich ein; aber ich muß Ihnen, fuhr ich fort, »den Ursprung dieser zärtlichen Unterredung erzählen!« Und, da Ott und Julie mit einander in der Allee auf mein Winken fortgingen, machte ich Herrn Kahn und seiner Frau die Beschreibung der Historie bey der Urne. Beyde wurden dabey bewegt und segneten nochmals das Bündniß ihrer Freunde. Kahn wollte gleich zu der Urne, um sie besonders zu merken. Seine Frau machte ihm Platz, er betastete mit äußerster Achtsamkeit jeden ihrer Theile; endlich stützte er sich auf sie, und einige Auganblicke hernach fielen ein paar Zähren auf sie herunter. Lioba verließ mich, mischte diese Thränen von seinen Wangen: »Kahn! mein Lieber, was ist dieses?« »Ach Lioba! der Gedanke, daß ich nichts von dem lesen kann, was dein edles Herz irgend geschrieben hätte.« – »Ach, Duweißt, daß ich seit dem Tode meiner Eltern niemand schreibe! und das Beste, so meine Seele denkt, ist, für Dich und mit Dir zu reden.« Er lächelte hier, und sagte ziemlich munter: »Ich hab eine Idee! Diese Urne soll einen eigenen Platz in [343] unsern Garten haben. Ottens, Juliens, Dein und mein Name sollen darein gegraben werden, und auch Grasbänke dazu kommen, wohin wir uns in Erinnerung ihres Besuchs und ihrer Freundschaft setzen wollen.«

Ott und Julie waren leise über den Grasboden zurückgekommen und hörten dieses, sagten auch zugleich, das freue sie sehr! aber mein Name müsse auch dazu. Nun folgte ein Gespräch über das verschiedene Verdienst des Mahlers und Bildhauers. Ott neckte mich ganz fein und widersprach mir, bis ich am Ende, mit allem Feuer und Stärke meiner Empfindung, auf seine behaupteten Reize der Täuschung des Mahlers sagte: »Freylich ist es Täuschung! denn wenn die Aehnlichkeit der Abbildung meines Freundes mich so an ihn erinnert, daß jede Gesinnung meiner Seele für ihn so lebhaft wird, daß ich aufstehe und ihn umarmen will: so treffen meine ausgestreckten Hände auf ein Stück senkrechtes glattes Leinen, glitschen davon ab, und mein ihm entgegen gewalltes Herz, anstatt sich an seinen Busen zu schwingen, verschließt sich traurig in meine Brust zurück; alle Thränen der Liebe und Freundschaft fließen [344] davon ab, zur Erde; anstatt, daß die Bildsäule meines Geliebten, ja selbst die Urne, welche seine Asche faßt, mir die Seeligkeit gewährt, meine Arme darum zu schließen, meinem Kopf an seinen Hals zu legen, mein Herz an seine Brust zu drücken, und in einer Falte des Gewands, einer Muskel seines Gesichts, oder auch auf einem Cypressenblatte des Aschenkrugs, eine aus meinem Herzen gequollene Zähre ruhn, und sich mit vereinigen zu sehen! Sagen Sie Ott, sagen Sie! giebt es nicht Tage, wo dieses Genuß der Seligkeit wäre? wogegen Sie alle Titiane und Raphaele geben würden?« – Ott lächelte nur; aber Kahn war aufgestanden, und reichte mit der Hand gegen den Platz, wo ich saß, und sagte gerührt: »Edle! eifrige Rednerinn des Gefühls der Seele, geben Sie mir ihre Hand zu küssen, ich bitte Sie!« – Ich ging zu ihm, gab ihm meine Hand und drückte sanft die seinige. Etlichemal küßte er meine Hand, bog sie gegen sein Herz, erhob einen Moment seine Augäpfel gen Himmel, wo er selbst einer seufzenden Statue glich; denn sie sind weiß überzogen. Dann setzte er sich, faßte den Arm seiner [345] Lioba, und sprach zu Ott: »Meine neue Freundinn hat mich mehr getröstet, als Du, mein sonst so treuer Ott! Denn sag', was hätt ich auf Erden was wäre das Leben für mich, wenn ich nicht meiner Lioba Arm umfassen, und an ihrer Brust mich lehnen könnte? Aller Reiz des Lichts und der Farben ist für mich hin! Meine Kinder! Ach, wenn ich diese nicht auf meinem Schooße, an mein Vaterherz drücken könnte! Dich selbst, mein Ott, es wäre mir nicht genug, nur den Laut Deiner Stimme zu hören, um Dich zu unterscheiden.« – »Also,« sagte Ott, indem er seinen Kahn mit der herzlichsten Liebe des männlichen Freundes umfaßte, »also ist der Bildhauer der Künstler für unser Herz, und der Mahler für den Verstand! Und ich habe dem Manne und dem Frauenzimmer, die ich beyde gleich hochschätze, durch meine Widersprüche das Vergnügen gegeben, sich nach ihrem Herzen kennen zu lernen.«

[346]
50. Brief
Funfzigster Brief

Zwey Familien, deren Landgüther etliche Stunden weit von hier entfernt sind, haben sich wieder in die Stadt begeben, und dadurch bin ich mit vier Personen bekannt worden, die mir sehr schätzbar sind. – Ein würdiger Mann von funfzig Jahren, der in einem großen, dem Fürsten gehörigen Dorfe, vier Bauerhöfe besitzt. In der Nähe dabey ist ein großer Wald; Eisenbergwerke und ein Bad, zu seiner abwechselnden Belustigung. Aber das ganze Maaß seines Gefühls und aller seiner Achtsamkeit ist für das Rutzhare und Schöne der physikalischen Welt. Stadtleute, ihrer Beschäftigungen und Vergnügen, sind ihm gleichgültig, wohl gar widrig, wenn sie sich zu nah an ihm drängen. Ich gewann seine volle Freundschaft, als ich mit vieler Aufmerksamkeit der Erzählung seiner ländlichen Freuden und Arbeiten zuhörte. Ein Bauer ist ihm das schätzbarste Geschöpf auf der Erde. Und dieser Enthusiasmus ist eine Quelle von Glückseligkeit für die umliegenden [347] Landleute geworden. Er macht sie nicht gelehrt; er führt sie nicht über die Gränzen ihrer Bestimmung, um ihnen fremd Land zu weisen, wo sie mehr, als Zufriedenheit und Nothdurft haben könnten: nein, er redet ihre einfache bedeutende Sprache; zeigt ihnen die Achtung, die er für ihre arbeitsame Hand in seinem Herzen hat; und übt auf seinem Landguthe jede dieser Handarbeiten selbst. Er hat sich die Kenntniß des Erdreichs, der Pflanzen, Bäume und Erze eigen gemacht, und kann daher den Bauern des Kornlandes zu mehrerer Benutzung ihrer Acker und Wiesenstücke helfen; und den Weingärtnern zu besserer Besorgung des Rebstocks und der Obstbäume. Er hat es aber mit der äußersten Menschenfreundlichkeit anzufangen, und sie nicht mit der Miene des Besserwissens und Tadelns zurück gescheucht, sondern gesagt, es wäre ihm erzählt worden, daß in dieser Gegend diese Versuche sehr gut gerathen wären und so viel Nutzen daraus gekommen sey. Er machte die Proben zuerst, legte sich meist auf Abkürzung und Erleichterung der Arbeit, ob er sie schon unter der Hand in vielfache Aeste verbreitete. Er selbst streute im Spatziergehen Heu- [348] und Kleesamen auch vernachläßigte Plätze der Gemeinde- oder Bauernwiesen; befreyte die Obstbäume von Moos; pfropfte gute Zweige darauf, zog dann vielerley Dünger, nahm den neu erfundenen auf welchen die Landleute kein Vertrauen hatten, für sein Feld und Gärten: und schenkte indessen den armen Bauern den Ueberfluß des bekannten; sorgte für die Kranken, für die Schulkinder, und ließ diesen von Jugend auf den höchsten Grad der Liebe gegen ihren Schöpfer und der Reinlichkeit einflößen. Umliegende Beamte suchte er zu seinen Freunden, um sie zu wohlwollenden Vorstehern der ihnen anvertrauten Unterthanen zu machen. Sein Anblick ist für den ganzen Umkreis seines Gutes eine Wohlthat, und er war es auch für mich! Von dem Augenblicke an, da ich seine Geschäftigkeit im Wohlthun kannte, und die Anzahl der Leute seines Standes berechnete, wovon immer hundert in den Städten wohnen, gegen einen auf dem Lande: so fand ich gar nicht übel, daß Einer eben so viel mit Leib und Seele dem Landleben ergeben ist, wie die neun und neunzig andern dem Gewühle der Stadt! Was soll auch ein, so ganz vom Wohlwollen überfließendes [349] Herz für einen Wohnplatz suchen, als den, wo die meisten Wesen mit ihm sympathisiren? jedes Grashälmchen, jede Aehre, und Pflanze, jeder Obstbaum und Weinstock, führt Wohlthätigkeit in den kleinsten Safttheilchen bey sich; Luft und Wasser haben es auch, weil sie reiner sind als in den Städten, so daß, wenn das Auge des wohlwollenden Menschen über die Fluren hinschaut, seine Seele in dem nemlichen Augenblick das innige Vergnügen fühlt, lauter gutthätige Geschöpfe zu erblicken. Reine, vollkommene Freuden, die er in der Stadt nicht gefunden hätte, weil da das Glück und die Bedürfnisse nicht mehr einfach sind, und also auch durch verschiedene Wege erlangt werden müssen, und meistens diejenigen, welche voraus gehen, oder die andern durch geschickte Nebengänge übervortheilen, unmöglich als wohlmeinend angesehen, oder geliebt werden können! Herr B** kommt auch sonst allezeit erst im halben November in die Stadt, und eilt am Ende des Februar wieder zurück, um den Anfang des Frühlings nicht zu verlieren; weil, wie er sagt, auf dem Lande jeder Busch und jede Staude ein fröhliches Aussehen über die wiederkommende [350] Kraft der Sonne hätte, Menschen und Thiere dankbar neues Leben und Wonne fühlten; und ihm die kaltsinnigen Gesichter der Städter, womit sie dem verjüngten Jahr entgegen sähen, unerträglich wären, weil sie die Freuden, welche diese schöne Jahrszeit verspreche, nicht als Wohlthat, sondern gleichsam als schuldige Abgabe der Natur annehmen. Seine Frau gehört in die Classe derer von dem Charakter der Madame G**. Eine Probe davon mag die artige Wendung geben, die sie letzt, bey einer Unterredung von Spiegeln, einem Gedanken gab, da wir jungen Frauenzimmer uns die Beschreibung von einer Glas- und Spiegelhütte, und deren Verfertigung von dem Herrn B** ausgegeben hatten. Sie scherzte über unser andächtiges Zuhören, und sagte, sie wäre sicher, daß wir den ersten Spiegelschleifer in unsern Herzen segneten, weil der liebe Mann der Stifter aller der süssen Stunden sey, die wir unsern artigen Gesichtern widmeten! Sie aber sie hätte ohnlängst die Entdeckung des moralischen Verdienstes ihres Spiegels gemacht, dem sie in unsern Jahren auch jede äußerliche Verzierung zu danken gehabt; von dem sie aber nun alle Tage die freundliche Erinnerung erhielte, [351] daß jetzo Weisheit und Reinlichkeit allein den gesellschaftlichen Werth ihrer Person bezeichneten, ja, daß er ihr letzt, bey aufkeimenden zu, zärtlichen Gesinnungen für einen liebenswürdigen Mann, ganz derbe gesagt hätte: Liebe und Grazien wohnten sehr gerne in schön geworfenen Falten eines Kleids, oder Halstuchs, aber nimmermehr in den anfangenden Runzeln eines verjährten Gesichts, Sie hätte auch, seit demselben Augenblicke ganz bescheiden die Verzicht auf alle Ansprüche des Gefallens unterschrieben.

Der muntre, und dabey sanfte Ton, mit dem sie dieses sagte, hatte uns gefreut. Julie U**, die eine nahe Verwandtinn von ihr ist, küßte ihre Hand und sagte: »Sie werden jetzund aber durch die Verehrung schadlos gehalten, die beyde Geschlechter für Ihren Charakter haben!«

»Ja, meine Julie! dies ist ein großer Ersatz, wenn unser Herz uns des Zeugniß giebt, daß wir Verehrung verdienen, weil es das Höchste ist, was ein Mensch dem andern geben kann; denn, ich glaube, wir gebrauchen diesmal den Ausdruck nicht, wie er in Ansehung der Großen und Mächtigen [352] aussieht, sondern, wenn ich jemand von meinem Stande Verehrung beweise: so muß sie durch das vorzügliche Verdienst des Geistes und der Tugend erworben seyn. Und dann, liebe, artige Märchens! ist es gewiß der schönste Augenblick des Lebens, diese Gesinnung in der Seele meines Nebenmenschen erweckt zu haben. Ich wünsche.« setzte sie mit einer Verbeugung gegen uns alle hinzu, »daß in neunzehn Jahren ein eben so gefühlvolles Mädchen, wie unsere Julie ist, Sie meine jetztblühende Freundinnen, der Verehrung ihrer Zeitgenossen versichern möge!« –

Mich deucht, diese Frau hat die Gabe, ihren Umgang liebreich und angenehm für junges Frauenzimmer zu machen. Ihre siebenzehn Jahr alte Tochter war mit bey uns, Diese hat auch einige bedeutende Züge in ihrem Thun und Wesen. Zum Beweis, sie spielt Clavier; hat aber ihren ganzen Fleiß allein auf den vollkommensten Ausdruck und Nettigkeit des Andante verwendet, worin sie auch bis zur zauberischen Rührung gekommen ist, indem sie jetzt schon entweder die süsseste Schwermuth, oder die sanfteste Seelenruh in [353] ihre Zuhörer bringt, und die außerordentliche Fertigkeit ihrer Finger nur in einem Laufe zeigt, den sie am Ende eines Adagio anschließt, eh sie es das zweytemal wiederholt. Denn, nachdem hört sie nur durch eine Art von Seufzer auf, und läßt einem das ganze Gefühl, so sie gab. Sie hatte bisher auf dem Landguth ihrer Eltern die Obsorge für die Blumen und wohlriechenden Kräuter; die Tauben- und Hünerzucht stund auch unter ihr, und das Confect. Nun aber bekommt sie auch künftiges Jahr den Gemüsgarten, Kenntniß der Obstbäume, Küchenaufsicht, nebst der Spinn- und Weberey, mit der ganzen Weißzeugkammer zu führen. Kann sich hingegen von ihren Eltern verschiedene Geschenke ausbitten. Die Geschichte hat sie mit ihrem ältern Bruder gelesen, und der Caplan des Orts lehrt sie der Frau Unzerinn Weltweisheit für Frauenzimmer, und Moral, nebst der Englischen Sprache. Den Winter über bekommt sie in der Stadt Unterricht im Zeichnen, Tanzen und Frauenzimmerputzarbeiten; und hier nimmt auch ihre Mutter den Vorrath von schönen Büchern mit, die dann bey den Frühstücken und an Regentagen gelesen werden. Wilhelmine B** [354] wird, ohne besondre Schönheit, eine der reizendsten Personen unsers Geschlechts. – Aber, sie bittet das Schicksal auch um einen Landmann. Denn das erste Gefühl von Freude und Schönheit der Natur ist ihrer Seile in einem in voller Blüthe stehenden Baumgarten gegeben worden, worinn ein zahmgezogenes Huhn und ein Schäfchen, auf dem nehmlichen Teller, Brod und Milch mit ihr aßen. Der Ort, wo von ihr gepflanzte Rosen und blaue Holderstücke aufwachten wo sie, an der Seite ihrer Mutter, kranke Frauen und Kinder besucht und erquickt hat, wo sie ihre Eltern segnen hört, muß der gewünschte Wohnsitz ihrer Glückseligkeit seyn. – Einmal, meine Mariane! einmal möchte ich diese Familie mit Ihnen und dem Freunde meines Herzens auf einige Tage besuchen! Aber, die besten, die edelsten, oft leichtesten Wünsche, werden am wenigsten befriediget. Wissen Sie es, warum nicht?

[355]
51. Brief
Ein und funfzigster Brief

Ich habe die letzten Tage allein mit meinem Kopfe zugebracht, und seitdem noch eine sonderbare Bekanntschaft gemacht. Unser Ott erzählte, daß die fremde Frau, die in den Vorstadt wohnt, sich eines von den zwey neuen Häusern an der Mauer gekauft hätte, von dem sie den untern Stock zu einer Schule der Vorstadt einrichte, wozu sie sich von dem Magistrat die Erlaubniß ausgebeten. Bey allen armen da wohnenden Handwertsleuten habe sie Arbeit bestellt, und bey den geschicktesten davon arme Lehrjungen aufgedingt, wofür sie ein gutes Lehrgeld bezahle, um auf diese Art den Leuten wieder aufzuhelfen, und ihre Kinder aus dem jetzigen Elend zu reißen und vor dem künftigen Verderben zu bewahren. Von dem Magistrat habe sie sich ausgebeten, daß in zwey Jahren Niemand weiter in die Vorstadt ziehen dürfe. Ihren Stand und Herkommen wisse man nicht; aber Amsterdamer Kaufleute hätten ihr an die besten hiesigen Häuser offene Wechsel gegeben. – –

[356] Urtheilen Sie nach der Kenntniß meines Charakters, was diese Erzählung auf mich würkte, und wie begierig ich wurde diese Frau auch nur von ferne zu sehen. Glücklicher Weise hatte ich meinem Schuhmacher, der in der Vorstadt wohnt, schon lange versprochen, sein Kind aus der Taufe zu heben. Dies geschah vor einigen Tagen. Ich ging daher in sein Haus, wo ich die Wöchnerinn, die vier ältern Kinder und das nöthige Hausgeräth in der größten Ordnung und Reinlichkeit antraf. Dieser Anblick freute mich so, wie er mich in Erstaunen setzte. Der Mann merkte es und sagte: »Sie wundern sich, daß alles so schön und gut ist, weil sie mich immer als einen armen Mann gesehen haben. Aber die fremde Frau hat schon etliche Haushaltungen so eingerichtet. Sie ist selbst herumgegangen, hat alles durchsucht; was zerbrochen war, ließ sie durch unsere arme Handwerksleute ausbessern, was am nöthigen Hausgeräth mangelte, kaufte sie uns, kleidete die Kinder, ließ alles sauber putzen und waschen, hernach gab sie mir und meiner Frau die Hand, und wünschte, daß wir glücklich leben möchten. Alle Leisten, Leder [357] und was mir fehlte, hat sie mir auch geschaft. Gort verhelt ihrs!«

Die Frau im Bette weinte Thränen der Freude, während ihr Mann erzählte und fing an, halb schluchzend zu sagen: »Ja, das ist alles wahr. Mir hat sie Leinen und Betten gegeben, auch Flachs und Hanf zum Spinnen. O, wenn ich leben bleibe, so kann ich jetzt als eine recht brave Bürgerfrau stehen, und auch meine Mädgen dazu ziehen. Sie wollte meine Gevatterinn werden, aber ich sagte, daß wir schon eine so gute fremde Jungfer dazu hätten. Da sagte sie: ›Die behaltet Ihr; ich kann Euch sonst Guts thun.‹ Sie ließ die Hebamme kommen, und gab ihr Geld, und redete ihr zu, recht wohl für uns arme Weiber zu sorgen. Sie war heut schon bey mir, und freute sich, daß ich so gesund bin.«

Ich saß da gerührt, verwundert. Was für einen Werth giebt diese Frau dem Gelde, dachte ich, und wurde immer begieriger, sie selbst zu sehen. Als ich von der Taufe zurück kam, war sie im Hause, um zu verhindern, daß die Wöchnerinn durch die häßliche Gewohnheit des Kindtaufschmauses nicht Gefahr.[358] liefe, krank zu werden, und versprach den sechs Weibern, die mit zur Kirche gegangen waren, ihnen am Ende des Wochenbetts einen recht vergnügten Tag zu machen. Diese gingen also fort, und ich kam mit der Hebamme und dem Manne allein in die Stube, wo ich die Fremde sitzen sah. Ich hatte an der Thür mein Pathgen auf den Arm genommen, und übergab es seiner Mutter, mit der Bitte, es wohl zu erziehen, und der Versicherung, daß ich meine Pflichten gegen dasselbe getreu erfüllen würde. »Denn,« sagte ich bewegt gegen die Fremde, »für dieses Kind müssen Sie mich auch was thun lassen!« – »Sehr gern,« antwortete sie; »denn ich kenne das Vergnügen des Wohlthuns zu sehr, um Jemand dessen zu berauben.« – Hiebey sah sie etwas nachforschend mich an. Ich schlug stillschweigend meine Augen nieder. Einige Momente darauf fing sie auf Französisch, aber mit einer gedämpften Stimme an zu sagen: »Sie sind auch fremd hier?« – »Ja! aber nun beynah nicht mehr, weil ich so viele Bekanntschaften gemacht habe.« – »Sind auch Freundschaften darunter?« – »Nur zwey, welche diesen ehrwürdigen Namen [359] verdienen.« – »Das ist mir leid,« sprach sie, indem sie mich einen Augenblick fest ansah, dann den Kopf etwas niedersenkte, und zugleich eine Miene, und mit der rechten Hand eine Bewegung machte, die den Ausdruck anzeigte: Es mag seyn; dann vor sich hin, im Englischen: »Dieses kleine Wölkchen mag sich mit den übrigen vereinigen, die meine Tage verfinstert haben.« Ich faßte Herz, sie etwas fragend anzusehen. Sobald sie es bemerkte, sagte sie: »Stoßen sie sich nicht an meinem Wesen. Ich habe bey Ihrem Anblick einen Zug zu gesellschaftlicher Verbindung gefühlt. Die Idee, daß Sie fremd sind, stärkte meine Hoffnung, aber Ihre Verhältnisse nehmen mir diesen Schimmer von Freude wieder. Ich will Sie nicht von bekannten Gütern abziehen, um Ihnen Geschmack an etwas Sonderbarem zu geben, und die Bedürfnisse meines Herzens sind zu groß, um durch einen kleinen Theil vergnügt zu werden; und dann will ich auch Ihren ältern Freunden nichts nehmen.« – Ich fiel hier ein: »Glauben Sie aber nicht, daß dies, was Sie mir sagen, meiner Seele Ihre nähere Bekanntschaft [360] nöthig macht?« – »O! so vergeben Sie mir meine Unvorsichtigkeit,« sagte sie mit einer ganz edlen Bewegung gegen mich. »Gott! diesen Leuten hier suche ich körperliche Uebel zu erleichtern, und Ihnen, fühlbares Geschöpf, gäbe ich Leiden der Seele!« – »Es freut mich unendlich, daß Ihr großmüthiges Herz dies empfindet, und ich hoffe, daß Sie mir erlauben werden, Sie näher kennen zu lernen!« – »Dringen Sie nicht zu sehr in mich, ich bitte Sie; wenn ich Ihren Umgang in meinen Plan einschalten kann, so will ichs thun.« Ich machte ihr eine dankbare Verbeugung; sie sah nach ihrer Uhr, und ging kurz darauf weg.

Sie ist groß, wohlgewachsen, richtig, aber nicht fein gebildet, und hat im Ganzen keine Züge von Schönheit: aber sie ist mit einem Ausdruck von Anstand, Güte und Bescheidenheit übergossen, welches, wie ich sagen möchte, eine Art Firniß ausmacht, durch den ihre ganze Gestalt einen edlen Schimmer erhält. In ihrem schönen Aug' ist viel Geist, Empfindung und der kleine Zug von Schwermuth, so in ihrer Miene herrscht, machen den Wunsch nach ihrer Freundschaft entstehen, weil alles [361] zusammen Vertrauen und Achtung einflößt. Ihre Kleidung war brauner Grosdetour, mit nemlichen Zeuge garnirt. Die breiten Bänder der Armschleifen waren auch von dieser Farbe. Haube, Manschetten und Halstuch von weißen Flor; Ohrringe von einem einzigen Diamant; ihre Schube auch braun, wie der Rock, aber auf englische Art, mit niedrigen Absätzen und sehr passend, so wie sie in allem äußerst nett und reinlich ist, und eines der ersten Stücke, so sie in ihrem Hause zurecht machen ließ, ein Badzimmerchen ist, dessen sie sich fast alle Tage bedient. Sie hat einen Bedienten und dessen artige Frau mitgebracht, hier aber noch zwey Mägde angenommen, die sich sehr glücklich bey ihr finden. Uebrigens ißt sie sehr wenige und einfache Speisen.

Sprachen versteht sie, allem Anschein nach, sehr gut; denn bey dem Buchführer hat sie alle historische und physische Bücher, auch Reisebeschreibungen begehrt, die Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch herausgekommen sind; und auf dem Postamt alle Zeitungen und Journale, die in diesen Sprachen ausgehen, bestellt. Die beyden Mahler in der [362] Stadt hat sie schon etlichemal bey sich gehabt, und ihnen ihre große Sammlung von Kupfern gewiesen, welche das einzige seyn soll, was sie mitbrachte; denn alles weiße Zeug, Maublen und Kleider schafte sie sich hier an. Aber in die Stadt hat sie noch keinen Fuß gesetzt. Nur einsame Spatzierfahrten machte sie in ihrem artigen Englischen Wagen, stieg an dem Wäldchen mit ihrer Kammerfrau aus, und ging allein, von ihr entfernt, spatzieren. Das Clavier soll sie ganz vortreflich spielen, und der Ton und die Musik ihrer Stimme faßt, nach Herr Ott und G**, die sie auf der Stadtmauer belauschten, so viele Kunst in sich, daß sie sie für eine, durch ihr Talent bereicherte, Sängerinn halten, die durch ein Theaterunglück, oder einen Anfall von Eigensinn, der diesen Personen oft anklebt, hieher gekommen ist, um ihrem Andenken eine Stelle in dem Tempel des Ruhms und der Tugend zu erwerben. – Dies sagten mir die boshaften Leute just den Abend, da ich, ganz von ihr eingenommen, meine Unterredung mit ihr erzählte und ihr Bild beschrieb, so wie es mir erschienen war. Es mag seyn, wie es will, so freut mich ihre [363] Bekanntschaft, und ich werde sie fortsetzen, so weit sie es gehen lassen wird.

Gestern und vorgestern hat es stark geregnet, und ich war heute nicht ganz wohl. Aber Morgen Abend werde ich mit Julien. Orten, Herrn und Frau G**, selbst auf die Mauern klettern, um sie singen zu hören. Adieu! von

Ihrer

Rosalia. [364]

52. Brief
Zwey und funfzigster Brief

Wem soll ich danken? Ihrem Herzen, Ihrem Genius, oder beyden zugleich, die mich die Freude genießen lassen, jede meiner Ideen und Empfindungen vor Sie dringen zu können, wie man sich vor einen Spiegel stellt, um durch ihn das schickliche und unschickliche der Kleidung und Gebehrden, Fehler und Vollkommenheiten der Gestalt zu erblicken, welcher auch unermüdet, über den bey großen und kleinen Anlässen vervielfältigten Gebrauch, immer mit gleicher Redlichkeit das Güte und Tadelhafte beleuchtet. So läßt mich auch, Mariane, Ihr reiner, von allen Vorurtheilen freyer und lichtvoller Geist, jedes Bild meines Verstands nach seinem eigenen Wesen, aber auf allen Seiten beleuchtet, wiedersehen. – Die Güte, Sanftmuth und Wahrheit Ihrer Seele zeigt mir, was richtig, falsch, gut oder bös ist; und so, meine Mariane, sind Sie für mein Herz und meinen Kopf Belohnung und Warnung geworden. Dafür danke ich Ihnen auch mehr, als ich sagen kann.

[365] Nun! Ich habe die fremde Frau singen hören. Alles, alles müßte mich betrügen, wenn nicht eine edle, tiefe Leidenschaft in ihrer Seele liegt. Solche Tone giebt die Kunst allein nicht. Ihr Recitativ ist die Rede einer wahren gefühlvollen Seele, die das Uebermaaß ihrer Empfindungen in einem einsamen Selbstgespräch ausströmen läßt. Ihre Arien sind Trost, den sie sich zuspricht, Aussichten in bessere Zeiten, die sie sich zeigt, und dankbare Wiederholung des genossenen Glücks. Den ganzen Tag gießt sie Freude und Wohlseyn über alles, was sie umgiebt, und des Nachts, wenn diese Glücklichen ruhn, sucht sie durch den Zauber der Musik den innern Jammer ihrer Seele zu lindern um auch schlummern zu können, und zu neuen wohlthätigen Werken Kräfte zu fassen. Dieses war, was ich Mädchen in jeder Faser meines Herzens fühlte, als ich auf die oberste Stufe der Stadtmauerstiege mich setzte, und stille süsse Thränen des Mitfühlens weinte. – Die rasche Frau G** lobte sie, behauptete aber mit den Männern, daß es gewiß eine Theaterheldinn wäre. Ott hatte nichts gesprochen, aber die andern so oft stillschweigen [366] heissen, daß seine Julie, die alles Einnehmende ihres Spiels und Gesangs empfand, ihrem Mann beym Zurückgehen mit Schluchzen sagte: »Lieber Ott! versprich mir, dieser Sirene nicht öfter zuzuhören.« – Er umarmte sie, stillschweigend; und da er auch niemals mehr von ihr sprach, so glaube ich, Juliens Vermuthung einer aufkeimenden Anhänglichkeit wag richtig gewesen seyn. –

Ich besuchte Tags darauf meine Wöchnerinn, in Hoffnung, die Fremde zu sehn. Aber sie hatte den ganzen Tag in einem Hause zugebracht, worinn zwey kranke Kinder waren, denen sie Tod und Leiden, durch Erzählung von Engeln und himmlischen Gespielen, zu versüssen suchte, und mit größter Zärtlichkeit jede Erleichterung und Erquickung gab. Der Knabe von zwölf Jahren, dem sie von der Beschäftigung der, Engel redte, und ihm die Aussicht zeigte, daß er vielleicht zum Schutzgeist seines jüngern Bruders bestimmt würde, hörte ihn lächelnd zu, hob seine matten Hände gen Himmel und sagte: »O Gott, ich glaube, es, denn diese Frau ist gewiß ein Engel, den du in unsere arme Vorstadt schicktest.« – Sie stund von ihrem Stuhl auf, faßte seine [367] gefalteten Händen in die ihrigen, küßte die Stirne des Kranken: »Erler, seliger Knabe, wie gern glaubtest Du Gutes! Du wirst bald Engel sehen, mein Lieber, und bey ihnen alle Dein Leiden vergessen.« – Freude glänzte noch in dem sterbenden Auge des Jungen und seine Eltern faßten Trost darüber. Das jüngere Kind starb eher, und das laute Wehklagen der Mutter machte den kranken Knaben unruhig, und beförderte auch seinen Tod. Da ging Madame Guden, (so nennt sie sich,) weg. Sie kann nicht bey Todten seyn, und sagt: »Für Herz und Seele will ich alles thun, aber die kalte Unempfindlichkeit giebt mir selbst den Todesschauer zu fühlen.« – Sie bezahlte alle Leichentosten, und besuchte die Leute nach dem Begräbniß fleißig. Der Vater des Verstorbenen ist ein armer Knopfmacher, der noch drey Kinder hat. Sie erkundigte sich nach den zwey Schülern, die den Kranken besucht hatten, und sehr traurig über seinen Verlust waren; ließ sie zu sich kommen, und fragte den einen, ob er nicht bey dem Vater seines verstorbenen Freundes die Knopfmacherarbeit lernen wolle? Da der Junge es versicherte, so versprach [368] sie ihm, das Kost- und Lehrgeld für ihn zu zahlen. Hier wurde er aber traurig sah den andern, der unruhig hin und her ging, an, und sagte: »Aber Madame –« stockte dann wieder, und sein Camerad nahm ihn bey der Hand. Madame Guden fing freundlich zu dem ersten an: »Er hat mir was sagen wollen von seinem Freunde. Was ist es? Kann ich ihm was Liebes thun?« – »Ach, Madame, das wäre recht schön!« – »Nun so sagt mirs, ich thu es gewiß auch Eurem verstorbenen Freunde zu Liebe« – Hier weinten beyde Knaben und sagten ihr, sie hätten beyde Lust zu dem Handwerk, und die Mutter des einen könne nichts als das halbe Lehrgeld bezahlen. – »Das hat unser Freund, der gute todte Heinrich gewußt,« fiel der eine ein, »und wollte uns heimlich alles lehren, was sein Vater ihm zeigte; denn er war schon aufgenommen, und wenn wir alles so gelernt hätten, bis zum Gesellen: da härt ich meine Mutter gebeten, das Lossprechgeld für mich und meinen Cameraden da zu zahlen, und dann wären wir alle drey mit einander in die Fremde gegangen und hätten unser Glück gesacht. Aber jetzt ist [369] alles aus, weil Heinrich todt ist.« – Frau Guden wurde bewegt: »Nein, meine Lieben, es ist nicht alles aus. Wenn Ihr wollt, so zahl ich für Euch beyde. Versprecht mir nur, daß ihr rechtschaffen werden wollt, wie Euer Heinrich es war, und daß Ihr immer auch Armen gerne Gutes thun wollt. Sagt mir nun, mit was ich Euch Freude machen kann?« – Beyde sagten zugleich: »Ja, gute Madame! wir wollen alles thun, was Sie sagt; aber wenn wir krank werden und sterben, so muß Sie auch zu uns kommen.« – Sie versprach es ihnen bey der Hand, und hat nun würklich das Lehr- und Lossprechgeld für beyde bey der Obrigkeit niedergelegt, sie gekleidet, zahlt ihr Kostgeld; und läßt sie daneben schreiben und rechnen lernen. Die Mutter des einen Knaben ließ sie auch kommen, und lobte die gute Frau über die Gesinnungen, so sie ihrem Knaben gegeben. Diese war froh über ihres Sohns Glück und sagte, nun könne sie ihrer Tochter helfen, der sie jetzt das Lehrgeld zur Aussteuer geben wolle. Frau Guden verdoppelte es, und wollte auch der Mutter was zur Unterhaltung geben; aber die Frau nahms nicht an; [370] weil sie Haushälterinn bey einem ältlichen Herrn sey, der ihr nach seinem Tode so viel lassen würde, daß sie leben könne; und da ihre beyden Kinder versorgt wären, brauche sie nichts mehr; Madame solle das andern Armen geben. – Sie wandte sich dann gegen die zwey Jungen und empfahl ihnen, wenn sie einmal Meister wären, solle ein jeder einen armen Jungen Gott zu Ehren umsonst lehren. Die guten Jungen versprachen es treuherzig. Madame Guden nahm die Tochter der Frau bey der Hand, mit dem Wunsche, daß sie ihrer so rechtschaffenen Mutter gleich werden möchte, so wie die zwey Freunde des seligen Heinrichs seinem Beyspiel gefolgt wären und dadurch gewiß ganz glücklich seyn würden. –

»Sehen Sie,« sagte ich in unserer Gesellschaft, »wie diese Frau Gutes erweckt und Gutes thut!« – Da wurde von jemand gesagt: »Ja, ja! das sind die schönen Haare der büßenden Magdalena, womit sie unsern Herrn die Füße abtrocknete.« – Dieses Stück Witz, meine Mariane, womit auf den vermutheten Sängerstand der Dame gezielt war, verdrängte jede Bewegung des Lobs, der Achtung und Nacheifrung, so sie verdient. [371] Ganz rauh und roh setzte noch jemand hinzu: »Wer weis, wie viele Streiche sie anderswo hat ausgehen lassen, eh sie hier unsere Arme zu kleiden anfing.« – Lauter Beyfall wurde diesem Gedanken zugelacht; ich aber konnte mich nicht enthalten, Julien zuzuflüstern, daß ich mich sehr glücklich achtete, einen so festen Glauben an reine und edle Beweggründe der ausübenden Menschenliebe zu haben, weil mein Herz mich von dieser Wahrheit überzeugte; und daß, wenn ich so reich und unabhängig wäre, als diese Frau, ich jede gute Idee zu Handlungen machen würde, was man auch immer für Auslegungen darüber finden möchte. –

Ihre Gedanken, Mariane! die Ihrigen allein will ich über mich und über diese Frau anhören und befolgen.

[372]
53. Brief
Drey und funfzigster Brief

Noch zweymal war ich umsonst in der Vorstadt; aber Madame Guden schrieb mir heute ein Billet: »Sie suchen mich so anhaltend, daß es undankbar wäre, wenn ich Ihnen nicht entgegenginge. Aber ich werde Ihre Glückseligkeit nicht vermehren, und Sie meinen Kummer nicht mindern. Kommen Sie Morgen zu unsrer Wöchnerinn, aber allein; denn ich will keine feine Leute sehen. – Guden

Das Stutzige dieses Tons hätte mich bald zurück gehalten, aber das Sonderbare lockte mich wieder. Ich ging also hin, ungeachtet es stark regnete, wie es Septembertage machen. Ich fand sie am Rocken sitzen, und die Wöchnerinn neben ihr, um auf das Spinnen, so sie von ihr lernte, Achtung zu geben. Sie war in einem grauen Leibkleide, mit einer großen weissen Schürze, und schien etwas blässer, als ich sie das Erstemal gefunden hatte. Sobald sie mich erblickte, stund sie auf, und ging mir mit zärtlicher Eile entgegen. [373] »In dieser üblen Witterung, liebes eigensinniges Kind!« sagte sie, mit einem Blick so voll Seele, daß sie mein Herz ganz nahm; und dies mag sie gefühlt haben, denn sie umarmte mich, sprach aber auf Französisch: »O, wenn jede Empfindung so stark in Ihrer Seele haftet, als Ihre Neugierde um mich, so bedaure ich Sie von Herzen!« – »Neugierde!« erwiederte ich. »Glauben sie gewiß, daß es nichts Bessers ist, so mich nach Ihnen zieht?« – »Sie müssen meine Worte nicht spitz fassen. Ich gehe immer den kurzen Weg, und was ich zuerst sehe, nenne ich zuerst.« – »Vergeben Sie, ich wollte nicht spitzig seyn, sondern nur ganz geschwind eine Idee wegräumen die mir bey ihnen schädlich seyn könnte.« – Mit nachdenkender Miene und Lächeln sagte sie; »Ich glaube es gewiß; aber wenn es sich öfter finden sollte, daß ich auf diese Art schnell denke, und Sie geschwind empfinden: so werden wir wie zwey Leute seyn, die erst einander ruhig gegenüber saßen, sich freundlich beredeten; eines steht auf, will sich was holen, vielleicht seinen Stuhl näher zum Freund rücken, um das Gespräch vertraulicher [374] zu machen. Wenn nun der Andre, ohne einen Augenblick zu warten, was das Aufstehen bedeute, oder ohne zu fragen, wo gehen Sie hin? gleich auch sich hastig aufhebt: so müssen sie sich wider ihren Willen manchmal stoßen. – Dies möchte ich nicht veranlassen, und auch Sie nicht vermeiden. Was denken Sie nun, was wir thun sollten?«

Können Sie, Mariane, sich Rosalien und all ihre Ideen vorstellen, die während dieser kleinen Abhandlung in ihr entstunden und hin und her gingen, so wissen Sie, daß mein erster Gedanke war: »Madame Guden! dein Reichthum macht dich stolz und eigenmächtig,« Aber da der Ton ihrer Stimme ganz melodisch, und der Ausdruck ihres Gesichts so voll Wahrheit war: so wandten sich auch meine Gedanken auf eine andre Seite. Ihr Billet sagte von Kummer, und ich weiß, daß dieser in einer starken Seele Entschlossenheit hervorbringt, die sich nicht immer damit abgeben kann, jede Idee in fein gebogene Formen zu bringen. Zudem hatte sie Recht; es war doch zum größten Theil Neugierde, so mich bisher nach ihr gezogen hatte. Ich antwortete [375] also, ich dächte in Zukunft voll Vertrauen sitzen zu bleiben, wenn sie aufstünde; doch hofte ich, manchmal ihren Stuhl gegen mich ziehen zu dürfen. – »Sie werden also die schönere Rolle spielen; ich gönne es Ihnen, und wünsche, daß Ihre Lebhaftigkeit niemals zur Unruhe werden möge!« – Nun sagte ich: »Werde ich Sie nicht in Ihrem Hause sehen? In diesem hier sind es nur abgebrochene Stücke.« – Sie lächelte, stund aber gleich auf und bot mir den Arin. »Kommen Sie, ich will mit Ihnen noch einmal Freundschaft wagen.« – Wir waren bald da. Ihre Zimmer sind mit Zitz ausgeschlagen; Bett und Stühle gleichfalls. Bey den Büchern blieb ich stehen; und da es mir unmöglich war, mein Staunen zu verbergen, weil ich lauter Reisen fand, und sie es natürlich bemerken mußte, so sprach sie: »Sie suchten andre Bücher; ich hab' auch andre gelesen; aber meine jetzige Gemüthsverfassung läßt mich nichts Spielendes und nichts Denkendes vornehmen. Ich suche Glückseligkeit. Mein Herz und Kopf sind noch nicht einig darüber. Ich bin dem erstern gefolgt, und elend geworden. Mein Verstand will [376] mich trösten, aber es kostet Mühe und ich maß mit mir selbst Umwege nehmen.« – Ich nahm sie bey der Hand, und gewiß mein Herz stimmte den Ton meiner Worte, indem ich ihre Hand gegen meine Brust bewegte. »Mühe und Umwege zu ihrem Glück, während Sie das' so vieler andern so leicht, so geradezu machen! Wie ist das?« – »Ach, was für Glück geb ich! Nahrung, Kleidung, Wohnung: dies füllet den Zirkel der Wünsche des guten Volks; und o, wie heilig sind mir diese Schranken, in welche ich gewiß von meinem Mehrwissen und mehrerm Reichthum nichts übertragen will, als Liebe der Reinlichkeit. Alle Verfeinerung ihrer Begriffe soll in nichts als einer gefühlvollen Liebe ihres Schöpfers bestehen, der das Loos ihres Lebens aus weisen, wohlthätigen Ursachen auf den Weg der Arbeitsamkeit legte. Und dann will ich sie auch jeden Segen, jede Blume der reinen Freuden der Natur bemerken lehren, die sie mitten, und am Ende ihres Tagwerks, reichlich finden können. Meine Erziehung, meine Kenntniß der Welt, mein Vermögen, haben mir Bedürfnisse gegeben, die mehr als alle dies erfodern,[377] wenn ich glücklich seyn soll. Sie, Rosalia, und Andre, die unsern Kreis durchgehen, müssen Sie nicht auch hundertfach mehr zu dem Maaß Ihrer Zufriedenheit haben, als diese Leute?« –

Feyerlichkeit, süsse Sanftmuth edler, zudringlicher Ernst war in dem abwechselnden Ausdruck ihres Gesichts und Tons. Und ein Theater sollte sie gebildet haben? Nein. Mariane, das kann nicht seyn. Das Theater kann einen schönen Geist, eine fein empfindende Seele bilden: aber ein so starkes inniges Gefühl vom Wohl und Weh der großen Masse des Volks, das richtige, ernste Abwägen der Ursachen und Natur des Glücks giebt allein das große Schauspiel der Welt und die Geschichte der Menschheit. In dieser Frau ist eine eigne Seele, und in ihrem Geschick müssen auch eigene, sonderbare Züge seyn. Sie hat mir einen Auszug ihres ganzen Lebens versprochen, und bis dahin soll ich sie weder zu gut, noch zu übel beurtheilen, auch von dem, was mir an ihr gefällt, ja gegen Niemand zu vortheilhaft sprechen. – Und da ging sie an ihr Clavier, spielte Phantasien, nicht stark in der Geschwindigkeit, aber nett im Ausdruck, [378] lauter charakteristische Gänge, Selbstgespräche, Seufzer und Einwiegen beunruhigender Erinnerungen. Sie hat aber noch ein Talent, welches für mich viel beneidenswürdiger ist, als ihr Gesang und Spiel. Sie zeichnet jede Idee ihres Kopfs, jedes Bild, so in ihrem Herzen entsteht, oder vor ihr Auge kommt, den Moment, mit der größten Leichtigkeit und einem reizenden Geschmack, auf den nächsten Bogen Papier. So macht sie es, wenn sie in einem Buche was findet, oder in einer Erzählung hört, das ihr als Gruppe oder Figur gefällt. Denn ich fand in einer Reisebeschreibung, die auf ihrem Tisch lag, mehr als zehn gezeichnete Stücke, deren Beschreibung sie damit gemerkt hatte; einsame, ländliche Gegenden, Ruinen, ein schön liegendes Haus, Hauptpersonen einer Gesellschaft. – Ja, während ich blätterte, verfertigte sie mein Bild, so wie ich mit etwas vorwärts gesenktem Kopf auf das Buch sahe; und ich versichre Sie, Mariane, daß es mich sehr freuen würde, wenn ich einmal in einer entscheidenden Stunde in den Augen meines Freundes so viel Grazie hätte, als mit Frau Guden in ihrer leichten Zeichnung gegeben hat. –

[379]
54. Brief
Vier und funfzigster Brief

Frau Guden will mir alle Woche zwey Tage schenken, wo ich mit ihr essen und den Nachmittag mit ihr zubringen soll. Gestern war der erste davon, wo sie mir, wie sie sagte, den Faden gab, mit dem ich aus dem Labyrinth der Ideen kommen würde, welches ihre Erscheinung in dieser Stadt und die Muthmaßungen über sie in mir hervorgebracht hätten. Sie wäre die einzige Tochter eines deutschen Gelehrten, dessen Glücksumstände aber so gewesen, daß er sie wohl reich an Kenntnissen, aber bey mittelmäßigem Vermögen zurückgelassen hätte. Ihre Mutter wäre eine Frau voll feiner, tiefer Empfindung, ihr Vater ein feuer- und geistvoller Mann gewesen. Sie sage wir dieses, weil sie fest überzeugt sey, daß der seltsame Ton ihres Charakters aus dieser Mischung entstanden sey. Ihr Vater habe sie denken und wissen, ihre Mutter Empfindsamkeit und Wohlthätigkeit gelehret; daraus sey auch ihre schwärmerische Anhänglichkeit an edle Kenntnisse und [380] Tugend gekommen. Man habe sie Sprachen, Musik und Zeichnen lernen lassen, worinn sie es durch ihre natürlichen Fähigkeiten sehr weit gebracht. In der Zeit des Uebergangs vom großen Mädchen zur denkenden Jungfrau, in welcher Frauenzimmer catholischer Religion diese innere Unruhe und den noch undeutlichen Laut der Bedürfnisse des Herzens als den Ruf zum Klosterleben ansahen, und die ersten Aufwallungen des ganzen Reichthums der Empfindungen, zur Liebe der höchsten Vollkommenheit wendeten, in dieser Zeit hätte sie die Geschichte der Völker und Künste gelesen, Plutarchs Helden, und dann eine Beschreibung der Denkmale der Kunst, die Rom und Florenz in sich faßten. Diese hätten bey ihr die innerliche Stimme der Anhänglichkeit an ein andres Wesen, auf die Ideale von Meisterstücken der alten Welt gelenkt. Sehnsucht nach Italien hätte in ihr geglühet, wie die Begierde nach dem Schleier in einem frommen Mädchen. Während dieser Zeit hätte sie sich auch außerordentlich der Zeichenkunst, Lesung der Poeten und der Götterlehre der Alten beflissen, und immer gedacht, sich einmal bey einer Dame beliebt zu machen, die eine [381] Reise nach Rom vornehmen könnte, um mit ihr, wenn es auch als Kammerjungfer wäre, dahin zu kommen. Außer dem hätte nicht nur die ernsthafte und gründliche Erziehung, welche sie genossen, sondern auch das einsame Leben ihrer Eltern, alle Gegenstände von ihr entfernet, durch die sie zerstreut werden, oder die ihr den Genuß von Glückseligkeit auch bey andern Sachen hätten anweisen können. »Denn ich weiß aus meiner Erfahrung,« fuhr sie fort, »daß Personen, die abgesondert erzogen werden, oder auch einige Zeit so leben, nicht nur etwas eigen Ausgezeichnetes, sondern auch Eigensinniges bekommen das sie selten ablegen.« Denn in einem fühlbaren Herzen bliebe die Anhänglichkeit an Gegenständen, bey denen man das erstemal Glückseligkeit empfunden, gar lange haften. Zum Beweis diene ihr, daß ihre Mutter sie im achten Jahr das erstemal aus der Stadt geführt, und in dem Baumgarten der Bäuerinn, die ihnen Milch lieferte, in der Zeit der Blüthe, ihr Mittagessen mit der Bäuerinn Kindern gegeben hätte, wo sie dann lauter Freude und Seligkeit gewesen; und seitdem, bis auf diese Stunde, fühle sie bey dem Anblick eines [382] ländlichen Baumgartens ein süsses inniges Vergnügen, welches ihr alle Reize der Kunst und hoben Natur bey den prächtigsten Gärten, die sie auf ihren Reisen gesehen, niemals gegeben hätten. Nach dem Tode ihrer Eltern sey sie zu einer weitläuftigen Verwandtinn gekommen, bey der sie einsam fortgelebt, und in ihrem zwey und zwanzigsten Jahr das Glück erhalten habe, um ein Stück Geld, der Kammerjungfer einer großen Dame ihren Platz für die Reise nach Italien abzukaufen. Die Dame und ihr Gemahl hätten, nach zwey Unterredungen mit ihr, so viel Achtung für sie bekommen, daß sie sie auch versichert, sie sollte Frankreich und England mit ihnen durchreisen. Aus Dankbarkeit und Eigenliebe habe sie dann alle Kräfte angestrengt, in den Sprachen vollkommen zu werden, und auch reine Umrisse von Landschaften, Gebäuden und Figuren machen zu können; um durch diese Talente nützlich zu seyn, und auf gewisse Art zu vergüten, was sie ungefehr kosten könnte. Daneben hätte sie der Dame alle mögliche Dienste und Erleichterungen geleistet, und niemals wäre sie glücklicher gewesen, als auf diesen achtzehn Monate gedauerten Reisen, [383] wo alle ihre bisherigen Wünsche erfüllt, ihre Kenntnisse geübt und vermehrt worden, wo sie einen so großen Theil der Erde und deren Bewohner gesehen, und vielen Beyfall und Achtung genossen hätte. Aber da wäre es mit ihr, wie mit andern Menschen, gegangen, indem mit der Befriedigung des einen Verlangens ein neues verknüpft wurde, wogegen das Schicksal lauter Unmöglichkeiten aufhäufe. Deswegen habe sie ihm auch eine Wage gegeben.

Hier langte sie aus einem Kästchen einige Zeichnungen hervor, worunter das Bild des Schicksals war, mit einer Wagschaale voll Blumen, Perlenschnüre und einer schönen Vase; in die andre Schaale legt es Dornen, Steine und Fesseln. Eine schöne weibliche Figur kniet vor dem Altar, wo dieses Wägen vorgeht, und zeigt mit dem seitwärts gesenkten Kopf, und ihren, mit vieler Grazie auf ihrer Brust sich faltenden Händen, Dank für die Blumen, und neben dem Abwenden von der dornerfüllten Schaale, ruhige Unterwerfung.

Da ich das Bild so ausdrucksvoll fand, sah ich mit Rührung sie an. Sie küßte mich und sagte: »Ja, mein Kind, hier fingen die [384] Schmerzen meines Lebens an. Ich hatte Güter geliebet und gewünscht, die ich bis dahin kannte; ich genoß sie reichlich; denn nicht nur das Schöne, so ich zu sehen verlangt, freute mich, sondern auch die Lobsprüche, die ich für meine Talente erhielt. Denn in Rom übte ich mich im Singen und Clavierspiel; ich schrieb unser Tagebuch und zeichnete auf halbe Bogen, was mir, der Dame oder ihrem Gemahl besonders gefiel. Unser Anführer erzählte es Fremden, die dann sich um uns sammelten, wohin wir gingen und ich meinen Bleystift nahm. Ein edler Fremdling, der auch alles mit dem Auge des Geistes betrachtete, suchte unsere Bekanntschaft. Ernstes, aber sanftes Wesen, hoher Adel der Seele, tiefe Gelehrsamkeit in allen Theilen schöner Kenntnisse, eine vortrefliche Gestalt, und nur sechs und zwanzig Jahr alt, waren in ihm mit dem empfindlichsten Herzen, Bescheidenheit und den reinsten Sitten verbunden. Mein Zeichnen wurde sehr von ihm geachtet; doch bemerkte ich dies mehr aus seinen Blicken als seinen Worten. Er fragte nur nach dem Ort, wo ich es gelernt, und wo ich erzogen worden. [385] Meine Dame wies ihm das Tagebuch und die Zeichnungen. Ihr Gemahl erzählte ihm meine Geschichte, wie sie es nannten; und den Abend, da ich fertig war, das Merkwürdige des Tages aufzuschreiben, führten sie ihn in mein Zimmer, und sagten: Herr von Pindorf müsse mit all meinen Talenten bekannt werden; ich sollte doch etwas auf dem Spinetchen spielen und singen. Er machte nur eine Verbeugung. Aber ein flüchtiger Blick, den er gleich wieder von mir wandte, dünkte mich vieles zu sagen. Ich sah auch nur meine Dame, aber mit Erröthen an, wovon sie den Sinn nicht verstund; denn sie sagte freundlich: ›Meine Liebe, ich verspreche Ihr, daß Sie diese Gefälligkeit für Niemand anders haben soll.‹ – Ich spielte und sang sanfter als jemals, sah aber nicht um mich, sondein allein auf meine Noten. Er sprach, nachdem ich geendigt, und er mir höflich gedankt hatte, von den Grundsätzen der Musik, sah mich auch nachgehends niemals allein, außer ein einzigesmal in Frankreich, da er Abschied von uns nahm, um zu Hause seine Verbindung zu vollziehen. Auf der Reise [386] nach England war er eigentlich eine Art Lehrmeister für uns alle, in der Natur- und Landesgeschichte. Er saß oft ganze Stunden lang in sich selbst gekehrt, bis ihn eine Frage von mir, oder ein Ausruf über etwas, so mir hie und da als merkwürdig vorkam, aufweckte; denn er hatte diese Aufmerksamkeit allein auf meine Stimme. Alles blieb in meinem Gedächtniß, und ich wurde in Kenntnissen, die er vorzog, am stärksten. In dem Garten zu Stow zeichnete ich sein Bild, wie er, an einem Baum gelehnt, mit meiner Dame redte, die mit ihrem Gemahl auf einer Moosbank saß; und Herr von Pindorf seine Augen auf den Tempel der alten Tugend, welcher uns gegenüber war, mit vielem Ausdruck heftete. Als ich die ganze Gruppe zusammen gefaßt hatte, waren sie alle sehr vergnügt, und ich mußte endlich mich selbst dazu setzen, mit meinem Bleystift und der Anzeige des Ganzen. Davon erhielt Herr von P** das Urbild. –

Eilf Monat war er immer um und mit uns gewesen. Ich hatte tausendfache Beweise seiner Hochachtung und Liebe für mich bemerkt, und ihm gewiß eben so viel zu [387] erkennen gegeben. Dies Bündniß unserer Seelen war desto stärker, da wir es nicht in der gewöhnlichen Sprache ausdrückten. Den zweyten Tag in Brüssel wurde ihm nicht wohl; er sah auch bis den zehnten, wo er abreisete, ganz hinfällig aus; war nur Augenblicke um uns, und dies mit ängstlicher Unruhe. Mein Herz litt die äußerste Marter. Den nennten Tag war ich allein. Herr von P** trat in mein Zimmer, näherte sich mir mit wankenden Schritten. Ich stund bebend auf. Er faßte meine Hand, sah mit schwermuthsvoller Zärtlichkeit mich an, konnte nicht gleich reden. Endlich sagte er: ›Beste, edelste Seele! Einmal, ach, nur einmal lassen Sie michs sagen, daß ich diese Leidenschaft niemals, als für Sie, gefühlt habe. Gott mache Sie glücklich! – O, wie sehr wird es der seyn, der Ihnen Hand und Herz anbieten kann! – Hofen, theure Hofen, warum hab' ich Sie kennen lernen!‹ – Und dann umarmte er mich, und ich ihn, mit einem: Gott segne Sie! – Dann riß er sich los, und reisete den Augenblick ab. –

[388] Zween Monat hernach erfuhr ich die, nach dem Willen der Seinigen, vollzogene Verbindung; aber keine Briefe, keinen Laut von ihm. – Rosalia! man muß meine Seele haben, um alle das Zerreissende zu fühlen, so ich fühlte. Alles vorher besessene und genossene Glück war für mich hin. Ich hatte Sympathie und Liebe kennen lernen: mittelmäßig konnte keine Bewegung in mir seyn. – O, Rosalia! möge es keine Seele mehr erfahren! –

Wir kamen nach Holland. Dort lernte ich van Guden kennen. Dieses erzähle ich Ihnen das nächstemal, und dann werden Sie mich selbst ganz kennen.« –

Ich verließ sie traurig, aber sie sagte, es wäre ihr doch süß. Adieu!

[389]
55. Brief
Fünf und funfzigster Brief

»Liebe Rosalia!« sagte Frau Guden, als sie mich wieder sah, »zu was haben Sie mich gebracht, daß ich Ihnen alles so erzähle?« – Ich wollte antworten, aber sie ließ es nicht zu.

»Sagen Sie mir nichts darüber. Habe ich nicht die Erleichterung genossen, zu reden? von meinen Talenten und meinen Leidenschaften zu reden? Ich bin überzeugt, es thut unserer Seele eben so wohl, von den Fesseln des Zwangs und des Verbergens ihrer eigentlichen Gesinnungen befreyt zu seyn, als es den Händen und Füßen eines unglücklichen Kettenträgers gut thun muß, wenn er auf einige Zeit sich losgeschlossen fühlt.« – »Liebe Madame Guden! Das Gleichniß, dessen Sie sich bedienen, macht mir Schauder. Ketten und Fesseln verwunden oft stark. Ich hoffe, daß es mit Ihrer Seele nicht so seyn möge.« – Sie lächelte und sagte: »Wer weiß, was für Striemen Sie finden würden, wenn sie sichtbar[390] wäre.« – Sie zeigte mit den übrigen Vormittag ihre Sammlung von Kupferstichen, die ganz entzückend schön ist; lauter Charakterstücke, Landschaften, und alles, was im Griechischen Geschmack heraus gekommen ist. Alle Stücke, die sie doppelt hatte, gab sie mir.

Nach dem Essen, da ich sie den Caffee so langsam und tiefsinnig einschlürfen sah, dachte ich, es würde ihr hart seyn, mir weiter zu erzählen, und sagte, ich wolle bis ein andermal warten. »Nein, Rosalia! Ich will Ihre Begierde und Erwartung nicht täuschen. Kommen Sie mit mir auf meine kleine Bank am Fenster in den Garten. Wenn er schon entlaubt und welk aussieht, so ist doch ein großes Stück freyes Feld und freyer Himmel vor uns, deren Anblick mir sanfte Erinnerungen geben wird, wenn ich über Etwas herbe Empfindungen haben sollte. Ich hätte letzthin gern gewünscht, Alles auf einmal gesagt zu haben, denn ich bin die zwey Tage über nicht glücklich gewesen. – Nun, Rosalia! wir durchreiseten Holland. Da wurde meine liebe Dame krank, und dieses gleich anfangs bedenklich. Der Arzt, den man rufte, war ein sehr geschickter, aber [391] etwas alter und kränklicher Mann, den wir aber bey Erzählung der Lebensart der Dame, wonach er sich erkundigte, ganz ungemein munter und freundlich machten. Er dächte einige Augenblicke nach, und sagte dann: Die Krankheit der schätzbaren Dame wird stark werden. Sie wird alle Momente meine Sorge nöthig haben, die ich auf das treueste für sie tragen werde. Aber ich bin seit einigen Jahren kränkelnd, und habe daher bey Nacht für keinen Menschen mehr einen Fuß aus dem Hause gesetzt. Es würde meine Mitbürger verdrießen, wenn ichs für Fremde thun wollte. Aber ich weiß ein Mittel. Mein Haus ist groß, und wohl eingerichtet. Ziehen Sie, bis die Kur vollendet ist, zu mir; da kann ich zu allen Stunden meinen Rath ertheilen, und Sie werden die meinigen durch Ihren Umgang verschönern; denn Sie haben Ihre Reisen auf die nemliche Art gemacht, wie ich. Sie sollen meine alten, und ich will Ihre neuen Tagebücher lesen. Da wird unsere liebe Kranke zerstreut werden, und ich sehr glücklich leben.

[392] Er machte dabey einen so großmüthigen Preis für Kost und Wohnung, daß wir sein Anerbieten von Herzen annahmen, und über zween Monat bey ihm recht sehr zufrieden waren.

Die Dame hatte sich langsam erholt, und war noch sehr schwach, als sie die Pocken bekam, und daran starb. Ich war untröstlich; denn sie war äußerst liebenswürdig, und ihr hatte ich die süßeste Freude meines Lebens zu danken. Sie hatte mich mit Edelmüthigkeit behandelt. Ich war ihre Vertraute und an ihren Umgang gewöhnt. Durch sie hoffte ich auch wieder in Verhältniß mit Herrn von Pindorf zu kommen, denn ich wollte nicht mehr von ihr, sondern unverheyrather bleiben. Aber Ruhm war mein Plan, um immer in der Hochachtung des Herrn von Pindorf die vorzüglichste Stelle zu erhalten. Alle dies war nun wieder zerstört, und ich sehr niedergeschlagen. Der Graf von W** blieb auch als Wittwer noch drey Wochen da; brachte alle mögliche Augenblicke bey mir zu, und redte da von seinen zwey Söhnen, seinem großen Vermögen, dem Widerwillen, so er [393] fühlte, nach seinem Wohnsitz zurück zu kehren, und bat mich, ihm einem Rath nach meinem Geschmack zu geben, und was ich an seiner Stelle thun würde. – Ich sagte ihm, zwey Plane würden mir Trost geben; einer, auf meinen Gütern die größte Ordnung und die glücklichsten Unterthanen zu machen; oder mich irgend in einer Hauptstadt niederzulassen und nach meiner Erfahrung und Einsicht die Erziehung meiner Söhne und Ihr Glück zu besorgen. – Er ersuchte mich, ihm diese beyden Entwürfe aufzuschreiben. Ich that es, und da entstunden zwey Ideale von Glück und Tugend, wie sie in einer edeldenkenden Seele sich darstellen, sobald sie sich ein freyes Feld zu ihren Handlungen öfnet. Der Graf dankte mir sehr dafür, zeigte sie den Herrn van Guden. Dieser sagte mir Abends, da der Graf ausgegangen war: ›Mademoiselle! Sie haben dem Grafen zwey vortrefliche Aussichten für seine künftigen Tage vorgelegt. Er wird Ihnen Morgen darauf antworten. Werden Sie mir danken, wenn ich Ihnen heute noch sage, daß er Sie einladen wird, die Ausführung des zweyten Plans mit ihm zu theilen?‹

[394] Ich sah den van Guden mit erstaunten Augen an, und fragte ihn, wie er das verstünde?

›Ganz einfach,‹ sagte er. ›Der Graf liebt Sie, und wird Ihnen vorschlagen, mit ihm in der Stille vermählt zu werden. Hernach geht er auf seine Güter, holt seine beyden Söhne ab, und sie gehen alle mit einander nach Frankreich, wo Sie ihm seine Kinder erziehen helfen, und durch Ihren Geist und Talente immer die ausgesuchteste Gesellschaft zuziehen werden.‹

Ich konnte gar nicht sprechen, sondern starrte ordentlich den guten Mann von Kopf zu Füssen an. Er hielt es für das Staunen der Freude, und setzte hinzu: Der Graf hat Recht. Alle feindenkende und edle Leute werden Sie lieben und ehren. Ich sah diese Gesinnungen in ihm, da noch seine Gemahlinn lebte.

›Ich danke Ihnen, werther Herr van Guden, daß Sie mir einige Nachricht von dieser sonderbaren Idee des Grafen gegeben haben. Denn nun kann ich ihm mit so viel mehr Ruhe und Ernst meine völlig abschlägige Antwort geben.‹

[395] ›Abschlägige Antwort!‹ wiederholte er. ›Denken Sie diesen Abend noch darüber nach, eh Sie diese Vortheile verwerfen.‹ – Und da ging er von mir.

In der That schickte mir der Graf den andern Morgen früh ein versiegeltes Paket, mit der Aufschrift: à Mademoiselle de Hofen, worinn Alles, was er zu meinem Vortheil und seinem Glück dachte, dargestellt war. Die Aufschrift, de Hofen, diente schon zu einer kleinen Leitersprosse, die mich meiner künftigen Höhe nähern sollte. Er hatte sich zugleich ausgebeten, mit mir zu frühstücken. Ich kleidete mich, so eilig ich konnte, völlig an, weil ich in einem Morgenkleide zu vertraut ausgesehen hätte. Meine ehrerbietigen Verbeugungen machten ihn gleich stutzen, aber doch nur Zweifel, und kein entschlossenes Nein erwarten. Er bat lange, jammerte, zürnte, und sagte mir endlich: ›Er müsse es sich gefallen lassen, daß der Stolz auf meine Talente ihm diese unerwartete Bewegung zuzöge; und er müsse mir nun die, von meiner Vaterstadt eingelaufenen Briefe, über den Zustand meines Vermögens, in dieser unangenehmen Gelegenheit [396] übergeben, die erst mir nach der Trauung, mit dem bestimmten Brautschatz, und dem mir ausgemachten schönen Wittwengehalt, hätte einhändigen wollen; es wäre ihm ungeachtet meiner üblen Bewegung unerträglich, die Person, die ihm seit zwey Jahren so werth geworden sey, im Mangel zu sehen; er bäte mich nochmals, seine Anträge zu überlegen, und ihm darüber zu schreiben.‹

Ich will,« fuhr sie fort, »meine Betrachtungen und damaligen Gedanken nicht wiederholen. – Er reiste den nemlichen Abend noch weg, ohne mich zu sehen, und ließ mir die Kleider und daß Weißzeug seiner Gemahlinn, zur Belohnung für die Krankenpflege; und, in der Bosheit, auch meine Zeichnungen und das Tagebuch der Reisen, indem er nur von letztern bey dem Herrn van Guden eine Copie begehrte, aber nicht von meiner Hand.

Sehen Sie nicht, Rosalia, aus diesem Zuge seines Charakters, wie glücklich mein Herz mich schützte; denn dies allein war Ursache, daß ich den Plan des Grafen verwarf. Er war schön, geistvoll, und von einem erhabenen Stande. Von P** hätte [397] glauben müssen, daß Liebe und Eitelkeit mich zu diesem Bündniß geführt hätten. Ich aber wollte Niemand lieben, als ihn, und seine Hochachtung behalten. Ich hatte also das Vergnügen, ihm ein Opfer gemacht zu haben, und genoß es desto reiner und stärker, da Niemand es wußte, denn ich.

Den zweyten Tag nach der Abreise des Grafen war ich in einer neuen Verlegenheit. Wo sollte ich hin? Mein ganzes Vermögen bestund in vier hundert Gulden, nach dem Verlust, den mir mein Verwandter zugezogen. Die Kleider der Dame und meine betrugen wenig; denn wir hatten beyde auf den großen Reisen nur einen Koffer. Das Beste, so ich von ihr hatte, war eine von Golddraht als Körbchen geflochtene Zuckerdose. Ich war nachdenklich bey unserm Frühstück. Van Guden ging aus, kam spät und müde, aber sehr munter, zum Mittagessen zurück. Ich hatte mich indessen vorbereitet, mit ihm zu reden, und fragte, ob er mich eine halbe Stunde anhören wolle? – ›Ja,‹ sagte er, ›der Nachmittag ist ganz für Sie. Ich habe heut eine Arbeit gethan, die mich freut.‹ –

[398]

Ich erzählte ihm mein Leben, meine Umstände und den Wunsch, als eine Hülfe, die Erziehung eines jungen Frauenzimmers zu besorgen! ob er nicht durch seine Freunde mir einen solchen Ausweg verschaffen könnte. –

Hier traten dem vortreflichen Mann Thränen in die Augen, wobey er dann noch lächelte, mir die Hand reichte, die meinige eine Zeitlang stillschweigend hielt, und mich so ansah, als fragte er: Wie wirst du das aufnehmen, was mein redlich Herz dir sagen wird?

Endlich dankte er mir für mein Vertrauen, lobte den Entschluß, meine Talente dem mühseligen Geschäfte der Erziehung zu widmen; aber dies wäre ein Glück für ihn; denn, da ich mich mit aufwachsenden Kindern hätte plagen wollen, von denen ich einen sehr ungewissen und späten Dank zu erwarten hätte, würde ich vielleicht durch eine großmüthige Wendung dieses Gedankens, die nemliche Geduld und Sorge für einen, aus Alter sich der Kindheit wieder[399] nähernden Freund haben, der es mit aller Treue und Empfindung der Dankbarkeit erkennen würde. – ›Bleiben Sie,‹ sagte er, ›eine Viertelstunde hier, und lesen diese Aufsätze mit Nachdenken durch, und antworten Sie eben so wahr, eben so freymüthig darauf, wie Sie dem Grafen antworteten;‹ – und da ging er auch weg. – Urtheilen Sie von meiner Rührung über diese Papiere.«

[400]
56. Brief
Sechs und funfzigster Brief

Frau Guden fuhr fort zu erzählen: Es wäre ein Schreiben an sie gewesen, worinn er ihr sagte, der Graf habe ihm Nachricht von dem Verlust ihres kleinen Vermögens gegeben; dies habe seine lebhafte Theilnehmung vermehret und ihm die Begierde eingeflößt, Etwas zu ihrem Glück zu thun. Bald wäre es der Gedanke gewesen, sie an Kindes Statt aufzunehmen; bald, ihr einen Theil seines Vermögens zu geben. Da aber bey diesen Gedanken Anlaß zu Spöttereyen und Mißvergnügen gewesen wäre: so hätte er gewünscht, daß sie sich entschließen könnte, ihm für die noch wenigen Tage seines Lebens ihre Hand zu geben. Auf diesen Wunsch hin habe er heute früh mit einem Freunde sein Testament entworfen, welches in vier Theile richtig und unverwerflich geschieden sey: einer für alte und kranke Arme; der zweyte für seine schätzbare Frau; der dritte für seine Verwandten, und der vierte für die Verwandten seiner ersten Frau. Unter diese Beyden vertheile [401] er auch sein Haus und die Gemählde, wie auch das große Landguth, unweit der Stadt. Sie solle, weil sie Kupferstiche liebe, seine Sammlung haben, und sonst alles an Capitalien in der Bank, was ihren vierten Theil betreffe; denn das, was er ihr an Silber und einigen schönen Diamanten geben würde, wäre nur das gewöhnliche Brautgeschenk. – Sollte ihr dieser Vorschlag, der freylich der eigennützigste für ihn sey, nicht gefallen, so solle sie nur einen Riß in sein Testament machen und sich nicht mit Entschuldigungen oder Ursachen plagen, sondern ihm den Trost gönnen, sonst ein Geschenk von ihm anzunehmen, wodurch sie unabhängig leben könnte. –

Dieser Antrag hätte ganz andre Bewegungen in ihr hervorgebracht, als des Grafen seiner; er schien ihr redlicher und großmüthiger. Doch hätte sie sehr geweint, ihre Lieblingsidee aufzugeben, die sie gehabt, für das Andenken des Herrn von P** zu leben. Doch habe das Bild der wahren Güte des herrlichen alten Mannes, und der Gedanke, ihm durch die Erfüllung seines letzten Wunsches die Freude zu geben, eine glückliche Person nach sich zu lassen; dann die Betrachtung, [402] daß Herr von P** ohnehin verbunden, und sie ohne alle Aussicht, weder auf ihn noch sonst wo, wäre, gesiegt; so hätte sie sich gefaßt und wäre hingegangen, ihn in seinem Cabinet zu suchen. Er wäre aber in seinem großen Gemähldezimmer vor einem Tisch gestanden und habe ihre Zeichnungen vor sich durchblättert. Als er sie an der Thür erblickt, wäre der liebe Mann so erschrocken, daß er blaß worden, sich geschwind gesetzt, und seinen Kopf aufgestützt hätte. Sie wäre zu ihm geeilt, hätte ihn bey der Hand genommen: »Warum erschrecken Sie über mich? Wenn Sie Ihr Vorschlag reuen sollte, lieber Herr van Guden, so werde ich nicht klagen, sondern Sie dennoch, als meinen würdigsten Freund, verehren.« –

»Gereuen!« sagte er; »Gott gebe, daß Ihre Gefälligkeit Sie niemals reuen möge.« –

Sie wären in der Stille getrauet worden, und hätte ruhige Glückseligkeit genossen; und vier Jahre hindurch habe sie drey junge Frauenzimmer von seinen beyderseitigen Verwandten um sich gehabt, und sie erzogen. Eine davon hätte van Guden selbst noch ausgestattet, [403] und an einen jungen Arzt, den er gebildet hatte, verheyrathet. Die beyden letzten Jahre seines Lebens hätte er keine Kranke mehr besucht, und alle Sommer auf einem Landhause gewohnt, wo er einen schönen botanischen Garten angelegt hatte, und worinn sie eines Tages alle ihre Zeichnungen, aber nur als Zeichnung in Oel gemahlt gefunden habe. Ein Jahr vor van Gudens Tode wäre ihr Herr von P** erschienen. Just da sie Morgens mit ihren drey Schülerinnen nach einem Gartenhause gegangen sey, um dort zu arbeiten und zu lesen, habe sie von weitem bey den botanischen Beeten eine Gestalt zu sehen geglaubt, die vollkommen der seinigen geglichen. Dies habe sie äußerst bewegt, und dazu gebracht, nicht umzusehen und nicht zu fragen, sondern diese Erinnerung zu unterdrücken und ihre gewöhnliche Morgenarbeit zu halten. Darauf hätten ihre Mädchen gelesen und sie mit ihnen gesprochen. Ungefähr nach einer halben Stunde wäre sie aufgestanden, um etwas an der Stickerey eines der Mädchen zu besehen. Hier erblickte sie durch die Gitter, daß zwey Mannsleute auf der Bank bey einer grünen Wand hinter dem Gartenhause saßen. [404] Da wäre ihre Neugier erweckt worden, in dem kleinen innern Cabinet zu sehen, ob es nicht der Fremde wäre. – Ich möchte mir selbst vorstellen, wie ihr zu Muthe gewesen, als sie Herrn von P**, ganz blaß, auf das Fußgestell einer Statue gestützt, da sitzen sah. Der junge Medicus, der ihn bey den Kräutern herumgeführt, habe ihm zugeredet, sich in das Haus des Herrn van Guden führen zu lassen und da etwas zu sich zu nehmen, weil ihm von der Sonne und dem langen Gehen so übel wäre; Madame van Guden sey eine sehr liebenswürdige Frau, von dem besten Herzen und einem großen Geiste, rede verschiedene Sprachen, habe schöne Reisen gemacht; alle Fremde bewunderten sie, wegen ihrer Talente in der Musik; sie sey auch schön und jung, doch müsse man sagen! daß sie ihrem alten Manne die vollkommenste Achtung und Zärtlichkeit beweise, und daß der artigste junge Mann sich nicht eines Blicks oder eines Worts rühmen könne, welches nur einen Schatten von Gefälligkeit anzeigen würde, ungeachtet Jedermann wisse, daß sie den van Guden nur aus Armuth, nicht aus Liebe, geheyrathet habe. Sie wäre von Reisenden in seinem [405] Hause zurück gelassen worden, und der Alte befinde sich in ihrem Umgange herzlich wohl; sie wäre auch aus Hochdeutschen Landen; er solle nur mit ins Haus kommen, es würde ihn nicht gereuen. – Sie zitterte vor Angst, von P** möchte ihm folgen, und sie nicht im Stande seyn, ihr Herz zu verbergen; doch hätte es sie unendlich gefreut, daß er so viel Rühmliches von ihr hätte sagen hören. – Auf einmal wäre er, ohne eine Silbe zu antworten, aufgestanden und aus dem Garten fortgeeilt. Der junge Docter hätte ihm ganz erstaunt nachgesehen, den Kopf geschüttelt und bey sich selbst gesagt: Der thut wohl, daß er zu Engländern geht, denn er ist ein spleenetischer Narr. – Als sie ihn aus dem Gesicht verlohren, sey ihr Herz ganz schmerzhaft gepreßt gewesen; ohnmächtig wäre sie nicht geworden, aber auf ihre Knie gesunken, ihre Arme ausgestreckt: »Er liebt mich noch!« wäre ihre Erquickung gewesen; »Gott erhalte und bewahre ihn! – Ach, was bin ich?« hätte sie sich selbst gesagt; und sie gestund; daß sie damals über ihre Heyrath mißvergnügt gewesen sey und aufs Neue gefühlt habe, daß jede Neigung, jeder Wunsch ihrer Seele in[406] von P** vereinigt wäre. Doch habe sie sich überwunden, nicht nach ihm gefragt, und sich Mühe gegeben, Herrn van Guden in allem, was er nach seinem Charakter liebte, jeden Augenblick seiner Tage zu erfüllen, um ihn dadurch für das schadlos zu halten, was ihrem Herzen an der Zärtlichkeit der Liebe mangelte. Er wäre auch innig zufrieden mit ihrem Bezeigen gegen ihn und mit ihrem ganzen Lebenswandel bey ihm gestorben, und habe sie als eine reiche, unabhängige Frau zurückgelassen. Unmöglich habe sie nach seinem Tode länger da wohnen können, sondern wäre, nach Sicherstellung ihres Vermögens, nach Aachen gereiset, um da ihre Gesundheit wieder ganz herzustellen, und auch, weil sie dachte, sie könne dort, wo ein Zusammenfluß von so vielen Fremden aus allen Landen sey, etwas vom Herrn von P** erfahren. Dies sey auch geschehen. Ein deutscher Edelmann hätte ihr gesagt, daß er drey Kinder habe und meistens auf dem Lande ohne viele Gesellschaft lebe. »Meine Freyheit,« fuhr sie fort, »gab mir kein Recht, Wünsche oder Ansprüche auf mein Herz zu machen. Ich war unfähig, einen Gedanken zu haben, ihn [407] von seiner Verbindung zu entfernen. Ich versagte mir alles, was nur im mindesten dahin zielen konnte; nur wünschte ich, von Zeit zu Zeit zu wissen, wie es ihm ginge. Ich durchreiste einige Gegenden von Deutschland, besonders wo Höfe waren, um so viel möglich alle Stuffen der Vollkommenheiten und Fehler meiner Landsleute zu bemerken. Endlich setzte ich mich in der Hauptstadt meines Vaterlandes fest, miethete ein Haus, machte Besuche, nahm welche an, legte mit Vergnügen einen Theil meiner Renten und meiner Talente zur Verschönerung des gesellschaftlichen Lebens unter meinen Bekannten an. Ich war in meiner Kleidung aus zwey Ursachen äußerst bescheiden und einfach; einmal, weil ich dem Putz keinen Vorzug schuldig seyn wollte, und dann, weil der Mann, dem allein ich zu gefallen wünschte, mich nicht sahe. Da ich aber ungeachtet dieser Versäumniß des Putzes gefiel, mußte ich mich einer ausgedachten Coquetterie beschuldigen lassen. Ich schätzte lebhaft alles Gute, so ich fand; aber wie wurde mein Gefühl zurück gescheucht und verwundet! Die Wahrheit und Stärke meines [408] Wohlwollens wurde verspottet, meine Kenntnisse lächerlich gemacht. Liebenswerthe Frauenzimmer, denen ich meine ganze Seele gab, erwiederten mirs kalt. Ein Mann von feinem Geist, den ich wahrhaftig hochschätzte, mißhandelte meinen ganzen Charakter. Meine Freymüthigkeit, meine ganz wahre Seele wurde mißkannt und mißdeutet. Ich sah so viel kleine Pfeile gegen mich, daß ich auf einmal wegging.«

[409]
57. Brief
Sieben und funfzigster Brief

»Der Zufall brachte mich in die Residenz des Fürsten von ***, und ich nahm mir vor, den Winter da zuzubringen. Herr von P** kam auch dahin. Er war Wittwer. Ich beobachtete ihn in der Oper, beym Ball und Concert; aber ich hatte den Schmerz, ihn mit der tändelnden Artigkeit bey Damen zu sehen, die jeder alltägliche junge Mann in der großen Welt zeigt. Es schien mir der hohen Würde, die ich seiner Seele beylegte, unanständig. Von P**, den ich verehrte, anbetete, zum galanten Schwätzer erniedrigt! o, meine Freundinn! es zerriß mein Herz, und war mir Ueberzeugung, tödtliche Ueberzeugung, daß er mich nicht mehr lieben, ich ihn nicht mehr anbeten könne. – Hätte er dieses Betragen, diesen Ton seiner Gesinnungen gehabt, als ich ihn kennen lernte, so würde mein Glück und meine Ruhe nicht in die Gewalt meiner Leidenschaft für ihn gekommen seyn. Meine verfeinerten Empfindungen und meine [410] Eigenliebe litte die Marter. – Beleidigter Stolz und Zärtlichkeit führten mich auch von dort hinweg. – Ich wollte mich wieder Aachen nähern; im Durchreisen gefiel mir die Lage dieses kleinen Vorstädtchens. Ich sah die Dürftigkeit der Einwohner. Ach, sagte ich, diese fühlen keine andere Uebel, als Mangel an Nahrung und Kleidern. Glückliche! ich will eure Wünsche erfüllen, aber nichts geben, als was in euren kleinen Gesichtskreis gehört. – Ich blieb hier, und that, was Sie gesehen haben. Die große Geschäftigkeit, in der Sie mich fanden, kann Sie von der innern Unruhe meiner Seele urtheilen lassen; denn die Stärke der Hülfsmittel ist der sicherste Beweis von der Größe des Uebels. –

Sie werden ganz natürlich finden, daß die Empfindung für das Schmerzhafte und Schlechte eben so stark in mir seyn muß, als der Enthusiasmus für das Gute und Edle ist. – Die große Welt hatte das Götterbild meines Geliebten verstümmelt. Mein Unmuth suchte den Tempel zu zerstören, den ihm meine Verehrung in meiner Seele erbauet hatte; aber die Grundlage des Glücks [411] meines Herzens ging zugleich damit verlohren. – In dem Kreise meines Standes war ich mißkannt und verwundet. Ich wollte nichts von beyden mehr sehen: – Das Gebiet der Kenntnisse und Empfindungen war mir zuwider geworden, weil meine Rechnung auf Ruhm, Liebe und Freundschaft, die sie mir erwerben sollten, auf nichts herunter gekommen war. Ich mußte mich aber beschäftigen, mich aus, mir selbst hinausführen, und einen Gegenstand haben, dem ich meine Liebe geben konnte. Der bittre Verlust alles dessen; worauf ich bisher das Gepräge meiner Glückseligkeit und meines Vergnügens gesetzt hatte, machte mich um so viel mitleidiger gegen die Seufzer des Mangels, die ich aus der Brust dieser guten Leute empor steigen sahe. Die herzliche Erleichterung, so ich bey dem Entwurf meiner Hülfe fühlte, und die ersten Thränen der Freude, die über die Wangen meiner Wirthinn flossen, als ich ihr davon redte, befestigten mich darinn. Ich weinte mit; und glauben Sie, meine Freundinn, die Thränen, die wir über fremdes Elend weinen, sind lindernder Balsam auf die Wunden unsers [412] Herzens. – Der gute Fortgang aller meiner Anstalten gefiel mir. Ich konnte wieder singen und Clavier spielen. Den Tag über besuchte ich meine Leute, Abends las ich und übte meine Musik. Ich wollte nichts, als Reisebeschreibungen, weil ich nur die physische und materielle Welt vor mir wissen wollte; denn ich war mit jedem moralischen Begriff der andern mißvergnügt und im Streite. Dennoch fing ich an, mir zu sagen, daß, wenn das Schicksal die Wünsche meiner Liebe befriediget hätte, so wäre dieses das Glück einer einzelnen Person gewesen; diese dreyzehn Familien würden noch darben, und ich würde von meinem Wohlstand keinen so entzückenden Genuß von Seeligkeit empfunden haben, als mir jetzo jeder Blick auf Eltern und Kinder giebt. – Aber als das letzte Haus in Ordnung war, und ich meinem Geben und meinen Arbeiten ein Ziel setzte: so entstund aus der Ruhe wieder das Gefühl von Leere. – Sie erschienen mir. Ich bemerkte in Ihnen alle Eigenschaften, die ich bisher vergebens gewünscht hatte. Dennoch kämpfte ich gegen meine Neigung für Sie. – Ich las zu [413] meiner Zerstreuung, und als Probe eines neuen moralischen Hülfsmittels, einen Auszug der Kirchen- und Staatsgeschichte. Hier schöpfte ich Stärke und vernünftige Befriedigang, und ich söhnte mich mit der ganzen Erde aus. – Der zu allen Zeiten ungleiche Gang des menschlichen Geistes auf dem Wege der Wahrheit und Natur; das Abweichen davon und Beharren auf Irrgängen; das traurige Schicksal so vieler edlen Menschen; die große Gewalt, welche ganz kleinen Ursachen gegeben war, und der Beweis, den ich fand, daß in der physischen und moralischen Welt alles mögliche Gute und Böse, in einem gleichlaufenden Zirkel des Entstehens, Wachsens, Abnehmens und Verwandelns, unsern ganzen Erdball umgiebt; – diese Betrachtung besänftigte mich ganz, und führte mich zum Nachdenken über mich selbst. Ich gestund mir, daß ich gewiß vieles in meinem Wesen hätte, so Andern eben so stark gegen ihre Begriffe des Liebenswürdigen und Angenehmen liefe, und ihnen auch eben so viel Mißvergnügen geben müsse, als sie mir. Diese Gedanken setzten und ordneten [414] sich je mehr und mehr in meiner Seele, und näherten mich Ihnen. Mein Herz war freylich von der übenden Wohlthätigkeit und dem Glück, so ich genießen machte, erfüllt; aber es war was in mir, das mich trieb, den Frieden, den ich mit allen meinen Nebenmenschen geschlossen hatte, bekannt zu machen, und mein Kopf hatte nöthig, mit Jemand umzugehen. Sympathie sprach für Sie. Ihre Freundlichkeit, die der arme Schuhmacher mir so lobte; die Verlegenheit, in der die guten Leute zwischen Ihnen und mir, wegen der Gevatterschaft waren; die Mühe, die Sie sich nahmen, das Kind selbst aus der Taufe zu heben, anstatt eine Magd zu schicken; Ihre Anrede an die Wöchnerinn; die Freymüthigkeit, mit der Sie mich die Begierde merken ließen, mich näher zu kennen; Verehrung und Anhänglichkeit, die Sie mir in gleichem Grade zeigten; Aussicht auf Genuß einer edlen Freundschaft; Bedürfniß dieses Glücks, Vergnügen, so ich Ihnen damit machte, öfnete Ihnen mein Herz, je mehr ich den Werth des Ihrigen kennen lernte, – vielleicht auch, weil Sie [415] etwas eben so Sonderbares haben, als ich selbst.

Dennoch, meine Liebe! wenn Einer meiner Vorstädter über Sie geklagt hätte, wenn ich nicht das redliche Lob der guten fremden Jungfer von Ihnen gehört hätte: so würde ich auf das Vergnügen Ihres Umgangs Verzicht gethan haben; denn ich wollte nichts von der ganzen Liebe und dem Vertrauen dieser Leute verlieren. – Das Volk hat richtiges Gefühl von Tugenden und solchen Eigenschaften, die einen wirkenden Einfluß auf ihr Wohl haben. Deswegen lieben sie den gerechten, uneigennützigen, leutseligen Mann; den Wohlthätigen und den Tapfern, der das Vaterland vertheidigt; den Prediger, den Beichtvater, die um ihre ewige Wohlfahrt beschäftigt sind; den Vornehmen, der mit Güte und Achtung sie ansieht und behandelt. Aber die größte Gelehrsamkeit und das höchste Maaß der Kenntnisse des Geistes sind für sie verlohren. Was wollten sie auch damit thun, die guten Leute? – Und mir, mein Kind, mir war es Bedürfniß, daß Jemand [416] mir sagte: Ich schätze Ihre Talente und Ihr Herz. – Dieses mußte ich von Jemand hören, dessen Geist und Seele meine ganze Hochachtung verdiente. –

›Haben Sie Dank,‹ sagte sie mir, mit einer zärtlichen Umarmung, ›daß Sie diese Freude mir gegeben haben.‹« –

[417]
58. Brief
Acht und funfzigster Brief

Nun wissen Sie, meine Freundinn, die Hauptzüge des Charakters und des Lebens der Frau van Guden, und Sie denken, daß sie mir um so viel werther war, da ich sie nun ganz kannte. Ich mischte unter meinen Dank für ihre Erzählung eine Art von Staunen, wie es wohl möglich wäre, daß man Sie verkannt und nicht immer geliebt habe? – Sie sagte: »Ihre Freundschaft für mich thut hier wirklich die Frage, die meine Eigenliebe damals that, und es auch nicht fassen konnte. Aber jetzt, da ich gegen Andre eben so billig, als gerecht gegen mich selbst bin, finde ich es ganz leicht, daß ich, mit all meiner wahren Güte, Mißvergnügen verursachen kann. Jede Art von Stärke, oder Gewalt, die bey einem Weichlichen oder Schwachen gezeigt wird, giebt um unangenehme Besorgnisse, wenn sie nicht grade zu seiner Unterstützung oder überhaupt zu seinem Besten gebraucht wird. Die zu große Lebhaftigkeit, mit der ich bisher bey allen [418] Gelegenheiten für jedes Gute sprach, mag oft in einer und andern Person eine Erinnerung einzelner Versäumnisse der Ausübung desselben hervorgebracht haben; und, meine Liebe, wir machen es mit Personen, die wir ungefehr ein uns entwischtes Versehen bemerken hören, nicht, wie mit dem Spiegel, den wir in dem Hause eines Freundes oder Bekannten antreffen, dem wir es Dank wissen, wenn er uns zeigt, daß wir eine Bandschleife, eine Palatine, oder eine Blume nicht gut geordnet haben. Und dann hatte ich bey meiner Güte nicht genug Anschein des Sanften und Duldenden, was man im Französischen durch Caractere de douceur ausdrückt, und mit welchem in der That süsser zu leben ist, als mit mir. Denn gewiß, zu viele Lebhaftigkeit hindert die Grazie des Verstandes und der Geberden, wie es bisher mit mir geschehen ist; und dann hat es seine gegründeten Ursachen, daß man den, der immer gleich gut scheint, mehr liebt, und ihm mehr Dank weiß, als dem, der sagt: Ich will gut mit Euch seyn; – ich will Euch ertragen. –

[419] Es ist wahr, meine Talente gaben mir viel Zufriedenheit mit mir selbst, und ich wollte sie mittheilen, wie mein Geld. Ich mag es in der Art, sie zu zeigen, versehen haben, weil sie mir so wenig Freunde machten; und ich muß also auch mit den Folgen zufrieden seyn. – Wie wenig dazu gehört, eine empfindliche Eigenliebe, oder einmal gefaßte Ideen des Guten und Richtigen, zum Widerwillen und Verdruß zu bringen, beweiset mein Unmuth über den Herrn von P**, wegen seines galanten Bezeigens, womit er die Damen in N** unterhielt. Dieser Unmuth siegte über meine Liebe für ihn. Warum sollte ein Mißvergnügen, das ich meinen Bekannten gab, nicht über eine zufällige Freundschaft gesiegt haben?«

Ich sagte hier: »Ach, der Fall war anders mit Ihnen. Eifersucht überfiel Sie, da Sie den Mann ihres Herzens der nun frey war, bey anderm Frauenzimmer so aufmerksam sahen.«

»Es mag etwas davon seyn; aber es ist ganz in meiner Seele, daß ich vortrefliche Leute, ohne die geringste Erwartung von Gegenachtung, innig liebe und ehre; wie [420] es mir hundertmal ergeht, wenn ich das Eole und Große in einem Charakter der alten Geschichte, oder in Nachrichten von Jetztlebenden finde, die so weit von mir entfernt sind, daß ich sie niemals antreffen, oder ihnen bekannt werden kann.« –

»Auf diese Art ist ihre Liebe eigentlich nur Dank für das Vergnügen, so man Ihnen giebt, einen schönen moralischen Charakter darzustellen?«

»Sie können Recht haben, meine Liebe; denn ehemals haßte ich auch, sobald ich einen starken moralischen Mangel bemerkte. Aber ich habe mich nun von dem Eigensinn befreyet, alles nach meinen Modellen gestaltet zu sehen; und die Mannigfaltigkeit in der moralischen Welt giebt mir eben so viel Zufriedenheit, als die, so ich in der physischen bewundre. Ich werde es in Zukunft mit meinem Geist und Herzen, wie mit meinem Körper machen. Wenn ich, in meinem ruhigen Gange, an einen Stein stoße, oder mich an einem Dorne ritze, so wäre mein Zorn unvernünftig. Die Natur des erstern ist Härte, des zweyten stachelicht. Wenn meine Empfindlichkeit ihnen zunahe kommt, [421] so leidet sie; ich muß mich also in Acht nehmen, wenn ich sie noch öfter in meinem Wege antreffe.« –

»Liebe Madame Guden! Sie lehren wich da sehr Vieles, was mir mein Leben erleichtern kann.« –

»Und auch das Leben derjenigen, die um Ihnen sind. Denn wir üben niemals keine kleine, oder keine große Tugend aus, ohne andern Gutes und Vergnügen damit zu geben.« –

»Das ist wahr; aber es giebt auch viele Tugenden, zu deren Ausübung ein großes Vermögen gehöret.« –

»Warum fällt Ihnen just diese Betrachtung ein?« –

»Weil ich niemals keine von den großen Tugenden werde ausüben können, die ich an Ihnen verehre.« –

»Ich dachte wohl, daß mein Reichthum diese Idee hervorgebracht hätte. Aber wie wäre es, Rosalia, wenn ich Ihnen bewiese, daß Sie mehr Gutes thun können, als ich; und mehr innern Frieden genießen werden?« –

»Dies scheint mir nicht möglich!« –

[422] »Wenn Sie, meine Liebe es ganz eigen auf das deuten wollen, was ich hier in der Vorstadt gethan habe, so haben Sie Recht. Aber da es ausgemacht ist, daß niemals zwo Sachen einander vollkommen gleich waren: so können es unsere Handlungen auch nicht seyn; so wenig es unsere Umstände sind. Sie werden also die Güte Ihres Herzens auf eine andere Art weisen, und das Meiste aus dem Reichthum Ihrer edlen Gesinnungen und ihres feinen Geistes schöpfen müssen. Und dabey ist mehr Mühe, aber gewiß auch ein höheres Vergnügen, als wenn der freygebige, gute Reiche, Geld für die Leidende giebt.« –

»Vergeben Sie, werthe van Guden, wenn ich Ihnen freymüthig bekenne, daß es mich auch leichter dünkt, mich an Ihren Platz zu stellen, als es Sie dünken würde, wenn Sie den meinigen einnehmen müßten.« –

»Das ist noch eine Frage; denn Sie wissen die Fabel mit den Bindeln, da ein jeder glaubte, daß der andern ihre leichter wären.« –

»Ach! Sie wissen es nicht so, wie ich.« –

[423] »Das ist wahr; aber Sie haben mir auch noch nichts gesagt.« –

»Sie waren mir wichtiger, als ich mir selbst.« –

»O, Rosalia! wünschen wir nicht auch das ganz Neue zu hören anstatt dessen, was wir schon lange wissen?« –

»O, Madame Guden, warum strafen Sie mich so oft über die Neugier, welche, Sie müssen mich es sagen lassen, der außerordentliche Ton Ihres Charakters nothwendig hervorbringen mußte.« –

»Vergeben Sie diese Art Strafe, wenn Sie eine zweyte Ursach anstatt der ersten sagen.« –

»Ja, aber ich will mich auch rächen; denn ich will Ihnen sagen, was mein vermuthliches Loos seyn wird; und sie sollen mir seinen Gebrauch entwerfen.« –

»Das thue ich sehr ungern; denn just dieser Leichtigkeit, mit welcher ich ehmals Umrisse von dem zeichnete, was ich an der Stelle dieses oder jenen machen würde, just dieser hatte ich den Grund der Abneigung zuzuschreiben, die ich mir zuzog; und ich möchte Ihre Liebe nicht verlieren.« –

[424] »Das wird auch mit mir nicht geschehen. Erlauben Sie mir, daß ich Sie bey dieser Gelegenheit nur auf der Seite des Talents ansehe, das Sie haben, schöne Zeichnungen zu machen; und mir von Ihnen, wie man oft bey dem Vorsatz zu bauen thut, einen Riß nach Ihrer Einsicht machen lasse, wenn Sie den Raum des Bodens wissen, den ich dazu verwenden kann.« –

»Ich will es, Rosalia. Aber Sie müssen mich dann auch die Anmerkungen wissen lassen, die Kunstverständige darüber machen werden.«

Dies versprach ich ihr; und das nächstemal erzähle ich ihr meine vorläufige Verbindung mit C**, meine Aussichten und den Wohnplatz, den ich haben werde.

[425]
59. Brief
Neun und funfzigster Brief

Meine heutige Unterredung mit Frau van Guden war sonderbar, weil sie auf alle meine Fragen auf so abgebrochen antwortete, wie zum Beweis, auf die von der Religion: »Sie ist meinem Hetzen nicht nur um meinetwillen sondern auch des Nächsten wegen schätzbar, weil sie allen Menschen, sie mögen große oder kleine Verstandskräfte besitzen, deutliche und hinreichende Mittel und Bewegungsgründe zu guten Handlungen varbietet, Trost im Leiden verschaft, und wahre Zufriedenheit auch bey geringen Umständen lehret. Aber sie ist nicht mehr, wie sie aus den Händen ihres göttlichen Stifters kam. Süße und bittre Leidenschaften hindern und unterbrechen ihren Einfluß, wie den von der Vernunft. – Aber lassen Sie mich davon aufhören; ich bin über diesen ehrwürdigen Gegenstand nicht gern in Gespräche verwickelt.« –

Hierauf sagte ich ihr, daß ich Vorgestern in einer Gesellschaft jemand in großem Eifer [426] gegen Leute gesehen hätte, die mehr Aufmerksamkeit und Bewundrung für Werke der Kunst der Menschen zeigten, als für die Wunder der Schöpfung; und daß ich gewünscht hätte, sie mit da zu sehen, um ihre Gedanken darüber zu hören. –

»Von diesen hätte ich in einer großen Gesellschaft am wenigsten gesagt.« –

»Aber da ich allein bey Ihnen bin, würden Sie mich sehr verbinden, wenn Sie mir sie mittheilen.« –

»Ich halte diesen Tadel für Unrecht; denn der vermeinte Vorzug der Kunst liegt gewiß in dem Gefühl, daß die Werke der Natur durch Allmacht und Weisheit eines Gottes entspringen; Künste aber, durch Geschöpfe unsers gleichen, und uns also mehr in Erstaunen setzen müssen, weil wir in dem Augenblicke, da wir sie bettachten, einen so großen Unterschied des Gebrauchs und der Fähigkeiten der nemlichen Organisation bemerken.« –

Hierüber sagte ich mit einiger Bewegung: »O, was für einen Verlust hat die Gesellschaft an Ihnen erlitten! wie viel Licht, wie [427] viel Menschenliebe hätten Sie ausgebreitet! wie sehr hätte man Sie geschätzt!« –

»Das glaube ich nicht, mein Kind; denn der ganze Ton meiner Seele ist zu eigen gestimmt. In wichtigsten Anlässen würde ich immer mißfallen und mißvergnügt sehn.« –

»Sie! – mit so viel Kenntnissen, mit so viel Empfindung, würden gewiß die edelste Hochachtung und Liebe erhalten.« –

»Gute Rosalia! was Sie da sagen, beweist mir, wie verschieden unsere Begriffe von Hochachtung, Liebe und Edelmüthigkeit sind.« –

»Und wie so?« –

»Ach, alle Gefühle meines Herzens hierüber, gehören mit unter die todten Sprachen, die nur die und da ein Geschichtschreiber, oder Alterthumsforscher erlernt, um von den Sitten und Gewohnheiten erloschener Nationen zu reden.« –

»Zu welchen zählen Sie mich? Denn ich hoffe, Sie sind überzeugt, daß ich Sie von Herzen hochschätze.« –

»Ja, meine Liebe. – Aber ich bin doch auch überzeugt, daß ein großer Mißbrauch der Worte: Verehrung, Freundschaft, Liebe, [428] Menschenfreundlichkeit, gemacht wird; daß man ganz geringe Grade der Bewegungen unserer Seele so nennt, und daß dadurch in der moralischen Verfassung eben so viel Uebels hervorkam, als in der politischen entstund, da man geringem Verdienste und vielen schlechten Leuten große Titel gegeben hat. Dadurch haben ehemalige Ehrenbenennungen ihre Würde verlohren, und die Triebfedern zu großen edlen Handlüngen sind gelähmt worden.« –

»Erlauben Sie, Madame Guden, daß ich hier mit einem Gleichniß einfalle. Es sind auch in der physischen Welt mehr mittelmäßige, als außerordentliche Sachen; und da trifft also das genaue Verhältniß ein, das beyde mit einander haben.« –

»Ja, das Verhältniß ist in allem; Ablaß der Sünden und Adel wird mit Geld erkauft; – da ist auch wieder Gleichheit in den wahren Verdiensten des Adels und den wahren Tugenden der Christen.« –

Ich sah sie an; und gewiß, meine Blicke fragten sie, was das für eine Stimmung ihres Gemüths seyn möge, in der ich sie heute gefunden? – Sie faßte auch diesen Blick [429] gleich auf, indem sie lächelnd sagte: »Rosalia, Sie beweisen wirklich, was ich vor einigen Augenblicken anzeigte. Denn Sie staunen ja gar sehr über alles, was ich auf Ihre Fragen antworte.« –

»Ich staune nicht über die Antworten; aber über den abgebrochenen, starken Ton, in dem Sie reden. – Waren Ihnen meine Fragen mißfällig?« –

»Nein, meine Freundinn; aber ich kann von diesen Gegenständen nicht leicht reden, ohne daß die Hauptsaiten meines Charakters erschüttert werden. Merken Sie sich nur, daß ich die Gelegenheit dazu nicht suchte, und denken Sie, nach dem, was Sie von dem Gange meines Geschicks und meiner Erziehung wissen, daß ich auf diesem Weise nothwendiger Weise einen eignen Gesichtspunkt bekommen mußte, worinn mir die Sachen so erscheinen, wie ich sie mahle. Und dann ists auch wahr, daß meine Farben nicht so unmerklich in einander fließen, wie es bey feinen Schattirungen geht.« –

»Aber, Sie wissen doch, wie sehr mir, von dem ersten Augenblick an, Ihre Manier gefallen hat. – Ich fühlte diesen Zug [430] nach Ihnen, als ich Sie Recitativ singen hörte.« –

»Ja, es dünkt mich,« sagte sie, »daß Sie auch von der Hauptstraße abgewichen sind, und daß Ihr Fußpfad in den meinigen kreuzte.« –

»Ich hoffe noch mehr, denn ich denke, daß wir mit einander fortgehen werden, weil, allem Ansehen nach, diese Stadt mein Wohnplatz bleiben wird; und Sie werden die glücklichen Geschöpfe nicht verlassen, die Sie aus dem Elende zogen.« –

»Vielleicht entferne ich mich, um ihnen ein noch größeres Glück zu geben.« –

»In was könnte dieses bestehen?« –

»In der vollkommenen Freyheit, meine Gaben ohne meine Oberaufsicht zu genießen.« –

»Und ich, was würde mir bleiben?« –

»Mein Andenken und mein Briefwechsel, in dem Sie die so oft abändernde Launen nicht finden würden, wie in meinem Umgange.« –

»O, Madame Guden, wie ist es möglich, daß Sie mit der kalten Ruhe von dem Schmerze reden, der Ihren guten Vorstädtern und mir durch Ihre Abreise zukäme?« –

[431] »Wenn es wahres Unglück nach sich zöge, so würde ich es nicht einmal denken können. Aber gewiß, es ist Wohlthat, wenn man uns unsere Kräfte brauchen lehrt. – Für meine Leute habe ich nichts mehr zu thun; und was ich für Sie seyn kann, wird in der Ferne besser geschehen, als in Zukunft hier. Mein Gemüth ist noch zu unruhig. Ich würde bald Ihre Tage verbittern.« –

»Das ist unmöglich; denn der Antheil, den ich an Ihnen nehme, ist eine von den süßesten Empfindungen meines Lebens.« –

»Ich glaube es. Aber Sie geben mir desto traurigere Besorgnisse, über das Wohlgefallen, das Sie an dem Bilde und den Wendungen einer so stark herrschenden Leidenschaft finden. Sie haben alle Anlage, die Sie zu den nemlichen Schmerzen führen kann; und wie unerträglich wäre mir der Gedanke, Ihre Ruhe untergraben zu haben!« –

»Das kann nicht seyn; denn es liegt schon alle Gleichheit in uns, bis auf diese, daß mein mir bestimmter Freund auch abwesend, auch in der großen Welt lebt; daß ich ihn [432] zärtlich liebe, und in meiner Seele tausend Jammer über ihn habe.« –

Sie sah mich mit Wehmuth an, stund auf, umarmte mich; eine Thräne zitterte in ihrem schönen Auge. – Aber bald faßte sie sich und sagte mit Ernst: »Rosalia! ich habe noch einen Auftritt vor mir; diesen will ich durchsetzen. Sie sollen alles wissen; und ich hoffe dadurch Ihrer edlen Seele nützlich zu werden indem Sie sich alle Merkmale meines Weh's und meiner Schwäche bezeichnen können, um Ihr Wohl desto sorgfältiger zu bewachen.« –

»Aber dieser Auftritt, muß er seyn? – Wollten Sie mich nicht lieber durch Stärke und Sieg, als durch Schmerz und Verlust belehren?« –

Hier ging sie schnell, aber mit keinem unfreundlichen Wesen, in ihr Cabinet. Es machte mich unruhig. In einigen Minuten kam sie wieder und trat an ihr Clavier, wo sie ganz englisch spielte und sang; mir hernach sagte, sie danke mir, ich hätte sie belehrt und sie wolle Stärke und Sieg suchen; doch eine Reise müsse ich ihr erlauben im Frühjahr zu thun; ihr Leben und ihre Gemüthsruhe [433] hange davon ab; ich solle ihr hingegen auch meine Seele öffnen, wie ich schon oft versprochen. Das will ich auch nächstens thun; und da sie fest auf einer Reise besteht, so will ich suchen, sie öfter zu sehen. – Die Frau ist äusserst interessant, und der Herr von Pindorf ist der Mann nicht, für den sie ihn hielt, da er, anstatt gleich nach dem Tode seiner Frau nach ihr zu fragen, in Hofstädten und Opern den artigen Herrn spielt.

[434]
60. Brief
Sechszigster Brief

Mariane! Menschenfreundlichkeit ist in dem Herzen der Frau von Guden eine unerschöpfliche Quelle von Erfindung geworden. Sie legt einen Spaziergang an. Zu dessen Erweiterung und Unterhaltung hat sie Grundstücke für die Gemeinde der Vorstadt gekauft, wovon eine Wiese, die mit etlichen großen Bäumen geziert ist, und gleich an der Landstrasse liegt, zum Spaziergang im Grünen; das andre Stück aber, nebst einem daran stoßenden schönen Ackerfelde, dem nahe wohnenden Gärtner, wegen Unterhaltung der Bäume und Hecken, zum Genuß gelassen wird; und er hingegen darf seine Milch und Butter im Sommer niemand verkaufen, als den bürgerlichen Einwohnern, die sie im Grünen essen wollen. An dem Bache, der auf einer Seite hinläuft, hat sie, so lang die Lustwiese geht, wie ich sie nennen will, das User allmählig abhängig machen lassen, damit die Kinder im Laufen und Spielen nicht jähling hinein fallen können, und die Gehenden und [435] Sitzenden das Vergnügen haben mögen, den Lauf des Bachs zu sehen. Gegen die Straße ist ein etwas tiefer Graben gemacht, damit reitende und fahrende Reisende den Platz nicht verwüsten möchten. Es gehen aber vier Brücken darüber, auf deren beyden Seiten Bänke sind, die sie dem Fußgänger gern gönnt. Ueber der Landstrasse, andrer Hand, ist der zweyte Theil des öffentlichen Lustplatzes, an dessen Ende, gegen die Stadt, des Gärtners Wohnung ist, welche aber mit sammt seinem Gemüsgarten, etwas tiefer liegt, und durch eine schöne, aber wildwachsende Hecke versteckt wird, so daß man nur einen Theil davon sieht. Unmerklich erhöht sich das Stück, von welchem man eine weite, schön angebaute Landschaft und den von ferne kommenden Bach sieht. Hier ließ sie steinerne Bänke setzen und an das äußerste Ende, gegen Mittag, Waldbäume hervorbringen, die schon ziemlich groß sind. Wenn diese fortkommen, so ist es vortreflich, denn sie schützen die Hälfte der Bänke vor der Mittagssonne. Wilde Rosen und einiges Gesträuch, so da war, hat sie heilig schonen lassen, damit es ruhig und in seiner angebohrnen Freyheit fortwachse. Es [436] bekleidet auch just die scharfe Ecke der kleinen Anhöhe, an welcher der Bach dicht hinfließt, worüber die Landstraße durch eine Brücke fortgeführt wird. Etwa funfzig Schritt davon hatte sie das Glück, eine Quelle sehr guten Wassers zu finden, das immer schon aus dem Grase hervor rieselte, aber nur im Sand und Schlamm fortlief, bis sichs in den Bach goß. Sie ließ nachgraben, und man entdeckte zwey Wasserfäden, die nur eine Spanne von einander schwesterlich aus einer Steinritze fließen. Diesen Stein ließ sie unten ganz sanft etwas einwärts abhauen, und auf den Boden einen ungearbeiteten Stein legen, und nur so aushöhlen, als ob das Wasser durch die Länge der Zeit solches selbst verursacht hätte. Aus diesem läuft es in einen mit Kressen bewachsenen Graben, wie vorher in den Bach. Gegen Mittag hat sie Erde aufhäufen lassen und mit schnellwachsenden Standen besetzt; auf der andern Seite einen halben Zirkel eingegraben und auch Bänke hingebracht. Man wußte lange nicht, warum sie durch kleine Kinder, die nicht arbeiten können, eine Menge weiser, hell und dunkelgrauer Kieselsteinchen sammlen ließ. Endlich waren sie dazu bestimmt, den [437] Stein zu kleiden, welchen sie über das Quellchen setzen ließ, um das Nachfallen der obern Erde zu verhindern. Der Stein wurde mit einer Art Kütt dicht bestrichen, und ein liegender zerbrochener Wasserkrug just über dem Ausfluß des Quellchens darauf gezeichnet, und nach der Zeichnung die kleinen Kiesel eingesteckt, die nach ihren verschiedenen Farben Licht und Schatten machen und recht artig täuschen; indem noch weiter oben, von nemlicher Arbeit, ein Stück zerfallnes Geländer und Stiege nachgeahmt ist. Auf der Seite, wo die Bänke sind, ist auch gegen das Nachfallen des Grundes eine niedrige Mauer aufgeführt, und auch diese mit Kütt überzogen, mit weißen Kieseln besteckt und mit schwarzen Steinen darin: Komm, Müder! ruhe und erquicke dich. – Allerley Kräuter sind oben und auf den Seiten gepflanzt. Da nun Raum genug für zehn bis zwölf Personen ist, so macht das Ganze einen herrlichen und freundlichen Anblick für die Vorbeyreisende, deren schon viele halten ließen und den so liebreich einladenden Brunnen betrachteten und lobten. Ich bin einigemal mit ihr und andern hier auch spatzieren gegangen. Es ist [438] mir unendlich schätzbar, als diese Thätigkeit und dies Erschaffen in der Seele einer Person von meinem Geschlecht zu sehen. Madame van Guden hat sich einen großen Zirkel von Wirksamkeit vorgezeichnet. Ihr Bilderbuch aber, sagt sie, macht ihr die meiste Arbeit, weil sie in Allem, was Pindorfen angeht, Vollkommenheit hervorbringen möchte. –

Dieser Lustplatz hat sie sehr ergötzt, und sie hörte und sah gern, daß ich in Allem beystimmte und mit ihr genoß. Zweymal mußte ich im Mondschein mit ihr hinaus. Süßere Melancholie habe ich niemals gefühlt, als die Augenblicke, wo ich mit ihr auf einer der Steinbänke saß; und schweigend, wie sie, die schlafende Gegend betrachtete. Ihr Gesicht war voll Ausdruck einer tiefen Rührung. Mit einem halb unterdrückten Seufzer sah sie den Mond und dann mich an. Eine Thräne schwamm in ihrem Auge. Sanft umarmte sie mich, legte ihren Kopf leicht auf meine Brust, und lüßte ein Paarmal meinen Hals, aber auch nur ganz leise. In diesen Augenblicken redet man nicht durch Worte. Ich verstand sie und freute mich über den Werth, den sie auf mich legte. Wenn ein gepreßtes[439] Herz sich an ein redliches, theilnehmendes Herz anlehnen und athmen kann: o, da ist ein Mensch viel für den Andern; da fühlen sie mit einander Wohl und Weh der Menschheit; einzeln ohnmächtig gegen Uebel, vereint aber vermögend, ihre Empfindung und Kräfte zu verstärken und fortzukommen. – Endlich erholte sie sich, küßte mich lebhafter und sagte: »Liebe Rosalia, ein eigensinniges Herz ist ein großes Gegengewicht gegen alles, was Schicksal und Natur zu meiner Glückseligkeit bestimmten. – Heute hat diese Wagschaale stark übergezogen. Gestern war ich viel glücklicher, als ich allein hier gegen Abend spatzieren ging, und in Wahrheit, zufrieden mit mir selbst, den Wunsch that, daß ich den Einwohnern der Vorstadt, wie ich ihnen mein Gold mittheile, auch das Gefühl meiner Seele möchte geben können, welches die auf-und niedergehende Sonne, Mondschein und Sternhimmel mir geben. Könnte ich doch auf dem Spatziergange, den ich anlegte, Empfindungen für die schöne Natur, mit den einfachen Blumen aufwachsen machen, damit bald die hohen, schattigten Linden, und der schöne weiße Hagedorn, bald [440] das mannigfaltige Gras und Kräuter, so ihre Kühe nähren; der Bach, so sie beyde tränkt; reine Luft, blühende Bäume, volle Saaten, ein kühler erquickender Wind, ihnen den seligen Gedanken eines väterlichen Gottes geben möchte, der diese besten Freuden des Lebens Armen und Reichen gleich austheilt, und alle Jahre mit dem Frühling erneuert! – Ich habe deswegen den Platz auf der Seite der weitesten Aussicht erhöhet und da die Steinbänke gesetzt, damit sie Abends, mir der anfangenden Ruhe ihres Körpers, den süssen, wohlthätigen Frieden in sich saugen mögen, der auf den fruchtbaren Gefilden ihres mütterlichen Bodens herrschet. – Aber, Rosalia, dieser Wunsch wird auch nur stückweise erfüllt werden, wie meine Empfindungen auch wechselsweise stärker und schwächer sind.« –

[441]
61. Brief
Ein und sechszigster Brief

Frau van Guden blieb dabey, mir nicht mehr als zween Tage der Woche zu geben; und ich bleibe dabey, sie auf die Probe zu stellen, wie sie sich einst in meiner Stelle, als Frau des Herrn Cleberg, und jetzo an dem Platz zweyer unverheyratheten Freundinnen meiner lieben Julie Otte, betragen würde? Sie muß bey dieser Gelegenheit würklich aus sich selbst heraus gehen, weil sowol die Umstände, in denen ich mich befinden werde, als auch die von den vier guten Mädchen, ihr weder den willkührlichen Gang ihres Denkens, noch die Freyheit ihres Tons und ihrer Handlungen erlauben. Und da wäre es ja möglich, daß sie zu der Art Leuten gehörte, die in einem großen unbeschränkten Felde, muthige, edle Schritte und Bewegungen machen, in einem kleinen umzäunten Höfchen oder engen Zimmerchen aber, so gezwungene kleine Tritte, Beugung des Kopfs, und Uebereinanderschlagen der Arme vornehmen, daß Jedermann das Unschickliche oder Unangenehme davon [442] in die Augen fallen müßte. Es ist mir beynah auch mehr daran gelegen, was sie für die vier guten Geschöpfe ersinnen wird, als was mich angeht; denn an meinem jetzigen Seyn und Wesen könnte und möchte ich nichts ändern. Der Himmel weiß, ob ich Clebergen jemals wie der sehe, oder ob er mein bleiben wird? Ich war freylich seine erste Liebe, wie er die meinige ist: aber seine Reisen, sein Platz als Gesandtschafts-Sekretair, müssen ihm hundert Gelegenheiten gegeben haben, liebenswürdige Frauenzimmer kennen zu lernen. Kann ich fodern, kann ich hoffen, daß mein Andenken, daß die Gesinnungen, die er für mich hatte, immer gleich wachsam für mein Glück, bald der überraschenden Gewalt einer neuen Schönheit, bald dem sanften Einnehmen der stillen Anmuth, oder den Reizen des Geistes, der Tugend und Talente, Widerstand thun werden? – O Mariane! ich schreibe selten von Cleberg, rede gar nicht von ihm. Aber denken; seine Briefe an meinen Oheim, an mich, zehnmal lesen; ausspähen, ob nicht eine kleine Anzeige von Aenderung oder Frost darinnen sey, wie eifrig geschieht das! Auch suche ich mit Sorgfalt die Spuren [443] seines Geschmacks auf, und bitte meinen väterlichen Freund um Bücher, oder Unterricht darüber, damit der arme Cleberg nicht einst alles entbehren müsse, was er jetzt in auswärtigen Gesellschaften mit so vielem Vergnügen genießt. Mein Oheim hat mich darin aufmerksam gemacht; denn die außerordentliche Unwissenheit seiner Frau, mit welcher er niemals etwas Vernünftiges, das ihn freute, sprechen konnte, da sie an seinem Wissen und an Sachen, die ihn ganz beschäftigen, nicht den geringsten Antheil nahm, hatte ihn aus seinem Hause gejagt und herum schwärmen gemacht; worüber sie zürnte und sich grämte, dadurch aber auch ihre schwächliche Gesundheit abzehrte und ohne Kinder starb.

Dabey sagt aber mir mein Oheim oft: »Gelehrt will ich Dich nicht haben: nur den Geschmack des Wissens und ein vernünftig zuhörendes Aussehen, wenn von der Geschichte, der Physik und andern Kenntnissen gesprochen wird.« – Sprachen und Musik stünden einem Mädchen, das zur Frau eines Gelehrten oder guten Negocianten bestimmt wäre, auch wohl an; ich solle aber ja niemals anders, als in einem weiblichen Ton von alle dem reden, [444] was ich auswendig gelernt, oder aufgehascht haben könnte; denn durchgedacht hätte ich nicht viel, wie er glaubt.

Letzthin sah er mir eine Zeitlang zu, als ich nähte und mit vieler Nettigkeit an seinen Manschetten besserte. Da sagte er mit seiner wahren Gutherzigkeit: »Mädchen! die feinen Stiche Deiner Nadel sind eben so viel werth als der Witz Deines Kopfs.«

»Ich möchte wohl wissen, mein lieber Oheim, welchem von beyden Sie den Vorzug geben?« –

»Hum!« sagte er, und sah mich an. »Rosalia! wenn ich ein Alltags Oheim wäre, und Du ein gewöhnliches Mädchen: so wählte ich gleich. Aber, da ich weder den Eigensinn der Haushälter, noch die Eitelkeit der schönen Geister habe, die Euch entweder nichts als Handarbeit, oder nur Witz, Poesien und feine Kenntnisse erlauben wollen: so sage ich Dir, daß es mir leid wäre, in einem Mädchen Deines Standes und Deiner Aussichten, eines von beyden zu missen, da beyde beysammen seyn können; weil der Unterricht und die Uebung in Haushaltswissenschaften die Du brauchst, und die Umstände [445] Deines Vermögens, Dir Zeit und Recht genug geben, um auch Deinem Verstande die Kenntnisse und Wendung zu erwerben, durch die er sich in Deinem Zirkel zeigen kann. Die Tochter, Nichte und Braut eines Gelehrten ist sogar verbunden, Etwas zu wissen. Denn mit guter Eintheilung der Zeit und Gebrauch ihrer Talente können Mädchen, wie Du, neben den schuldigen und vorzüglichen Geschicklichkeiten in Wirthschaftssachen, auch Muse genug finden, Himmel, Erde und Menschen kennen zu lernen, um deutliche Begriffe von Allem zu haben, was die Welt Gottes in sich faßt, auf der sie als unsere Freundinnen und Gesellschafterinnen mit uns leben. Denn Ihr sollt eigentlich den feinsten und süßesten Theil unserer Glückseligkeit besorgen, welches ihr ohne einen geläuterten Geschmack und Empfindungen nicht thun könnt. Wenn Ihr aber ganz und gründlich gelehrt würdet, so ginge diese Absicht, neben der von der Schöpfung, an Euch verlohren. Denn nicht nur der Reiz, den große Kenntnisse in sich haben, der zur Ersteigung ihrer Höhe ermuntert, sondern auch Eure weibliche Eitelkeit, würde Euch [446] zu weit locken; und da versäumtet Ihr alle die unschätzbaren Verdienste der guten Mutter in der Kinderstube; der guten Haushälterinn; das leichte, artige Geschwätz, in den gesunden Tagen des Mannes, und die zärtliche Geschicklichkeit einer liebreichen Krankenwärterinn, die, zusammen gefaßt, gewiß mehr wahren Werth für die gesellschaftliche Glückseligkeit in sich haben, als wenn eine Frau alle vier Hauptwissenschaften besäße.« –

»Sie haben Recht, lieber Oheim. Aber doch, wenn ein Frauenzimmer alle Fähigkeit, die zur Fassung der hohen Kenntnisse, und alle Stärke des Geistes, die zum anhaltenden Nachdenken darüber nöthig ist, nebst der Begierde, sie zu erlangen, in sich fühlte: dürfte diese nicht darnach streben?« –

»Ja, Ja! die darf es thun; eben so wie es Mannsleuten erlaubt ist, die alles dies in sich vereinigt haben. Denn da wird gewiß ein Ganzes aus dem Kopf entstehen. Aber da dieser Fall selten ist, so will ich bey Euch lieber eine vollkommene Hauswirthinn, als eine halbe Gelehrte haben; wie ich aus Buben lieber vortrefliche Künstler und Handwerker, als einen Haufen gestickelter Theologen, [447] Juristen, und Mediciner erzogen haben will. Aber da so viel mittelmäßigen Leuten Ehren- und Glücksstellen zugefallen sind, so haben sich auch Andre Hoffnung darauf gemacht, und sich ohne hinreichende Kräfte auf den Weg begeben.« –

»Da liegt aber auch der Fehler an unserm Deutschland, wo wir dem geschickten Künstler und Arbeiter keine so vorzügliche Ehre, als dem sogenannten Gelehrten beweisen. Vorzug ist aber doch immer ein Gegenstand der menschlichen Wünsche gewesen, und wird also auch gesucht, wo man seinen Werth bestimmte. In Frankreich wird nicht allein der Gelehrte jeder Gattung, nebst dem Mahler, Bildhauer und Baumeister, sondern auch der Schlösser, Zimmermann und Becker, von den Akademien erforscht, gelobt und mit Achtung genannt, wie ich in der Beschreibung der Denkmähler Ludwigs des Funfzehnten fand; und ich denke wohl, daß dieses eine große Ursache ist, warum sie so schöne und mannigfaltige Werke der Künste in allen Arten haben, weil jeder junge Mensch, der sich Talente zutrauet, sicher ist, daß er auf jedem großen oder kleinen Wege des Gewerbes [448] oder der Verwendung seiner Fähigkeiten, ein gewisses Maaß Ruhm und Glück erhalten wird.« –

Mein Oheim lächelte. »Ey Rosalia, ich habe geglaubt, daß Da dieses Buch nur wegen der schönen Kupfer durchblättertest. Da Du es aber auch durchlasest, so hättest Du zugleich die Ursache finden können, warum es bey uns nicht so seyn kann, und wenigstens lange nicht so seyn wird.« –

»Aber das schmerzt mich, mein lieber Oheim. Warum ist denn das so?« –

»Rosalia, ich sage weder bey kleinen, noch großen Anlässen empfindliche Wahrheiten, wenn sie nichts nützen. Ich müßte über National. Charakter und Verfassung reden, und zu was hülfe Dirs viel? Suche die Ursache zu errathen, warum in Frankreich große Provinzstädte so geschwind den Gedanken der Hauptstadt annahmen und auch ausführten. Sie fühlten, daß sie eins sind. Bey uns ist die Zeit lange vorbey, wo wir dieses selige Gefühl hatten. Deutschland! Ach, was ist das Schönste und Größte, wenn es in Stücke gerissen, und dann so [449] wie es seyn konnte, wieder zusammen gelegt wird!« –

»Aber wir ahmen doch so gern Frankreich alles nach.« –

»In was? im Kleinen! seine Kleinigkeiten! Und, mein gutes Mädchen, das, was groß heißt, entsteht niemals aus Nachahmung, sondern aus innerer Kraft. Sammle alle Beyspiele von edler Güte, Größe und Stärke der Seele zusammen; lege sie einen Haufen Menschen vor, denen das Schicksal eine Gelegenheit zugemessen, sich se zu zeigen: sie werden Deine schönen Beyspiele loben und bewundern. Aber nachahmen wird nur der, so den nemlichen Keim in seiner Seele hat. Aber sey zufrieden; das Gleichgewicht ist da. Denn das Schlechte und Böse findet auch nur Wenige, die einen Wettlauf nach dem höchsten Grade unternehmen.« –

»Sie wollen mich also auf allen Seiten mit dem Mittelmäßigen aussöhnen?« –

»Das ist eine Mädchenfrage! Soll ich Dir in dem nemlichen Ton antworten?« –

»Versuchen Sie es, Herr Oheim; ich bitte Sie.« –

[450] »Nun! ich habe Dir Anlaß gegeben, mit Deinen Tugenden und Fehlern zufrieden zu seyn.« –

»Da ist auch Gleichgewicht, weil die Letzten so mittelmäßig sind, als die Erstern. Legen Sie nur immer das Uebermaaß in Ihre Güte für mich.« –

Er versprachs. Was sagen Sie zu dieser Unterredung?

[451]
62. Brief
Zwey und sechzigster Brief

Von Frau von Guden.


Rosalia! auch nach dem, was Ihr so rechtschaffener Oheim Ihnen vom Wissen der Mädchen sagte, und worinn alles Nöthige begriffen ist, was zum sichern Leitfaden auf dem Wege des deutschen weiblichen Verdienstes dienen kann; auch da noch wollen sie meine Gedanken und das geschrieben wissen, was ich von Ihnen, als Mädchen, denke?

Als Tochter und Richte eines Raths; in den vortheilhaften Umständen eines hinreichenden Vermögens, und bey so viel Unabhängigkeit sind Sie, nach Geist und Herzen, wie ich Sie verlange. Meine vertrauten Unterredungen und meine Liebe haben Sie, hoffe ich, davon überzeugt. Ob aber auf dem Grunde Ihres jetzigen Glücks auch die Keime Ihres künftigen Wohlstandes aufwachsen, weiß ich nicht; weil ich ihren Cleberg nicht kenne, und mit ihm, um es freymüthig zu sagen, eben weil sie so wenig von ihm reden, und mir auch keinen Brief von ihm weisen, ganz unbekannter [452] weise unzufrieden bin, und gewiß glaube, daß der Ton seines Kopfs sehr verschieden von dem Ihrigen und Ihres Oheims seinem ist. Eben auch hier mein Kind, liegt mein Zweifel an Ihrem künftigen Glücke. Nur au sich, nur an Ihren Oheim gewöhnt; so lange gewöhnt – Sie werden Opfer machen müssen. Rosalia! Lieben Sie stark genug, um dieses ohne bittern Schmerz, ohne heimlichen Widerwillen zu thun? Der Uebergang aus der väterlichen Gewalt, unter die Obermacht eines Manns, dünkt mich nicht so schwer, als der, von Ihrem Oheim zu Clebergen: wenn es nicht das völlige Hingeben der wahren Liebe seyn sollte, die freylich nur viel geben zu können wünscht. – Aber, ich soll ja wissen, daß Sie ihn lieben, und mich nur an Ihren Platz stellen, besonders in dem Falle, da Sie, edles gutes Mädchen, Ihren Oheim dahin zu bringen suchen, sein Vermögen, das er Ihnen zur Hälfte geben wollte, in drey Theile zu legen, damit die Kinder seiner zweyten Schwester, und eine Familie ärmerer Verwandten gleiches Erbe mit. Ihnen bekommen mögen. – Ihre Berechnung, daß Sie durch Ihre Reise mit ihm, da er alle Ausgaben für [453] Sie übernimmt, so viel an Ihrem väterlichen Vermögen ersparen, daß Ihnen das Opfer dieses Drittheils gänzlich ersetzt werde, diese Berechnung, meine Liebe, ist gewiß einer der schönsten Züge Ihres Lebens; weil nicht jugendliche Freygebigkeit, sondern Menschenliebe und Gerechtigkeit, Sie dazu führten. –

Cleberg hat es gut geheißen, gelobt, ob er schon sahe, daß sein eigner künftiger Wohlstand dadurch vermindert wurde. Ich bin überzeugt, daß es ihm Ernst war; denn, in seinem Alter ist immer Großmuth bey der Liebe; und persönliche Sorgen fühlt er auch nicht. Aber ein Wink lag in Ihrer Erzählung; als ob Sie fürchteten, er möchte darüber einmal anders denken; und das würde Ihnen weh thun. – Nun, Rosalia! will ich an Ihren Platz treten, und sagen, was ich thun würde. Cleberg ist, mit all seinen Vortreflichkeiten, ein Mensch. Vielleicht zeigt sich das Unvollkommne, das er mit uns allen gemein hat, gerade auf dieser Seite. Die an meinen Verwandten bewiesene Edelmüthigkeit möchte ich nicht zurück nehmen: aber den Abgang des Erbes will ich zu ersetzen suchen. Und da die Einrichtung des Hauses sammt der Obsorge [454] darüber, nebst meinem Kleidervorrath, ganz allem von mir abhängt; so will ich in beyden alles Ueberflüßige und Kostbare vermeiden. Die Eigenschaft des Neuseyns giebt ohnehin auch den mittelmäßigsten Sachen einen Schimmer. Wenn ich, nebst der Dauerhaftigkeit, Farben und Formen von gutem Geschmack wähle, und mich der Kunst befleiße, alles an seinen rechten Ort, und in sein gehöriges Licht zu stellen: so kann mein Hauswesen und meine Person das Ansehen von Wohlstand haben, das man bey uns suchen wird, ohne daß ich so vieles Geld darauf verwende. Mit den einfachen Farben meiner Kleidung soll alles Uebrige einstimmen. Ein neuer Ehemann, und die Besuche sind ohnehin nur bey den ersten Erscheinungen auf das Glänzende erpicht; und dieses sollen sie in meinem wohlgewählten Hausrath und Putze, noch mehr aber in meiner Heiterkeit, Gefälligkeit, Anstand und Würde finden. Reinlichkeit in meinem ganzen Hause, Nettigkeit und Sorgfalt im Anzug und Bezeigen meiner Person, soll die Zufriedenheit meines Mannes unterhalten; und dieser Ton von Mäßigkeit, ununterbrochen fortgesetzt, wird wir Ehre und Nutzen bringen.[455] Ueber all dieses aber will ich eine ordentliche Rechnung führen; und wenn mein Cleberg durch die Zeit an diesen Ton gewöhnt, und überwiesen seyn wird, daß ihm und seiner Rosalia durch den Mangel der Pracht nicht das Geringste von der Hochachtung der Vernünftigen verlohren gegangen ist: so bleibe ich dabey meinen Vorzug in dem Ruhme der Rechtschaffenheit meines Manns und meiner Bescheidenheit zu suchen. Ich nähme auch wohl die, uns so oft vorgeworfene, weibliche Eitelkeit zu Hülfe. Die gute Bildung meiner Person; edle, angenehme Geberden, geschickte und nützliche Arbeiten, Höflichkeit, Güte, Verstand und Munterkeit meiner Gespräche: alles dies müßte in meinen Plan des Ersatzes meiner großmüthigen Abgabe des größern Erbstückes. In wenigen Jahren wäre es gewonnen, und noch dabey den schwachdenkenden Personen meines Geschlechts der Schmerz des neidischen Gefühls über Kostbarkeiten erspart, die sie sich nicht verschaffen konnten. Und, Rosalia, unter uns gesagt, der Zweck des Lobes und Gefallens, den wir alle haben, würde doch, und zwar bey den besten Männern erreicht, die diesen vereinigten [456] Eigenschaften gewiß Beyfall und Verehrung schenken werden. – Dann fände sich einmal eine Stunde, in der ich Clebergen die Rechnung über die verschenkten und ersparten Summen vorlegen könnte; wo gewiß ein edelmüthiger Mann mit meinem Geben und Halten vergnügt seyn würde. –

Ich habe in meinen jüngern Jahren eine Frau gekannt, die auch sehr wohlthätig, aber mit einem Manne verbunden war, der etwas Härte in seinem Charakter hatte, seiner Frau aber bey ihrem Putz alle Freygebigkeit erzeigte. Sie nahm von ihrem, zur Kleidung und Anzuge bestimmten Gelde, schaffte sich neue Sachen, aber minder kostbar, so daß sie an ihrer Pracht so viel ersparte, daß sie eine Familie unterstützte, ohne die Ausgaben ihres Hauses zu vermehren. – Möchten wir nur im Privatstande, besonders in Familien, wo das Vermögen allein in der Besoldung des Mannes besteht, die Idee des Unterschieds und Hervorthuns vor andern Ständen, auf die Seite der übenden Tugend, angenehmer Kenntnisse, schöner Handarbeiten, und Liebenswürdigkeit des Umgangs legen: so würden weniger unglückliche Herzen und verkehrte Köpfe unter uns [457] seyn! Ich bin aber gewiß, daß das Elend und die Langeweile, die man am Ende des Weges von dem Modeton antrifft, unsere im Grund immer deutsche Seelen auf das Abweichen von dem edlen, reinen Pfade ihrer ursprünglichen Anlage aufmerksam machen, und unsere Töchter und Enkelinnen dahin zurück leiten wird. Vielleicht entsteht noch aus deutschem Fürstenblute ein Beherrscher über den größten Theil unsers mütterlichen Bodens, der von vaterländischem Geist beseelt, Sitten und Gebräuche untersuchen und durchsieben wird; wo alles Spreuartige und Nachgeäfte verworfen, und sogar eine eigene Kleidungsart eingeführt werden wird. Wir haben einzelne Beweise genug, zu was für einer Höhe der Vollkommenheit des Gründlichen und Schönen der Deutsche in Wissenschaften kommen kann. Und wenn wir, wie Franzosen und Engländer es thun, natürliche Fähigkeiten, deren jede Nation eigenthümlich ausgezeichnete besitzt, mit Vaterlandsliebe, hauptsächlich allem Fremden vorziehend, anbauten und zur edlen Stärke und Schönheit erhöheten: so vergrößerten wir unser eignes Verdienst; hätten eigene Freuden, eigenes Glück. Die Hochachtung anderer [458] Völker wäre Tausch gegen die unsere; und nicht, wie jetzt, unser Beyfall ein Tribut, den wir ihnen schuldig zu seyn, und der ihrige ein Geschenk, so sie uns zu machen glauben. Aber wir verzehren einen großen Theil unserer Urkräfte im Nachahmen, und werden, wenns hoch kommt, als Lehnträger fremder Güter angesehen. Wir verbrennen halbe deutsche Wälder, um einige schmachtende fremde Pflanzen in unsern Glashäusern zu haben.

[459]
63. Brief
Drey und sechzigster Brief

Rosalia an Marianen.


Hier ist Madame Guden Antwort auf meine Anfrage wegen der zwo Freundinnen von Julie Otte; und ich bitte Sie, mir ganz zu schreiben, was Sie darüber denken. Ich fühle daß mich diese Frau so sehr eingenommen hat, daß ich alles gut, alles richtig finde, was sie sagt und vornimmt. Sie haben dieses Vorurtheil nicht, und können also den wahren Werth ihrer Ideen viel besser bestimmen, als ich. Sie wissen auch daß, so sehr ich die van Guden liebe, dennoch Ihr ruhiger und gesetzter Geist alle Obermacht über meinen Glauben und Unglauben behalten hat, und daß mir nichts wahrhaftig werth, oder verwerflich wurde, ehe Sie nicht das Gepräge der Achtung oder Geringschätzung darauf gelegt hatten. Nun lesen Sie die van Guden selbst.


[460] Frau Guden an Rosalien.


Sie wissen doch, Rosalia, daß alle Arbeiten, die man ungern vornimmt, ganz genaue Züge des Zwangs behalten, den man sich bey dem Gedanken und der Ausführung auflegen mußte? – so ging es mir würklich bey der sonderbaren Foderung, die Sie an mich thaten, mich in den Platz junger Frauenzimmer zu setzen, deren Glücksumstände geringer, als das Ehrenamt ihres Vaters sey. –

Ich glaube Ihre Absicht errathen zu haben. Diese Frauenzimmer werden von der Vorstellung des wenigen Vermögens gedrückt, und leiden in ihrem Gemüthe. Sie mochten dieses heben, und vermuthen in meiner Einbildungskraft ein Hülfsmittel zu finden; denn Sie sagten mir ausdrücklich daß Sie nichts als geistige Handreichung haben wollten. Vergessen Sie nicht mein Kind, daß alles, was der Reiche und Glückliche dem Armen und Leidenden nur als Rath und Trost sagt, sehr wenig Würkung hat; ausgenommen das Bezeigen persönlicher Achtung, weil dieses der natürlichen Eigenliebe gefällig ist – Die Königinn [461] Christine sagte ganz richtig: »Eine edle Seele adelt alles, was sie ist, und was sie thut; den Gebrauch des Reichthums und das Ertragen des Mangels.« – Wenn man bey geringen Umständen den Muth hat, sich zu sagen: Wir brauchen Nahrung und Kleider, unsern Körper zu erhalten und zu decken; die Bedürfnisse der Natur sind mit wenig Speisen und Gewand befriedigt; und da mir das Schicksal Menge und Kostbarkeiten versagt: so will ich mit dem genauen Nothwendigen vergnügt seyn, und meine Begierde nach Besitz eines Mehreren auf die Seite wenden, wo es in meiner Gewalt ist, es zu erlangen. – Tugenden des Herzens, Aufklärung des Geistes, Geschicklichkeit in Arbeiten, Liebenswürdigkeit des Gemüths, Reinigkeit und Würde meiner Sitten, Artigkeit meines Umgangs, nette und bescheidene Zierde meiner Person, – all dies ist mitten in den geringen Umständen, worinn ich mich finde, zu erlangen und auszuüben. Der Reichere uns Vornehmere als ich, mag sich aller Gattung von Aufwand überlassen; Kaufmann, Künstler und Handwerker leben davon. Vorurtheile [462] haben auf das äußerliche Ansehen Werth und Unwerth gelegt. Aber ein fester unabgeänderter Gang auf dem Wege der Verdienste und Bescheidenheit, erwerben die Achtung der edelsten Seelen und ihre Freundschaft. Dies, mein Kind, wäre die Sprache meines Muths, und dieser Ton würde den Ausdruck meines Charakters und meiner Physiognomie seyn. Der Anblick des Prächtigen und Reichen würde mich nicht kränken und nicht demüthigen, Ich zeichnete mir einen eigenen Zirkel. In diesem erschiene keine Klage, keine düstre Miene. Nützliche, ehrenvolle Verwendung jedes Augenblicks meiner Tage; Fleiß auf schöne Arbeiten, die ich dann gegen Nothwendiges, ohne viel ängstliches Wählen umtauschte; alle meine Begierden auf das äußerste beschränkte, und mich in der Wahl meiner Freunde doppelt sorgfältig zeigte. Daneben aber müßte mir jedes moralische Verdienst eigen werden, das mich entweder einsam wegen des Mangels auserlesener Gesellschaft schadlos halten, oder mich in dieselbe einführen würde. –

[463] Meine Sitten, Geberden, Unterredungen und Beschäftigungen, müßten beständige Beweise meiner Erziehung und meines Standes seyn, so wie auch die Form meiner Kleidung, mein Geschmack und Bezeigen. Nur der einfache Stoff, die sanften, stillen Farben, und haushältische Aemsigkeit, dürfen den Abgang des Vermögens andeuten. –

Ich wäre gewiß, Rosalia, daß dieser Gebrauch meiner Umstände, wenn ich niemals davon abwiche, mir Achtung, Freunde und inneres wahres Vergnügen geben würde. Je artiger meine Figur, je seltener zeigte ich sie; scheute keine Gesellschaft, aber drängte mich auch in keine; niemals am Fenster, niemals in Comödien und auf großen Spatziergängen, auf keinem Ball; trüge die größte Sorgfalt für den Ruhm eines untadelhaften Lebens; wahre ruhige Gottesfurcht, kein Gepränge von Frömmigkeit, machte keine Besuche, als wo man mich ans Hochachtung wünschte, und sorgte dafür, diese Gesinnung zu vermehren; nähme von Mannspersonen gar keine Besuche an; sagte niemals von keiner Seele nichts, [464] als das Gute, das ich wüßte oder vermuthete; zeigte edle Dienstfertigkeit, aber mehr bey traurigen, als lustigen Gelegenheiten; und niemals sollte man mich einer Sylbe Erzählungen von einer Familie an die andre beschuldigen können. Ich müßte die geschicktesten Finger, das beste Herz und das angenehmste Geschwätz eigen besitzen. – Dieses zusammen wäre eine Art von Schatzgeldern, die ich zu einem Ertrag von Ehre und Glück, meinem Schicksal anvertraute. Glauben Sie, o glauben Sie, dieser Vorsatz und Ausübung würde zu einem dauerhaften Grunde des Friedens der Seele und äusserlichen Wohlergehens anwachsen. Man mag immer von ausgearteten und verdorbenen Sitten reden: der durch Thaten vortrefliche, und im Reden und Urtheilen Andre verschonende Mensch, wird gewiß redlich geliebt und verehrt werden. Allgemeine Vorurtheile und einzelne Eigenliebe, muß man nicht mit dem Stolze des mehrern Wissens und der bessern Einsicht, nicht mit dem Vorzuge, den wir uns geben, angreifen. Ach, wie viel großes Gute sah ich entstehen; sah den ausgebreiteten Nutzen, den Segen von [465] einem Volke für den Urheber bereit: wenn zu dem edlen Entwurfe auch der erhabne Entschluß des weisen Menschenfreundes gekommen wäre, einer gewissen Art Blödsinns zu schonen, von schwachen Augen nicht zu fodern, daß sie gleich ohne Zagen, ohne Widerwillen das Licht einer Fackel ertragen sollten; – wenn man mit dem Unvermögen des Verstandes erwachsener Menschen, die man zu neuen, ungewohnten Sachen lenken will, eben so herablassend, so gütig sich bezeigte, wie im Physischen mit Kindern, zu denen man sich niederbückt, ihre kleine Hand liebreich zu fassen, und sie im anfangenden Gehen zu leiten. – –

Aber, Rosalia, wo kam ich da hin? – von Ihnen zwey guten Mädchen, die allein einen duldenden, nicht einen vielwürkenden Kreis durchgehen müssen. – Doch mag Ihnen der Gedanke, die Empfindlichkeit der Eigenliebe Ihrer Nebenmenschen auf alle Weise recht klug und behutsam zu behandeln, immer nützlich seyn. –

[466] Einmal, da ich noch keinen van Guden kannte, gelang es mir, durch feine Nahrung und Wendung eines Stolzes im Elende, zwey Töchter eines angesehenen Mannes, der sie nebst drey Brüdern, ohne das mindeste Vermögen zurück ließ, zu einem edlen Entschluß zu bringen. – Sie waren schön, und voll schimmernder Talente; Musik, Tanz, Gesang, Blumenmahlen, Putzarbeiten und die französische Sprache. – Sie waren alle kostbare Kleider, köstliches Essen, Rang, Ehrenbezeigungen gewohnt; waren andern Verwandten nicht immer gut begegnet, so daß die, welche sie ehemals beneideten, nun mit höhnischem Mitleiden sie anblickten, und die Mädchen sich fürchteten, zu einer Base wohnen zu geben, die am vermögendsten, aber auch am stolzesten war. – Meiner Mutter Bruder, zu dem ich nach dem Tode meiner Eltern gekommen war, wohnte in dem untern Stocke des schönen Hauses. Ich sah also diese Familie in ihrem Flor, aber doch nicht vertraut genug, um die eigentlichen Umstände in etwas voraus zu bemerken. Der Mann starb plötzlich, die Frau war schon lange todt, und die Kinder [467] hatten mir nie sehr zärtlich geschienen; so daß ich das lange Wehklagen nach dem prächtigen Begräbniß und den Todtenämtern, (denn sie waren von der römischen Religion,) gar nicht fassen konnte. Es befand sich nun zwischen uns eine Art Gleichheit, da wir alle drey elternlos und beynah im nehmlichen Alter waren. Der älteste Sohn, der volljährig war, und meinen Oheim sehr schätzte und mich gern um seine Schwestern sah, sing an, ganz gerade von ihren traurigen, unvorhergesehenen Umständen zu reden, noch ehe solche andern ganz bekannt wurden. Das Bezeigen ihrer Verwandten erbitterte sie, und sie wußten nichts als zu weinen und zu murren. Sie wollten lieber in ein Kloster, als zu ihrer Base. – »Ach, Mademoiselle Hofen, was würden Sie thun?« – Der Gedanke von einem Kloster, den sie hatten, gab mir den von dem Orden der englischen Fräulein, die keine ewige Gelübde thun, und sich mit der Erziehung beschäftigen. Ich sagte der ältern, dies würde ich wählen, weil ich meine Talente nicht nur fortüben, und also das gewohnte Vergnügen immer genießen, sondern mir auch [468] durch dieselben in dem Orden Verehrung und Ansehen erwerben würde; weil Eltern ihre Kinder um so lieber dahin gäben, wenn sie sie unter der Aufsicht einer selbst so wohl erzogenen Person und von so vielem Verstande wüßten. Ich würde lieber meine Gefälligkeit und Geduld auf die jungen Kostgängerinnen verwenden, die unter meinem Willen stehen würden, als für übermüthige Verwandte. Es wäre ein ehrenvoller Stand. Der Dank so vieler Familien; die Achtung einer ganzen Stadt und Landes, neben der Freyheit, herauszutreten; der beybehaltene Umgang mit aller Gattung guter Menschen, vornehmen und geringen; ja selbst die schöne Kleidung, in der die Gestalt und Bildung eines jungen Frauenzimmers noch viel edler sich zeigte, als im schönsten französischen Putz etc. – sie würde nicht länger abhängig seyn, als bis man sie kennen würde. –

Dieses Gemählde gefiel. Ich mußte es auf allen Seiten darstellen. Die Aeltere entschloß sich zu dieser Wahl, und ist in der That ganz vortreflich geworden; und ihr Stolz [469] machte sie alles thun, um Beyfall und Dank zu erwerben. –

Die jüngere wollte das nicht; war aber verlegen, und hatte eben so viel Widerwillen gegen die Stadt und Bekannte, als die ältere. Meine Phantasie diente auch ihr, indem ich sagte: daß ich meinen Namen verändern und zu einer großen Dame als Kammerjungfer gehen würde, deren Gunst ich mir, durch meine Geschicklichkeit in Putzsachen, durch meine Aufmerksamkeit, meinen Verstand und sehr eingezogenes Leben dabey, sobald erwerben würde, daß ihr niemand lieber seyn sollte, als ich. Dann suchte ich allen im Hause Gutes zu thun, das Eine zu entschuldigen, das Andre zu warnen, dem Dritten eine Belohnung zu erhalten. Meine Stimme, meine Mandor, hielt ich lange verborgen; spielte und sänge nur, wenn fast Niemand zu Hause wäre. Jeder Schritt, den ich thäte, müßte durch Klugheit, Tugend und Güte bezeichnet seyn; machte mich aber mit Niemand, als mit meiner Dame vertraut, für deren Ruhe, Anmuth und Nutzen ich aufs [470] äußerste bedacht wäre; so daß ich ein wichtiger Theil ihrer täglichen Glückseligkeit würde, und im ganzen Hause als Wohlthäterinn verehrt wäre. – Bey dem sanftesten Gemüth, die sorgfältigste Hochachtung für mich selbst; und ehender die Bemühung, meine Reize zu verbergen, als zu zeigen. – Gern ging 'ich, wo Kinder wären, denen ich Blumen mahlte und dann es sie auch lehrte. – Wie viel Nützliches und Rühmliches könnte ich nicht da thun! – – Das Romantische des verborgnen Namens, der halb versteckten Schönheit, der Verehrung wegen ihrer Güte, und das Staunen über ihre lang heimlich gehaltene Mandor und artige Stimme, trocknete auch dieser ihre Thränen. – Mein Oheim und ihr älterer Bruder besorgten durch auswärtige Freunde beyde Plätze. Aus dem Häuschen, worinn die ganze Verlassenschaft bestund, wurde so viel gelöset, daß sie sich ihren Absichten gemäß aussteuerten und ein Paar hundert Gulden zum Nothpfennig behielten. Die Jüngere ist gar herrlich geworden, weil sie, im ersten Jahr ihres Diensts, mit ihrer Wiener Dame nach Brüssel kam. Der zweyte [471] Sohn ging in Kriegsdienste, die der Dritte auch ergreifen wollte, wenn er erwachsen wäre. Der Aelteste, der eine kleine Pfründe besitzt, nahm ihn zu sich: und so wurden diese Kinder alle, durch den kleinen sanften Bug ihrer Eigenliebe, glückliche und nützliche Menschen; besonders die Mädchen, von denen ich Ihnen noch dank- und liebevolle Briefe weisen könnte. –

Julie soll ihren Freundinnen schon jetzt von der Lebensart, die sie einst führen müssen, mit Hochachtung reden, und sie durch sanfte Stufen hinunter leiten, ihren mäßigen Unterhalt in der Ebene anzupflanzen.

[472]

Zweiter Theil

64. Brief
Vier und sechzigster Brief

Madame Guden ist eine sonderbare Erscheinung in unsrer Weiberwelt. Ich habe Ihnen geschrieben, daß sie niemand suchte, als unsere beyden Mahler und den Kupferstecher. Nun kann ich Ihnen melden, warum sie dieses that.

Ich fand sie heut munter, und glänzend von inniger Freude. Sie ist schön, sehr schön, wenn die Farbe der Heiterkeit des Geistes ihre Züge belebt. – Sie umarmte mich zärtlicher, als jemals. –

»Meine Liebe. Sie müssen heut eine gegenwärtige und zukünftige Freude mit mir theilen. [1] Ein edles Herz kann nichts allein genießen. Ich fühl es, ich muß einen Freund, oder eine Freundinn haben, denen ich sagen kann:


ich bin im Paradiese.« ––


Sie führte mich in ihr Zimmer; da waren drey Kasten von Pappendeckeln auf einem großen Tisch – Sie wies darauf.

»Hierinn, Rosalia! ist Erndte und Saamen von Glückseligkeit für mich.« –

Ich antwortete ihr, daß ich sehr erfreut wäre, dieses zu hören; denn so genieße sie auch einmal, was sie Andern gäbe. – Sie drückte mich mit einem Arm an sich, mit dem andern hob sie einen Deckel auf, und nahm ein Papier weg. Da sah ich das Bild eines blühenden Baums und die Aufschrift – Frühlings Bilder – für den ältern Sohn des Herrn von Pindorf. Sie blickte dabey durchdringend auf mich. ––

»O, Madame Guden! wo ist Ihr Zorn gegen Pindorfen hingekommen!« – »Zorn! Rosalia, Zorn? – Ist der Schmerz der Liebe Zorn? Oder glauben Sie, daß aus einer Seele, wie die meinige, eine Leidenschaft so leicht auszurotten ist? – Was wäre meine Liebe [2] gewesen, wenn ich nicht Entschuldigung der Fehler, die mich beleidigten, gesucht – und einen Schleyer über das mangelhafte Stück meines Götterbilds geworfen hätte! – Vielleicht ist auch ein kleiner Anfall von Rache dabey. Denn wenn schon der Ton der Bilder und die reichen Geschenke, mit denen ich sie begleiten werde, dem Herrn von Pindorf ein Beweis meiner daurenden Zärtlichkeit seyn müssen, so sagen sie auch zugleich: dieses gefühlvolle Herz, – dieser erfinderische, geschmakvolle Geist und das Vermögen dieser Frau wäre dein und deiner Kinder gewesen, wenn du den wahren Werth dieser Liebe erkannt hättest. – Das mag aber seyn wie es will; mein Gedanke ist vortreflich gerathen, und die fünf Leute, so daran arbeiteten, stehen nun zusammen, um dies, was ich zeichnen und mahlen ließ, in Kupfer zu stechen und damit zu handeln. Von mir haben sie so viel verdient, daß sie den Verlag bestreiten können – Sehen Sie, der gute Erfolg [3] meiner Erfindung und die Aussicht auf den Gewinst dieser Leute ist Erndte. Dies, was in dem Geist der Kinder von Pindorfs an Kenntnissen und an Freude ihrer Herzen über die schönen Bilder entstehen wird, ist Saame von Glückseligkeit. Und, Rosalia! ist nicht jeder Beweis der Liebe, Genuß, höchster Genuß?« –

Nun fing sie an, mir die Bücher zu zeigen. Sie hat der Brüder ihre so mit einander verbunden, daß immer einer den andern nöthig hat, um das Ganze einer Vorstellung zu wissen; und sie denkt dadurch eine Grundlage zu der Ueberzeugung des Nutzens der Brüderlichen Freundschaft zu stiften.

Ich will Ihnen einige Bilder davon beschreiben, und die Bücher mit den Zahlen 1. 2. 3. – bezeichnen, wie sie bey den Kindern folgen; nur nicht so vollständig, als ich sie sahe. –

1.) Das Erste ist eine Landschaft nach Kleists Frühling. Trübe Wolken, die sehr vom Winde getrieben werden – aber auf einer Seite die Sonne, deren Strahlen auf einem Berg mit Schnee bedeckt fallen, den sie schmelzen, [4] wovon ein wilder Strom entsteht, der den Fluß anschwellt. Dieser führt Eisklumpen mit sich. Von Pindorf steht mit seinen Kindern auf einem Altan und weißt ihnen dieses. An dem Ufer des Flusses sind Bauern, die mit starken Stangen die Eisklösse abzuwenden bemüht sind. –

Die Zeichnung und dann die Haltung der Farben ist äußerst richtig und wahr. Auf das weisse Blat, – gegen den Bildern über, schreibt Frau Guden selbst eine Art Auslegung davon – in einem einfachen und eindringenden Ton der Seele.

2.) Im zweyten ist es schon belebter. Ein Theile des Dorfs. – Der Himmel ist freundlich. – Ein Bauer bessert seinen Pflug, einer die Hecke seines Gartens, ein dritter hilft dem Wagner eine Speiche in ein Rad machen.

3.) Buch des Mädchens. – Da ist die Bäurinn, welche nun durch das neu wachsende Gras, Hofnung zu mehr Nahrung für ihre Kühe, und also auch zu mehr Milch und Butter hat; – räumt ihr Milchstübchen, säubert und ordnet alle Milch- und Käsegefässe. –

1.) Bauern im Felde, die die Gräben der Wiesen und Aecker austiefen. An einem großen [5] Stück steht ein Pachter, mit seinen Knechten und verabredet den Anbau der übrigen Felder, – nachdem er mit der Wintersaat zufrieden scheint.

2.) Baum- und Gemüsgarten, – wo man beschäftigt ist, das Moos und die Raupennester wegzubringen. – Von beyden wird etwas durch ein Vergrößerungsglas betrachtet. – Man gräbt die Bette im Garten und macht sie eben. ––

3.) Der Blumengärtner reinigt leere Blumentöpfe. – In einem Glashause sieht man inländische Blumen, dann Zwiebeln, Wurzeln und Saamen davon. Allerley Gartenarbeitgeräthe werden vorgesucht und geordnet. –

Herr von Pindorf sagt seinen Kindern: – Diese Leute machen Entwürfe und Anstalten, zu arbeiten – und wir, zum Vergnügen. Wir wollen aber sorgen, daß unsre Frühlings Zeitvertreibe uns eben so nützlich werden, als diesen rechtschafnen Leuten ihre Bemühungen.

1.) Hier ist ein Spaziergang auf das Feld. Herr von Pindorf erklärt seinen Kindern das Pflügen und Säen, und redet zu ihnen mit vieler Achtung vom Ackerbau und den Bauern. –

2.) Schöne Wintersaat, Kleefelder und Graswiesen; Dabey eine Heerde Vieh. – [6] Herr von Pindorf weist auf das eine und andre: ––

»Hier, Nahrung für uns; – da, – für unsre guten Kühe und Pferde.« –

3.) Saamen zu verschiedenem Gemüse. Was jedes am liebsten ißt, – damit besäet es ein Stückgen. ––

1.) Sie sehen Bäume pfropfen, aushauen, biegen und anbinden; lernen sie auch kennen.

2.) Erste mühsame Arbeit im Weinberg. Bewunderung des köstlichen, überfliessenden Safts, durch das dünne unscheinbare Holz der Reben.

3.) Der Baumgarten in voller Blüthe, und ein artiger Reihentanz von mehreren Kindern um blühende Bäumchen, die man in die Mitte des Baumgartens stellte. – Alle Kinder haben Sträusse von Obstblüthe auf den Hütchen. Die Musik ist eine Schalmey. ––

1.) Brut verschiedener Vögel, und Art ihre Nester zu bauen. ––

2.) Raubvögel in der Luft und auf dem Wasser. ––

3.) Taubenzucht und Hünerhof. ––

[7] 1.) Spaziergang in den Wald bey dem ersten Grün, wo ihnen die mancherley Arten von Bäumen und ihr Nutzen gewiesen wird. –

2.) Ein Teich mit Enten. – Schönheit und Munterkeit der Vögel kommt viel von ihrer Reinlichkeit. ––

3.) Milch- Butter- und Käse-Zubereitung; mit einer, dem kindlichen Alter angemessenen Beschreibung des Nutzens des Rindviehes, während die Kinder in dem Baumstück Milch essen. ––

1.) Fischerey mit dem Angel an einem Bach nach Thomsons Frühling. ––

2.) Schaafherden, Schaafschur; kleiner Auszug der Woll- und Webereygeschichte, – Spinnerey und Weberstühle. ––

3.) Die Tochter hat die Seiden-Würmer; ihre kurze Geschichte, – Bandweberey. Hier folgen durchaus schöne Bilder von allen Seiden- und Wollarbeiten, nebst einer deutlichen, kindlichen Erzählung von den wunderbaren Eigenschaften der Säfte der Pflanzen, und dem Dienst, Nutzen und Vergnügen, so die Menschen durch ihren Verstand und Geschicklichkeit daraus ziehen; – daß der Saft des Maulbeerblats in dem Leibe des Wurms zur [8] Seide bereitet werde und dadurch dieses schlecht aussehende Thierchen so vielen tausend geringen Menschen Nahrung, und so vielen Vornehmen Vergnügen gebe. ––

Bey den Schaafen würden die Kräuter, die sie fressen, zu guter Milch, Fleisch und Wolle. – So auch bey dem Rindvieh. Bey diesem entstünde auch die starke Haut, wovon alle Gerber, Schuster, Riemer und Sattler Arbeiten bekämen. – – Dann ist ein Bild von dem Flachs- Hanf- und Baumwollenpflanzen; – daß also ihre Hemden, alles Weißzeug – und ihre mußelinen Manschetten auch aus Kräutern herkämen. – Dann der Uebergang zu den Bienen und ein schönes Bild davon. – Eine herzliche Wendung, wie nützlich auch die kleinsten Thiere, – wie sehr schätzbar die Menschen sind, welche sich mit Verarbeitung all dieser Sachen, zum Nutzen und Vergnügen Anderer beschäftigen. – Dann fangen die Bilder alles dessen an, woraus ihre Geschenke bestehen. ––

1.) Silberbergwerk. – Stuffen davon, und wie es geläutert wird. ––

2.) Goldarbeiter, der eben an den Gefässen arbeitet, die sie bekommen.

[9] 3.) Porcelanfabrik und Magazien. – Es wird aus Stein, Sand und Salz gemacht; – so wie auch

1.) Glas und Spiegel ––

2.) Die schönen Farben in ihren Malerkästchen bestehen auch aus Erde, Metallen, und dann auch aus Kräutersäften. ––

3.) Zimmer eines Malers. – Aus der Mischung zweyer Farben entsteht die dritte. –

1.) Mahagony Holz; dessen Heimath. – Etwas von Schiffarth und Flüssen ––

2.) Schreiner und Drechsler. – Diese haben die Risse und einzelne Stücke ihrer Schreibtische vor sich; dabey wird beschrieben, was diese Leute im Grossen, im Hause und auch zu ihren Spielsachen verfertigt haben. ––

3.) Die Tochter hat allerley Stik- Näh- und Webereygestelle, wo Mädchen sitzen und arbeiten, an lauter Sachen, welche die kleine Pindorf geschenkt bekommt. ––

Der schöne Lichtschirm, den Frau Guden für Pindorfen webte, ist da aufgespannt – und man sieht die Worte: Ewige Freundschaft, die im Englischen hinein gewebt sind, um die ein Kranz von vergieß mein nicht, gebogen ist ––

[10] 1.) Allerley Spiele von Kindern ihres Alters.

2.) Bilder, was Kinder anderwärts lernen müssen oder schon wissen, die von ihrer Größe sind.

3.) Arbeiten armer Kinder in Nadelfabriken, Wollspinnen etc. etc. – – Schön geputzte Knaben, die mit grossen Gebunden Bücher zur Schule gehen, worinn arm und gut gekleidte Kinder ihres Alters sind. ––

Der Reiche und Vornehme ist klein und unwissend, wie der Geringe. – Beyde haben Sorgen und Unterricht nöthig. – –

Die Uhrmacher; ein artiges Bild von den Uhren ihrer Schreibtische – Schreibkunst; Kinder die es lernen und gerade die Linie aufschreiben.

Wahrheitsliebe und Gehorsam gegen Eltern und Vorgesetzte sind die Tugenden unserer Kindheit. ––

1.) Ein Gewitter. – Herr von Pindorf mit ihnen am Fenster und die Erzählung des Nutzens und Entstehens; ganz kindlich um ihnen die Furcht zu benehmen.

2.) Herr von Pindorf auf einem Hügel, – die Tochter auf seinem Schooß, – die beyden Söhne in einem Arm geschlossen, und mit der [11] andern Hand auf die schöne Gegend umher weisend:

»Seht, meine Lieben, wie schön aller Saamen der Erden, alle Früchte der Bäume wachsen und keimen! – Möge, o meine Kinder, der anfangende Unterricht des Wissens und der Tugend, die ich mit väterlicher Treue in eure Seelen zu pflanzen suche, auch Wurzel fassen und aufgehen! – Denn Gott, der die Erde, die ihr seht, mit allen Blumen und Bäumen so schön erschuf, und allen Thieren und Menschen das Leben gab, hat mir befohlen, euch zu lieben, für eure Gesundheit, eure Nahrung und Kleidung zu sorgen, euch alles Gute zu lehren, eure Fehler zu verbessern und euch geschickt und glücklich zu machen. Wenn ich es thue, so will er mich belohnen. Versäume ichs, so wird er mich strafen; so wie er auch den Kindern, ihre Wahrhaftigkeit, Güte und Folgsamkeit zu belohnen, versprochen, – und auch ihren Ungehorsam, ihre Bosheit und Lügen ahnden würde.« – –

[12] Auf diese Art werden die Bücher der vier Jahres Zeiten eingetheilt, – immer das Bedürfniß des Vergnügens und der Erhaltung, mit der Liebe des Schöpfers, der Nebenmenschen – und den daraus folgenden Kenntnissen und guten Eigenschaften verbunden. – Auf den Winter, wenn alles Vaterländische, was sie die gute Jahrszeit über selbst sehen konnten, ihnen bekannt ist, da bekommen sie ausländische Pflanzen, Thiere, Gebäude, Menschen, und was wir aus andern Welttheilen ziehen – und uns der angewehnte Gebrauch nöthig gemacht hat, zu sehen; und nicht einen Augenblick ist die Herablassung zum kindlichen Begriff versäumt. ––

Ich hoffe, diese Beschreibung war Ihnen nicht unangenehm. Mich entzückte das alles, und ich denke, da die Liebe der Freundinn all dieses in der Frau Guden hervorbringe: so soll sie einst in meinem Herzen einen gedoppelten Gebrauch dieses Buchs für meine eigenen Kinder schaffen. Sie will mir ein Exemplar zum Hausgeschenk geben. – Aber jetzt rüstet sie sich zu einer Reise nach W –, welches der Wohnsitz der Herrn von Pindorf ist. – Sie weiß, daß er abwesend ist, und will also nur [13] seine Kinder sehen und ihnen die Geschenke selbst geben – auch sich nach dem Ruf seiner ersten Frau – und nach dem seinigen erkundigen. ––

»Vielleicht, sagt sie, höre ich, was mich vollends heilen kann. – Denn die Beleidigung meiner eignen Liebe bewürkten es nicht. – Wenn er aber gegen Grundsätze des Edlen, – Wahren – und Menschenfreundlichen handelt; wenn er in grossen Anlässen seines Lebens niedrig, klein – und bösartig erscheint: – O, Rosalia, da werde ich freylich von meiner mich abzehrenden Zärtlichkeit und Sehnsucht genesen. – Aber, was wird der Schmerz seyn, der mich darüber zerreissen wird!« ––

Sie geht – unaufhaltsam dem entscheidenden Augenblick ihres Jammers entgegen. –

[14]
65. Brief
Fünf und sechzigster Brief
Madame Guden an Rosalien

Ich bin, meine Freundinn, sehr wohl in W* angelangt. Aber Herr von Pindorf ist nicht da, sondern, nach der allgemeinen Vermuthung, auf einer Reise, – von welcher er eine zweyte Gemahlinn mitbringen wird. – Seine beyden Söhne und seine Tochter sind hier. Diese will ich Morgen, als eine ihrem Vater bekannte englische Dame, besuchen, und ihnen die artigen Sachen geben, welche ich diesen Winter für sie zubereiten lassen. – – O, wie unruhig ist heute schon mein Herz! – Kinder von Pindorfen – werde ich morgen an meine Brust drücken! – Kinder von Pindorfen! – und ich bin nicht ihre Mutter! – Wie sorgfältig werde ich die Züge aufsuchen, die mir die seinigen zurückrufen! Ich werde gewiß das Bild seiner ersten Gemahlinn da finden, und auch darinn noch spüren, ob sie alles Andenken an mich auslöschen konnte – ob sie viel Geist hatte und gute Mutter war? –

[15] O! – mein Kind, er wählt nun wieder eine Andere an ihrer Stelle! – Dies ist Beweis, klarer Beweis daß mein Bilo aus seinem Herzen entwichen ist. ––

Sehen Sie, wie immer noch Hofnung und Niedergeschlagenheit in mir wechseln. Dieses Fieber meiner Seele muß einmal aufhören. Ich werde sehr abgemattet seyn, aber doch endlich ruhen. ––

Den zweyten Abend in W**

Ich sah diesen Vormittag alles, was an guten Gebäuden hier ist; und um zwey Uhr ging ich zu den Kindern des Herrn von Pindorf. Meine Schritte wankten, als ich die Stiege hinauf ging; und wie viele Mühe hatte ich, meine Thränen zurück zu halten, als ich die drey guten Geschöpfe, schön geputzt, in der Begleitung ihrer Wärterinnen und eines geistlichen Hofmeisters, oben an der Stiege der vornehmen fremden Dame ihre Bücklinge machen sah! ––

Es sind sieben Jahre, als ich von Pindorfen getrennt wurde. – Er hat einen Sohn von sechs, einen von fünf Jahren und ein liebes, ihm gleichendes Mädchen von vieren. Der älteste [16] Sohn und die Tochter haben die empfindungsvolle Miene des Vaters. Der schöne Knabe von fünf Jahren ist voll Munterkeit und soll seiner Mutter gleichen. ––

Ich nahm den Aeltern und die kleine Henriette bey der Hand. Sie führten mich in das grosse Ansprachzimmer so ganz weiß lackirt ist, – und nichts als vier schöne Landschaften über den Thüren und die Bildnisse des Herrn von Pindorf und seiner Gemahlin in Lebensgrösse hat. Diese nehmen die ganze Wand zwischen zwey Thüren ein, und stellen eine getreue Nachahmung meines Gedankens vor, da ich in dem Garten zu Stow den Herrn von Pindorf mit dem schönen Auedruck seiner Seele zeichnete; nur daß anstatt meiner Dame, seine Gemahlinn; – und für Herrn von R**, einer der liebsten Freunde des Herrn von Pindorf hier vorgestellt ist; – ich aber mit meiner Zeichnung der Gruppe, in Mannskleidern. Meine Freundinn, dies Gemälde war noch Würkung seines zärtlichen Andenkens an mich; und meine Verkleidung als Mahler, war gewiß feine Schonung der Empfindlichkeit seiner Gemahlinn. ––

[17] Ich hatte alle Fassung meines Geistes nöthig, besonders da der kleine Sohn sagte: »Hier macht der Papa gemahlt seine Aufwartung. Die Mama kanns gar nicht, denn sie ist gestorben.« Ich hatte mitlerweile ihr Bild betrachtet.

Sie war höchst liebenswerth, und ein edles Schmachten liegt in ihren Zügen. Ich zog den Knaben an mich und küßte ihn, während ich mit dem andern Arme die Tochter und den ältern Sohn umfaßte. Ich konnte mir nicht mehr helfen.

Ich im Hauß des von Pindorf! – Seine Kinder in meinen Armen, – sein Bild vor mir, und in diesem Bilde ein Beweis, daß ich und meine Talente ihm werth waren! Das Bild seiner Frau, daß er seine Liebe für mich opferte, und deren Ruhe mir so heilig war, daß ich niemals das geringste that, um seine Zärtlichkeit zu erneuern.

Ach wie froh bin ich, es nicht gethan zu haben! – Ich wäre durch ihren Anblick gedemüthigt und beschämt worden; denn gewiß, sie verdiente sein ganzes Herz! Nun kann ich sie anschauen und bedauren, daß sie diesen Schatz nicht länger besaß; – ich kann ihren Geist als Zeugen denken, wenn ich eins ihrer Kinder umarme.

[18] Gewiß, selige Mutter dieser drey lieben Creaturen, gewiß habe ich niemals keinen Wunsch gethan, der gegen deine Glückseligkeit gegangen wäre! ––

Nur nachdem du tod warest und ich frey, – verlangte ich, deines von Pindorfs Liebe geerbt zu haben. – Du hättest mir gewiß sein Herz gegönnt, wenn du mein Bestreben gesehen, des würdigen Mannes Tage zu verschönern. Meine Liebe, meine Sorge für Deine und seine Kinder, würde mir Deinen Segen erworben haben. – Nun wird all dieses der Antheil einer Andern! – Ach möge sie seyn, was ich für ihn gewesen wäre! – Meine Freundinn! ich dachte hier mit Klopstok: Sie ist glücklicher, aber nicht edler! ––

Die Wärterinnen – und der Geistliche betrachteten mich mit Verwunderung. Diesen Grad von freundschaftlicher Empfindsamkeit hatten sie niemals gesehen. – Noch mehr aber staunten sie, als mein Bedienter meldete, die Kasten wären da; und ich die Kinder bat, mich in ihre Stube zu führen, – oder ob sie die kleine Sachen aus England, die ich für sie hätte, in diesem Zimmer sehen wollten? –

[19] »O, hier – sagte der muntre Kleine; da siehts der Papa auch.« ––

Ich merkte zugleich, daß es den Wärterinnen lieber wäre, und ließ also die Kasten bringen. Jeder war mit dem Namen desjenigen gezeichnet, für den er gehörte; – und da sie mit Schiebdeckeln gemacht sind, konnte man sie leicht öffnen. ––

Jeder der Söhne hat einen artigen Schreibtisch nach seinem Alter von Mahagonyholz, mit einer schönen Uhr, die darinn fest gemacht ist, um ihre Arbeitstunden zu zählen; – Schreibzeug, Reißzeug von Silber, Farbenmuscheln und Zubehörde in einer Schieblade; – in einem Seitenfach ein Waschbecken und Kanne, kleines Suppenkümchen, zwey Leichter, Teller, Becher, Thee- und Messerzeug auch von Silber, – und artige Porcelanschalen mit dem Namenszuge, nebst einem Bande von den Büchern die ich malen ließ. –

Die kleine Henriette bat einen Nachttisch, der auf einer Seite aufgeschlagen ist; der Spiegel und alles nöthige dazu, nebst einen Frühstückgerätbe wie ihre Brüder. Auf der andern Seite alles, was zu Frauenzimmerarbeiten und auch zum Zeichnen und Malen gehört, – [20] nebst ihrem Buche. Ich muß selbst sagen, daß es schön und reizend für die Kinder aussah. – Die englischen Schnallen, Knöpfe und Spazierstöcke freuen die Knaben eben so sehr, als das Mädchen der Huth und englische Kinderputz. Dann wies ich ihnen den Auszug der englischen Landkarte, auf welcher ich allein die Städte und Landhäuser bezeichnet habe, die ihr Vater durchreiste, und die Blätter der Merkwürdigkeiten, die ihm besonders gefallen hatten; das Haus, worinn er in Londen gewohnt und, nach meinem geheimen Tagbuche, diejenigen, wo er über diese oder jene Wissenschaft gesprochen und viel Lob erhalten hatte. Ich redte ihnen von dem Glück, einen solchen Vater zu haben, und wie lieb man sie einst in England haben würde, so bald man nur nach ihren Namen denken könnte, daß sie seine Söhne wären. –– Endlich gieng ich weg, nachdem ich durch meinen Bedienten versichert war, daß der Hofmeister und die Wärterinnen ihre Geschenke in ihren Zimmern finden würden. Und nun glauben Sie, daß meine Seele in der äussersten Bewegung gewesen sey. – Aber, die Freude, die ich den Kindern gemacht; – das süsse Vergnügen, ihnen von ihrem Vater zu [21] reden; – alles Gute, was ich nach der Physiognomie des Gemähldes von ihrer Mutter ihnen sagte, goß lindrendes Oel in mein zerrissenes Herz. – Doch möchte es wohl die Würkung haben, die bey den stürmischen Wellen der See bemerkt wird, wo es nur die Fluten besänftigt, die das Fahrzeug am nächsten umgeben; – und wenn dieses über die Oelichte Fläche weg ist, wird es mit doppelter Gewalt hin und her geschlagen. – – Mag es! – Ich habe doch eine neue Art schmerzhafter Freude genossen! – Nun bin ich müde, und will schlafen gehen. –

Dritter Tag in W**

Noch einmal war ich im Hause des Herrn von Pindorf. Der Geistliche kam heute früh um für seine Zöglinge, für sich und die Wärterinnen zu danken. – Ich fragte ihn um die Gemüthsart der Kinder und das was sie lernten. – Er gab mir ganz befriedigende Antworten auf alles, was ich von den Kindern, – besonders aber, weil ich sie liebte, was ich von seinem Charakter-wissen wollte. – Der Plan des Unterrichts ist gut; aber nur lauter verwendete Gedächtnißkraft. Für die Empfindung beynahe nichts – und dabey sehr streng anhaltend.[22] – Ich bat ihn auch um Milderung, – und redte für die Rechte der Natur und Kindheit. Ich ging mit ihm ins Haus und mußte da ihm die Freude geben eine kleine Prüfung anzuhören. – Ich aß mit ihnen zu Mittag, und zeichnete dann jedes auf dem vordersten Blatt ihrer Bilderbücher ab. – Ich weiß mir vielen Dank für diesen Wintereinfall. Die Arbeiter hatten Verdienst, – übten ihr Talent – und bekamen neue Ideen. – Diese liebe Kinder sind so glücklich bey den Bildern. – Auf dem Blatt, wo ihr Vater vorgestellt ist, da er ihnen die pflügenden Bauern weißt und sie von dem Ackerbau unterrichtet, kannten sie ihn gleich und sagten, sie wären mit ihm auf dem Felde gewesen. »Der Baum da, und die Häuser dort,« wiesen sie mit ihren Fingern, »sind nicht da gewesen. – Aber hier war die Ecke von unserm Garten; und da ein Berg, wo man des Papa Haus in der Stadt sehen kann; und hier, sagte der Kleine, eine Hecke, wo ich mich versteckte.« ––

Es ergözte mich innig, zu sehen, wie sie meine Landschaft umarbeiteten und in ihrem Gedächtniß jeden Eindruck des genoßnen Vergnügens oder Bewundern wieder fanden.

[23] Aber ich muß mich losreissen. Mein Herz heftet mich zu sehr an die holdseligen Geschöpfe. – Morgen will ich in die Gegend des Schlosses Mahnheim. Dort ist der Lieblingsspaziergang Pindorfs, in den Zeiten, wo er Einsamkeit nöthig hat. ––

Ach dieses ist jetzo ein Bedürfniß meiner Seele geworden. – Einsam, ganz einsam möchte ich wo seyn! vielleicht würde mir da ganz wohl, wenn ich mich einige Zeit allein immer um eine Idee herum wände, so wüßte endlich ein Widerwillen entstehen, und ich nach andern Gütern mich umsehen.

Die guten Kinder baten mich, Morgen wieder zu kommen. Ich sagte aber, nun müßte ich, wegen mei ner Gesundheit weiter reisen; aber im Sommer wolle ich neue Bücher schicken – und sie dann wieder besuchen, wenn sie noch ferner meine Freunde seyn würden. –

Ich empfahl sie innig ihrem Aufseher, und mein Abschied war mir empfindlicher, als Sie denken können.

[24]
66. Brief
Sechs und sechzigster Brief
Madame Guden an ihre Freundinn

Gestern früh riß ich mich von dem Wohnsitz, von den Kindern und dem Bildniß des Herrn von Pindorf los, um an den, zwey Stunden von dort liegenden Ort zu kommen, den ich ihn hatte nennen hören, und welcher der Uebergang zu einer Anhöhe ist, die er liebt. – Mit was für Eile ging ich hinaus! und was wurden all diese Gegenstände für mich, als ich mir sagte:

Diese Bäume, diese entfernten Gebirge, den Hügel da, die Bauerhütten, diese Steine voll Moos an dem kleinen Bach, alles dies hat er mit seiner so tiefempfindenden Seele mit süssem, einsamen Nachdenken betrachtet! Sein schönes Auge sah hier um sich, ruhte auch auf der Wiese von dem starken Umherschauen aus. – O, wie lange habe ich keine Gegenstände gesehen, die Er sah! – Ich dachte mich näher bey ihm, vereinter mit ihm. – Meine Seele umfaßte mit inniger, nie so gefühlter, [25] reiner, hoher Liebe – die ganze Gegend.

Ich dankte ihr mit Thränen der wahren Zärtlichkeit für die erquickenden Augenblicke, die sie dem edlen, einsamen Spaziergänger gegeben hatte. – Sanfter Friede und unruhige Wünsche wechselten in mir ab, bis ich die Anhöhe erblickte die ich suchte. Ich war allein, denn ich wollte keinen Zeugen meiner Schritte, keinen Beobachter meiner Gemüthsbewegung um mich haben.

Ach! wüßte man, wozu mich die allgewaltsame Leitung meiner Liebe führt, wie würde man mich tadeln, weil ich aus dem gewöhnlichen Pfade gehe! – Aber sagen Sie, sind die tausendfachen kleinen, oft niedrigen Wege und Ränke, in die sich andre abhängige oder arme Geschöpfe einlassen, um ihr Herz zu befriedigen, sind sie edler – und besser, als dies was ich thue, weil sie alle Tage ausgeübt werden? – O, meine Freundinn! Lieben Sie immer das wahre, ausserordentliche Weib, wie Sie mich einmal nannten, die Muth genug hatte, ihr Gold, und ihre Freyheit zu ungewöhnlichen Handlungen der Menschenliebe zu verwenden, und die niemanden zur Rechenschaft [26] forderte über das – was er, und wie er es that; aber sich hin legen auch nicht verbunden achtete, – das, was sie thun wollte nach angenommenen Modellen zu formen. Denken Sie immer an den Aufschluß, den ich Ihrem Staunen über mich gab:

Daß in mir verschiedene charakteristische Theile der moralischen Welt vereinigt wären, die bey vielen Personen nur einzeln angetroffen, oder durch die Umstände unterdrückt und in der Thätigkeit gehindert würden; und daß bey mir natürliche Anlage, Erziehung, Glücksumstände und Unabhängigkeit zusamen träfen. – Jede meiner Gesinnungen und Handlungen sind willkührlich und frey, wie mein Gang auf den Berg, an dessen felsigten Seite die Ueberbleibsel eines alten zerfallnen Schlosses sind. –

Immer machte ein solcher Anblick eine sonderbare Würkung auf mich: – Vergänglichkeit menschlicher Gewalt, Wünsche, Freuden und Mühe; –– Entwürfe, ausgeführte Arbeiten. – – alles was jetzo noch meine unsterbliche Seele so bewegt, anspannt und ihr Gefühl von Kraft giebt, neue Bilder und Sachen zu denken und zu schaffen, – alles dies war in dem Besitzer dieses Hauses, der den [27] ersten Stein hier legte – und sich des Segens seines spätesten Enkels freute, daß er ihm die stattliche Burg gegen Feinde, in der herrlichen Gegend, erbaute. – Jetzo lebt entweder der Enkel nicht mehr, der ihn segnen sollte, oder er blickt nur ungefehr im Vorbeyfahren, wenn er nach seinem neumodischen Pavillon eilt, mit Verachtung auf die Ueberreste des Wohnsitzes seiner Ahnen. – Dennoch redlicher Stammvater, warest du glücklich! Du starbst mit der Ueberzeugung, daß deine Entwürfe und Hofnungen fest, wie die Grundpfeiler deines Hauses wären. – Und ich? Ach, meine Plane von Glück und Vergnügen seh ich vor mir zerrissen und zerstreut! – – – All dieses hatte mich auf einer Seite aufgehalten. – Ich ging nun herum, einen Fußpfad zu suchen, denn ich wollte zu den Ueberresten hinauf. Ich sah an einer noch stehenden Wand gegen Mittag grosse und kleine Bäume. Zwischen abgefallenen Mauerstücken rieselt eine Quelle reinen Bergwassers herab, dessen kleiner Weg mit frischen Kräutern bewachsen ist. – Nach einer kurzen Wendung zwischen Ulmen, nahm ich mein Fernglas – um nochmals recht hinauf zu sehen und, wo möglich, Spuren eines [28] Steigs zu entdecken. Da erblickte ich zwey Ziegen, die nahe an den Ruinen weideten; und nicht weit davon, zwey Kinder von sechs bis sieben Jahren, auf einem Stein sitzen, von welchen das Eine strickte und das Andre spann – Dieser mir bisher unwirthbare verlaßne Fels zeigte nun auf einmal, daß er Thiere nährte und der frühen Arbeitsamkeit dieser Kinder einen Sitz anbot. Meine Seele wurde mehr bewegt, als wenn ich eine Erscheinung des Genius der alten Schloßherren gehabt hätte. – Endlich erkletterte ich einen Theil und kam auf einem guten Pfad auf die Fläche des Bergs. Die Kinder hatten mich kommen sehen und liefen mir zu. ––

»Nein,« sagt das ältere, so ein Knab ist, »es ist nicht der gute Herr.« – –

»Aber,« sprach ich gleich, »ich bin seine Base,« – und gab Jedem ein Stück Geld; ging etwas vorwärts an dem Stück Mauer, bis an die Oeffnung welche die eingefallenen Stücke machen, und sah den Platz, der ehmals den Schloßhof vorstellte. Eine Seite ist ganz offen, die andre mit Schutt bedeckt, die dritte und vierte haben hohe, dicke Mauern, in deren Schlußwinkel ein Strohdach festgemacht [29] ist, das eine halbe Hütte decket. Ich fragte die Kinder, wo sie her wären? – »Von hier« – sagte der Knabe und wies auf die Hütte. – Ich sah mich ausser dem Hof um – da ist kaum ein Paar Elen breit ebner Boden. Aber auf den zwey Seiten ist er mit Korn besäet; und da wo ich von unten Bäume gesehen, sind Waldstämme. Aber auch zugleich ist mit unsäglicher Mühe Schutt abgeworfen; – Der Platz, der ehedem eine Halle des Schlosses gewesen seyn mag, eben gemacht, an dem Ende gegen den Abhang des Bergs eine Reyhe Steine als Brustmauer gelegt, Erde auf das Uebrige getragen, und Obstbäume und Gemüse darauf gepflanzet, die alle reich und gut stehen. –

Der Ort, wozu dieser Burgplatz gehört, ist eine starke Viertelstunde davon, und sonst nirgend kein Nachbar umbet. – Die Bildung der Kinder ist sanft und schön, aber von der Sonne verbrannt, voll Spuren, daß sie gutartigen Eltern gehören. Grobe, aber reinlich leinene Wämschen und Hemden sind ihre Kleidung. – ohne Strümpfe und Schuhe; nur die Füsse mit alten Lappen umwickelt. – Ich fragte, wer ihr Vater wäre und wo er sey?

[30] »Er ist.« sagte der Knabe, der dabey immer fort strickte, »ein armer Gärtner, und meine Mutter hat ihm heut geholfen, Gemüs und Blumen hinunter tragen zum Verkauf. Dafür bringt sie Brod und Mehl zurück« ––

Das Kind redte einfach aber gut. Mein Staunen und meine Bewegung nahm zu. –

»Wie viel Kinder seyd ihr denn?« ––

»Viere. Eins schläft noch in der Hütte, und das Kleinste hat die Mutter auf der Trage mitgenommen, denn es trinkt noch ihre Milch.« ––

»Wem gehört dieses Korn hier?«

»Uns. Mein Vater hat umgegraben und ich hab geholfen. –– Hier,« – (da nahm er mich bey der Hand und wies mir mit der seinen ein mit kleinen Steinen rings um gezeichnetes Stück mit Korn) – »hier hab ich das Korn zu meinem Brodt selbst gesäet. – Es steht recht hübsch, nicht wahr! Gott wird mir es auch behüten.«

Er lächelte sein kleines Feldchen so zärtlich an, sah mit so unschuldvollem Blick gen Himmel als er Gott nannte, daß mein Herz schmolz, und Thränen träufelten über seine Hand und [31] sein Korn. – »Ja mein Lieber, gewiß wird Gott deinen Fleiß segnen und du wirst eine gute Eindte haben.«

»O! sagt er, ich thu auch alles selbst schneiden und auslesen; da soll mir kein Körnchen verlohren gehen.« –– Hiebey machte er mit Eifer eine sorgfältige Miene und mit den Fingern die Bewegung des Auskörnens mit der unnachahmlichen Wahrheit, die aus dem Gefühl des Bedürfnisses und der Versicherung der Nahrung entstund. O, wie rein sind die ersten Züge der Menschheit in diesen einsam erzogenen Kindern! – Aber nun fing das Mädchen auch an zu sprechen. ––

»Ich hab auch gesäet – mit der Mutter. – Dort, wies sie mit dem Finger, wächst unser Flachs.« –– In der That, abwärts umher, ist ein Streif von etwa drey Ellen in der Höhe, an zwey Seiten mit Flachs und Haber besäet. ––

»Von dem Haber und Leinsamen bekommen im Winter die Vögel,« – sprach der Knabe, – aber wir fangen auch weiche, und »die Mutter kochts im Gemüs. – Keine Jungen aber nehmen wir nicht.« ––

[32] »Ja, fiel das Mädchen ein, weil die armen Thiere ihre kleinen Vögelchen lieben, wie die Mutter uns liebt: so wär es grausam, sie weg zu nehmen und die Alten in Kummer zu setzen.« –

Der Knabe sprach lebhaft: »Aber wenn sie groß und frey herum fliegen, kann der Mensch die Gewalt brauchen, die ihm Gott über die Thiere gab. Das sagt der Vater; und da stellen wir Schlingen auf.« ––

Sie sehen an dem Ton, wie freudig der Knabe von diesem kleinen Antheil der Obergewalt redte. – Menschen Herz! wie ähnlich bist du dir im Grossen und Geringen! ––

»Meine Kinder, habt ihr eure Eltern nicht recht lieb?« ––

»O ja, von Herzen: – sie sind so gut, – so gut! – Das,« sagte der Junge, und zeigte im Fortgehen auf die grosse offene Ecke des Hofs, die mit schönen Klee bewachsen ist, »das gehört unsern Ziegen! daran haben wir aber auch alle gesät. – Weil wir alle von der Ziegenmilch essen, müssen wir für sie sorgen helfen.«

Das sind keine gemeine Menschen, dachte ich. –– O Vorsicht! du hast sie hier geschützt, [33] und segnetest den Samen, den ihre Hände der Erde, und ihre Lehren die sie ihren Kindern gaben. Wenn ihr Herz sich zu dem meinigen neigt; wenn ich ihrer Tugend und Einfalt nicht schädlich bin: so baue ich mir zwey Zimmer zwischen den noch stehenden Mauern des Schloßgangs und wohne einige Zeit hier. – Dies, Rosalia, sagte mein Herz, mit mehr Gefühl von Wahrheit und Begierde als jemals in mir war. ––

Ich fragte den Knaben, ob er das Geld kenne, so ich ihm gegeben?

»Nein, – aber er hätte solches schon gesehen; der gute Herr habe seinem Vater vorigen Sommer wie er weggangen, vier solche Stücke gegeben.« ––

»Wie ist denn der gute Herr zu euch gekommen?«

»Ey, den Weg, wie Sie. – Aber er ist geschwinder berauf gestiegen und hat sich nicht so an den Steinen gehalten, wie Sie es machten.« ––

Indem kam ein vierjähriges Kind aus der Hütte und rief: »Lotte, Lotte, mein Brodt!« – Lotte suchte gleich in ihrem Sack und zog ein Stückchen heraus, sah es traurig an, und dann [34] ihren Bruder. – »Carl, wir haben zuviel davon gegessen« – Ich war froh, aus der Dorfschenke ein grosses Stück Brodt mit mir genommen zu haben – und schnitt gleich drey Stücke davon, die ich den Kindern gab. Die zwey Aeltern liefen dem Jüngern zu, das über meinen Anblick gestutzt hatte und nicht mehr rief. – Ich blieb auf meinem Platz und sah, daß die zwey Grossen dem Kleinen freundlich zuredten, das Brodt gaben, auf mich wiesen und ihm auch das Geld zeigten. Es verlangte ein Stück. Der Knabe gab ihm seines und nahms bey der Hand um es zu mir zu führen. – »Da Nanny, die Frau hat uns Brodt und Geld gegeben.« ––

Ein holdseliges Mädchen ist diese Nanny; fein gebildet und noch ganz weiß. Ich gab dem Knaben ein ander Stück Geld und theilte noch etwas Brodt unter sie. Mein Messer, aus einem schönen Futteral gezogen, ergötzte sie sehr. Ich sezte mich auf einen Stein nahm die Nanny auf meinen Schooß wies Ihnen meine Uhr, und ließ sie schlagen. Neues Staunen für sie! – Ich hielt sie jedem an das Ohr, – und da sie die Begierde zeigten, sie von innen zu sehen, machte ich sie auf und [35] erzählte alles mit kurzer deutlicher Auslegung. Als ich sagte, ich könnte da sehen, wie lange die Sonne bey uns bleibe, und wie bald sie wieder komme, fiel der Knab ein: »O, das weiß ich auch! Jetzt scheint sie des Morgens um vier Uhr in unser Fenster; da steht der Vater auf, betet, und dann fort zur Arbeit. – Zu Mittag scheint sie bey dem alten Thurm herein, und da essen wir, –– und Abends geht sie dort bey dem Berg unter, zu den andern Lemen; da stehen die auf und wir legen uns schlafen.« – Alle dies wurde mit der wahresten kindlichen Geberde erzählt, wobey er immer den Ortzeigte, von dem er sprach. –

Lotte sah rund am Himmel umher, und zog ihren Bruder am Ermel. »Sieh doch, Carl, hellt Nacht wird der Himmel gewiß schön. – Die Frau soll da bleiben. – Alle die Wolken,« sie wies mit ihren Händen darnach, »werden lauter Gold – und roth und blau, wie des Vaters Blumen.« ––

»Ja,« sagte der Knabe munter und treuherzig, die Hand auf meinen Arm legend, – »bleiben Sie da! – Im Thal und im Dorf sehen Sie den schönen Himmel, wo Gott wohnt, nicht so wie wir.« ––

[36] »O, wir sind auch viel näher bey Gott,« sprach Lotte, und faltete dabey ihre Hände, mit einer unnachahmlichen Wendung ihres Kopfs und der Augen gen Himmel. – Ihr Blick und der Ausdruck ihres ganzen Gesichts war reine kindliche Freude, über den nahen Wohnsitz eines guten Vaters. – Ich umfaßte sie, mein Auge war auch gen Himmel erhoben, mit dem Gedanken: »O Gott! nirgends kanst du bessere Geschöpfe haben, als diese sind!« – Ich fuhr zu ihnen fort: »Liebe Kinder! ich will bey euch bleiben; wolt ihr mich haben?«

»Ja ja sagten die Aeltern« und legten vertraulich ihre Hände auf meinen Arm. »Aber,« der Knabe sah gegen die Hütte »es ist kein Platz in der Hütte.« ––

»Ey bey dir, sagte Lotte, ist viel!« – »Seyd ruhig, ich will euren Vater und Mutter bitten, daß sie mir Platz geben,« –– das war ihnen Recht. Sie betrachteten meinen Stock, meinen Huth, wunderten sich über meine langen Haare, die ich nur zusammen gebunden hatte. Ich zeigte ihnen mein Fernglas – und hieß sie durchsehen. –– Lotte sah gar nichts, sagte sie, – und der Knabe gabs mir wieder, drehte seinen Kepf munter [37] herum und lachend sprach er: »Ich seh so viel mehr; durch das Rohr da, sah ich nur ein klein Stückchen,« und maß es mir an seiner Hand vor. – »Aber ohne dies Glas hätte ich euch nicht gesehen, sprach ich, – und wäre nicht zu euch kommen.« – Darüber betrachteten sie mein Fernglas und berührten es mit der Spitze ihrer Finger, mit einem Ausdruck von Freundschaft und vermischtem Zweifel. – Im nehmlichen Augenblick hörten sie pfeifen und, Carl! – Lotte! rufen. –

»O, der Vater und die Mutter!« riefen sie und liefen davon. Nanny schrie – und ich trug sie, so schnell ich konnte, den Andern nach. Da ich aber die Eltern erblickte, die ihre Trage niedergesetzt hatten und mit staunender Miene der Erzählung ihrer zwey Kinder zuhörten, die beyde zugleich sprachen und das Geld, dann auch mich zeigten: so ging ich etwas langsamer. Die Nanny aber wollte zu ihrer Mutter. Ich ließ sie also hinlaufen. – Die Mutter hatte mich ängstlich betrachtet, so lange ich ihr Kind auf den Armen hatte. Sie faßte es herzlich in die ihrigen, und Nanny, wie ich bemerkte, erzählte ihr auch etwas. – Mann und Frau sprachen da mit einander, und ich [38] näherte mich ihnen. Beyde untersuchten meinen Gang und Person, so wie ich auf ihre Gestalt und Physiognomie aufmerksam war. –

Der Mann hat etwas über 30 Jahre, ist groß, wohlgewachsen, aber sehr hager; eine männliche und redliche Bildung, schöne braune Augen und Haare, viel Entschlossenes in seiner Stellung. ––

Die Frau mitler Grösse, – schlang, eine sanfte leidende Mine, süsse blaue Augen; aber ihre feine Haut ist von der Sonne verbrannt – und sie ist auch, wie ihr Mann, durch Kummer und Arbeit schmächtig geworden. Freude und Sorge druckte sich in ihrem Gesicht aus, als ich so nah kam, daß ich sie anreden konte. – Aber die Gruppe rührte mich zu Thränen. – Die Frau hielt ihre Nanny an einer Hand und breitete zugleich ganz instinktmäßig den einen Arm über den kleinen Korb in welchem ihr Säugling schlief. – Der Mann befestigte geschwind den einen Fuß der Trage an dem abhängenden Boden mit einem Stein.

Lotte kam zu mir – »Ich habe mein Geld der Mutter gegeben; – und ich meins dem Vater« sagte der Knabe. ––

[39] »Ihr seyd auch gute Kinder – und habt gute Eltern,« –– sagte ich freundlich und bewegt. Indem ging der Mann um die Trage herum nahm seinen Huth ab und machte mir mit Anstand, und einem Ausdruck von Zuversicht auf seine Rechtschaffenheit, eine Verbeugung, sah mich fest an, und sprach: »Ja, meine Frau, unsere Kinder haben uns das Geld gegeben, so sie ihnen schenkten. Wir danken Ihnen dafür. Aber ich bekenne, wir sind doch über Ihren Besuch und Ihre Güte unruhig. Es kommt niemand zu uns, besonders keine Frauen.« ––

»Ist Herr von Pindorf aus W** niemals hier gewesen?« fragte ich, indem ich wünschte und hoffte, daß er der gute Herr seyn möchte, von dem mir die Kinder gesagt hatten. – Ihre Gesichter erheiterten sich bey seinem Namen. – Er ists – O, meine Freundin, Er ists! ––

»Ja, meine Frau,« antwortete der Mann »dieser ist voriges Jahr viermal bey uns gewesen und hat uns Gutes gethan. Aber er wollte niemand von unserm Aufenthalt sagen.« ––

[40] »Er hat es mir, aber sehr weit von hier, gesagt; denn gewiß dachte er nicht, daß ich jemals hieher kommen würde. – Mir ist leid, daß er sich nicht in W** befindet. Aber ich will ihn erwarten.« –

Sie sahen sich und mich an. Der Mann fragte mit bescheidenem Ton, wer ich wäre? »Eine Engländerinn, reich, aber redlich bey meinem Golde, wie ihr bey der Armuth.« – Beyde schlugen die Augen zur Erde, mit einem übergehenden Strahl von Hoffen und Nachdenken.

Meine größte Angelegenheit war nun, ihnen lieb zu werden, so wie sie mir werth waren. – – Der Mann sagte: »Es ist wahr, meine Frau, wir sind arm, aber gewiß ehrlich und treu.« – Er blickte seine Frau an, die ihm die Hand reichte und in Thränen zerfloß. – Dieses bedrängte meine Seele; und in der lebhaften Bewegung erhob ich meine Hände gen Himmel und rief aus: »O Gott! du kennest mein Herz; schenke mir das Vertrauen dieser Familie. – Meine Freunde«, indem ich mich gegen sie wandte, und meine Armen gegen sie streckte, »öffnet mir eure Herzen! Gewiß, ach, gewiß wird es Euch niemals gereuen.«

[41] Nun kamen dem Mann Thränen ins Auge. Er umfaßte seine Frau, aber etwas zitternd. »Lotte! liebe Lotte! wir trauten immer auf Gott. –– Vielleicht« – Er hielt inne, konnte nicht mehr sprechen. –– Sie ließ ihre Kinder los, faßte beyde Armen ihres Mannes, und ihr Kopf sank auf seine Brust. Die guten Kinder wußten nicht, was das alles bedeutete, wurden bewegt und hielten sich zusammen.

Ich umfaßte alle Dreye. – »Liebe Kinder! bey eurer Unschuld – bey dem Weh Eurer Eltern, gelobe ich Euch allen meine Liebe und Hülfe.« ––

Ich küßte sie und ging zu den Eltern, die mit ihren weinenden Augen gen Himmel blickten; nahm von jedem eine Hand; »Liebe Redliche! nehmt mich zu Eurer Freundin; ich werde Gott für Eure Bekanntschaft –– und Eure Liebe danken.«

Sie seufzten Beyde und sagten zugleich: »O, Gott!« – »segne uns,« fetzte ich hinzu – Darauf schwiegen wir alle einige Augenblicke. Dann fing ich an: »Wir wollen vollends hinauf zu der Wohnung; da will ich Euch sagen, wer ich bin, woher ich komme[42] und was ich thun kann und thun will. – Wie heißt Er mein Freund?«

»Wolling, meine Frau.« ––

Nun, Frau Wolling, führe Sie Ihre Nanny hinauf, ich helfe die Trage nachbringen. –– Das wolte sie nicht. Da ich aber darauf bestand, als der ersten Probe ihres Vertrauens, so nahm sie den Korb mit ihrem Säugling auf die Armen. – O, wie wahr ist dieses Mißtrauen auf meine Geschicklichkeit im Tragen, in dem Herzen einer so treuen Mutter! – Ich nahm hingegen die Nanny: »Komm, setze du dich dahin; dein Vater und ich tragen dich spazieren.«

Die Kleine saß auch ganz herzhaft da. Oben luden wir ab. Rührend war es mir, wie Carl und Lottchen jedes einen Laib Brodt pakten und ihn im Tragen an ihr Herz druckten, wie ich einen Freund beym Wiedersehen. – Nanny nahm ein Schüsselchen mit Butter, so die Frau Amtmännin ihr schickte. Ich trug einen großen Topf Mehl und Wolling die Strohbüschel, die sie recht für mein erstes Nachtlager gebracht hatten. Die guten Leute sahen sich da wieder mit Verlegenheit an. Endlich sagte die Frau: »Es ist bald Essenszeit, was wollen [43] Sie machen?« – Der Mann schlug Feuer und zündete auf dem kleinen Heerd Reisig an – »Ey Frau Wolling, sagte ich, ich esse mit Ihr – und zahle meine Kost.« ––

»Ach, die ist schon bezahlt,« – und sie wies mir das Geld ihrer Lotte; – »Wir haben nur Haberbrey.« ––

»Das ist vortreflich! den esse ich gern.« – Aber dann hatte ich was zu überwinden; denn sie goß Ziegenmilch in den Haberbrey, als was sehr köstliches; und ich konnte niemals den Geschmack der Ziegenmilch ertragen. Solte ich aber den guten Leuten, besonders den Kindern, Eckel vor dem zeigen, was in ihrem Elende Labsal und Wohlthat für sie war? Nein, diesen Uebermuth meines Geldes, welches mir die Wahl der Speisen und Getränke giebt, diesen Uebermuth erlaubte mir meine Seele nicht. Ich bezwang mich um dieser guten Herzen willen; ich aß mit, und sie gönnten und segneten mir jeden Bissen. – Endlich sagte der Mann, sie wolten Abends eine von ihren Hühnern für mich schlachten. Der Knabe und das Mädchen sahen sich an, faßten sich bey der Hand und gingen still, aber mit weinenden Augen fort. Ich errieth gleich, daß es die Trauer [44] um das Huhn wäre, und sagte es den Eltern. »Das ist wahr, sprach die Frau, denn unsere Kinder lieben die Hühner und Ziegen, wie ihre Gespielen.« ––

»Es soll ihnen auch nichts geschehen,« erwienerte ich – und suchte die Kinder auf, welche ich bey zwey Hühnern fand, mit denen sie auf der Erde sassen und ganz traurig sie streichelten. Mein Anblick war den guten Geschöpfen unangenehm. Sie senkten Beyde die Köpfe – und jagten eilig die Hühner weg. »Liebes Lottchen! Carl! glaubt Ihr denn, daß ich leiden werde, daß man um meinetwillen Euren guten Hühnern das Leben nehme? O, meine Kinder, Ihr wißt nicht, wie Ihr und alles, was Euch gehört, mir so lieb ist! – Ihr sollt nichts verlieren, gar nichts!« –

Das Mädchen faßte meinen Rock – und weinte mit ihrem Köpfchen in die Ecke, die es hielt. Der Knabe lächelte mich an, und Beyde liefen munter mit mir nach der Hütte, wo sie ihren Hühnern was besonders zu essen holten, um ihnen selbst das Fest ihrer Erhaltung zu geben. Wolling und feine Frau sahen mich mit stillem Staunen an. ––

[45] »Ihr wundert Euch, lieben Freunde, eine Frau, die reich aussieht, so vertraut bey Euch zu sehen. – Habt nur keinen Argwohn – und glaubt, daß es bey den wohlgesinnten Reichen wie bey den rechtschaffenen Armen geht. – Diese Leztern sehen sich auf alle, ihrem Herzen und Verstand angemeßne Art nach Mitteln um, wie sie sich erhalten können; und der tugendhafte Reiche sucht Gegenstände einer wohlangewandten Freygebigkeit zu finden. – Ihr zwey redliche Seelen habt Euch von allen andern Armen abgesondert und lebt hier von der sauren Arbeit eurer Hände mit euren Kindern. Warum soll es nicht einen Reichen geben, der Euer Herz zu lieben weiß, und der just auch ein abgesondertes Leben, wo er nach seinem Sinn handeln kann, allen grossen Städten und Gesellschaften vorzieht?«

»Ach, meine Frau! wie ist es möglich – dieses so gleich zu denken?« sagte Frau Wolling.

»Wie bedaure ich uns Reiche, wenn es den tugendhaften Armen so schwer fällt, was besonders Gutes von uns zu glauben!«

[46] »O, von Ihnen glauben wir alles,« sprach der Mann. »Sie sind, wie einige fromme Damen in Frank reich; die gehen auch selbst in die Strohhütten der Armen und theilen da Almosen aus.«

»Ich hoffe hier mehr, als diese Freude zu geniessen, Herr Wolling. – Aber, ich habe Ihn oft unruhig umher blicken sehen. Nicht wahr, Er hat noch Arbeit?« – Er bejaete es mit seiner Mine. – »Ich will zusehen,« sagte ich, »denn ich will bis Abend hier bleiben.« ––

Der Mann ging fort und ich besah die arme Hütte. Sie ist, wie ich Ihnen schon sagte, gegen die nördliche Seite an die übrig stehende Wand des alten Schlosses mit einem halben Dach angebaut. Auf der Abendseite macht auch ein noch übriges Stück der Mauer des alten Gangs die Seitenmauer der Hütte aus. Gegen Morgen und Mittag ist sie mit einer Leimwand verwahrt. Der Eingang und die Fenster sind auf der Morgenseite. Unten, wo die Hütte wegen des nöthigen Abhangs des Dachs niedrig fällt, ist der Stall für die zwey Ziegen, nebst einem Stroh- und Holzbehälter. Der grosse Theil ist durch zwey, aus Weiden [47] geflochtene und mit Moos ausgestopfte Scheidewände, zu zwey Kammern gemacht, wo in einer die Schlafstäre der Eltern auch mit einer Weidenflechte abgesondert ist, wie es die Schlafstellen der Kinder in der zweyten Kammer sind. In dieser sind auch ein Paar Behälter über den Betten mit Weidenthüren angebracht, wo sie das Wenige an Kleidern und Weißzeug aufheben, das sie als einen Schatz für ihre Kinder ansehen. Die bey den Ecken der Wohnstube sind auch mit Weiden verschlossen und zu Schränken gemacht, wo sie ihren Eßvorrath, Saamen, Flachs und nöthige Kleidungsstücke samt Büchern und Handwerkszeug verwahren. Die kleinen Stühle ohne Lehnen sind auch geflochten, und alles hat Wolling und seine Frau gemacht. Sie haben doch Bettücher, dünne Pfühle von Pferdehaaren und für den Winter Federdecken. ––

Der Heerd ist ein grosser Stein, der auf einigen kleinen ruht, und der Kamin das einzige neue Mauerwerk, so da ist. Alles sehr reinlich und nett in Ordnung gestellt; Eltern und Kinder so säuberlich arm gekleidet und angezogen. Sanfte Stimmen; nur zeigen Wollings Züge unterdruckten Gram, und die von [48] seiner Frau, wenn sie mit ihren Kindern spricht, das Lächeln des Schmerzes an. – Ich ging in den Garten, während die Frau ihren Säugling zu Bett brachte. Es sind schöne Obstbäume, Gemüß und Blumen da, groß, wohl gepflegt; besonders viele Bäumchen in Töpfen, die er dann in die Stadt zu verkaufen trägt, und damit die nöthigen Bedürfnisse sich schaft. – Ich besah alle mühsame, und mit so vielem Geschmack und Zierlichkeit gemachte Anpflanzungen des ehrlichen Manns mit vieler Rührung. An der äussersten Ecke des Gartens bemerkte ich einen kleinen Grabhügel, der von weißen und rothen Rosen beschattet, in der Mitte einen Lilienstock hatte. – Ich sah etwas tief sinnig und fest hin, und blickte dann auf Wolling, der mit gesenktem Kopf auch hingesehen und eine Thräne im Auge hatte: »Ach! hier liegt meiner Lotte erstes Kind, – das todt auf die Welt kam. Ich mußte es dahin begraben, denn sie wolte seine Leiche nicht von sich entfernt wissen.« –

Wir sahen uns beyde weinend an. – Ich druckte seine Hand. – »Lieber Herr Wolling, Er und seine Frau – sind keine gemeine Gärtnersleute!« –

[49] »Nein, sagte er seufzend, wir sind nichts. – Aber, eh ich Ihnen von uns sage, möchte ich wissen, wer Sie sind? Es liegt uns daran, Sie zu kennen; – denn, Sie sind glücklich: warum wollen Sie in dieser einsamen Gegend bey uns bleiben?« –

»Der Verlust eines geliebten Freundes hat mich etwas melancholisch gemacht. Die Engländer sind es ohnehin leichter und stärker, als Andre. Er weiß es. – Er, seine Frau und Kinder gefallen mir. Ich bin reich und habe keine nahe, und keine arme Verwandte; ich will meine Traurigkeit durch Wohlthun an Seinen Kindern zerstreuen.« –

[50]
67. Brief
Sieben und sechzigster Brief
Von eben derselben

Nun, meine Freundinn, ich habe hier zwey Nächte auf Stroh bey meinen Wollingen geschlaffen, und das gut, recht gut. Wolling trug ein Billet zu meinen zwey Leuten in Kleebrunn, da bekam ich Schlafzeug und Eßwaaren, so viel ich brauchte; – und gestern Nachmittag mußte Wolling einen Esel kaufen der ihm sein Gemüs und andre Gartenwaare zum Verkauf tragen soll, bis ich etwas mehr für ihn gethan haben werde.

Ich sitze hier auf einer Steinbank, die wir gestern am Ende des alten Schloßgangs entdekten, da ich dies kleine Stück abräumen half, um die schöne Aussicht gegen Morgen zu geniessen. Das abgebrochne Theil des Hauptsteins oder Kerns, um den sich die grosse Schneckenstiege herumwand, dient mir zum Tisch. – Vielleicht saßen hier vor zweyhundert Jahren oft flehende Unterthanen die eine Gnade suchten, und zitterten vor dem Fußtritt, den sie in [51] dem hohen, düstern Gewölbe wiederhallen hörten, und vielleicht flehten und harrten sie vergebens. Ich betete heut auch hier auf dem nehmlichen Platz, aber unter dem offenen, freyen Gewölbe des Himmels. Die Aussicht auf die ganz herrliche Gegend umher, weist mir Fußtapfen der Allmacht und Güte Gottes, und diese geben mir die Zuversicht, erhört zu werden. – Heut früh um fünf Uhr schlich ich einsam hieher, wo ich den noch unangebauten Theil der Ebne des Bergs – und gegen die Mittagsseite, das weite niedre Land vor mir habe. – Ich sah die Sonne aufgeben, nicht so prächtig an Farben, nicht so staunend wie sie durch die Dünste des Meeres sich erhebt. – Aber sie erleuchtet hier eine wohlthätigere Fläche; denn dies Stück fruchtbarer friedsamer Erde zeigt mir vieler hundert Menschen Nahrungsfreude und Ruheplätze. Neu, unbeschreiblich, war meine Bewegung als ich da ganz allein unter den zerstörten Mauern betete; ganz anders, als in den seligsten Andachtsstunden meiner verschlossenen Kammer. – Niemals hatte mir die Sonne so schön geschienen, als da ich hier auf meinen Knien ihren und meinen Schöpfer verehrte. Es war inniges [52] Gefühl und die Bitte, das Vorhaben meines Herzens für diese vortrefflichen Leute zu segnen und es mich ausführen zu lassen.

Ich hatte gestern lange geschlafen; daran mochte mein vieles Gehen und auch meine grosse Gemüthsbewegung Urfach gewesen seyn. – Ich fand bei meinem Erwachen niemand mehr in der Hütte. Ein Topf voll Mehlbrey kochte langsam am Feuer. Es war Kühmilch, die der gute Mann schon sehr früh mußte geholt haben. – Ich zog mich eilends an, ging aus der Hütte und horchte, suchte an der Seite, wo ich die Kinder zuerst mit den Ziegen gesehen hatte; aber da war niemand. Dann ging ich zwischen der Mauer und dem Haberstück hin und als ich die Ecke des Kornstreifes übersah, erblickte ich sie alle kniend und betend. Ich wandte mich zurück, um sie nicht zu stören, und doch einen Platz zu finden, wo ich etwas hören konnte. – Ich mußte mich über einen Haufen Schutt beugen, der am Ende mit Kräutern bewachsen ist, durch die ich sie beobachtete. – Sie waren alle um einen Stein herum, der von einer, an dem Thurm hinwachsenden Geißblatstaude beschattet wird. – Die Frau lag mit ihrem Kopf auf dem Stein, [53] ihr Säugling in seinem Bettchen neben ihr; Nanny hielt eine Ecke der Schürze ihrer Mutter und die zwey ältern Kinder sahen bald den Vater, bald die Mutter wehmüthig an. Wolling trocknete seine Augen, faltete seine Hände indem er sich gegen die Kinder wandte: –

»O, Kinder! werdet gut und fromm, wie eure Mutter es ist. Ihr wißt, daß auf diesem Stein eure selige Großmutter saß, als sie uns besuchte. – Hier gab sie eurer Mutter und mir ihren Segen, als sie das Letztemal vor ihrem Tode bey uns war. Wir knieten vor ihr, wie wir jetzt knien, und du, Carl, lagest neben deiner Mutter, wie dein Bruder jetzt liegt. Sie küßte und segnete dich besonders; und Lottchen! sie segnete alle Kinder voraus, die ich noch bekommen sollte. – Ihr wißt, eure Mutter geht auch an Regentagen und mitten im Winter hieher und betet weil sie den Stein ihren Altar heißt; und gewiß, er ist dazu geheiligt und Gott sah alle Tage ihr kindliches Vertrauen auf seine Güte. – Hier bat sie um Glück für euch, – und wir haben Urfach es zu hoffen. – Denn warum sollte Gott die reiche fremde Frau so weit hergeführt haben?[54] Warum gab er ihr das gute edle Herz, die Tugend und Arbeitsamkeit der Armen zu lieben, wenn er nicht sie ausersehen hätte, uns zu helfen? – Ach, wir hätten für uns genug, – aber für euch, ihr lieben Armen, für euch jammerten wir! – liebt Gott und eure Mutter, die so für euch betet – und für den Hülfsengel dankt, den Gott uns schickte.« –

Die lieben Geschöpfe weinten herzlich, wie ich. – Der Knabe gab seinem Vater bey den letzten Worten hastig die Hand. – »Ich hab sie zuerst gesehen, wie sie den Berg heraufstieg. – Da ist gewiß der Seegen der Großmutter daran Ursache, daß ich den Hülfsengel meiner Eltern zuerst sehen sollte.« –

»Ey, sagte Lottchen weinend, ich hab sie auch gleich gesehen. – Du gehst auch immer so weit hinaus auf die äussern Steine, da kannst du weiter sehen. – Aber ich fürchte mich vor den Fallen.« –

Die Frau richtete sich auf, küßte eine Hand ihres Mannes. – »O Wolling, alles Verdienst giebst du mir! – du Guter, was habe ich dir für Mühe und Sorgen gekostet! – Gott sieht hier, sie deutete auf ihre[55] Brust, was du mir bist – und wird dich belohnen. – Kommt, meine Kinder, kommt! ich will euch küssen eh ich aufstehe. Ich hoffe, Gott hat mein Gebet erhöret, euch zu Liebe.«

»Nein, Mutter,« sagte der Knabe, »du must dich auf den Stein setzen wie deine Mutter. Dann knien wir zu dir – und du segnest uns, wie sie dich segnete.« –

Der Mann winkte ihr. Sie setzte sich, konnte nichts reden; aber das Umschlingen ihrer Arme um ihre Kinder, ihre Blicke gen Himmel, ihre Thränen, das hohe Heben ihrer Brust. – Ach, das sah Gott, – das segnete er – und alle Heilige um ihn. –

Der Mann stand sprachlos da, hob nun endlich seine Hände auf: »Ach Gott! du, – du allein!« –

Nach einiger Stille sagte die Frau: »Nun kommt, unser guter Engel muß erwacht seyn.« – Sie küßte den Stein, nahm etwas vom Geisblat, so ihn berührte und stekte es in ihren Busen. –

Kindliche Liebe! dachte ich, wie heilig bist du! Ich ging zurück, zweymal fest zu dem Besten dieser Familie entschlossen. – Sagen Sie, Rosalia, wären Sie es nicht auch [56] an meiner Stelle? – Sie können denken wie zärtlich und gerührt ich Allen den guten Morgen bot; und sie fragten mich ängstlich, ob ich wohl geschlafen hätte? Wir frühstückten froh unsern Brey. – Der Knabe ging dann, für die Ziegen zu sorgen, und Lotte fütterte die Hühner.

Ich fing an: – – »Herr Wolling, ich muß Ihn noch einige Augenblicke von seiner Arbeit abhalten und fragen, ob Er nicht in eine andre Gegend ziehen möchte, wo ich Ihm ein Stück Land und ein Haus samt aller Zubehörde schaffen will; so daß Er, mit guter Anordnung des Baues seines Guts, seinen Kindern was erwerben könnte. – – Denn ich denke Er wird immer gern auf dem Lande bleiben.« – –

Ich hielt da inne, und blickte freundlich sie an. Aber da beyde unruhig schienen fuhr ich fort: »Vielleicht, da Herr Wolling ein so guter Gärtner ist, wäre er lieber in einer Stadt und besorgte dort seine Kunst. Sage Er mirs, ich will auch da herzlich für sie alle sorgen; doch wünsche ich daß Er die Stadt wählen möge, wo Herr von Pindorf wohnt.«

Rosalia! warum wünschte ich das?

[57] Frau Wolling stund nach einigen Augenblicken auf, fiel ihren Mann um den Hals: »O, Wolling«! rief sie unter einem Strom von Thränen, – »ich bitte dich, führe mich nicht von hier weg. Denke, daß meine Mutter uns diesen Aufenthalt schaffte, da kein andrer Mensch sich unsrer annahm. Hier sind all deine Kinder gebohren, mein Erstes begraben! Der Segen, der Geist meiner Mutter umschwebt diese Hütte. – O, ich kann nicht weg. – Wolling! mein Mann! ich kann nicht!« – Sie sank hier zu seinen Füssen, mit aufgehobnen Händen und Augen. – Er sah nur einen Augenblick mich, dann seine Frau an, die er mit Zärtlichkeit in seine Arme faßte ––:

»Nein, Lotte! wir wollen nicht weg, meine Liebe; wir wollen nicht! – Diese Erde, die ich anbaute, die mir dich und unsere Kinder ernähren half, die uns vor Grausamen schützte, – die verlasse ich nicht!« –

»O, Ihr rechtschaffnen Herzen,« sagte ich, »denen Muttertreue, und die Erde die sie segnete so werth ist! – Nein, Ihr sollt nicht weg! – Hier sollt Ihr meine Freundschaft und meine Liebe geniessen, und ich baue mir ein Haus bey Euch.«

[58] Mit Entzücken sahen beyde mich an – und weder Wolling noch ich konnten seine Frau hindern, daß sie nicht auf die Erde fiel, und uns beyden die Füße küßte. – Aber dieser starke Ausdruck von Empfindung, erschöpfte ihre Kräfte; denn sie wurde ohnmächtig. –– Wir brachten sie auf das Bett. – Da sie sich erholt hatte, hielt sie eine meiner Hände an ihr Gesicht und benetzte sie mit Küssen und Thränen. – Ich umarmete sie: – »Liebe Kinder, sagt mir, wem gehört das große Stück unangebautes Land, auf der Anhöhe des Berges, rechter Hand vor uns?« ––

»Dem Herrn von Mahnberg, der die ganze Herrschaft besitzt.« – –

»So ist vielleicht hier ein Guth mit Erbpacht zu er richten, und ich baue ein hübsch Haus darzu, woraus Frau Wolling alle Tage zu dem Altar ihres Herzens gehen kann.« – Sie hielten sich beyde die Hände und weinten sanft. –– »Geht daß nicht an, Herr Wolling? – O, ja! und das war lange mein Wunsch. Ewiger Gott! Sie haben mein Herz errathen. – Ach, wenn Sie dies für uns, für unsere Kinder thun, was sollen wir!« ––

[59] »Mich lieben, meine Freunde, und mir geschwind sagen, bey wem wir den Kauf machen können? denn wir sind im Junio; ich möchte, daß wir zu Ende des Herbstes im neuen Hause wären.« ––

»Meine Frau, der Beamte in Mahnheim ist ein guter, wohldenkender Mann, der gewiß dazu hilft.« ––

»Nun diesen Nachmittag wollen wir zu ihm, und es ausmachen.« ––

»Aber es wird kosten, meine Frau.« –

»Und, wenn ich viel Geld habe, was thut das?« ––

»So viel für Andere thun! O Gott!« »Ihr Lieben, warum denkt ihr immer nur dieses? hört einmal was ich sage: Wenn ein Reicher nicht geizig ist, so sinnt er auf Ausgaben des Vergnügens und der Ehre. Beyde kosten ihm Geld. – Nun ist Wohlthun meine Freude; laßt mich sie geniessen, und nehmt Antheil an meinem Glück und meinen Gesinnungen, wie ich an Eurer Hütte und Eurer Tugend meinen Antheil nahm.«

»Herzlich gern! – Aber lassen Sie mich einen Vorschlag thun,« sagte Wolling, – mit dem Wesen des so ganz edeln, ehrlichen [60] Mannes, daß sein Aussehen und sein Blick mir heilig war. ––

»Ich höre gern Vorschläge des vernünftigen Mannes.« ––

»Kaufen Sie das Guth und nehmen mich zu Ihrem Erbbeständer an. – Ach, Gott! du siehest, wie gern ich dieser Hand«, er faßte meine Hände, »den jährlichen Pracht bezahlen würde, – und wie getreu ich das Guth anbauen will!« ––

»Ich will, lieber Herr Wolling, den dritten Ausweg nehmen, und das Guth für Seine Kinder kaufen. – Er soll dabey der Verwalter meines Vermögens werden. – Bis wir aber unser Haus haben, will ich mir, zwischen den alten Mauern des Schloßgangs ein Zimmer, nur von lauter Holzwerk, zurecht machen lassen.« ––

Und das thu ich, mein Kind; und auf immer, immer bleib ich hier – Helfen Sie, mein Schatz, Sorge tragen, daß mein Bedienter die Schule, und seine Frau die Nähstunden ordentlich, für meine lieben Vorstadtkinder halten. Sie sahen mich dort anpflanzen, helfen Sie hüten, daß nicht zu früh Unkraut aufwachse. Es wird sich freylich wieder [61] einmal ändern, wie alles zu allen Zeiten that; aber es kann doch, nach dem jetzigen Gang der Menschen, bis auf die Enkel unsrer Zöglinge dauern. Wie viel Ursach habe ich da, den Staub meiner Eltern und des edlen von Guden zu segnen, daß sie, durch Reichthum an Kenntnissen und Vermögen mich in den Stand setzten, zwey Menschengeschlechtern von dreyzehn Familien Gutes zu thun! was für ein Glück, was für ein unermeßliches Glück ist das! – Aber hier, Rosalia, hier ist der Ruhepunkt meiner Seele. Es geht mir, wie dem guten Lottchen, ich fühle mich näher bey dem Himmel, und sehe mich mit reiner Menschheit – und reiner Tugend umgeben. – Schicken Sie mein Klavier – und die zwey kleinen Kasten, nebst dem mit dem Bett- und Weißzeug, nach Kleebrunn, in die Schenke zum Adler. Vielleicht lade ich einmal Sie selbst dahin, und weise Ihnen dann meinen Aufenthalt. – Ich will aufrichtig seyn, meine Rosalia, ich wills! und gestehen, daß neben der treuen Neigung meines Herzens, Leidenden Hülfe zu geben, dennoch der Gedanke, daß ich hier die Stadt sehen kann, wo Pindorf wohnt; daß ich Menschen Gutes thue, die Er [62] liebte, – daß dieses auch Antheil, grossen Antheil an dem Vorhaben hat, daß ich hier meine Tage zubringen will. Es möge nun der Mittag meines Lebens noch mit Gewitterwolken überzogen werden, oder mein Abend mit sanfter Dämmerung – und einem Himmel wie Lottchen ihn mahlte, heran nahen: – Hier will ich leben – und schlummern. Meine Wollinge machen mir gewiß einst ein eben so schönes Grab, wie dem Erstling ihrer Liebe. –– Adieu, Rosalia. Morgen das Uebrige. ––

[63]
68. Brief
Acht und sechzigster Brief
Madame Guden an Rosalien.
Fortsetzung des zweyten Tags.

Ich wollte des Nachmittags zum Beamten, sagte ich, als ich nachdem Frau Wolling sich völlig erholt hatte, mit beyden vor die Mauern hinaus ging und auf den Platz wies, wo ich ihr künftiges Haus hinzubauen dächte. Sie sahen sich an; es war mir, als wollten sie was mit einander darüber reden, und ich ging seitwärts von ihnen ab. –– Kurz darauf suchten sie mich. Wolling fing an: »Meine Frau, wir bewundern Ihre Güte immer mehr. Aber wir können nicht zugeben, daß Sie so viel für uns thun sollen, ohne uns zu kennen, und wir bitten Sie, daß Sie, eh Sie den Amtmann sprechen, unser Herkommen und die Ursach unsrer Armuth anhören. – Sie waren so großmüthig, nicht darnach zu fragen, sondern betrachteten nur unsere Noth,« – »und beurtheilte Eure Herzen,« fiel ich ein, »nach Euren Kindern, [64] Eurem Fleiß und der wahren Menschenwürde, mit der ihr mich aufnahmet.« ––

Wolling bückte sich gegen mich, gab seiner Frau die Hand und sagte ihr: – »Liebe Lotte, du weist unsere Geschichte am besten zu erzählen. – Ich will in dessen in unserm Gärtchen arbeiten.« Sie nickte stillschweigend mit dem Kopf – Er ging fort. Sie sagte, ihm nachsehend: – »Guter Carl! du bist alles werth. – Gütige Frau«: indem sie mein Kleid mit beyden Händen faßte, »ewig werd ich Sie segnen, daß Sie die harten Arbeiten des lieben Mannes erleichtern wollen.« –

»Komm Sie, liebe Frau Wolling, wir wollen uns auf den Stein setzen, wo ich Ihre Kinder zuerst sah, und da wollen wir unsre Herzen einander öffnen. Der kleine Säugling geht mit; in seinem Körbchen kann er neben uns schlafen.« – Das war ihr recht. Sie holte ihr Bübchen und ging, nachdenkend auf das, was sie sagen wollte, mit mir auf den Platz. – Er ist schön. Ueber den Schutt der zwey Thürme des Schlosses und den unfruchtbaren Abhang dieser Seite sieht man das so vortreflich angebaute Thal – und dann die Stadt W** deren Kirchen und Thorspitzen [65] man erblickt. Diesseits und jenseits des kleinen Flusses liegen fünf Dörfer zerstreut, in Wäldern von Obstbäumen, und weidende Heerden waren um sie herum.

Ich sah Frau Wolling etwas verlegen und nahm sie bey der Hand: »Liebe Frau Wolling, wenn es ihr Mühe kostet, wie ich natürlicher Weise denken muß, daß die Erinnerung an Unglück die gegenwärtigen Stunden noch verbittert, so sage Sie mir nichts. – Die Vorsicht über uns sieht mein Vertrauen auf Ihre Redlichkeit, und das Ihre auf meine wahre Menschenliebe. Das Vergangne wollen wir seyn lassen, – und nur vom Künftigen reden.« ––

Meine Freundinn, ich erinnerte mich Ihrer bescheidenen Begierde, mein Leben zu wissen, und wie fein denkend Sie sich das Vergnügen versagen wollten, – als Sie mich etwas nachdenkend sahen. Ich ahmte Ihrer Tugend nach – und Frau Wolling belohnte durch ihr Vertrauen das meinige. – Sie sagte mir ganz artig: »Nein! Sie sollen uns kennen; und wenn es nur wäre, daß ich von meinem Carl redte.« – Ich küßte sie und schwieg. ––

[66] »Ich bin die dritte Tochter eines fürstlichen Raths aus N**. Mein Vater war ein sehr vernünftiger, aber etwas zu stolzer Mann. Vielleicht, mein Gott, sage ich dieses, weil sein zu weit getriebner Ehrgeiz mich hieher brachte. – Er war bey dem Fürsten beliebt – und konnte also auf Ansehen und Glück rechnen. Er erzog uns alle sehr gut. – Wir mußten alles Artige, – alles Feine wissen. Der Hofmeister meiner zwey Brüder unterwies uns in der Sittenlehre und Geschichte mit ihnen, und in mehrerm als überhaupt andern Mädchen gelehret wird. Meine beyden ältern Schwestern waren schöne, Verstandsvolle Frauenzimmer und wurden sehr gut verheyrathet. Meine Mutter liebte den Ton der Pracht gar nicht, den mein Vater einführte, aber sie durfte nichts dagegen sagen. Sie war empfindsam, wie ich es bin, und liebte mich sehr, weil ichs schon ganz jung fühlte, wenn sie seufzte, gern um sie war und mit sanfter Stimme mit ihr sprach, um ihren Gram den ich zwar nicht ganz kannte, zu mindern. Sie gewöhnte mich, ihr im Hause überall zu folgen und zur Hand zu gehen. Als mein Vater das Guth nicht[67] weit von hier kaufte, hatte sie grosse Freude, um da still zu leben, wie sie hoffte. Ich war sechzehn Jahr alt, als wir den ersten Sommer da wohnten. Mein Vater war sehr heftig in seinem Zorn mit den Bedienten und wechselte oft, welches meiner Mutter höchst schmerzlich war, weil sie theils das Unrecht sahe, so den Leuten wiederfuhr, theils auch den Schaden im Hauswesen; – und ich gewöhnte mir an, alle unsre Dienstboten von dem Willen und Geschmack meines Vaters zu unterrichten, sie zu trösten, aufzumuntern – und zu warnen. – Wolling kann als französischer Blumen- und Obstgärtner in unser Haus. Er war schön ordentlich, überaus gefällig, meistens aber etwas traurig; arbeitete aber mehr, geschickter und besser, als alle vorherige Gärtner, deren wir schon Viele gehabt hatten. Aber mein Carl hatte in seiner Jugend studirt und ein angebauter Geist hat immer den doppelten Werth. Er erhielt auch doppelte Achtung von meinem Vater. Ich wünschte, daß er im Hause bliebe, und sagte ihm daher einen Morgen, als mein Vater und Mutter auf einen Besuch in die Stadt gefahren waren, alles worüber [68] mein Vater bey den andern Gärtnern gezankt, was er von ihnen gern gehabt hätte, und wohin sein Verlangen im Garten gehe; und bat Carln, weil er doch dienen müsse – und sich immer nach dem Willen einer Herrschaft zu richten verbunden sey, so solle er meiner vortreflichen Mutter zu Liebe, meinem Vater gefällig zu seyn suchen, und versicherte ihn, daß er dafür belohnt werden solle. – Ich bemerkte wohl, daß er, während ich redte, lange auf die Erde, dann mich ganz gerührt, ansah, roth und dann auch blaß wurde, mir endlich stotternd dankte und versprach, gewiß alles mögliche zu thun, meinem Rath zu folgen. Ich möchte nur die Güte haben, ihm immer gleich von meines Vaters Ideen Nachricht zu geben. Er wolle auch keinen andern Menschen fragen, als mich – und würde all sein Vertrauen auf die edle Güte meines Herzens setzen. Der Ausdruck edler Güte, schien mir von einem Gärtnergesellen sonderbar, – und daß er mein Herz nannte, deuchte mich frey. –– Das hat er sich in Frankreich angewöhnt, sagte ich in mir, wo dergleichen Leute sagen, was sie wollen. – Ich gedachte gegen meine [69] Mutter nichts davon. Carl wurde bald der Liebling meines Vaters, und unser Garten der artigste in der ganzen Gegend. Jedermann lobte ihn. Carl war fein, sagte niemals, das hab ich dem Herrn Rath vorgeschlagen. – Nein, der Herr Rath hat es mir so befohlen. Da kam der Ruhm meinem Vater zu. Carl redte mit niemand als meinem Vater und Mutter, die er mit der größten Ehrerbietigkeit behandelte, und auf mich – oder nach mir mit vieler Aufmerksamkeit, oder auch Traurigkeit blickte, lange nichts mit mir redete, als nur im Vorbeygehen. – ›Hab ich Ihren Rath befolgt? Sind Sie mit mir zufrieden? oder wissen Sie nichts vom Herrn Vater?‹ – Aber seine Stimme war so sanft, seine Blicke so zärtlich und oft seine schönen Augen in Thränen dabey. Er hatte viel Anstand und lebte abgesondert von unsern andern Leuten; sprach mit keiner Magd, scherzte mit keinem Bedienten, blieb immer zu Hause, arbeitete mehr als zwey oder drey Andre. Den Winter giengen wir in die Stadt; Carl blieb auf dem Guthe. – Meine Mutter schickte ihm durch mich ein Geschenk, er bath mich aber um einige Bücher [70] auf den Winter. – Ich fragte, welche er denn besonders wünschte? – ›Was Sie Gutes im Deutschen und Französischen haben, denn ich bin in meiner ersten Jugend zum Studieren angehalten worden.‹ – Ich versprach ihm, welche in meinem Zimmer zu lassen; weil er doch die Aufsicht über das ganze Haus bekomme, so könne er sie da finden. –

›In Ihrem Zimmer Mademoisell Charlotte!‹ sagte er mit Zittern. – ›O, ich werde den Fußboden küssen, den Sie betreten haben. – Nehmen Sie sich noch ferner des armen Carls an, und lassen Sie mich wissen, was der Herr Vater gern hätte. O, wie lang wird der Winter für mich seyn!‹ – Ich gab keine Antwort hierauf und wir reisten ab. Carl war an dem Wagen, als ich einstieg. Er machte den Schlag zu und ich sah, daß er meinen Rock küßte und weinte. Er war schön, so edel dabey, daß ich sehr gerührt wurde. ––

Den Winter über hatte er Plane gemacht, und meinem Vater sehr geschickte Nachrichten vom Garten und allem gegeben. Gegen das Frühjahr ließ dieser ihn kommen, um den [71] vorhabenden Bau und Anpflanzung zu verabreden. Er war blaß, als er ins Zimmer kam; erröthete aber bey dem ersten Blick auf mich. – Ich hustete, um meine Röthe zu verbergen. Er blieb nur zwey Tage, und nur einen Augenblick sah ich ihn. – Ich schrieb alles, was ich wegen des Gartens wußte auf und gabs ihm. – Nur wenig besonders war darinn; ich hofte den Garten und den rechtschaffnen Gärtner bald zu sehen. – Er bat mich um Bücher; ich gab ihm wieder einige und er reiste ab, nachdem er mir ein Heft Papier gegeben, als Auszüge von dem, was er gelesen. ––

Mit der schönsten Handschrift waren die besten moralischen Stellen, Scenen des Landlebens, und etwas aus Thomsons Frühling ins Französische übersetzt, darinn. – Ich gesteh, es war ein Schatz für mich, den ich heilig hielt und immer bey mir trug; – ich sagte bey mir selbst: Alle die Vornehmen, die ich sehe, selbst der Mann meiner ältesten Schwester, ist nicht so artig, nicht so geistreich, nicht so moralisch, als der Gärtner Carl – – und mich verlangte nach dem Lande.

[72] Wir kamen hinaus. O, wie schön war der Garten, der Hof, alles durch des wackern Carls Fleiß und Geist! – Mein Vater war ausserordentlich zufrieden, lobte ihn und wolte ihn beschenken. Aber mein edler, lieber Mann sagte: Herr Rath, wenn Sie so zufrieden mit mir sind, daß Sie mir ein Kennzeichen Ihrer besondern Güte geben wollen: so haben Sie die Gnade, und erlauben, daß ich den Sommer über, anstatt andrer Taglöhner, die zwey Söhne Ihres abgeschaften Gärtners nehmen darf; die arme Familie geht sonst vor Elend zu Grunde. –

Mein Vater war heftig dawider, aber mein älterer Bruder bat ihn auch, und er ließ es endlich um Carls willen geschehen; doch mit dem Verbot, daß der Vater der jungen Leute sich niemals sehen lasse. – Diese Wohlthätigkeit von Carl rührte mein Herz; – noch mehr aber als ich bemerkte, daß Carl, um den Leuten ihren ganzen Taglohn verdienen zu helfen immer die Arbeit an den Stücken voraus that, wo er die jungen Leute anstellte, weil sie noch zu jung und zu schwach waren. Diese doppelte Verwendung der Kräfte feines Lebens, zum Besten der [73] Armen, machte mir ihn doppelt werth. Er hatte auch vor meinem, und meiner Schwester Zimmer, die unten in den Garten gingen, einen halben Laubengang von Geisblat gezogen, das ich sehr liebte, und nur ein einziges mal davon gesagt hatte. Alle Abend hörten wir eine Flöthe, sanft, melancholisch, wie eine Nachtigal; – und niemand wußte, wer es war. – Mein Herz dachte gleich an Carln, – denn es dünkte mich immer mehr und mehr, daß er alle Talente und guten Eigenschaften habe. Ich redte aber deswegen nicht mehr mit ihm als sonsten; doch gefiel mirs wohl, daß er gar keine Bekanntschaft oder Umgang mit irgend einem Mädchen hatte. –– Nur zu Ende des Sommers wurde ich etwas unruhig, als ich die artige Schwester der zwey jungen Leute, deren Carl sich so angenommen hatte, oft im Garten an einsamen Gegenden erblickte und sie dann immer nach dem Herrn Carl fragen hörte; sie auch bey dem Glashause und des Gärtners Wohnung sahe –– ach! ich merkte da mit vielem Kummer über mich selbst, und schämte mich, wie lieb er mir war; denn ich wurde auf das Mädchen neidisch und [74] bös und ging einige Tage gar nicht auf die gewohnten Spatziergänge, grüßte auch wider Willen Carln ganz trocken. –– die Flöthe war diese Abende um so viel trauriger, und Carl, den ich von ohngefehr begegnete, sah mich so furchtsam, so niedergeschlagen an, und wiederholte seine Frage mit weit mehr Schüchternheit: ––

›Haben Sie nichts zu erinnern? –– Sind Sie noch zufrieden?‹ –– Mein stolzes: ›Nein Herr Carl, es ist alles gut‹; machte ihn bestürzt. Er machte mir eine Verbeugung und ich wandte mich aus dem Gange, nachdem ich einen Zweig der Kanille abgerissen und die Blätter davon auch einzeln weggeworfen hatte; und setzte mich in ein halbes Gitterhüttchen mit Geisblat bedeckt bey dem Springbrunnen. – Ich hörte was gehen. Es war Carl, der alle Blätter aufhob, die ich weggeworfen hatte, sie küßte und in seinem Busen steckte. Ich hörte ihm deutlich sagen: Ah! mon Pere – mon Pere! – sah ihn seine Hände ringen und mit Seufzen gen Himmel sehen. – Ich weinte hier über ihn – und mich; aber einige Augenblicke darauf kam das Mädchen wieder zum Vorschein, [75] wie sie um einige Betten herum eilte, um an den Platz zu kommen, wo Carl arbeitete. Mein Mißvergnügen nahm zu und ich ging den ganzen übrigen Abend in mein Zimmer. – Ich hörte keine Flöte. – Den andern Tag blieb ich auch zu Hause, denn ich war über mich selbst mißvergnügt und unruhig, daß ein Gärtnergesell so viel Eindruck auf mich machte, und ich ging nicht mehr in den Garten, als mit der ganzen Familie.

Acht Tage darauf reisten meine Eltern mit einander weg, um die Heyrath meiner zweyten Schwester zu berichtigen. Ich sah das mir verhaßte Mädchen recht artig gepuzt im Garten umher gehen, Carln Blätter nachwerfen und endlich ihn se nahe kommen daß sie ihn an der Weste zupfte, sie anzusehen. – Er warf voll Unmuth seine Grabschaufel hin, und ging eilfertig weg. – Mein älterer Bruder stand unter einer Laube, redte was zu dem Mädchen, das dann Carln nachlief. Ob sie ihn einholte, ob er mit ihr sprach, das konnte ich nicht sehen. Aber ich vermuthete, daß er das Mädchen liebe, und deswegen ihre Brüder im Garten gebrauche, jedoch nicht haben wolle daß man es wisse.[76] Ich bemerkte ihn erst gegen Abend wieder im Garten, wo er mit meinem Bruder vieles und eifrig sprach. Ich ging nicht weiter, als in den kleinen Laubengang, vor unsern Zimmern; da kam mein Bruder mit einem finstern Gesicht zu mir und sagte gleich: der Gärtner Carl ist ein abgeschmackter, eingebildeter Mensch. – Ich sagte nichts, weil ich ihn so zornig fand. Er ging einigemal auf und ab ganz nachdenkend. Dann kam er zu mir, nahm mich bey der Hand, und sagte: ›Höre, Lottchen, du kanst mir eine grosse Probe deiner Freundschaft geben.‹ –

›Gern, lieber Bruder! in was? sag es nur.‹ – ›Ich kenne dein gutes Herz und deinen Verstand; also will ich dir eine Angelegenheit vertrauen.‹ –

Sein Gesicht und Ton machten mich ängstlich. Endlich gestand er mir, daß er des alten Gärtners Tochter – seit einiger Zeit geliebt und sich eigen gemacht hätte. –

So! dachte ich, daß ist schön von beyden Seiten! Mein Bruder das Mädchen, und ich meine Neigung auf den Gärtner, denn ich konnte mirs nicht mehr verhehlen. – Er fuhr fort: –– ›Nun ist sie in Umständen, wo ich für sie sorgen muß, und ich hätte [77] gern, daß Carl sie heyrathete.‹ –– Hier schauerte mich. –– ›Das Mädchen ist artig. Er hat einen guten Lohn. Ich wollte ihn bey dem Vater recht fest setzen und gäbe dann alle Monat noch etwas zum Kostgeld für das Kind; da könnte der Kerl recht gut leben. Aber der T– will nicht anbeissen. Das Mädchen hat schon alles versucht. Er geht ihr aus dem Wege, redt gar nicht mit ihr. – Gestern und heut, da wir allein Herr sind, hab ich sie aufgemuntert, ihm recht zuzusezzen; – da ist er gar aus dem Garten fort. Er hat schon zu ihren Vater gesagt, wenn seine Tochter noch einmal in den Garten, oder in das Haus käme, so wolle er es dem Herrn Rath sagen und da würden seine Söhne auch den Abschied bekommen. –– Der Kerl hat Hoffartsschwänke im Kopf. Ich weiß nicht wie ich ihm ganz zureden soll und hätte gern, daß du es thätest, denn bey Vater und Mutter will ich alles ausmachen.‹ – –

Ich kann nicht sagen, wie mir zu Muthe war. Aber ich nahm mir ganz unbesonnen vor, mit Carln auf meine Art davon zu reden; doch sagte ich meinem Bruder, es wäre für ein junges Frauenzimmer gar keine anständige Unternehmung. ––

[78] ›Ach du kannst mit deinem Verstande dem Ding eine Wendung geben. Thue es doch, ehe unsere Eltern wieder kommen.‹ ––

Ich überlegte es die ganze Nacht. Die Flöte seufzte, und spielte ganz klagend bis gegen zwey Uhr. Es war schöner Mondschein und ich, da ich nicht schlafen konnte, an meinem Fenster. Ich bemerkte daß der Ton ausserhalb des Gartens vom Feld herkam und den Platz veränderte; –– auch endlich, daß jemand zur Feldthüre herein, an der Wand hin, gegen das Glashaus ging. Es war Carl. – – Am Morgen ging ich in den Garten. Er staunte, als er mich erblickte und wie er mich der Hecke näher kommen sah, an der er die Rosen aufband. –– Ehrerbietig und gerührt machte er mir eine Verbeugung. – Ich grüßte ihn freundlich, und fragte nach seinen beyden Helfern. – Er sagte mir, wo sie wären. Dann lachte ich und fragte, ob nicht die Schwester von ihnen eine artige Gärtnerinn seyn würde? Er wurde zornroth, kann ich sagen, doch faßte er sich gleich.

›Warum, Mademoisell Charlotte, fragen Sie mich dieses?‹ –

[79] ›Weil ich es denke und glaube, daß das Mädchen recht glücklich mit ihm würde. Und da Er den Brüdern Gutes gethan, so könnte ja das grössere Gute der Schwester wiederfahren.‹ –

›Die Brüder sind arm und redlich, sagte er mit Eifer, sonst würde ich nicht gethan haben, was ich that.‹

›Ey, Carl, was wird er ungeduldig, wenn man von einem schönen Mädchen mit Ihm spricht?‹ –

›Vergeben Sie mir! ich vergaß mich. – Aber lassen Sie mich eine Bitte thun; – nichts mehr davon zu reden. Ich will mich nicht verbinden, niemals! –– und wenn Lehnchen die schönste und tugendvollste Fürstin wäre. Erhalten Sie mich nur in dem Dienst des Herrn Vaters – ich will sonst nichts.‹ –

›Er bleibt ja im Dienst, und um so viel fester, da mein älterer Bruder das Guth bekommt, der Ihm die Versicherung davon und eine Zulage geben will.‹ –

Er lächelte etwas bitter. – ›Eine Zulage? Ich glaub es!‹ – Hier wurde ich gewahr, daß er etwas vermuthete und es war [80] mir leid, mit ihm geredt zu haben. – ›Sey Er ruhig,‹ sagte ich; ›ich wurde gebeten, Ihm zu zureden.‹ ––

›Ich bin es überzeugt; – vergeben Sie mir meinen Widerspruch. Ich bin jezt ein niedriger dienstbarer Mensch, – aber von gutem Herkommen. Tugend und Ehre sind mein Trost und meine Stütze. Ich werde sie niemals verletzen, und niemals davon abweichen. Ihre englische Güte hat mir hier mein Leben versüßt. Ich begehre von dem Schicksal nichts weiter, als Ihren Vorspruch der dem Herrn Vater und – dann und wann ein Wort von Ihrer Frau Mutter oder Ihnen. Gott sorgt für das Uebrige und wird Sie segnen.‹ ––

Nun reute und freute mich die Unterredung. Ich schwieg – und er sagte: ›Sie wollen dem Mädchen Gutes: Ihre edle Seele wird bald Gelegenheit haben, ihr welches zu bezeigen. – Ich habe niemals mit ihr gesprochen, und werde es nicht thun; aber die Ursachen kann ich nicht sagen.‹ ––

Da ich immer schwieg sah er mich traurig an: ›Mein Gott, wenn ich Sie beleidigt hätte‹!

[81] ›Nein, Carl! gewiß nicht. Er hat sich der Tugend und Ehre geweiht. Gott segne Ihn dabey; Was ich Ihm Gutes in unserm Hause thun kann, will ich gern. Bleibe Er nur fleißig und rechtschaffen, wie bis jetzt.‹ –

Ich sah ihn weinend mich anblicken. Meine Augen thränten auch. Ich grüßte ihn und ging weg. Es freute mich innig, daß er von besserm Stande war, als seine Gärtnerey mich vermuthen ließ; doch konnte und durfte ich nicht weiter darüber denken, sondern nahm mir vor, immer zurückhaltend zu bleiben, wie bisher. Ich schätzte ihn ungemein, aber viele Betrachtungen über die Pflichten meines Standes kämpften gegen meine Neigung, und ich redte in acht Wochen kein Wort mit ihm.

Mein Bruder war sehr misvergnügt über Carls Halsstarrigkeit und Stolz, wie er es nannte, und drohte ihm deswegen. – Kurz darauf aber wurde das Mädchen mit einem Förster verheyrather. Der Sommer und Herbst gingen so recht gut hin. Carl blieb immer der vortreffliche Arbeiter und lebte eingezogen fort. Mein jüngerer Bruder kam von Pont à Mousson zurück, wo er leider [82] nichts gelernt hatte und nur einen elenden jungen Petitmaitre vorstellte. – – Er hatte viel Aehnlichkeit mit mir – und Carl sagte mir seitdem, daß er ihn deswegen liebte und ihm suchte gefällig zu seyn. Der junge Mensch liebte Carln, weil er Französisch sprach und einen schönen Geschmack zeigte. Mein älterer Bruder war über den Jüngern zu gebieterisch, und der Ort ziemlich einsam; so daß Carl die einzige Auswahl für den Letztern blieb, mit dem er Anfangs nur immer von Frankreich sprach, aber nach und nach sich an ihn heftete, alle Morgen und Abend bey ihm war und durch den Umgang meines Carls ein liebenswürdiger junger Mensch wurde. – Der Keim jedes Guten war in ihm, er brauchte nur gepflegt zu werden; und ach, dieses Verbessern meines mir liebsten Bruders machte mir Carln immer werther. – – Der Winter wurde wieder in der Stadt zugebracht – und die Zurüstungen zu meiner zweyten Schwester Hochzeit gemacht, – die sich aber bis in den Sommer verzögerte; wo dann mein Vater das Fest auf seinem Guthe halten wollte. – Mein jüngerer Bruder trat in Kriegsdienste,[83] und es freute mich, da er noch im Winter abreiste, daß er seinen Weg über unser Guth nahm, um von Carln Abschied zu nehmen.

Mir sagte er noch: – Lottchen! der junge Thalbruk wird sich um Dich melden. Der Vater hilft ihm zu einem angesehenen Amt. – Aber Du wirst unglücklich mit dem bösen Menschen werden. Ach! wenn mein Freund Carl wäre, was dieser ist; – wenn die elenden Vorurtheile ihm nicht entgegen stünden: wie glücklich wäre meine Schwester mit ihm! – –

Thalbruk kam auch in unser Haus und war sehr galant um mich herum, ich höflich, aber sehr kalt. Dennoch wurde er mit den übrigen Brautleuten auf unser Guth geführt. Mein Vater hatte Carls Nachricht von seinem Vorhaben gegeben – und wir fanden Alles wie einen Pallast der Feen geputzt. Die Trauung und das Fest war den Tag nach unsrer Ankunft und unser Saal glich dem Tempel der Flora. Die Wände waren blaßroth angestrichen, Blumengewinde darauf angebracht; der Name der Braut und des Bräutigams in Rosen, Mirthen und weißen Violen [84] geflochten. Die Fenster ausgehoben, grosse Rahmen mit Flor an ihrer Statt darinn, die mit Blumen verziert waren. Blumengewinde hingen über der Tafel – und der Garten, alles war mit unsäglicher Mühe verschönert. Carl fragte mich: ›Sind Sie zufrieden‹? – Mit Allem, – ausser Seiner blassen Mine. – Er neigte sich nur, ganz traurig.

Mein Vater war höchst vergnügt. Es war in der grossen Laube ein Tanzplatz gemacht, der sehr artig war. Ich ging, nach einem Tanz, allein auf einer Seite hinunter. Mein Vater hatte ein wenig Wein und kam zu mir, da ich just auf eine Bank mich setzte. – Carl war sympathetischerweise an der Hecke hingegangen. Mein Vater erblickte ihn, und rief ihn her, er lobte ihn sehr und sagte endlich: – Diesen Herbst machen wir Traubenkränze auf die Hochzeit meines Lottchens. Aber er muß auch für Herbstblumen sorgen, daß es recht schön wird. Ich habe Thalbruken versprochen, seine Hochzeit auch hier zu halten; denn, Lottchen, ich will an dir eben so viel thun, wie an deinen Schwestern. ––

[85] Er sagte dieses, als ob die Rede von einer ausgemachten Sache wäre. – Ich war wie versteinert und Carl nahe am Umsinken. – Der Wein machte, daß mein Vater es nicht bemerkte. Carl sah mich nicht an; starr heftete er seine Augen zur Erde. – Mein Vater redte fort und schickte endlich Carln weg. – Ich hätte kein Wort vorbringen können. – Staunen über den gefaßten Entschluß meines Vaters, Carls Schmerz, mein Widerwille gegen Thalbruk, alles lähmte mir die Zunge. Ich küßte nur meinem Vater die Hand – und glücklicher Weise kam meine gute Mutter dazu, welcher mein Vater erzählte, er habe auch meinen Brautkranz bestellt. Sie redte freundlich mit ihm und führte ihn durch eine Allee in sein Zimmer.

Ich ging Maschinenmäßig nach der einsamsten Gegend des Gartens wo ich sonst zu lesen pflegte. – Carl lag da auf dem Moos – welches er mit Thränen benetzte. Es war mir unmöglich wegzugehen, ohne ihm etwas zu sagen. –– ›Carl, guter Carl, was macht er hier auf der Erde! Es ist zu kühl, Er wird krank werden.‹ Er richtete sich [86] auf. – ›Sie, Mademoiselle, Sie! da bey mir. Mein Gott! und mit beyden Händen ergriff er mein Kleid, küßte es, ließ es gehen: – O, vergeben Sie mir, ich bin halb von Sinnen.‹––

›Ich seh es, werther Lehrmeister meines liebsten Bruders. Sage er mir, was Ihm fehlt.‹––

›Was mir fehlt? –– was mir fehlt? O, fragen Sie mich nicht mehr. – Thun Sie es nicht. – Gehn Sie zurück zu der Gesellschaft. Dort müssen Sie seyn. –– Lassen Sie den Armen, Elenden‹; –– und hier faßte er wieder mein Kleid mit Heftigkeit. –– Ich nahm seine beyden Hände in meine. –– Carl! o glaub Er, daß Er mir werther ist, als Alle die ich sahe. – ›Beruhige Er sich, ich bitte Ihn.‹ ––

Er benetzte meine Hände mit Thränen, sprach aber nichts. Ich sagte ihm: Adieu, Carl, sorge er für seine und meine Ruhe; –– und ging. –– Als ich mich nach ihm noch umsah, lag er mit dem Gesicht auf dem Platze, wo ich gestanden hatte. – Ach, was für Mühe hatte ich, nicht wieder umzukehren! – Aber ich fürchte mich vor den [87] Andern, und doch reute michs, ihm nicht gesagt zu haben, daß ich Thalbruken niemals heyrathen würde, – meine Augen schlummerten die ganze Nacht nicht eine Viertelstunde. Den andern Morgen war er schon wieder fleißig wie sonst; und um sechs Uhr war alles in der größten Ordnung. Den dritten Tag war die Heimführung meiner Schwester. Ich muste mit. Thalbruk, als Brautführer, auch. – O, was stand ich in meinem Herzen über Carls Unruhe aus! – Als wir zurück kamen, schien er sehr gelassen und gab mir Abends dieses Papier. – Frau Wolling sagte dabey: ›Dieses haben Sie die Güte zu lesen. Ich will indessen etwas zum Mittagessen zubereiten und Ihnen dann das Uebrige sagen.‹ –– Ich fand in einem grauatlaßnen Futteral ein kleines Heft Papier, schön geschrieben, – wo Carl anfing.

Ihre englische Güte und die Redlichkeit seines Herzens gäben ihm den Muth, ihr sein ganzes Leben zu entdecken. Er sey der Sohn des H** Oberbeamten in Z**, habe eine sorgfältige Erziehung in allem genossen, und wäre durch einen vortreflichen Landgeistlichen zu den Studien vorbereitet worden. [88] Sein Geschmack und die Anweisung dieses Mannes hätten ihm zu Erholungs- und Belustigungs-Stunden die Gärtnerey angewiesen, und sein Hang wäre so stark dazu geworden, daß er, als ein Knabe von vierzehn Jähren feinen Vater gebeten habe, ihn zu einem Kunstgärtner zu thun. Dieß sey ihm aber abgeschlagen worden, und man habe ihm nach Pont à Mousson geschickt, um ihn da in der französischen Sprache, Sitten, Wissenschaften und philosophischen Kenntnissen unterrichten zu lassen. Er habe dieses befolgt, aber daneben die ganze französische Gärtnerey gelernt, worinn er es auch weiter, als in andern Wissenschaften gebracht habe, weil es seine Freude gewesen. Sein Vater habe ihn nach zwey Jahren zurückgerufen und auf noch eine Universität gezwungen, wo er Historie und Physik mit Vergnügen, besonders auch die Botanik erlernt. – Während dem sey seine Mutter gestorben – und sein Vater habe eine reiche Wittwe geheyrathet, die ihn aber nur unter der Bedingung genommen, daß er seinem Sohne seinen Platz abträte und dieser ihre zweyte Tochter zur Ehe nähme. Sein Vater habe dabey bloß den Wohlstand betrachtet, in welchen [89] er durch das Vermögen gesetzt würde, und alles angewandt, bey Hofe die Erlaubniß zu erhalten, ihm seine Bedienung zu übertragen, habe auch darinn seinen Endzweck erreicht. Aber da es ihm unmöglich gewesen sey, dieses Frauenzimmer zu lieben, so habe seine Stiefmutter wegen der Verachtung ihrer Tochter seinen Vater dahin vermocht, daß er seit vier Jahren die Hand völlig von ihm abgezogen und das Amt einem andern jungen Menschen gegeben, der die Person gern geheyrathet. Er gestünde ihr, daß ihn nur der Verlust der Liebe seines Vaters geschmerzt habe, indem er übrigens durch die Verstossung in die Freyheit und Nothwendigkeit gesetzt worden wäre, seiner erwählten Gärtnerkunst völlig nachzugehen und sie so weit zu treiben, als es die Proben seiner Arbeit in den Garten ihres Herrn Vaters bewiesen. Er bekenne ihr, daß nicht nur ihre liebenswürdige Person, sondern auch die leutselige und vortrefliche Seele, welche sie ihm in ihren Vorstellungen zum Besten des Diensts ihres Vaters gezeigt, ihm die größte Liebe und Verehrung eingeflößt habe. Er hätte sich aber vorgenommen gehabt, niemals davon zu reden, indem er sie weder dem Tadel [90] der Welt, noch dem Unwillen ihres Herrn Vaters, vielweniger aber dem traurigen Schicksal einer unglücklichen Liebe hätte aussetzen wollen. Seine Zärtlichkeit habe ihn zu allem angefeuert, was er in seinem Dienst gethan. Ein Blick, ein Wort von ihr sey himmlisches Vergnügen und Belohnung für ihn gewesen. Immer habe er gefühlt, daß sie nicht für ihn geboren sey, habe auch seinem Herzen keine Wünsche und keine Entwürfe erlaubt. Aber die Erklärung, daß sie einem Andern bestimmt sey, habe ihn wie ein Donner getroffen, – und in seinem ersten Schmerz sey er würklich dem Wahnsinn nahe gewesen. Ihr Mitleiden – und die Versicherung ihrer Achtung sey Balsam für sein zerrissenes Herz. – – Er habe sich nun gefaßt und trage geduldig diesen Schlag des Väterlichen Fluches. – Er bitte Gott um Glückseligkeit für sie, und wolle nun alle seine Kräfte und Wissen verwenden, um auf das Fest ihrer Verbindung ihr noch den letzten ehrerbietigen Beweiß seiner reinen, uneigennützigen Liebe zu geben. –– ›Sie werden mit Thränen begossen werden, alle Blumen, die ich zu Verschönerung dieses Tages ziehen will. – Einen Wunsch nur – [91] angebetete Charlotte, nur einen Wunsch erfüllen Sie, den das Herz des treuen, tugendhaften Jünglings wagt: lassen Sie den Blumenstrauß, den Sie an dem, für mich so entscheidenden Tage, an Ihrer Brust tragen werden, lassen Sie den mein seyn; geben Sie ihn sonst niemand. Diese Hofnung wird mir die bittere Pflege dieser Blumen versüssen; und wenn meine zitternden Hände sie zu Charlottens Brautschmuck binden werden: so wird der Gedanke mich stärken, daß wenig Stunden darauf das edelste beste Herz an diesen Blumen schlagen wird, und ich sie dann erhalten und für mein noch übriges Leben, an meinem Herzen tragen werde.‹ –

Ich hatte dieses gelesen, eh Frau Wolling zurück kam, und sagte mir selbst: ›O Sympathie! und du Ruf der Natur, wie stark seyd ihr gegen Alles!‹ – Sagen Sie, meine Freundinn, sagen Sie, was konnte der arme Carl, die gute Charlotte, was konnten sie thun? Edelmüthigkeit kämpfte in dem Herzen des Jünglings; Sittsamkeit, Pflicht gegen die vorgeschriebene Gesetze ihres Standes, in der Seele des Mädchens. Und dennoch wurden sie Schlachtopfer des Unglücks und ihrer [92] Leidenschaft! – – – Und, was bin ich? Meine Liebe! was bin ich? Ist nicht, seitdem ich unter der Tyranney dieses Abgotts siehe, jeder Othemzug meiner Seele, jedes Gute, jeder Fehler, Würkung, alleinige Würkung meiner Liebe? Ich sehe die Thurmspitzen der Stadt, wo Pindorfs Kinder wohnen. Aber, wo – wo ist Er? Ich verberge mir Alles, was ich bey dieser Frage fühle. – Bey Andern! Er wiederholt da die Auftritte, die Unterredungen die den vorletzten Winter einen so traurigen Einfluß auf meine ganze Glückseligkeit hatten. Ach, vielleicht ist diesen Augenblick jede Empfindung seines Herzens, jeder Gedanke seines Geistes vergeben, verpfändet, neue Bande geknüpft! ich ganz, ganz vergessen, ganz ausgelöscht! – ich, die allein durch die Erinnerung seiner Fußstapfen hieher geführt wurde! – Ich sonderte mich ab, um wenigstens Steine zu betreten, die Er betrat; Gegenstände zu sehen, die er liebte! – O, wie danke ich der Vorsicht, daß sie für Wohl und Uebel Andrer mein Herz so empfindsam machte! daß die Lindrung fremdes Schmerzes Erleichterung meines eigenen Wehes wird! – An diesen leblosen Gegenständen [93] hier hängt mein Herz, weil Er sie beschrieb. Ich kenne sie alle, und Sie sollten meine Schreibtafel sehen, wie oft ich ihn schon zeichnete, melancholisch zwischen den Weiden und dem kleinen Bächelchen dahin gehend, das an der Anhöhe herum fließt; oder am Fuß eines Baums, mit einem Buch in der Hand; dann über die große Wiese nach dem entfernten Bauernhause auf der Seite hin gehend. – Am Ende des Wäldchens, auf einem Stein sitzend, Schaafe um ihn herum, die er streichelt, und die mit seinem Stockband spielen; hier auf der Anhöhe an einen Baum gelehnt, mit dem Ausdruck der Bewunderung und Liebe der Natur! – Ach meine Freundinn, ich seh ihn auch bey Damen sitzen, mit ihnen sprechen; – sehe den Eindruck, den ihre Verdienste – und Schönheit auf ihn machen; sehr feine Aufmerksamkeit, sein Bestreden, nahe um die vorgezogene Glückliche zu seyn; sehe das innige Vergnügen über sein Gesicht verbreitet, so ganze Tage mit ihr zu verleben. – O, Bilder der Quaal, warum entsteht ihr! – Giftiger Hauch der Eifersucht und des Neides, warum tödtest du jede edle, reine Freude um mich her! ödos Verlangen! du vernichtest [94] jeden Keim der Zufriedenheit über Gutes, so mich umgiebt – und dessen Genuß in meiner Gewalt ist. – Ich will versuchen, edel zu lieben, wie der arme, trostlose Carl that Ein Blumenstrauß, gegen den Charlottens Herz, einige Stunden geklopft hatte, war alles, alles für ihn! Ich habe Kinder von Pindorf, die er oft an seine väterliche Brust gedruckt, in meine Arme geschlossen; ich bin ihnen lieb, sie sind ein Theil seines Wesens. Unverfälscht, unverstellt waren die Liebkosungen, die sie mir machten. – Was soll mir das getheilte, das zerstückte Herz des Vaters? – Nein, ich will nichts mehr von ihm. – Sey glücklich! – Sey es! – Aber ich will von nun an unabhängig von dir seyn! – Ich höre Sie sagen: ›Wie lange‹? – Kommen Sie und hören nun den Rest der Geschichte meiner Lieblinge. ––

Frau Wolling kam zurück, und sah sehr innig mich an. – ›Sind Sie mit meinem Carl zufrieden?‹ ––

›Ja meine Charlotte – und mit Ihnen auch.‹ – –

›Sagen Sie, entschuldigen Sie mein Herz, daß ich der Zärtlichkeit des seinigen nicht widerderstehen[95] konnte? und mir nach Durchlesung seines Papieres sagte: Nein, du Edler, nein, niemals sollst du mich mit einem andern Mann verbunden sehen!‹ ––

ch wollte ledig bleiben und auf, ich weiß nicht was, warten, aber nicht weiter in den Ausdrücken meiner Zärtlichkeit gehen, als bisher. Drey Wochen dauerte dieß Bündniß mit mir selbst und Carln, dem ich nur für sein Papier dankte und ihn meiner wahren, ewigen Hochachtung versicherte. – Ich begegnete aber deswegen dem Herrn von Thalbruk sehr kaltsinnig, als er zu uns kam; und da dieser Mensch niemals eine wahre Liebe zu mir getragen, sondern mich nur wegen des Ansehens meines Vaters gesucht hatte: so wurde er durch meine Abneigung nicht betrübt, sandern erboßt, schlug sich auf die Seite der Feinde meines Vaters, und blieb also weg. – Mein Bruder ging in die Stadt, besuchte ihn, und fragte warum er so lange nicht bey uns gewesen sey? – Da sprach er von dem Widerwillen, den er bey mir gegen sich bemerkt hätte, – und daß er glaube, mein Herz sey von sonst jemand eingenommen; stellte sich sehr traurig darüber[96] – und sagte, er hätte sich blos aus Verzweiflung, und ob ich nicht vielleicht eifersüchtig würde, an die Mademoiselle Nidern gewandt. – Dies war die Tochter des ärgsten Feindes von meinem Vater – und der, als Wittwer, gerade zu dieser Zeit um die Schwester der Maitresse des Fürsten freyte, und dadurch eine Unterstützung fand, die meinem Vater den Untergang zuzog. –– Meinem Bruder wurden nur kleine Winke davon gegeben. Er kam damit nach Hause. Diese Unruhe in dem Gemüthe meines Vaters und die irrige Vermuthung, daß, wenn ich Thalbruken geliebt hätte, dies alles nicht geschehen wäre, erregte seinen Zorn auf die heftigste Art; – und ach! fuhr sie mit Thränen fort, dies war der Anfang meines Elends. Man wußte von keinem Umgange, den ich mit irgend einem Menschen hätte. Sie dachten also, es müßte eine Verwicklung seyn, die in Briefen geführt würde und nahmen sich vor, mein Zimmer durchzusuchen. – Es war ein Feyertag, wo wir viele Besuche gehabt hatten. Als sie weg waren, sagte mein Vater ganz freundlich: Lottchen, kleide dich in dein Nachtzeug; du mußt von [97] Putz und Complimenten ganz müde seyn; und komm in das große Gartenhaus zu mir. –

Ich that es, und kam ganz leicht gekleidet, hatte aber meine Säcke mit den Papieren des armen Carls, in meinem Bette versteckt; ob ich schon weit entfernt war, zu denken, daß man mir deswegen geheisen hatte mich um zu kleiden, um sich meiner Schubsäcke zu bemächtigen. Während ich bey meinem Vater war, wühlte mein Bruder alles um und fand endlich die verschiedene Papiere von Carln. Damit lief er voll Wuth in das Gartenbaus, und sagte, hier habe er die Beweise meiner Niederträchtigkeit, daß ich mich an den elenden Gärtnerpurschen gebängt und deswegen die große Heyrath mit Thalbruken, ausgeschlagen, und meinem Vater eine Feindschaft zugezogen hätte. – Ich erschrak zum Tode, diese Papiere in seinen Händen zu sehen und wollte weg eilen. Aber mein Vater faßte mich bey einer Hand und hielt mich, während er mit der andern nach dem Packerchen reichte und einige Blätter mit Wuth durchlas, mir und Carln die häßlichsten Schimpfnahmen gab und endlich meinem Bruder befahl ihn herzurufen. – [98] Ach Gott! er kam freudig und schnell seinem Leiden entgegen. Denn kaum war er im Saal als mein Bruder die Thür abschloß und er ausgefragt wurde. Da erzehlte er wieder, was er mir geschrieben, wurde aber als Lügner und Verführer behandelt; Und o, mein Gott! ich mußte ihn schlagen sehen! Ich sprang auf, um meinen Bruder in die Arme zu fallen, gegen den Carl sich auch wehrte. Aber mein Vater riß mich zurück und hielt mich fest, während er meinem Bruder zum Streit und Schlägen gegen den Bösewicht ermunterte. Endlich ließ er aus Zorn mich los und eilte auch, Carln nieder zu werfen, der seinem Sohn zu stark war. Ich schrie da jämmerlich: ›O, Carl! o, mein Vater!‹ – Carl sagte zu mir: ›Charlotte, gegen Ihren Vater will ich keine Hand aufheben; aber ihren Bruder verschone ich nicht.‹

Da fielen sie mit doppelter Raserey ihn an, und würden ihn erwürgt haben, wenn ich nicht meine Freyheit gebraucht hätte, die Thür gegen das Feld zu aufzumachen und Carln zu zurufen, er möchte fliehen. In der That suchte er nach der Thür zu kommen, und als er sie erreicht, hatte mein Vater die [99] Grausamkeit, einen Stuhl nach ihm zu werfen der ihn die vier Stufen hinunter schlug. Ich weiß nicht, in welchem Augenblick ich meine lieben Papiere bey all dem Lärmen, der mein Herz zerriß, in meinen Busen gesteckt hatte. Aber den Augenblick, da ich Carln die Stufen hinab fallen sah, rief ich: O, Barbaren! ihr habt ihn umgebracht! – Earl! vergieb deiner armen Charlotte, – indem ich der Thüre zulief. ––

›So! schrie mein Vater mit Wuth; bist du seine Charlotte: so geh zu ihm und zum T–.‹ Bey diesen Worten schleuderte er mich auch mit einem Arm der offenen Thür zu. Ich erhielt mich am Geländer, und er schnapte das Schloß ab. – Alle Empfindung für Vater und Bruder war in mir todt. Ich eilte Carln zu, der ganz betäubt auf der Erde saß. Ich kniete zu ihm fiel um seinen Hals: ›O, du Edler, kannst du mir verzeihen, was ich dich leiden mache?‹ – Er fuhr wild auf und fragte: ›Ach Gott! Charlotte, wo kommen Sie her?‹ – ›Mein Vater hat mich verstossen! Komm, Carl, wir wollen von dem Barbar fliehen.‹ ––

[100] ›Gott bewahre mich! nimmer werd ich es thun. Gehen Sie zurück in Ihr Zimmer. Ihr Vater versöhnt sich mit Ihnen. Lassen Sie mich allein elend seyn.‹

Ich hatte viel Mühe, ihn zu bewegen, daß er mich nach Immenberg zum Pfarrer führte, wo ich bis zur Zurückkunft meiner Mutter bleiben wollte. Es war eine Stunde von dem Gut meines Vaters. Carl hatte Mühe zu gehen und mein Kummer lähmte auch meine Füsse, so daß wir einem heftigen Platzregen und Gewitter nicht ausweichen konnten und über zwey Stunden zu dem Wege brauchten. Endlich kam ich naß und starr im Pfarrhof an, wo ich mich gleich legte und einige Wochen krank bis zum Sterben war.«

[101]
69. Brief
Neun und sechzigster Brief
Madame Guden an Rosalien.

Frau Wolling fuhr fort, mir mit vielen Thränen das Uebrige ihres Schicksals zu erzählen. Sie bekam ein starkes Fieber welches durch ihre Gemüthsunruhe sehr verschlimmert wurde. Wolling hatte, nachdem sie von der Frau Pfarrerinn aufgenommen und besorgt war, allein mit dem Pfarrer gesprochen, ihm alles aufrichtig erzählt und damit geendigt, daß er ihn bitte, ihre Aussöhnung mit ihrem Vater zu bewürken. Er für sich wolle von dem morgenden Tag an sich entfernen und Charlotten die Probe seiner Verehrung und Liebe geben, auf ewig von ihr entfernt zu bleiben; man möchte nur für ihre Gesundheit Sorge tragen, daß Sie bald wieder in das vaterliche Haus zurück käme. Und damit niemand etwas von dem unglücklichen Vorgang erführe so sollte der Pfarrer doch gleich Morgen zu meinem Vater, und ihm das alles sagen. – Er that es auch; aber er fand einen [102] wüthenden Mann, dessen beleidigter Stolz nichts anhörte, nichts ansah; der schon den Abend vorher gegen alles Hausgesind über seine schlechte entlaufene Tochter geflucht hatte. – Der Bruder half auch dazu – und weder Flehen noch Vorstellung des Pfarrers wurde angehört. – Dieser kam trostlos nach seinem Hause zurück. – Wolling war fort. Der Pfarrer schrieb an die Mutter der armen Charlotte, was er von der Sache wußte und beschwur sie, nach Haus zu eilen, um den Ruf und das Leben ihrer Tochter zu retten.

»Ach, sie reiste gleich, die gute Mutter,« sagte Frau Wolling mit Händeringen, und einem Strom von Thränen. – »Aber was half es! – Mein Vater blieb unerbittlich!« – Der Pfarrer rieth ihr, Muth zu fassen und ihre Liebe, ihre Empfindlichkeit, alles ihrer kindlichen Pflicht aufzuopfern und ihre Kräfte zu sammlen, um ihren Vater selbst zu Füssen zu fallen. Er wollte sie hinführen und gemeinschaftlich mit ihrer Mutter um Aussöhnung und Güte bitten. Sie befolgte alles, wurde aber wieder aus dem nehmlichen Gartenzimmer verstossen, wie acht Tage vorher; ungeachtet ihre Mutter neben ihr auf den Knien lag und [103] Gnade erflehen wolte. Die Verzweiflung hatte ihr Kraft gegeben, wieder nach dem Pfarrhof zurück zu kommen. »Aber da öffnete sich der Abgrund meines Elends,« sagte sie. »Ich, von meinem Vater selbst ausgerufen, daß ich mit einem Gärtnergesellen davon gelaufen sey. Alle, alle meine verlebten Tage hin! Meine Liebe zur Tugend, meine Bemühung, sie immer auszuüben, alles dahin! – Das Zeugniß meines Gewissens tröstete mich da nicht; es vergrößerte meinen Jammer. Mein Leben – ja Carl selbst war mir verhaßt. – Ich freute mich über meine Krankheit, über meine Schmerzen. Ich litte Durst, um die Hitze zu vermehren, die in mir tobte und ich war bald am Rande des Grabes. Meine arme Mutter durfte nicht zu mir, mir nicht schreiben. – O, wie elend war ich! Mein Vater glaubte endlich der Magd des Meßners, daß ich am Tode sey und schickte meine Mutter und meinen Bruder zu mir. Aber warum? – O Gott! wie sehr sann er auf mein Unglück! Mein armer Mann hielt sich im benachbarten Dorf auf, aber versteckt; niemand im Pfarrhause wußte es. Er wollte nur meine Genesung und meine Aussöhnung [104] wissen und dann weggehen, allein zu leiden. Mein Bruder hatte ihn ausfündig gemacht und verhetzte meinen Vater darüber gegen mich Unglückliche, als ob ich und Carl noch einverstanden wären. Gott weiß, was er ihm für Beweggründe angab, eine falsche Milde zu zeigen. Man schickte Carln alle seine Sachen zu, und auch meine Kleider ins Pfarrhaus. – Meine Mutter kam mit der Hofnung der väterlichen Verzeihung und mit all ihrer Zärtlichkeit an mein Bett, das ich als mein Sterbbett ansah. Mein Bruder, der harte Mensch, kam auch, und eröfnete mir den Willen meines Vaters, daß ich mich mit Carln sollte trauen lassen es möge zum Leben oder zum Tode mit mir geben. Wäre das erstere, so solle er gleich zu seinem Vater, und durch den sein Glück versuchen; – wäre ich todt, so käm ich doch als ehrliche Frau unter die Erde und schimpfte seinen Namen nicht mehr, unter dem er mit nicht lebend und nicht todt wissen wollte. – Ich weigerte mich, so viel ich vor Schwachheit konnte. Der Zweifel in meine Ehre brach mir das Herz. Meine Mutter zerfloß in Thränen und sie und der Pfarrer [105] redten mir zu, weil sie dachten, es wäre der erste Grad der Erweichung meines Vaters, weil er auch den Trauschein aufgesetzt hatte, worinn er Carln einen Titel gab – und forderte, wenn ich stürbe, sollte ich mit diesem Titel, ins Todtenregister geschrieben werden. –– Mein Bruder ging zu Carln versicherte diesen der Versöhnung, aber daß mein Vater meine Ehre durch die Trauung hergestellt haben wollte. Meinen Tod glaubte er sicher, und sagte Carln, ich wünschte selbst, diesen Trost mit mir zu nehmen, meinem Vater noch zu gehorchen; – und was er noch alles vorbrachte um ihn zu bethören. Er kam Abends um neun Uhr mit ihm, recht gut angekleidet in das Zimmer, wo ich im ärgsten Leiden lag und unvermögend war, zu reden und zu denken. Carl warf sich auf seine Knie vor meiner Mutter, konnte auch nichts sagen, als Gott zum Zeugen anrufen, daß sein Herz unschuldig sey und er sein Leben tausendfach hingeben wollte, um ihren und meinen Jammer zu stillen. – Mein Bruder beschleunigte die Trauung. – Mein Carl und ich waren beyde mehr todt, als lebendig. Ich mußte beynah [106] von nichts und erkannte ihn kaum. – Als die Trauung vorbey und in das Kirchenbuch eingeschrieben war, führte mein Bruder den Pfarrer, meine Matter und Carln meinem Vater zu, um diesen nun völlig zu besänftigen. Aber der Pfarrer und meine Mutter wurden betrogen. Sie sahen meinen armen Carl nicht mehr, mit dem mein Bruder in einer Kalesche vorausfuhr.« –

»Ich kam langsam vom Grabe zurück, war schwach an Geist und Leibe. Mein Kostgeld wurde bezahlt. Man nennte mich Madame Carln. – Anfangs staunte ich darüber – und dann, als ich es ganz wußte, fehlte wenig, so wäre ich über die Gewißheit des Todes gewesen. – Ich wußte und hörte nichts von meinem Manne. – Mein Vater wollte mich nicht sehen; meine Mutter durfte nicht, meine verheyratheten Schwestern und mein Bruder wollten es nicht. Ach! meine blühenden, unverdorbnen Jugendkräfte dienten mir nur, mein unabsehliches Unglück in allen Theilen zu fühlen. Ich blieb leben! – ich lebe noch!« ––

O! Rosalia! mit was für einem Ton, mit was für einem Ausdruck von Schmerz der [107] Seele sagte sie dieses! – Gott müsse mich elend machen, wenn ich nicht die Gelegenheit treu und edel gebrauche, Balsam in diese verwundete Seele zu giessen. Er führte mich her, er gab mir dies fühlende Herz, – er gab mir Glücksgüter. – O, er wird, – er wird mein Vorhaben segnen! ––

Ich faßte sie in meine Arme – druckte sie an mein Herz: »Charlotte! sehen Sie den weiten, offnen Himmel über uns; –– so offen, so rein ist mein Herz vor Gott, der uns beyde sieht. Er wird uns segnen, mein Kind. Er wird mein Vermögen heiligen durch den Gebrauch, den ich davon machen werde. Das Maaß Ihres Leidens war voll. – Er wird das Maaß Ihres Trostes auch überfliessen lassen. Er ließ zu, daß Menschen Sie quälten. Er führte mich her, um mein Glück, meine Freude in ihrem Wohl zu finden. Ich bin frey, unabhängig; ich will bey Ihnen als Schwester, Mutter und treue Freundinn leben und sterben. – Nichts, – nichts soll mich abwendig machen.« ––

Sie sank zurück! – »Gott! ewiger Gott!« – war, was sie stammlen konnte. – Ich benetzte [108] sie mit Thränen und hielt sie an mich. Lange waren wir still. Dann küßte sie mich: »Engel, – Mutter!« – sah mich an, – faltete ihre Hände. – »Vater, Bruder, stiessen mich hieher; und Sie Fremde fassen mich in ihre Arme! – O, wenn ich nach diesem Augenblick sie verlieren sollte, das überlebte ich nicht!« – – Hier erhob sie ihre Hände und betete leise; aber ihre Mine, das Anspannen ihrer Arme ängstigte mich, bis sie wieder weinte. – Dann war ich ruhig. Ich wollte sie nicht weiter erzählen lassen; aber ich bemerkte daß ihr daran lag, mir das ganze Gemählde ihres erlittenen Elends darzustellen und hörte ihr vollends zu. ––

Ihr Vater war eilends mit ihrem Bruder nach der Stadt gegangen, da schickte ihre Mutter ihr Weißzeug, Betten, Kleidungsstücke und eine Küste Hausgeräth an Zinn, Kupfer, sechs silberne Löffel und zwey Ringe die hundert Gulden werth seyn mochten. – Das war alles, was noch vor dem Schiffbruch meines Vaters für mich erhalten wurde. Er bekam eine Untersuchung; es fehlte was in den Kabinetsrechnungen. Sein Stolz hatte ihm Feinde zugezogen. Er war redlich, [109] pochte darauf und gab trotzige Antworten. Man begegnete ihm hart und verächtlich. – Zornmüthig, wie er war, konnte er das nicht ertragen. Sein Blut, seine Galle schäumten und kochten auf einmal so, daß er nicht zu retten war und schnell starb. – Nun konnte Niemand in seiner Familie Auskunft geben. Sein Guth und alles kostbare Hausgeräth verfiel der fürstlichen Kammer. Mein Bruder blieb bey seiner Secretairstelle, und meine Mutter bekam einen Gehalt. – Aber wie mir war, können Sie denken! – Sie zog zu einer meiner Schwestern, die nicht weit von hier wohnte. Den ganzen Winter sah ich sie nicht und wußte nichts von meinem Mann. Im März zog ich auf ein Dorf, das mich meiner Mutter näherte, wo sie manchmal hinging, mich zu sehen. Mein Schwager ist von Adel, der hätte mich niemals zu sich gelassen. Meine Schwester hatte Mühe, ihn leutselig gegen meine Mutter zu erhalten. – Es kam ein schöner Apriltag. Meine Mutter war bey mir gewesen; ich begleitete sie zurück. Ihre Magd ging immer eine Strecke voraus, daß wir allein reden konnten. Sie mußte, ohrweit [110] eines Wäldchens, einen umzäunten Acker vorbey. Wir sahen einen Menschen aus dem Wäldchen kommen, still stehen, gegen uns schauen, stark zulaufen, und wieder inne halten; – endlich die Hände zusammenschlagen, auf seine Knie fallen und was rufen, so wir nicht verstanden. Sein ganzes Ansehen und Bezeigen rührte uns. Wir blieben auch stehen. – ›Charlotte! sagte meine Mutter, er bettelt. Vielleicht ist er schon weit gegangen und matt. Komm, wir wollen ihm was geben, wenn es schon nicht viel ist. Mein Gott, ich kann nicht mehr viel geben.‹

Wir gingen an der Hecke hin gegen ihn. O, denken Sie, wie uns wurde, als wir ihn die Arme ausstrecken sahen, und Carln erkannten, ihn ›Charlotte! Mutter meiner Charlotte!‹ rufen hörten. Ach, wir erschraken so, daß wir vor Zittern nicht gehen konnten. Aber er sank um. Ich fühlte da nichts, als alle meine Liebe und lief zu ihm. Es war Carl. Aber, wie elend! ewiger Gott, wie elend! Er erholte sich an meine Brust gelehnt; denn ich hatte nichts, ihn zu laben, als meine Thränen, die über ihn [111] flossen. Denn wo hätten meine Mutter und ich, in unserer Armuth und Erniedrigung die wohlriechenden Wasserfläschgen hergenommen? Meine Mutter kam zu uns – und weinte auch. Was konnten wir anders! – Es wurde dunkel; meine Mutter mußte zurück. Carl sagte uns nur kurz, daß er gleich nach der Trauung, anstatt zu meinem Vater begleitet zu werden, Werbern übergeben, gebunden und geknebelt weggeführt und als ein Missethäter behandelt worden; – daß er lange krank gewesen, bald auf Karren weggeführt, bald, so viel er konnte, mitmarschirt wäre; sich endlich erholt und nur an mich gedacht hätte, weil er nach der Grausamkeit, die man an ihm ausgeübt, immer die Angst im Herzen getragen, was doch aus mir geworden seyn möge, wenn ich beym Leben geblieben und in die Gewalt meines Vaters gekommen sey. ––

Meine Mutter hörte das Rufen ihrer Magd und befahl mir nach Haus zu gehen. Carl bat um Erlaubniß, mich ein Stück Wegs zu begleiten: Sie ging auch noch eine Weile mit, bis an den lezten Garten des Dorfs, wo Sie uns verließ, aus Furcht, [112] er oder sie möchten verrathen werden. Sie rief Gott um seinen Schutz für uns an, und ging mit Jammer weg, nachdem Sie mich schluchzend geküßt und an sich gedruckt hatte.

Stumm sahen wir ihr nach, und Carl hielt meine Hand stark; oft zuckte sie, am stärksten aber, da meine Mutter um die Ecke der Hecke weg war, und wir uns in der ganzen Gegend allein fanden. Keine Seele, kein Vogel, kein Blätchen bewegte sich. Wir sprachen nichts und ich sah zur Erde. – Mein Mann faßte meine beyden Hände, blickte mich starr an und sagte: ›Sehen Sie, Charlotte! sehen Sie, was Menschen thun, mit denen wir nur in einiger Verwandtschaft sind. Ihre Mutter, das einzige Wesen, so uns liebt und bedauert, – die darf nicht bey uns bleiben; – darf uns nicht trösten, nicht schützen!‹ ––

Er sprach dies heftig, ließ meine Hände gehen, rang die seinigen mit stillem Schmerz. Ich zerfloß in Thränen, wußte aber nicht, was ich thun, was ich sagen wollte. Aber ich war gern bey Carln, das fühlte ich. – Der Mond kam hinter dem Berg hervor und beleuchtete meine ganze Gestalt. Mein [113] Mann betrachtete mich still, wandte sich gegen den Mond und rief aus: ›O, – du!‹ – sah wieder auf mich, weinte nachdem schweigend; faßte sich, nahm sanft eine meiner Hände in seine, druckte sie gegen sein Herzküßte sie, weinte wieder etwas, aber dann sagte er:

›Charlotte! ach lassen Sie mich Sie, diesen Augenblick nur, meine Charlotte nennen. Meine Charlotte! ich bin froh, daß ich hier von allen Menschen nur Sie sehe – und nicht einmal ein Haus, das mir Wohnung und Leben andrer Menschen anzeigt. Sie sind mir verhaßt, ich will auch bey keinem mehr leben, ich will nicht! Sagen Sie mir, Sie, hier auf diesem Platz, wo nichts als der Himmel über uns, und die liebe wohlthätige Erde hier uns sieht und Zeuge von uns ist, – sagen Sie mir Charlotte! was wollen Sie, das ich thun soll? – Ich bete Sie an. Sie liebten mich. – Aber ich will meine Liebe, die ihrige und unsere Trauung, nichts, nichts für mich anführen. Ich kann Ihnen kein Glück anbieten, als die Gärtnerarbeit meiner Arme. Ich danke Gott, daß Sie leben. Haben Sie zu leben?[114] Wollen Sie ohne mich leben? – Ach thun Sie es. – Segnen Sie mich hier unter diesem Himmel! Weinen Sie eine Thräne über mich; drucken Sie meine Hand – und heissen mich gehen. –– Ich kann, o Gott! ich kann Sie nicht öfter sehen, und mit meiner und Ihrer Liebe sehen, ohne tausendfache Wünsche und Schmerzen zu fühlen. – Aber alles, alles opfre ich ihnen! – Ich war glücklich; ich bins den Augenblick – ich sehe Sie! – Ach, vergeben Sie mir alles, was ich Sie leiden machte;‹ sagte er, da er sich zu meinen Füssen nieder warf und mir die Füße küßte, ›vergeben Sie mir meine Liebe. Hassen Sie mich nicht, – beten Sie für mich – und – Ach, Charlotte! – ach Gott! Charlotte!‹ ––

Ich konnte nichts als schluchzen. Endlich sagte ich ihm, er solle doch Morgen wiederkommen da wollte ich ihm die Wünsche meines Herzens sagen. –– ›Wann soll ich kommen?‹ – Erst Abends. – ›Ach da kann ich vielleicht nicht.‹ – Warum nicht? Ich will gewiß da seyn. – ›Ach! wenn Wasser meine Kräfte erhalten kann, wie heute, so will ich auch da seyn. Denn, Charlotte, ich habe den ganzen Tag nichts gegessen. [115] Ich war matt, als ich Sie kommen sah und wollte Sie um Almosen bitten, – als ich Sie erkannte und für Staunen und Freude umsank.‹ ––

O, wie rührte mich dieser neue Umstand! der Arme Liebe! – Ich wollte in mein Dorf und ihm den Abend noch was bringen. Er wollte es nicht und bat mich, nur des Morgens früh zu kommen und etwas Milch und Brodt zu bringen. – Mein Gott, Carl, wo will Er bleiben? – ›Dort,‹ wies er auf ein halb zerfallnes Kapellchen, so auf der Höhe lag. – ›Da kann Ihm ja Unglück geschehen!‹ – Von wem, Charlotte? Hier sind keine wilde Thiere. ––

›Aber es können Räuber kommen.‹ – – ›Räuber! O, was thun die?‹ – sagte er mit bitterm Lächeln; – ›sie nehmen Kleider und das Leben; was ist das gegen dies, was unsere Väter uns nahmen!‹

›O, Was für eine grausame Vergleichung!‹ – ›Grausam, Charlotte! Sehen Sie sich, sehen Sie mich an! – Aber sie sind todt. Mögen sie eine bessere Ewigkeit haben, als das Leben, das sie uns bereiteten.‹ Ich sagte ihm, daß ich diese Nacht [116] die ärgste Quaal leiden würde, über seinen Gemüthszustand – und das Capellchen. –

›Fürchten Sie nichts; ich werde nicht viel schlafen, sondern nach dem Ort sehen, wo Sie wohnen. Einsamkeit fürchte ich nicht. Ich bin seit acht Tagen in einem verfallenen Schlosse, mitten in einer Einöde – und ein Soldat hat Herz.‹ – – Dies beruhigte mich nicht; ich jammerte fort. Da sagte er sanft: ›Seyn Sie ruhig, Charlotte! Gott ist mein Trost und mein Schutz; auf den hoffe ich. Gehn Sie in seinem Namen zurück – und Morgen, ach, Morgen erquicken Sie mich bald.‹ ––

Ich versprach es ihm herzlich; konnte aber beym Abschiednehmen mich nicht zurück halten, mich an seine Brust zu beugen und laut zu weinen. Er umfaßte mich zärtlich. – ›Charlotte! Sie an meiner Brust! – Sie, mit diesem Vertrauen in meinen Armen! – Gott, der uns sieht! Engels Seele, ach alles, alles will ich nun leiden.‹ ––

Er küßte die Ermel seines Kleides, die mich berührt hatten und meine Hände, und trat zurück: ›Nichts mehr, nichts! Gehn Sie heim, gehen Sie; ich bin selig.‹ – Er [117] führte mich noch ein wenig auf meinen Weg, und sah mir nach, bis ich am Ende der Strasse war. Ach, ich schlief nicht viel; ich zog mich nicht aus. Sein Hunger und seine Einsamkeit, und er, und seine Liebe waren vor mir. – Um vier Uhr Morgens hatte ich schon einen Topf mit Milch und Brodt dabey unter meinem Regentuche. Ich eilte hinaus zu der Kapelle und fand ihn schlafend, den Kopf auf der zerbrochnen Stuffe des Altars. Ich betete hier mein Morgengebet mit vielen Thränen, setzte mich auf die Erde, nahm eine seiner Hände, die ganz kalt war. Er mußte die Wärme und das halbe Zittern meiner Hand gefühlt haben, denn er wachte auf. – ›Carl, armer Carl!‹ sagte ich. – ›O, Gott sind Sie schon da, rief er: edle, edle Güte!‹ – Er trank einige Tropfen, dann mehr, tauchte Brosamen ein, labte sich und segnete mich. Dann redten wir ab daß er in einigen Tagen wieder kommen sollte. Bis dorthin wollten wir uns entschliessen, was wir thun könnten; und er nahm die übrige Milch und das Brod mit sich. ––

[118]
70. Brief
Siebzigster Brief
Madame Guden an Rosalien.

Ich war hier begierig gemacht, das Uebrige von der Wollinge traurigen Geschichte vollends zu hören. Die gute Charlotte hatte Mühe, das Weitere in aller Ordnung zu sagen, weil sie noch immer bey allem zu sehr weint und durchdrungen ist. Sie können aus dem Mahlen einer jeden Scene schliessen, wie sehr deutlich die Bilder der Quaal noch in ihrer Seele liegen. Denken Sie sich selbst dieses alte Kapellchen und die zwey treue Liebende darinnen; den Milchtopf, der den Armen nur Tropfenweis erquickte –– und dann den Abschied und das Hinknien neben einander und das Hinblicken auf den Platz der zum Altar geweiht war, und die gebrochne Reden und das Seufzen Carls, als er seine beiden Hände an den Ueberrest dieses Altars legte, seinen Kopf darauf lehnte und dann hier noch einmal seiner Charlotte und allen Wünschen seiner Liebe entsagte, wenn [119] sie, nur sie, glücklich – und ruhig würde. – Sie, mit stillem Weinen da auf der Erde sitzend; ihr Herz an ihm hangend, nach ihm sehnend – und allein durch die grausame Noth des Nichts haben, des Nichts hoffen, zurück gescheucht, noch nicht sagen zu können: ich will mit dir in einer Hütte leben! – O Rosalia!

Er ging weg. Sie bat ihn, ja wieder zu kommen, fürchtete er möchte es nicht thun, besonders da er ihr seinen Aufenthalt nicht nannte. ––

Ach! sagte sie, ich glaubte mehr an meine Liebe, als an seine. – Meine Mutter kam schon um halb sieben zu mir, betrachtete mich ängstlich, riß mich an sich – und benetzte mich mit Thränen. –– »Lotte! O Gott, meine Lotte! was hatte ich für eine elende Nacht, voll Vorwürfe, daß ich dich verließ. – Tröste mich, söhne mich mit mir selbst aus. – Sage mir alles, alles, wie es vor Gottes Augen ist. –– Was habt ihr geredt? wo ist Carl? Wann gingst du heim?« ––

Treulich, wie Ihnen, sagte ich ihr alles. Sie dankte Gott innig für den Schutz, den er mir gegeben. ––

[120] Rosalia! haben Sie es nicht der Mutter etwas übel genommen, daß sie wegging? Ich that es auch. Aber denken Sie, wie sehr die arme Frau immer niedergedruckt war; sich erst beständig vor ihrem wilden Mann fürchten mußte, dann arm wurde und von der Gnade eines Tochtermannes und einem kleinen Gehalt lebte. Sie war nicht von den Leuten deren Muth gestählt werden kann, sondern die ihn völlig verlieren. Selbsterhaltung, Sorge, die Magd möchte sie verrathen, die arme Lotte verrathen – und Carl in Gefahr kommen; ach, wie viel stürmte da auf die wenige Kräfte dieser Frau! Sie fühlte, daß sie nicht weg sollte; deswegen rufte sie Gott um Schutz an, schlief nicht und war des Morgens so ängstlich. Ach richten Sie nicht!

Charlotte fuhr fort. –– ihre Mutter forderte, daß sie Carln nicht mehr sehen und ihm nur schreiben sollte. Diesen Brief wollte die Mutter ihm geben –– und ihm dabey ermahnen, daß er sein Glück erst suchen und nur dann und wann Nachricht von sich geben möchte. Bey diesem Vorschlag ihrer Mutter empörte sich ihr Herz –– und fühlte nichts, [121] als seine Liebe. Sie schlug da die Hände zusammen: – »Der Himmel vergebe mir, wie er mich strafte! – Ich nahm mir vor, meine Mutter zu betriegen und ihr einen Tag später anzugeben, wo Carl wieder käme. Ich wollte ihn nur einmal noch sehen, nur einmal! Es war mir mit diesem Vorsatz Ernst. Ich schrieb den nehmlichen Morgen den Brief den meine Mutter haben wollte. Sie nahm ihn mit, denn sie konnte nicht alle Tage zu mir kommen, sondern nur an denen, wo mein Schwager in die Stadt zum Rath fahren mußte. Sie wollte dann, nach der Unterredung mit Carln zu mir kommen und mich trösten; denn ich weinte schon sehr, da sie noch mit mir davon sprach. Es waren gewiß, glauben Sie mir,« sagte sie gegen mich, bittend, es waren gewiß schon Zähren der Reue darunter, daß ich sie betriegen wollte. Aber meine Liebe war stärker, als diese Reue, und meine lange Buße auch. – Ich sprach meinen Mann den zweyten Tag Morgens bey der Kapelle, da ich ihm nochmals etwas Milch und Brodt mit Butter brachte und ihm unter einer Fluth von Thränen, den Willen meiner Mutter ankündigte; [122] daß ich ihn aber noch einmal hätte sehen und meiner treuen ewigen Liebe versichern wollen. – Er solle sich um einen Platz bewerben, und mir fleißig Nachricht von sich geben, an mich und an das Kapellchen denken, wo seine arme Charlotte alle Tage hingehen würde, für ihn zu beten. – Er ließ mich reden, hielt meine Hände, so wie er neben mir saß, in den Seinigen, die er auf seine Knie stützte und sein Gesicht in meinen Händen verbarg, keine Thräne, keinen Laut von sich gab. Ich hatte vier Bettücher von guter Leinwand und die sechs silberne Löffel mit mir gebracht; die sollte er zu Hemden und zu Gelde machen, um sich was anzuschaffen. Ich gab ihm auch dabey, was ich an Gelde hatte; es mochten drey Gulden seyn. –– Immer redte er noch nicht. Ich schwieg auch, hielt es aber nicht aus, sondern küßte ihn auf die Stirne. – Er fuhr auf. –

»O Charlotte, Charlotte!« – und blickte mich unaussprechlich an, faßte meine Hände nochmals, legte noch sein Gesicht darauf; aber ich fühlte mit Angst, wie es immer glühender wurde. – »Lieber, lieber Carl!« – sagte ich leise mit beklemmten Herzen. – [123] Da richtete er sich ziemlich sanft auf, faltete seine Hände: – »Ja, Charlotte! – ja, Alles, Alles will ich thun, Sie, Ihre Mutter zu beruhigen!« –– Betrachtete mich wieder ganz; – ich saß noch – er stand vor mir. Sein Gesicht zog sich ein wenig, während er einige Augenblicke schwieg, dann seine Augen mit seinen Händen, aber nur einen Augenblick, zuhielt und mit einer heftigen Wendung aus dem Kapellchen heraus trat, seinen Kopf mit etwas Trotz erhob und mit dem Arm zugleich eine gewaltige Bewegung machte. – »Ja, Schicksal! – Ja, Menschen! – Ich will Alles thun, Alles leiden!« ––

»O, Madame!« – sagte sie und fiel an mich, – was hatte er da für eine Stimme, für eine Stellung, welch fürchterlichen Ausdruck in dem sonst so sanften, so edlen Gesicht! – Ich stand zitternd auf und ging mit ausgestrekten Armen gegen ihn. –– »Carl! mein Carl.« ––

»Ihr Carl, Charlotte!« und halb hob er einen seiner Arme gegen mich, schlug aber gleich mit flammendem Gesicht diesen Arm an seine Brust. – »Hier! – hier, ewig Ihr Carl! – und Sie meine Charlotte!« –

[124] Ich wollte ihn da umarmen, er wies mich mit beyden Händen ab. – »Nein, Charlotte! – nein, –– aus Barmherzigkeit nein!« –– Er bückte sich, nahm schnell seinen elenden Hut, druckte ihn fest an sich, riß mein Schnupftuch mir weg und ging ohne umzusehen, ohne etwas mit sich zu nehmen, weg; so eilend, mit solchen Schritten, daß, wenn ich die Kraft gehabt hätte, zu laufen, ich ihn doch nicht würde eingeholt haben. – Mein Schmerz, meine Verzweiflung sind über allen Ausdruck. Ich trug mit bitterstem Kummer Alles zurück. Ach, wie Eisen schwer wurde es mir, gegen das was ich im Hintragen gefühlt hatte. Ich aß und trank den ganzen Tag nicht. Ich schrieb meiner Mutter und schickte ihr das Geld, so ich ihm hatte geben wollen. Ich härmte mich die ganze Nacht elendig ab und schlief zum Unglück ein, denn ich wollte, samt meiner Mutter, ihn noch einmal sehen. Aber ich erwachte erst, als sie von ihm zu mir kam, und an meinem Bett schluchzte. – Er war gekommen ganz ruhig, ganz nachdenkend; hatte wenig geredt, meinen Brief gelesen, geküßt, meine Mutter gesegnet, – mich! – nur einen Gulden von achten genommen, [125] die meine Mutter ihm geben wollte, und war bald, aber fast wankend von ihr gegangen. Sie sah ihm nach, – als er auf einmal umkehrte und zu ihr sagte: »Lieben Sie, trösten Sie meine Charlotte! – Sie ist doch meine Charlotte, meine mir angetraute Frau!« – Er faßte die Hand meiner Mutter: – »Diese Hand selbst, diese Mutterband, hat sie mir gegeben, vor Gott gegeben! – und nimmt sie wieder, –– auch vor Dir!« – sagte er, mit Aufhebung seines Kopfs zum Himmel.

Meine Mutter erschrak und war unwillig dabey. »Beides war Zwang, war Nacht!« – sagte sie; und dies gewiß mit einem zornigen Wesen. Er trat einige Schritte zurück: –– »Ja, ja, Sie haben Recht, Frau Räthin; Sie haben Recht,« – und fort lief er ganz geschwind. Meine Mutter sah, daß er den elenden Gulden noch von sich warf und dann noch mehr forteilte. Sie war ungeduldig über ihn, jammerte über mich, schmählte auf mein heftiges Weinen und auf meine unbesonnene Liebe die doch der Grund alles Unglücks meiner Familie wäre. – O, was litt ich da wieder! – Ich [126] wurde nicht krank, ob ich schon nichts als Kummer empfand; aber oft, recht oft ging ich zum Kapellchen und weinte und liebte da. Ich muß bekennen, daß ich nichts anders that und dachte. Es freute mich nichts mehr, keine Arbeit, nichts; meine gute Mutter selbst hatte mein Herz verlohren. Fünf bis sechs Wochen waren so hingegangen. Ich hörte kein Wort von meinem Mann. – Es kränkte mich in der Seele, und alle Tage, wenn es nur ein wenig heiter war, ging ich schon mit dem anbrechenden Morgen durch das Gärtchen der Wittbe, bey der ich wohnte, durch einen Feldweg und eine kleine Anhöhe in die Capelle; immer mit der Hofnung, ihn einst da zu finden. Den zweyten Junius, an einem Feyertage, erstaunte ich sehr, auf dem Boden ein schön geflochtenes, weißes Körbchen voll Erdbeeren und Blumen zu finden. Ich erschrak Anfangs, und dachte, daß jemand aus der Gegend da seyn müsse, der vielleicht nur einen Augenblick auf die Seite gegangen sey. Ich wartete lang an dem Eingange, blickte aber von Zeit zu Zeit auf das Körbchen. Dann bemerkte ich auch, daß um die alten Steine herum Blumen gestreut [127] waren. Ach, da fiel mir Carl ein – und seine Blumen-Gedanken bey den Hochzeiten meiner Schwestern. Mein Herz klopfte; ich näherte mich dem Körbchen. Mein Name war in Feldblumen gebunden und ein Zettelchen dabey: »Charlotte! wenn Liebe, gütige Liebe Sie so oft herführt; wenn sie mich sehen möchten: so gehn Sie einige Schritte auf der rechten Seite der grossen Eiche hin. Wo nicht, – ach wo nicht: Charlotte, so nehmen Sie doch meinen Segen. Ich bin nicht ganz unglücklich. Ich lebe einsam – und habe Sie oft, oft gesehen. –– Gott lohne Sie für diese Augenblicke.« ––

Zitternd und wankend, wie trunken, ging ich hinaus. – Er war gleich da; war lauter Freude, lauter Glück. – Ich auch. – Er erzählte mir, er habe einen Aufenthalt, habe sich Obstbäume gepflanzt, etliche gepfropft, Gemüs angelegt, habe eine süsse, einsame Hütte in der schönsten Gegend, habe sich auch Gerste angesäet; habe Brennholz genug; – sey dies alles seiner Ehrlichkeit schuldig; hange von Niemand, als seiner Arbeit und redlichem Herzen ab; habe zwey eigne Ziegen. – Ich freute mich über all das innig. Er machte [128] mir auch die ganze Beschreibung so herzlich, daß ich ihm endlich sagte, ich wollte seine Hütte sehen. – »Meine Hütte, Sie! Sie? Ach, sie ist fünf Stunden von hier! Sie kommen in einen Tag nicht hin und her.« – Er stammelte fast, da er dies sagte und sah wehmüthig und zärtlich mich an. – »Ist kein Dorf in der Nähe?« – »Ja.« –– »Nun dort will ich über Nacht seyn.« – Er wurde tiefsinnig und unruhig. – »Charlotte, liebe Charlotte! wollen Sie? – wenn, wenn wollen Sie meine Hütte sehen?« – Er hielt bey diesen Fragen eine meiner Hände an seine Brust. – Ich sagte ihm, daß meine Mutter in acht Tagen mit meiner Schwester in ein Bad reisen würde; da könnte ich abkommen, ohne daß es jemand wüßte. Ich wollte, wenn das Wetter schön wäre, recht früh da seyn; er sollte mich bey der Eiche abholen.

Freude in seinen Augen, – Entzücken, Unruhe, Thränen, küssen meiner Hände, meiner Schürze, der Blumen, die ich in der Hand hatte, essen dieser Blumen, – alles wechselte bey ihm ab. – Dann wurde er still, blickte mich aber so an, daß ich ihn für [129] krank hielt, und fragte was ihm fehlte. – Er sagte mir aber nur: »Charlotte! kommen Sie gewiß? – gewiß?« – »Ja, mein Carl;« – und unwillkührlich legte ich meinen Kopf auf seinen Arm hin. ––

Ach, fuhr sie fort, bey all meinem Elende erinnerte ich mich oft mit Vergnügen der Freude, die er hatte. Er druckte mich einen Augenblick mit einem Arm an sich, stand auf, faßte lebhaft das übrige Stück des Altars, küßte die Stellen, wo ich gesessen, hielt sich wieder am Pfeiler, »heilig, gesegnet bist du mir! – ach, der lezte Stein, das lezte Sandkörnchen von dir wird mir heilig seyn! Möge, sagte er mit gefalteten Händen, mein Glück die Seligkeit des Manns vermehren, der dich erbaute!« –

Ich vergoß süsse Thränen der Freude und auch Thränen der Angst; denn ich glaubte, er käme ausser sich. Er ging nachdem er das wenige Geld von mir angenommen hatte und bat mich, zwey Löffel und eine Serviette mit zu bringen. –– »In acht Tagen schlaf ich hier,« – und legte seine Hand freudig auf die Erde. Und ja, er schlief da. – Aber ich war auch Morgens, um [130] drey Uhr auf dem Wege zur Eiche, mit einem Packen Weißzeug, meinen zwey Ringen und den sechs Löffeln, – welches alles ich Carln lassen wollte. Einige mal hatte ich freylich gedacht, was meine Mutter sagen könnte, wenn sie es wüßte. Ich sagte mir dann, sie sey weit weg; ich käme ja den andern Tag wieder. Und Carl war ja doch mit mir getraut, und so rechtschaffen! –– Ich mußte nun wieder eine Unwahrheit sagen, da ich der Wittbe erzählte, ich gehe auf etliche Tage zu meiner Mutter ins Bad; sie solle indessen meine Sachen wohl besorgen.

Mein Mann verkürzte mir den Weg, weil er mir immer alle Oerter nannte, alle schöne Gegenden zeigte; denn er wußte einen Pfad, der immer auf der Anhöhe fortdauerte und sich endlich im Gebüsch dieses Berges verlohr, den ich aber bald erstiegen hatte; obschon Carl selbst immer langsamer ging, unter einem Arm das Päkchen trug und mit dem andern mich unterstützte. Ich war aufgeschürzt, hatte einen Strohhut auf, und einen Haselstock, den Carl geschnitten hatte. Er führte mich unter dem halben Bogen der Nußstauden, die noch da sind, [131] gegen das alte Schloß, an die Ecke seines Gemüsgärtchens, in den Hof, wo ich die öde Mauer an der Seite der Hütte, mit Laub- und Waldblumen-Gewinden geziert fand. Das Dach der Hütte war ganz mit Tannenreissig bedeckt und Blumen dazwischen gelegt; das kleine Fensterchen mit eingefaßt; eine Mooßbank vor der Hütte. Das Kämmerchen war kleiner, als jetzt – und innen auch mit Grün und Kränzen geziert. – Auf einem Steine waren Kohlen und zwey Töpfe, einer mit Suppe, einer mit etwas Gemüs und Fleisch, das er den Tag vorher gekocht hatte, und nur zu wärmen brauchte. Vier irdene Teller und einige artig geflochtene Körbchen standen auf ein paar andern Steinen, die er von altem Mauerwerk hinein getragen hatte. ––

Ach, wie wurde ich von alle dem gerührt! Vögel hüpften vertraut aus und ein. Er holte seine beyden Ziegen aus ihrem Behälter und ich mußte ihnen mit meiner Hand etwas zu fressen geben – und seinen Vögelchen etwas Gerstenkörner, da ich auf der Bank vor der Hütte saß. – O, wie sah er mich an! wie hielt er meine Hand! was für sanfte [132] Zähren flossen von seinen Augen. Hier so eine Ruhe! – der schöne Tag, diese Gegend! – sie wies mit der Hand umher; – Carl! – – ach, ich blieb; ich vergaß – Mutter, Welt, Alles! Alles! ––

Hier Rosalia, hing sie mit beyden Armen an meinem Hals. – Wie sie weinte, wie ich stumm und bewegt, meine Arme um sie schlug, auch mit weinte und sie an mein Herz druckte, das soll Ihr eignes Herz, nicht meine Feder Ihnen sagen.

[133]
71. Brief
Ein und siebzigster Brief
Madame Guden an Rosalien.

Ich denke, Rosalia, Sie haben Alles mitgefühlt, was ich von der rührenden Geschichte meiner Wollinge mit meiner Feder wiederholen konnte. Es ist unmöglich, daß ich alle die feinen Mischungen mitschreibe, die Charlotte in ihre Erzählung brachte. Sie lag einige Minuten an meinem Hals, eh sie fortreden konnte. Mit niedergesenkten Augen, und eine meiner Hände in den ihrigen gegen ihre Brust hebend, fragte sie mich: »Sagen Sie, vergeben Sie mir, daß ich bey Carln blieb? Sie wissen, daß ich mit ihm getraut war.« –

»Ja, mein Kind; – Ich vergeb Ihnen von Herzen! Möchten Sie nur immer gleich glücklich gewesen seyn!« ––

Ach! mein Glück welkte so bald, wie die Blumenkränze um unsere Hütte; und Carl, der arme Carl, hatte einige Zeit viel mit mir zu leiden. Die Regentage, die Zeit, da er wegging, etwas zu holen, saß ich voll [134] Verzweiflung und Angst in einem Winkel versteckt – und um die Zeit der Rückkunft meiner Mutter, – o, wie war mein Herz zerrissen! Ich schrieb ihr und Carl auch. Sie wollte uns nicht sehen. Der Zorn und die Sorgen über uns machten sie krank. Mein Kummer um sie gab mir Muth, Carls Abwesenheit zwey Tage zu ertragen. Es waren freylich Sommernächte, aber ich neunzehn Jahr alt – und so sehr empfindlich; allein, ganz allein, in dieser Einöde! Ach, mein Gebet erhielt mich, und auch der Gedanke daß ich alle meine Angst, all meinen Jammer verdiente, weil ich meinen Eltern, und also dem Gesetz Gottes ungehorsam gewesen sey. Ich warf mir den Tod meines Vaters und das Elend und die Krankheit meiner Mutter vor; hatte oft das Herz nicht mehr, Gott um Hülfe anzurufen und dachte immer in der Beklemmung meiner Seele an den Fluch unsrer beiden Väter über uns. – Wir schliefen auf Moos, – jedes hatte nur zwey Hemden; kein Küssen, keine Decke, als die beyden Bettücher, die ich für Carln zu Hemden mitgenommen hatte. Ich hatte sechs Gulden von der Wittbe geborgt und ihr dafür [135] alle meine Geräthschaften zum Pfande gelassen. Unsere Löffel wollten wir nicht verkaufen und lebten höchst kümmerlich so fort. – Fleisch assen wir lothweis, denn wir kauften die Woche nur ein Pfund. – Ich nähte die zwey Servietten zusammen und stopfte sie mit Moos zu zwey Kopfpolstern aus. – Sie müssen den Wasserbehälter sehen, den mein armer Mann, mit der Mühe und Erfindsamkeit machte, welche das Gedränge der Noth giebt. Darein tauchten wir unsere Hemden und übergossen sie mit leichter Lauge und wuschen sie. Ich bleichte, trocknete und strich sie mit meinen Händen glatt. – Ich hatte nur eine Schürze, zwey Röcke und zum Glück ein Schlafwämschen, neben dem halben Kleide, so ich den Tag meiner unglücklichen Flucht aus dem kindlichen Gehorsam anhatte. – Meine daurende Thränen und Seufzer erschütterten das Herz meines Mannes, der Tag und Nacht arbeitete und tausendmal seinen Verstand erschöpfte, um mir Trostgründe und Hofnungen beizubringen. Ich vermied ihn oft und blieb allein. Es schmerzte ihn. – Er hatte ein Stück mit Haber und eins mit Flachs besäet; sein Gärtchen[136] wurde alle Tage größer; wir aßen gutes Gemüs. – Er war ruhig und immer zärtlich, aber einige Tage stiller und nicht mehr so vertraut. Einen schönen Abend gingen wir schweigend, aber Hand in Hand, noch hieher. Ich setzte mich, denn ich fühlte, wie eine Vorbedeutung in mir, daß ich einer großen Veränderung nahe sey. Carl wandte sich halb von mir ab, sah mit tiefem Blick, und mit langsam hebender Brust, gegen die Seite der niedergehenden Sonne. Endlich sagte er mit Ausdruck von Schmerz und Vergnügen. »Schöner stärkender Himmel!« – sezte sich neben mich und nahm wieder eine Hand von mir: ––

»Meine Charlotte! ich wünsche innig, daß Ihnen dieser Anblik,« – er deutete auf die Wolken, »eben so stärkend sey wie mir. – Hören Sie mich an; mein Herz hat Ihnen einen Vorschlag zu thun.« – »Ja, mein Carl! Aber warum sagst du: Ihnen – Sie? – was ist das?« ––

»Lassen Sie mich so reden, Liebe! lassen lassen Sie mich so«; antwortete er. Ich schwieg da. ––

[137] »Ich habe Sie elend gemacht, durch die zärtlichste Liebe elend gemacht. Vergeben Sie mir, Charlotte! und willigen Sie in die Genugthuung, die in meiner Gewalt ist. – Gehn Sie Morgen mit mir nach Ihrem Aufenthalt zurück. Ihre Mutter wird Sie mit Güte aufnehmen. Hier haben Sie die Versicherung davon.« – Er gab mir einen Brief von meiner Mutter. »In dem Schooß dieser Mutter werden Sie sich trösten und erholen. – Die Zeit hilft auch. Nehmen Sie den Namen an, den Ihr Vater bey unsrer Trauung Ihnen gab. – Es ist ein Titel dabey, der wird Ihren Herrn Schwager bewegen, Sie neben Ihrer Frau Mutter in sein Haus zu nehmen. Da werden Sie Mutter- und Schwesterliebe geniessen. Verkaufen Sie Ihr Geräthe, Ihre Ringe und Löffel; es wird Ihnen so viel tragen, daß Sie nicht ganz abhängig seyn werden. – Sagen Sie, ich wäre fort, mein Glück zu suchen. Ach! Sagen Sie darüber, was Sie gut dünkt, was Ihnen Gutes thun kann. – Vergeben Sie mir nur Ihr Elend, Ihre Verbindung mit mir! Lassen Sie sie aufheben. Die Umstände, in denen Sie damals waren, [138] werden es sehr erleichtern; und ich, – ich will Alles bekräftigen, Alles unterschreiben, was für Sie, was zu Ihrem Besten seyn kann. – Sagen Sie nur meinen Aufenthalt Niemand. Lassen Sie mir den Löffel, mit dem Sie assen, und die Stücke Weißzeug, die uns deckten. – Ich will sonst nichts!« – Er breitete seine Arme aus. –– »Ganze, ganze Welt! ich will sonst nichts!« ––

Ich hatte, wie Sie denken können, immer fort geweint. Er schien es nicht zu achten und seine Augen und sein Gesicht waren trocken; nur manchmal roth, manchmal gezogen. Er hatte aufgehört zu reden. Ich schluchzte laut. Er wischte meine Augen, seufzte, war aber noch fest genug –– mir ruhig zu sagen: »Kommen Sie! wir wollen den Brief Ihrer Mutter lesen.« ––

»Ich konnte nicht reden; nur meine Hände ringen. –– Ich hoffte gewiß zu sterben, so übel, so schmerzvoll war es mir, Carln unempfindlich bey den Thränen zu sehen, die ich vergoß. –– Meiner Mutter Brief war freundlich. Sie lobte Carln über seinen Entschluß und sein Anerbieten einer Ehescheidung; setzte hinzu, sie würde so nach dieser [139] Trennung nimmer gelitten haben, daß wir uns sähen, und hätte wohl vermuthet, daß der Wahnsinn meiner Liebe austoben würde. Aber, ich bin Mutter, endigte sie! komm mein Kind! komm, du sollst mich als deine treue, zärtliche Mutter finden, so lange ich lebe.« ––

Seine Stimme war ziemlich bewegt, so lange er las; aber keine Zähre trat in seine Augen. Das quälte, und empörte mich äusserst. Als ich ihn nun vollends den Brief wieder mit gesetzter Miene zusammenlegen sah, trockneten jähling meine Thränen. Ich riß mit Zorn den Brief meiner Mutter aus seiner Hand, warf ihn weg: – »Ich bin selbst Mutter!« schrie ich und schlug mit Verzweiflung auf meinen Leib; – »ich selbst! – und Du!« – Ich stieß meinen Mann von mir. – »Du? hart, unempfindlich, wie mein Vater es war.« ––

Er fuhr auf, schlug seine Hände zusammen, blickte mich an. – Ach! ich kann nicht sagen, wie? – fiel mit Heftigkeit hin, auf seine Knie vor mich; umfaßte mich, konnte auch lange nicht reden. – Ich wollte mich losmachen von seinen Armen, aber er hielt mich umklammert.

[140] »Charlotte! Du bist Mutter?« –

»Mutter!« –– Er betrachtete mich einen Augenblick, mit einem unsäglichen Ausdruck seines Gesichts. ––

»Grausame! Du sagtest mir nichts!« – Nun ströhmten Thränen von seinen Augen. Er legte seinen Kopf auf meine Knie und weinte laut. – Ich sagte noch, indem ich meine Arme um mich legte: »Ich hoffe, armes Geschöpf, Du sollst mit mir zu Grunde gehen und sterben.« ––

»Er umfaßte mich – und schrie, stammlend vom Weinen: O, Charlotte! sey gern Mutter! – Mutter meines Kindes. –– Liebe mein Kind, liebe mich!« ––

Ich schwieg; er auch. Dann richtete er sich auf. – »Ich Vater! Du Mutter! – Charlotte, du bist mein, ewig mein;« – mit Entzücken umarmete er mich da. »Vergieb! vergieb mir Alles! Vergieb mir, um meines Kindes willen! – Nun kannst Du, nun darfst Du nicht von mir!« ––

Ach Gott! das Lächeln des Glücks und der Liebe verbreitete sich über all seine Züge. Ich weinte wieder sanft; ich fühlte auch all meine Liebe wieder. Er küßte meine Thränen [141] auf. – »Charlotte! beruhige Dich. Lebe! laß mein Kind leben. – Dein Gram tödtet es. – Lebe mit ihm, Du Theure, Angebetete, Du! seine Mutter!« ––

Eine Zeit darauf erhob er seine Hände zum Himmel: »Ewiger Vater! du gabst mir die zwey Geschöpfe; hilf, o, hilf mir sie erhalten! Stärke, segne diese Arme! segne diesen Boden!« ––

»Er streckte seine Arme nach aller Kraft seiner Sehnen aus; blieb etwas still, setzte sich dann zu mir, umarmte mich zärtlich. – Du bleibst nun bey mir! – Sieh Charlotte, die so schönen Abendwelken, von Gott so herrlich gefärbt! Morgen zerfliessen sie in einen fruchtbaren Regen. – Hier, in dem großen Thal vor uns, wächst Nahrung für viel tausend Geschöpfe: und hier sollte Gott uns nicht ernähren? meiner Hände Arbeit nicht segnen –– für Dich – für mein Kind? – Auf dem Boden, wo er Alles hervorspriessen läßt, um Käfer, Gewürme. Vögel und Wild ihre Nahrung finden zu lassen; und für mich, für Dich – solle ich an seiner väterlichen Vorsorge zweifeln?« –

[142] Er besänftigte hierdurch meinen Schmerz und ich ging an seinem Arm glücklich, in unsre Hütte zurück. – Er erzählte mir, wieviel er gelitten, um sich zu unserer Trennung zu entschliessen. Er habe auch die Stärke dazu bloß in meiner anfangenden Kälte gegen ihn, und meiner immerwährenden Traurigkeit, gefunden; weil es ihm unmöglich gewesen seyn würde, mich länger so um sich zu sehen. – Ach, er war nicht gleichgültig, der gute Carl! Unsre Liebe küttete sich nun fester – und blieb es bis auf diesen Augenblick. – Aber mit meiner Mutter hatten wir aufs neue zu kämpfen. Sie vergab uns diese Abänderung unsrer Gesinnungen lange nicht, und hielt den Beweggrund meiner Umstände für erdichtet. Endlich ging ich mit Carln ihr nach – und da konnte sie meinem Anblick und meinem Flehen nicht widerstehen. Sie vergab uns und segnete uns; weinte über mich, über ihre Armuth, über die meinige. – Wir baten sie inständig, niemand zu sagen, wo wir wären, und einmal zu uns zu kommen. Sie versprach es. – Diese Hoffnung und ihr Segen und ihre uns bezeigte Liebe, stärkten mich zum [143] Rückweg. Sie hatte auch Carln geküßt und uns gesagt, da sie unsere Hände hlelt: »Ach! wollte Gott, Ihr wäret meine glücklichsten Kinder, so wie ihr meine Besten seyd!« –

Auf die Zeit, da wir wußten, daß sie zu uns kam, puzten wir unser Gärtchen, unsere Hütte und alles, recht sauber und artig; wie auch den ganzen Weg nach Mahnheim, den Carl mit dem Rechen ebnete und die Steine weghob. – Aber sie war sehr traurig, mich hieher verbannt zu sehen. – Ich zeigte ihr nichts als Zufriedenheit. – Sie verkaufte meine Ringe, vier Löffel und das Zinn- und Kupfergeschirr, schrieb dann dem guten Beamten Mooß, zum Besten meines Mannes; und sagte ihm, daß er ehemals ihr Kammermädchen geheyrathet habe. Er möchte ihn seine Gärtnerey da oben fortführen lassen und erlauben, eine neue Hütte zu bauen. – Die bekamen wir noch im October, wie auch Betten, Weißzeug und Kleidungsstücke, wie sie für Gärtnerleute taugten. Carls Flöthe und einige Bücher kamen auch. Ich hörte die Betrachtungen meines Mannes über den wahren Unterscheid der Stände, wurde mit dem meinigen vergnügt; [144] gewöhnte mich hier zu leben, half ihm arbeiten, er mir; – denn im Winter strickten wir beyde und spannen auch. –– Seine Sorgfalt um mich ist nicht zu beschreiben; und sein Kummer auch nicht, da ich, mit vielem Web, ein todtes Kind zur Welt brachte, – und er seine Vaterfreuden verlohren, – ich für mein zärtliches Herz keine Belohnung meiner Leiden hatte, und meinen armen Mann eine Leiche an sein Herz drucken sah. – Ach! Madame, welch ein Kummer bemächtigte sich meiner! – Ich rief von meinem Lager: »O, Carl! immer noch Strafe für unsern Ungehorsam! Möchten es alle junge Leute hören, was wir für Leiden ertragen müssen, und möchten sie eher sterben lernen und sich abhärmen, als mit dem Väterlichen Fluch beladen werden!« ––

»Ich zerriß da meines Mannes Herz zum leztenmal, weil ichs mir nimmer würde vergeben haben, ihn noch einmal so zu kränken, wie es da geschah. – Es war hart und unbesonnen von mir; denn die Frau, die mir beistand, konnte uns schaden. – Wir ergaben uns mit einander dem Schicksal und weinten vereint [145] über das schöne todte Bild, das wir vor uns hatten. Wir liebkosten es, hielten seine Händchen. Hätte Vater- und Mutterliebe es zum zweytenmal beselen können: es würde erwacht seyn. – Ich konnte mich von den Ueberresten nicht trennen und wollte es bey uns haben. Sein Vater trug es selbst in das Bett der Verwesung und legte es in unser Blumengärtchen, wo Sie seinen Grabhügel gesehen haben. Ich war lange ziemlich schwach, wurde aber gegen das Frühjahr stark genug, um Carln alle kleine Arbeiten abzunehmen. Ich selbst umpflanzte das Grab meines Erstlings mit Veilchen und zog einen Kranz von Blumen an der Stelle, wo sein Köpfchen liegt. – Ich weiß noch nicht, was für ein anziehendes, trauriges Vergnügen ich daran fand. – Carl entdeckte eine feine Lettenerde; daraus formte er Blumentöpfe, trocknete sie an der Sonne und flochte sie mit Weiden ein, daß sie nicht aus einander fielen, weil sie ungebrannt waren. Von dem Letten machte er auch, auf dem Absatz der Mauer, eine Art von Wand, mit Weidenflechten, daß die Erde nicht vom Regen abgeschwemmt werden[146] konnte, und seine frühen Obstbäume gut fort wüchsen. – Der Beamte bewilligte uns Brennholz, so viel wir brauchten und wir durften, da wir mehr Kinder bekamen, vier Ziegen halten; auch größere Stücke mit Korn anpflanzen. Meine Mutter besuchte uns die zwey Jahre, da sie noch lebte, manchmal. – Der Stein, den ich meinen Altar nenne, war ihr letzter Ruheplatz bey uns. Da sah ich sie, da küßte sie mich das letztemal! Ich kam bald mit Lottchen in die Wochen und konnte sie nicht mehr besuchen.« Sie weinte hier still. »Ach! Madame, es ist kein Fleckchen um uns herum, das nicht mit meinen Thränen benetzt wurde und ich glaube, daß mir dieser Boden auch deswegen so lieb ist.« ––

[147]
72. Brief
Zwey und siebzigster Brief
Fortsezung.

Frau Wolling weinte würklich wieder. Ich störte sie nicht gleich; – endlich fuhr sie fort: »Ich kann nicht sagen, was seit Ihrer Ankunft und der Versicherung Ihrer Hülfe in uns vorgegangen ist. Ach! glauben Sie, daß wir Ihre Güte verdienen, – und entziehen Sie uns Ihre Gegenwart und Ihre Liebe nicht mehr. Ich könnte, großer Gott!« – sagte sie mit aufgehobenen Händen »ich könnte Ihren Verlust nicht ertragen. Sehen Sie nicht uns, sondern unsre armen Kinder an.« ––

Rosalia! ich erneuerte ihr mein Versprechen und sagte Nachmittags beyden meinen Plan für ihr Haus und Gut; welches sie ganz glücklich machte. Ich versicherte dabey den Herrn Wolling, daß ich mit seiner und Charlottens Geschichte sehr zufrieden wäre – und beyde bäte, alles Vergangene nur als einen beschwerlichen Weg anzusehen, auf welchem [148] ihr Schicksal erst ihre Tugend prüfen und sie dann auf einen guten Ruhplatz bringen wollte, wo sie nichts als Vater- und Muttersorgen fühlen und die Glückseligkeit eines freyen einsamen Lebens neben dem Vergnügen der Arbeit und Freundschaft geniessen sollten. –

Hier faßte ein jedes im nehmlichen Augenblick eine meiner Hände. Charlotte schluchzte; Wolling lag mit seinem Kopf auf meiner Hand; – redeten aber nicht, und diese stumme Scene fesselte auch meine Zunge auf einige Minuten. Endlich erholte ich mich zuerst, und sagte ihnen: »Meine Freunde, alle Menschen haben Leiden zu ertragen. Ich bin reich, gesund, unabhängig: aber es geht ein großer Theil bittern Kummers durch mein Leben. Ich versüsse ihn allein in dem Wohl meines Nächsten und der Uebung meiner Talente. Eure Liebe wird mich freudig machen und hier wollen wir, nach Art der Patriarchen, in unsrer einsamen Wohnung mit einander glücklich seyn. Morgen früh gehn wir zu dem Beamten. Aber heut erzähle mir Herr Wolling die Art, wie er auf diesen Berg kam, und die Erlaubniß erhielt, sich hier anzubauen.«

[149] Er küßte meine Hand und sah mit einem Blick mich an, der sagte, daß er deutlich meine Bemühung sehe, ihr Aufmerksamkeit von meiner Wohlthat abzuwenden. – »Meine gute Charlotte wird Ihnen viel Vortheilhaftes von mir erzählt haben. Sie weiß nicht, wie viel tausendmal ich mir Vorwürfe machte, daß ich nicht gleich nach dem Fest ihrer zweyten Schwester mich entfernte. Ich hätte alle Stärke und Entschlossenheit, die dazu nöthig war, in mir finden können. Aber, ich verblendete mich durch Entwürfe von großmüthiger edler Liebe; und es ist immer schwer, dem Anblick der Geliebten zu entsagen. Ich setzte mir heilige Schranken; ich übertrat sie nicht. Aber der Strom meiner Leidenschaft verstärkte sich immer, und riß endlich die Ruhe und das Wohl meiner Lotte und ihrer Familie mit sich hin.« ––

Ich sagte ihm hier, daß er sich, in meinen Augen immer edel bewiesen habe.

»Ach! ich war es nur im Unglück. Ich hätte es in guten Tagen seyn sollen! – Aber, Sie wollen meine Berggeschichte wissen. Ich wurde ein gezwungener Soldat. Mein Widerstreben half nichts, und ich sah[150] wohl, daß die wahre Erzählung meiner Geschichte auch nichts helfen würde. Die Urheber meines Elendes waren mir, um Charlotten willen, zu ehrwürdig geworden, um von ihnen zu reden, wie sie es verdienten. – Vergieb mir, Liebe, sagte er zu Lotten, ich bin nicht mehr bitter; es ist nur in dem Lauf der Geschichte. – Alle gezwungne oder unsichre Leute, wie man sie heißt, werden in Garnisonstädte gelegt und äusserst beobachtet. Ich kam also sehr weit an die Gränzen des Reichs. Nachdem meine Seele ganz erschöpft war und ich aus dem Lazareth kam, erhohlte sich meine Vernunft mit meinem Körper. Ich sah ein, daß ich auf diese Weise zu Grunde gehen würde, ohne den Trost zu haben, etwas von Charlottens Schicksal zu erfahren. Vor dem Durchgehen schauderte mich, ob mir schon der Gedanke einigemal aufstieg. Ein erzwungner Eid war doch ein Eid, den ich vor Gott abgelegt hatte; und Durchgehen war eine niedrige Handlung, die mich mit tausend schlechten Leuten in ein Bündel warf. Das wollte ich also nicht; sondern befliß mich äusserst auf den Dienst, munterte und ermahnte auch Andre zu genauer Erfüllung ihrer [151] Pflichten auf. Die Unteroffiziere fingen an mich zu lieben. und gaben mir bey den Obern gute Zeugnisse; die dann auch freundlich mit mir sprachen. Unter diesen suchte ich nach einem Ausdruck des Gesichts, der mir edelmüthige Menschenliebe versprach. –– Ich fand den Mann in der zweyten Garnison, an dem Lieutenant von L*** T***, von dem ich schon in unsern Gegenden, wo er auf Werbung lag, als von einem vortreflichen und Einsichtsvollen Mann hatte sprechen hören. Er hat eine sehr liebenswürdige Frau, mit der ich ihn oft in einem Garten sah, in welchen einige Fenster der Caserne die Aussicht haben. – Ach! wie traurig machten mich die Kennzeichen der wahren, reinen Zärtlichkeit, die sie sich gaben, – wenn ich da an Charlotte dachte. Der Garten schien mir schlecht gepflegt und ich machte den Entwurf einiger Verbesserung im Schönen und Nützlichen; zeichnete ihn und sagte meinem freundlichen Unteroffizier davon; dieser dem edlen Herrn von L*** T*** und ich erreichte meinen Endzweck zwischen meinen Wachttagen, in diesem Garten zu arbeiten. Man war sehr [152] mit mir zufrieden, besonders, da ich einen Jungen des ersten Gärtners unterrichtete. Diese Zufriedenheit wandte ich an, Herrn von L*** T*** um Bücher zu bitten, welche ich aber nicht zum Lesen, sondern in der Absicht verlangte, daß er auf mich neugierig werden möchte. Das geschah; er fragte mich aus. Ich erzählte ihm Alles, und gestand ihm auch meine Absicht in Bearbeitung seines Gartens. – Mein Kummer schien ihn zu rühren, so wie ihm meine Freymüthigkeit gefiel – und ich erhielt nach einer neuen Krankheit, aus den Händen dieses großmüthigen Menschenfreundes, der einen andern Mann für mich stellte, meine Freyheit wieder, nebst Geld und einem Paß als Gärtnergeselle, worauf ich mir auch Gärtnerkleidung anschafte, und dann nichts wichtigers hatte, als in die Gegend zu eilen, wo meine Charlotte wohnte. Da hörte ich das traurige Schicksal ihrer Familie und wurde äusserst darüber betrübt. In Immenberg erfuhr ich den Aufenthalt der Mutter; aber von Charlotten kein Wort. – Ich mußte sehr behutsam mit meinem Herumwandern seyn, weil an zwey Orten Werber lagen, [153] vor deren Klauen ich mich fürchtete und würklich einmal in Gefahr gerieth, vieren von ihren ausgestellten Leuten in die Hände zu fallen, wenn nicht die Dämmerung und meine Geschicklichkeit im Bergsteigen mich gerettet hätte. Denn sie verfolgten mich auf einem Fußpfad an der Anhöhe, der sich endlich in zwey Wege theilt, auf deren einem ich Bergan kletterte und nicht mit Gehen aufhörte, bis ich völlig oben war. Nacht und Nebel lagen dann auf dem Thal. Ich war müde, und schlief unter dem nächsten Baum.«

»Sie müssen ihn einmal sehen, fiel Charlotte ein, diesen Baum, wo meines armen Carls klopfendes Herz, das erstemal hier ruhte. Er ist mit einer schönen Grasbank umgeben. Ich habe ihn oft geküßt.« –– »Und über ihn geweint;« sagte ihr Mann lächelnd, indem er ihre Hand drückte. »Den Morgen darauf war ich sehr niedergeschlagen in meinem Gemüth. Aller mein erlittner Jammer war vor mir. Der Gesang der Vögel, das muntre Herumkriechen der Gewürme, hie und da eindringende Sonnenstralen zwischen den Stämmen und Aesten [154] der Bäume; die schönen Farben der Blätter und kleinen Waldblümchen; die so ganz vollkommne Stille und Ruhe – besänftigte und erweichte mich. Ich weinte eine Zeitlang; dann kniete ich und betete um Nahrung und Ruhe, wie dieser Wald und Kräuter und Würmer aus der Hand ihres Schöpfers erhielten. – Ich stand gestärkt an Leib und Seele auf und wollte die Gegend des Bergs kennen lernen; ging daher immer, auf der äussern Linie, seiner Höhe nach, wo ich endlich zu dem zerfallnen Schloß kam, mich da hin setzte und Betrachtungen über die Vergänglichkeit alles dessen machte, was Menschen, im Guten und Bösen, mit Weisheit und Thorheit, Glück und Elend, machen, und erfahren. Eine kleine einsinkende Hütte stand noch da, auf dem Platz der unsern. Ich durchsuchte sie, und räumte sie aus, weil ich, da ich noch Brod und etwas Käse bey mir hatte, den ganzen Tag und die künftige Nacht da bleiben wollte. Der Abend war herrlich schön, das Thal vor uns, und alles! – Ach, da fiel mir ein, wenn Charlotte dächte, wie ich; wenn sie mich liebte, wie ich liebe: wie selig könnten [155] wir hier seyn! Den ersten Gesetzen der Natur getreu, baute ich hier die Erde für unsre Nahrung, zöge Blumen, schönes Gemüs und Obst; das verkaufte ich um Kleidungsstücke; und mit diesen süssen Träumen von romantischem Glück schlief ich, auf zusammengetragnen Moos ein, wachte mit diesem Traum wieder auf, und nahm mir vor, Charlotte zu suchen. Ich ging aber einen großen Umweg nach dem Dorf, wo ihre Mutter wohnen sollte, und getraute mir auch den zweyten Tag nicht, irgends einzukehren, weil ich Soldaten gesehen. Den vierten Abend führte mich der glücklichste Zufall zu Charlotten. – Ich sah ihre Liebe, ich fühlte meine Zärtlichkeit, aber zugleich alle Noth der Bedürfnisse und der Macht der Gewohnheit. Ich entsagte ihr, riß mich mit Verzweiflung von ihr, haßte alle Welt, wollte keine Seele mehr sehen! –– Aber, ach! wie traurig ist der Zustand des Menschenhassers! Er verliert nicht nur alle Empfindung von gesellschaftlicher Freude, sondern auch die von dem Vergnügen, so wir über unsre erworbene Kenntnisse, Verdienste und Tugend hatten. – Aber, es ist eine gerechte [156] Folge des Losreissens von den Banden der Pflicht, daß zugleich alle süsse Gefühle der Menschheit verlohren gehen. Meine innere Wuth dauerte vier Tage. Ich wälzte Steine und Stücke Mauer aus ihrem Platz, riß Aeste von Bäumen, ohne Plan, ohne Absicht; kletterte über den Schutt im Thurm; stieß mit den Füssen Sand, Mauersteine und was locker war, durch die offne Seite hinaus und sah sie mit wildem Vergnügen den Berg hinab rollen. – Abends kam ein starkes Gewitter. Ich stand an dem Eingang des Hofs, an die Mauer gelehnt; sah bald diese traurigen Ueberreste von rothen Blitzen fürchterlich beleuchtet, bald alles schwarz um mich her, und hörte ruhig die schrecklichen Donnerschläge, die darauf folgten. Diese Empörung in der Natur dauerte zwey Stunden, eh die Empörung, die in meiner Seele war, sich zu beugen anfing; und ich glaube heute noch, daß eher der starke Guß des ausserordentlichen Regens, der mich durch und durch netzte und kältete, daran Ursach war, als ein moralischer Beweggrund. Mechanisch kroch ich in meine Hütte, warf die Kleider weg, legte mich, und erwachte erst [157] sehr spät. Der Tag war schön. Ich hatte noch ein Hemde, Westchen und Beinkleider von Leinwand; die zog ich an, und wollte mein nasses Gewand trocknen: als ich Etwas gehen und reden hörte. Ich versteckte mich, blieb ganz ruhig und vernahm aus dem Gespräch der Leute, die durch den Schloßhof gingen, daß es der Beamte von Mahnheim mit dem Fürsten war, die Bäume zum Fällen auszeichneten. Als sie weg waren breitete ich mein Kleid auf die Steine, ging nach einer schönen Eiche, die ich liebte und fand, wie ich es befürchtete, daß sie auch zum Hau bestimmt war. Ich umfaßte sie mit Schmerz und Trauer, wie einen Freund, den mir das Schicksal nehmen wollte und wünschte sie losbitten zu können. Indem sah ich einige Schritte am Abhang etwas glanzen, und da das Gras umher zertreten war, so dacht ich, daß Jemand was verloren haben müsse; ging hin, fand einen artigen kleinen Schlüssel, nicht weit davon ein Futteral mit einem silbernen Zirkel, Maasstab und Bleistift nebst Messer; und dann ein Paketchen mit der Aufschrift: für Eichenstämme zehn Dukaten. – Das Geld für [158] meiner Eiche Leben gerade in dem Augenblick zu finden, wo ich über ihren gedrohten Tod geweint hatte, gab den Bewegungen meiner Seele einen neuen Schwung, nebst dem Gedanken: Das gehört dem Beamten; ich will ihm alles gleich bringen. Aber zum Lohn muß er mir die Eiche stehn lassen. –– O! was war meine Empfindung als ich nach diesem Endschluß zu ihr kam und sie nun als Gegenstand meiner Wohlthätigkeit vor mir stand; schöner, lieber und wichtiger schien; sogar ein Wähnen in mich kam, daß sie Gefühl haben könnte von der Umarmung, mit der ich ihr das Leben versprach; – meinen grünen Küttel noch ganz feucht anzog, nach Mannheim zum Beamten eilte und ihm das Gefundene übergab!

Der liebe Mann wollte den nehmlichen Augenblick zwey seiner Söhne mit dem Förster hinschicken und suchen lassen. Er staunte mich an, und Thränen traten in sein gütiges Auge, als er die Hand ausstreckte, um die Sachen zu nehmen. Seine Frau, seine zwey Söhne betrachteten mich mit Güte. – ›Redlicher Fremdling, sagte er, indem er meine Hand schüttelte und drückte, ich danke [159] Euch für die Zurückgabe meines verlornen Guts; aber ich segne Euch für die Freude, einen so rechtschaffnen jungen Mann zu sehen, und für das Beispiel, das Ihr meinen Kindern gebt, arm, und zugleich so voll Ehre und Rechtliebend zu seyn. – Wer seyd Ihr, lieber, junger Mann. Wie kommt Ihr auf den abgelegenen Berg‹? –

Ich wies ihm hier meinen Abschied, als Gärtnergesell. – Er schien zufrieden, blickte mich aber dennoch von Zeit zu Zeit nachforschend an. Ich sollte mit ihm essen; aber ich fürchtete das Ausfragen und dankte ihm!« –

»Vielleicht will Er heut noch weiter! ich will ihn an Leute in der Stadt empfehlen. – Komm Er mit in meine Schreibstube.« –

Das that ich. – Er sah mich da noch einmal nachdenkend an, weil er meine Verlegenheit sah. – »Nun wie ist es mit Ihm, Freund? Mich dünkt, Er hat mir was zu sagen. Vertrau Er sich mir;« – sprach er, indem er zugleich einen Schiebkasten seines Schreibtisches aufmachte und einen großen Silberthaler nahm, den er mir darbot. – Nehm Er das kleine Kennzeichen meiner Dankbarkeit hin und rede Er freymüthig mit mir. –

[160] Ich wies seine Hand mit dem Thaler zurück und sagte: »Herr Amtmann! ich bitte um nichts, als daß Sie die Eiche bey der alten Mauer stehen lassen, sie ist mir so lieb!« ––

Er trat ein Paar Schritte zurück und besah mich mit Staunen von Kopf zu Füssen. –

»Die Eiche! Ey was thut Ihm die Eiche?« ––

»Ach! sie ist seit sechs Tagen der Trost und die Freude meines Lebens. – Es ist sonst kein Wesen auf der Welt, das mir Gutes that. Der einzige Wohlthäter, den ich je hatte, lebt in Königsberg, so weit von mir. Lassen Sie die Eiche stehen. – Erlauben Sie mir, in der Hütte zu wohnen und um das alte Schloß herum Gemüs und Obstbäume zu pflanzen, davon ich leben will.« ––

»Lieber, junger Mann! ich denke, Er wundert sich nicht, wenn Er mir immer sonderbarer vorkommt. Denn wenn Er von seiner Handarbeit leben will, warum geht Er nicht lieber zu einem Gartenmeister?« –

»Sie haben in Allem Recht, theurer Herr Amtmann. – Aber, Sie machen mich zum [161] glücklichsten Menschen, wenn Sie mir diesen Aufenthalt vergönnen, und Sie sollen mich immer als den Redlichsten finden.« –

»Er wolte was von mir wissen. Ich sagte ihm, daß ich in meiner Jugend studirt hätte, weil ich der Sohn eines Schreibers sey; daß ich ein gutes Mädchen innig geliebt und ihr auch werth gewesen wäre; daß ich mit ihr getraut; – aber am nemlichen Tage mit Gewalt zum Soldaten genommen sey, wo ich immer krank und also unbrauchbar gewesen. Da hätte mich die Menschlichkeit eines edlen Mannes wieder frey gemacht. Ich hätte meine Frau aufgesucht, müßte aber nicht, wo sie wäre Mein Vater sey todt, und das Leben mir zuwider, so bald ich unter viel Menschen seyn müßte« ––

Er bedachte sich eine Zeitlang. Endlich sagte er: »Ja, mein Freund! Er soll da oben wohnen und anbauen, mit der Bedingung, daß er diesen Thaler nebst einigem Handmerkszeug annehme, und mir alle Woche sage, was Er gethan hat.« ––

Ich küßte seine Hände mit vielem herzlichen Dank. Er ließ mich im Zimmer warten, um mit seiner Frau zu reden. Ich [162] konnte mich nicht enthalten, auf meinen Knien Gott zu bitten, daß er diesen herzlichen Mann und seine Kinder segnen möge.

»Sie hatten mich im Nebenzimmer belauscht, wie sie mir nachher sagten; und beyde kamen gerührt in das Zimmer, nachdem ich ziemlich lang' allein darinn gewesen war. Die Frau gab mir einen Sack voll Saamen wie sie sagte. Es war aber auch in einem Tuch ein Laibbrodt und ein Stück trocken Fleisch dabey. Zu diesem gab sie mir einen Rechen, eine Grabschaufel, Hake, einen Schiebkarren voll Dünger, zwey irdene Töpfe, und zwey Teller, nebst einem Löffel dabey. Und so zog ich herrlich in meine Einöde zurück. – Was für ein Abend war dies! – Meine Ehrlichkeit hatte mir aus den Händen der besten Menschen einen Wohnplatz erhalten. – Ich fühlte mich glücklich. Aber, da kam das Bild von Charlotten; der Wunsch nach ihr; – Entwürfe meines Anbaus und meiner Hofnungen. – Ach, wie arbeitete ich; wie war ich gestärkt, wenn ich im Walde zu dem Kapellchen ging, um wenigstens den Ort zu sehen, wo meine Liebe war, und da Charlotten [163] an mich denken, und für mich beten sah! – Ich wollte mich nicht sehen lassen, bis ich ihr etwas von einem sichern Aufenthalt und Nahrung erzählen könnte; denn ich hatte ja auf sie Verzicht gethan. Endlich schrieb ich; zeigte mich. Charlotte vertraute sich mir – machte mich selig!« –

»Und elend!« fiel sie ein. – »Du Liebe! sagte er, es wäre unnatürlich und unwahr gewesen, wenn Du nicht auf diesem traurigen Wege Deines Lebens gewankt und geklagt hättest – Der Beamte besuchte mich zum öftern, lobte mich, schenkte mir eine Ziege, dann die Zweyte; empfahl mein Gemüs an ein Paar Häuser in der Stadt. Ich zog Zwergbäume in den Lettentöpfen, die ich mit Weiden einflochte. Blühend verkauft ich sie. Das that uns viel gutes. Meine theure Lotte wurde die beste Mutter und arbeitete nur zu viel. Der Beamte gab uns so viel Freyheit und Gutes, als er konnte. Die Gewohnheit siegte über alles; aber nicht über den Gedanken: was wird aus meinen Kindern, aus meiner Lotte, wenn ich sterben sollte?« ––

[164] »Wie oft lag ich neben dem Grabe meines Erstlings! wünschte in düstern Stunden mich Mutter und andre Kinder, auch bey ihm unter der Erde! –– Dann betete und hoffte ich wieder, meine Knaben sollten gute Gärtner, meine Mädchen einst geschickte, fleißige Weibspersonen seyn. Arbeit der Hände war unser Ehrenstand geworden. Ehrgeiz, Eitelkeit, alles war weit von uns; nur der Himmel und das Auge der Vorsicht nahe; und wir achteten uns nach dem ersten Stand der Unschuld zu leben. Vor einem Jahr kam Herr von Pindorf ohngefähr herauf, wurde auch gerührt, gab mir Geld auf Bäumchen, die ich ziehen sollte. Aber es war nur ein Vorwand, unter dem er seine Großmuth verbarg. –– Er empfahl uns auch dem Beamten, und, o Gott! er leitete sie zu uns, Sie!« –

»Und wie viel Jahre sind sie schon hier?« fragte ich. ––

»In wenig Tagen sind es neun Jahr.« –

»Ach. Gott! welch langes Leiden, und Mühe!« sagte ich mit bewegtem Herzen. –

»O, die Zeit entschlüpfte uns eben so geschwind, als den Glücklichen. Unsere Arbeiten [165] und Kinder verkürzten sie. Mein Muth, die Geduld und Frömmigkeit meiner Charlotte, waren große Hülfsmittel. Jemehr ich gegen das Schicksal kämpfte, je stärker wurd ich, die Last zu tragen, die es mir aufgelegt hatte. Ich vergaß, daß ich Sohn eines Beamten; – und Charlotte, daß sie Tochter eines fürstlichen Raths war. – Der Beamte wollte mich vor einiger Zeit zum Schloßgärtner des Herrn von Mahnberg befördern helfen. Aber meine Frau bat mich, auf die Rückkunft des Herrn von Pindorf zu warten, der vielleicht was anders vorschlagen würde. – Es war Eingebung, die sie hatte; denn sonst wären Sie für uns verlohren gewesen, wie unser lieber Berg, den wir auch hätten verlassen müssen, um dem Herrn von Mahnberg zu dienen.« ––

Frau Wolling erröthete da, und sagte ganz leise: »Wilt du mir, lieber Carl, die erste Weiberlist verzeihen, die ich gegen dich gebrauchte? – Meine Bitte, auf Herrn von Pindorf zu warten, war nichts, als die Ausflucht, welche ich gegen den Vorschlag des Herrn Mooß nahm, weil Du mir so [166] geneigt schienst, seinen Antrag anzunehmen. – Aber, ich hielt mich vorgestern für diesen Betrug sehr geschwind gestraft, da ich Madame van Guden Dir wieder von einer Aenderung unsers Wohnplatzes sagen hörte. Und da ich hier keine Hülfe vor mir sah, so ließ ich ganz freymüthig meinen Jammer blicken, und fühlte in Deiner zärtlichen Einwilligung, hier zu bleiben, wie sehr ich Unrecht hatte, einen Umweg mit Dir nehmen zu wollen.« ––

Er vergab ihr herzlich, und der Abend endete sich mit ihrem völligen Vertrauen, da sie mir zwey Papiere wiesen, die jedes eine Verschreibung von funfzig Gulden enthielt. Dies war die Ersparniß von dem gelösten Gelde für ihre Löffel und Ringe, und von seiner verkauften Gärtnerwaare seit neun Jahren. Der Beamte und Pfarrer hattens auf die Gemeingüther angelegt, damit das so kümmerlich erworbne Geld ja den Kindern nicht zu Grunde ginge. ––

Ach, die lieben, herrlichen Menschen alle, wie freuen sie mich! –– Sie können nicht glauben, Rosalia, wie ordentlich Alles gehalten wird. – Garten, Hütte, Hof, angtänzendes [167] Land, so sie bauen dürfen; wie reinlich, all die grobe Leinwand und Wollen ihrer Kleider und Betten, wie sauber die Kinder und Eltern an ihrem Körper sind. Um vier Uhr steht der Mann, um fünf Frau und Kinder auf. Waschen, anziehen, beten, eine Ziegenmilch Suppe essen; dann alles hübsch geordnet; im Sommer Mutter und Kinder zum Mann in den Garten da die Aeltesten arbeiten; dann eine Stunde nähen oder spinnen, und alle Wochen zwey mal, eine Trage Gemüs zum Verkauf nach Mahnheim getragen, wo Leute aus W** da sind, die es abholen und die Wollings dann ihre Bedürfnisse kaufen. –

[168]
73. Brief
Drey und siebzigster Brief
Madame Guden an Rosalien.

Ich will Sie, liebe Rosalia, für mein vierzehn Tage langes Stillschweigen schadlos halten und Ihnen treulich Alles erzählen, wie es mir geht und die Sachen erscheinen.

Ich war bey dem Beamten in Mahnheim. Ein redlicher, vortreflicher Mann, der mit heiliger Treue das ihm anvertraute Gut, der Gerechtsame des Herrn, und das Wohl der Unterthanen besorgt und der durch Festhalten an dem Grundsatze keinen Bösewicht ungestraft, und keinen Guten unbelohnt zu lassen, die herrlichste Ordnung in seinem Amt hat. Weil nun dabey auch der Herr von Mahnberg alle Jahr seine Gefälle richtig bezieht und die Unterthanen niemals klagen, oder bitten; so hat er dem Beamten volle Macht über die ganze Einrichtung gegeben. Das erworbne Ansehen, welches dieser Mann durch unabgeänderte Ausübung seiner Pflichten erhielt, dient nun zu der Grundlage des Wohlstands meiner [169] Wollinge. Denn Herr von Mahnberg willigte gleich in den Vorschlag einen neuen Hof auf Erbbestand anzulegen. Ich sagte dem Beamten und den Wollingen selbst, daß ich eine reiche Anverwandtin von ihnen wäre, die jung aus ihrer Gegend weggekommen und in Holland verheyrathet worden sey. Sie wissen, wenn Holland nur genannt wird, so glaubt man gleich an Reichthum; und viele Familien haben die Idee, daß jemand von ihnen dort wohne; so daß mir Herr Mooß leicht glaubte. – Ich wünschte die Wollinge davon zu überzeugen, um ihnen die Last des Danks zu erleichtern, die mit so großen Geschenken auf sie fällt. Als Verwandtinn ist es meine Pflicht, und diese kann man grade zu annehmen. – Bey dem Beamten und seinen Leuten wurde dadurch das Staunen und Rachdenken über das Sonderbare meiner Erscheinung und meiner Wohlthaten verhindert. Denn grosses, ungewohntes Gutes, ohne Vorsicht dargestellt, schadet oft bey Menschen, die an Vorurtheilen haften; und Schwäche und Vormtheile mit Schonung behandeln, ist auch Pflicht, Rosalia; so wie es Pflicht ist, sie zu vermindern. – Aber da vielleicht an Vorurtheilen [170] schon viel Geschlechter hindurch, ein Theil des Wohls hing: so halten die Menschen daran, und sträuben sich gegen das Wegnehmen eines bekannten Guts. Man darf ihnen aber nur auf einer andern Seite etwas zeigen, was die Kennzeichen eines ihnen nicht ganz fremden Vergnügens trägt, so wird Neugierde sie hintreiben, es kosten machen und zur freywilligen Ablassung von dem allen führen. – Aber wo schweife ich hin? – Kommen Sie zu meinem Beamten, von dem ich auch Baase seyn möchte, seitdem ich die Freude sah, mit der er kam, uns die Antwort selbst zu bringen und gleich mit Wollingen hinging, das Land auszumessen und Pfähle einschlagen zu lassen. Niemals hat ein Gewinnsüchtiger seine eingelaufene wucherische Zinse schneller und richtiger gezählt, als dieser liebe Mann zu Werk ging, der Familie, über die er weinte, weil er unvermögend war, ihr zu helfen, nun einen Bezirk von sicherm Unterhalt anzuweisen. Denken Sie, wie ich gerührt wurde, als ich mich von einem Vater von acht Kindern, die er nicht reich, nicht glücklich machen kan, mit vollem Herzen und überfliessenden Augen für die Wohlthat segnen hörte, die ich einem andern [171] Vater von vier Kindern erwies. Das gute Zeugniß, so er meinen Wollingen gab und die Aufmunterungen – und Erleichterung zum vollkommenen Anbau des neuen Guts, das er alles mit so vielem Eifer betrieb; seine Frau, die sich auch herzlich ergözte, daß den Wollingen Gutes geschah. – – Dies belohnte mich schon weit für meine entworfenen Ausgaben und Mühe. – Ach, Rosalia! wer gute Menschen liebt und sucht, findet sie auch. Nur müssen wir nicht mit einem Modell umhergehen, das wir uns von Verdiensten des Verstands und Herzens gemacht haben, und so daran kleben, daß wir alles, so nicht in dieses Modell paßt, als mangelhaft verwerfen; sondern uns angewöhnen und zur Pflicht der Vernunft und Billigkeit machen, zu denken, daß es mit den moralischen Formen der Menschen eben so, wie mit der Bildung ihres Körpers ist. – Millionenfache Abänderung der äusserlichen Gestalt, die zwischen dem Urbilde der Schönheit und Höflichkeit stehen, sind doch immer Menschengestalten, und wir fodern niemals, daß alle Gesichter von unsern Freunden und Bekannten sich gleichen sollen. Aber moralische Gesinnungen [172] fodern wir immer nach unserm Modell – und Sie haben auch in jedem Menschen abgeänderte Grade und in tausend und aber tausenden den nemlichen innern Werth und bringen auch Gutes hervor, nur nicht auf die nehmliche Weise. Da sollte aber der edle, große Menschenkenner, mit liebreicher, herablassender Weisheit, eintreten und zeigen, daß der Blick seines Geists richtig und hell genug ist, um alle mögliche Verschiedenheiten zu bemerken und zu beurtheilen; – und daß in dem weiten Umfang seines Herzens jeder Grad des Guten gefühlt – und geschätzt wird, ohne sich von der Obermacht seines Geistes zu dem despotischen Sinn leiten zu lässen, Alles nach seinem Willen zu haben. – Denken Sie nach, Rosalia, was für eine Menge kleine Ideen- und Gesinnungstyrannen in der menschlichen Gesellschaft leben; wie oft vielleicht schon wir es selbst waren! –– Ich gewiß, zu der Zeit, da ich meine Vaterstadt bewohnte und Anfoderungen an meine Bekante machte, die sie mir nicht aus Bösartigkeit versagten, sondern weil sie die Sachen anders ansahen, als ich. – Seitdem bin ich aber so billig geworden, mir zu sagen: wenn hundert [173] Menschen in einem Kreis, um einen Gegenstand der Betrachtung herum gestellt würden, so sieht freylich ein jeder die nehmliche Sache, aber nur von der Seite, die seinem Standpunkt gegenüber ist. – Die andern links und rechts neben ihm, sehen schon ein andres Stück; und vielleicht wirft der Zufall über den Theil, den mein Nächster betrachtet, einen Schatten, der seinen guten Willen, seinen Eifer, richtige Bemerkungen zu machen nicht nur erschwert, sondern völlig verhindert. Derjenige, der mir nun völlig gegenüber steht, sieht auch die ganz andre Seite. Und da sollt ich begehren, daß er das nehmliche Urtheil fälle, die nemliche Empfindung äussere, wie ich? – Wie ungerecht ist dieses! und dennoch geschieht es immer, bald bey wichtigen, bald bey geringen Gelegenheiten, und versagt also auch immer nach diesem Verhältniß große oder kleine Unannehmlichkeiten. – Und das, meine Rosalia, müssen wir auch so lassen. Nur an uns, meine Liebe, wollen wir es ändern. Und dies können Sie würklich vielmehr thun, als ich, weil Sie in einem größern gesellschaftlichen Zirkel leben. Sie sagten mir einigemal mit [174] Bedauren, daß Sie niemals so viel Gutes würden thun können, als ich in Ihrer Vorstadt that. – Nicht so viel Ausgaben an Geld; aber um so viel mehr an edlen Gesinnungen und Empfindungen! – Verweiden Sie, mein Kind, just die Fehler, die ich beging und ertragen Sie mit Güte alles, was Ihnen an Bekanten mißfällt, oder nicht mit Ihnen stimmt, so wie Sie die Verschiedenheit der Gesichtszüge ertragen. Ich möchte wohl für die edle Seele meiner Rosalia hinzusetzen: – Loben – und tadeln Sie nicht anders, als durch ;139;Kennzeichen der Hochachtung für schätzbare Personen aller Stände und durch Vermeidung aller Fehler in dem Ihrigen; – und halten Sie unverrückt an diesem Vorsatz. – Sie werden sehen, was Sie für eine reiche Erndte von Achtung, Einfluß und Vertrauen in den Herzen Ihrer Nebenmenschen daraus erhalten werden. Hätte nicht der Sturm einer heftigen Leidenschaft meine Seele von ihrer Bahn getrieben, so würd' ich diesen Plan befolgt haben. Nun bin ich auf eine Insel verschlagen; bin meines geretteten Lebens froh; und meine würkende Phantasie, giesse Freuden aus und geniesse viele; – hin [175] auch mit dem rechtschaffnen Beamten Mooß überzeugt, daß man in einem kleinen Kreis mehr Gutes thun kann, als oft in einem grossen. – Mit diesem Mann habe ich mich nun fünfmal in lange Unterredung eingelassen. Der einfache und so ganz seinem Amt ergebne Gang seiner Ideen; die Zufriedenheit mit der Vorsicht, die ihn zum Landbeamten bestimmte; daß er der Beste seiner Mitbrüder seyn wollte und daß seine Bauern die glücklichsten von der ganzen Gegend werden sollten, – dies, mit einem Gesicht voll Herz und Eifer gesagt, gab mir eine neue Art von Freude zu fühlen.

Ich schickte meinen gelehnten Bedienten und seine Frau – wieder nach S** zurück – und nehme eine Tochter des Herrn Mooß zu mir, ein ganz reines, kunstloses Mädchen von sechszehn Jahr. Sie hieß Mata, und ist mir auch deswegen lieb. Ein guter und schöner Sohn von funfzehn Jahren wird bey mir zeichnen und französisch lernen. Sie können nicht glauben, was für ein großes Talent in dem jungen Menschen liegt, und wie einnehmend das Gemisch war, feuriger Begierde, alles was ich sagte, zu hören, meinen Bleystift, [176] da ich etwas zeichnete, zuzusehen; und der Ehrfurcht, die ihm der Vater gegen mich auflegte, daß er sich nicht nähern durfte, wenn ich da war. Aber ich bemerkte seine Unruh, das Hin- und Hergehen, das Blicken nach dem Vater, nach meinem Papier und meiner Hand, als ich die Idee des Wollingschen Hauses entwarf. Ich fragte ihn, ob er gern zeichnen sähe? Er näherte sich so eilig, bog sich gegen den kleinen Tisch, an dem ich saß, mit Erröthung; Kühnheit im Aug – und mit zagenden Geberden, verschlang er alle Züge und sagte: »O, wenn ich Bäume und Häuser so zeichnen könnte, was gäb ich!« ––

»Hat Er einmahl einen Versuch gemacht?«

»Oft! aber sie sind mir verleidet worden,« antwortete er, mit einem Seitenblick auf den Vater. –– »Wie so?« erwiderte ich, und sah auch den Beamten an. – Herr Mooß sagte lächelnd: »Ja anstatt zu schreiben, verdarb er das Papier mit Kritzeleyen und die Wände im Haus mit Kohlen und Zimmermanns Röthel. – Da gabs Strafen, bis ers bleiben lies. Endlich habe ich ihn Feldmessen gelehrt, nur daß er was mit dem Bleystift thun kann.« ––

[177] Wie dem Vater, der Ausdruck, Strafen, bis ers bleiben ließ, – entfiel, sah der junge Mensch zur Erde. Theils Beschämung, theils Unmuth über die Erinnerung des Mißhandelns und Schmerzes über eine gewiß unschuldige Freude; und Zweifel wegen der Folgen, die dies Gespräch haben würde, alles wechselte in ihm ab. – Seine Finger, die Muskeln seines Gesichts, zogen sich zusammen. Er dauerte mich, und ich eilte mit der Frage: »Würde es Ihn freuen, wenn ich Ihn alles Zeichnen lehrte, was ich kan?« –

Hastig trat er gegen mich, mit Glut jugendlicher Begierde im Gesicht. – »O, Madame, wie sehr freute michs! Vater!« – mit flehender Stimme und Augen – »Herr Mooß! sagte ich, Sie erlaubens, und ich sorge für Alles, was dazu gehört« – Er willigte ein, und ich sah beyde glücklich. –

Sie glauben doch, Rosalia, daß ich meinen Jugendfleiß segnete, der mir dieses Talent erwarb, wodurch ich einen schätzbaren Jüngling, über erlittne Schmerzen tröste, eine edle Wißbegierde in ihm stille, langgewünschte und beraubte Freuden gebe – und dem Vater seine Erziehung erleichtere. – Schicken [178] Sie mir bald, recht bald die Kästen aus meinem Hause zu. – Ich habe in meinem Schlafkämmerchen Platz für meine Bücher. Der junge Wilhelm Mooß hat sich unsägliche Mühe bey Erbauung meiner Zimmer gegeben, und giebt sich noch viel, bey dem Hofhause selbst. Alles, was ich zeichnen kann, wird er in kurzem wissen. Er will Landschaftmahler werden und auch Personen mahlen. »Aber, sagt er, immer nur nach Ihren Mustern.« – Der ältere Sohn hilft dem Vater in seinem Amt – und Herr von Mohnberg hat solches ihm auch zugesichert. Bey dem Schulmeister lernen sie Latein, Schreiben und Rechnen; bey dem Vater Historie und den Anfang der Rechtsgelehrsamkeit; und wie er mir sagt, auch so viel, als ihm von Wolfs Weltweisheit ordentlich im Kopf blieb. – Der dritte Sohn von dreyzehn Jahren will nichts anders als Bauer werden – und ist schon zweymal davon gelaufen, weil man ihn mit Schlägen zu dem Latein zwingen und von Pferden und Ochsen abhalten wolte. Er soll nun seiner Neigung nachgehen und mit Wolling die gute Landwirthschaft erlernen. Ich habe mein Vermögen durchrechnet; es bleibt mir viel, sehr [179] viel für Vernunft und Phantasie übrig. – Und o Gott, wie viel kann ich noch glückliche und vergnügte Menschen machen! Aber von hier geh ich nicht mehr. Das Leben meines Herzens erneuert und verschönert sich alle Tage. – Mögen Sie, theure, liebe Rosalia, eben so dem daurenden Glück, Ihrer Bestimmung entgegen gehen! Möge Pindorf das seinige finden, wo er es sucht! – – –

Rosalia! diese lezte Zeile bewegte mich stark. Ich bin vor mein Zimmer hinaus gegangen. Es ist Vollmond. Mein erster Blick war gegen die Stadt W** und dann auf die große Gegend der schönen schlafenden Natur, ganz mit dem sanften Licht übergossen. – Die Hütte meiner Wollinge, die Trümmer der Mauern, alles hatte den Reiz der Zufriedenheit und Ruhe. Mein Aug erhob sich zum weiten Gewölbe des Himmels; und so viel Strahlen es fassen konnte, so viel süsse Beruhigung floß in mein Herz – und glücklich geh ich schlafen. Adieu. ––

[180]
74. Brief
Vier und siebzigster Brief
Madame Guden an Rosalien.

Dank, vielen Dank, meine Rosalia, für die schnelle Uebersendung meiner verlangten Kisten. Alles ist gut angekommen, und just den vierten Tag, da meine kleine phantastische Wohnung zwischen den Mauern des alten Schloßgangs fertig war. Denn da ich alles nur von doppelten Brettern machen ließ, und die Leute doppelt bezahlte, so ging es geschwind. Auf das Trocknen der Wände durst ich nicht warten, da Sonne, Luft und Mond – schon zweyhundert Jahr auf allen Seiten da geherrscht haben. Aber da sie ganz rauh und unsauber waren, so hab ich sie mit dünnen Tannenbrettern bekleiden laffen. Diese will ich nach und nach mit guten Zeichnungen der hiesigen Gegenden verzieren und an einer edlen Figur in die einsamen Spaziergänge soll es nicht fehlen. – Vortreflich war ihr Gedanke, mir einen so großen Vorrath von allerley Papier und [181] Saiten-Rollen für mein Klavier zu schicken; denn es wäre mir in Wahrheit sehr übel gegangen, wenn hier einige gesprungen wären. – Sie hätten das Staunen sehn sollen, worin die guten Kinder meiner Wollinge geriethen, als sie das erstemal mich spielen und singen hörten. Ich that es Abends bey einem schönen Untergang der Sonne. Alles war Ruhe. Ein heitrer Himmel, nur gegen Westen einige hell- und dunkelgraue Wolken mit rosenrothem Saum eingefaßt. Wir hatten auf der Ecke des Bergs, unten an meinem Zimmer, zu Nacht gegessen. Ich ging weg. Die guten Kinder dachten, daß ich gleich wiederkommen würde. Aber ich machte die Thür auf, die ich auf ein lediges Stück Mauer über dem Bogen, gegen den zerfallnen Thurm habe richten lassen, das mir nun eine Art Altan giebt; rückte da mein Klavier hin und fing an ganz leicht und sanft zu spielen. Endlich stimmte ich mit einer zärtlichen Arie ein. Anfangs hört ich sie noch reden, aber dann wurde es ganz still, und sie schlichen die alte Thurmtreppe hinauf. – Mit Liebe, mit Bewunderung sahn sie mich an und horchten. Meine Stimme war gewiß zärtlich und rührend,[182] als ich noch allein sang, gegen W** hinblickte und wünschte dort gehört zu werden. – Aber gewiß, die Würkung, die ich auf die reinen, mir ganz ergebnen Herzen meiner Wollinge machte, gab meinem Ton noch mehr Seele. Sie wissen, daß ich immer mit Recitativen anfange – und viel Empfindung darinn ausdrücke. Ich bemerkte, daß dies mein Talent eine neue Quelle von Wohl für die Familie wurde; und die junge Mooß kniete mit Entzücken neben mich, athmete kaum, ihre Augen auf meinen Mund geheftet, eine schöne glänzende Thräne darinne; vielleicht die erste Thräne der Zärtlichkeit, die jemals ihre Augen benetzte. Ihre Lippe bewegten sich sympathetisch mit den meinigen. Ich beobachtete früh genug, daß ihre Empfindungen durch die Harmonie meiner schönen italienischen Arien stark erregt hatte und wollte sie zu ihrem Besten benutzen; sang also gleich melodisch einige Strophen aus Kleists Lobgesang auf Gott. Hier weinte Wolling mir einige Zähren Beyfall zu – – und ich winkte dann den Kindern, näher zu kommen, und wies ihnen das Klavier offen. Vorzüglich freute es sie, die Hämmerchen [183] hüpfen zu sehen. – Aber meine Meta Mooß gab mir Nachdenken. Sie war auf ihren Knien geblieben, endlich an meinen Arm gehängt, wo sie innig zu weinen anfing und so voll süsser Unschuld und Liebe mich ansah, daß ich sie an mich druckte. –– »Liebe Meta! sagt ich leise, warum weinst du so?« ––

»Ach! mein Herz ist so klopfend und so unruhig worden; Sie singen so, daß es süß ist und doch traurig.« ––

Ich wollte keine Frage mehr darüber thun, sondern sagte nur: »Möchtest Du auch singen lernen?« – Tausendfach küßte sie meine Hand. – Ihre ersten Töne hab ich gehört. Es wird die reinste, gefühlvollste Stimme werden, aber schwach. Sie will auch niemals Andern singen, nur mir. – – Gute, gute Meta! wie sorgfältig will ich für dich seyn, so lang du unter mei nen Augen bleibst! – Aber ich selbst, so voll Liebe, so voll Ideen, die alle alle liebend sind, – diese Einsamkeit dabey, – ach! Rosalia, wenn dieser Meta Empfindsamkeit genährt und unglücklich gemacht würde! – Ich will suchen, ihr eine Leitung zu geben. – Gott, Natur, Tugend, Freundschaft, schöne nützliche Arbeiten, sind [184] die Zweige von Gefühl und Kenntnissen, die ich bey ihr unterhalten will. Ganz einfach will ich ihr alle Ideen geben; und was sie von mir lernt, soll sie ihre zwey jüngere Schwestern wieder lehren. – Mir hingegen muß sie Unterricht in hiesiger Landwirthschaft geben, so viel sie von ihrer Mutter dazu angehalten wurde. Dieser Tausch von thätigen, guten Eigenschaften soll, hoff ich, eine herrliche Würkung auf das liebe Geschöpf machen – und sie muß Lottchens Vorbild werden; so wie diese Vorbild der kleinen Nanny seyn soll. Und mit dem Plane zu all diesem soll mein Sommer hingebracht werden. – Wollingshof, denn so laß ich das Gut nennen, wird bald da stehn. Es arbeiten sechzig Mann. Der schätzbare Beamte hat unvergleichliche Anstalten gemacht. Wir haben vier eigne Pferde und auch schon vier Kühe, denen wir auch nur von Holz eine Stallung ganz geschwind errichtet baben. Unser Glück traf gerad auf den Augenblick des Elends eines wackern Bauren, der die Wittwe seines Vorwesers geheyrathet und dessen Kinder treu erzogen hatte. Die Frau starb einige Wochen vor meiner Ankunft in Mahnheim. Der Hof war noch etwas [185] verschuldet, von dem ersten Besitzer, und eingefallne Mißjahre hinderten die Abzahlung. – Der Mann wurde von den Stiefkindern und Gläubigern zugleich gepreßt – und sah nichts vor sich, als ehster Tage den Hof zu verlassen und als Knecht zu dienen, weil er den Kindern die Schadloshaltung und den Auskauf nicht anbieten konnte. Der Beamte, der mich so voll Begierde, ein Guth zu kaufen, wie er sagte, auch voll Geld sah, that mir den Vorschlag, da einzutreten, die Kinder des ersten Bauren zu befriedigen und den zweyten zum Oberknecht von Wollinghof zu machen, weil er die Ackerstücke dieses Bauerhofs, die gerad an das für uns ausgemeßne Feld gränzen, in den Bestandbrief mit einschreiben wolle. – Das ist nun äußerst angenehm. – Ich setze einen ehrlichen Mann aus seiner Verlegenheit, habe mein Guth vergrößert und geniesse schon dieses Jahr die Freude, auf eigenem Boden mähen – und erndten zu sehen. – Ach! Rosalia, wie viel tausendmal könnte Menschen Gutes und Freude wiederfahren, wenn der, so einen guten Vorschlag zu thun hat, immer den Menschen anträfe, der ihn mit Vergnügen auffaßt und mit Eifer auszuführen bereit ist. – Herr [186] Mooß wollte den Streif Waldung, der zwischen dem Hause von Wollinghof und diesen neuen Feldern liegt, abhauen lassen, damit man von Mahnheim aus unsern Hof sehen könne. Aber ich und meine Freunde stritten dagegen. Wir wollen nicht von Vielen gesehn seyn; wir geniessen so auch inniger. –– O, wie bewegt würden Sie seyn, wenn Sie, da Sie nun Alles von dem Schicksal meiner Wollinge wissen, den so stark fühlenden Mann mich anblicken sähen, wenn er mich auf dem Bauplatz antrift, mit den Arbeitsleuten reden hört und meine Freude über den Fortgang sieht; – er dann noch zweifelnd dasteht, ob es auch wahr sey, daß hier auf dem Boden, den er vor neun Jahren mit Kummer betrat, nun Glück und Wohlseyn für ihn gegründet und angebaut werde; – wie oft Thränen des Danks und der Entzückung über die Wangen seiner Frau fliessen, und ich dann in ihren Augen und der Bewegung ihres Mundes ein stilles Gebet lese, daß doch nichts ihre Hofnungen zerstören möge; – die Sorgfalt, die beyde noch haben, sich nicht zu früh von ihren bedrängten Umständen zu entfernen; denn sie essen noch nicht bessere Speisen als bisher, nur [187] sättigen, glaub ich, thun sie sich mit weniger Furcht. –– Eine Kleidung hat jedes angenommen für sich und ihre Kinder. Diesen ließ ich Schuh machen; aber die guten Kinder waren sehr übel darin, weil es so viel härter war, als die Lappen, womit die Mutter ihre Füsse umwickelte. – Ich gab dann die erstern dem Schuhmacher für andre Arme zurück und ließ meinen jungen Wollingen recht weiche und weite Schuh verfertigen.

Sie können denken, daß all diese Züge meine Theilnehmung an der Familie vermehren, so wie sie meine Empfindsamkeit stärken. Ich habe einen schönen Platz auf der Seite des Walds, dem neuen Hause gegenüber, wo ich mit meiner Strickarbeit – und auch Bleystift sitze, und die Arbeit an Wollinghof, zugleich aber die Hütte oben, vor mir habe, wo meine Kinder wohnen. – Wie selig fühlte ich mich den Augenblick, da ich das erstemal diese Aussicht genoß, nachdem einiges Gesträuch weggehauen war, um den Platz des Gemüsgartens zu ebnen, und das alte Gebäu ganz sichtbar wurde; – da ich in einem Moment den Aufenthalt der leidenden Tugend – und den von ihrem künftigen Wohl betrachten [188] konnte – und mich, – mich von der Vorsicht bestimmt fühlte, die Belohnung ihres Ausharrens und ihrer Ergebung auszutheilen, Wie selig war ich dadurch! wie dankbar gegen Gott! –– Ich kann würklich alle Tage bey hundert Menschen zählen, die mich segnen. – Sechzig fleißige Handwerksleute, die es freut, Arbeit zu haben, ordentlich und besser bezahlt zu werden; Achtung, gute Worte, Schatten, gutes Bier und Brod zu geniessen. Alle Sonn- und Feyertage bezahl ich ihr Essen und Trinken in der Schenke zu Mahnheim. Da ist gewiß der Wirth und die Wirthin auch froh darüber. – Der Beamte, seine Frau und ihre acht Kinder lieben mich; unser Hofbauer und die seinigen auch. Dann unser Knecht und Magd und zehn Fuhrleute, eben so viel Taglöhner und meine Wollinge! – In meiner Jugend hört ich so oft ein zerfallnes Schloß, einen entfernten, einsamen Waldplatz, den Aufenthalt von Räubern und bösen Geistern nennen. Ich lebe seit einigen Wochen an einem solchen Ort und sehe da die besten Menschen, von so vielen Klassen um mich. ––

[189] Rosalia! werden Sie nicht müde, mich Gutes, so ich geniesse und finde, beschreiben zu sehen. Wie genau zählen wir dem Schicksal unsere Leiden nach! wie sehr wehklagen wir darüber! Ist es nicht Pflicht, eben so genau alles Wohl und jede Freude zu berechnen, die aus der Hand des ewigen Vaters auf die Tage unsers Lebens träufeln? – Träufeln, – sag ich? –– Ach bin ich nicht mit Gütern überschattet! geniesse ich sie nicht in vollem Maaß! Seit dem Tage, da ich in Ihrer Vorstadt ankam, bin ich immer ein Gegenstand der Liebe, des Vertrauens und der Achtung, von so viel Herzen gewesen. So oft wurde mein Name vor Gott mir Dank und Fürbitte genannt! Es ist mir viel, sehr viel, dieses zu denken. –– Ich! durch einen Blick meiner Augen, der dem Blick so mancher Rechtschaffnen begegnet, Vergnügen entstehen zu sehen; – Sie, meine Liebe, froh, einen Brief von mir zu erhalten; – meine Vorstädter glücklich, wenn ich sie grüssen lasse: – und ich seufze, wenn ich die Stadt W**, ansehe? – wie undankbar bin ich da! – Alle Wünsche meines Herzens, alle von meiner Phantasie kan ich vergnügen, edel vergnügen;[190] – einen nur versagten mir Umstände und Pflicht. – Und an diesem blieb meine Eigenliebe hängen? – Rosalia! ich will auch meiner eignen Empfindlichkeit gebieten. Ich will mich überwinden, um mich selbst schätzen zu können. Denn Alles, worüber Andre mich hochachten, ist mir nicht sauer geworden. Ich that es gern und leicht. Ich will was Schweres vornehmen; etwas, wofür ich mich scheute, und nicht Muth genug hatte, daran zu denken. Sie sollen Zeuge – und Richterinn seyn, ob ich es ernstlich meyne, und gut durchsetze. – –

Ich habe Leinwand gekauft und Tischzeug. Meine junge Mooß, Frau Wolling und ich, arbeiten daran; denn ich möchte das Nöthigste fertig haben wenn wir unser Haus beziehen. Diese Woche werden wir schon weit seyn. –– Rosalia! Sie müssen mich einmal besuchen; Sie müssen! – und dann mir ganz sagen, was Sie von uns halten. –– Vorgestern Abend hätte ich Sie gern da gehabt, als die Arbeitsleute da sassen, auf Balken, auf Steinen, auf Rasen und abgehaunen Baumstumpen; froh über das End ihres Tags, über Trank und Abendbrodt, so ihnen [191] ausgetheilt wurde. Ich fragte sie um ihr Vaterland, ihre Verwandte und ihr Schicksal bisher. – Von wie vielerley Arten sind die Zimmerleute, die Steinmetzen und Maurer! wie viel wahrer Sinn, einfache, gesunde Vernunft, Rechtschaffenheit und Witz kam zu Tage! –– Ich theilte die Freyzettel ins Wirthshaus zu Mahnheim selbst unter sie aus. Wie verschieden war der Ausdruck von Dank und Zufriedenheit! – Mancher Blick sagte mir auch, daß ihm meine Gestalt gefalle. – Sie wollten mir Alle ihre Reisen erzählen und es freute sie, daß ich begierig darnach schien. – Ich foderte zuerst den auf, der in Holland gewesen sey. Da waren unter den Zimmerleuten Einige, die sprachen von Flössern, mit denen sie den Rhein hinunter gefahren, beschrieben die Arbeit dabey, dann Schiffwerfte und Land und Leute; – ihre eigene Anmerkungen, die von einem Cameraden; die Fragen der Andern, die von Carl Wolling und die Erläuterungen darüber. – O, das war mir inniges Ergötzen. – Dann kam eine Beschreibung der Schweitz; und der diese machte, wandte sich bey dem Erzählen von der unermeßlichen Höhe und Größe der Berge, gegen [192] den, der das Meiste von dem schreckbaren Anblick des Meeres gesagt hatte, um ihm zu verstehen zu geben, daß er auch wunderbare Sachen gesehen und bemerkt habe. Die Maurer fielen da mit ein, und sprachen von den Tyroler Gebürgen. Andre erzählten wieder von Ungarn, den unabsehlichen Haiden, wo kein Berg, kein Baum, kein Haus auf wie weit zu erblicken sey. Wie vergnügt machten da die Tyroler das Lob ihrer engen Thäler und ihrer Berge! – Dann erhob Einer Schwaben und das Würtembergische, wo alle Berge zu ersteigen und alle Ebnen anzubauen sind. – Aber das Elsaß, die Pfalz! fing ein Andrer an, das sind Länder! – und dann von der Heimath, von Lehrjahren, von bösen Meistern, von schönen Meisterinnen u.s.w. Mit dem stolzesten Gesichtsausdruck redeten die, so lang in großen Städten gearbeitet hatten, Wien, Berlin etc. – Dem Steinmetz, welcher Straßburg gesehen, und sich also an Frankreichs Gränzen aufgehalten hatte, ging eigentlich ein Lächeln zufriedener Eitelkeit durch alle Züge. Dort macht man galante Arbeit, sagte er, ruckte zugleich seinen gerade ausgestreckten Fuß seitwärts, und setzte seinen Huth anders; [193] die Mädchen, die Rubertsau, alles war galant. Endlich stimmte er gar einen Elsasser Tanz an und machte einige Schwenkungen davon. Ein Zimmermann stümperte ein französisches Liedchen an. – Die Wahrzeichen der Städte, alles kam vor und nahm den Abend bis gegen neun Uhr weg, da sie endlich nach Mahnheim gingen. Ich sah ihnen lange nach und erquickte mich an dem Gedanken, einen Haufen vergnügter Menschen zu sehen und von edlen herzen umringt an meine Schlafstädte zu kommen. Möchten alle Müde so viel Ruhe, und alle Leidende so viel Wohl empfinden, als mit mir in mein Kämmerchen kam! – Es war zu spat, um meinen Wollingschen Kindern das versprochne Abendlied zu singen. Aber des Morgens hörten sie mich um desto länger. ––

Ich freue mich, Rosalia, daß Sie mir alle Ihre Briefe an die edle Mariane S**, und dieser ihre an Sie, auf einige Zeit anvertrauen wollen; besonders da Sie den Beweis darinn zu führen denken, daß ich viel Sympathie mit Ihrer würdigen Freundinn habe. – Mit Ihnen sympathiesirte ich ja schon lange. Es ist so ein süsser Augenblick [194] des Lebens, indem man sich zur Freundschaft hingezogen findet, daß er niemals vergessen werden sollte. –– Sie haben mir diese Empfindung so lebhaft gegeben, daß mir ihr Andenken auf immer bleiben wird. –

75. Brief
Fünf und siebzigster Brief
Madame Guden an Rosalien.

Segnen Sie mich, Rosalia! oder vielmehr segnen Sie uns Alle. Das Haus, die Scheune, alles in Wollinghof ist fertig, sogar die Schreinerarbeiten, alles; denn diese Letztern besorgte der Beamte in einem benachbarten Dorfe, das auch dem Herr von Mahnberg gehört und geschickte Handwerksleute hat. Frau Mooß hatte alles über sich genommen, was Betten, Küchen-und Hausgeräth anging. Es geschah dadurch ihr und uns ein großer Dienst, denn sie reiste nach der Stadt W**, um einzukaufen und konnte zugleich ihre Verwandte besuchen, die sie lange nicht gesehen hatte. Ich bemerkte an ihr Freude und Verlegenheit, [195] als ich sie bat, mir diese Gefälligkeit zu erweisen, und lange dauerte es, bis die gute, redliche Frau mir gestand, ihre besorgliche Mine komme daher, weil sie einen Verwandten dort habe, dem sie schuldig sey; weswegen sie auch schon einige Jahre nicht in die Stadt gegangen, weil sie nicht im Stande gewesen, es abzutragen. – Der Harm der Mutter, der ehrliebenden Frau, des edlen, uneigennützigen Weibes, alles lag in ihrem Gesichte. Ich hatte unsägliche Mühe, sie dahin zu bringen, daß ich den Abtrag ihrer Schuld besorgen durfte. Wie reichlich hat ihr dankbares, rechtschaffnes Herz die Zinsen davon abbezahlt! indem sie Alles auf das Beste besorgte. Ich konnte den Mann ohnehin nicht bewegen, meine Hülfe anzunehmen, als durch den Ausweg, ihn zum Rechnungsführer des ganzen Baues und meiner Renten zu machen, und darüber eine jährliche Besoldung zu bestimmen, die er nun als auf so viel Jahre zum voraus empfangen betrachtet. Wie gern willigte ich in diesen Gedanken, der ihn von Verbindlichkeit und mich von Besorgnissen befreyte. Wie sehr ich dabey die strenge Beobachtung seiner Pflichten verehre, kann ich [196] nicht genug ausdrucken; da er mir nicht im mindesten deswegen gefällig zu seyn suchte und ganz genau auf die abgemeßne Gränze unsers Guths schaute, so daß nicht eine Spannebreit mehr auf unser Feld und Waldung kam, als im Kaufbrief aufgesetzt war. Ich achte dies als einen herrlichen Zug.

Meine Wollinge kämpfen mit der Idee des Glücks, ich seh es; denn oft ist mehr Ausdruck vom Schmerz, als Freude, in ihren Augen, wenn sie das nun recht gut dastehende Haus anblicken. Alles ist schon so ausgetrocknet, daß wir in acht Tagen darinn wohnen werden. Das Haus ist sehr breit, aber nur zwey Stockwerk hoch; keine doppelte Zimmer, aber auf beyden Seiten des Thors vier geräumige Stuben gegen Mittag, und gegen den Hof zu, einen breiten offnen Gang, über welchem in dem zweyten Stock auch einer herumläuft, der auf Pfeilern ruht. Da konnte die Luft alles recht bald trocknen. Seit vierzehn Tagen wurde bey offnen Fenstern in allen Zimmern Feuer angemacht, und in der Küche gekocht. – Vorgestern hat der Beamte alles Hausgeräth in der Nacht herführen lassen, weil, wenn alles an Ort und Stelle [197] steht, und es lauter einfach aussehende Sachen sind, es nicht so viel zu seyn scheint, als wenn es auf Wagen herbeygeführt und abgeladen wird. – Dieses Ansehen von vielen Sachen wollte ich der feinen Empfindung meiner Wollinge ersparen, und lasse ihnen deswegen das Haus nicht sehen, bis alles eingerichtet ist. Meine Wohnung, –– die werden Sie, hoff ich, selbst sehen, wie das Uebrige. ––

Herr Wolling spielt die Flöte recht artig zu meinem Klavier, und ich versichre Sie, daß unsre Abende sehr schön sind. ––

Unser Gemüsgarten steht voll Wintervorrath. Der Baumgarten ist schon völlig zugerichtet damit man die von Wolling gezognen Bäume, die er verkaufen wolte und andre, die ich kommen lasse, einsetze. Alles in Ordnung geräumt, alles zu kleinen Verzierungen vorbereitet. Schmerzhaft war mir der Abschied, den die Arbeitsleute nach und nach nahmen. Ich schenkte jedem noch ein Stück Geld und Alle verliessen uns mit bewegtem Herzen und ihrem Segen dabey. ––

Meine Meta trauerte alle die Tage darüber. Ich fragte sie, warum? »Ach, sagte sie, die Leute waren so glücklich und so gut [198] um Sie herum; vielleicht werden sie bald wieder elend, und bös dabey; – und beydes jammert mich.« ––

Einer hatte noch den letzten Sonnabend, da Alle des Abends um mich herum aßen, so herzlich gesagt, sie wünschten alle, daß ich eine Stadt zu bauen hätte; sie würden gern weniger Lohn nehmen, nur in meinen Diensten zu seyn. – Mit diesem war das liebe Mädchen gar sehr zufrieden und hoft auch Gutes für ihn, weil er dadurch sein Gefühl für Tugend angezeigt hatte. ––

Ich glaube, Rosalia, es ist Ihnen lieb, daß ich noch diese Tage über verzog, diesen Brief abzuschicken, weil Sie nun zugleich hören können, daß wir würklich in Wollinghof wohnen. ––

Herr Mooß, und seine gute Frau hatten alles so wohl besorgt, daß nicht das geringste, so zu einer Landhaushaltung gehört, vergessen war. Alles gut, alles nett und simpel, wie ich es verlangt hatte. Nirgends der Schein von Pracht noch Ueberfluß. Auch nirgends nichts schlechtes, nichts häßliches; aber überall nur, was hingehörte und nöthig war. –

[199] Ich redte mit Wolling ab, daß wir seine Frau hindern wolten, einen förmlichen Abschied von ihrer Hütte zu nehmen. Sie ist nicht ganz wohl. Eine Erschütterung schadte ihr zu sehr. Ich bestelte also ein Abendessen für uns und für das Gesinde, im Wollinghof. Meine Meta besorgte dies und die Zubereitung der Betten, mit den zwey Mädchen recht gut. Es sollte niemand Fremdes bey uns seyn. Mein Mahnheimer Bauer hatte zwey Glucken setzen müssen, die von sehr schöner Art sind. Die Küchelchen sind vor zwey Wochen schon ausgekrochen. Beyde Mütter wurden aber mit ihren Jungen gewöhnt in zwey großen Hühnerkörben zu fressen und zu schlafen. Diese ließ ich bringen, sagte der Frau Wolling ganz ruhig, unser Bauer brächte den Abend zwey hübsche Hennen mit ihren Küchelchen, die wolten wir den Kindern im Hofe auslaufen lassen, um zu sehen, was für Freude sie haben, und ob ihre Vorliebe für ihre alten Hühner sich da stark zeigen würde. – Sie war sehr mit dem Gedanken zufrieden; ich glaube auch deswegen, weil sie doch auch etwas neugierich auf das Innere vom Wollinghof seyn mochte, –– Wir gingen also bin. [200] Die Körbe standen im Hofe, die Hühnchen piepten um Fressen. Die Kinder bewunderten die schönen Thierchen, waren aber gleich wegen des Hungers beängstiget und Carl wolte laufen, um was aus der Hütte zu holen. Ich winkte da meiner Meta, die schon unterrichtet war und gleich den Kindern zurief, sie möchten mit ihr kommen, sie wolle ihnen was geben. Sie machte die Vorrathskammer auf, und gab jedem ein hölzernes Schüsselchen voll Hühnerfutter. – Frau Wolling blickte hinein, wurde roth, ihre Augen fülten sich mit Thränen, die sie aber wieder zerstreute, und ihren Kindern emsig zusah, ohne ein Wort zu reden. – Indessen ging ich mit ihrem Mann an eine Gitterthür, die unter meiner Wohnung in den Baumgarten führt, und bat ihn, seine Charlotte zu mir in das nächste Zimmer zu bringen, da die Kinder und Meta im Hofe waren und die erste Bewegung schon in ihr angefangen hätte. Er konnte nicht sprechen, sondern machte mir eine Verbeugung. Meta wußte, daß sie die Kinder aufhalten sollte, bis man sie rufen würde.–Die beyden Lieben traten wankend in das Zimmer, wo ich sie erwartete. Ich nahm Frau Wolling bey der Hand und [201] leitete sie gegen eine von den Polsterbänken, die in den zwey Fenstern stehen, setzte mich da dicht neben sie, nahm dann ihre beyden nur so hinhängenden Hände in meine, küßte sie. –– »Nun, meine theure Charlotte! sey mir willkommen in Deinem Hause. – Gott segne diese ersten Augenblicke, und lange künftige Jahre, mit der Tugend Deines vergangnen Lebens – und mit dem Glück, so Du verdienst.« –

Sie sank an mich; ich umfaßte sie. Zum Glück weinte sie laut. Ich vergoß stille Thränen. – Der Mann betrachtete uns, mit gedrängtem Herzen, – stürzte mit ausgebreiteten Armen vor uns hin und umfaßte so, stumm, aber mit dem stärksten Ausdruck männlicher Freude und Liebe uns zugleich. –

»Charlotte! van Guden!« – war alles, was er nach einigen Augenblicken sagen konnte. – Dann faltete er seine Hände. –– »Gott! – gütiger Gott!« – seine Lippen bewegten sich noch still. ––

Rosalia! niemals ist reineres Dankopfer zum Himmel gestiegen, als in den Blicken dieses edlen Mannes, die er aufs höchste erhob. Die Abendsonne beleuchtete ihn; alle [202] Züge seines Gesichts voll Redlichkeit, voll Ergiessung seiner Seele. – Ich hatte mich zu dem Auftritt vorbereitet, ich konnte beobachten.

Ich sagte seiner Frau und zeigte auf ihn: »Sieh, liebe Charlotte! dies ist die Einweihung Eures Hauses. Gott sey Dank daß er mir diesen seligen Anblick gönnte.« ––

Hier ergriff Wolling eine meiner Hände und eine von seiner Frau, küßte sie wechselweis, während daß Thränen über seine Wangen flossen. Seine Frau küßte mich nun auch – und ich nahm mein Schnupftuch, wischte ihr und Wollings Gesicht damit ab, faßte es zusammen: »Ich will sie verwahren, diese vereinigten Thränen Eurer Herzen. – Zufriedne Tugend und Freundschaft vergossen sie; – es können keine schönere geweint werden.« ––

Dies gab ihrem Gefühl eine neue Wendung. Er blickte mich und sie an, deutete auf mich: – »Unsre Mutter! unser Haus!« – küßte nochmals meine Hand! – »edle, großmüthige Hand! ich verehre, ich segne dich. Gott! wird dich belohnen.« – Und da gab er sie Charlotten zu küssen.

[203] Ich sagte: »Meine Kinder, Euer Dank und Segen ist mir eben so werth, wie Euer Glück. Ich hoffe, daß wir lange beysammen leben werden. Gott hat uns zu diesem Vergnügen geleitet, nun wollen wir es geniessen. Heut Abend hab ich die Küche besielt; Morgen muß Frau Wolling die Mühe über sich nehmen;« – und damit stund ich schnell auf und ließ sie beysammen allein, wo nun Wolling seiner Frau sagte, daß wir da blieben. – Die beyden Tische, so links und rechts an dem Thorweg an der Mauer fest sind, die man zu Hausarbeiten und zum Essen in der schönen Jahrszeit herunter läßt, wo an dem einen das Gesind die Bänke von der Seite hinstellt, und wir auf der andern, unsre hübschen Strohstühle: – Diese Tische waren gedeckt, und mit etwas Milch und Mehlspeisen besetzt. Carl mußte seine Eltern zum Essen rufen. Ich, Meta, Lottchen und Nanny sassen auf einer, Wolling, seine Frau und zwey Söhne auf der andern Seite, wo sie auf den Gesindetisch sehen, und durch den Blick, als Hausherr und Hausfrau, Ordnung halten und Befehle geben konnten. Frau Wolling aß wenig. Es war mir lieb und sie [204] hatte große Freude über ihre zwey ältern Kinder daß die noch mit Meta in die Hütte gelaufen waren und ihre vier Hühner geholt hatten, damit diese auch im schönen Hause schlafen und Morgen gleich die neuen Hünchen sehen könnten.

Nachdem das Gesind aufgestanden und die Kinder noch ein wenig herumgelaufen waren, sagt ich: »Charlotte du mußt mich in mein Zimmer führen, Herr Wolling leuchtet uns.« – Das geschah und Meta legte indessen die Kinder zu Bett. Carl schläft an dem Arbeitszimmer seines Vaters, das gerad am Thor ist und ein Gitterfenster in den Thorweg hat; die Andern am Schlafzimmer der Eltern. – Den andern Morgen kamen die lieben Geschöpfe alle vier mit Vater und Mutter, und brachten mir Blumen und dankten für die guten Betten. – Ich sagte Carln, er möchte die Flöte holen, wir wolten sehen, wie mein Klavier hier lautete. – Ich unterbrach hierdurch neue Aufwallungen der Frau Wolling. – Den andern Tag wars Sonntag; wir gingen nach Mahnheim in die Kirche und nahmen den Beamten und seine Frau mit uns zurück. Frau Wolling machte die [205] Hausfrau mit vielem Anstand. – Nachmittags kamen alle Moosische Kinder, und gegen Abend unser Bauer, der die Feldarbeiter ansagte – und mit Wolling herumging. –– Der ältere Sohn des Herrn Mooß will sich nun auch darauf befleissen, daß Nutzen und Zierlichkeit verbunden werde; nichts ändern, nichts ausreißen. – Aber hie und da einen Rasen oder Obstbaum setzen und etwas düngen, daß er wohl fortwachse; die Hecken schneiden, für die Wege sorgen. ––

Unsre Entwürfe für den Berg sind gar herrlich und ziemlich einfach dabey. Eine Phantasie, die ich bey der Form unsers Daches angebracht haben wollte, ist Ursach, daß wir eine köstliche Entdeckung machten. Man brauchte einige Stämme von Natur gebogenen Holzes; die mußte man im ganzen Wald umher aufsuchen und gerieth auf eine schmale Höhe des Bergs, wo man ihrer viele fand, die man alle abhauen ließ um sie nachmals zu Wagnerarbeit zu verkaufen. Dies gab Platz zu einem neuen Spaziergang und zeigte uns auf einmal, an einem kleinen Absatz, den diese Höhe hat, etwas Sumpfiges und dann eine beträchtliche Wasserquelle, die von oben kam, [206] in diesem Absatz sich ausbreitete und auf der Seite mühsam auslief. – Diesen Sumpf heben wir aus, werfen Steine und Letten in das Bett des Bächelgens, raumen oben die faulen Bäume weg und dürfen nur an einem Platz einen großen Stein legen, so haben wir einen Wasserfall, zwanzig Schuh hoch und oft über eine Elle breit, der in das nun hübsch besorgte Becken sich ergießt und dann in das Thal über schroffe Felsenstücke an diesem und jenem Ort hinunterfließt. – Dies wird ein Theil von unserm Gebieth, welchen mancher Fürst gern mit Tausenden bezahlte; und ich bekams so leicht und in äusserster Schönheit. – Gönnen Sie mirs – und wünschen Sie mir Glück. – Adieu Rosalia.

[207]
76. Brief
Sechs und siebzigster Brief
Madame Guden an Rosalien.

Vergeben Sie mir, liebe Rosalia, wenn ich Ihren Bitten, Ihren Wünschen widerstrebe und fest, unbeweglich, hier auf dem Berge bleibe, der die Sinnbilder meines vergangnen und gegenwärtigen Lebens trägt. – Auf einer Seite Trümmern eines hochaufgebauten, weiten Entwurfs von daurendem Glück; – auf der andern, eine neue friedliche Hütte, voll redlicher Herzen, die mich lieben, deren Wohlstand und Vergnügen das selige Werk meines Herzens ist; – ringsum Ruhe und Güte der Natur. – Nein! mein Kind, ich geh nicht weg. – Ich hab Ihren Brief unter dem halben Dach einer kleinen Nußlaube gelesen, die Wolling hier umbog, weil er mich oft dahin gehen sah. – Ich habe da einen weiten, schönen Himmel, –– Kornfelder des Thals, Anhöhen mit Wäldern bedeckt, einen einsamen Mayerhof und die Landstrasse vor mir, die nach der Gegend [208] führt, wo Sie wohnen; Sie, die ich für die Erquickung segne, die ich in Ihrem Umgang genoß; – wo meine Vorstädter wohnen, deren Wünsche mich hieher begleiteten. – Ich fühlte, da ich Ihren Brief las, mit Rührung jeden Ausdruck Ihrer Liebe. Ich sah jedes Bild Ihres Vergnügens, das Sie mir als Geschöpfe meiner Gegenwart in Ihrer Stadt vorzeichnen –– und ich empfand auch ganz deutlich das süsse Wallen, welches immer meine Brust ergriff, wenn ich Sie, oder Eins von den armen Familien erblickte, denen ich Gutes gethan hatte. – Mein Auge sah thränend gegen den Himmel hin, der Sie und die lieben Leute dekt; – und der Gedanke, meiner Rosalia, die so voll wahren Gefühls ist, Freude geben zu können, erhob meinen Willen, auf einige Augenblicke, zu dem Vorsatze, zu Ihnen zu gehen. Denn gewiß, meine Liebe immer war mein Wille Gutes zu thun, feurig und eifrig. – Aber der Abend kam; ich ging zurück, nachdenkend über Ihren Vorschlag. An dem Ende des Wegs, zwischen den Buchen, sieht man rechter Hand die Ueberreste des alten Schlosses, und linker Hand den Wollingshof. – Der Mond schien [209] zwischen dem Thurm und der einfachen hohen Mauer auf mein liebes Bauerhaus und beleuchtete just meine Fenster, während ich in dem Schatten ging den der zerfallne Thurm warf. Eine unnennbare Empfindung machte mich stillstehn. Das melancholische Bild des zerstörten Schlosses, dem sogar der Mond mit seinen sanften Strahlen, nichts, als die blasse Erleuchtung eines neuen Todtengewölbes gab, die geworfenen Schatten schwärzer färbte; hingegen sein holdes Licht ausgebreitet über die Wohnung meiner Wollinge ergoß. – Ich sah die Aeste der bey dem Bau des Hauses geschonten Birken, hin und her wanken. Hinter mir säuselte der Wald – und vor mir ein kleines, aber angenehmes Getöse von dem Springen der Kinder meiner Freunde und dem Geschwätz des Gesindes im Hofe. – Alles dies durchdrang mich. – Rosalia! stellen Sie sich hin an diesen Platz mit meinem Herzen und meinen Erinnerungen; dann werden Sie vergeben, daß auf dieser Stelle mein Wille, zu Ihnen zu kommen, sich schwächte und erlosch. –

Nein, ich will nicht mehr an Otte gehen, wo große Bedürfnisse und große Entwürfe entstehen; wo Kräfte und Jahre des Lebens [210] dazu verwandt werden – und Feinde und Sturm alles niederreissen und – Todtenstille, Todtenjammer geben. – Unter dir, kleines niedriges Dach, – beschränkt wie du, – leicht erfüllt wie du, – sind die Wünsche unsrer Tage; nützlich und rein, wie der Thau, der das Gras unter meinen Füssen befeuchtet, sind unsre Arbeiten und Absichten dabey. – Die erste Wahl, die ich in dem großen Vorrathshause von Glücksideen traf, hat mich auch auf eine Anhöhe geführt, die mir die schönste Aussicht zeigte. Ich gründete, ich baute auf, und was ist daraus geworden? – Schutt! unter dem beynah ich selbst begraben wurde. – Alles Reitzende, so ich vor mir sahe, gehört Andern. – Der edelmüthige van Guden bot mir Schmachtenden die Hand – und führte mich zu einer erquickenden Quelle. Meine Seele erbolte sich bey dem Genuß seiner Güte und bey übender Tugend. Aber noch einmal ging ich nach der Zaubergegend; glaubte noch einmal an Glück im Grossen – und wurde durch Schmerz aus meiner Täuschung gebracht. Fremdes Elend hieß mich meines vergessen. Mein Herz heilte durch die Hülfe, die ich Andern gab. Ihre Freundschaft [211] streute Blumen auf meinen Weg – Eigensinniges Anhängen an dem ersten Bilde meines Glücks führte mich von Ihnen und der anfangenden Ruhe, die Vernunft und Güte mir gaben. Aber auf dieser Reise fand ich den letzten Kummer und auch bald darauf eine neue Spur der besten Freuden des Lebens, Freuden der Natur und Menschheit. Der Anbau meines Hofes und das Wohlergehn meiner Wollinge; mein Herz, alle seine Wünsche sind erfüllt. Es wäre Unsinn, es wäre Undank, wenn ich noch nach einer Abänderung mich sehnen könnte. Sie meine Liebegenossen, eh Sie mich kannten, in dem Krais Ihrer Freunde alle Zufriedenheit, die Sie verlangten. Es sind recht sehr würdige Personen darunter. – Ihre nahe Verbindung mit Clebergen, sein Glück, Ihre Pflichten und Beschäftigungen, können Ihnen wenig leere Stunden, wenig leeren Raum, in Ihrem Herzen lassen. Ich weiß wohl, wie innig Sie lieben und begehren. Ich weiß auch, wie schwer Ihnen abzusagen ist. – Aber wir wollen beyde unsere Bestimmungen erfüllen. Ihr Weg ist einfach und gerade gezeichnet. Es führte Sie nichts ab, als daß Sie bald in [212] diesem, bald in jenem angenehmen Landhause Besuch machten. Dies haben Sie bisher unter der Leitung Ihres Oheims gethan; – nun in Zukunft in Gesellschaft Ihres erwählten Freundes. – Mein Pfad war gleich etwas gewunden; – und dann wollt ich mir selbst eine Bahn machen, die mich in gefährliche Gegenden brachte und sich nun mit dem schönsten Ruhplatz endigt. – Meine Fähigkeiten sind nach dem Maaß ihrer Anlage und meines Schicksals genugsam angebaut. Ich habe Kenntnisse von Wissenschaften und Künsten, habe Menschenwelt genug gesehen, um jetzo Gottes Welt desto besser zu geniessen. Lassen Sie mich hier und opfern Sie meiner Ruhe den Wunsch nach meinem Umgang auf. Sie sollen Briefe genug von mir erhalten. – Meinen Vorstädtern hab ich gegeben, was sie bedurften, – Hülfe und Anweisung. – Glauben Sie mir, die Gewohnheit des Wohlstands und die Uebergabe der Aufsicht über die kleine Stiftung, so ich machte, hat schon Aenderung in den Gesinnungen bewürkt und die ersten Schritte des allgemeinen Gangs der Dinge haben schon angefangen. Meine erste Erscheinung war als Wohlthäterin. – Jetzo [213] wär es als Gesetzgeberinn oder Oberaufseherinn. Nein, Rosalia, ich wohne niemals mehr in Ihrer Stadt. – Besuchen, ja! – Aber nicht länger, als höchstens vier Tage. Wenn Sie mir sagen wollten, so würde mir es auch mit den Wollingen gehen; – Nein! – da nicht! – sie sind zu einsam, zu selbstständig. Da bleiben Gefühle und Ideen fester. Der Anblick fremden Vergnügens, und Leidenschaften kommen nicht zu uns. Also bleiben auch Begierden und Bestrebungen nach ihrem Genuß entfernt. Die ersten Züge ihrer Erziehung liegen doch auch in Beyden, und ich glaube nicht unrecht zu schliessen, wenn ich vermuthe, daß die Erinnerung dessen, was beyder Väter sie hatten leiden machen, einen tiefen, bittern Gram gegen alle Menschen zurück ließ, die mit einigem Ansehn oder Gewalt in der Welt bemerkt sind; und daß ich im Gegentheil etwas von der zärtlichen Anhänglichkeit erhalten habe, die sie für ihre gute Mutter hatten. Kleine, ganz kleine Nebensachen würken mehr, als öfters Haupttriebfedern thun, und dann prägt die Lage von Wollinghof auf liebende, angebaute Herzen ein so süsses, einnehmendes Bild, an das [214] man sich auf Zeit Lebens anheftet. Kommen Sie künftigen May mit Ihrem Cleberg zu uns. Ich kann Ihnen ein artig Zimmer geben; und da sollen Sie mich als eine glückliche und geschickte Landwirthinn finden. Denn wir wollen hier ein Muster von Landhaushaltung aufrichten. Wir machen ganz still alle möchliche Proben von Frucht- und Futterbau. Milch- Butter-und Käsenutzung wissen wir schon recht schön. Obstbäume sind die alte Meisterkenntniß von Wolling. Gemüs pflanzen wir nur so viel, als wir brauchen. Ein Stück Wald haben wir ausgerottet, ein anders angepflanzt. Ich kaufe alle öconomische Bücher und mache Auszüge von dem, was wir brauchen können. Wolling bereitet das Erdreich und macht Versuche. – – Sie müssen kommen, und selbst das alles sehen – und die Kinder meiner Wollinge, die ich zuerst sah. – Und möchten Sie einen von den Blicken des Vaters sehen, wenn ich ohngefähr dazu komme, daß der Knecht oder eine Magd Rechenschaft von ihrer Arbeit geben, oder sagen: »ich bin an dem lezt gesäeten Stück vorbey kommen. O, Herr! – es stehr recht schön! Gott hats gesegnet. Wenn ers [215] behütet, so kriegen wir eine reiche Erndte,« – wie da sein redliches Gesicht glühet, was für Dank und Segen in dem Blick ist, den er auf mich wirft; oder eins von den Kindern an seine sich hebende Brust drückt, mich ansieht und dann gen Himmel. – – »Ach, mein Kind! werde rechtschaffen, und sey ewig dankbar!« ––

Niemals geht er, oder seine Frau, mit mir die Eiche vorbey, an der ich stehen blieb, als die Kinder ihnen entgegen liefen, niemals kommen wir dahin, ohne daß eine meiner Hände, oder ein Zipfel meiner Kleidung gefaßt würde. – Geredt wird in diesen Augenblicken nicht und ich bin froh, denn ich befürchtete, die Ueberlast von ihrem Dank für mein Herz und die Abnutzung ihrer Freude für sie. –– Auch vermeid ich, mit ihnen dahin zu gehen, und ist mir sehr lieb, daß wirklich einige Haufen übriges Bauholz dort aufgelegt sind, welche ihnen diesen Erinnerungsplatz auf einige Zeit verbergen. ––

Ein junger Zimmergesell, der an dem Haus und der Scheune bauen half, ein geschickter, fleisiger Arbeiter und der immer den besten Willen zeigte, den wir auch noch zur übrigen Holzarbeit [216] behielten, hat nicht abgelassen, bis er zum zweyten Knecht angenommen ward. Die Freude dieses herzlichen jungen Mannes ist nicht zu beschreiben. Sie verdoppelt gleichsam seine Kräfte und seinen Verstand. Er hat um Erlaubnis gebeten, ein Paar Morgen Erdreich, die an dem Abhange des Bergs, in dem Bezirk liegen, so zu Wollings Erbpacht gehört, von den Baumstöcken zu reinigen und dann anzubauen, wie er es auf seiner Wanderschaft mit einem Berg hätte machen sehen, der dem Schloßherrn wenig getragen hätte, und nun recht gutes Heu einbrächte. Man solle ihn aber allein gehen lassen; er wolle gewiß Gutes auf dem Wollingshof stiften. –– Und das haben wir ihm zugestanden. – Der gute Mensch arbeitet nur in den Zwischenstunden daran und will auch nicht anders. – Wir gehen auch nicht hin zum Nachsehen. Sein Oberknecht allein kommt mit, weil dieser mithelfen will. –

Sie fürchten den Winter für mich, in dieser Einöde – und ich freue mich ihn hier zu sehen. Den Hof-und Stadtwinter kenne ich schon. Der von ihrer Vorstadt, macht auch eine Stuffe der Abänderung, nach den großen [217] Auftritten, die ich auf den Wohnplätzen vieler Menschen in dieser Jahrszeit sahe. – Hier kann ich alles bemerken, was die Natur im Großen vornimmt, an Feldern, Bäumen und Wiesen der ganzen weiten Gegend, über die sich der Herbst verbreitet – aber auch auf unserm Berge. –– Frau Wolling wird ein Wochenbett just mitten im Winter halten. Da sorg ich für die Oberaufsicht der Kinder, der Mägde, der Milchstube. Ich habe den Winter meines Glücks durchlebt – und ich sollte den Winter der Natur scheuen? –– Nein, meine Liebe, er freut mich!

[218]
77. Brief
Sieben und siebzigster Brief
Rosalia an Mariane S**.

Da war ich mitten im Winter verreißt, Otte, seine Julie und ich, um Herrn und Frau G** in F** abzuholen, die nach einer Abwesenheit von etwa drey Monaten wieder zurück wollen. – Es war sehr kalt, als wir abgingen; aber ein heller, reiner Himmel dabey. Alle Steine, alle Grashälmchen mit Silberduft überzogen, und das auf einer grossen Weite umher. Dann enge Hohlwege, unfreundliche, und gefrorne Bäche, bey denen wir ängstlich waren. Aber auch ein herrlicher Buchenwald, alle Zweige bereist, braune und gelbe Blätter daran, nur an den Enden mit dem so glänzenden Duft eingefaßt. Und als wir auf die Höhe des Waldes kamen, wo er stark ausgehauen ist, hatte ich den angenehmsten Anblick, den diese Jahrszeit geben kann. Eine Art Nebel, aber sehr dünn, der auf dem Berge lag, durch welchen die auf der Seite stehenden Büsche nur als durch einen Flor [219] schimmerten, würde schon an sich reizend gewesen seyn; aber die Sonne verschönerte es äusserst. Da ihre Strahlen just von der Seite unsern Wagen trafen und dessen Schatten an die Gebüsche warfen; so bildete sich um diesen Schatten herum ein Regenbogen, der ihn lange Zeit begleitete, bis eine Wendung des Wegs den köstlichen Anblick zerstörte. Die Farben waren etwas blaß, wie beynah die Mondregenbogen sind – und nach Maaßgabe des kleinen halben Zirkels um unser Fuhrwerk, auch schmal und um so viel neuer und gefälliger für uns. Wir hatten auch etwas langsamer fahren lassen, das holde Schauspiel länger zu geniessen. Es endigte mit dem Abhang des Berges und den aufsteigenden kleinen Säulen von Rauch, aus den Hütten eines armen Dorfs, durch das wir fahren mußten. – Otte spottete unser sehr, da wir in dem Posthaus und dem andern, was wir sahen, alles so schlecht und häßlich fanden und die schönen Sachen bedauerten, die wir im einsamen Walde gesehen hatten. –– Er behauptete, unsre Entzückung sey nicht aus dem Grunde der großen Reitze des Winters der Natur hergekommen, sondern weil [220] wir Farben, kleine Spiegelchen und Diamanten gesehn hätten. Bald wären wir auch ungeduldig über ihn geworden; aber der neue Postillion, ein hübscher, munterer Kerl, stimmte sein Horn so schön an, daß er uns auch munter erhielt. Er fuhr sehr geschwind, ausgenommen gegen das vorletzte Dorf der Station, wo wir wieder Pferde wechselten. Da ließ er nur einen Schritt gehen, aber alle Künste seines Posthorns und dann das Klatschen seiner Peitsche hören. Ich bemerkte endlich, daß er immer auf eine Seite hinsah und auf einmal wieder aus vollem, lustigem Othem ein, Stückchen bließ. – Da kam aus einem etwas hoch liegenden Bauerhaus ganz eilig ein artiges Mädchen heraus gesprungen, ohne Haube, und band sich eine weiße Schürze noch auf der Vortreppe um, nickte ihm freundlich zu, bis er das Horn unter seinen linken Arm zurückwarf. –– »Guten Morgen Toni!« – rief sie dann aus ihren runden, glühenden Backen und mit einer Hand aus Geländer gestützt, – »wann kommst du wieder?« – »Um zehn, rief er, eine Milchsuppe.« – »ja – ja!« antwortete sie, so voll Zufriedenheit in ihrem blauen Auge, und mit [221] beyden Händen ihr weißgelbes Haar zurückstreichend, daß ihr der Morgenwind ins Gesicht wehte. – Einige Augenblicke, sah sie ihm, gewiß nicht unsrer Kutsche, nach, hüpfte leicht und mit wahrer Anmuth in den Hof. Ihr Freund Toni aber klatschte noch ein paarmal lebhaft und künstlich; nachdem aber führte er uns, wie fliegend, dem nächsten Posthaus zu. Die ganze Scene hatte uns so wohl gefallen, daß wir in dem Kramladen des kleinen Orts ein Halstuch, ein Band und eine Schürze für sein Mädchen kauften und ihm mitgaben. – Der gute Mensch wurde roth, als Ott mit ihm von ihr sprach und sagte, daß wir die Ursache seiner vielen Musik errathen hätten. ––

»Sie ist nur Magd bey dem Bauer, sagte er, aber das schönste und ehrlichste Mädchen im ganzen Lande. Ich verzehr immer mein halbes Trinkgeld bey dem Bauer für Milchspeise, und er hält sie deswegen auch besser. Das übrige Geld hebt sie auf, daß ich es nicht vertrinke und mir was spare, damit wir ein kleines Söldnergütchen gleich neben meinem Herrn bestehen können. Ich bleib Postknecht. Mein Herr und die Pferde haben mich gern; 's Fuhrwerk geht nicht immer [222] gleich stark, ich hab noch einen Cameraden. Da kann ich schon mein kleines Feldchen bauen, und meine Terese sorgt für die Kuh, den Garten und das Kraut; da kommen wir mit Gottes Hülfe sehr gut zurecht.« ––

Diese redliche Erzählung und die freundlichen Blicke, die er auf die, in seinen Händen haltende Geschenke von uns, von Zeit zu Zeit heftete, und das kleine Päktgen auf- und zulegte, dann wieder mit beyden Händen zusammen druckte, – rührte uns. Julie sagte auf französisch zu Otten, ihm eine Beysteuer zu geben. – Er thats und der gute Mensch weigerte sich, indem er auf unsre Geschenke deutete. Nachdem aber küßte er unsre Hände und segnete uns. – »Kommen Sie den Weg nicht bald wieder?« fragte er. –– »Ja, in acht Tagen.« – Da zählte er an seinen Fingern, – »Das ist mein Tag nicht, – aber ich will meinem Cameraden das Trinkgeld lassen und Sie fahren. – Sie sollen sehen, wies gehen wird« – und da schnalzte er mit der Zunge und der einen Hand, und blinzte mit den Augen frohen Beyfall dazu. – Er hielt auch Wort, und führte uns ganz vortrefflich im Rückwege. ––

[223] In F** fanden wir unsre Freunde und mußten uns mit ihnen noch einige Tage aufhalten. – Urtheilen Sie aber von meinem Staunen, als ich den vierten Tag meinen Oheim mit Clebergen in das Zimmer treten sah. Er war mir so unerwartet, das ganz Englische Wesen, so er angenommen; eine Art stuzendes Betrachten meiner Person, die rasche Freude und Thränen meines Oheims, noch mehr aber sein Reissen an meiner Hand und an Clebergs Arm, mit dem Ausruf: »Nun, Kinder! nach zwey Jahr Abwesenheit dürft ihr euch wohl umarmen.« ––

Cleberg gehorchte mit Freude in seinem Auge, – ich aber widerstrebte und sank beynah in dem erregten Sturm zu Boden. Meine Lippen zitterten und Cleberg faßte mich mit Schrecken, da er mich blaß und schwankend sah. –– »Was ist das! Rosalia! – um des Himmels willen, was ist das? was ist seit Ihrem lezten Brief in Ihrem Herzen vorgegangen? – Unser Oheim macht Sie nicht zittern, das bin ich, ich allein, den Ihr Uebelwerden angeht.« ––

Ich konnte nicht reden: die Worte starben in meinem Munde. –– Ich legte endlich [224] meinen Kopf auf seinen Arm. – Er schwieg und druckte mich an sich. Ich küßte eine Hand meines Oheims, die ich hielt. – Er sagte mit: »Gutes Mädchen! wir hatten Unrecht, dich so zu überfallen, ich finde es, erhole dich nur.« ––

Diese Betrachtung war richtig. Aber ich würde von der plötzlichen Erscheinung nicht so erschüttert worden seyn, wenn mein Oheim nicht so rasch auf eine Umarmung gedrungen hätte. Denn bey der Erinnerung der äussersten feinen Strenge, die ich mir aufgelegt und heilig gehalten hatte, daß von dem Tag an, wo mein Herz und mein Oheim mich für Clebergen bestimmten, niemals die Lippen eines andern Mannes meinen Mund berühren sollten, – war ich wohl billig genug, nicht das nehmliche von ihm zu fodern und zu erwarten. – Aber gewünscht hatte ichs, und den Augenblick, da er nach der Auffoderung meines Oheims sich mir näherte, warf ich ihm einen Mangel an Feinheit vor; – und zugleich war in mir der Gedanke: O, wie viele dieser Küsse mag er verschwendet haben! – Und dann war doch auch die Bescheidenheit mit verbunden. – Es war mein Bräutigam, aber doch ein[225] Mann, den ich in zwey Jahren nicht gesehen hatte. – –

Ich war besser – und zeigte ihm mein Vergnügen, ihn zu sehen. Er betrachtete mich, während ich sprach, mit Aufmerksamkeit – und es dünkte mich, als ob es lauter Vergleichungen wären, die er zwischen mir – und was ihn auswärts angezogen, in seiner Ueberlegung machte. Ich war eben sehr vortheilhaft gekleidet. – Ein langer Pelzrock nach der Taille, feines Gelb mit Zobel ausgelegt; – die polnische Haube dazu, stand mir sehr gut. –– Er faßte meine Hand, mit Blicken voll Liebe. »Sie sind schön, Rosalia! schöner als jemals. Wo wollten Sie denn mit alle den Reizen hingehen, als wir kamen?«

Ich sagte, daß ich mit meiner Gesellschaft eingeladen wäre, einige junge Leute Schlittschuh laufen zu sehen – und daß es mich gefreut hätte, weil es mir ganz neu sey. –

»Sie müssen hin; – aber ich habe Erlaubniß, auch zu folgen.« ––

Das war natürlich – und ich ging zu Julien, die schon zweifelte, mich zu sehen, weil sie die Nachricht von der Ankunft meines [226] Oheims hatte. – Wir mußten ein gutes Stück vor die Stadt hinaus fahren, bis wir endlich an der Landstrasse still hielten und lang an einer Mauer über gefrornen Boden gingen. Am Ende folgten wir einem kleinen Wiesengraben, woran Weiden stehen, und hörten auf einmal Musik und lautes Rufen. Zugleich flogen über zehn Eislauser gegen uns, die uns dann die Hand boten, über den Graben zu kommen und uns auf den zubereiteten Platz zu der übrigen Gesellschaft zu setzen. – Eine Reihe Bänke mit Tuch belegt, und Diehlen auf dem Boden die Füsse vor der Kälte zu schützen; ganz kleine Tischgen, immer drey Fuß breit von einander, mit Servierten gedeckt, worauf dann Chocolade, Kaffee, kleine warme Pastetgen, Confect und fremde Weine, Schinken und Braten gesetzt und angeboten wurde. – Der Schauplatz war auserlesen. Eine, viel Morgen Lands fassende Wiese, auf welche der noch fliessende Bach etliche Tage lang ausgetreten war, und dieses, einen halben Schuh tiefe Wasser zu einem festen, glatten Spiegel gefroren; – das ganze Stück auf zwey Seiten mit Weiden besetzt, die dritte, eine weite Aussicht, wo verschiedne Gärten [227] und Lusthäuser stehen, – und oben an der Ecke, die uns am nähsten war, ein Busch Ulmen, hinter denen ein schöner Bauerhof, mit seinem neuen Ziegeldach, die Scene um so viel einnehmender machte. Der Himmel heiter, nicht der geringste Wind und für Jennortage Sonne genug. – Bey den kühnen Schlittschuhläufern waren die Söhne der angesehensten Familien, junge Engländer, Offiziere – und einer der seltensten und vortreflichsten Köpfe Deutschlands; alle in kurzen Pelzröcken, und runden, ihnen recht passenden Kappenhüthen. – Mich freute es innig, das jugendliche Feuer so vieler schönen Leute, so munter, in tausendfachen Wendungen in dem Reiche des Frosts herum treiben zu sehen. Es schien mir ein edler und schuldloser Genuß ihrer Kräfte, Ihres Muths und ihrer Geschicklichkeit. – Cleberg stand hinter mir und horchte auf meine Bemerkungen. Ich sagte ihm, es dünke mich, sogar charakteristischen Unterschied in dieser Belustigung zu sehen; – er solle den Blick und die Haltung des Leibes von Werther beobachten, wenn er den Schritt über die ganze Fläche anfing. – Ein Engländer hatte sich abgesondert und nahm seine [228] Bahn, oben queer über, da er Phantasiereiche Gänge und Zirkel beschrieb. – »Diesen, sagte Cleberg, will ich in der Nähe betrachten« – und verließ mich. Einige Minuten nachher schlüpfte eine edle Gestalt in einem nett zugeknöpften, weißen Rock, mit schwarzem Pelzwerk bebrämt, und einer gleichen Pelzkappe, an unsern Tischgen vorbey, die ich nicht im Gesicht erblickte, sondern aus der Kleidung für einen neuen Mitspieler ansah. – Er lief ein paarmal an dem einsamen Engländer hin und her, sprach mit ihm, dann umarmten sie sich lebhaft und fingen einen Wettlauf gegen die Andern an, die schon ein Stück Wegs voraus hatten. – Der weiße Rock übertraf die Meisten und ließ den Britten weit zurück, kam ihm wieder entgegen, ergriff seine Hand und war Augenblicks darauf mit ihm vor mir. – Und dieser so schön sich hervorthuende weiße Rock war – Cleberg selbst. Er mußte meine Freude und Beifall mit meinem Staunen vereinigt sehen – und schien sehr vergnügt darüber; stellte mir seinen englischen Freund vor und ermunterte mich, englisch zu sprechen. – Von Zeit zu Zeit kamen auch die andern und nahmen etwas Essen, [229] und auch vielleicht einige gütig belohnende Blicke von den artigen Frauenzimmern die da waren. ––

Dieser Morgen war mir sehr schön. –– Cleberg ging mit mir zurück, aß mit uns, bat mich um eine Unterhaltung in welcher er mir viele alte und neue Liebe versicherte – und mir die Ursach meines Uebelwerden auf den Knien dankte und abbat; – zugleich aber seine neue Abreise auf den nehmlichen Abend anzeigte, – weil er zwanzig Meilen von da wieder zum Gesandten treffen mußte. – Aber bald, wenn mein Herz es gut hiesse, würde er, nach Anordnung unsers Obeims, auf immer als der glücklichste Mann um mich seyn; – und bis dorthin auch nicht einen Blick auf eine andre Seele heften. – Mariane! Ihren Seegen.

[230]
78. Brief
Acht und siebzigster Brief
Rosalia an Mariane S**

Nun ist mein Schicksal festgesetzt. Cleberg bekommt durch Verwendung meines Oheims eine angesehne Stelle in dieser Gegend und diese Stadt wird mein Aufenthalt. – O, wie weit von Ihnen, meine edle Liebe! – Wenn nur, – ach, wenn. – Aber, zu was sind sie gut – die Wenns? sagt Madame G** – Zum voraus machen sie Angst und Zweifel; und nach geschehner Sache, Kummer und Unmuth. – Würklich hat auch mein Oheim schon auf zehn Jahr zwey Stockwerke und den Garten, nebst halben Hof eines schönen Hauses gemiethet, in eben der Strasse, wo Julie – und Frau G** wohnen. Nun will er vieles darin bauen und auch den Garten neu anlegen und ich soll mich bis künftiges Frühjahr mit der Einrichtung beschäftigen. – Sie sehen, wie viele Liebe hier für mich waltet und ich habe auch in einem glücklichen Augenblick die Abänderung des Testaments erhalten, [231] wie ich schon so lang wünschte, weil es mich eben so sehr schmerzte, sein ganzes Vermögen zu erhalten, als es meine ärmere Verwandte quälen mußte, ohne Hofnung zu seyn. ––

Es war ein schöner Augenblick meines Lebens, da mir mein Oheim den geschlossenen Vertrag der Miethe wies, die um so viel sicherer war, weil er eine drückende Schuld des Eigenthümers bezahlte die den Belauf des Miethzinsen auf die zehn Jahre beträgt. – Daneben zeigte er mir alle Verabredungen mit dem Mauer- und Schreinermeister von den Verbesserungen meines Hauses; und nichts von dem, was ich gewünscht hatte, war vergessen. Mein Herz überfloß in Danksagung für seine Güte, und das seine ergoß sich in Freude über die Aussicht auf meine Glückseligkeit, die er nun recht gründen wollte. – Es war grade nach dem Frühstück, da ich neben ihm saß und er mir auf dem Tisch, nach weggenommenen Theezeug, die Risse des Hauses vorlegte und die Abänderungen alle sagte. Ich hatte schon einigemal seine Hände geküßt; und das Bild der Verzweiflung des Ueberrests seiner ausgeschlossenen Familie drang immer näher an meine Seele, so, daß es endlich in [232] meinen geänderten und kämpfenden Gesichtszügen sichtbar wurde. Er kam in Unruhe. – »Rosalia, Ist Dir nicht wohl?« –

»O, ja; – aber mein Herz ist zu voll Glück und Kummer.« ––

»Voll Glück und Kummer!« – rief er mit Staunen. »Hast Du was gegen Deine Heyrath mit Cleberg?« ––

»Nein, mein lieber Oheim!« sagt ich, indem ich, an seiner Hand hin, neben ihm kniete – »nichts gegen Cleberg, – aber gegen Ihr Testament.« –

»Mein Testament! – wo Du all meine Liebe siebst!« –– »Gewiß seh ich darin alle unbegränzte Liebe für mich; – aber auch das eben so große Leiden der N** und A**. Lassen Sie mich mit der Hälfte glücklich seyn und theilen Sie die andre unter die Kinder beyder Häuser. Diese sind ja doch an Allem unschuldig, was ihre Eltern mögen gethan haben. – Mein lieber, großmüthiger Oheim, erhören Sie mich!« –

Ich hielt eine seiner Hände an meinen Mund, mein einer Arm war um den seinigen geschlungen, mit dem er den Kopf auf den Tisch stüzte. Er betrachtete mich starr. Ich [233] sah an ihm mit flehender Miene hinauf. Lange redte er nicht. – Endlich sagte er trocken: »Rosalia! ich ändre nichts. – Du kannst ja, wenn ich todt bin, selbst alles verschenken, oder die Hälfte, wie du willst.« ––

»Und Sie, meinen Oheim, – Sie! soll ich nicht segnen hören! – nur weinen und seufzen, wenn Ihres Namens gedacht wird! – O, lassen Sie Ihr Andenken Allen heilig werden, die nur einen Tropfen Bluts mit Ihrer edlen Mutter theilen.« – Mariane! – Hier bey diesem Namen kont er nicht unbewegt bleiben. Er druckte mit den Hand, die seinen Kopf stützte, seine Augen zu, und blieb einige Zeit in dieser Stellung. – Aber ich bemerkte an dem Heben seiner Brust das Zurückhalten der Thränen. – Er faßte sich wieder mich zu fragen, ob mir jemals von einer der beyden Familien, seit er mein Vormund wäre, Liebe erzeigr worden sey? Ob sie mich um Fürbitte bey ihm ersucht hätten?

»Mein lieber Oheim! Sie hatten ja immer so viel Güte für mich, daß mir kein andrer Mensch, nichts Liebes mehr erweisen konnte. Aber gebeten bin ich nicht worden; ich hält es Ihnen sonst gesagt.« ––

[234] »Wenn Du wüßtest, was ich weiß! – denke nur, daß meine Abneigung nicht ohne Grund ist.« ––

»Ich glaube es, mein ehrwürdiger Oheim, und bitte deswegen um Großmuth.« – –

Er druckte meine Hand und küßte meine Stirne freundlich, aber ernstlich denkend, und sagte mir, ich möchte jetzt in mein Zimmer gehen; – hob mich auf und ich sprach ihm nur noch mit ein Paar Blicken. Eine halbe Stunde, eh wir zum Mittagessen gingen, kam er in mein Zimmer. Ich fand sein offnes Gesicht noch voll Spuren einer vergangnen Gemüthsbewegung, stand gleich auf und fragte, ob es denn schon Ein Uhr wäre? ––

»Nein! Aber ich will deine Lust zum Essen vermehren, indem ich Dir die Versicherung gebe, daß mein Testament zum Besten der N.** und A** verändert werden soll; wenn Du auch deinem Cleberg davon Nachricht geben willst.« ––

Ich segnete und dankte ihm von ganzem Herzen für diesen Endschluß. ––

»Gott segne Dich, meine Tochter! Tochter des würdigsten Weibes und der besten Schwester! Du sollst doch auch wissen, daß [235] es mir selbst wohl thut, daß ich Deiner Bitte nachgab. Sie batten mich sehr beleidigt und ich einen langen Widerwillen.« – –

»Aber bester Oheim! wenn der edle Gute nicht großmüthig ist, – wer soll es denn seyn!« – –

»Sey ruhig, Rosalia! Ich werde Deine Bitten und Deine Hofnungen nicht täuschen; und Gott wird es an Deinen Kindern lohnen, was Du mich an den Kindern Deiner und meiner feindseligen Verwandten thun machst.«

Ich konnte nicht reden; aber tausendmal seine Hände küssen und an meine Brust drucken. Er umarmte mich. – »Nun weine nicht mehr und laß mich Dein Gesicht auf immer heiter sehen.« ––

Das versprach ich ihm recht gern, und halte auch Wort und er begegnet mir mit doppelter Zärtlichkeit. – Ach, Mariane! Sie, Sie allein unter Vielen, können meine innige Freude und Glück begreifen die ich über den Verlust dieses halben Erbes empfinde. – An Cleberg hab ich darüber nach meinem besten Empfinden geschrieben und rechne auf seine Edelmüthigkeit.

[236]
Drey Wochen nach diesen Blättern. –

Ich war in der That lange nicht wohl genug, um diesen Brief zu enden. Deswegen bekamen Sie nur einige Zettelchen durch meinen Oheim; – und hingegen heut wieder neue Nachricht von des theuren Mannes Güte für mich. Er hatte einige Zeit immer etwas mit Madame G** und Otten zu lispeln. Als ich wieder ganz wohl war, sah ich zwey Tage meistens nur Julien um mich. Den letzten Abend bat sie mich, mit ihr zu einer kleinen Musik zu fahren. Ich fragte meinen Oheim, ob er es zufrieden sey? – »Ja, wenn es Recht wäre, ginge ich selbst mit.« – Da lief ich in mein Zimmer zurück, es Julien zu sagen. – »Ganz gern,« sagte sie. »Der Wagen ist so mit vier Sitzen.« – Es war sieben Uhr und also schon dunkel. Wir fuhren in eine enge Strasse, stiegen an einer sehr kleinen Thür aus und kamen durch einen schmalen, aber kurzen Gang, an eine Wendeltreppe, wo nur eine Person gehen konnte. Und da wir nur Ein Licht vor uns hatten, und für unsre Kleider sorgten, schaute ich weiter nicht viel um mich; – hörte endlich gute [237] Musik. –– Otte kam uns am Ende der Treppe entgegen – und zwey Lichter, die ein Kerl trug. Sie lachten sich Alle so geheimnißvoll zu, daß ich nicht wußte, was ich denken sollte und endlich einen Augenblick vermuthete, Cleberg sey irgendwo zu einer Ueberraschung bestellt. Endlich gings in ein Zimmer das ganz neu ausgemacht schien, aber völlig leer war. Von da öffnete man eine Doppelthür, in den Saal, wo die Musik war. Ein geräumiges ovales Zimmer auf zwey Seiten einander gegenüber zwey Fenster. In den vier Ecken schöne, weiße Schränke, mit schmalen goldenen Zierathen und darauf schöne weiße Vasen. An jeder Wand neben den Schränken zwey Doppelthüren, und zwischen den zwey Thüren eine Reihe schöner Stühle mit gelb und weißen Plüsch; so wie auch die Wandstücke in der gelben Schattirung gemalte chinesische Landschaften vorstellten. In der Mitte des Saals hing ein schöner Kronleuchter; an den Fensterpfeilern große Spiegel, und Marmortische darunter. – Dies war alles recht sehr schön und gefiel mir, noch mehr aber der artige Gedanke eines jungen Manns von rechtschaffenem Charakter und [238] erfinderischen Kopf, der als Seeretair bey einem edlen Hause in der Nachbarschaft sieht – und erst zu Verschönerung der Zimmer seines Grafen, dann auch zum Vortheil des armen Töpfers, einen ganz neuen Ofen erdachte, der zuerst in dem Speisezimmer erschien, in welchem eine Ecke den Schenktisch faßte, der unten einen Schrank auf drey Füssen hatte, auf diesem eine große zinnerne Platte für die Bouteillen und Gläser, über dieser noch ein Aufsatz mit zwey Thüren, worin Gläser verwahrt werden. Dies alles war weiß gemalt und die Leistgen vergoldet. – Da macht er ein Model von Kartenpapier, theilt die Stücke ein, spricht mit dem Töpfer und gibt dem Manne so deutliche und so menschenfreundliche Beweise von der Thunlichkeit, den Ofen zu machen, und das nur im rauhen. Endlich geräths; er wird aufgeführt und weiß übertüncht. Anstatt der Zinnplatte des Schenktisches, ein stark verzinntes Eisenblech hingelegt, auf dem die Teller gewärmt werden und das Zimmer ein zierliches Ansehen mehr erhält. Denn der untere Schrank macht den Ofen, und die zwey auf ihm ruhenden Füsse, die den obern tragen, machen die Rauchröhren aus; – [239] und der Töpfer kann nun für mehrere Personen dergleichen Oefen machen. Denn da die Glasur das theuerste und beschwerlichste ist, bey dieser Art aber wegbleibt: so kann sie der Mann eher machen und Andre leichter kaufen. – Mit dem Vergolden solls ihm schwer geworden seyn, weil die gewöhnliche Behandlung davon, bey der Heizung des Ofens absprang. Da gerieth er endlich auf die Mischung von Honig und Eyweiß, womit er die Leistgen und Zierrathen bestrich und dann das Goldblätchen auflegte; und das hielt Probe. – – Ich bin sehr weitläufig darüber gewesen; aber Erfindsamkeit freut mich und besonders wenn sie Nutzen, Zierde und Sparsamkeit mit einander verbindet –– Mein Oheim, der in dem edlen Hause bekannt ist, hat diesen Ofen durch hiesige Töpfer nachmachen lassen und zwey stehen in dem Saal, den ich Ihnen würklich beschrieb. Die zwey andern Schränke, sind für Glaswerk und Porcelan. – Als ich mich in dem Zimmer umgesehn hatte, kamen aus einer Thür all meine werthesten Freunde und Bekannte, Herr von C** seine Frau. Herr und Madame G**, ihr vortreflicher Bruder F**, sogar Kahnberg [240] und seine Liebe – Sie können nicht glauben, wie groß mein Staunen und meine Rührung war. Die Musik dauerte bis halb neun Uhr. – Da spielte Kahnberg allein auf dem Klavier und eine artige Base seiner Frau sang dazu. Wir standen alle um sie herum. – Indessen wurden durch die zwey untern Doppelthüren vier längliche Tische, schon gedeckt und mit Speisen besetzt, hereingetragen und neben einander gestellt, so daß in wenigen Minuten eine Tafel für uns alle bereit war und wir uns, so bald die Stühle standen, zum Essen setzten. Otte und Frau G** machten die Hauswirthe. – Ich saß zwischen Kahnberg und meinem Oheim. Wir speißten aus einem nicht kostbaren, aber artigen Porcelan, auch weiß und gelb. Alles schien, nun sonderbar. –– Als das Confect kam, brachte man meinem Oheim einen Pokal und er fing die Gesundheit der Eigenthümerinn des Hauses an, – Alles trank mit. Wie ich mein Glas Wasser ergriff, nahm er meine Hand. –– »Halt, Rosalia! Du darfst erst nach uns trinken.« – Ich sah um mich und nach ihm. – »Nun, meine Liebe, trink denn; Du bist die Eigenthümerinn. Ich habe das Haus für Dich erkauft. [241] Gott gebe Dir lauter glückliche Tage darinnen und Freunde dabey, wie diese hier!« ––

Sie riefen alle Amen! und Glück! und Freude! – Ich brach in Thränen aus und hielt die Hand meines Oheims. Er küßte mich. »Sag mir nichts Gutes, Mädchen, als daß Du zufrieden bist; sonst erzähle ich unsern Freunden die Geschichte der N** und A** – und des Testaments.« ––

»O, das thun Sie nicht. – Ich will schweigen. Sie kennen das Herz doch, das durch Ihre Güte gebildet wurde, so wie es durch Sie glücklich gemacht wird.« ––

Nun trank mein Oheim die Gesundheit der Frau G**, da sie sich so viele Mühe mit Veranstaltung des Essens gegeben; wie auch des Herrn Otte, mit der Musik. – Julie machte es auch recht schön, mit dem Blenden und Einladen. – Er empfahl mich dann Allen zu ihrer daurenden Freundschaft und man erzählte mir die Geschichte des Hauses. Es ist das nehmliche, so mein Oheim gemiethet hatte. Aber, seit meiner Krankheit kam es ganz zu Kauf; und da wollte er meine Genesung darin feyern und damit ich es nicht [242] gleich erkennen sollte, wurde ich durch die Seitenthür eingeführt. – Der übrige Abend wurde ganz herrlich verlebt. Kahnberg und seine Frau reisten aber um zehn Uhr noch zurück auf ihr Guth; – hingegen Herr C** und seine Frau blieben bey uns. Ich wäre beynah wieder krank geworden, so sehr hatte mich der Auftritt erschüttert. Mein Oheim sagte mir: »Ich habe mein Testament geändert: aber was ich Dir in meinem Leben gebe, must du behalten.« ––

Ich durfte nichts sagen und befriedigte mich um so mehr, als ich wußte, daß er selbst eine reiche Erbschaft gethan hatte. –– Der Kreis meiner Bekannten vermehrt sich und dieses freut mich nur halb. Ich werde mich auch mit Vertrauen nur an die halten, die mein Haus einweihen hälfen. – Wir redten gestern Abend davon und ich sagte, daß ich neue Freundschaft machen, ansähe, als pflanze man Bäume, unter deren Schatten man einst, in erlebten Tagen, noch ruhige und glückliche Stunden hinzubringen hoffe; und setzte hinzu, ich könnte mir hier eine ganze Allee ziehen. –

»Sehen Sie zu, Rosalia,« fiel Frau G** ein, »ob nicht Körner von des Jonas Kürbis [243] darunter sind, die sehr schnell und schön fortkommen, aber auch durch den Wurmstich einer Kleinigkeit zu Grunde gehen.« ––

Man fand dies Gleichniß so treffend und brachte so viel Beweise dafür, daß es uns schauerte und ich endlich sagte: »Ich will keine Allee! – Der Himmel erhalte mir nur den schönen Busch, der heute in meinem Saal um mich blüthe; so bin ich glücklich genug.« ––

Und das ist wahr. Ich habe Freunde genug; Bekannte werd ich überflüßig bekommen, denn Cleberg will allen Fremden, die von den Orten sind, wo er sich aufhielt, sein Haus und Gesellschaft widmen; wie er mir in F** sagte, daß er allen Familien, wo er Ehre genossen, seine Dienste und Gefälligkeit dagegen anbieten würde; –– und aus diesem Grunde ist mir auch mein artiges Haus recht lieb. ––

Mariane! theure, unschätzbare Freundin! in vierzehn Tagen reise ich mit meinem Oheim nach meiner Vaterstadt und zu Ihnen. Begreifen Sie mein Glück und meine Freude, – zu Ihnen! – Ach, Gott! ich bin zu – zu glücklich. – Aber ich muß ja wieder zurück,[244] und Sie zurücklassen. – So ist des Guten lange nicht so viel, als des Schlimmen. – Indessen mehr Wohl, als ich lange nicht hoffte. –– Adieu.


Schicken Sie mir doch, mit dem ersten Postwagen das Pack aller meiner Briefe an Sie. Ich will sie die van Guden, sammt den Ihrigen, während meiner Abwesenheit, lesen lassen. –– Es dünkt mich, daß sie gegen den Winter Zeitvertreib nöthig haben wird. –

[245]
79. Brief
Neun und siebzigster Brief
Rosalia an Mariane S**.

Ich muß noch einen großen Brief vor meiner Abreise an Sie schreiben, über einen neuen gesellschaftlichen Zirkel, der mir Glückseligkeit verspricht. Denn für mich, wissen Sie, ist große Anzahl Menschen und lärmende Unterhauungen nicht Vergnügen, sondern Last gewesen.

Man sieht mich, seit dem Kauf einest Hauses und der Bestimmung meines Bräutigams, als eingebohrn an; und ich wurde, nach der Gewohnheit dieser Stadt, bey allen benachbarten Familien meines Hauses und meines Standes zum Besuch geführt worunter drey etwas ältliche, unverbeyrathete Frauenzimmer waren. Keine Seele hatte mir je von ihnen etwas gesagt, und ich war daher um so viel betroffener, sie zu finden. – Man muß durch einen Hof gehen, eh man in ihr Haus kommt, denn sie wohnen zur Miethe bey einem reichen Mann, der fünf Wohnungen [246] umher baute, wovon zwey auf die Hauptstrasse, links und rechts des Thors gehen; zwey in den Hof von jeder Seite der erstern; und dann die von ihm und den drey Frauenzimmern. – Diese scheidet der Eingang in den Garten der sehr schön ist, in welchem der Saal, wo sie ihre Besuche empfangen, die Aussicht und einen Gang hat. – Das Zimmer ist sehr artig mit Tapetenstreifen geziert, welche die Großmutter auf weißem Grund genäht hat. Streifen von gelben Halbdamast, oder Brocadel sind dazwischen gesezt. – Die Stühle, ein großes Ruhbett und alt geformtes Canape sind von ihrer eignen Arbeit, an welcher die Zweyte immerfort ämsig sitzt, aber niemals an einer Unterredung Antheil nimmt, weil sie vor vielen Jahren von einer Melancholie befallen wurde, wovon sie niemals den Grund augab und erst lang immer für sich allein war; endlich aber ihren Schwestern darinn nachfolgte, im großen Zimmer zu seyn, weil die Dritte bey dem Tode der Eltern noch zu jung und zu hübsch war, um sie allein bey Besuchen zu lassen, wenn die Aelteste, die das Hauswesen besorgt, nicht da seyn konnte. – Diese ist von einem äusserst aufgeräumten [247] Geist, dabey voller Muth und Laune. Die Jüngste ist artig, sanft und eine köstliche Vorleserinn; – Alle vortreflich erzogen. – Die Zweyte ist am besten gestaltet, bat ein ovales aber sehr blaßes Gesicht, worin das schönste schwarze Auge einen langsamen durchdringenden Blick, und höchst selten ihr feiner Mund eine Art krankes Lächeln zeigt. – Sie trägt immer Kleider von violet Farbe, ein weißes großes Halstuch und eine schwarze Kappe und Schürze. Nichts netteres kann man sehen, als ihren Anzug. Neben ihrem Ramen, der seinen Platz in der obern Ecke des Saals am Fenster hat, steht ein kleines Tischgen mit dem Keficht eines Blutfinken, den sie liebt, und ihn manchmal, wenn er eine Zeitlang die Hälfte eines ganz einfachen Liedchens gepfiffen hat, mit trauriger Miene betrachtet, auch heraus nimmt, ihn mit einer rührenden Zärtlichkeit, auf einen ihrer Finger setzt und mit der andern Hand streichelt. Zwey dunkelrothe Nelkenstöcke stehn am Fenster, auch von ihr gezogen und gepflegt. Zwischen diesen einer mit Maaßlieben; die besorgt sie Abends, wenn es dämmert, mit einem Ausdruck in ihrem Gesicht, den ich nicht beschreiben [248] kann. Aber gewiß, es ist, als ob sie diesen Blumen und dem Vogel alles sagte, was sie Menschen nicht sagen mag, – so voll Bedeutung sind all ihre Züge, ihr Dastehen, die Bewegung ihres Kopfs, der Arme und Finger, wenn sie nach den Blätgen sieht, an den Nelken riecht, oder die Erde etwas lockert. Abends, wenn Licht nöthig ist, leget sie ihre Wolle und Nähzeug zusammen, deckt ihren Rahmen zu, nimmt den Keficht, macht mit dem besten Anstand eine Verbeugung, und geht durch die Thüre, die gleich neben ihrem Platz ist, in ihr Schlafzimmer, wo sie lauter ernsthafte Bücher list. – So lebt sie schon zwanzig Jahre von ein und vierzigen, die sie alt ist, hatte immer das beste Herz und einst viel Feuer. Sie arbeitet sehr schön und unglaublich viel, da sie durch nichts zerstreut wird und alle Tage wenigstens acht Stunden fleißig näht. Und da sie nun lauter Muster nach heutigem Geschmack nimmt, so verkauft sie es auch sehr gut und sammlet das Geld für sich. Sie zog beynah all meine Aufmerksamkeit auf sich und erinnerte mich an Henrietten von Essen. – Die Aelteste ist etwas klein, und wie man hier sagt, untersetzt; aber lauter [249] Thätigkeit, Güte, Einsicht und Kenntnisse von Sachen und Menschen; sagt immer, was sie denkt und beweist nebst ihrer jüngern Schwester, wie schätzbar unverheyrathetes Frauenzimmer für die Gesellschaft werden kann, wenn sie in ihren blühenden Jahren das Zeugniß der Tugend und in ihren erlebten Tagen den Ruf der Klugheit und einen angenehmen Umgang haben. – Sie sind nicht reich, haben nach dem Tod ihrer Eltern alles zu Gelde gemacht, und nur die Einrichtung des großen Saals und das Nöthige für die Küche und ihre Schlafzimmer behalten. Eine alte, treue Magd kauft ein, kocht, und ißt mit ihnen. eben so wie sie selbst; denn niemals geben sie Andern zu essen. Aber alle Tage findet man bald große, bald kleine Gesellschaft bey ihnen. – Ihre Eltern waren rechtschafne Leute deren Bekannte noch den Töchtern Freundschaft fort bewiesen, und ihre Kinder auch zu ihnen führten. – Die jungen Leute, welche da Munterkeit, Güte, und Gefälligkeit, – die Eltern aber Vernunft mit wahrer Tugend und Freundschaft antrafen, gewöhnten sich beyde hin. – Sie helfen zu der Erziehung; denn oft bitten Väter und Mütter eine von [250] den Schwestern den jungen Leuten diese oder jene Ermahnung zu geben. – Es steht ein Klavier im Saal, – eine Violine und Baßetchen ist auch da. Keine versteht Musik; aber wenn jemand hinkommt, der sich damit unterhalten will so hat er gleich alles. – Oft tanzen und singen Söhne und Töchter, während die Eltern sich mit reden unterhalten, oder im Brettspielen. – Ein kleines Billiard und Volaute sind auch da Wochenschriften, Gedichte, der französische Merkur, Varrentraps Handbuch, ein öconomisches und historisches Wörterbuch. Tißots Anleitung für das Landvolk, und eine Götterlehre der Alten sind in einem offenen Eckichrang beysammen – und dieses giebt immer dem Stoff der Unterhaltung ein neues Leben. – Man bat den ganzen Nachmittag Freyheit, zu kommen und zu gehen, wie man will. – Immer findet man vernünftige und rechtschaffene Leute da. Der Hausherr und seine Frau sind es recht sehr. Diese haben den Hauszins vermindert, um die schätzbaren Personen bey sich zu behalten. – Vorzügliche Männer kommen hin, – oft erst nachdem sie zu Nacht gespeist und bleiben bis zehn Uhr. Die zwey Schwestern empfingen [251] mich sehr höflich und nannten mich neue Nachbarinn. – Aber immer, während die Eine mit mir sprach, horchte und beobachtete die Andre. Die Aeltere sagte mir:

»Madame G**, hat Ihnen gewiß Gutes von uns gesagt; – wie wir von Ihnen gehört haben. Ich weiß, setzte sie munter hinzu, – daß Sie viele Freude an Bildern von römischen und griechischen Alterthümern haben. – Lassen Sie sich das Altdeutsche Ihrer guten Nachbarinnen auch gefallen. Sie werden unsre Gemüther und unsre Gedanken sehen, wie die Stiche da, in meinem Großvaterstuhl. – Viel Dienste kann ich Ihnen nicht anbieten, ausser den, Ihnen zu sagen, was gescheute Leute an Ihnen loben und tadeln. – Dies ist recht nützlich, mein Schatz, von ehrliebenden Menschen zu hören; besser als von kleinen Gezeug, das um Sie herum kriechen wird, so bald man Sie in Ansehen und Wohlstand erblickt. – Hüten Sie sich immer vor Kriechern; sie haben alle was Ungezieferartiges an sich und bringen was Kleines an, weil sie die Lücken und Ritzen der Schwachheiten des Charakters aufsuchen und zu finden wissen und dort ihre Schmeicheleyen, [252] Erzählungen und Angaben hinlegen, wie Insekten ihre Brut; wodurch oft das herrlichste Geschöpf, wie schönes Geräthe besudelt, verdorben und unbrauchbar gemacht wird. – Verzeihen Sie; – aber Sie gefallen mir und ich mußte das Nöthigste gleich sagen.« ––

Der Ton, mit dem sie sprach, gefiel mir ungemein. Es ist in der That glücklich, eine redliche und vernünftige Person auf seiner Seite zu haben, die uns von unserm Guten und unsern Fehlern Nachricht giebt. Ich will auch die elende, verkehrte Eigenliebe nicht haben, die sogleich aufgebracht ist, wenn man nur von ferne etwas von einer Unvollkommenheit mit uns spricht. – Ich dankte meiner würdigen Nachbarin für ihre Warnung vor den Kriechern und bat sie, Wort zu halten und mich treulich von Allem zu unterrichten, was mich anginge, – sie versprach es mir freundlich, – um so mehr, sagte sie, – »da ich ja ungebeten davon angefangen habe. Ich geh immer meinen gewohnten Gang gerade fort. Ich habe freylich Einigen durch die Anzeige ihrer Versehen mißfallen: auch deswegen, weil ich die Leute nicht nannte, [253] die mir davon gesagt hatten. Ich merkte da wohl, daß sie begieriger waren, sich an ihren Tadlern zu rächen, als sich zu bessern. Da sagte ich den jungen Leuten, daß ich dieses in ihrem Gemüth sähe; es wäre unbillig und unvernünftig; denn von ihrem Sprach- und Tanzmeister nähmen sie Erinnerungen an, und von einer Freundinn nicht. Den ältern Personen weise ich ein erstauntes Gesicht über den Wahn von Vollkommenheit und daß Jahre und Erfahrung ihnen weder den Werth der Freundschaft, noch der Wahrheit gelehrt haben. – Sind sie bös und bleiben weg: so bedaure ich sie. – Aber die Meisten sind wieder gekommen und scheinen mit mir zufrieden.«

Nachdem fragte sie mich, was ich wohl bey dem Eintritt in ihr Zimmer von den alten Zierräthen und alten Gesichtern gedacht hätte? ––

»Es ist mir ungewöhnlich, aber nicht unangenehm und nicht geringschätzig gewesen.« ––

»Das ist gut,« sagte sie. – »Ich dachte, nach ihrem Gesicht und ihrer Kleidung, daß eine verständige Gutartigkeit in Ihnen sey.« –

[254] »Ich bin froh, daß dies in meinem Gesicht steht. – Aber daß meine Kleidung davon zeugte, kann ich nicht denken.« ––

»O, Kleider sind redender, als wir glauben. Sie haben viel Einfluß auf unsern Charakter und zeigen eine Hauptseite von ihm an. Der Grundzug unsrer Seele geht durch alles, färbt alles, – nicht nur die Liebe, den Haß, Zorn, Freude und Traurigkeit; – nein, auch unsern Geschmack, Redensarten, alles. – Sehn Sie meine melancholische Schwester. Sie hat sich von allem loßgemacht, was auf andre Menschen würkt. Aber, da sie, vor dieser Aenderung ihres Gemüths, edel und gut war: so ist sie es noch. Sehen Sie sie an, – ist ihr Anzug nicht redend? und der Meinige? fuhr sie fort; – riefen nicht die Form meiner Haube, die Falten meines Rocks Ihnen zu: da ist jemand, der sich nicht scheut, den Meynungen der Andern gerad entgegen zu geben und immer gleich seine Gesinnungen zu zeigen, mit so einfachem Wesen, wie die Leinwand an meinen Manschetten, und unbebrämt, wie mein Rock.« ––

[255] Ich versicherte sie, daß mir ihre Art recht wohl gefiele. Die Zeit würde sie überzeugen.

Die Gesellschaft war groß, In den Fenstern, die sehr niedrig sind, stehen Bänke; da sitzen meist die jungen Frauenzimmer und arbeiten, weil sie zugleich die Aussicht des Gartens geniessen, der aus lauter Alleen und Grasplätzen besteht, in denen der Besitzer einen seltnen Gedanken zeigt, nehmlich alle Arten von Blumen zerstreut hinein zu pflanzen und hingegen gewöhnliche Wiesenblumen, in Beeten und Töpfen zu ziehen. Es ist in der That schön Hyacinthen, Tulpen, Nelken mitten im Grase zu sehen, und es reiset seit vier Jahren kein Fremder durch, der nicht deswegen in den Garten kommt und begierig ist –– »den närrischen Menschen zu sehen«, sagte der Hausherr, »der die Gärtnerart so umkehrte. – Dann staunen sie, – mich mit gesunder Vernunft reden zu hören und ich freue mich, einer anscheinenden Thorheit das Vergnügen zu danken, viele schätzbare Menschen mehr zu kennen und ihnen einen kleinen unschuldigen Spaß in dem Weg gelegt zu haben.« ––

[256] Die ältere Jungfer Bogen, wie sie sich nennet, bemerkte einen kleinen Streit unter den jungen Frauenzimmern und Herrn. –– Frau G** war auch darein gemengt. – Wir näherten uns, und hörten, daß es über eine abwesende Schönheit sey; – und Mannspersonen fragten, woher es komme, daß Frauenzimmer eine fremde Schöne mehr lobten und besser von ihr sprächen, als von einer, die unter ihnen wohnte? –– »O, Jungfer Bogen!« – riefen die Mädchen: –– »Sie müssen den Knoten auflösen.«

»Das ist leicht, meine Kinder. – Es ist die nehmliche Ursache, aus welcher die Männer nur verstorbenen Gelehrten eine Lobrede halten.« – Da war Freude bey dem Frauenzimmer und die Männer lächelten auch über den Ausspruch. – Der ganze Nachmittag und Abend ging vergnügt vorüber. –

Die Bogenschen Schwestern wollten niemals mehr, als die Anschaffung eines Thee, Caffee, einer Limonade, oder eines Obstes bey sich erlauben, und sie haben Recht. Bey ihrer einzigen Magd und erlebten Jahren wäre es zu unruhig – »und dann,« sagte Carolina Bogen, »verlöhr ich den größten Werth meines [257] Hauses, worinn junge Leute lernen sollen, oft ohne Essen und Naschen, bloß durch nützliche, muntre Gespräche und anständigen Zeitvertreib, einige glückliche Stunden hinzubringen. –– Was anderswo geschieht, geht uns nichts an. – Aber bey uns ändern wir nicht.« ––

Es wär auch Jammer und Schade, Mariane, denn die Zeit in diesem Saal geht herrlich vorbey, und die Schwestern sind wir sehr ehrwürdig. – Wenn jemand Trost braucht, Rath, und Gelegenheit einen Freund zu finden, eine Aussöhnung zu veranstalten: so geht man zu Bogens. – Söhne und Töchter suchen ihre Vorsprache bey den Eltern. Sie warnen die jungen Leute, machen sie ihre Pflichten lieben und erhalten dabey in ihnen einen vaterländischen Geist und Sitte, das mich etwas sehr Wohlthätiges dünkt. Die Mädchen bleiben auch durch sie auf dem Mittelwege der Moden und äffen nicht so gleich alles nach, sondern nur, was ihnen recht wohl steht; – und das ist billig. Denn so lange wir keine Nationaltracht haben, müssen wir wohl den Abänderungen folgen, die in der französischen Kleidung, nicht allein von [258] den Leichtsinn dieser Nation, sondern auch von ihrer politischen Vorsorge für den Fortgang ihrer Fabriken herrührt. – Mode – ist bey ihnen Grundlage des Wohls von vielen Tausenden geworden; Mode – die Triebfeder zu Anstrengung des Geistes in tausendfachen Erfindungen und Arbeiten; und noch, mein Schatz, dünkt es mich der Frage werth zu seyn, ob man nicht auch das Vergnügen mit berechnen soll, das so viele tausend Menschen haben, nach der Mode gekleidet zu seyn. – Kleider müssen wir haben. Wenn wir nun mit dem Bedürfniß Freude verbinden können: warum sollen wir es nicht thun? – –

Sehen Sie, das war ein Stück, so ich zur Unterredung lieferte und man war damit zufrieden. Man tadelte nur die wenige Solidität, welche alle die schönen Modesachen haben. Da kamen die Gedanken, daß artig und gründlich nicht zusammen tauge – Aber artig und leicht, schön und gründlich, – dies Aussuchen und Gegeneinanderhalten des Werths und der Schicklichkeit der Ausdrücke, nahm einen guten Theil Zeit hin. – Man sprach noch von der Mahlerey, und die Franzosen wurden auch des Leichtsinns beschuldigt, [259] daß sie die Pastellgemählde so hoch schätzten, die gar keine Dauer hätten. – Der Schade wäre aber auch leicht ersetzt, sagte jemand, und es wäre zu wünschen, daß es noch mehr pastellartige Sachen unter denen gäbe, die aus Bosheit, Eigensinn, Dumheit und Eigenliebe verdorben und zu Grunde gerichtet würden, damit jedem Uebel durch eine geschickte und leichte Hand bald abgeholfen werden könnte.

»Nein, das wollt ich nicht,« sagte die Bogen, »da verlöre das Gute selbst seine Natur der Dauer und Gründlichkeit und es fänden sich Leute, die sich Böses und Schaden thun zum täglichen Spielwerk machten; das wäre ja noch ärger als wenn eine heftige Leidenschaft uns dazu bringt, dem Nächsten zu schaden und ihn zu betrüben; wobey man noch hoffen kann, es werde dem Menschen in seinem Leben nicht mehr widerfahren, so weit zu gehen.« – –

»Sie haben Recht,« fiel einer von den Männern ein. –– »Ich will lieber Einem verzeihen, der mir in der Wuth des Zorns einen Degenstich gibt, als dem, der mich hundertmal mit Lächeln den näckenden[260] Schmerz des Rizens mit einer Nadel fühlen liesse. Der Erste ist ein bessrer Mensch, als der Lezte.«

»Das ist wahr,« – sagte ein Dritter, »denn tausendmal wird Einer, der den Degen gegen seinen Nächsten zog und ihn beschädigte, sich hinwerfen, Reue fühlen, Jammer selbst leiden – bevor Derjenige es einmal bedauert, der mich durch Zungenstiche, feiner, lächelnder Gedanken gekränkt, oder gar den Grund meines Unglücks gelegt hat.« –– »Auch,« – wurde wieder gesagt, »vergibt man eher dem, der uns haßt, als dem, der unser spottet.« ––

Madame G**, die immer die Lust und Geschicklichkeit hat, eine Unterredung, wenn sie ihr zu ernsthaft wird, ins Muntre zurück zu führen, fing an: »Da bin ich Euch allen recht gram, daß Ihr von den Pastellgemählden auf alle die fürchterlichen Ideen gekommen seyd. – Ich hatte so was Artiges zu sagen; – und nun muß ich es ungenuzt nach Hause tragen, und verliehr es vielleicht gar unter Wegs.« – Nun waren wir alle mit Bitten da, sie möchte es noch sagen; wir wolten es aufheben. – Es dauerte lange, [261] eh sie heraus kam. – »Nun, ich denke, ein Theil Frauenzimmer in Frankreich schützet die Pastellmahlerey, weil sie meistens selbst lauter solche Gemählde vorstellen.« ––

Sagen Sie, Mariane, sind nicht die Tage, die man mit diesen Frauenzimmern verlebt, glückliche, angenehme Tage? Ich will sie auch recht benutzen, –– so wie Julie Otten es verspricht, wenn sie nun auch in ihrem neuen Hause, nicht weit von dem Meinigen, wohnen wird. – Bin ich nicht ein gesegnetes Geschöpf, durch die Bekanntschaft mit so viel guten Menschen? – Ich will auch, aus Dankbarkeit gegen die Vorsicht, bemüht seyn, eins von den besten Menschenkindern zu werden.

[262]
80. Brief
Achzigster Brief
Rosalia an Madame Guden.

Sie lieben edle Menschen – und tragen immer so viel bey, Glückliche zu machen, daß ich gewiß bin, Ihr gutes Herz zu erfreuen, wenn ich Sie versichre, daß mirs bey meinen alten Freunden und Bekanten wohl ergeht – und daß ich Ihnen danke, meine Aufmerksamkeit auf das Gute so sehrverstärkt zu haben. – Madame G**, die mit mir hier ist, sagt zwar, was man gern glaube, sehe man leicht; – und wünscht mit einem gottlosen Muthwillen, daß irgend ein Zufall den Ton meines Herzens, ins Argwönische stimmen möchte, und daß mein Kopf dadurch zu nichts als Kritiken und Tadelsucht gebracht würde. – Das sollte ihr eine Lust seyn, meine jetzige lebhafte Empfindung für jedes geringste Gute, in einen immerwährenden Kampfe gegen das Schlechte und Böse zu sehen. Sie denkt es würde ein ganz besonderer Grad Witz und Rachdruck in meinem [263] Tadel liegen, wenn er nach dem Verhältniß meiner entzückten Redensarten bey dem Schönen, sich in Bitterkeit und stachlichten Gedanken bey Häßlichen zeigte. – Sie sagte, ich würde erst darinn die Stärke meines Scharfsinns geniessen und kennen lernen. ––

Scharfsinn geniessen, in dem Tadel meiner Nebenmenschen! Ich will nicht! – Lieber keinen Scharfsinn haben. Alles, was sie mir da noch sagte, fiel mir schmerzlich und sie trieb mich bis zu einem Anfall von Unmuth; wo sie dann endlich mit offnen Armen gegen mich ging und mit Zärtlichkeit sagte: »Vergeben Sie mir, Rosalia! Dies war die einzige Seite Ihres Charakters, die ich noch nicht ganz kannte. – Ich habe Ihre Lieblingsideen angegriffen, um Sie böse zu machen; weil ich erst kurz vor unsrer Abreise in einem Schriftsteller las, daß man den Grund einer Seele nur in wichtigen Bewegungen der Eigenliebe ganz sehen könne, und daß ganz allein bey diesen Erschütterungen, das Wahre, so in uns liegt, an den Tag komme. – Edelmüthigkeit liegt hier tief;« – sagte sie, indem sie eine ihrer Hände auf mein Herz hielt, »ihre Wurzeln haben [264] sich in alles verbreitet. Bleiben Sie immer Enthusiastinn, wie ich Sie so oft nennen hörte. Es ist die beste Gattung Gespenster, die uns Menschen erscheinen können.« –

Ich wurde sehr gerührt, diese Frau so sprechen zu hören; ob ich schon vorher in hundert Gelegenheiten gefunden hatte, daß ihr anscheinendes rauhes Wesen nicht aus Mangel wahrer Güte entstand, sondern aus zu großer Lustigkeit, mit der ein hoher Grad feinen Gefühls nicht in gleichen Schritt gehen kann. Ich wolte Ihnen diesen Zug aus dem Charakter der Frau G** gleich schreiben, weil Sie doch jetzo die Sammlung meiner Briefe, und der würdigsten Freundinn ihre, bey sich haben, worin Madame G** oft vorkommt. –– Diese soll von Ihnen geschätzt werden, wie sie es verdient.

Und nun hören Sie mich auch etwas von den Ueberresten eines Schlosses erzählen, an dessen Mauren ich einen seligen Tag hinbrachte.

Mein Oheim, der als geschickter und rechtschaffner Rechtsgelehrter, und durch seine Stelle, als fürstlicher Geheimer Rath, sehr bekannt und geschäzt ist, wurde zu einer angesehnen [265] adlichen Familie, auf ein Paar Tage auf das Land geladen. – Er bat sich die Erlaubniß aus, mich mitzunehmen, und wag in seinem Briefe mit vieler Liebe von mir gesprochen haben, denn ich wurde mit größter Güte aufgenommen. Unterwegs erzählte er mir die Eigenschaften der Personen die ich da sehen würde – und setzte unter andern hinzu: »Ich würde mich sehr betrügen, Rosalia, wenn die Eindrücke, welche dies Haus auf Dich machen wird, nicht auf dein ganzes Leben dauren.« ––

Indem er meine Erwartungen so erregte, bemerkte ich, daß wir einen ganz sonderbaren, für mich aber höchst angenehmen Weg reisten, der recht dazu gemacht schien, alle Gedanken des Kopfs und alle Gefühle des Herzens, zusammen gedrängt zu halten, um sie desto stärker sehen und empfinden zu lassen. – Man kommt erst über einen hohen, unbewohnten Berg, von dem man lange nichts, als andre höhere und niedere Berge sieht; denn er wird nur an seinem Abhang, gegen das Bad Ems, fruchtbar und freundlich. – In dem Bade bedauerte ich die Gleichgültigkeit der Eigenthümer, daß sie so wenig für die Verschönerung [266] und Zierde darin thun, – wodurch doch um so viel mehr Menschen angezogen würden. Denn die Tugenden des Wassers und die natürliche Lage sind ganz herrlich. – Von da wird der Weg immer enger, zwischen einer Reihe von Bergen, die auf einer Seite Wein, und auf der andern Waldung haben. Das sich ganz schmal durchziehende Thal theilt sich meist unter kleinen Wiesen, einen Fluß und einem Fuhrweg – und so einsam, durch begränzte Aussicht begleitet, kommt man nach N*** ff. Ich kann sagen, daß sich mein Herz erhob, als ich das Dach dieses Wohnsitzes der edlen Gastfreyheit erblickte; weil ich wußte, daß ich darin jede, den Nächsten glücklich machende Tugend, antreffen würde.

Gerechtigkeit, und Menschenfreundliche Unterstützung für die Unterthanen, Leutseligkeit, gegen Geringe, – Güte, Höflichkeit, und Freundschaft in ihrer ganzen Würde, nach dem richtigen Maaß des Verdiensts, mit der feinsten Achtsamkeit an Alle ausgetheilt. – Ueberall Ordnung, schöner wahrer Geschmack, mit einer großen, und edlen Einfalt verbunden. –

Der Herr des Hauses, wahres Urbild eines Mannes von Ehre, Rechtschaffenheit und [267] Wohlwollen. – So, glaub ich, sah immer der erste Ahnherr aus, der einen so reichen Schatz von Ruhm gesammlet hatte, daß seine Nachkömlinge, nach Jahrhunderten noch ihren Antheil daran geniesen. ––

Die Dame zeigt in Allem die ganze Bedeutung des Ausdrucks und Werths der edlen, würdigen Familienmutter. – Die Gestalt ihrer Person bezeichnet die große richtige Bildung ihrer Seele. – Und wie stark Klugheit, beweisen dieses ihre Unterredungen voll wahrer Menschenkenntniß und Gottesfurcht; ihr Anstand, der Ton ihrer Gedanken, der Führung des Hauswesens und der Erziehung ihrer edlen, verdienstvollen Kinder, welche in der That alle vortrefliche Eigenschaften des männlichen und weiblichen Geschlechts unter sich vertheilt haben. – Und um mich, meine Theure van Guden, eines Ihrer Ausdrücke zu bedienen, so sind die moralischen Vorzüge, die Eltern geben, und Kinder erwerben können, bey einem jeden der Söhne und Töchter, in einer eignen Schattirung, und eigenen Form. Möge doch der Ton der Seele dieser Familie sich bis auf die spätsten Enkel fortpflanzen! – so werden wir immer Modelle und Beweis von Adel haben. –

[268] Mich dünkt aber dabey, – daß der Wohnplatz die ser edlen Familie durch seine, von Andern abgesonderte Lage, ja selbst der tägliche Anblick der Ueberreste des Stammhauses, vieles zu der Selbstständigkeit ihres Denkens und ihrer Handlungen beygetragen hat; –– indem, da sie ihren Gang allein nahmen, das Anstossen, Mitziehen und Reiben der Andern die Ausbildung ihrer eignen, edlen Form nicht hinderte, und sie hingegen oft genug in Gesellschaft kamen, um durch die feine Gefälligkeit, im Umgang das beliebte Aeusserliche zu erlangen; welches aber in dieser Familie nichts anders ist, als die Glättung, welche die Hand eines Phidias seinem Meisterbilde zulezt giebt. –– Ich wünschte Sie hier, meine Freundinn. Sie würden sich gewiß mit einem Theil der großen Welt versöhnt haben. – – Umstände helfen zu Vielen und hindern auch viel. ––

Aber kommen Sie. – Wir fahren in einer großen Gesellschaft über einen Fluß und steigen auf einem sehr gemächlichen Weg den Berg hinauf, an dessen Hälfte die Ruinen des Stammhauses stehen. Der schroffe Felsen, auf den es gebaut war, macht noch einen [269] Absatz grad über der Ecke des Bergs, die sich auf einer Seite an dem Fluß, und auf der andern, an dem Ende eines einsamen Wiesenthals hinstrecket. Von dem alten Schloß an ist die Oberfläche des Bergs mit tausendfachen Kräutern und Gesträuch bedeckt und die Dame hat viele hundert Obstbäume da pflanzen lassen. Denn lange war da Alles öde und verwildert, bis die thätige und empfindungsvolle Seele dieser Frau das fruchtbare Benutzen, und die angenehme Aussicht mit Vergnügen geniessen machte. Unendlich schätzbar ist mir der schöne, leutselige Gedanke, den sie hatte, allen ihren Hausgenossen Antheil an der Umschaffung dieses Stücks ihrer Güter zu geben. Denn nicht nur die Kinder, ihr Hofmeister, der Secretair des Herrn, sondern auch der Hausmeister und alle Bediente, wurden eingeladen, sich einen Fleck auszusuchen und nach ihrem Geschmack zu verschönern. Nur mußte Alles in lebendem Grün gemacht werden. Dieses war gewiß edle Herablassung und edles Mittheilen. Denn wie süß mag Jedem von den Bedienten das Vertrauen in seinen guten Verstand, das Hinsetzen, Pflanzen und Wachsen seiner Ideen, vermengt mit der Dame, [270] mit der jungen Herrschaft ihren, gewesen seyn! Es kann auch keine klügere Art von Erheben und Gleichstellen geben, als diese war; weil mich dünkt, daß bey Arbeiten und Anpflanzung der Erde, wohl immer ein hoher Grad Vergnügen und Zufriedenheit, aber niemals der Stolz und Uebermuth entstehen wird, die aus Stadt- und Hofgewerben und Künsten entspringen. – Ich nehme mir würklich vor, auf meine Gefühle Achtung zu geben, wenn ich von einem Spaziergang im Felde wieder in die Hauptstrasse meiner Stadt zurück komme. Wären Sie nur mit mir in R*** ff gewesen, und hätten all die freundlichen Laubhüttchen gesehen, zu denen man bald einen kleinen Mooßweg hinab geht, dann zu einem Andern einige Grasstufen hinauf steigt; – Bänke von Moos an dem großen Weg hin, von allerley Gesträuch beschattet; tausendfache Grasarten und Blümchen daneben; Erdbeeren, die dazwischen herausgucken und die sie bey gemächlichen Dasitzen pflücken können! Ich segnete die würdige Dame bey jedem Schritt, daß sie der Natur so wenig Gewalt angethan hatte – und alle diese unzähligen Gras- und Straucharten auf ihrem ursprünglichen [271] Boden fort wachsen läßt. – Unmerklich kommt man höher und findet Rosenlauben, Gebüsch, einzeln hohe Bäume, die gegen den Abhang des Bergs stehen und ihre Zweige über den Weg hin wölben. Wenn man auf der Höhe ist, so tritt man auf einen hübschen Raum mit Bänken besetzt. Dort nahm die ganze Gesellschaft Platz und ergötzte sich an der Aussicht, über den Fluß, wo Berge mit Wäldern, die kleine Stadt, und der schönste Wiesengrund ist. Ich saß gerade gegen den Weg hin, und genoß also am ersten den artigen Anblick; da unter dem grünen Gang her fünf sehr reinlich gekleidete Mägde mit weißen Schürzen, schöne weiße Körbe auf dem Kopf, aus denen oben Blumensträusse heraus sahen, eine nach der Andern herauf kamen und uns vorbey gingen. – Wir, eine Reihe auf verschiedene Art hübsch gekleidetes Frauenzimmer, auf einem so ländlichen Platz; der Auftritt dieser Mägde aus dem Laubgewölbe und dann das liebliche Staunen von uns allen, da wir aufgerufen wurden, an der Felsenwand hinüber zu gehen und dort einen schönen Rasenplatz, mit niedrigen Hecken und Bäumen auf beyden Seiten, und in der Mitte davon einen, [272] auf die niedlichste Art gedeckten Tisch antrafen, eine neue Aussicht auf die linke Seite des Bergs gegen das einsame Thal hin hatten, und von der andern den Fluß, und die Ergiessung eines Bachs in ihn, der durch dieses Thal herunter kommt. Wir giengen hier zerstreut spazieren und vergnügten uns an all den einfachen und schönen Abwechslungen An den Ruinen des Stammhauses sind Rosenstöcke gepflanzt –– darüber sagte ein Geistvoller Mann: – – »Es dünke ihn, den Grabhügel eines alten Edlen von Deutschland durch würdige Enkel mit Blumen bestreut zu sehen.« ––

Reizend schien mir das seltene Talent einer jungen, liebenswürdigen Dame von Hannover, die alle Kräuter, welche unter den Füssen, oder vor ihren Augen waren, nach ihren Namen und Tugenden kannte, bald dieses, bald jenes pflückte und zwischen jedem ihrer artigen Finger ein ander Blümchen oder Blätchen hielt, die sie mit viel Anmuth hin und her wand und die, wovon sie etwas zweifelte, mit gleichem Vertrauen auf ihre Kenntniß und auf die Güte der Natur zerkaute und dann auf Latein und Deutsch die Namen sagte. Es waren [273] einige fremde Herrn und zwey Söhne des Hauses da. Die Dame hatte das Abendessen in einer, in dem alten Schloß zurecht gemachten Küche, zubereiten lassen. Aber die Bedienten zu ihrer gesetzten Zeit nach Hause zu Tische geschickt. – Diese blieben etwas lang aus. Die feine Sorgfalt dieser an alles denkenden Frau für einen sehr ehrwürdigen, bejahrten Cavalier, dem die zu späte Abendluft schaden konnte, machte sie unruhig wegen des verzögerten Auftragens der Speisen und sie faßte eine allerliebste Idee, dem Hausmeister zu sagen, er möchte so viel Servietten aus dem Tischkorb nehmen und der Küche zutragen. – Dann winkte sie den jüngern Herrn mit einem freundlichen und bedeutenden Blick, ihr zu folgen, und auf einmal kamen alle in einer Reihe nach ihr, und trugen mit einer vergnügten und höchst anständigen Mine, die Schüsseln auf den Tisch, ruckten den Frauenzimmern die Stühle und blickten nach der Dame, um weitere Befehle zu erhalten. Sie dankte ihnen mit einer Verbeugung, weiß ihnen auf die Plätze umher, die unbesetzt neben dem Frauenzimmer waren, und sagte, sie möchten nun die Mahlzeit mit geniessen, die [274] sie aufgetragen hätten. Dieser Gedanke, uns durch diese artigen Leute das Essen zu schaffen, beseelte die Unterredung auf lange Zeit. Die Lichter wurden unter Glaskolben aufgesetzt, und der Ton einer Flöte machte ein völliges Schweigen, da gleich auch ein Harfe mit einstimmte. – Diese sanfte Musik, zwischen dem dumpfen Rauschen des Flusses; das ganz Dunkle der Berge umher; die nach und nach erscheinenden Sterne über uns; das schwache Flimmen der Lichter in den Häusern des Städchens; lebhafte, aber sanfte Freude in allen Gesichtern, und diese Familie, diese einnehmende Familie! – O, meine liebe van Guden! was war das für ein herrlicher Abend für mich! – Ich dachte Sie; Ihre so gefühlvolle Seele würde entzückt gewesen seyn. – Sie denken wohl, daß wir Fremde alle in dem Lobe vereinigt waren, das wir der Anlage dieses Lustplatzes gaben. Es freute die würdige Stifterinn davon. Aber sie lenkte auf eine ihr eigne großmüthige Weise, unsre Aufmerksamkeit auf die Erzählung, die sie uns von einer großen Anlage vieler vortrefflichen Abwechslungen machte, die, nicht weit von hier, von einer verdienstvollen Dame herkäme, [275] wo wir edle Seelen, eine schöne Wohnung und die herrlichste Aussicht auf eine deträchtliche Strecke Lands, in welcher der Rhein die fruchtbare Gegend durchfließt, finden würden. Sie beschrieb einige Theile dieses weitläuftigen Lustwalds, die ungemein schön seyn müssen; und wir sind alle fest entschlossen, alles dieses zu sehen. ––

Ich verehrte die Großmuth dieser Frau, da sie unsre Empfindung für das Reizende, so sie uns gezeigt hatte, durch Erhebung der Ideen einer andern Dame, zu schwächen suchte, und uns mit der Begierde, andres Verdienst zu kennen, von sich abreisen ließ. –

[276]
81. Brief
Ein und achzigster Brief
Rosalia an Mariane S**.

Glücklich bin ich mit meinem treuen Oheim zurück gekommen und nun hören Sie, warum er mich so lange bey Ihnen gelassen, und noch sonst spazieren geführt hat. Das Erste um vieles von seinen Geschäften auf einige Zeit zu besorgen und das Zweyte, um Clebergs Ankunft in der Gegend meines künftigen Wohnsitzes zu erwarten. Er ist schon seit acht Tagen auf dem Lande, nur eine Stunde von hier, und hatte unsre Rückkunft verbeten, bis er die Zimmer in unserm Hause, welche er sich nach, seinem Geschmack anordnen wolte, durch dem Tapezirer, den er als Bedienten mit gebracht, fertig gemacht haben würde. Und auf die Anzeige, daß er nur noch uns erwarte, reiste mein Oheim ab. – Abends kamen wir hier an, und speisten bey Frau G** zu Nacht, die mit ihrem Mann ausserordentlich vergnügt über unsre Rückkunft schienen. Otte und seine Julie zeigten den nehmlichen [277] Grad ausserordentlicher Freude. – Ich schlief sehr zufrieden über die Liebe dieser zwey Familien ein, und träumte gewiß nicht von Cleberg, und seinem Aufzug, als hier angestelten Residenten des Hofes von N**; noch weniger aber dachte ich an die Eile mit welcher mein Oheim dieses und alles Uebrige veranstaltete. Ich stand in Wahrheit sehr wohl und gesund auf. Mein Oheim freute sich bey dem Frühstück darüber mit Herrn und Frau G** Diese fragte mich, ob ich nicht etwas Neues von Kleidungsstücken mitgebracht hätte? ––

»Warum fragen Sie mich denn, bey alle den Männern?« sagte ich; denn Otte war auch in seinem Frack bey uns. – »Sehen Sie, wie Alle lächeln, daß so gar die erfahrne und weise Frau G** sich nicht enthalten kann, der Göttinn Tändeley ein Opfer ihres Verstandes zu machen, und, anstatt nach neuen, guten Menschen und Sachen zu fragen, nur gleich nach Kleiderzeug begierig ist.« ––

»Hätt ich gewußt, erwiederte sie, daß eine so ernsthafte Anmerkung über mich das Erste wäre, so Sie auspacken würden: so [278] hätte ich mit meiner Frage zurückgehalten. Indessen will ich den lieben Onkel da fragen, ob Rosalia nicht etwas Artiges von ihm geschenkt bekam? – –

Ich glaube, es muß artig seyn; denn Rosalia hat es selbst ausgewählt und sie soll ihre Freundinn auch für die spitzige Note, über Ihre unschuldige Neugierde, schadlos halten – und sich darin putzen; damit Sie und Julie gleich sehen können, ob es ihr gut steht und die Form artig ist.« ––

»Aber, lieber Onkel, es ist zu kostbar im Hause, und ich mache heute noch keine Besuche.« ––

»Das will ich auch nicht. Aber eine kleine Galla kannst Du ja unsern Freunden und uns selbst, über unsre Rückkunft, machen.« –

Ich sah ihn noch einmal mit einem kleinen lächelnden Kopfschütteln an. Er klopfte mir freundlich auf die Backe. »Thu es, Liebe, und mache mir Ehre für mein Geld!« –

Da sah ich, daß es ihm Ernst war, und ich versprach es; – zog auch in der That das weiße, von schön gemuschtem Seidenzeug, auf die Taille passende, und sehr reich garnirte Kleid an, wie auch die übrigen Stücke, so [279] dazu gehörten, und ging um eilf Uhr in sein Zimmer. –– »Sind Sie zufrieden, lieber Oheim, daß ich so schön bin?« ––

»Ja, Liebe!« sagte er, – »Du bist wahrhaftig schön, wie eine Braut. Du mußt einmal auf Deinen Trauungstag so gekleidet seyn!« ––

»Das will ich auch, weil es in England, das ich liebe, so gebräuchlich ist.« ––

»Käme nur heut Dein Cleberg!« ––

»O, nein! das will ich nicht, mein Oheim. – Der Rock soll in Jahr und Tag noch schön genug zum Brautrock seyn.« –

»Wenn aber deine Gesichtsfarbe nicht so heiter wäre, wie heut, so verdrösse wichs. Denn Du siehst recht gut aus. Cleberg würde in Dich verliebt, wenn er es noch nicht wäre.« ––

»Lieber Oheim, warum plagen Sie mich heute so viel mit meiner armen Figur?« –

»Arm, Rosalia! – Du bist heute wahrlich nicht arm, glaube mir.« ––

Sein Bedienter kam, ihm zu sagen, daß es halb zwölfe sey. Da wünschte er mir guten Morgen auf Wiedersehen; wie er immer zu hnn pflegt, wenn er mich wegschicken will. [280] Ich ging in mein Zimmer zurück, wohin Madame G** und Julie in kurzer Zeit nachkamen, weil sie mein Oheim, wie sie mir erzählten, zu mir gebeten habe. Sie lobten mein Kleid und mich wieder, eben wie mein Oheim. ––

»Kinder Gottes! sagte ich, lassen Sie es mit diesem Ton genug seyn. Ich bin fürwahr meiner selbst herzlich müde. Es dünkt mich, ich müsse einmal mit meiner Kleidung und Person etwas sehr tadelhaftes hier gethan haben, well ich den ersten Tag meiner Rückkunft so sehr damit gestraft werde. – Sagen Sie mir meinen Fehler, liebe Julie; ich will mich gewiß bessern.« ––

Sie versicherten mich, daß es gar keine Spötterey sey, sondern daß sie nur meinem guten Oheim in seinem unschuldigen Scherz beygestimmt hätten. Wir assen zu Mittage recht munter, aber etwas geschwind, denn wir wollten zu Kahnberg einen Besuch machen, sagte mein Oheim. Herr und Frau G** begleiten uns. – Herr G** entschuldigte sich; sie aber nahm es an. – Ich wollte mich umkleiden, es wurde nicht erlaubt und wir fuhren in einem schönen neuen Wagen mit vier Postpferden [281] nach Kahnberg. Ein Stück Wegs davon hielten wir stell. Der Bediente fragte an; aber sie waren nicht zu Hause. ––

Frau G** sagte da meinen Oheim bittend. »O, wir wollen nicht den nehmlichen Weg zurück. Fahren Sie doch über Langensee; dann kommen wir bey dem Seethor in die Stadt zurück, welches ohnehin näher an meinem Haus ist; und heut ist Kirchweihe da. Wir sehen also vielleicht auch im Vorbeyfahren einen Bauertanz.« – –

»Nun ja,« – sagte ich, – »ich hab auch einen Kirchweihrock an« – –

»Ich bin es recht sehr zufrieden,« antwortete mein Oheim. »Kennen Sie jemand da, Frau G**? oder hat der Ort eine gute Schenke?« – –

»Das weiß ich nicht. – Aber der Pfarrer, ist ein sehr rechtschafner Mann; der hat seine Schwester bey sich, die eine meiner liebsten Jugendfreundinn war. –– Wenn Sie ein wenig ausruhen wollten, würde es die Leute und mich unendlich freuen.« –

»Aber, liebe Frau G**,« fiel ich ein, – »auf Kirchweihtagen sind immer eine Menge Besuche bey den Pfarrherren. – »Wollen [282] wir dennoch hin? Ich bekenne, es freuet mich nicht sehr.« – »Aber, wenn es Ihnen, mein lieber Oheim, angenehm ist, so wissen Sie schon, daß Ihr Vergnügen immer das meinige in sich schließt.« ––

»Ich wünsche, Rosalia, daß Du in der That die Sache heut so nehmen mögest. Dein Herz ist ja immer so bereit gewesen, Freude zu geben, wo du konntest, und Antheil an dem Vergnügen Andrer zu nehmen. Was ists, wenn wir auch Leute antreffen, so sind es gewiß lauter fröliche Gesichter und ich liebe die sehr.« ––

»Lieber, lieber Oheim! ich will auch so seyn, wie Sie mich am liebsten haben. – Liebe Frau G**, führen Sie uns zu Ihrer Freundinn.« ––

Nun wurde dem Postillion befohlen, stark zuzufahren. – Eine Viertelstunde vor dem Dorf, kam ein wohlgekleideter Mensch in vollem Galop geritten und fragte, ob wir des Herrn Pfarrers Gäste wären? Frau G** sagte lächelnd. »Das weiß ich nicht. Aber, wenn er noch Gäste braucht, so wollen wir kommen.« ––

[283] Der Mensch ritt wieder davon, und einem Wäldchen zu. – Als wir näher kamen und das Dorf recht sehen konnten, kamen aus dem Wäldchen bey zwanzig Bauern geritten, die alle hübsch geputzte Mädchen hinter sich sitzen hatten. Die Hüthe der jungen Pursche, die Haarzöpfe der Mädchen, die Mähnen und Schweife der Pferde, alles war mit allerley Bändern verziert und eingeflochten und sie zogen ganz stattlich vor uns her. In dem Dorf wurde Musik gemacht, und von den Bauern auch dazwischen geschossen. Ich fieng an mich wegen der Pferde zu fürchten. Aber er wurde still; nur die Musik dauerte fort.

Mein Oheim winkte dem Menschen, der uns vorher angeredt hatte, und die reitende Bauern mit ihren Mädchen zu comandiren schien. – Er fragte ihn, was denn ihr Aufzug bedeute?

»Ey, hat Ihnen denn der Herr Pfarrer nichts geschrieben?« –– »Nein, mein Freund. Ihr habt euch auch an uns geirrt, denn wir sind keine eingeladne Gäste des Herrn Pfarrers.« ––

»Das thut nichts, sagte der Kerl. Ich nehm heut, nach der Bibel, Alles auf der Landstrasse mit zum Hochzeitmahl.« ––

[284] »Ihr seyd gewaltig lustig, sagte Frau G**. Was ist bey euch zu thun?« ––

»Zu thun? Recht viel! – Da sehen Sie, forn bey uns sind vier Bräute, die werden heut alle copulirt. Wir haben unsern neuen Oberamtmann bekommen und der stattet sie alle aus und giebt dem ganzen Dorf, alt und jung, reich und arm, zu tanzen, zu essen und zu trinken.« ––

»Das ist brav, sagte Frau G**. Aber eure armen Leute werden doch nicht viel tanzen; das ist nur für euch lustige Reiche.« –

»Was, die Armen? – Die werden besser tanzen als ich; denn die haben am meisten von ihm bekommen, und wer des Guten nicht gewohnt ist, dem schmeckt es besser, als dem, der alleweil vollauf hat.« ––

»Also hat er den Armen auch gegeben? – Das ist viel, von einem Oberamtmann. Die machen sonst die Reichen arm.« ––

»O, der gewiß nicht, wenn er so bleibt. Er ist schön, und redt so gut, und so, wie Bauern, wenn sie redlich sind, und schafft auch Recht. Er hat da die Woche über in Pfarrhof helfen weißen und mahlen und ist auch den Morgen noch in die große Zehndscheure [285] gegangen, ob alles recht gemacht sey? denn dort tanzen wir heut Nacht.« –– Da sah er mir steif in das Gesicht. – –

»Jungfer! hat Sie schon einen Schatz?« –

»Ja, guter Freund! Warum fragt ihr? Möchtet Ihr sie haben,« –– sagte Frau G**.

»Ey behüte Gott! – so eine schöne Stadtjungfer ist nicht für Bauern. – Aber für unsern Herrn Oberamtmann wär es was.« –

»Ich bedanke mich,« – sagt ich. – »Aber da er so schön ist, hat er gewiß auch schon einen Schatz.« ––

»Höre Sie, man hat gesagt, mit des Herrn Pfarrers Gästen, käm sie mit – und deswegen sind wir Brautleute voraus geritten. Es thut aber nichts. –– Sie ist auch ein recht artigs Jungferchen, Ihre Tochter« – sagte er zu meinen Oheim, »es reut uns nicht.« – –

»Ihr sollt auch eine Aussteuer für Eure vier Brautleute von mir haben,« sagte mein Oheim.

»Nun, – man sagt, mit Verlaub,« da bückte er sich gegen uns – »ein Narr macht zehen. – Aber da macht unser guter, neuer [286] Oberamtmann, noch ein guten Mann, – und das ist mehr werth. Juhe! – auf Wiedersehen!« – rief er; schwung seinen Huth – und jagte voraus; kam aber noch einmal zurück und rief uns zu einen Platz anzusehen, der würde des Oberamtmanns Garten. – »Ich bin der Sohn vom Bauernhof daneben, und er will mir die neue Sachen lehren, wo alles doppelt wächst. Da baut er ein Haus hin, und sehen Sie, von dem Platz da, kann er in die Stadt und unser Dorf sehen.« ––

Es ist wahr, was er sagte. – Aber nun waren wir würklich im Dorf – Alle junge Mädchen und Buben, sauber gekleidet, hüpften herum, streuten Gras und wilde Blumen gegen uns. Alles war reinlich, aber doch ganz ländlich, und alle Gesichter freudig. – Wir fuhren an den Pfarrhof, Auf diesem waren alle Mauern geweißt und unten mit einer Einfassung bemahlt; oben an der Mauer, wie auch am Hause und Fenstern lauter breite, blaue Gewinde gemahlt, welches in der That recht schön stand. – Der Pfarrer und seine Schwester kamen unter die Hauslbüte, freuten sich über Frau G**, stutzten anfangs über uns, waren [287] aber sehr höflich und führten uns in ihr Wohnzimmer, das sehr hübsch ausgeputzt war. – Frau G** fragte da ob es wahr sey, daß sie heut ein Fest über ihren Oberamtmann hätten, wie der Kerl sagte? Der Pfarrer beantwortete es mit Ja, und vielen Lobsprüchen und Erzählungen all der gütigen und menschenfreundlichen Sachen, die der junge Mann seit vierzehn Tagen gethan. – »Sein Amthaus ist nicht gebaut und er wohnt in meinem obern Stock; daher konnte ich Sie nicht hinauf führen.« – Die Schwester erzählte auch eine Menge artige Sachen; besonders daß er vier Paar junge Leute ausgestattet und alle Arme gekleidet hätte. – Mein Oheim hatte Thränen in den Augen – »und mich erquickt das Lob, so ich von einem Mann machen höre, der gewiß eine edle Seele haben muß.« sagte ich, mit eben so viel Bewegung wie mein Onkel.

»Ich bin froh, Rosalia, daß Kahn nicht zu Hause war; wir hätten sonst den schönen Nachmittag nicht genossen und es ist doch süß, einen schätzbaren Menschen mehr zu kennen.« ––

[288] »Gewiß, mein lieber Oheim, dieser Mann muß rechtschaffen seyn, weil er, beym Antritt seines Amtes, doch wenigstens die Herzen seiner Untergebnen mit Freude und Zufriedenheit zu erfüllen sucht.«

Ich sah meinen Oheim voll Freude über diese meine Erklärung. Er ging nachdem von mir, blieb eine Zeitlang weg und indessen wurde mir noch immer von dem vortreflichen Beamten vorgeredt. Ich segnete ihn herzlich, und als der Pfarrer sagte, er wünsche, daß wir ihn kennen lernten: so versicherte ich, daß es mich freuen würde.

Nun kam mein Oheim zurück und winkte mir an der Thür. – Ich eilte zu ihm, und er führte mich an der Hand in des Pfarrers Garten, der auch gar artig aufgeräumt war. –

»Ich habe den Beamten gesprochen, sagte er, er ist ein lieber junger Mann.« – –

»Das muß seyn, wenn Alles, was der Pfarrer mir noch sagte, wahr ist.« – Wir waren da am Gartenhause, wo wir hinein gingen, weil man die Zehendscheune sehen konnte. Die war ringsum mit Garben und Fichtenreisig, in Kränzen mit Bändern gebunden, verziert; – große, lange Tische [289] standen auf beyden Seiten gedeckt, und Bänke umher! – Wein- und Bierfässer, Körbe mit Brod und Kuchen. – Inwendig war die Scheune auch bis an die Balken aufgeputzt und schön mit Laternen behängt. Ein fröhliges Gewühl von Leuten dabey, das mich sehr rührte. ––

»Du hast also die guten Landleute noch lieb?« ––

»O, mein Oheim, das wissen Sie, wie sehr ich immer ihr Wohl und Weh empfand, wenn wir reisten.« ––

»Nun werden wir nicht mehr viel reisen, mein Kind! Aber das Andenken der Freude, die Dein Kopf und Herz mir die drey Jahre hindurch machte, wird immer in mir bleiben, bis ich meine letzte Reise machen werde.« ––

»Lieber Oheim, warum kommen Sie bey dem Anblick so fröhlicher Menschen auf diese traurige Idee?« ––

»Rosalia! wilst Du sie mit nehmen? – Wilst Du mir den Tag so glücklich machen, als ich es wünsche, und als er für alle gute Menschen hier ist? Sag, liebe Rosalia, – wilst Du es thun?« ––

[290] »Können Sie das fragen? – Theurer Oheim, sagen Sie! was kann ich thun?« – Er reichte mir seine Hände zitternd, und äusserst bewegt, sagte ich es, seine Hände haltend und an ihm hinauf sehend. –– Er faßte mich in seine Arme und eben so bewegt, wie ich, sagte er:

»Nun, Rosalia! so gib heut Clebergen Deine Hand. – Er ist Oberamtmann hier. – Er ists, der alle das Gute hier veranstaltete.« ––

Ich sank auf den Stuhl. –– »O, mein Onkel!« – war Alles, was ich sagen konnte; und den Augenblick, war Cleberg bey uns, zu meinen Füssen. »Rosalia! meine theure Rosalia! fassen Sie sich. – Es soll nichts, nichts geschehen, als was Sie selbst wünschen.« ––

Frau G** und mein Oheim setzten sich eine Zeitlang in den Garten. Was konnt ich thun? – Einwilligen! – meines Oheims Segen und Thränen über uns fliessen sehen, und in der Kirche des Dorfs, mit den vier ausgestatteten jungen Bäurinnen und Taglöhnerbräuten getraut werden. ––

[291] Die Freude der guten Leute, ihre Glückwünsche für uns, daß wir in der nehmlichen Kirche, im nehmlichen Augenblick, die nehmlichen Pflichten gelobten, und von Gott auch nur die nehmliche Segenssprüche hörten, – das freute sie unendlich. Dieser Gedanke unterstützte mich und die Freude meines Oheims auch; sonst weiß ich nicht, wie ich es ausgedauert hätte. Wir zogen mit den andern verbeyratheten jungen Leuten aus der Kirche. Cleberg führte mich voraus, die Andern folgten uns.

»Sie haben mir doch die Ueberraschung vergeben? Sie war nicht mein Werk. – Unser gute Oheim wollt es.« – Ich schwieg. – Er fuhr fort: »Liebenswürdige Rosalia! vergeben Sie es um der redlichen Glückwünsche willen, die wir erhielten.« – Ich versicherte ihn meiner Zufriedenheit und ging mit an die Scheune, wo das Essen und Trinken ausgetheilt wurde und die Dorfmädchen den Bräuten eine schön gemahlte Kunkel zum Geschenk brachten, wovon der Rocken mit einer grossen Menge Flachs umwickelt, und mit Kinderhäubchen, Breypfännchen und Kinderklappern behängt war. – – Die Weiber und [292] großen Mädchen zusammen, brachten auch mir eine, eben so, aber mit dem feinsten Flachs beladen, mit einem schönen Wiegenband umwickelt, an welchem ein Breytopf, und ein Kinder-Waschnapf von Silber, eine Windel mit seinen Spitzen und Häubchen und Hemdchen angeheftet waren. – Das hatte auch mein Onkel verordnet. – Ich setzte mich und spann ein Paar Fäden. – Was diese Kleinigkeit den Leuten für Spaß machte, und wie sie mir zuguckten! Dann brachten die jüngern Mädchen einen Topf Milch, einen Korb mit Hühnern, einen mit Eyern und einen großen Topf Butter; stellten alles vor mich hin, und saugen ein Liedchen, wie die Aeltern eins bey der Kunkel gesungen hatten. Die Männer führten, nach dem Gebrauch, dem Oberamtmann einen Zug Ochsen mit dem Joch herbey. Die jungen Leute und Knaben, ein Kuhkälbchen und zwey Schaafe. Diese waren mit Bändern gezieret und der Schultheis sagte einen Spruch dabey. – Ich bot allen Weibern und Mädchen die Hand, dankte ihnen und gab jeder ein Geschenk an Geld, das ich in einem Körbchen auf einen Stuhl neben mir hatte. –– Cleberg machte es bey den [293] Männern so, daß sie Alles wieder zurück und noch Ueberschuß über ihre Auslagen bekamen. – Sie luden mich zum Tanz, den ich mir verbat! ausser dem kurzen Reihentanz, der um die Kunkel gehüpft wird; weil es meinem Oheim selbst gelüstete, mit mir und den vier Bräuten herum zu springen. ––

Sie sehen, Mariane, daß es nicht möglich war, zu mir selbst zu kommen. Wir gingen ins Pfarrhaus zu rück, wo wir in einem artig ausgemalten Zimmer ein feines und schmackhaftes Abendbrod fanden, wovon ich aber wenig essen konnte, weil die Gedanken von der so jähen Aenderung meines Standes, und all die Bewegungen meines Gemüths, die schon bey dem Frühstück angefangen hatten, mir Kopf, Herz und Magen genugsam anfüllten. – Mein Oheim war nicht gleich mit uns in das Zimmer gegangen und ich lehnte mich an ein Fenster, das in den Pfarrgarten, und auf das Feld ging, aber nicht auf den Platz der Scheune, sondern auf eine ganz einsame Strecke Landes. – Cleberg war bey mir. Da er aber sah, daß ich nur tiefsinnig vor mich hin, und dann mit Seufzen in die Ferne blickte, ihn nicht ansah, nicht [294] aufsuchte: so machte er mit der Hand gegen Frau G**, und die Andern ein Zeichen, daß sie weggehn möchten; – und so bald wir allein waren, fiel er vor mir auf seine Knie. –

»Ach, Rosalia! mein Glück ist nicht das Ihrige! – Ich seh, ich fühl es. – Gehorsam für Ihren Oheim, Gefälligkeit allein hat Sie an den Altar geführt. Ich hatte wohl Vorbedeutung, daß Ihre feine Empfindsamkeit beleidigt seyn würde. – Was soll ich thun? – liebe angebetete Rosalia! was kann ich thun – um Sie zu versöhnen, und zu beruhigen?« ––

»Stehn Sie auf, mein theurer, angetrauter Freund! – stehn Sie auf und glauben Sie, daß ich gewiß bey meinem Bündniß mit Ihnen mich eben so glücklich achte, als ich mich bemühen werde, Sie mit mir zufrieden zu sehen. – Es ist nicht Kälte, lieber Cleberg! nur etwas Müde, von so verschiedenen, sich so schnell folgenden Gefühlen. Sie sind von allen Männern, die ich kannte, der Einzige, der je meinem ganzen Herzen, und ganzen Kopf gefiel. – Sie werden es bleiben, und alle, alle meine Zärtlichkeit ist Ihre.« ––

[295] Meine Augen füllten sich mit Thränen. – Sein schönes feuriges Auge stand auch voll Wasser, als er, bey dieser Versicherung, voll Liebe und Vergnügen mich anblickte. Er stand auf und schloß mich mit Entzücken in seine Arme. – »Nun ist der Tag schön, nun ist er mir süß! Rosalia, Du sollst glücklich, gewiß glücklich in diesen Armen und an diesem Herzen seyn! – Es ist Tugend und Adel darin, wie in Deinem.« ––

Ich wurde doch blaß und zitternd. Er rufte Frau G** und meinen Oheim. – Beyde baten mich auch wegen der Ueberraschung um Vergebung und Cleberg ließ mich einige Tropfen guten Weines mit etwas Brodt nehmen. Der Pfarrer nebst seiner Schwester wurden nun gerufen und wir speisten alle recht munter. –– Um acht Uhr fuhren wir nach Haus; – Cleberg mit uns. – Da sagte mein Oheim: »Nun Kind, vergieß alles Unangenehme. Freue Dich meiner und Clebergs Freude! – Es war doch besser so. – Eine Bewegung hättest Du immer erdulden müssen, – versprochen warest Du schon lange. –– Ihr kennt und liebt Euch; – die Neugierde der Stadtleute und ihr Geschwätz [296] um Dich herum, wäre Dir gewiß lästiger gewesen, als die treue Lustigkeit Eurer Amtsunterthanen. – Es ist alles so verabredet gewesen, eh wir kamen; und heut, um halb zwölf, als mein Bedienter mir die Stunde anzeigte, hab ich den Herrn Residenten bey dem Stadtmagistrat vorgestellt, und unsre Frau G** da, und Julie haben als gute, Schwesterliche Freundinnen, zu Allem geholfen was ich für Dich wollte. – Nun sey zufrieden und zeige mir es in Deiner Miene!« – Er küßte mich da, und ich mußte den Kopf an das Kutschenfenster halten, daß er mich bey dem Schein der Fackel betrachten konnte! –– Frau G** umarmte mich. – »Vergeben Sie mir mein Schweigen und bleiben Sie, als Madame Cleberg, meine Freundinn wie Sie waren.« – Was konnt ich sagen? Ich küßte sie wieder, und sprach zufrieden mit. –– Wir stiegen an meinem Haus aus, wo Otte, Herr G**, Julie und ihre Schwester, nebst unsern Mägden und Bedienten, im Vorhaus uns bewillkommten; alle schön gekleidet und alles schön beleuchtet; denn schon unten brannten an den Wänden mein und Clebergs Namenszug hinter gelben[297] Glaskugeln, und an der Stiege hinauf bis in den Saal, waren diese Kugeln von allerley Farben, in Bogen und unsere Namen. – So war auch der Saal, wo, nach den Bewillkommungen und Glückwünschen, mein Oheim mir sagte: »Dieses Zimmer must. Du auch sehen« – und nach einem Segen, den ich auf meinen Knien empfing, wie er mir ihn auf seinen Knien gab, mich allein ließ, und meine Stubenmagd mir schickte. ––

Die vier Zimmer, so Cleberg hatte zurichten lassen, sind unsre Schlafzimmer. – Grün und weiße halbseidne Tapeten und Bettvorhänge mit breiten Streifen, ein schöner Nachttisch, der des Tags nichts als Tisch ist und inwendig alles Nöthige hat. In meinem Zimmer Clebergs Bildniß, wie er bey dem Eislaufen gekleidet war, in Lebensgröße; und in Seinem das Meinige, eben so im Pelzauzug, der ihm meine Gestalt so schön zeigte. – Es scheint, als ob in jedem Zimmer nur ein kleines Bettchen wäre. weil die Scheidmauer nur so weit durchbrochen ist, als die Bettgestelle reichen, die sich gegenüber stehen, und des Tags durch eine Feder, wenn die Betten gemacht werden, eine von dünnen Brettern und [298] mit Tapeten überzogne Wand sich dazwischen setzt und wir jedes in unsern Zimmern allein sind. – – So hat er auch ein Cramoisin und Weißes für meinen Oheim gemacht und ein mit lauter Gemälden im Großen, von London, Paris und Neapel, nebst neumodischen Stühlen geputzt. Alles Weißzeug, alles Hausgeräth fand ich fertig.

82. Brief
Zwey und achtzigster Brief
Cleberg an seinen Freund.

Nun, mein H**, zürnen Sie nicht zu arg, über mein Schweigen. Denn einmal konnte ich Ihnen den Ausgang der traurigen Begebenheit des edlen W** nicht früher schreiben, weil ich sie erst jetzt selbst hörte; – und dann hab ich eine evangelische Entschuldigung für meinen unterbrochnen Briefwechsel. Denn ich habe ein Weib genommen, und komme nur erst von einer romantischen Reise zurück, die ich mit meiner Rosalia machen [299] mußte. – »Mußte! sagen Sie! der tapfre Cleberg, der so lang an einem Amt wählte, bis er eins erhielt, wo er ohne nahes Oberhaupt, und ohne jemand an seiner Seite zu haben, nach seinem Kopf handeln kann; – Cleberg! der niemals Romane lesen, noch einen spielen wollte, – macht eine romantische Reise, – weil er seiner Frau gehorchen muß!« –– Und nun lachen Sie mit Freund Antua aus vollem Herzen über mich; – das gönn ich Ihnen, sonst hätt ich ja meine Reise anders erzählen können. Aber es dünkt mich in der That selbst lächerlich, daß ich mit der Eile nach dem Aufenthalt meiner Romanheldinn zog, wie man sie nach dem gemeinen Ton nennen würde; – Daß ich mir so wohl in ihrer Gesellschaft gefiel und mit eben so großer Mühe mich von ihr losriß, als von Ihnen und Antua. – Aber ich muß etwas weiter nachholen, um Ihnen meine jähe Heyrath begreiflich zu machen. Sie sahen mich immer voll Ruhm- und Freyheitsliebe. Wahr ists auch, daß meine Ehrgeizjahre früh anfingen, und so gar die Zeit wegnahmen, die andre Jünglinge meines Alters zu Vergnügen und Liebe verwenden. Empfindsamkeit schien dem [300] Fluge meines Kopfs, eine mir unanständige Sache; – und meine Rosalia war ehender Eroberung die mein Stolz, als die meine Zärtlichkeit wünschte. Alle junge Leute bewarben sich um sie und sie verwarf alles, was sich ihr anbot. Ihre Person, ihr Geist und Charakter waren reizend und der Gedanke, der einzige Vorgezogne zu werden, gefiel mir. Sie hatte erklärt, daß alle schöne Sachen, die man ihr vorsagen könnte, nichts über sie gewinnen würden, und daß allein der gute Ruf von Wissenschaft und Sitten, den Weg zu ihrem Herzen finden sollte. – Ich war da eben von Göttingen zurück gekommen und suchte nun einen Anlaß, unter ihrem Onkel zu arbeiten und mir das Lob dieses Mannes zu erwerben. Ich erhielt es und durch ihn auch die Stelle, in der Sie mich sahen. Dieser Mann bewies mir so viele Güte, daß ich nothwendiger Weise die äusserste Liebe und Dankbarkeit für ihn fühlen mußte. Ich drückte es ihm einst in voller Ergiessung aus. – Mein Ton bewegte ihn. – Er sah mich lang an, hielt meine Hand, – bedachte sich wieder, und sagte endlich: »Nein! ich kann mich nicht betrügen; – es liegt Rechtschaffenheit [301] in Clebergen und ich will beweisen, daß ich es glaube. Sie danken mir für das, was ich bisher für Sie that, ob ich schon durch das Vergnügen belohnt wurde, einem jungen Mann von Talenten auf eine thätige Laufbahn geholfen zu haben. – Ich schätze und liebe Sie, und kann es Ihnen nicht besser zeigen, als in dem Wunsche, Sie durch meine Rosalia zu meinem Neffen zu bekommen. – Aber Sie müssen dieses nicht als einen Antrag meiner Nichte ansehen, den ich als eine Zulage bey den Aussichten anbringe, die ich Ihnen schafte. – Es ist nichts, als der stärkste Beweis einer Väterlichen Hochachtung, die ich für Sie habe. – Ich wünsche, daß Sie mein Sohn, mein Verwandter wären, weil es mich freuen würde, einen jungen Mann von Ihren Verdiensten mein zu nennen. Aber Sie sollen in aller Freyheit seyn, wie meine liebe Nichte; die so sehr verdient eine der glücklichsten Personen ihres Geschlechts zu werden, wie gewiß einst ihr Mann der Glücklichste von dem unsrigen seyn wird.« ––

Verdiente dieser herzliche Mann nicht, daß ich ihm meine ganze Seele öffnete – und gestand, [302] was für Beweggründe mich zu ihm geführt hatten? – Er verwies mir in etwas meinen Ehrgeitz; war aber mit ihm zufrieden, weil er mich allem Ansehn nach vor erniedrigenden Fehlern bewahrt hätte. – Er hoffte, ich würde in Zukunft edlere Beweggründe, zu Erwerb des Beyfalls, in meiner Seele finden. – Sein Wunsch bleibe der nehmliche; aber ich und seine Rosalia wären durch mein Geständniß desto freyer. Seine Nichte müsse gewünscht und erworben werden. – Ich bat ihn, Rosalien ja nichts von seinen und meinen Aeusserungen zu sagen, und nur überhaupt das Gute von mir zu reden, welches er dächte; weil ich auch nicht den geringsten vortheilhaften Gedanken der Nichte, den Zuredungen des Oheims schuldig seyn möchte. – Er war damit zufrieden und hielt mir Wort. Ich verdoppelte meinen Eifer für Wissenschaften und meine Sorgfalt auf meine Sitten, sah Rosalien öfters' in Gesellschaft und bediente mich des einzigen Kunstgrifs, mit keinem Frauenzimmer zu sprechen, als mit ihr; ob es schon nicht viel war. Und dann suchte ich immer einen Platz zu haben, um sie sprechen zu hören und wo sie meine Aufmerksamkeit auf sich sehen mußte; betrachtete [303] ihre Person, ihre Kleidung; heftete dann meine Augen auch auf Andre, mit der nemlichen Untersuchung in meinen Blicken, die dann wieder auf sie zurückkehrten und oft einen Ausdruck von Bewunderung, manchmal von etwas trauriger Sehnsucht zeigten. – Sie war höflich gegen mich, wie gegen Andre, zeigte mir aber keinen Vorzug. Endlich kam die Liebe mit aller Gewalt in mein Herz und alles, was im Anfang Kunst und List eines Eroberers war, wurde Ausdruck der Furcht, ich möchte, wie Andre, mißfallen. Ich lernte Tag und Nacht am Violoncel, um sie auf dem Klavier accompagniren zu können. –– Ich erreichte einen Grad Fertigkeit und den Ton, der ihr gefiel. Ein Ausruf, den ich einmal that: »Gott sey Dank, daß Sie mit mehr Seele, als Kunst spielen,« – bahnte mir den Eingang in ihr Herz. Ihr Erröthen, ihr Blick, das schwache Zittern ihrer Finger, – o, wie glücklich machte mich all dieses! – Nachdem sprach ich, wurde gern gehört, ihrer Liebe versichert und konnte doch meinen Platz, als Gesandtschafts-Secretair antreten, alles Vergnügen meiner Reisen geniessen und war gewiß, das edelste, häusliche [304] Glück bey meiner Zurückkunft anzutreffen. Ich fand auswärts nichts Besseres, obschon an vielen Orten schöners und reitzenders Frauenzimmer; hätte aber Rosalien niemals vertauschen mögen, denn ich hätte auch ihren Oheim verlohren, und ich würde mich sehr glücklich schätzen, am Ende meiner glänzenden jungen Jahre, die edle Einfalt und weise männliche Güte zu finden, die den Charakter dieses Mannes bezeichnen. Er schaffte mir die Stelle eines Residenten und die Aufsicht über das kleine einzelne Amt, das mein Fürst ganz nah an dieser Stadt hat. – Die Hälfte seines Vermögens ist unser; –– nur die Hälfte, weil mein liebes, großmüthiges Weib die andre unter arme Verwandte vertheilen machte.

Nun haben Sie und mein Freund Antua den Schlüssel zu meinem trocknen, sonderbaren Betragen in Ansehung des schönen Geschlechts, das Sie mir so oft verwiesen. Ich habe Ihnen niemals von Rosalien gesagt, ihr Bild, ihre Briefe nicht gewiesen. Ich wollte alles, was sie mir war, allein geniessen und dann bekenne ich, freuten mich alle die Auslegungen und Vermuthungen über meine Kälte. Ein lebhafter hübscher Pursche von [305] vier und zwanzig Jahren, so Feuerfest, mitten unter flammenden Schönen und brennenden Liebhabern, lieferte Stoff genug, darüber zu reden.

Meine Frau beschreibe ich nicht. Kommen Sie zu mir, und sehen sie. Sie gefällt allen Edlen, allen Vernünftigen. Ich habe Ansehen, Vermögen, ein schönes Haus in der Stadt, eins auf dem Lande. Beyde sind Freunden und Bekannten und Fremden gewidmet. Schicken Sie mir alle artige Leute Ihrer Bekannten, die hier durchkommen; denn ich will, so viel ich kann, an Fremden belohnen, was ich von Fremden genoß. Der gesellschaftliche Ton unsrer Stadt wird sehr artig. – Für Spiel, Concerte und kleine Bälle, Schlitten- Land- und Wasserfahrten sorge ich. Mein Garten hat eine herrliche Lage zwischen einem Kirschenwäldgen, so einer Dorfgemeine gehört, die in meinem Amt ist, und einem Bauerhof, dem das Ackerfeld zusteht, aus dem ich den Garten machte. Mein Haus darinn wird bald fertig seyn und faßt drey Theile. In der Mitte einen offenen Saal auf starken Pfeilern, achteckig, der gegen die Landstrasse zu, die Bogen mit schönen Gittern bis auf [306] die Erde hat; gegen den Garten aber offen; an jedem Pfeiler eine schöne Lampe, und in der Mitte zwey zierliche Laternen, jede zu vier Lichter; an jedem Pfeiler eine Bank für drey Personen; der Boden ein schöner Guß, wo sich hübsch tanzen läßt. – Oben der nehmliche Saal, aber mit Fenstern bis auf den Boden und die Gitter nur Brusthöhe. Der ist in kühlen und Regentagen der Freude zum Schutz. – Gegen das Wäldgen zu geht ein Flügel, unten mit sechs kleinen simpel meublierten Zimmern für Rosalien, mich und Bediente; oben eben so viel für Freunde. Auf der andern Seite ist die Küche, der Keller und das Speisezimmer, nebst Wohnung der Küchenleute. Von dort gehts in den Bauerhof, wo ich alles recht schön werde machen lassen, wie auf dem Wollinghof von dem ich komme. Mein Garten ist ein schönes Parterre von Rasen und Blumen, über welches hin, ich die Aussicht auf die Stadt habe. Denn ich ließ ihn nur durch einen breiten und tiefen Wassergraben einfassen, über den eine Zugbrücke ins Wäldgen, und in den Bauerhof geht. Einige Vasen und kleine Lauben an dem Wassergraben hinunter soll alles Kunstwerk seyn, so hinein [307] kommt. Ich will keine Bildsäulen, sondern lebende, liebenswerthe Menschen darin sehen, – und eine Gruppe scherzender Amoretten soll Rosalia mir schaffen, denn es scheint mir unmöglich, daß die Kinder der holden, Gefühl- und Phantasiereichen Creatur, die ich mit so viel Feuer und Geschmack liebe, nicht schön seyn sollten. – Mittagstafel werde ich niemals geben, auch mit meiner Frau Mittags sehr mäßig, und wenn Sie wollen, gering essen; nichts als Suppe, Gemüs und Rindfleisch. Ader der Nachmittag von zwey Uhr, das Nachtessen und der Abend bis zwölf, soll allen Denen geweiht seyn, denen wir, oder die uns gefallen, es seyn Deutsche, Engländer, Franzosen, oder Italiener. Denn wir werden mit Allen ihre Muttersprache reden, und Vergnügen zu geben suchen. Aber den Morgen, bis zwey Uhr nach dem Mittagsessen, wollen wir unsern Berufsgeschäften allein eigen seyn. – Und so viel von mir, und eine herzliche Einladung an Alle, die ich bey Ihnen kenne. Nun von meiner Reise zu einem lebendigen Roman. ––

Meine Rosalia mußte mir, in den ersten Tagen unsrer Verbindung ihr Leben erzählen [308] und ihren Plan für unser häusliches Glück sagen, den ich Stückweis mit den Meinigen verwebte. Ich wollte dann auch ihre besondern Wünsche wissen, was sie thun würde, wenn sie ganz allein und unabhängig, wäre. Da sagte sie mir von einer Frau van Guden, die sie gerne besuchen möchte; daß dieses die größte Freude für sie seyn würde – und sie vom Schicksal und mir sonst nichts verlangen wolle. Das war viel ausgedruckt und ich bat sie um Nachricht über diese innige Freundschaft. Das wollte sie auf einem Spaziergang mir alles erklären; aber ich müsse mich von ihr führen lassen, daß wir nicht Leute anträfen, die sich uns anhängen könnten. – Nun gingen wir ein enges Gäßgen an der Mauer hin, in die kleine Vorstadt. – Kaum waren wir über die Brücke weg, am ersten Hause, als schon Männer, Frauen und einige Kinder gegen uns liefen, meiner Rosalia Hände nahmen und küßten. »Ach, wie lang haben wir Sie nicht gesehen! was macht unsre Mutter? ist sie wohl? Denkt sie noch an uns?« –

Meine Frau antwortete Allen liebreich und versicherte sie des Andenkens, Wohlseyns und der Liebe ihrer Wohlthäterinn; sagte Ihnen, [309] daß sie mit mir verheyrathet wäre und nun hier wohnte. – Da sahen sie mich an, ob ich wohl meine Frau werth sey, segneten uns, mit Ausdrücken, die mich äusserst bewegten. Nach einem freundlichen Kopfnicken von meiner Frau verliessen sie uns, und wir gingen in das Schulhaus, wo ich dreyzehn Knaben wohl, aber ganz gering gekleidet in einem großen, luftigen Zimmer schreiben und rechnen sah. Der Lehrer sprach mit Entzücken von Frau van Guden. – Dann waren, in einem andern Zimmer sechzehn Mädchen, die strickten, nähten und auch schrieben. Die Lehrfrau sprach, wie der Mann, im Ton dankbarer, ehrlicher Herzen. ––

Die Mädchen waren ganz arm, bürgerlich, aber sehr nett und säuberlich gekleidet, alle mit weißen Schürzen, und sahen sehr munter aus; und für Alle war meine Rosalia Erscheinung eines lieben Engels, der gute Botschaft bringt. Sie sah mein Staunen hörte meine Fragen in französischer Sprache, mit Lächeln an, und beschäftigte sich nur mit den Leuten; führte mich dann zu einem Geistlichen, der oben mit seiner Frau wohnt, und wies mir artige Zimmer. – »Hier wohnte [310] sie,« – Dann kam ich noch in einige Werkstuben, von Schreinern, von Webern, von Schustern. Allerwärts Ordnung, Wohlstand und immer Segenssprüche und Liebkosung für meine Frau. – – Endlich gings auf die Landstrasse gegen einen schönen Wiesengrund, mit Bäumen und Bänken besetzt. Da waren Weiber, die bleichten Wäsche, Andre spannen, und ihre Kinder um sie herum. Alle hüpften wieder um mein Weib, hingen sich an sie, und freuten sich, sie zu sehen. Da ist in einer Höhle des kleinen Hügels, eine gefaßte Quelle, Ruhebänke, Aufschriften, und Verzierung, mit einer halb zerstörten Treppe von oben her, an deren untersten Stusse ein zerbrochner Wasserkrug liegt, aus welchem die Quelle herunter, in einen ausgehöhlten Stein, und von da in einem Bächelchen fortfließt. Ein Paar Leute ruhten da aus und gefielen sich an den Platz. Meine Rosalia leitete mich oben hin, an Steinbänke, unter wilden Baumstämmen, zeigte mir die artige Wohnung eines Gemüsgärtners und die schöne Aussicht. Sie hielt meine Hand und sah mit Rührung und Vergnügen mich an, als ich nach einigem Umherblicken ihr sagte: »Nun, meine Liebe, hast Du mich [311] lange von einem Staunen zum andern geführt, hast mir gewiesen, wie viele Herzen Du neben dem Meinen erobert hast und besitzest; – erkläre mir jetzt das etwas Rätzelhafte, so Du damit verwickeltest.« –

»Ich wollte nichts, mein theurer Mann, ale Dir an den Einwohnern, der Schule und dem allgemeinen Spaziergang der kleinen Vorstadt einen Theil des Herzens meiner van Guden zeigen. Dann alles das Schöne und Gute, so Du an den Leuten und auf diesem Platz siehst, ist ihr Werk. Ich habe nichts dabey gethan, als Antheil genommen und nach ihrer Abreise die Aufsicht gehalten.« – Dann erzählte sie mir, mit alle der Wärme des edeln Herzens voll Menschenliebe, was diese Frau gethan, wie sie gelebt, wie sie sie kennen lernte, und endigte damit: »Was wirst Du aber dazu sagen, daß all dies Ausfluß eines liebenden Herzens war, das dadurch über den Verlust eines Undankbaren sich tröstete, und von den Schmerzen einer übel angewendeten Zärtlichkeit sich erholte, die dennoch stark genug blieb, sie nach der Gegend des Wohnsitzes dieses Mannes zu ziehen, und dort, bey seinen Kindern, neue [312] Nahrung der Liebe einzusaugen, und endlich eine Einöde aufzusuchen, von der er gesprochen; wo sie eine arme Familie fand, für welche sie ein Haus und Guth anbaute, weil sie von dem einsamen Berge die Stadt sehen kann, wo ihr Geliebter wohnt.« – Dann zeigte sie mir Briefe, die ich hier für Sie und Antua beyschliesse. ––

83. Brief
Drey und achtzigster Brief
Rosalia an Mariane S**.

Da bin ich in Wollinghof, in dem Zimmer zwischen den alten Schloßmauern, wo meine liebe van Guden wohnte, und mir auch ihre erste Briefe von hier aus schrieb. – Seit vorgestern Abend bin ich mit Cleberg hier. Er geht würklich mit dem edlen Weibe spazieren und will sie ganz über Alles sprechen, wie herrlich hier Gott, und die Menschen sind. – Ordnung, o die fordern und erwarten Sie nicht genau. Ich bin lauter Entzücken über [313] Alles, und habe meinen Mann auf meinen Knien die Hände geküßt, für die Güte, die er hatte, mich hieher zu führen. – Aber er sagte mir, daß er noch zufriedener sey, als ich es seyn könnte. Auf all seinen Reisen hab er nichts gleiches gesehen und niemalen solche Menschen und so einen Wohnsitz gedacht. –

Kommen Sie, unschätzbare, beste Freundinn und langen Sie mit mir, mit all meiner Ungeduld in Wollinghof an. Madame Guden hatte mir gar keine Beschreibung davon gemacht, als von dem alten Schloß. Mein Erstaunen war also desto größer, da ich das neue Gebäude sah. Man fährt lange, von dem Dorfe Mahnheim aus, immer etwas aufwärts, an einem Wald hin, endlich um eine Anhöhe, da man hinter einem Busch von grossen Buchen das schöne zweystockige Haus erblickt. Es ist nicht hoch, aber breit, die Fenster oben rund, die wie das Thor, Silbergrau und etwas grün angestrichen sind. Der Thorweg ist in der Mitte des Hauses, auf beyden Seiten aber ist ein Pflasterweg gemacht, auf dem vier Personen gemächlich gehen können, und Bänke an den Wänden. Zwischen den Fenstern des untersten Stocks sind steinerne [314] Aufsätze, auf welchen große Blumenkrüge stehen. Sie können nicht glauben, wie romantisch das aussieht. – Rechterhand an dem haus hin, ist die Hecke des Obstgartens, an diesem die Felder, und gegen über einige Eichen, zwischen denen man eine Ecke des alten Schlosses sieht. Etwas sonderbar haben wir beyde das so ausserordentlich hervorragende Dach gefunden. Es sieht aber doch artig und wird durch eiserne Stangen zwischen den obern Fenster gestützt. Neben den Stangen kommt auch aus einer Art Steingesims Laubwerk, von Eisen gemacht und grün gemahlt, das sich um die grauen Stangen herum windet und an der Wasserrinne ungleich abhängt. An der obern Ecke des Hauses, wo der Baumgarten anfängt, ist nach der Breite des Pflasterwegs eine halbe Rebenlaube, etliche zwanzig Schritte lang, auch von eisernem, grün gemachtem Gitter- und Laubwerk; von der Seite des Obstgartens aber hängen Baumäste her über. – Da war die van Guden bey meiner Ankunft, mit den lieben Wollings, bey einem Tisch mit Milch und Obst besetzt, womit sie uns gleich erfrischen wollte. Die edle Stifterinn all dieses Schönen ging lebhaft unserm Wagen zu, der mir nicht geschwind[315] genug gehen und schnell genug stillstehen konnte. Herr Wolling half mir heraus. Ich achtete nicht auf ihn und fiel, mit einem Ausbruch von Thränen, in die Arme meiner Freundinn, die mich mit Zärtlichkeit und Rührung an ihre Brust druckte. Stumm nur, wies ich ihr meinen Cleberg, der da stand und sie mit Ehrfurcht und Staunen betrachtete. Sie neigte sich gegen ihn, mit dem Anstande, den ich nur an ihr gesehen habe. Und wie sollt ihn auch jemand anders haben, weil es Ausdruck ihrer Seele ist, der diese edle ernste Anmuth über ihren Anstand verbreitet – Cleberg küßte ihr die Hand, sie hielt die Meine. »Herr Wolling! Dies ist meine Rosalia; dies Herr Cleberg, ihr würdiger Mann. Und da!« fuhr sie fort, indem sie Wollings Hand nahm und mir der andern auf seine Frau und Kinder deutete: »Da ist Herr Wolling und seine Familie, voll Rechtschaffenheit und Tugend.« ––

Er bückte sich schweigend. Seine Frau, die auf der Bank saß und ein Kind an der Brust liegen hatte, blickte uns an; Thränen liefen über ihre Wangen auf ihre Brust, und gewiß, der Säugling trank einige davon mit [316] der Milch seiner Mutter ein. – Wolling sah sorgsam auf seine Frau. Die van Guden bemerkte es und ging eilend zu ihr, küßte eine Thräne weg: »Was ist das, liebe, werthe Lotte?« –– »Süsse, recht süsse Thränen meines, an Ihrem Vergnügen Antheil nehmenden Herzens.« ––

Van Guden küßte sie und das Kind. –– »Dank, meine Liebe! vielen Dank; – aber Sie müssen meine gute Rosalia auch anlächeln und ihre Freundinn werden.« ––

»Recht gerne!« – sagte sie, mit der sanftesten Stimme und Blick. Ich hatte indessen mit der Nanny gesprochen, die ein Huhn auf dem Arm herum trug, weil es mit einem Fuß hinkte. Sie sagte mir, es wäre eine alte, alte Henne, die schon viel Eyer gelegt hätte, und Hühner ausgebrütet, die würde ich im Hofe sehen. – »Vier sind schwarz mit schönen, weißen Häubchen; zwey davon laufen der Großmama Guden immer nach.«

Ich merkte hier, daß dieß noch von den Hühnern in Ruinen waren. – Nun hatte Cleberg mit Wolling Bekanntschaft gemacht. Ein Knecht half die Chaise in die Scheune bringen und meinen kleinen Koffer in unser [317] Zimmer. Ich aß etwas Milch, welche mir die junge Wolling recht artig darbot. Carl brachte unserm Fuhrmann Wein und er wurde dann mit einem Zettel an den Wirth, nach Mahnheim geführt. Mein Mann und Wolling kamen aus dem Thorweg. Cleberg sagte mir, es sey ein entzückender Anblick für ihn gewesen, mich zu sehen mit all meiner Empfindung gegen die kleine Nanny gebeugt; Frau Wolling, ihr schlafendes Kind auf dem Schooß; Madame Guden, die mit leutseliger Güte, Lottchen zusah, die für mich einige Blumen in der Hand hielt, und nur wartete, bis Nanny ausgeschwazt hatte. – –

»Sehen Sie die drey herrlichen Geschöpfe,« sagte Cleberg zu Wolling. ––

»O, das fühl ich recht sehr!« – Nun setzten sich die beyden vortreflichen Männer auch zu uns. Madame Guden fragte meinen Mann, ob ihm das Ansehen von Wollinghof gefiele?

»Ich kanns nicht ausdrucken, aber es dünkt mich in einer romantischen Gegend zu seyn.«

Sie lächelte freundlich. – »Sie haben nicht ganz Unrecht, und ich glaube, Sie sind das einzige Wesen auf dem ganzen Berge, das zu der üblichen Welt gehört. Sie [318] müssen, werther Herr Rath, uns aufrichtig sagen, wie Ihnen bey uns zu Muthe ist.« ––

»Das will ich, würdige Frau.« – –

»Würdige Frau! und romantisch? – Wie verbinden Sie dieses?« ––

»Durch das Gefühl, so ich von Schönheit und Güte habe.« ––

Frau van Guden nahm, ohne zu antworten meine Hand. – »Sie haben nun etwas geruht. Sie sollen mir auch in meinem Zimmer sagen, daß Sie gern gekommen und gern da sind;« – und damit führte sie mich dem Thor zu. – »Herr Wolling, Sie bringen den Herrn Rath.«

Sie ging gerade zu nach der Stiege in das Seitengebäude, wo sie wohnt. Sie sprach nichts, drückte aber meinen Arm an sich. – Ihre Meta stand vor den Zimmern auf dem Gange, der ringsum läuft, und machte die Thür auf. Ein artiges Zimmer, ganz weiß, nur ellenhohe Lambris, immer grau und grün, wie auch die Tische, Stuhlfüsse und Thüren waren; aber an einer Wand ein ziemlich grosses Gemälde von der Vorstadt in S**, auf der andern, der Spaziergang, den sie angelegt [319] hat, und da, auf einer Steinbank, meine Figur neben der Ihrigen; ich, in Thomsons Frühling lesend, und Madame van Guden, einen Arm um mich geschlagen, aufmerksam zuhörend. ––

Ich fiel ihr um den Hals, redte nicht, aber meine Brust klopfte an der ihrigen und unsre Thränen mischten sich. – Endlich sagte sie: »Willkommen! liebe Rosalia, willkommen! umarme ich Sie glücklich?« –

»Ganz, ganz unendlich! in Allem.« –

»Auch in Clebergen?« – –

»Ja, völlig!« – –

»Gott sey Dank, und segne Sie. – Jetzt meine Liebe,« fuhr sie fort, »kann ich Ihren Besuch recht geniessen! – Das ist Ihr Wohnzimmer und hier Ihre Betten.« – In einer allerliebsten Alcove waren zwey Schlafstellen, so nett, – mit auch grün und weißgestreiften Decken. Auf der Seite jedes Bettes der Ausgang in eine Art kleiner Kämmerchen, deren eins in den Hof, das andre in den Baumgarten ein Fenster hat und jedes einen Schrank und alle Aus- und Anziehgemächlichkeiten, die man begehren kann. Unter dem Spiegel des Wohnzimmers, standen zwey Blumentöpfe [320] und ein Kästchen voll artiger Steine, die man im Bauen und Ausgraben gefunden hatte. Ihr Wohnzimmer ist an unserm. Da sind aber lauter Zeichnungen von ihrer Hand, die Herr van Guden hatte in Oel mahlen lassen. Ihr Bett ist auch an der Wand, mitten zwischen zwey Kabinetten, deren eins gegen das Feld, ihren Büchervorrath und Schriften, und das andre Weißzeug und Kleidungsstücke enthält. Ihre Meta hat ein Zimmerchen gleich hernach und dann kommt man in Wollings Haus, das recht schön geräumig ist und oben bis über das Thor drey Zimmer hat, die aber noch nicht eingerichtet sind. – Auf der einen Seite des Thors ist der obere Stock durchaus Fruchtspeicher, recht schön und freundlich. Sie hatte uns nicht aus Fenster gegen den Hof geführt, sondern leitete mich noch eine Stiege höher auf ihrem Gebäude. Wolling öffnete eine doppelte Thür und da waren wir auf einem großen Altan, der über den ganzen Flügel gebt, den sie bewohnt. Wie herrlich das ist, können Sie nicht glauben. – Gleich an dem Austritt vom Hause kommt man unter eine hochgezogene Laube von rother Bohnenblüte, die alle Jahr in schmalen Kästchen an der Brustmauer [321] hin, gepflanzt werden. Da sind Bänke und kleine Tischgen. Die sehr niedre Mauer ist mit Blumentöpfen, von lauter auch niedrig wachsenden Arten besetzt, die durch zwey Reihen eiserne Stangen fest gehalten werden. – Von diesem Platz übersiebt man das ganze Feld und alte Schloß. Oben in einer Ecke ist eine Aussicht durch den ganzen Wald gehauen, die gerade auf die Kirchthurmspitze von W** geht. – Sie dauerte mich; – denn als sie mir es sagte, erröthete sie und druckte meine Hand so bedeutend, da ich das Sehrohr von ihr nahm, um W** zu sehen. – Unter dem Gebäude der Frau van Guden ist die Milchstube, dann eine Kammer, wo Saamen und alle Gärtnergeräthe verwahrt werden, der Holzschoppen, und ein Platz, wo alles Ackerzeug hingethan wird. Dann steht dem Haupthause gegen über die Scheune und Dreschtenne, die zugleich das Heu und Stroh fassen. Das Seitengebäude, so sich wieder an das große Haus anschließt, ist der Pferde und Kuhstand, von Erstern drey, von Letztern acht Stück; Schaafe ungefähr zwanzig, und dann Schweine, Hühner, Gänse, Tauben u.s.w. Eine köstliche Wirthschaft! wo Nutzen, Schönheit [322] und Ordnung mit Natur, Kunst und Arbeitsamkeit so verbunden sind, das man Keins ohne das Andre sieht. Es ist beynah unglaublich, was in weniger als zwey Jahren alles hier gemacht wurde, an Gebäuden, Anpflanzungen und Benutzung davon. Sie brennen wohlriechende und auch andre Wasser, machen Liqueur, giessen Lichte, bereiten Seife, Käse, Butter, dürres Obst. – Es ist ganz entzückend, wie alles geht! drey Mägde, zwey Knechte und zwey Tagelöhner, alle munter, fleißig und so reinlich, als ob sie nur zum Spaß Bauernkleider anhätten. – Eine ehemalige Wasserpfütze an der Scheune ist zum Fischteich gemacht, dem aus den oben liegenden Aeckern immer gute Nahrung zufließt. –– Eine Magd backt Brodt u.s.w.

Während wir herum gingen und Wolling manchmal in Danksagung oder Lob ausbrechen wollte, wendete Frau Guden die Unterredung gleich auf was Anders. Aber Wolling sagte: »Sie würden mich nicht schweigen machen, wenn Wohlthat und Schönheit dieses Aufenthalts von andern Händen wäre, als von den Ihrigen.« ––

[323] Nun gingen wir auch aussen um das Haus. Der innere Hof ist ganz sauber, denn der Kuh- und Pferdedünger wird auf die andre Seite gelegt, wo er auch durch Bäume vor der Sonne geschützt ist, um nicht ausgesogen zu werden. Der Teich ist auf zwey Seiten mit einer Rosenhecke eingefaßt. Von dem Hause geht eine acht Schuh breite Brücke, mit einem Geländer, einige Schritte weit in denselben hinein, auf welcher nur ein wenig mit den Füßen gestampft wird, so kommen die Fische und fressen das ihnen zugeworfene Brodt. An beyden Seiten, sind zwey artige Entenhäusgen, die auch die Freude vermehren. ––

Weiter gingen wir gestern nicht, und kamen zum Abendessen in ein liebes Zimmer, das vom zweiten Stock in den Baumgarten gebaut ist, und unten durch fünf Bogen, worauf es ruhet, einen artigen Saal macht, an dem die Körl-Kirsche und Geißblatstaude so gezogen werden, daß sie die Bogen rings einfassen, und unter der Scheere gehalten, recht hübsch aussehen müssen. –– Das obere Zimmer ist kleiner, als dieser Gartensaal, weil um jenes ein Gang herum geht, auf den man durch fünf Fensterthüren kommt, die [324] über den fünf Bogen stehen. Wenn die hochstämmigen Obstbäume erst alle im Blühen sind, so muß dieser Gang und dies Zimmer ganz reizende Empfindungen geben. –– Cleberg und ich geriethen in das angenehmste Staunen als wir aus unserm Zimmer, wo wir die Reisekleider ausgezogen hatten, durch Carl Wolling zum Essen gerufen wurden, und auf einmal das Klavier und die schöne Stimme meiner Freundinn hörten, die im Nebenzimmer spielte und sang. Die vier holdseligen ältern Kinder der Wollinge hüpften, an Blumenkränzen sich haltend um uns herum. – An den Wänden war mein, Clebergs, und der van Guden Namenszug wechselweis in Blumengewinden aufgehängt die von beyden Seiten über den Fensterzug hin, durch große Schleifen von Blättern und Blumen, an einander geknüpft waren. Ueber dem Tisch hing eine, auf nehmliche Art geflochtene Krone, an vier zusammengefußten gleichumwundnen Seilen. Zwischen den Fenstern waren Tischgen, nur mit einem schon gebognen Fuß, jedes einen Blumenkrug tragend. – Die vier großen Leuchter mit Wachslichtern auf dem Eßlisch, die Schüsseln und Teller, alle von [325] Fayance, ganz weiß mit einem grünen Rande, vier kleine Körbchen mit Blumen standen zwischen den fünf Schüsseln, aus denen unsre Mahlzeit bestand. – Cleberg hat Recht, es war Feenmäßig; – besonders auch das dämmernde Licht, so die Fensterzüge beleuchtete. Diese sind von feiner meergrüner Leinwand und laufen an den Fensterpfeilern zwischen weißen Nahmen nett gespannt, die dann, wenn sie herunter gelassen werden, das Zimmer in grün und weiße Streifen theilen. Weil sie nun einen Raum zwischen sich und den Fenstern lassen, so stellte Wolling die Lampen hinter die Züge; und die Ketten auf diesem Grunde waren meistens von weißen, gelben, und rothen Mahn genommen. Wie sehr schön und rührend das alles war, kann ich Ihnen nicht genug sagen. – Als wir das lobten und den Geschmack bewunderten, lehnte Frau Wolling ihren Kopf auf Madame Guden Brust, die sie mit Küssen und verstohlnen Thränen bedeckte. Madame Guden küßte sie auf die Stirne, druckte sie an sich und sagte ihr etwas ganz leise, worauf sie ruhig wurde und den übrigen Abend an Allem Antheil nahm. O, Mariane! warum waren Sie nicht hier! –

[326] »Meine arme Lotte,« sagte Frau Guden hernach beym Schlafengehen zu uns, »ist so mißtrauisch gegen das Glück geworden, daß sie öffters Anfälle von Furcht bekommt. – Ich habe die Bewegungen meiner Freude zurück gehalten, als Sie ankamen, um ihre Empfindlichkeit zu schonen; denn sie fürchtete, ich würde von hier weg, zu Ihnen ziehen.« – Die Gute weiß nicht, was mich hier hält. –– Nach diesem fragte sie meinen Mann, ob er mit ihr und Wollinghof zufrieden sey? – Sie können sich seine Antwort vorstellen. Aber sie fiel ein: »Ich bemerkte doch, daß Ihnen Einiges zu schön und zu künstlich schien. Aber ich bekenne, daß es mir unmöglich war, Allem, was ich ehmals liebte, zu entsagen und dabey wollte ich meine Freunde auch wieder ihrem angebohrnen Kreise nähern. Geschmack und Ordnung kosten nichts und mein Vermögen ist beynah so groß, als mein Wille und meine Phantasie. – Doch sollen Sie meine Rechnungen von dem Hause sehen.« – Hiemit umarmete sie mich, und wünschte uns, gut zu schlafen. –– Cleberg sagte mir, er habe Nympfen und Liebesgötter tanzen gesehen.

[327]
84. Brief
Vier und achtzigster Brief
Zweyter Tag in Wollinghof.

Wir wachten spät auf, weil wir noch lange geschwatzt hatten. Ich wollte mich eilig anziehen, als Cleberg mich in unser Wohnzimmer rief, und mir einen Tisch mit Koffezeug wies, der in das Zimmer gebracht wurde, so bald man gemerkt hatte, daß wir aus dem Bette waren. Des Knecht hatte ein Billet an mich dabey, worinnen Frau van Guden uns bat, dieses Hausgeschenk von ihr anzunehmen.

Ein geräumiger Tisch, mit einer ganz silbernen Platte überzogen, die Kaffe- Milch- und Theekanne, nebst Kessel, auch von Silber, innen stark vergoldet. Die Tassen alle mit Aussichten von Mahnheim und S**, daneben goldene Ränder, alles im schönsten Geschmack und Arbeit. – »Nun,« sagte Cleberg, »seh ich, warum sie Gestern von dem Reichthum ihrer Phantasie, ihres Willens und ihres Vermögens erzählte.« –– [328] Den Augenblick kam sie selbst und führte uns, wie wir waren, zum Frühstück bey dem Eichenwald; bat uns, nicht viel Danks über das Geschenk zu machen, sondern zu glauben, daß es ihr ein süsses Vergnügen gewesen, es uns zu geben und dadurch auch ein sichtbares Andenken an sie gestiftet zu haben. ––

Der Platz bey diesen Eichen, o, der ist heilig, wie der Stein, den Jacob mit Oel begoß. – Auch hat Wolling hier eine schöne, stumpfe Pyramide aufgerichtet, mit der Inschrift: Hier erschien mir die Hülfe des Herrn, – mit der Jahrzahl und dem Tage, da Frau Guden zu ihnen kam. – Denn dies ist der Platz, wo sie sie zuerst sahen und sie ihnen vor Gott Liebe und Hülfe angelobte. Wolling errichtete die Pyramide und zwey Bänke daneben gegen die benachbarte Bäume, während der Zeit, da er einen Holzstoß davor aufrichten ließ, damit Frau Guden nicht sehen sollte, was da gearbeitet würde. Sie erzählte uns dieses im Hinausgehen, und sagte dabey, daß gewiß niemals mehr und süssere Thränen bey der Einweihung eines Denkmals wären geweint worden, als bey diesem. Wolling hätte sie auch zum Frühstück [329] gebeten, sie möchte aber von Carl, Lottchen und Nanny sich führen lassen. Das hätte sie gern bewilligt. Die Kinder waren von dem Weg unterrichtet, der ganz neu und verwunden zwischen dem Gesträuch durchgezogen lief, und an der Pyramide sich endigte, wo er gerad auf den kam, der vom alten Schloß her führte. Sie hätte sich etwas Ueberraschendes vermuthet, aber dies nicht, was sie fand. Denn als sie um den Strauch herum kam der die Pyramide verbarg, so erblickte sie vor sich, auf der Seite gegen das Dorf, Wolling und seine Frau, mit der Trage, den Strohhunden, und dem kleinen Knaben darauf sitzend; und Carl, Nanny und Lottchen verliessen sie auch, wie damals, liefen den Eltern zu und wiesen freudig mit Händen nach ihr. – Der Auftritt hätte sie äusserst erschüttert und bewegt, und sie wäre an die Stuffe der Pyramide niedergesunken, da dann Eltern und Kinder zu ihr geeilt wären, um sie her gekniet, und mit Thränen benetzt hätten. – Ihr Herz wäre auch durch einen Ausbruch von Weinen erleichtert worden, wo sie dann Alle umarmt und sie gebeten habe, sie in Zukunft mit so starken Ausdrücken des Danks zu verschonen. – [330] Aber Frau Wolling hätte gesagt, es wär neue Wohlthat, wenn sie sich das Dankopfer der Familie wolle gefallen lassen, und die Kinder hätten sich auf einen Wink des Vaters, um sie gesammlet und um Erlaubniß gebeten, sie Großmama zu heissen. Frau Wolling wäre auch gekommen: – »Ach, erlauben Sie es! – ich kenne keinen heiligern Namen, als den von meiner Mutter.« – Seitdem nennen sie die Kinder Großmama Guden. –

Nun waren wir auch bey dem frommen Denkmal, von welchem Madame Guden alles hat auslöschen lassen, was sie bezeichnete. Wir frühstückten, mit wahrem Gefühl des Werths der Tugend. – Diese reitzende Einsamkeit, der Gesang der Vögel, alte und junge Bäume, herrliche Felder neben uns, der Obstgarten gegenüber, links ein Theil der Ruinen, rechter Hand das liebliche neue Haus! – Die Kinder brachten zwey zahme Schaafe und zwey Hühner, die mußten auch da seyn. – Nachdem gingen sie mit ihrer Mutter hinweg und wir wurden an das alte Schloß geführt, wo die Hütte noch steht und unterhalten wird, in der die Wollinge wohnten. All ihr armes Hausgeräthe ist auch noch darinnen. O, Mariane, [331] was empfand ich, als Wolling zu meinem, ihn mit Bewegung ansehenden Cleberg sagte: »Dies war der Aufenthalt der treusten Liebe.« – –

Sein Auge war voll zärtlicher Wehmuth, als er dies aussprach. – Sein Garten auf der alten Schloßballe ist auch angebaut und immer von feinen Händen. Da darf kein Knecht helfen. – Wolling sprach wenig, Frau Guden erzählte uns; – ich konnte auch nicht reden, – nur sehen und hören. – Das kleine Grab des Erstlings dieser treuen Liebe, mit Zwergrosen umpflanzt zum Haupt mit Lilien besetzt; der darauf gesunkne Blick des Vaters; Cleberg, der seine Augen auf mich heftete, rührte mich beynah zu sehr. Frau Guden, die es bemerkte, führte mich zu dem Betaltar ihrer Lotte: »Das ist der Stein, auf welchem die Mutter der Frau Wolling bey der Zusammenkunft saß, die sie hier mit ihren Kindern hielt.« – Eine kleine vierelte Säule steht da unter dem Geißblat, mit der Aufschrift: Hier gab die beste Mutter den lezten Segen. ––

Das Flachs- und das Kornstück, alles wird mit frommen Andenken, wie ehmals, von der [332] Familie unterhalten. Es liegt was in ihnen, so sie denken macht, daß Unglück auf die Vergessenheit oder Geringschätzung des alten Bodens erfolgen würde. – »So lange nährte er uns und entsprach so getreu meiner Mühe;« sagte Wolling, – – »Schweiß und Thränen benezten ihn! – So lange meine Arme Kräfte haben, soll er mit Brodt und Blumen angepflanzt werden.« – Ist dieses nicht Liebe, Mariane! ist dieses nicht das heilige, reine Gefühl empfindlicher Herzen, wovon hernach einige Zweige in Aberglauben ausarteten? – und wo man, um diese wegzuschaffen, selbst die schöne Wurzel zerstörte? –

Die große Lücke der Mauer, durch welche Frau Guden an den Berg herein trat, ist mit Rosenstöcken besetzt und der schmale Fußpfad, den sie herauf kam, ist ausgehöhlt, mit Letten gegründet und das kleine Quellwasser hinein geleitet worden. Herr Wolling sagt: »Niemand anders soll diese Fußstapfen betreten; reines lebendiges Wasser allein soll sie benetzen und das Thal befeuchten helfen, durch welches sie zu uns kam.« – Können Sie, Mariane, können Sie diese Gesinnungen tadeln? – Mir zeigen sie an, wie tief [333] alles im Einsamen sich eingräbt. Mir sind dieses Wegweiser zum Ursprung der Erscheinungen, wovon Einsiedler und abgesondert lebende Fromme erzählten.

An einer dicht mit Epheu bewachsenen Wand geht die Stiege zu Frau van Guden Zimmer. Sie sind klein, doch ist eins für ihre Meta daneben; alle mit Bretern ausgemacht und Zeichmmgen von Rom, Neapel, und England darinn aufgehangen, nur mit Röthel oder Kohlen auf hellblauem Papier, aber immer Pindorfs Gestalt mit eingemischt. – Ihr Tischgen und ihre Stühle sind auch noch da, denn sie kommt oft noch herunf, da zu lesen, oder zu zeichnen. Von ihrem Schlafkämmerchen geht noch über alten Schutt, den der Stiegenbogen aufhielt, ein etwa sieben Schritt langer und viere breiter Platz, den sie mit einer dünnen Brustmauer umfassen ließ. Einige Stauden waren am äussersten End im Schutt aufgewachsen; diesen hatte sie Unterstützung und Erde gegeben, so daß sie schön fortwuchsen und ganz leise säuselten, wenn sie im Mondschein noch heraus ging, zu beten und zu seufzen. Denn gewiß, sie seufzte manchmal nach der Stadt W*** [334] hin, deren Thürme man hier sieht. – Aber die ganze Landschaft umher ist unbeschreiblich angenehm; denn der Berg hat hier eine sehr beträchtliche Höhe. Von da gingen wir einen schmalen Weg an der Seite des Bergs, eine halbe Viertelstunde lang, hielten uns bey verschiedenen Aussichten auf, die so vielerley Gegenden des großen Thales zeigen, Ruhebänke haben und gegen die Mittagssonne decken. Wir sprachen da mit Bewunderung von Allem, was wir gesehen hatten, besonders, da wir die Zeit berechneten, wo der Haus- und Feldbau anfing. ––

»Ich übersetzte alles mit Leuten, und Geld, war immer dabey sie aufzumuntern. Das Zimmerholz wurde aus einem Vorrath vier Stunden von hier gekauft, Hau- und Sandsteine auch. Wir fanden willige und sehr geschickte Arbeiter. Da kann man viel thun. Während man Haus und Scheune baute, wurden zwanzig Morgen Feld und Kleewiesen durch Ausreitung der wilden Sträuche hergestellt. Dreysig Morgen bekamen wir, schon angepflanzt, von zwey Pächtern, die sich gern abkaufen liessen. Sie wissen, Rosalia, wie eifrig ich meinen Grillen den Weg [335] bahne. Nehmen Sie Wollingen zum Oberaufseher, ihn, der so viel, nur allein gethan hatte, so ist es ganz natürlich zugegangen.«

Wolling war bey Anfang dieser Unterredung weggegangen. Clebergs und meine Fragen hatten die Zeit verkürzt. – Wir hörten ein kleines Pfeifchen ein ländliches Liedchen stimmen. Da stand Frau Guden auf. Wir wollen nach Haus, sagte sie, indem sie auf ihre Uhr sah, es ist Mittag vorbey. – Wir gingen noch einige Minuten, etwas aufwärts und waren auf einmal in einem grünen Tempel, oder runden Saal von Hainbuchen, worinn der Tisch gedeckt und mit Speisen besetzt war. Die Wollingsche Familie wartete schon auf uns, und das Pfeifchen hatte zum Zeichen gedienet, das alles fertig sey.

Cleberg, der so viel große Feste gesehen, sagte doch, daß er nimmer diese Art ruhiges Entzücken, und Zauberfreuden gekannt habe. Von zwey Seiten dieses Saals, sieht man Mahnheim an dem Abhange des Berges liegen und eine große Schaafheerde weiden. –

[336]
85. Brief
Fünf und achzigster Brief
Cleberg an seinen Freund.

Ihr kleines, ungeduldiges Blättchen an mich beweist, daß ich Recht hatte zu vermuthen, Antua müße von dem Charakter dieser van Guden am meisten eingenommen werden, besonders auch von ihrem Gang auf den Berg. Da haben Sie die übrigen Briefe von ihr selbst und die Abschrift derer, welche Rosalia an eine ihrer Freundinnen schrieb, wo ich nichts zusetzen kann, als daß alles so da ist, wie meine Schwärmerinn es mahlt; – die Gegend, Menschen und Sachen um sie herum. – Ich war gewiß eben so begierig, als meine Frau selbst es seyn konnte, den Wollinghof, den ich gern Liebehof nennte, zu sehen. Als wir um die Buchbäume uns gegen das Haus wandten, wurde ich wahrlich in Staunen gesetzt, indem es gleichsam der Aufzug des Vorhangs in einer Oper war. Denn so ein Haus, in der würklichen Welt, ist Traumgesicht, bis man mir seinen fünf Sinnen darinnen herumwandelt,[337] ißt, schläft, schwatzt und wohnt. Sie haben es mit Bedacht so versteckt gehalten, um bey denen, die es sehen konnten, das Gefühl, über sein sonderbar Angenehmes nicht abzunutzen, die Leute nicht hinzulocken und ihren Kindern die Unterstützung ihres Charakters, ihrer Tugend und ihres Glücks nicht zu rauben, die einen großen Theil ihrer Stärke, dieser Einsamkeit und dieser, von allen Verhältnissen der Gesetze und Gewohnheiten abgeschnittnen Lage schuldig sind. ––

In der, von Rosalien angezeigten, von künstlichen und natürlichen Blättern durchflochtnen Laube, saßen die zwey Weiber und Kinder. Wolling ging herum; ein schöner, schlanker Mann, hager, aber die edelste Bildung, und der Blick eines Feuervollen, durchdringenden Auges, ein feiner Mund, Gang und Stellung voll Entschlossenheit, der beynah an Trotz gränzte, wenn nicht die vortreflichste Männliche Seele den Zügel hielte Was würde dieser Mann in einem grossen Würkungskreise gethan haben, mit all der Kraft zu tragen, zu kämpfen und zu handeln! – Aber sagen Sie, ist es nicht toll, daß wir ein Stück Gold nicht eher ganz in seinem Werth glauben, [338] als es nachdem durch Kunst verarbeitet ist, oder das Gepräge von Bild und Aufschrift eines Fürsten trägt? – Bin ich nicht bey diesem Manne, was Europäer bey den Indianern waren, als sie diese ihr Gold zu Gefässen ihres täglichen, kümmerlichen Essens verbrauchen sahen? Unglück tragen, Weib und Kinder nähren und schützen, ist das nicht gute Verwendung des Verstandes und der Kräfte des Lebens, in den Augen der Gottheit und des Weisen?

Dieser Mann da, half Rosalien aus dem Wagen. Frau van Guden war herbey geeilt und sie umfaßten sich, mit wahrer Ergiessung der Seele in Liebe und Freude. Ich stand und betrachtete das Weib, nach welcher Rosalia geseufzt und mich neugierig gemacht hatte. Eine, über mitlere Größe erhabene, ganz regelmäßige Gestalt, mit einer unwiderstehlichen Anmuth umgeben; denn alles hat den Charakter der Liebe, des Wohlwollens und Verstands voll Güte. – Die Art wie sie Rosalien umschlang, ihren Kopf an sie legte, sie küßte, war der schönste Ausdruck der reinsten, edelsten Zärtlichkeit. Eine feine Röthe bezog ihr Gesicht, als ich ihr vorgestellt wurde und sie ohne Zweifel in meinem Blick etwas von [339] dem sah, was ich von ihr dachte. Ohne Schönheit sind all ihre Züge äusserst reitzend, ihr Auge voll Würde und Bescheidenheit, ihre Kleidung von Ostindischen, schmalgestreiften Leinen, nett passend, weiße Schürze, ein Strohhuth mit blauem Band, und ein großes weißes Halstuch. – Frau Wolling, ein feines, schmächtiges Weibchen. Groß genug und schön wäre sie, wenn bey ihrem herrlichen blauen Auge, ihre Gesichtsfarbe noch weiß wäre. Diese hatte violet und weißes Landleinen, aber auch die weiße Schürze und den Huth. – Die liebsten Kinder um sie, waren in blau und weißen, kurzen Kleidchen, die Haare nach englischer Art geschnitten, immer die Schürze weiß, bis auf die Mägde. – Ein Säugling an der Brust, hinderte Frau Wolling bey unsrer Ankunft aufzustehen weil sie der Gewohnheit keine Pflicht opfert. Ein Knabe von zehn Jahren, ganz Vater, Wollings Züge, munter und wahr, hatte einen grauen Frack, wie der Vater und ging gleich zur Kutsche und dem Kutscher. – Lottchen von acht Jahren, blieb aber bey dem mit Milch, Obst und Blumen bestellten Tisch, wo sie bald uns ansah, bald wieder etwas an den Blumen [340] zurecht machte, die in einem Körbchen da standen. – Eine kleinere, holde Figur ging aussen herum und trug ganz geschäftig, wie kleine Mädchen sind, etwas auf ihrem Aermchen, wie die Mutter den Säugling hielt. Ein Knabe von drey Jahren kam, mit einem kleinen Schubkarren voll Sand, über den Weg her, stutzte, da er uns erblickte, ließ den Karren stehen und lief seinem Vater zu; wies auf uns und fragte ihn um Alles. Wolling hob ihn mit der Vatergüte auf, und trug ihn meinem Wagen zu, der den Kleinen am meisten anzog. Die Pferde fand er gleich nicht so schön, als die Braunen des Vaters, weil diese da so garstige Flecken hatten; denn ich war mit einem Lohnkutscher gekommen, der vier Schecken angespannt hatte. ––

Rosalia hat Recht; ich wurde über die Stellung entzückt, in welcher ich die drey Weiber sah, als ich, nach Einführung meines Wagens, mit Wolling zurück kam. Eine Kupfersammlung von all den Auftritten möchte ich haben, welche diese van Guden, schon veranlaßt und vorgestellt hat. – Das Gespräch, das Haus und Abendessen war, wie Sie in Rosaliens Briefe lesen werden, mit all dem [341] übereinstimmend. Mir war diese Verwebung der Kunst mit Einfalt und Natur, Bauerhof, Bauerarbeit, der Ton voll Kenntnisse und seiner Empfindung, feine Sitten und Freymüthigkeit, die Stille im Wald, in dem Aeussern des Hauses, die sanfte Fröhlichkeit und Thätigkeit der Leute im Innern –– Erscheinung, an die ich mich in den ersten zwey Tagen, nicht gewöhnen konnte. Indessen zog mich Alles mit sich weg. Ich hätte die leere Hütte einnehmen mögen, die Wolling ehmals bewohnte. Wie lang ich es da gedauert haben würde, weiß ich nicht; aber ich fühle noch deutlich, wie verschieden die Bewegung meiner Seele ist, wenn ich mir Höfe und Palläste zurück rufe, die ich auf meinen Reisen gesehen und dann die zehn Tage, in Wollinghof verlebt, und die Menschen und den Berg, ihre Sitten, Freuden, Arbeiten und Abendgespräche mir denke. – Ich ging einen Morgen mit Rosalien allein herum, und las mit ihr, auf jedem Platz, von dem die van Guden schrieb, die Scene, die ihre Feder bezeichnet hatte; ihre Kämmerchen zwischen den alten Mauern, die mit Papier überklebt sind und wechselweis einzelne Stücke vom alten Rom, [342] von Neapel. Englische, und hiesige Gegenden und Aussichten zur Zierde haben; – oder bald sie, bald Pindorf, der Glückliche, immer in schönen Stellungen abgebildet sind, und in diesen immer die Züge edler Gedanken, edler Gefühle der Seele so deutlich liegen. So, werden nicht viele Männer geliebt, und solche Weiber sind auch selten. Sehen muß ich ihn einst, diesen Pindorf. Ich habe was wider ihn. So bildhauerisch schön seine Gestalt ist, so glaube ich etwas darinn zu erblicken, das einen Grad Biegsamkeit andeutet, die durch das Geringste hervorgebracht werden kann. – Sicher bin ich, niemals wär er Wolling gewesen. – – Nachdem ich Alles kannte und wußte, so wollte ich auch versuchen, auf was für einer Seite sich die van Guden einem Manne zeigen würde, der ihr freymüthige Fragen vorlegen, und Betrachtungen machen könnte. – Wenn ich nicht mit Fleiß meine Unterredung mit Lobsprüchen angefangen hätte, so würde ich aus aller Fassung gekommen seyn, da sie mir mit feinem Lächeln zugehört hatte und endlich sagte: »Ich bemerke ganz deutlich, daß alle die ausserordentlich schönen Sachen, die Sie mir, über mich und unsern Berg sagen, [343] nichts als der Eingang von einer Unterredung sind, in der Sie mich, durch sich selbst kennen lernen möchten. Ich bin gar nicht darüber erstaunt und noch weniger böse. – Mein ganzes Wesen und Thun hat eine so eigne Farbe, daß man natürlicher Weise auf die Mischung begierig ist, aus denen sie besteht. – Sie haben mir, nach der eingeführten Artigkeit unter Euch jungen Männern, auch von meiner Person gesprochen. Ich weiß daß ich, ohne Schönheit, was sehr Gefälliges habe, und daß meine Art mich zu kleiden, und mein Bezeigen, dieses Gefällige noch vermehrt; besonders wenn mein Klavierspiel, meine Stimme, mein Tanzen, oder Bleystift mit dabey erscheinen. Denn welcher Mann von Geist ist nicht zufrieden, wenn er bey einer solchen Figur und Talenten, auch ein Maaß Kenntnisse antrift, das ihm verspricht: – ›Hier kanst du vom Leichten und Starken sprechen, Du wirst gehört und verstanden seyn.‹ –– Freygebigkeit, Güte und Freundlichkeit, die mir der Himmel zu meinem so großen Vermögen gab; alles dies hätte mir gewiß immer Freunde erworben, und mir Ehre und [344] Achtung zugezogen; so daß mich kein Mangel irgend einer erkannten Glückseligkeit in diese Einöde führte, sondern, wie ich glaube, der eigentliche Gang der Triebfedern meiner Seele. Wie die Schläge unsers Herzens, den Umlauf des Bluts und Lebens befördern und erhalten, aber auf der andern Seite die Werkzeuge abnutzen und zu ihrer Trennung vorbereiten; –– so hat eben das, was auf einer Seite meiner Seele die Beharrlichkeit gab, so viel zu lernen, ganz zu wissen und an lauter Gutes und Edles mich zu heften, auch das seltsame Bild von Liebe in mir hervorgehracht, das ich seit so vielen Jahren in mir nähre und mit ihm lebe. – Liebe für einen Mann, oder von Euch Männern für eine Frau, ist ein Tribut, den die Ratur uns Allen auflegt. –– Ich lernte Herrn von Pindorf just in der Zeit seines und meines Lebens kennen, da in uns beyden der selige, moralische Enthusiasmus für alles Schöne und Große glühte. Wie hätt er sonst, mit all der Liebe für mich, die Stärke gehabt, das gegebne Versprechen seiner Hand zu erfüllen? – Wo hätt ich die hergenommen, niemals mich zu vergessen, niemals [345] mit ihm allein zu seyn? – Glücklich genug, wie eine edle Griechinn in Plato's Gastmahl sagt, daß wir uns sahen, sprachen, die nehmliche Luft athmeten und gleichgestimmt, alles bemerkten und betrachteten. – Sagen Sie mir, was anders als eine gleiche Erhöhung der Seele, ließ mich in ihm die Vollziehung seiner schon lange bestimmten Heyrath verehren? – Und ihn mit Segen an den Mann denken, dessen Eigenthum ich einst werden sollte? – Ich will glauben, daß es Schwärmerey unsrer glühenden Einbildungskraft war; aber es war auch das seligste Gefühl meines ganzen Lebens. Der Verlust seiner Person, seines Anblicks und seiner Unterredungen, schmerzte mich nicht so zerreissend, als da ich ihn wieder sah, und weniger Edel, weniger Groß, sein Betragen in einigen Theilen seines Lebens der hohen Würde seines Herzens und seiner Seele nicht gemäß zu seyn dachte. Ach, da! – da verlohr ich ihn; da riß ein feindseliger Geist alles Glück aus meinem Leben! Wer sollte mich schadlos halten? –– Ein anderer Mann? –– Man glaubt nicht zweymal, was ich glaubte; – man liebt nicht zweymal, [346] wie ich liebte. – Und sagen Sie, war es möglich daß ich, mit diesem Ton des Charakters, mich tröstete, wie Andre sich trösteten? – Ich bätte die Grundlage meines innersten ganzen Wesens ändern müssen. Konnt ich das thun? oder vielmehr, konnt ich das wollen? – Ich war in umgekehrten Zustande des Pigmalion. Das schöne Meisterstück seiner Hände wurde belebt und er höchst selig. Mir wurde der Geliebte meines Herzens zu einem unbeselten Bilde, dessen Züge mich immer an jede Tugend, an jede angebetete Eigenschaft erinnerten und mich thränend an dem Fußgestell niedersinken machten. Ich hatte ihn nicht mehr; – aber meine Liebe war noch in mir, und dieses Geschöpf meiner Seele, das so viel süsse Stunden so viel Schmerzen mir gegeben batte, dieses hätte ich ohne Ersatz vernichten sollen? Pindorf ist für mich todt, mein Herz trägt Trauer um ihn; aber ich, ich liebe alles, wo er war, wo er ging, lebte und handelte. –– Die Zeit, die Ableitung, welche meine Zärtlichkeit schon in der Vorstadt von S**, dann bey Pindorfs Kindern, und endlich hier erlitte, haben dem Ganzen eine sanfte Wendung [347] gegeben. Ich war einst für mich glücklich; nun bin ich nützlich geworden und glaube also, meine Bestimmung erfüllt zu haben. Freylich nicht auf dem allgemein vorgeschriebnen Weg, aber vielleicht ist es ein schöner Fußpfad der die Wenigen, die ihn kennen früher zum wahren Glück des Lebens führt.« ––

Nun hielt sie inne. Ich konnte, voll von Bewunderung und Liebe, nicht reden. Aber es war sonderbare Liebe, wie für ein großes Weib aus der alten Geschichte, oder für eine theure Mutter oder Schwester. Aber heilig war mir der Hain. Wir saßen während dem Gespräch auf einem Stück Felsen, mit Moos und Blümchen bewachsen, eine kleine Waldwiese von einem Viertelmorgen vor uns; rings um hohe Bäume – nur floß zu unsern Füssen eine von den Ableitungen des Teichwassers, welche der junge Zimmermann zum Nutze von Wollinghof angelegt hat. Wipfel und Aeste von großen Eichen hingen über die Wiese gegen der Buche zu, an der unser Fels lag. der vor Jahrhunderten schon vom obern Berg abgefallen seyn mag. – Nach einigen Schweigen fragte sie, ob ich noch etwas von ihr wissen wollte?

[348] »Sie sind ein und dreyßig Jahr alt; glauben Sie immer zufrieden auf diesem Wege zu bleiben? ––

Ja! weil weder meine Liebe, noch meine Einbildungskraft jemals versiegen wird, und weil ich mir von Allem, was ich in der Welt von Menschen und Sachen kenne, nichts denke, das meinen Idealen gleich kommt, die ich mir immer schaffe und ändre, je wie ein vollkommners Bild in meiner Seele entsteht. Ich will Ihnen Zeichnung davon, und auch Aufsätze weisen. – Ich bin zufrieden mit Schicksal und Menschen. Meine Wollinge sind mir alles; denen will ich helfen ihre Kinder erziehen, und des Beamten seine unterstützen. – Der junge Mooß wird einer der herrlichsten Schwarzkünstler werden und ich schicke ihn nach England, da soll er an Reynolds, Wests und der Angelika Gestalten, Ausdruck, und Gruppen, Geschmack und Kraft einsaugen. Deswegen lehre ich ihm auch die englische Sprache. – Meine Mela muß auch noch ausgebildet und glücklich werden. – In Wollings Kindern hat der Kummer der leidenden Liebe, schon von dem Augenblick ihres Entstehens an, den [349] Zung ihres Denkens und Gefühls gestimmt. Ich müßte mich sehr betrügen, wenn ihr Fortwachsen und Erziehen mir nicht viele Freude geben sollte.« ––

»Aber, theure Madame Guden; bedenken Sie, wie unendlich viel Gutes mehr Sie thun könnten, wenn Sie, in unsrer Stadt den gewohnten Ton der Leute würden umzustimmen suchen.« – –

»Ich! eine Stadt umzustimmen suchen? Ey, Herr Cleberg! entweder haben Sie in diesem Augenblick nicht mit Ihren Geist gedacht, oder Sie begegnen mir nicht mit der freundschaftlichen Achtung, die ich verdiene.« –

Ich bat sie um Vergebung und versicherte sie von der Ueberzeugung, die ich hätte, daß eine Frau von ihrem Verstand und ihrer Güte, vieles zu der gesellschaftlichen Verbesserung beytragen könne; und ob sie nicht den Beweis in der Vorstadt von S** erhalten habe? –

»An ungekünstelten Menschen, wie diese waren, und die nur Ein Bedürfniß fühlten, dem ich gleich abhalf ja, da konnt ich was ausrichten, und das meistens auch, weil ich sorgfältig meine Wohlthaten mit der Arbeitsamkeit verband. Denn fleißige Menschen[350] haben immer viel Gutes voraus. Aber, wer fühlt sittliche Bedürfnisse so stark, daß er gleich an jemands Hand sich anheftet, die ihn auf beßern Wege leiten will? – Der Wahn war in mir, nicht zu bessern, aber glücklicher zu machen; – schon lange habe ich ihn verlohren. Feine, artige Weltleute machten mich und meinen Charakter lächerlich, und ich will sehen, was der noch Gutes thun will, der einmal lächerlich wurde. Philosophische Männerköpfe, die ich unendlich schäzte, was für Rückgabe erhielt ich davon! – Aber Ihr Männer behandelt oft euch selbst, über Verschiedenheit der Ideen und Begriffe, so unbillig, unhöflich und bös, daß ich sehr Unrecht hätte, einzelne Klagen eines Weibes so laut zu erheben. Aber, sehr Unrecht hätt ich auch mich willkührlich unangenehmen Begegnissen auszusetzen die nichts nutzen würden; besonders da ich noch so fest an meinen eignen Empfindungen und der Art hänge, womit ich die Sachen und Menschen betrachte. Wenn Sie aufrichtig seyn wollen, so müssen Sie nach der großen Weltkenntniß, die Ihre Reisen und Geschäfte Ihnen gegeben haben, gerade zu eingestehen, daß die [351] Stimmung meiner Seele allein zu Leuten taugt, die aus dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und Verhältnisse herausgeworfen worden sind, wie meine Wollinge da! – Ich hörte einst in einer Gesellschaft einen Gelehrten behaupten, daß alles, was möglich sey, einmal da seyn müßte; es sey im Guten und Bösen, Klugen und Thörichten unsrer Physischen und moralischen Welt. – Ich glaube, wenn wir alte und neue Begebenheiten nach diesem Satz beurtheilen, daß er so ziemlich wahr zu seyn scheint. – Denken Sie also, da mein Charakter, Umstände und Vermögen zusammen trafen, und ich just auch diese Familie finden mußte, daß es so Recht sey, und lassen Sie mich Sie als einen Mann finden, der die Sachen ansieht und beurtheilt, wie sie sind, ohne Alles aus seinem Verhältniß auszuheben. Man nennt die Welt so oft eine Komödie, wo jedes von uns eine Rolle bat. Lassen Sie mich die meinige fortspielen. In Ihrer Stadt wär ich nichts als eine Person mehr; meinen Wollingen bin ich Alles. So bald ich aber dieser Familie weniger senn, oder als lästige Erinnerung meiner Wohlthaten erscheinen werde: [352] so gehe ich weg, und komme zu Ihnen und Rosalien.« ––

Freund! wissen Sie was gegen all dieses einzuwenden, so sagen Sie es. Ich wußte nichts, als daß ich meinen Männerkopf noch gegen den ihrigen, in der Frage setzte:

»Aber wenn Sie Herrn von Pindorf einmal sehen, was thun Sie da?« ––

»Ich sah diese Frage schon lang in Ihnen,« sagte sie. – »Vergeben Sie, wenn ich sie nicht beantworte; theils, weil ich ja nicht weiß, wenn, wie, oder in was für einer Gemüthsverfassung er, oder ich dann seyn werde, theils auch, weil diese Frage das Heiligthum meines Herzens angeht.«

Ich erkannte, daß sie Recht hatte und sagte ihr dann, daß sie mich überzeuge, was für herrliche Früchte eine starke Leidenschaft in einem edlen Herzen hervorbringe, besonders wenn das Schicksal Unabhängigkeit, Gewalt, oder Reichthum dazu lege. ––

»Ach, wie wahr ist dieses!« sagte sie nach einigent Schweigen, »meine Leidenichaft für Pindorf stärkte den Ton meiner Seele, die das Gute schon liebte, aber ich wollte seine. Hochachtung immer verdienen; ich wollte [353] daß er auch von Andern immer Gutes und Edles von mir rühmen hörte und, o was machte ich für Entwürfe für ihn, für die Aussichten, die er zu seinen Beschäftigungen hatte! Ich wollte jede große Anlage seines Geistes zur übenden Vollkommenheit erhöhen, in jeder Gelegenheit die ausgezeichnete Würde seines Charakters bestärken, er sollte der Gegenstand der allgemeinen Verehrung werden. – Aber dieses Glück war mir nicht vorbehalten! Andre haben es. – Mögen sie es zu seinem Ruhm geniessen«

Ich sagte ihr hierauf meinen Lebensplan. Sie fand ihn gut. reichte mir, mit Rührung und Würde in ihrer Miene, die Hand. – »Erlauben Sie Ihrer neuen, aber wahren Freundinn die Bitte, fest, unbeweglich bey dem edlen Plan zu bleiben und ihn auszuführen; denn so Viele lieben und wollen das Gute, aber wenn es Arbeit und Beharrlichkeit erfordert: so lassen sie wieder ab – Sie haben auf ihrem Platz, fuhr sie fort, Niemand neben sich und nur Ihren Fürsten über Ihrem Haupt. Sonst bät ich Sie auch, an Allen Obern und Untergebenen unschädliche Fehler zu tragen, und auch von [354] den schädlichen niemals gegen Andre zu sprechen; Talente und Schwächen, die jeder hat, sorglich aufzusuchen, um die Eistern zum Dienst des Fürsten und gemeinen Besten zu gebrauchen und die Leztern zu schonen, damit Sie immer die Gewalt über ihren guten Willen behalten mögen.« – Ich sah sie hier mit vieler Aufmerksamkeit an: »Herr Cleberg! es sind keine Vorschriften, die ich einem Manne machen will, sondern wünsche, daß mein Freund den Nutzen aus Beobachtungen ziehe, die ich über kleine, aber bedenkliche Versehen andrer Männer machte.«

Denk einmal, Freund! ob Du dieses nicht brauchen kannst. Vor unserer Abreise gab sie uns noch einen schönen Tag, da sie das Abendessen im Walde veranstaltete wozu der Beamte von Mahnheim mit all seinen Kindern eingeladen wurde. Ich habe Ihnen schon oben geschrieben, wie der einsame Waldplatz aus sah, wo ich weine lange Unterredung mit van Guden hatte. – Dort war auf einem schmalen Grasplatz am Fuß eines hohen Stücks Felsen, – Milch, kalter Braten, Schinken, etwas Bäckerey und Wein aufgesetzt, um die Schüsseln herum im Grase [355] Blumen gestreut, an den Bäumen herum hingen Blumenkränze und ein, mit Bedacht ungleiches, Stück der Felsenwand war von Moos und Kräutern gereinigt, Rosaliens und mein Namenszug, sammt der Aufschrift: Clebergshayn, darein gegraben und mit grüner Oelfarbe ausgefüllt, – und von diesem Steine hing ein großes Blumengewinde bis auf den Grasplatz herunter. – Wir sangen da des unschäzbaren Claudius Waldserenate, die Wolling mit der Flöte, ein Paar Söhne des Herrn Mooß mit der Violine, und ich mit dem Baß begleitete. – Wahrlich, diesen Leuten kommt die Langemeile nicht nah. Aemsiges Arbeiten, wahrer Verstand, Güte und mäßiger Enthusiasmus für das Schöne verewigt ihr Glück. ––

[356]
86. Brief
Sechs und achzigster Brief
Cleberg an Denselben.

Frau van Guden hatte mich gereizt, diesem Pindorf nachzuspüren. Ich ging also, da ich mich von Wollinghof losgerissen, gerade nach der Stadt W** und erkundigte mich nach ihm. Aber er ist noch immer abwesend. Der Wirth erzählte uns, es möchte wohl daher kommen, weil er, durch seinen zu kostbaren Gartenbau, drey Meilen von der Stadt, an den Fluß hin, sich in große Schulden gesetzt und seine Einkünfte zu deren Abtilgung verwalten lasse. – Er sey aber ein sehr guter und großmüthiger Herr, der schöne Reisen in sein er Jugend gethan und auch, nach seinen vielen Büchern, sehr gelehrt seyn müsse. Der ganze Garten sey, bey seinem Vater nichts als ein schöner Wald mit einem Fischteich und kleinem Bächelchen gewesen, neben welchem auf der untern Seite ein großer Bauerhof gestanden, in dem des Sommers sein Vater und Mutter oben gewohnt und für ihren [357] Sohn und Tochter alles zusammen gespart hätten, was sie gekonnt. – Die Tochter sey ein listiges Thier, die von den Eltern schon viel gezogen und von ihrem Bruder auch, mit dem sie machen könne was sie wolle, wie man sage; weil sie bald lustig, bald spitzfindig, bald sehr zärtlich mit ihm spräche, bey allen andern Leuten aber durch ihre Falschheit und döse Zunge verhaßt sey. An Herrn von Pindorf bitte man nichts auszusetzen, als daß er ihr Alles glaube, zu gut sey, und nach ihren Angebungen sich einnehmen lasse. Er sey mehr melancholisch, als lustig; habe mit seiner Gemahlinn gut, aber etwas kaltsinnig gelebt – und sey mehr im Walde und der Bücherstube, als bey ihr gewesen, ob sie schon recht hübsch und artig, auch gar sanft gewesen. In dem Wald aber habe er sonderbare Sachen gemacht, mit Grotten, in denen ein weisser Teufel liege; eine Blumenhecke wo junge Heren tanzten und auch hinter einem Baum ein weisser Teufel zusähe. – Dann einen See, ganz kostbar, mit grauen Bänken und Stiegen, wo sich nackende Weibsbilder badeten und Füsse wüschen. Sie wären nur von Stein, setzte er hinzu, aber doch vielen alten Leuten in der [358] Stadt ärgerlich. – Das Haus sey sehr schön, aber närrisch Auf zwey Seitengebäuden wäre gar kein Dach, sondern ein Altan von Regpel; und auf dem sechseckichten Dach, in der Mitte, sässen drey nackende Kinder, die auch fremdes Gesträuch daran hinauf zögen. Auf dem breiten Gang oben wären auch Figuren herum, doch stände der Bauerhof noch, und man wundre sich, daß er nicht auch lauter steinerne Bauern und Vieh hingesetzt habe. – Alle Fremde gingen aber hin, besonders Engländer, die lobten Alles, und zeichneten auch den Garten ab. – –

Nun kam mir und Rosalien die Lust an, diesen tollen Garten zu sehen, und es reut uns nicht, denn nichts Schöners hab ich noch nie gekannt. Wir gingen auf der Seite des Flusses, wo man das Haus lange im Gesicht hat, weil er es etwas auf einer Krümme voraus bauen ließ. Die Hauptgestalt des kleinen Lustschlosses ist ziemlich bekannt, denn es ist in der Mitte ein erhöhter Bau und auf beyden Seiten sind lange Flügel von einem Stockwerk mit Altanen, was man öfter sieht. Aber die Ausführung gehört dem erfindsamen Geiste des Herrn von Pindorf eigen. Auf der Brustmauer [359] beyder Altane stehn Vasen, von sehr schöner Form. Aber das mittlere Gebäude sieht in der That herrlich aus. Auf dem untern Stock ruht ein breiter Altan, auf dessen Brustmauer eine Bildsäule der Flora, halb liegend, sich auf einen Arm stützend, in einer sehr schönen Stellung gegen einen Genius sieht der in einiger Entfernung von ihr, einen Korb voll Blumen vor sich hat, einige davon in der Hand hält und die Göttinn so ansieht als fragte er: Darf ich sie ins Wasser werfen? Ceres auf einer andern Seite, mit bedeutendem Aussehen, und auch ein Genius, mit Kornähren und Sichel, die er froh über seinem Kopf zu schwingen scheint, und seine Garbe freundlich anblickt. –– Dann folgt Pomona, welche einem Knaben mit einem Korbe voll Obst zulächelt. Diese Körbe, Blumen, Aehren und Früchte sind von Blecharbeit, nach der Natur verfertigt und auch nach ihren Farben gemahlt. – Der Gang ist acht Schuh bis an die Thüren des runden Saals, die zugleich die Fenster ausmachen. Zwischen diesen vier doppelten Thüren stehen große marmorne Blumentöpfe, aus welchen Indische Blettergewächse, auch von Blecharbeit, grün [360] und vergoldeten Spitzen, hervorsteigen, bis über die Fensterbogen auf das Dach sich erheben, und auf diesem durch drey Genien gefaßt werden, die sich in verschiedenen Wendungen bemühen, sie mit breiten weiß und goldnen Bändern, die in losen Schleifen auf dem Dach herumflattern, oben in einen Busch zu binden. – Der Stiel der Bauart ist äusserst edel, im wahren römischen Geschmack. Alles ist Silberfarbe, mit Oel angestrichen, und leichte Vergoldungen. nur wie Sonnenblicke, hie und da angebracht. – Das Alles macht wahrlich einen ganz herrlichen und großen Gedanken aus. – Forne ein Warf von Quadersteinen, an dem der Fluß immer anspielt; und dann ragen hinter den Gebäuden die hohen Wipfel von Buchen, Eichen, Erlen, in ihrem verschiedenen Grün hervor. – Das ist, so wahr ich lebe. ein vortreflicher Anblick! Auf der Seite gegen das Wasser sind in dem ganzen Gebäude lauter artige Zimmer weiß in Gips ausgeziert, aber ganz leicht; immer in einem ein Camin, im zweyten ein Bett von artigem Zitz. Spiegelrahmen, Tische und Stühle sind auch weiß Die Fenster alle bis auf den Boden, große Scheiben, in hölzerne [361] auch weiße Rahmen gefaßt; und auf Brusthöhe, ein schönes Gitterwerk, wovon die Spitzen kleine Vergoldungen haben. Gegen den Wald und Garten läuft durchaus ein sechs Schuh breiter Gang, dessen Dach vom Altan anfängt und auf Säulen gestützt ist. Von diesem Gange geben auch durchaus drey Stufen in den Garten herunter und die Eingänge in die Zimmer. –– Der obere große Saal ist auch, wie die übrigen Zimmer, weiß, mit vier hohen Spiegeln und sehr schönen Wandleuchtern mit Blumengewinden. Der Fußboden von grau und weißen Marmor eingelegt. – Unter diesem ist, gegen dem grossen Stück des englischen Rasenplatzes, ein runder, offener Saal. Wenn man von dem über dieses flache Stück des Gartens hinschaut, das mit Vasen, worinn Blumen gezogen werden, und einigen Gruppen Genien der schönen Künste geziert ist, sieht man gegen eine Anhöhe, auf welcher er die Ruinen eines kleinen Tempels aufbaute, und von einem benachbarten Kavalier die Erlaubniß erkaufte, einen kleinen Bach, der auf dem Berge entspringt, von seinem ersten Weg abzuleiten und neben dem Tempel, über eine von demselben [362] abgefallne Säule, die schief hingelegt wurde, fliessen zu lassen. Ueber dem Capital, so von der zusammengesetzten Ordnung ist, sprudelt das Wasser schäumend ab, weil es sich an den Blättern und Rinnen stößt; weiter hin, fällt es noch über große Stücke Mauern, und unten kommts durch einen kleinen Umweg, wiese in das alte Bett, nach dem Dorf des Kavaliers. Es ist so gut nach den Regeln der Täuschung gemacht, daß man weder den Tempel, noch Wasserfall ganz sieht; so daß, ob man sie schon das ganze Parterre durch im Gesicht hat, man nicht gesättigt wird, und mit Begierde auf den Anblick des Ganzen bis aus Ende geht, wo Pindorfs Anlage, durch einen tiefen Graben begränzt, eine schöne Aussicht auf eine große Landschaft und zwey Dörfer giebt – Pindorfs Wald wird durch dieses Parterre in zwey Theile geschnitten, wo er alles fort wachsen ließ, nur aber Sorge trug, daß nie faule, oder zu sehr verflochtene Gesträuche drin wären. Die Wege sind ungleich, bald eng bald weit. Auf einer Seite kommt man auf einmal an einen sehr dunkel verwachsenen Platz, wo in einer großen, sehr gut angelegten Grotte, deren Eingang mit Rebenstöcken [363] umzogen ist, auf einer niedrigen Moosbank, ein Faun auf einem Weinschlauche schläft. – Da batten wir den weißen Teufel unsers Wirths und fanden auch nach einigem Herumgeben in einem schönen Gebüsch, seine jungen Hexen, in der Gestalt drey schöner tanzender Nymphen, auf einem feinen Rasen, über welchem zwey große Eichen ihre Zweige ausbreiteten. Zwischen diesen ist dichtes Gesträuch gezogen, worunter Wendeblumen, Rosen, blauer Hollunder, Schneeballen etc. gepflanzt sind, die hie und da, über eine Gras- oder Moosbank gebogen sind. Hinter einer Buche steht ein Faun, der die Nymphen belauscht. Das halb Düstre dieses Platzes und die sehr vortreflich gearbeiteten Bilder, machen einen Eindruck alter Griechischer Zeit. –– Bey hellem Mondschein, sagte der Schloßwärter, gingen Kunstverständige, wie sie sein gnädiger Herr nenne, gern hin, weil das Gebüsch mit Fleiß so ausgeschnitten sey, daß der Schein einige Stunden auf die Tänzerinnen falle, und da laße er auch eine Musik in der Hecke machen, wobey etwas gerade so klänge, als ob das runde Ding mit Schellen, das Eine über dem Kopf hielte, einen Laut von sich gäbe. –

[364] Ich sagte zu Rosalien: »Ey, wie schade, daß dieser Pindorf nicht Deine van Guden mit ihrem Gelde heyrathete! – Diese zwey Leute hätten die Feenwelt aufgebaut.« ––

»Spötter!« sagte sie, »wie undankbar bist Du gegen das Gefühl von Vergnügen, das Du hier durch Pindorfs Kunstliebe einsaugst, und in Wollinghof von der Phantasiereichen Güte meiner van Guden genossest.«

»Bist Du böse, Salie! weil Du so große Worte nimmst?«

»Nein! sonst hätte ich mehr gesagt.« –

»Was denn, Liebe? vertrau mir es.« –

»Ach, ich würde Dich Leuten verglichen haben, die über den Himmel lachen, und doch gern selig würden.« ––

»Sieh, wie unschicklich ernsthaft wirst Du hier in Rosengebüschen! Ich bin viel näher am Geist des Stifters.« –– Da wollt ich sie küssen.

»O, Du machst ein Faungesicht,« sagte sie und entschlüpfte meinen Armen mit Nymphenleichtigkeit und Anmuth. ––

Vergieb, mein Freund, daß ich diese kleine Unterredung mit meiner Salie, wie ich sie nenne, hier einschalte. –– Ihre Kleidung, [365] Miene, Wuchs und Ton, schickten sich sehr artig in diesen Hayn; und da bey der Erinnerung des Ganzen, mir auch dieses beyfiel, schrieb ich es hin. – Wenn Du lachst, daß ich die Idee einer Nymphe mit dem Bild meines Weibes vereinige, so magst Du es thun. Ich würde im Joch des Ebstandes der elendeste Mensch seyn, wenn ich nicht mehr scherzen und mein Weib, als eine artige Geliebte, ansehen könnte. – Jahre, Amts- und Kindersorgen werden Sitten und Saiten anders stimmen; aber zum Voraus will ich nichts wegräumen was zu der Blüte meines Glücks gehört und taugt. ––

Unser Führer leitete uns nun auf die andre Seite des Waldes wo einige gerade laufende, hohe, große Alleen in französischem Geschmack sind, wovon zwey an der einen Ecke des Waldes, in einem großen, offnen Saal, dessen Wände von Haynbuchen gezogen sind, sich endigen. Aus den Fenstern siebt man den Wasserfall auf einer, und den Pavillon des Hauptgebäudes auf der andern Seite. Dort ist auch ein Platz zu verschiedenen Spielen. – Versteckte Wege von hieraus, und ein einziger von dem Gange, führen zu einem großen Wasserbecken, [366] mit grauem Landmarmor eingefaßt, in welches an einem Ende eine Stiege von dem nehmlichen Stein bis auf den Boden geht, auf deren zwey vorletzten Stuffen eine herrlich gearbeitete weibliche Bildsäule steht, die Haare mit einem Band aufgebunden, den Oberleib über den Nacken hinunter bloß, mit einer Hand aber hält sie ein feines Gewand über die Brust, mit der andern zieht sie es gegen die Stiege, als ob sie es hinlegen wollte, so bald sie ganz im Wasser seyn würde; denn mit einem Fuß ist sie schon auf der letzten Stuffe. Das andre Knie ist also gebogen und seine schöne Form scheint ganz genau durch das Gewand, wie der eine Fuß aus dem Wasser. Oben, an dem Anfange der Treppe, ist ein, dicker Strauch von roth und weiß gestreiften. Rosen und ein kleines Geländer an der Stiege. An dieses lehnt sich die Bildsäule einer Griechischen Magd, einen Arm auf dem Gewande, das in schönen Falten über dem Geländer hängt, den andern gegen den Rosenstrauch ausgestreckt, von dem ihre Finger eine Rose fassen. Auf dem Gesims steht noch ein Salbentopf, in alter Form. Eine dicht bewachsne Laube und die Bäume mit ihren Schatten [367] dorthin, wachen diesen Gedanken zu einem köstlichen Theile dieses Gartens. – In ungleicher Richtung gegen das andre Ende des länglichten Wasserbeckens, ist ein viereckigter Platz, mit einer kleinen Bank, auf den man zwey Stuffen hinunter steigt. Hier sitzt ein eben so schönes weibliches Bild, einen Fuß über das Knie des Andern gelegt, mit dem Oberleib etwas gebogen, weil ihre rechte Hand die leichte Kleidung zurückhält, damit sie von dem auffallenden Wasser, welches eine artige Sklavinn aus einem Krug über ihre Füsse gießt, nicht naß werden möge. Sie blickt dabey holdselig nach dem Mädchen hinauf. Dieses Wasser ist das ganz kleine Bächelchen, so durch Pindorfs Wald fließt, über welches er eine niedre Decke wölben, und diese mit Rasen belegen ließ, so daß man nichts mehr davon sieht, und es durch seine Leitung den Ausfluß gerade durch den Krug der Sklavinn nimmt, der mit dem Fuß etwas auf dem Gras aufliegt, gleichsam um dem Mädchen die Schwere etwas zu erleichtern. Das Wasser macht durch das Auffallen auf die Füsse, von diesen auf den Pflasterboden und dann im Einfallen in das Becken, ein abgesetztes [368] Geräusch. – Hohe Grasarten, hie und da stehende, mit Fleiß so angepflanzte Gewächse neigen sich gegen das Wasser und spiegeln sich darinn. Moos- und Grasbänke findet man da, um die Kühlung bequem zu geniessen. – Ganz im Gesträuch versteckt liegt ein Bad, wohin das Abwasser, so dieses Becken gleichsam durch geseigt, auf einer Seite abfließt. Dieser Platz ist auch ganz von Stein, mit Bänken, und für acht Personen Raum darin, ohne Dach, aber eine Mauer herum, von welcher man nach dem äussern Ansehen denkt, daß sie die Einfassung eines kleinen Hofs sey, der sich an das auch kleine Haus anschliesse, so daneben steht, in welches das kalte Wasser in einen Kessel fliessen und zum warmen Bade gehitzt werden kan, das in einem geräumigen Zimmer, mit holländischen Porcelantäfelchen ausgelegt, besteht, und auf der Seite vier artige Zimmerchen mit Betten und Kaminen zum Abtrocknen hat. – Von dort aus kamen wir noch durch einen Theil des Gehölzes, der immer lichter wurde, und sich an dem schönen Bauerhofe auf einer, und dem Gemüs- und Obstgarten auf der andern Seite endet. Hier ist nichts als Wahrheit und [369] Ordnung, in Gärtner- und Bauerarbeiten; der Hof so, wie man Bauerhäuser in Kupferstichen sieht; eine große Linde neben der Hausthür an den Zimmern hin, die Pindorfs Eltern ehmals bewohnten; ein Gang von Holz, die Stuben getäfelt, und noch alles alte Geräthe darinn sorgfältig verwahrt; ein fleißiger, geschickter Bauer, viel schönes Melk- und Zugvieh, viel Gesinde; und die großen Felder, Wiesen und Baumstücke umher, schön angebaut; die reiche Einfalt der Natur, mit all ihren rührenden Annehmlichkeiten, neben dem Garten, der alle Reize der Kunst in sich saßt. – –

Leid war es mir, daß die Schulden, in welche Pindorf sich gestürzt, nun bey vielen Leuten dem edlen Geschmack schaden, dem er sein Geld opferte. Denn er ist doch einmal unter der Menge junger Edelleute, die England und Italien durchreisten, fast der Einzige, den ich weiß, der so viel Würkliches in seinem Kopfe davon zurück brachte. Denn er soll die Zeichnungen der Bildsäulen, den Riß des Hauses, Gartens, und aller Verzierungen, selbst entworfen haben, und hat wechselsweise bey jeder Arbeit dabey, mit allen Kräften und [370] Geschicklichkeit geholfen. Hätte er doch jährlich nur eine Summe bestimmt, und nach und nach seinen Entwurf geendigt! Aber Jugendfeuer will bald geniessen; und er hatte Alles so angeordnet, daß Gebäude, Bilder, Wasserleitungen und Hausgeräth so fertig wurden. daß das Ganze mit einemmal da war. –– Seine Bücher- und Kupfersammlung ist zahlreich und auserlesen. – Er hatte mit den Verwandten seiner Gemahlinn über diesen Aufwand viel Verdruß, weil er ihre Mitgift auch darinn verschwendet hatte, wie sie sagten; und Keines von ihnen wollte seine schönen Sachen sehen. Die Ursach, warum er seine Kinder so lang allein läßt, ist, weil sie von dem Erbgut ihrer Mutter leben, die vor dem Großvater starb, und dieser in seinem Testamente seinem Schwiegersohn ausschloß – Die Bedrängniß seiner Schulden, und seine Vaterliebe brachten ihn dazu, daß er Alles einwilligte. Aber er wollte dann so lange von W** entfernt leben, bis er wieder frey leben könnte. – Er war lange düster bey einem Verwandten, und ist nun seit einiger Zeit bey seiner Schwester. Es liegt ausserordentlicher Geist in dem Manne; aber, ich fürchte daß ich Recht habe, [371] zu vermuthen, Böse können ihn unter dem Schein des Guten mißbrauchen. – Und hier eine Frage: Liegt nicht diese Weichheit, im Kunst-und Schönheitsgefühl? – Es mag seyn, wo es will: ich danke dem Himmel, daß er es jemand in Deutschland, in einem so hohen Maaß gegeben hat, wie dieser Garten zeigt.

87. Brief
Sieben und achtzigster Brief
Rosalia an Mariane S**

Es ist wahr, ich schrieb von Wollinghof nur zwey Briefe und von hier nur Zettelchen; aber hören Sie mich Liebe! denn nun bin ich zurück, in meinem eigenen Hause; nachdem mein Cleberg noch zwey Tage für Madame Guden aufgeopfert hatte, weil er nach der Stadt W** ging, um dort Erkundigung von Pindorf einzuholen. – Er ist nur so halb und halb mit dem Manne zufrieden, ob ihm schon sein Haus und Garten sehr wohl gefiel. Ich [372] schicke Ihnen, meine theure Freundinn, die Abschrift von Briefen meines Mannes an einen seiner vertrautesten Freunde, worinn Sie ihn, und das was wir sahen, besser erkennen werden, als wenn ich es bezeichnete. Dünkt Sie nicht, daß ich mir von dem Geist und Herzen meines Gatten viel Gutes und Glückliches, auch für den Winter meines Lebens versprechen kann? Er ist voll Kenntnisse, Einsicht und edlen Ehrgeitzes, ein bischen schnell und spitz in seinen Urtheilen; weßwegen ich sehr froh bin, weit von unserm Hofe zu leben, wo er sich sonst, durch diese Eigenschaft seines Kopfs, große und kleine heimliche Feinde zugezogen hätte. Er liebt meine Empfindsamkeit, sagt er, weil sie edel ist und sich nicht mit kleinem Gewimmer abgiebt. – Ich war nach unserer Zurückkunft, aus Ermattung von der Reise, und dann, zu übereiltem Betreiben, alles wieder in Ordnung zu bringen, vier Tage krank, unter denen zwey Tage voll Schmerzen waren. Cleberg besorgte mich mit der äussersten Zärtlichkeit, schlief in einem Nebenzimmer, wovon man die Thür offen lassen mußte, hatte auch fünf Nächte seinen Schlafrock immer an; denn bey dem mindesten [373] Geräusch, oder dem leisesten Ton meiner Stimme, wenn ich was von meiner Magd begehrte, war er an der Thür, und sah, ob ich gut besorgt wäre. Oft kam er auch ohnedies nach mir, um zu sehen, zu horchen, wie ich athmete, oder ob die Wärterinn wachsam sey. Da traf es sich eine halbe Stunde, daß die arme Person schlief, weil ich äusserst ruhig war, die Augen geschlossen hatte, und sie mir die Arzney, die ich nur alle Stunden nehmen durfte, kurz vorher gegeben; – meine Schmerzen aber sehr heftig wütheten, und ich da, ganz still und abgebrochen, Gott um Geduld und Hülfe bat, damit das arme Geschöpf, von dem ich Mutter zu seyn hoffe, sein kleines Leben mit mir erhalten möchte. Ein Dank für die Liebe meines Gatten, eine Bitte für sein Wohl, und um die Dauer seiner Liebe, war auch unter dem, was ich flehte. –– Cleberg hörte dies an dem Fusse meines Bettes. Er unterbrach mich nicht, aber sammlete, was er gehört hatte, in sein Herz und verdoppelte seine Sorgfalt für mich; beobachtete aber auch stets mein Verhalten; – besonders da der Arzt, den er sehr früh Morgens rufen ließ, nach dem krampfigen Bewegungen und [374] den starkverzogenen Gesichtslinien, auch aus dem Puls, ihm von der Stärke der Schmerzen und Krankheit sprach. – Ich bemerkte immer, so viel mein Uebel zuließ, daß er gleich große Achtsamkeit für den Gang meiner Ideen, und meiner Leiden hatte. Als ich nun ganz genesen war, hörte ich ihn oft mit so vielem Lobe von meiner Geduld reden, daß ich ihn bat, es nicht mehr zu thun, weil es bey einigen Personen Mißvergnügen geben könnte. –– »Nicht Alle können still seufzen, so wenig alle ohne Geräusch lachen können. Wer Gott mit lauter Stimme um Beystand ruft, thut es gewiß mit eben der Unterwerfung, wie ich es lisple. Du kannst, mein Lieber, ungerechte Männer antreffen, die dann über ein vom Schmerz erpreßtes Ach, ungeduldig werden, und mich als Vorwurf nennen könten, da ich, bey wenigem Weh, auch natürlich weniger klagte.« ––

»Meine theure Salie, nun kenn ich Dich erst ganz; und sieh! nun bin ich auch ganz glücklich. – Ich habe Dich in Allem gesehen, – in Krankheit allein war ich noch neugierig, Dich zu beobachten. Ich hätte Dich immer beklagt, weil ich weiß, daß ihr armen [375] Weiber vieles Leiden zu tragen habt. Aber gewiß ists, daß Deine sanfte Art mit der Wärterinn, Deine Geduld, Deine Gebete zu Gott und Deine unausgesetzte Reinlichkeit mich da noch mehr an Dich fesselten. Denn auch hierinn hat Dein edles Ertragen des Weh's, den Theil männlichen Muths angezeigt den ich stets in Dir schäzte; und Deine Gelassenheit und Sorge, reinlich zu seyn, ist das Schöne des Weiblichen Charakters. Ich danke Dir für die Freude, die Du mir giebst, in gesunden und kranken Tagen stolz auf meine Gattin zu seyn.« ––

Sehen Sie, Mariane, stolz will er auf mich seyn! – Der gefährliche Mensch! – mich so gar im Krankenbett zu belauschen. Dem Himmel sey Dank, daß der Zufall so für mich sorgte und ihn Gutes hören und sehen ließ. Es schmerzt mich doch, zu denken, daß die beste, würdigste Frau, bey einem solchen Manne, durch eine Thräne, einen Schrey, – die uns doch von der Ratur zu Erleichterung des drängenden und zerreissenden Schmerzes gegeben sind, eine Verminderung seiner Zärtlichkeit erlitten hätte. Meine Geduld ist nichts als Gerechtigkeit, die ich aus [376] Beobachtung meiner und Andrer, bey Krankenbetten lernte. Ich sah, daß man über ungeduldige Kranke müde wurde und ich weniger Mitleiden fühlte. Vor Schmutz und Unordnung eckelte mir so sehr, daß beynah der Kranke mir widrig wurde. Bin ich da nicht verbunden, zu sorgen, daß niemand eins von beyden Stücken an mir finde? – weil ich ja sonst auch die nehmliche Bewegungen der Seele erwecken könnte, die ich bey diesen Gelegenheiten fühlte. O, Mariane! wenn nun jemand berechnen wollte, wie viel Werth innerlicher Tugend in meiner Gelassenheit und in Clebergs Güte für mich lag, – was bliebe im Rest? – Gelernt habe ich noch, recht klug mit dem Glück meiner Ehe zu wirthschaften und ja meinen Kopf nirgends in Ermahnungen oder Bemerkungen hervor zu thun, weil beydes die schlimsten Würkungen haben würde. Ich verlange auch die Ordnung der Unterwürfigkeit und des Nachgebens nicht zu unterbrechen, und bin gewiß immer noch viel glücklicher als Tausend der Besten meines Geschlechts nicht sind. ––

Der Plan, den Sie aus meinen ersten Briefen, als Clebergs, kennen, ist schon völlig [377] ausgeführt. Garten und Haus darinn ist gebaut, nur daß wir dieses Jahr noch nicht da wohnen. Aber im künftigen Lenz soll ich meine Wochen da balten, weil ich und mein Kind lauter reine Luft athmen, ohne alles Geräusch seyn, auch dabey die vielen Wachenbesuche vermeiden würde, ohne daß es zu Feindseligkeiten Anlaß gehen könne. – Was mich innig freut, ist, daß Kahnberg nur eine halbe Stunde von unserm Landhaus ist und Orte ein Bauerhaus in unserm Dorfe gekauft hat, es völlig stehen ließ, wie es ist, und nur von außen es bewerfen und tünchen ließ; – die Stiege innen abbrach und eine Pilatus-Stiege von aussen aufführte, von welcher man in die artigsten kleinen Stübchen kommt, die so einfach als möglich ausgetäfelt sind und nicht einen Gedanken städtischer Geräthe haben. Den großen Baumgarten des angränzenden Bauers, hat er auf einer Seite, und die schöne Flur auf der andern zur Aussicht. Unten ist die Küche, Speißkammer und Eßzimmer; oben sechs kleine Zimmerchen mit einem Fenster, einem Bettchen, Stuhl und Wandtischgen und ein kleiner Schrank, wovon die Hälfte, Kleider auf zu hängen, und die andere [378] Weißzeug zu legen, eingerichtet ist. – Auf dem Speicher ist die Weißzeug- und Kleiderkammer für Julie und Otten, die Kinderwärterinn, das Kind nebst der Köchin und Stubenmädchen. Der Bediente hat seine Schlafstelle an dem Eßzimmer; es ist recht artig. Aber von Madame G** und von Herr F** bin ich etwas weit: doch im Herbst und Winter finden wir uns wieder. Diese sind würklich schön für mich; denn ich sehe, wie Cleberg es einrichtete, täglich von zwey Uhr, alle Leute, die von unsern Bekannten zu uns kommen wollen, und muß Ihnen etwas in der That recht Liebes, von einer sehr würdigen Nachbarinn erzählen, bey der es uns Mühe kostete, den Zutritt zu erhalten. – Unser Haus hat einen Erker, in dem sich mein Mann gern umsieht. Vor acht Tagen, da ich wieder im großen Besuchzimmer mich aufhalten konnte, waren einige Leute bey uns. Man spielte noch nicht, weil man das Ende des Gottesdiensts abwartete, indem wir nicht gut finden, Karten durchzublättern, anstatt in der Kirche zu seyn; und ich muß sagen, daß unsre Unterredungen gewiß moralisch sind. Cleberg blieb im Erker und sahe dann die Leute aus [379] der Kirche kommen. Da fing er endlich an: Salie! da ist meine artige, himmelblaue Nachbarinn wieder mit ihrer braunen Mama nach Hause gegangen; wenn ich nur etwas von dieser Familie wüßte. ––

Einer von den Männern und Otte eilten zu Clebergen um das himmelblaue Mädchen zu sehen, aber mein Mann konnte ihnen nur noch das Haus weisen. »Ach, das ist die Frau und ältere Tochter des Rath Itten gewesen. Die zwey Töchter und die Söhne sind sehr hübsche junge Leute, aber man sieht die Erstern nur Sonn- und Feyertags auf dem Kirchweg, und Letztere, auf dem nach den Schulen; den Mann, in Amtsgeschäften und von sieben bis acht im Kaffehause, sonst ist keine Seele sichtbar.« ––

»Das ist wahr,« sprach Cleberg, »denn am Fenster sieht man niemand, es müßte denn in dem kleinen Maulkorb jemand verborgen liegen, der über ihrer Thüre steht.« –

Otte lächelte gegen einen artigen jungen, oder vielmehr unverheyratheten Mann, der neben ihm saß, klopfte auf seine Achsel. »Da ist jemand der mehr weiß, als wir,« sagte er, [380] »aber auch mit mehr Mühe.« – »Doch nicht mit mehr Vortheil.« ––

»Wie das, Freund Linke? erzählen Sie uns doch etwas von der Geschichte des blauen schönen Mädchens und der braunen Mama, denn ich habe beyde immer, in diesen Kleidungen gesehen.« ––

Herr Linke sagte: »Ich auch, schon länger als Sie. – Aber die schöne Gestalt, der Gang, die feine Haut, Bildung und Blick des Mädchens, reizte meine Neugierde. Ich suchte aus dem Hause gegen über in die Fenster zu sehen, aber das half nicht; da sind immer weiße Vorhänge in einem Zimmer, und in dem Andern der Vater zu sehen. Meine Ungeduld ließ mich ein Hausmittel brauchen. Ich beschenkte die Magd meiner Schwester, damit sie Bekanntschaft mit der Ittenschen alten Magd machen, und diese ausforschen solle. Das half, und ich hörte, es wären sieben Kinder im Hause, für welche die Frau Räthin immer selbst gesorgt habe, ihre Kindermagd, Nätherin, und Strickerin gewesen sey. ihr, der Magd, habe sie immer helfen waschen, plätten, den Garten am Hause bestellen, worinn sie alles Gemüs [381] und Obst zögen, ihre Leinwand bleichten, und eine Kuh ernährten. – Mutter und Töchter strickten, nähten und spännen das ganze Jahr, sie, die Magd, wäre die Schwester eines guten, aber armen Webers; ihre Mutter hätte bey der alten Frau Itten gedient. Dieser habe das Haus gehört, und weil sie ihre gute Liesbet ungern durch ihre Heyrath verlohr, so habe sie ihr aus dem alten Pferdestall, der in das Nebengäßgen gehr, eine Wohnung zurichten lassen, worinn ihr Vater umsonst war, und ihre Mutter darneben als Köchinn bey der alten Frau fort diente, den halben Lohn und Essen hatte. Sie wäre im Haus erzogen und der Frau Räthin als Magd zugegeben worden. Als ihre Eltern gestorben, habe man ihren Bruder und jüngere Schwester, die ein paar krüpplichte Zwillinge gewesen, im Hause behalten, weil die alte Frau Itten wohl gesehen, daß sie die Ursache sey, warum die arme Kinder in ihrer Jugend versäumt worden, da die Mutter immer bey ihr seyn mußte, nur zu Hause schlief, Morgens die Kinder ankleidete, Mittags das Essen zurecht machte, und Abends eine Stunde kam. Denn sie mußte [382] so gar ihre Spuhlarbeit bey Frau Itten machen, als diese bettlägerig war. – Die junge Frau hätte bey der Schwiegermutter viel ausgestanden, so gar sie junges Ding hätte sie in allem verrathen müssen. Dennoch sey sie ihr gut geblieben und habe ihren Geschwistern mehr Liebe erwiesen, als die Alte. Der Herr Rath sey nicht so brav, wie seine Frau, laße sie aber alles thun was sie wolle, und da lebten sie einsam, aber recht vergnügt, so fort. Ihr Bruder sey Meister und webe das ganze Jahr für Frau Itten; ihre Schwester führe die kleine Haushaltung, spuhle und zettele ihm, webe auch Handrächerzeug. – Stürbe aber ihr Bruder, so würde sie heyrathen und das Webergewerbe führen, denn sie werde für ihre viele Arbeit auch so gut belohnt, daß sie Geld auf Zinsen gelegt habe.« ––

Diese Erzählung gefiel mir und Clebergen sehr. Mein Mann fragte, ob Herr Linke denn niemals im Hause gewesen sey, oder mit der Mademoiselle Itten gesprochen habe?

Nein, er hätte dies Vergnügen noch nie genossen. ––

[383] »Ey, pfui,« sagte mein Mann, »sich in zwey Jahr Zeit so wenig Mühe um ein liebenswürdiges Mädchen geben! – Ich will Sie nicht mehr zu meinem Freund haben.« –

»Sachte, sachte! Sie Feuerbrand, hören Sie mich erst an. – Sie wissen doch, daß ich Ehrlichkeit und gesunde Vernunft habe. Konnt ich mir denn, eh ich im Besitz meines Vermögens und einer Bedingung war, den Zutritt in eine Familie schaffen, wo so ordentlich und streng auf Wohlstand und häußliche Klugheit gehalten wird? – Die Ittensche Töchter sind mir selbst zu ehrwürdig, als daß sie nur zu einem leeren Umgange der müßigen Stunden eines ledigen Kerls da seyn sollten. Denn reich kann die Familie nicht seyn, und wie viel junge Pursche suchen jetzt ein Mädchen nur wegen ihrer guten Gestalt und Erziehung? – Sollt ich mir allein, oder auch Andern das Haus öffnen lassen, ohne Absichten zeigen zu können die der Eltern und Kinder würdig wären? – Wir thun oft genug guten Familien Schaden, die freundlich und treuherzig ihr Haus, Gesellschaft und Tisch einem wohlschwätzigen Menschen überlassen. Eltern, und ein redliches, [384] edles Mädchen glauben dann, das Herz des jungen Manns ganz zu fesseln, und der Kerl genießt jede Achtung und Güte, sieht die Hoffnung und Wünsche keimen, läßt so gar die Vermuthung in Andern entstehen. – Aber wenn er an das artige Aussehen gewöhnt, und durch den täglichen Umgang der Reitz der Neuheit verlohren ist, wendet er sich ab, wird kalt und sucht auf einer andern Stelle sein Glück. –– Das wollt ich nicht, – that es auch niemals. Aber wenn Clebergs Kopf und das Mittel zu der Bekanntschaft mit der Mutter und Töchtern finden kann, so werd ich ihm danken. Den Vater kenn ich; denn ich gestehe jetzt auch, daß ich mit Otten, seine Freundschaft auf dem Kaffehause zu gewinnen suchte.« ––

Mit dieser Erklärung waren wir alle herzlich zufrieden. Es wurde noch viel von dem jetzigen Ton der Sitten und Lebensart gesprochen, und daß der eingeführte Aufwand Ursach sey, warum so wenig junge Männer den Muth hätten, sich zu verheyrathen.

»Das ist nur zur Hälfte wahr,« fiel Cleberg ein. – »Die Reitze der Abänderung [385] sind es! denn seit dem man sich durch Geschenke bald dieses, bald jenes artige Geschöpf eigen machen kan, und dabey der Sorgen für eine Familie überhoben ist, so verschleudert man seine blühende Lebensjahre und Vermögen in Spielgesellschaften, und dem Abschaum der Liebe, und hat allen Geschmak an Ordnung und Beschäftigung verlohren. Die wenigen Stunden, welche man einer armen verdorbenen Seele gibt, werden freylich von ihr durch Scherz, Lächeln und Anmuth süß und leicht gemacht, was die beste Frau nicht immer thun kan, besonders, wenn ihr unser Wohl, unser Hauswesen und ihre Kinder angelegen sind. ––

Ich muß, meine Rosalia, eine Unbilligkeit von uns Männern eingestehen, die wir gegen euch auszuüben gewohnt sind. Wir wissen uns so viel mir den vorzüglichen Kräften und Gaben unsers Geistes; und dennoch erliegt unsre Gleichmüthigkeit bey dem geringsten Anstoß in dem Gange der Geschäfte, des Schicksals, oder bey einer kleinen Anhäufung der Arbeit. Und von Euch schwächlichen Kindern fordern wir eine immer gleiche Heiterkeit und Munterkeit des Gemüths!«

[386] Madame G** und Julie, welche mich zu besuchen gekon men waren und aus Muthwillen der Erstern in meinem kleinen Zimmer eine Zeitlang gelauscht hatten, klatschten mit beyden Händen, und riefen bravo! »glücklich müsse der Mann seyn, der seine Regierung mit so viel Gerechtigkeit anfängt!« ––

Ich sagte wenig, weil ich in Allem, was Ehmänner angeht, immer lieber eine fremde Frau will reden lassen; besonders in meinem Hause und mit meinem Manne; – und diese Vorsicht dient meiner Ruhe. ––

Nach einigen Augenblicken fragte Madame G**, was denn wohl den Anlaß zu dem aufrichtigen Geständniß des Herrn Clebergs gegeben hätte? – Da wurde die Geschichte der Ittenschen Familie kurz wiederholt, und mein Mann beschloß feyerlich, morgenden Tags das Haus zu bestürmen. Alle bestärkten ihn. Er ließ sich auch, als Nachbar, beym Herrn Rath Itten melden, der nahm aber seinen Besuch nicht an. – Nun will Madame G** mit, und, wie sie sagt, Mauerbrecher Dienste thun. –– Aber Cleberg hatte einen neuen und edlen Gedanken. Er schrieb ein Billet an Herrn Itten, und verlangte seinen ältesten [387] Sohn als Secretair für sich. – Der junge Mensch hat schöne Zeugnisse von seinen Lehrern; bey Clebergen kann er was werden. – Diesen Nachmittag werd ich Frau Itten sehen.

88. Brief
Acht und Achtzigster Brief
Cleberg an seinen Freund.

Ich denke meinen Briefwechsel so ziemlich ordentlich geführt zu haben. Denn die Anzeige meiner Heyrath, meine Reise, und die Sachen und Leute, so mir begegneten, haben alle in meinem vorigen Schreiben paradirt. Nun bin ich wieder in meinem Hause, und das auch gern; habe den Zirkel meiner Freunde neu durchlaufen, und auch diesen erzählt, was ich gesehen und darüber gedacht habe. Nun gabs auch von meinen Freunden Anmerkungen über Eins und das Andre, welches ich Ihnen, als Nachlese mittheilen will indem es meistens die van Guden und Wollinge angeht, welche auch Ihnen so vorzüglich waren.

[388] Ich habe mir, zu einem besondern Spaß, ein Paar Leute auegesucht, denen ich meine Briefe an Sie vorlaß. – Der Eine sagte bey dem Bilde der Liebe, so die van Guden zu Pindorf trägt, und das ich so ausmahlte und anpries: »Geh hin! eine solche Liebe ist Anfangs freylich schmeichelhaft für unsre Eigenliebe und Stolz. Aber sie wird zu einer unerträglichen Last, für den Menschen, der sie erwiedern soll.« ––

Der Andre behauptete, daß nicht ein einziger Mann lebe, der von einem solchen Weibe diese unermeßliche Zärtlichkeit verdiene. –

Sagen Sie mir, welcher von Beyden hat Recht? – Ich gestand selbst ein, daß diese große Liebe müde machen könnte, wenn die van Guden von nichts andern sprechen wollte. Aber, da ihre Unterredungen so abwechselnd wären, weil sie von Allem wüste, an Allem Geschmack fände und reichen, blühenden Witz mit ihrem Geist vereinte: so scheine mir der Ueberdruß unmöglich. ––

Unser seltsamer, aber herrliche Freund Sokan saß da, stützte seinen Kopf auf den Tisch, durchblätterte die Briefe meiner Frau und auch meine an Sie, hörte hie und da uns zu, warf [389] den Mund auf, schüttelte den Kopf und sagte endlich. »Ihr denkt nicht, daß in Eurem Urtheil über dieses Weib, der Maaßstab Eurer Hochachtung für mich liegt.« – –

Wir stuzten da, und gukten ihn an. Er lächelte. –– »Und das ist wahr!« sagte er, »denn wenn ich nun sage, daß diese Guden mir so ganz gefällt, und ich sie liebe, so theile ich ja auch den Tadel, den sie sich zuzog. – Wer hätte aber diesen guten Wollingen da oben geholfen, wenn ihre liebe Schwärmerey nicht gewesen wäre? – Der Beamte that was er konnte. Der zierliche Pindorf schenkte was, aber sie blieben doch in der armen Hütte. – Liebe dieses Weibs eine Last! – Ich kann es Euch beynah nicht verzeihen.« –– Dann fuhr er fort: »Aber, wir Menschen sind immer voll Widerspruch im Großen und Kleinen. Moralisten und Philosophen behaupten das Daseyn eines Hangs zum Wunderbaren und Ausserordentlichen. Wir Vielwisser und Vielseher können es an uns selbst bemerken; und wie deutlich liegt dieser Zug im Volke! – dennoch, wenn sich unter uns bey einzelnen Personen ungewöhnliches Verdienst [390] zeigt, wie wird es behandelt? was thut der Neid und die Eigenliebe dagegen! – Nehmt aber die Geschichte alter und neuer Zeiten; haben je Alltagsmenschen was besonders für das große Gute gethan? thaten es nicht immer Leute, die Kräfte und Muth genug hatten, aus dem gewohnten Landgang heraus, und voran zu treten? – Ich möchte wissen, warum es so wenig Menschen giebt, die das Gute so uneigennüzig verehren, wie die Türken unsern Heiland. – ›Er ist nicht für uns gestorben,‹ sagen sie ›aber er war ein Mann voll Göttlicher Tugend; und nach unserm Propheten verdient er den ersten Rang.‹ – Aber so reden wir nicht, wenn sich hervorleuchtendes Verdienst vor unsere Augen stellt. Tadelsucht erregt es bey Männern, wie die Reitze der vorzüglichen Schönheit der Nachbarin in kleinen Weiberseelen nur als Stacheln würken, die Unmuth und Widerwillen hervor bringen. Und so sprechen oft Väter, vor ihren Buben, von Leuten, für welche sie ihnen Verehrung und Nacheifer einflössen sollten. – Ihre Guden, Wolling und sein Weib sind Leute wie ich sie liebe; was sollten sie aber in einer Stadt [391] machen? was? – mögen sie immer dort bey ihren Eichen und zerfallnem Schloß bleiben, und möge der Wald so verwachsen, daß man nur mühsam zu ihnen kommen kann! denn allein unter dem Schatten, wo keines Menschen und keines Thiers Fuß hinkommt, dort wächst die Ceder, die Eiche, und die hohe Buche, mit der schwanken Erle auf; stark, mächtig, die Wolken berührend, und Stürmen trotzend!« ––

Sie kennen ihn, den Eiferer, wenn er so die Gestalt dessen, was seyn sollte und seyn könnte, vor sich hat; wie er da überfließt und zehn andre Sachen noch mit sich hin nimmt. – Mich freute er, und ich trieb ihn weiter, da ich ihn nach der kleinen Erkältung fragte, die zwischen ihm und seinen Freunde W** entstanden ist. – Er antwortete hitzig: »Was Erkältung! ich liebte ihn nie mehr, als jetzt. Mein halbes Leben gäb ich, wenn er den verdrießlichen Handel mit seinen Verwandten ansähe, wie ich! –– Ich haßte Alle, die seinen Werth nicht erkannten. – Alle, die seine Güte mißbrauchten und mir den Weg zu seinem Herzen verschlossen.« –

[392] »Ja; aber man sagt, daß er sich über Beleidigung von Ihnen beklage.« ––

»Beleidigung! –– Ist es Beleidigung, wenn ich denke und erwarte, daß jemand in einer wichtigen Gelegenheit seines Lebens alles thun wird, was seinen edlen, großen und gerechten Gesinnungen gemäß ist? was ich überzeugt bin, daß er von mir in den nehmlichen Fall gefordert hätte?« ––

Rosaliens edler Freund F*** fiel ein: »Ach, eh die Gelegenheit zu handeln da war, wird er gewiß diese Erwartung als dey höchsten Grad Verehrung seines Charakters angesehen haben; und es lebt gewiß kein Mensch, der nicht in ruhigen Tagen die innigste Freude hätte, diese ruhmvolle Erwartung in der Seele eines jeden seiner Freunde zu sehen. Aber, so bald er sich bewußt seyn wird, diese Erwartung nicht erfüllt zu haben, so empört sich sein Kopf und Herz bey dem Gedanken, daß man ihn nach diesen Ideen richten werde; und alsdann müssen auch diejenigen, die am meisten hofften, die widrigsten Gegenstände für ihn werden.« ––

»Ey, warum dieses?« ––

[393] »Weil ihm das Bild dessen, was ihm sonst schmeichelte, nun als Vorwurf erscheint, und wer liebt wohl Vorwürfe?« ––

»Aber, wenn ich nun einen Freund habe, in dem alles Große, Wahre und Gute liegt; und wenn dieses der einzige Grund seiner Glückseligkeit ist, – und er ändert sich in einem Falle und wird dadurch elend: muß ich ihm da nicht sagen, wo sein Uebel liegt?«

»Ach, die Menschen sind nur durch ihre eignen Ideen glücklich.« – sagte Herr Fr**

»Schweigen Sie mir, von dem Ganzen! Die beste Freude meines Lebens ist hier verlohren gegangen. Ein großer Kreis von Menschen hat den schönen Anlaß zu einer großmüthigen und gerechten Handlung versäumt, mit Füssen von sich gestossen! –– Fromme haben nicht als Christen, und Philosophen, nicht als Weise gehandelt! – – Ich habe mich matt geredet. geschrieben, und gebeten; niemand, niemand hörte mich an; und endlich mißhandelten und mißdeuteten mich Alle.« ––

»Da müssen Sie denken, daß es bey starken Erschütterungen der Seele wie mit dem Körper geht, in welchem, durch einen heftigen [394] Zufall, die Werkzeuge des Hörens und Sehens oft lange Zeit zu ihren Verrichtungen unbrauchbar werden. – Eine starke Leidenschaft bringt auch unsere Seele aus ihrem natürlichen Wesen, so, daß sie weder die Stimme des Freundes, noch das sonst so geliebte Bild moralischer Schönheit mehr hört und sieht.« ––

Nun schlug er seine Hände zusammen: »Ach! wenn jemand auf Erden mich so liebt und schätzt, wie ich meinen Freund W** liebe und schätze: se möge ein grausamer Zufall eher mich tödten, ehe ich seinem Herzen den Kummer mache, den ich litte!« ––

Es war mir nun leid, daß ich ihn von dem Berge der Wollinge abgebracht hatte. – Aber ich wollte einem von zwey Leuten, die da waren, die Seele unsers S** zeigen, besonders in dieser Sache, wo er so viel Unrecht gelitten hat.

Sie fragten mich letzt nach ihm, ob er noch immer Enthusiast wäre? da er doch seine Funfzige bald zählen würde. Sie sehen, das bleibt er mit Leib und Seele. – Ich sagt ihm, daß Sie das alles erfahren sollten. Es war ihm recht; – nur über Freund W** soll ich [395] nichts schreiben, sagt er; – und ihm dann auch Ihre Gedanken über die van Guden und ihn lesen lassen. Es freue ihn, sagt er, mit dieser Frau in einem Brief zu stehen, so wie es ihn freue, mit ihr zu gleicher Zeit zu leben.

89. Brief
Neun und achtzigster Brief
Rosalia an Mariane S**.

O, wie groß ist das stille Verdienst der vortreflichen Familienmutter! – lassen Sie mir doch Alles Ihnen schreiben, was von der Frau Itten in meiner Seele haften blieb. –

Sie konnten auf Clebergs Billet nicht. schweigen, sondern antworteten, es würde beyde Eltern freuen, den Herrn Residenten bey sich zu sehen. Mein Mann ging gleich hin, fand Beyde in einem geräumigen, äusserst reinlichen, aber nach alter Art ausgetäfelten Zimmer, den Tisch in der Mitte, auf welchem ein großer Teppich lag; die Stühle und Spiegelrahme von schwarz gebeitztem [396] Holz; ein Ruhbett mit vielen Polstern von Wollgenähter Arbeit. – Der Mann schien ihm sehr verlegen und die Frau gerührt und aufmerksam zu seyn. Beyde dankten ihm, für die gütige Gesinnung die er für ihren Sohn bewiese und die Frau wünschte zu wissen wie er auf einen ganz unbekannten jungen Menschen gekommen sey? ––

Cleberg sagte, er hätte sich an dem Tage, wo ihm mein Oheim seine Stelle verschafte, vorgenommen, auch einen jungen Mann, von rechtschafenen Eltern, in sein Haus zu nehmen, wie mein Oheim ihn nahm, und ihn auch nach seinen Kräften zu unterstützen, so wie ihm wiederfahren sey; – mit der einzigen Bedingung, daß der junge Mann einst wieder so denken möge. Er hätte sich daher, nachdem er völlig in seinem Dienst und Hause eingerichtet gewesen, nach jemand umsehen wollen. Die gute Bildung und vielversprechende Physiognomie ihrer Söhne, habe ihn auf einen von Beyden angezogen; die guten Zeugnisse ihrer Lehret hätten ihn bestärkt, und es würde ihn freuen, wenn sie den Vorschlag annähmen und er dadurch mit einer so schätzbaren Familie in ein Verhältniß käme. ––

[397] Sie waren Beyde in großer Bewegung, hatten Thränen in den Augen, sprachen einige Minuten nichts. – Endlich stand Herr Itten auf, faßte die Hand meines Manns: »Ist es Ihnen Ernst? –– ganz Ernst?« – »Werther Herr Rath, wie schlecht wäre mein Charakter, wenn ich mit zwey verehrungswerthen Eltern ein Spiel treiben wollte!«

Nun sagte die Frau: »Geh, Lieber, und ruf unsere Söhne.« – Als er weg war fing sie an; »Herr Resident! Ihr Vorschlag hat mich in das größte Staunen gesetzt. Aber, der Beweggrund, den Sie angeben, hat mir alles Vertrauen eingeflößt. Es sind vier und zwanzig Jahr, daß ich hier bin; und ich kann sagen, daß es eben so lang ist, daß ich von der ganzen Welt abgesondert lebe und nur mit meinem Mann und Kindern war. Es ist mir süß, sagte sie mit einigen Thränen, daß die Versorgung eines meiner guten Kinder, mich wieder hervorruft. – Sie werden meinen Segen haben, und an meinem Sohn einen Jüngling voll Fähigkeiten, Güte und Tugend finden. – Nähren Sie! ach, nähren Sie die Tugenden, die Sie in ihm [398] finden werden. Lassen Sie ja nicht zu, daß die einzige Belohnung, die ich für mütterliche Mühe, Kummer und Arbeit hatte, daß mir diese verlohren gehe!« ––

Sie war da aufgestanden, gegen meinen Mann mit flehendem Gesicht und Händen hingetreten und hatte ihn angeblickt, daß er, ganz erweicht und bewegt, ihre beyden Hände ergriff, und ihr vor Gott angelobte, getreu für die Sitten und Gesinnungen ihres Sohns zu sorgen. Wenn sie aber einmal befürchten sollte, daß Gefahr für seine moralische Güte da wäre, so wollte er dulden daß sie ihn wieder nähme.

»Ach, wiedernehmen! dieses hälfe nichts mehr. Denn wenn er einmal bey Ihnen ist, so wird seines Vaters Haus nicht mehr für ihn seyn, was er bis jetzo war.« ––

»O, glauben Sie gewiß, daß Verehrung und Liebe für seine Eltern, die Gefühle seyn werden, die ich um eifrigsten in ihm unterhalten will.« ––

»Das glaub ich wohl. – Aber es ist so viel Reitz in dem Glänzenden, das Sie umgiebt, daß die Sinne des jungen Menschen hingerissen werden, –– Wie sollte es ihm [399] dann wieder hier, und mit uns gefallen.« – sie wies da in dem Zimmer umher.

»Aber, theure Frau Räthin, es wäre ja so nicht möglich, daß Ihre Söhne immer bey Ihnen blieben.« ––

»Das weiß ich, und deswegen willigten wir gleich in Ihren Antrag; – auch vergeben Sie, besonders ich deswegen, weil Sie so nah bey uns wohnen. Nicht aus übertriebner Mutterliebe für mein Söhnchen, sondern allein in Hofnung, den Gang seiner Gesinnung genauer bemerken zu können.« –

»Zu dieser Absicht, theure Frau Räthin, wird Ihnen die Bekanntschaft mit meiner Frau am meisten dienen. Sie ist nur vier und zwanzig Jahr alt, aber ihre Seele ist voll Edelmüthigkeit und Tugend, ob sie schon in einem großen' gesellschaftlichen Zirkel lebte.« ––

»O! ich bin überzeugt, daß dieser große Zirkel viele, viele vortrefliche Menschen hat. Aber die Umstände müssen günstig seyn. Dies konnt ich meinen Kindern nicht versichern, deswegen hielt ich sie zu Hause, und wollt es so lange thun, bis die Denkungsart, die ich in ihnen wünschte, so stark, und so zur[400] Gewohnheit geworden wäre, daß sie sich niemals ganz verlieren könnte.« ––

»Ich verehre Sie wegen alles dieses, werthe Frau Räthin. Glauben Sie nur, daß meine Rosalia und ich nichts untergraben werden, was Sie aufbauten!«

Nun kam der Vater mit beyden Söhnen in das Zimmer. Die jungen Leute hatten sich etwas gut angekleidet, machten furchtsam, aber mit Anstand, ihre Verbeugung und blickten ihre Mutter an. – Sie hatte sich völlig gefaßt, ging gegen sie, nahm sie bey der Hand und sagte meinem Manne: »Hier sind meine zwey guten Söhne, von denen Sie einen zu haben wünschen. Beyde haben Ihr Billet gelesen. Der Aeltere war brüderlich genug, dem Jüngern zu sagen, daß, wenn es ihn kränken sollte, diesen angenehmen Platz nicht zu haben, so möchte er es ihm vertrauen; es würde ihm lieb seyn, ihm durch den Vorzug, den er ihm geben wollte, eine Probe seiner Liebe abzustatten. Der Jüngere dankte, und erklärte da, daß er gerne Theologie studiren möchte, und also von seinem Weg abkäme. Doch, weil der Antrag so edelmüthig gemacht wäre, und es ein Vortheil [401] für ihre guten Eltern, vielleicht auch für ihre übrigen Geschwister seyn würde: so wär es billig, daß der Herr Resident wählen sollte. Träfe das Loos ihn, so wollte er dann seinen Wunsch nach dem theologischen Studium aufgeben, um so mehr, da er nun wisse, daß sein Bruder es ihm gern gönnen würde.« ––

»Nun wählen Sie;« sagte der Vater.

Stellen Sie sich, theure Mariane, einen Augenblick die Gruppe vor; – Vater, Mutter, zwey Söhne, mein Mann, der wählen sollte; – die Andern auf seine Augen, auf. ihn sehend! – Er ging gegen die jungen Leute, und reichte jedem eine Hand. »Da Sie, edle Jünglinge, Beyde ein gleiches Vertrauen in mein Herz haben, wie ich zu Ihnen: so will ich so wählen, daß Sie Beyde zufrieden seyn werden. Sie, zu den Aeltern, vertrauen sich und Ihr Schicksal mir; und Sie, zum Jüngern, sind mein Freund, – und erlauben, daß ich eine Stelle im fürstlichen Stipendio für Sie nachsuchen darf, wo Sie Ihr Studium verfolgen können.« ––

Da wollten die junge Leute Clebergs Hände küssen; aber er umarmete Beyde von Herzen [402] und freute sich, daß er junger Mann von acht und zwanzig Jahren, der Gegenstand des Danks und der Hochachtung dieser schäzbaren Eltern und Söhne war. – Die Mutter ergrif die Hände ihrer Kinder hielt sie an ihre Brust: »Dank, meine Kinder! innigen Dank und Segen, für die Freude, die euer Wohlverhalten mir giebt! –– Nun bin ich belohnt! – ich seh den Anfang eures Glücks, auf euren Fleiß und Tugend gegründet. – Freut euch auch, eure Mutter glücklich gemacht zu haben!« ––

Die guten Söhne konnten nun nichts mehr sagen, sondern küßten den Eltern die Hände. Mein Mann sprach dann von dem Gehalt und den Beschäftigungen, die er ihm geben wolle, und daß er doch die mathematische Stunden fort halten sollte. – Von Frau Itten bat er sich die Erlaubniß aus, daß ich zu ihr kommen dürfe. Sie sagte aber, daß sie den andern Tag mit ihrem Mann und Söhnen zu uns kommen würde. – Nachdem kam mein Cleberg herrlich, wie von einer Eroberung, zurück, umarmte mich mit Entzücken. »Salie, liebe Salie! Du sollt meinen Dank annehmen, den ich gern diesen Augenblick [403] Deinem Oheim sagen möchte. – Er, der gute, rechtschaffene Mann, hat durch sein Beyspiel mich fähig gemacht, zu thun, was ich an den Ittens thun will und er hat mir den seligen Morgen bereitet.« – –

Da erzählt er mir, was ich Ihnen schrieb; und ich fahre fort, auch das aufzusetzen, was mir die liebe Frau von ihrem Leben und Grundsätzen sagte. – Wir liessen sie auf ein Frühstück bitten, weil Nachmittags immer viel Leute zu uns kommen, und wir diese Frau allein geniessen wollten. – Ich nahm sie aber nicht in meinem großen Besuchzimmer an, sondern in dem ganz weiß getäfelten, so an unserm Eßzimmer ist, wo wir den Caffee geben; weil es, im neuen Geschmack eben so simpel ist, als Frau Itten Zimmer nach dem alten; denn die Stühle haben auch nur hölzerne Lehnen, die Kissen von Zitz und alles Holzwerk weiß in Oelfarbe gemahlt. – Ich und mein Mann kleideten uns auch äusserst simpel an, um diese schätzbare Frau durch keinen Schein von Pracht zu verletzen. –– Die erste halbe Stunde ging mit dem Frühstück und allgemeinen Gesprächen vorüber, wobey ich immer alles unterbrach, was Danksagung [404] gewesen seyn würde. Cleberg nahm dann den Vater und die Söhne in seine Bibliothek, und als ich bey der Frau allein war, sagte ich ihr, daß der junge Herr Itten von mir alle Freundschaft und Sorge einer Schwester geniessen sollte; daß ich sie aber bäte, mir auch die Bekanntschaft und Umgang ihrer Töchter zu schenken. ––

»Ach, Frau Residentin, ich werde wohl den Bitten meiner Kinder nachgeben müssen. Es sind die ersten, die sie mit so viel Eifer an mich thun. – Aber ich sehe daraus, wie viel Gewalt sie sich bisher angethan haben, keine Freude ausser meinem Hause zu suchen. Ich danke nur Gott, daß, da der Strom der Welt in meine Familie dringen sollte, er nur eine Schleuse aushob, und nicht die Dämme niederriß, welches durch Verführung meiner Söhne geschehen wäre.« –

»Ich bin auch froh, daß ihr Haus nur der edlen und redlichen Hand meines Clebergs geöffnet wurde. Denn so wie ich Sie jetzt kenne, würde ich jedem Andern den Zutritt beneidet haben. Laffen Sie es sich nicht leid seyn, theure Frau Räthin, daß Sie dem Ruf des Schicksals nachgaben. Ihre [405] guten Kinder sind ja doch für die gesellschaftliche Welt geboren und so erzogen, daß sie Gutes darin thun können. Eine Frau schließt sich leicht ein, und lebt nur für ihr Haus, weil sie am End ihrer Bestimmung ist. Aber junge Personen, die noch keinen gewissen Platz haben, die müssen gekannt seyn daß man sie suchen kann.« ––

»Das weiß ich nicht; sagte sie. Ich kenne freylich von dem hiesigen Frauenzimmer nur die, welche in unsere Pfarre gehören; aber ich habe seit vier und zwanzig Jahren viel artige und schöne Töchter aufblühen sehen, die dem Auge durch ihre Gestalt und abgeänderten Modeputz und Kleidung besser gefallen mußten, als meine Töchter, die ganz gewöhnliche Figuren, und gar, gar keine abwechselnde Verzierung ihrer Person haben. –– Ich seh auch viele junge Mannsleute so kostbar und reich in ihrem Anzuge, daß sie gewiß Vermögen haben, eine Frau zu unterhalten. Und die bekannten Frauenzimmer, mit denen sie sprechen und sie begleiten, welken dennoch, mit all ihren Reitzen, Putz und Talenten, an der Seite ihrer Mütter dahin, wie es meinen [406] Töchtern, in der Einsamkeit meines Hauses und ihrem einförmigen Aufzuge geschehen wird; – und ich bekenne Ihnen, daß ich meine Töchter dahin gebracht habe, daß sie lieber als ungesehene Blumen einer Einöde, die allein der Sonne und dem Himmel blühten, absterben wollen, als, von vielen gesehen und von keinem gewünscht, eine Zeitlang glänzen, endlich als eine schon lange gewöhnte Sache, an der nichts Neues mehr zu bemerken ist, ausser aller Achtung gelassen werden.« ––


»Ich kann Ihnen, in alle diesem nicht Unrecht geben. Die zu eifrige Nachahmung der französischen Erfindungen, der Pracht und kostbaren Zeitvertreibe, sind allem Ansehn nach Ursache, daß die Heyrathen seltner werden; weil man immer fürchtet, sein Auskommen reiche nicht zu, mit Frau und Kindern standsmäßig zu leben.« ––


»Das ist auch wahr. Denn wenn ich nach dem Titel meines Mannes und der jetzigen Mode, wie man es heißt standsmäßig hätte leben, mich und Kinder kleiden, das Hausgeräth schaffen sollen: so hätt ich kaum für [407] zwey Kinder das Nöthige gehabt, und die andre fünfe hätten darben müssen.« ––

»Sind denn die Einkünfte des Herrn Rath so gering?« ––

»Wissen Sie denn nicht, daß er eigentlich nichts als zweyter Registrator ist, und nur der kleine Stolz seiner Frau Mutter ihm den Rathstittel kaufte? Ich war auch stolz und klug genug, als Frau Räthin mich keiner Geringschätzung bloßzugeben, und ganz geduldig als Frau Registratorin kärglich zu leben.«

»Sie sind nicht von hier, meine Frau Räthin, das weiß ich. Haben Sie auch keine nahe Verwandte in der Stadt?«

»Ich bin fremd. Mein Mann hat Verwandte, aber keine Freunde, sonst hätten wir auch nicht so eingeschlossen gelebt.« ––

»Keine Geschwister sind es doch nicht, diese unfreundliche Verwandte?«

»Nein, nur ein Oheim mütterlicher Seite, der großes Vermögen, aber eigne Kinder hat und meinen Mann, der stillen, ruhigen Ganges lebt, nicht achtet und ihm blos zu dieser Stelle half. Wenn mein Vater länger gelebt hätte, so wär er besser besorgt [408] worden. Aber er starb, als ich noch Braut war, hinterließ auch sieben Kinder, wovon mein ältester Bruder, seine Oberamtmannsstelle mit der Bedingung bekam, meine Mutter und die übrige Kinder zu unterstützen. Er hat es getreu gethan, – und Gott lohnt es ihm; denn er steht gut, und hat rechtschaffne Kinder. Zwey meiner Brüder und eine Schwester sind in Amerika recht glücklich; einer, der als Pfarrer mit deutschen Emigranten hinzog, und meine ältere Schwester zu Führung seines Hauswesens, und den Bruder als Baumeister mitnahm. Eine Schwester ist Hofmeisterin in einem adelichen Hause, und die vierte wartete unsrer guten Mutter bis ans Ende mit kindlicher Liebe; wo sie dann mit dem Amtsschreiber unsers Bruders verheyrathet wurde, und bey fünf Stiefkindern eine eben so gute, zärtliche Mutter ist, als ich bey meinen eigenen. – Meines Mannes Vater, und der meinige, waren Universitäts Freunde gewesen, und das stille Gemüth meines Itten brachte seinen Vater auf den Einfall, er würde sich am besten auf das Land schicken, zumal da er Blumen und allerhand kleine Handarbeiten,[409] Feldmessen, Zeichnen, u.s.w. allen andern Zeitvertreiben vorzog. Er schickte ihn mit neunzehn Jahren zu meinem Vater in die Kost und Lehre. Unser Graf hatte da sein Schloß bis auf die Schreynereysachen aufgebaut. Der schöne Itten war immer beym schnitzeln und hobeln, machte, was ihm mein Vater zu thun gab, gut; besonders hielt er die Registratur in der größten Ordnung, er schrieb eine schöne Hand und war in seinem Betragen sanft, voll Güte, Gefälligkeit und Ruhe. Zwey Jahr achtete er auf nichts als Schreiner- und Tüncherarbeit im neuen Schlosse, worüber ihm auch mein Vater die Aufsicht gegeben hatte. Viehzucht, Acker- und Wiesenbau gefiel ihm auch; aber Amthalten und Berichte machen, das gefiel ihm nicht. Philosophische und moralische Schriften waren seine Freude und im Winter laß er uns Mädchen bey unsrer Arbeit halbe Tage vor. Endlich faßte er eine heftige Liebe für mich. Mein Vater wollt ihn durch mich zu weiterm Studiren bringen; aber er redte mir so viel gegen die Rechtsgelehrtheit, und von dem Vermögen seines Vaters; und daß wir nur von der Landwirthschaft leben wollten, [410] und so, daß ich ihn nicht weiter plagte. Sein Vater starb vor dem meinigen, da er in Eile heim mußte, um ihn noch zu sehen. Seine Mutter zog in die Stadt, wo sie immer gern war, in das Haus, wo ich noch wohne, und suchte da durch ihren Bruder, ihrem einzigen Sohn in der Stadt ein Amt zu erhalten. Es ging ein Jahr hin, eh es geschah und sein Oheim hielt ihn zu nichts tauglich, als zum Registrator, welches seiner Frau Mutter zu wenig dünkte. Sie kaufte ihm den Titel eines Raths, wollte ihn auch vornehm verheyrathen; aber er sagte ihr seine Liebe für mich, worüber sie sehr böse war, weil sie ihn in eine reichere und größere Verbindung zu bringen hoffte. Er grämte sich über ihren Widerspruch zum Krankwerden. Verlieren wollte sie ihn nicht, und gab endlich ihre Einwilligung; aber ich sollte nicht bey ihr essen und wohnen. Das verbarg mein Mann alle vor unserer Trauung, weil er befürchtete, ich würde sonst mein Wort zurücknehmen. – Aber auf unserer Hieherreise sagte er mirs mit Thränen und Bitten, mit seiner Mutter Geduld zu haben. Was sollt ich thun? – er hatte sich mehr geliebt, [411] als mich und litte dabey eben so viel, wohl mehr, weil er sich Vorwürfe machte, mich in die Gewalt einer bösen Frau gegeben zu haben. Denn seine Mutter ließ mich nur Einmal zu ihr kommen, und sagte mir da, auch mit Rauhigkeit, ich sey an dem ersten Ungehorsam Ursache, den ihr Sohn, ihr erwiesen hätte; und da sie, als Mutter, wisse, wie viel ich seinem Glücke geschadet habe, so dürfte ich mich nicht wundern, wenn sie mich nicht gern um sich leiden könne. Ich möchte also sehen, wie ich mit der halben Besoldung meines Mannes für meine Kost, Wäsche, Holz, Licht und Kleidung, auch für Gäste, sagte sie spottend, zurecht kommen könne. Denn da sie um meinetwillen nicht allein essen und der Gesellschaft ihres einzigen Sohns beraubt sein wolle, so müsse er mit ihr speisen und die halbe Besoldung zu einem Kostgelde fortgeben. Er habe sonst die andre Hälfte für sich allein gehabt; weil er sich aber gegen ihren Willen verheyrathet hätte, so möge er fühlen, was die Straffe Gottes für Ungehorsam sey, und sein Weibchen möge ihm büssen helfen. –– Ich sagte, es wäre mir leid, gegen ihren[412] Willen in ihr Haus gekommen zu seyn. Mein Mann wäre mir deswegen nicht weniger lieb. Sie möchte also doch ihm sein Leben nicht verbittern, ich wollte mir von seiner Mutter Alles gefallen lassen, aber es freue mich zu wissen, daß Itten von meinen Eltern niemals die geringste Härte zu erdulden gehabt habe. Da nannte sie mich ein naseweises Ding, ich solle ihr aus dem Gesicht gehen. Das that ich. Ihr Bruder nahm meinen Besuch gar nicht an, und ich wollte niemand sehen; machte also nur dem Pfarrer einen Besuch und ging nirgends hin, als in die Kirche und im Sommer, Abends im Mondschein, wenn meine Schwiegermutter schlief, mit meinem Mann spazieren, welches auch die einzige Gelegenheit war, in der ich die Stadt sah. Und so ist es auch meinen Töchtern gegangen. – Nach Hause schrieb ich nichts, als ich wäre zufrieden. Helfen konnten mir die Meinigen nicht; ich hätte sie also vergebens gekränkt. Es war mein Glück, daß ich Betten und Weißzeug von Hause hatte, sonst wäre mir übel gegangen; denn die Magd durfte mir nichts geben und ihre Tochter, die mir zugegeben wurde, mußte alle meine Schritte beobachten, [413] so gar aß das böse junge Ding mit mir. Ich hatte nur die Hälfte meiner Aussteuer fertig gemacht bekommen, und das Uebrige an Stücken. Da nähre und strickte ich, kaufte mir Flachs und Baumwolle, spann da fleißig, klagte nie, aß gering, immer entweder nur Suppe oder nur Gemüs, wenig Fleisch, – schrieb alles auf was ich brauchte und gab am Ende des ersten Quartals meinem Mann noch Geld zurück. Was er für mich litt, kann ich nicht genug beschreiben. Seine Mutter haßte so gar meine Kinder; und der Weberin, die zugleich ihre Magd war, erwies sie alle Freundschaft und Achtung. In den lezten fünf Wochen ihres Lebens, da ich sie bewachen und warten half, bereute sie es, bat mich um Vergebung, und schenkte mir die Kleider, die sie noch übrig hatte. Nach ihrem Tode fand sich das Vermögen sehr gering, so daß sie in der That, die halbe Besoldung meines Mannes nöthig gehabt hatte, weil sie gar gut lebte. Nun verkauften wir was an Silber und anderm entbehrlich war und kauften uns einen Acker und Wiese, weil uns die Landhaushaltung immer freute. Der große Garten meines [414] Hauses stößt an einen, der ganz nahe am Thor liegt; den kauften wir auch. Da konnten wir zwey Kühe halten, zogen durch Pacht unser Korn, in den Gärten Gemüs und Obst selbst, und aßen gering. – Ich hob alle meine artigen Kleider für meine Töchter auf und trug die, von meiner Frau Schwieger-Mutter. Mein Bruder schickte mir wohlfeilen und guten Flachs, davon schafte ich mit meinen Töchtern und der Magd, die das beste Geschöpf wurde, viel Weißzeug. Die Weberfamilie hatt ich beybehalten, und that ihr Gutes. Diese webten immer auf zwey Stühlen für mich. Ich bleichte in meinem Garten und verhandelte dann Leinwand und Baumwollenzeug gegen das, was ich für meinen Mann und Kinder brauchte, machte auch vieles zu Gelde für meine Kinder, und gab meinen Töchtern die Freude, das immer Jede was zu ihrer Ausstattung erhielt, und immer das Beste, so sie selbst gesponnen hatten. Seitdem alle viere mit mir und der Magd spinnen, hat es Vieles getragen. Meine Kinder waren mir Gesellschaft genug. Ich suchte ihnen ihr Leben zu versüssen, so viel ich konnte. Sie sind alle gute Landwirthe [415] und meine Mädchen wissen alle Weibsarbeiten von mir, wie meine Söhne Schreynerey, Tünchen, Zeichnen und etwas mahlen von ihrem guten Vater gelernt haben. – Alles, was sie in der Moral und Geschichte lernten, musten sie bey mir und ihren Schwestern wiederholen und ich hatte das Glück, Alle mit der Hoffnung einer herrlichen Zukunft, bis auf diesen Augenblick, zu führen. –– Ihre Seelen sind rein, wie sie am Tage ihrer Taufe waren. Ihr Verstand ist hell, weil niemals das geringste Vorurtheil, oder Märchen darein gelegt wurde. Sie sind gut, weil ihnen niemals übel begegnet war; gesund und schön, weil Ordnung und Einfalt in Leben und Nahrung beobachtet wurde. – Ach, bis hieher hat Gott geholfen. – Ich muß Ihre Freundschaft für einen Fingerzeig von ihm ansehen, mit welchem er meinen Kindern ihre Lebensbahn bezeichnen will; und ich will ihm in Ihnen und Ihrem Gemahl, vertrauen. – Nur eins bitte ich. Wenn Sie mich auch besuchen und meine Töchter sehen werden, auch diese manchmal wohl allein zu Ihnen kommen könnten: legen Sie durch Ihre Achtung, für mich und[416] durch Ihren Beyfall einen Werth auf meine Grundsätze; – und daß glänzende Freuden, die sie geben, meinen Kindern das Einfache nicht verächtlich machen.« –

O, Mariane! ich zerfloß in Thränen, und bat die edle, würdige Frau um die Erlaubniß, sie Mutter zu nennen.

90. Brief
Neunzigster Brief
Rosalia an Mariane S**.

Da komm ich vom Frühstück aus dem Ittenschen Hause, trunken von Bewunderung und noch nie gefühltem Vergnügen! – Ach Gott! was können die Menschen nicht, wenn sie sich mit vereinigten Kräften des Guten befleissen; und was für ein seliges Geschöpf bin ich durch die Bekanntschaft mit so vielen vortreflichen Leuten! Wenn man den Adel der Seele durch edle Freunde beweisen müßte, wie den der Geburt, durch edle Ahnen: so wär ich ja in der höchsten Klasse. [417] Vielleicht könnte man da mir auch sagen: viel Glück, und wenig Verdienste! –– aber wir wollen zu Frau Itten gehen. – Es ist ein altes steinernes Haus mit einem großen Thorweg, in den man durch eine kleine Thüre kommt. Unten sind lauter große Gewölbe, wovon sie eins zu einer sehr luftigen Heu- und Kornscheune gemacht, und das andre zu ihrem Holzvorrath gebrauchen. In der Ecke führt eine hohe steinerne Wendeltreppe in den Stock, der über den Gewölbern ist; dieser hält drey Zimmer auf die Strasse, wovon eins das ist, worinn Cleberg auch das Erstemal war, und was noch die Geräthe von Ittens Großvater hat. Das Andre ist seine Arbeitsstube, in der auch der Maulkorb am Fenster ist, wie mein muthwilliger Mann es nannte; und das Dritte, wo Herr Linke auch nichts als weiße Vorhänge sah ist die reiche Vorrathskammer von Leinwand, Baumwolle, Flachs, sammt vier gleichen Schränken apart gestellt, mit den Namen der vier Töchter beschrieben, worinn die Stücke Weißzeug liegen, die sie sich durch ihren Fleiß geschaft haben. Die von den zwey ältern Töchtern sind beynah ganz voll, zum Theil mit schön genähtem Tisch- und Bettzeug, [418] samt Hemden und Handtücher. Das ist alles so schön geordnet und Blumen, von Federn gemacht, künstlich dazwischen gesteckt, welches zusammen auf dem Himmelblauen Grunde, womit die Schränke inwendig bemahlt sind, einen recht angenehmen Anblick giebt. – Ich sah bey dem Vorrath der ältern Töchter zwey Stücke schön geblumtes Zeug liegen und sagte: da ist schöner Zitz! – Die Mutter lächelte. – »Hannchen! weise es der Frau Residenten.« – Sie that es; – was war es? – Feiner, im Hause selbst gesponnener und gebleichter Cattun, worinn mit der feinsten englischen Wolle so niedlich gestickt war, als man es mit Seide immer machen kann; und dies ist zu Betten und Stuhlküssen bestimmt. – Da sah ich erst auch die Kleidung der Töchter an, die alle aus dergleichen Zeuge von ihrer eignen Arbeit bestand. Hannchen hatte Ranken von Holzfarbe und blaue Windblumen dazwischen, welches zu ihrer schönen blonden Farbe und feinem Wuchs gar artig stand. Die Zweyte, Lenette, ein liebenswürdig munteres Mädchen, mit großen braunen Augen, hatte sich in gelber Schattirung, nach einem Geschmackvollen Riß, ihr [419] passendes Hauskleid genähet. Die Dritte hatte lauter Rosenknospen darinn verstreut; – und die Jüngste, von zwölf Jahren, eine Menge ganz kleine Blümchen von allen Farben hinein genäht. Ihr Bett, sagte sie, müsse auch voll kleiner Vergiß mein nicht genäht werden. – Ihre Hauben, Halstücher und Manschetten waren von lauter selbstgeklöppelten, leichten Spitzen; wie auch die von der Mutter, welcher die zwey Aeltesten Haube und Halstuch, die Jüngern aber, jede eine Manschette dazu verfertigt hatten. Ihre Kleidung war violet und weiß gestreifter, auch im Hause gearbeiteter Zeug. – Wir trunken dann Kaffee, mit köstlichen Milchrahm, und Brödtchen, so eine Tochter dazu gebacken hatte. Das Kaffeezeug, war weiß, ohne alle Malerey. – Der älteste Sohn, der uns zugehört, war sehr fleißig um mich herum, und wurde von Eltern und Geschwister so liebreich und mit so viel Achtung behandelt, daß es mich dünkte, sie sähen ihn als eine gute Prophezeihung für sich alle an. Es rührte mich sehr, und ich versprach in meiner Seele, alles für die guten Kinder zu thun. Ich sagte endlich: »Mama Itten, ich muß Ihr ganzes Haus und Garten [420] und Kühe und Weber sehen. Ihre neue Tochter Cleberg darf nicht fremd aus Ihrer Wohnung gehen!«

»Ihre Neugierde, soll vergnügt werden.« – Da gingen wir die halbe Wendelstiege hinunter in ein Seitengebäude, das auf einer Fensterreihe den Hof, und auf der andern, den Garten hat. Von der Treppe kommt man auf einen Gang, der das Licht von dem Speicher empfängt; und hier geht man links in die Küche und Speisekammer, die beyde höchst reinlich und schön weiß getüncht sind. Sie kochen in lauter irdenen Geschirr, und essen aus ganz altförmigen Zinn. – Dann ist ein großes Wohnzimmer, dessen Wände von Vater und Söhnen artig gemahlt sind. Die Stühle und Tische sind ganz glat, aber alle von Herr Itten selbst verfertigt, nußfarb angestrichen und lackirt. Auf einer Seite standen fünf Spinnräder und kleine Stühlgen dabey. Ueber jedem Platz war ein Haken in der Wand, woran die Stränge Garn hingen, die jedes diese Woche schon gesponnen hatte. Dieser Anblick bewegte mich innig. – Gewiß ist Fleiß eine Tugend! ich fühlte es da in der Ehrfurcht die mich in diesem Zimmer [421] durchdrang. – Hannchen sagte zu unserm Itten, indem sie traurig lächelnd auf einen Stuhl wieß. – Ernst! nun liesest du uns nichts mehr vor! – Dann gingen wir in das Schlafzimmer der Eltern. Da ist ein altes großes Bett, von schöner Schreinerarbeit, mit uralten, aber starken und reinlichen grün und weißen Vorhängen, mit Franzen von nehmlicher Wolle und Garn geziert; ein Großvaterstuhl und ein Paar andre, von grünen Tuch, auch mit Franzen. Zwey Schränke sind auch da, wo in einem Herr Itten, in dem zweyten seine Frau ihr Weißzeug und Kleider haben. In einem Pfeiler des Hauses, neben dem Bett, ist ein kleiner Schrank, worinn die Hausarzeneyen, und immer eine kleine Flasche Spanischen Weins, guter Eßig, Mellissengeist, vorräthig ist, nebst ein Paar Töpfen mit Salben gegen Wunden und Brand. Das geschriebne Arzeney- und Kochbuch ist auch dabey. Die vordern Fächer kann man aber ausheben und hinter denselben Geld und Kostbarkeiten verwahren. – Diese Ueberbleibsel von der einförmigen häuslichen Klugheit unserer Vorväter waren mir ehrwürdig und schätzbar. – Denn ist noch ein Zimmer abgetheilt, [422] wo in einem Theile der jüngste Sohn von eilf Jahren schläft, zu dem die Mutter gleich kommen kann, wenn ihm was fehlte; und in der zweyten Hälfte ist das Weißzeug, so zum täglichen Haußgebrauch gehört, und Näharbeit. Hier gingen wir über den Gang in ein unbewohntes, aber sehr freundliches Zimmer, mit zwey Betten; die Vorhänge des einen und die Wände grün, ein großes Fenster gegen Morgen in den Garten hinaus; das andre Bett nur ein schmales Ruhbettgen, ein gemächlicher Lehnstuhl, ein auch schmales, langes Hängtischgen an der Wand und das einzige Gemälde, so ich noch im Hause angetroffen, stellt die Auferstehung Christi vor, und ist von einem sehr guten Meister, wie Cleberg sagt. Zwey nach der alten Art als Herzen formirte Blumenkrüge, von blau und weißen Porcelan, mit etlichen Oeffnungen, und ein kleiner Schrank, der unten im Tisch angebracht war, vermehrte mein aufmerksames Umhersehen. – Frau Itten sagte dann »Dies ist unsere Krankenstube, damit die gewöhnlichen Schlafzimmer gesund bleiben, und der Kranke gemächlich seyn kann. Gegen Morgen ist es am freundlichsten, denn[423] Kranke verlangen nach durchlittenen Nächten, so sehr nach dem Tage, und da können gleich die ersten Strahlen der Morgenröthe einbrechen und sie trösten. Die grüne Farbe ist für schwache Augen am besten; – und dieser Gedanke,« da wies sie mit Andacht auf das Gemälde, »ist die größte Stärkung in Schmerzen und im Tode. – Die aufwartende Person schläft hier, und kann auf das Bett sehen. Kleine Besorgnisse sind auch da,« sie machte den Schrank auf; »da ist Alles, was man nöthig hat.« –– Der zweyte Sohn hob den Hängtisch ab und paßte ihn, quer über das Krankenbett, in einen Ring, stellte dann auf den Boden den Fuß fest: »Das ist gut, ;139;sagt er, wenn man diesen Tisch noch braucht; denn da kann der arme Kranke selbst essen und trinken.« – »Aber er drückt ihn nicht, sagte die jüngste Tochter, denn sehen Sie! wenn ich auch die Decke so hoch hebe, als ein dicker Kranker seyn kann, so ist doch noch Platz.« ––

Es freute mich, daß Cleberg gleich auf der Stelle sagte; »Salie! wir wollen auch ein solches Zimmer haben, denn es ist in Menschenwohnungen eben so nöthig, als eine Küche.«

[424] Dann folgte ein großes Zimmer, weiße Wände mit zerstreuten Blumen bemahlt, worin vier Betten stehen, und die Töchter alle schlafen. Die Vorhänge sind grobes blau und weißes Leinen, aber die Decken ganz weiß, von eigen gemachten Kattun. Frau Itten sagte hier: ––

»Meine Töchter sagten: Wir spannen, bleichten und nähten sie, wir wollen sie auch immer selbst waschen. Und weil Reinlichkeit allein der Grund zu dieser Bitte war, so erlaubte ich es ihnen gern. Die Wände haben ihre Brüder so frühlingsmäßig gemahlt.« –

Zwischen zwey Betten steht auf jeder Seite ein Schrank, worinn immer zwey Schwestern ihre Kleider und Weißzeug haben. Oben an den zwey Fenstern hin läuft ein langer, schmaler Tisch und an dem Pfeiler ist ein Spiegel, der einzige für vier schöne Mädchen. Unter dem Spiegel, eine alte große Stockuhr die sehr herzhaft die Stunden des Erwachens schlägt; und auf dem langen Tische, gegen die Seite, wo zwey Töchter schlafen, dieser Beyden Nähküssen und Strickkästchen. –– Unter dem blau und weißen Vorhange, der am Tisch hinläuft, sind auf einem Gefache, [425] vier zinnerne Waschbecken, Seifenbüchsen, Waschtücher, Kammfutterale und Puderschachteln; ganz unten, ein Gefach für ihre Schuh. Vor den Fenstern sind Blumenstöcke, die die lieben Mädchen selbst besorgen. –– Dann kommt ein ganz großes Zimmer in welchem Schreiner-Handwerkszeug, Tünchergeräthe, und eine Drechselbank ist, – welches noch von den ledigen Jahren des Herrn Rath abstammt, aber wo er auch mit seinen Söhnen arbeitet. – Ich bat mir einen kleinen Nähtisch von Papa Ittens Arbeit aus. – Ernst wollte es allein machen. – Nein, sagte ich, er solle nur die Füsse drechseln, Papa die Platte machen und Heinrich solle es lakiren. Das war allen Recht. – Cleberg sagte zu Ernst Itten: »Sie sollen nicht umsonst in meinem Hause sein, sondern mir drechseln lehren und die Zimmer in unserm Gartenhause meiner Salie, wollen wir, mit Herrn Ernst, selbst recht schön mahlen.« – –

Nun kam das Schlaf- und Arbeitszimmer der beyden großen Söhne. Die haben auch alles abgetheilt, jeder ein Fenster in Besitz, und eigenen Schreibtisch, Büchergestell, – Schrank und Betten so ordentlich, so rein und [426] alles alles so äusserst einfach. –– Lieber »Ernst, sagte Heinrich, bald hörst Du mich nicht mehr schnarchen;« –– »und Du mich nicht mehr im Schlafe reden.« –– »Ach, wie gern hörte ich Dich!« antwortete Heinrich ––

Die Mutter nahm diesen bey der Hand: – »Wilst Du nicht den guten Reinhold, au Ernsts Platz, in Deine Stube nehmen?« – Der Junge hüpfte an Heinrich hinauf. –– »Nimm mich doch, lieber Bruder; – sieh! ich werde auch groß.« Da stellte er sich ganz gerade vor ihn. ––

»Ja, mein Reine, Du alleine sollst mich Ernsten vergessen machen.« –– und küßte ihn da. – »Ernst! rief der Kleine, da krieg ich Deinen Schreibtisch und deinen Stuhl und Bett auch. – Dann will ich Heinrichen sagen: Da saß Ernst, der gute Bruder, als er mir schreiben lehrte; – in jenem Winkel stand ich, wie er mir von Pappendekel Vierecke und Achtecke und Dreyecke machte, und ich ganz geschwind einen runden Ring mit dem Rötel mußte zeichnen lernen.« »Lieber Schwätzer, sagte Ernst, – ich kann Dir den Schreibtisch und Stuhl nicht lassen; [427] der Papa hat beyde selbst gemacht. Du hast einen von ihm, und wirst alle Tage noch viel von seiner Arbeit sehen; ich nehme den mit.« ––

»Du hast Recht, Ernst! Du must es mitnehmen und den Papa immer ehren, auf daß dirs wohlgehe und Du lange lebest auf Erden.« –– O, Mariane! wie herrlich ist das gewesen.

»Aber,« sagte die kleine Mariane, »da solltest Du wohl auch Dein Bett nehmen, woran die Mama und die Schwestern arbeiteten; – sonst vergießest Du diese.« ––

»Ach, gewiß nicht! – sie werden in meinem Herzen bleiben, wo ich auch immer seyn werde.« ––

Wie viel Wahrheit und Treue ist in dieser Familie! ––

Jetzt ging es die Stiege zur Seite hinab, wo wir in das Stübchen kamen, in dem Frau Itten, bey dem Leben ihrer Schwiegermutter wohnte. Es war noch getäfelt, runde Scheiben in den Fenstern. Aufziehläden und der Ofen von Töpferarbeit, mit schwarzer Glasur. An der Decke liefen die Balken ganz frey über, waren aber geweißt. – Ein klein [428] Kämmerchen stieß daran, und eine Küche, die nun Waschküche ist; wie das Stübchen Obstdarre und Bügelplatz, das Kämmerchen aber Milchstübchen ist. Durch diese Waschküche geht ein Gang in des Webers Haus, wo es sehr ordentlich aussieht, und der Weber ein sehr geschickter Mensch, wie seine Zwillings-Schwester ein recht gutes vernünftiges Mädchen ihres Standes ist. Die Ittensche Magd schläft auch in diesem Nebenhause, das nichts als eine Thüre in die Nebenstrasse hat, die vergitterte Fenster aber gehn alle in den Ittenschen Garten – Sie webten Beyde, als wir in die Stube kamen; er, schöne glatte Leinwand – sie, würklich recht artig gestreifte Handtücher. – Wir gingen durch den Hof in den Garten. Die Kühe sind sehr schön und der Stall so reinlich wie meine Zimmer. Einige Hühner liefen im Hofe, die einen vergitterten Stall haben, der in einer Ecke bey dem Kühstand angebracht ist, wodurch sie im Winter Wärme haben. Im großen Gemüsgarten ist alles in Betten eingetheilt für Mutter, Töchter und Magd. Da ist alles so zierlich gepflanzt in gerade, quere, lange oder schief laufende Streifen, viereckigte Betten, [429] oder für jede Gattung, die sie pflanzten, ein langes schmales; denn sie wechseln immer mit den Arten in ihren Stücken, um jeden angewiesenen Theil von Salz, Oel und Saft, der im nehmlichen Erdreich jeder Pflanze bestimmt ist, mit Klugheit zu nutzen. Das Obst, so auf den Zwergbäumen an der Mauer dieser abge theilten Stücke wächst, steht in der Willkühr derjenigen, die den Gemüstheil anbaut; das kann sie roh essen, dürren, kochen, wie sie will, auch verkaufen; so auch die Blumenstöcke, welche am Fuße jedes Theils auf einem kleinen Geländer stehen. – Die übrigen Zwerch- und hochstämmigen Bäume sind unter den Befehlen und der Arbeit des Vaters und der Söhne. Durch den gekauften Garten haben sie so viel Nußbäume erhalten, daß sie Salat- und Brennöl davon bekommen, mehr als sie und ihr Weber brauchen. – Denn dieser bekommt von Allem, was ihnen wächst, so viel, daß er nichts zu kaufen braucht; und immer den halben Lohn der Arbeit dabey, wie auch eine gewiße Zahl starkes Garn für ihr Weißzeug. Dagegen verkauft auch die Weberinn das übrige Obst, Gemüs, Milch u.s.w. Doch diesen gekauften [430] Garten geht auch ein Fahrweg gerad an das Thor, wo sie dann all ihr Holz, Heu und Korn, ohne Geräusch und Aufsehen, in die Stadt bringen und an recht frühem Morgen zu ihrem Pachtbauer spazieren gehen, zu dem sie alle Jahr zweymal ihr Essen hin schicken, und da mit dem ehrlichen Ackermann, seiner Frau und Kindern, Knecht und Magd, einen großen Kalbsbraten, eine Milchsuppe und guten Kuchen essen. – Herr Itten hat wohl mit seinen Söhnen einige Tage da gewohnt, mit dem Bauer gearbeitet, und sich wie dieser, von Haberbrey und Erdäpfeln genährt. Der äussere Garten hat Klee, Erdäpfel, und Rübenpflanzen, alles zum Besten der Kühe. Wie ordentlich diese Gärten sind, wie schön Alles steht! – Ach, ich lebe schon im vierten Jahr hier, und wußte kein Wort von dieser Familie! – Der Bleichplatz ist im Hof über weißen Steinen – Frau Itten hatte gelesen, daß so alles viel geschwinder bleiche, weil die Sonnenstrahlen auf den weißen Steinen stärker wiederprallen; und sie fand die Probe wahr. ––

Mein so galanter Eleberg, der so viel auf verfeinerten Geschmack hält, konnte sich nicht [431] enthalten, die Kinder glücklich zu schätzen, daß sie von diesen Eltern erzogen worden. – Er sagte zugleich: »Ich will auch Ihr Sohn seyn, ehrwürdige Frau Itten! – wie viel Ehre machen Sie Gott und der Menschheit.«

»Und ich will von Ihnen lernen, eine gute Hauswirthin und treue Mutter zu seyn,« – sagte ich, mit rührender Stimme und wollte ihre Hand küssen; – aber sie litt es nicht sondern küßte mich, und weinte dabey, aber aus zärtlicher Empfindung.

»Sie sind die erste fremde Person, die ich in meine Arme schliesse; denn ich habe, ausser meinen Geschwistern, Mann, und Kindern, noch Niemand geküßt. Und wenn ich für Sie, wie Sie sagen, ein anziehendes Beyspiel häuslicher und mütterlicher Pflichten bin, so sind Sie mir das einzige Model einer gesellschaftlichen Freundinn für meine Töchter, deren Unschuld und Reinigkeit der Sitten ich ohne Sorgen und Gefahr in Ihrer Bekanntschaft sehe.« ––

Ich küßte die guten Mädchen nach der Reihe, als meine liebe Schwestern. Wie herzlich war der Druck ihrer Hände dagegen, und wie sanft der Kuß, den sie mir gaben! – [432] Cleberg sagt, es sey eine wahrhaft jungfräuliche Bewegung ihrer Lippen gewesen, und meine, die eines edlen, zärtlichen Weibs, so die Liebe kennt. – Ich war etwas bös auf ihn darüber; – hatt ich nicht Recht? – – denn das ist so Etwas von der Seite die ich nicht ganz an Clebergen liebe. – Aber er erinnerte sich so edel der Wollinge und van Guden bey den Ittens, daß ich über dies hinsah. Als wir fortgingen, drang sich Herr Itten zu mir und bot mir den Arm; ich nahm ihn, nachdem ich seine Frau umarmt hatte. –

»Gott segne Sie und Ihren Gemahl tausendmal, daß sie meine Frau und Kinder so gütig behandeln. – Beyde dauerten mich schon lange, aber ich wollte meine Frau, durch vollkommne Freyheit in all ihren Handlungen, für erlittene Plage und ihre übende Tugend belohnen. – Aber es wird ihr doch gut thun, mit einer so sehr lieben fremden Frau in Freundschaft zu stehen. – Und meine Töchter, ach, für die klopft mein Herz vor Freude! – Es sind gute, gute Kinder; meinen Ernst werden Sie auch so finden.« –

Wie glücklich war unser übriger Tag, und ich, da ich Ihnen noch schreibe! denn Ernst Itten [433] ist mit meinem Mann, Herrn Otte und Linke spazieren gegangen, und kommenden Montag schläft er in meinem Hause. – Linke aß bey uns zu Mittage und wurde entzückt über Alles, was Cleberg erzählte. Er will nun die Freundschaft des Bruders gewinnen, und ist völlig entschlossen, eine Ittensche Tochter zu heyrathen. Sie darf aber noch lange nicht wissen, daß sie einen Freyer hat, bis er auch sicher ist, daß er ihr gefällt. –– Hannchen Itten soll künftigen Sommer mit mir auf dem Lande wohnen. Linke soll einen Schäfer spielen, sagt Cleberg. –– Adieu, Sie Liebe, auch Einzige. ––

[434]
91. Brief
Ein und neunzigster Brief
Rosalia an Mariane.

Hier ist noch ein Brief voll Ittens, so wie einst einige voll Henrietten von Essen, Madame S**, Julie, Otte, und noch mehr der van Guden und der Wollinge voll waren. Aber was soll ich Ihnen schreiben, wenn es nicht von den Gefühlen meiner Seele ist? denn alle Gegenstände des Nachdenkens, Durchforschens und Wissens sind Ihnen schon bekannt oder liegen so reichhaltig in Ihren Büchern, daß vielleicht selbst ein männlicher Geist Ihnen nichts Neues darüber sagen könnte. – Sie versicherten mich an einem der glücklichen Tage, die ich den letzten Herbst mit Ihnen verlebte, daß die Art, wie ich Menschen und Sachen betrachtete und beschriebe, so eigen sey und Ihnen so sehr gefalle, daß ich immer fortfahren sollte, Ihnen von der Menschen- und Gotteswelt, die in meinen Gesichts-Kreis käme, Original-Gemälde von meiner Hand zu schicken. – Das hab ich immer mit [435] vielem Vergnügen gethan. Denn, gute, angenehme Eindrücke noch einmal zu fühlen, und zugleich meiner Mariane St** einen kleinen Zeitvertreib damit zu machen; etwas für die beste, edelste Freundinn zu thun, und zu seyn: ach wie viel reines, grosses Glück geniesse ich darinn! –– Lassen Sie es mir, so lang es seyn kan; es wird wohl eine Zeit kommen, da meine Briefe nicht mehr so groß werden können, als ich sie machen wollte. ––

Gestern hatte ich große Gesellschaft. Frau G** und Julie waren auch dabey, und früher als die Andern gekommen. Da erzählte ich ihnen etwas von dem, was ich bey Frau Itten gesehen, und las ihnen die Abschrift meiner Briefe an Sie.

»Alles das ist herrlich und schätzbar, sagte Frau G**; aber Weibchen! das sollst Du mir nicht ohne Unterschied vor allen Männer erzählen. – Vor Weibern wohl, denn wir nehmen von Tugenden, wie von Kappen und Bändern, nur das, was zu unsrer eigenen Freude taugt. – Aber da könnt es reiche Geizteufel, oder andre Haustyrannen von Männern geben, die heim gingen, und ihre Weiber und Töchter in die heßlichen [436] Nester verbannten, wo die armen Geschöpfe schon ohne das ihr Leben meist mit ihnen zubringen müssen; sie aber spazierten doch, wie der Rath Schlafhaube da, alle Tage nach ihrem Kaffeehause, hätten ihre Freyheit und ihr Späßchen, während die arme Frau bey ihrem schnurrenden Spinnrad ihren murr- und stuzköpfigten Herrn geduldig erwarten müßte. – Laßt mir Euren Cleberg und Otten aus dem Hause; er steckt brennbares Zeug in ihnen, das nur auf diese Gattung Funken wartete, und Ihr würdet euch wundern, was das für eine sprühende Flamme gäbe.« ––

O, Madame G**, was für häßliche Arbeit machen Sie da aus meinem so schönen Bilde! – Julie, haben Sie auch so was gedacht? ––

»Ganz und gar nicht! Es dünkt mich, daß die Familie sehr glücklich und nachahmungswürdig ist.« ––

»Was doch die guten Tugend; Schwärmer und Schwärmerinnen abgeschmakt seyn können! – Ich schätze gewiß diese Frau nicht weniger als Ihr. Sie that das Beste und Edelste, was Sie nach ihren Umständen [437] thun konnte. – Rosalia Cleberg; und Julchen Otte sind in andern Verhältnissen, haben andres Schicksal, und sollen auch anders thun; denn, mit ähnlichen Gesinnungen und Wesen, hätten sie dem guten Ernst nicht aus dem engen Gängelbande, und Hannchen nicht aus dem Keficht geholfen. Wir wollen der Vorsicht nachahmen; Verschiedenheit herrscht bey ihr in Allem, – und ein jedes kann vollkommen seyn. – Rosalia konnte die Nachahmungssucht niemals leiden und ich glaube, sie möchte nun gar gern eine schön geschnitzelte Bettlade, und Vorhänge mit Franzen darum haben, um gleich am lieben Morgen, mit einem ehrwürdigen Gesicht heraus zu gucken. Aber denken Sie doch, ob Ittens Schlafmütze zu dem ganz und gar neumodischen Geniegesicht Ihres Clebergs taugte? – Gewiß eben so wenig, als Frau Ittens Dormeuse zu Ihrem Stutznäschen! Ehren Sie und lieben Sie die Leute, so viel Sie wollen; aber ahmen Sie nichts nach, als die Krankenstube, denn das ist in der That recht gut. Es wäre ewig schade, an Ihrem schönen Hausplane was abzuändern. Unnöthige Possen und [438] Tändelausgaben machen Sie ja so nicht; und da Ihnen die Vorsicht Vermögen gab, arme arbeitsame Hände zu beschäftigen und zu bezahlen, so fahren Sie auf Ihrem Wege fort. Frau Itten mag nun anfangen, für ihre Enkelgen zu spinnen, denn ich sehe schon ihr Hannchen an Linkens Seite ins Brautbett wandeln. Eins will ich aber doch auch helfen ins Gewerbe des Denkens bringen: daß Mädchen und Mütter sich gar sehr betrügen, wenn sie glauben, daß viele Bekanntschaften und Putz, um so früher Männer schaffen.« ––


»Mir kommt auch ganz glaubwürdig vor,« sagte meine sanfte Julie, »daß, wenn hie und da beym Bekanntwerden des jungen Herrn Itten, mit vieler Achtung von seiner Erziehung und dem rühmlichen Fleisse seiner Frau Mutter und Schwestern gesprochen würde, die Neugierde rege gemacht, und dann Stückweis etwas erzählt werden sollte. Besonders wenn man sich, nach Kenntniß der Umstände, die Zuhörer aussuchte, könnte Gutes geschaft werden, das freylich wenn man das Ganze hört, gerade durch die Vollkommenheit, [439] so darin liegt, der Eigenliebe Andrer etwas hart auffällt.« ––

»Ist hier nicht ein Stück Ihrer van Guden wohl angebracht?« fragte Frau G**. »Denn schrieb nicht diese einmal: – Großes, ungewöhntes Gute, ohne Vorsicht dargestelt, schadet oft bey Menschen, die an Vorurtheilen haften. –– Sie sehen doch auch, Liebe!« fuhr sie fort, »daß die schönen Sachen, die Sie uns mittheilen, nicht verloren sind; nur mit dem Unterschied, daß Julie sie in der That anwendet, und ich die Worte recht säuberlich im Gedächtniß behalte.« ––

Nun kamen die Uebrigen zusammen, und diese Unterredung wurde abgebrochen; hatte aber auf mich einen zu tiefen Eindruck gemacht, um eine Sylbe vergessen zu haben. – Ich hatte in meinem Herzen Frau G** rauh und unempfindlich gescholten, weil sie mir meine innige Freude des Mittheilens dieser Familiengeschichte, gleichsam verdorben hatte. Aber ich fand nachdem doch, daß ihr Urtheil ganz richtig ist. Und zudem hat sie den Anlaß gegeben, daß die so fein fühlende Julie Orte, durch diese Mühe welche sie nahm, meine [440] gerizte Empfindsamkeit zu trösten, und doch der Frau G** nicht ganz Unrecht zu geben, auf den wahren und herrlichen Vorschlag kam, den sie that. Ach, es ist immer wahr, ich bin zu eifrig bey dem Guten, und wie mir Frau G** einmal sagte, ich suche das Erdreich nicht sorgfältig genug aus, auf welches ich säen wollte. Hab ich mich aber nicht darin gut ge macht, daß ich so gern den Beweiß eines Unrechts erkenne?

Dienstags früh

Schrieb ich nicht letzthin, daß meine Briefe nicht mehr so lang werden könten, als ich wollte? Sehen Sie, Liebe! am verwichnen Donnerstag fing ich an, und wurde fünf Tage gehindert ihn zu endigen. Aber dafür hab ich ausgesuchte Stunden genossen. –– Cleberg und Otte kamen von ihrem Spaziergange mit Ernst Itten so zufrieden zurück, daß mein Mann in einen großen Eifer gerieth, den jungen Mann bald eigen zu haben. Ich war also den Freytag und Sonnabend beschäftigt, sein Zimmer zurecht zu wachen, daß er Montags früh dasselbe beziehen könnte. – Sein, von seinem Vater verfertigter Schreibetisch [441] und Stuhl wurden gebracht, wie auch ein Koffer, mit seinem Weißzeug und Kleidern, welches, wie er mir sagte, seine Schwestern gern hätten auspacken wollen, aber die Mama habe es nicht erlaubt. – »Es war mir leid; denn meine Schwestern lieben mich, und sie sagten, nun würden sie so nicht mehr die Freude haben für mich zu sorgen; sie wünschten nur, in dem fremden Hause, mir alles so zurechte zu machen, wie ich gewohnt sey und dabey auch meinen neuen Aufenthalt zu sehen. – Die Mama glaubte, es wäre Unbescheidenheit, daß vier Mädchen so in Ihr Haus kämen; denn es würde doch jede betrüben, die zurück bleiben sollte. – Ey! sagten sie alle, die Frau Residentin ist aber so voll Güte, und hat sie nun in den zwey Besuchen selbst Mama geheissen, und uns alle so freundlich eingeladen.« ––


»Das ist wahr, liebe Kinder! Aber wir müssen diese Güte um so weniger mißbrauchen.« ––


»Das erkannten die guten Mädchen auch, und genügten sich also, mir meinen Koffer zu packen. Jede legte, mit Thränen der [442] Freude und Wehmuth das zurecht, was sie für mich gearbeitet hatte, denn ich bekam diese vierzehn Tage über noch Manches aus der Vorrathskammer meiner guten Mutter, und wenn der Segen, den sie mir dabey gab, auf mein Wohlverhalten würkt,« sagte der edle Jüngling, indem er meine Hand nahm und küßte, »so werde ich Ihre und Ihres Gemahls Güte immer verdienen.« –

Ich dachte da auf ein Mittel, den guten Mädchen ihren so billigen Wunsch zu erfüllen, und glücklicherweise gab ein Tadel meines Mannes den Anlaß dazu. Er ging in Ittens Zimmer, fand alles gut, nur die weißen Vorhänge wären zu kurz; – ob ich diesem Fehler nicht noch abhelfen könnte, indem ich andre aufmachte? – das konnt ich nicht, weil ich für den obern Stock noch nicht doppelte Vorhänge habe, aber durch Falbala konnt ich sie verlängern. Die waren aber auch noch nicht gemacht, und wer garnirte mir in einem Nachmittage sechs Vorhänge! Aber, wenn ich nun zu Mama Itten ginge, und sie bäte, mir ihre vier Töchter zu diesem Freundschaftsdienst auf den Nachmittag zu erlauben? –– Ich maß die Weite und Länge, [443] schnitt die Falbala zurecht, legte sie nett zusammen und auf jeden Theil eine Portion Zwirn und die Schnur zum Aufnähen der Falten, stellte vier Stühle in meinem Wohnzimmer in eine Reihe legte auf jeden eine Falbala, auf den fünften aber, der mein war, zwey, sagte niemand nichts und als Cleberg mit Itten, nach dem Mittagsessen, in den Hof und kleinen Hausgarten ging, die Kutschenremise, und die Pferde besah, eilte ich in meinem Hauskleide zu Mama Itten, bat sie um die hülfreiche Hand meiner jungen Freundinn und führte die lieben Mädchen alle viere zugleich über die Strasse in mein Haus. – Die gute Frau willigte so gern in meine Bitte, freute sich, daß sie mir einen Dienst erweisen könne, und daß die Geschicklichkeit der Nadelarbeit ihrer Töchter der erste Anlaß zu einem Ausflug von dem väterlichen Hause wäre. –– Dann gefiel es ihr auch, daß ihre Kinder mit mir gingen und also alle Nachbarn sahen, daß ich sie selbst abgeholt hätte, und das ihnen guten Kindern Ehre machte. – Ich mußte erlauben, daß sie ihre gut genähten Kleider an zogen; sie wollten geschwind fertig seyn, sagten sie. – Ach, wie büpften die guten [444] Geschöpfe so freudig nach ihrer Kammer, und gewiß waren sie bald fertig. –– Auch ihre selbstgeklöppelten Spitzenhauben, die sie aufsetzten, nahmen ihnen nicht viel Zeit weg, denn sie sind nur nach Art französischer runden Schlafhäubchen gemacht, die ganz plat ins Gesicht gehen und breite Bänder umgebunden haben. Sie sahen alle recht lieblich aus, und ich würde mich über diese Reihe Schwestern gefreut haben, wenn sie mein gewesen wären, so wie sie mich als Nachbarinnen freuten. – Ich nahm die zwey Jüngern jede an eine Hand und ging an den Thorweg. Die Mutter folgte die Stiege herunter, schweigend und weinend, mit den zwey Aeltern. –– »Adieu, Mama!« sagt ich, »heut Abend bring ich meine Schwestern wieder; – Wir wollen recht brav und fleißig seyn.« – Sie konnte nichts sagen, als: »Gott segne Euren Ausgang! grüßt doch den Ernst.« ––

Meine Magd hatte an dem Fenster der Gesimstube auf mich gewartet, die Hausthür war also gleich offen, wie wir kamen. Ich verbot, meinem Manne und Herrn Itten etwas zu sagen, und zog mit meinen artigen, schüchternen Mädchen, in mein Zimmer. In [445] der That waren sie alle bebend und schlossen sich an mich, wie junge Küchelgen, die von den Flügeln der Mutter weg sind, etwas Kälte fühlen, und sich an eine andre, freundliche Henne anschmiegen wollen. Sie getrauten sich nicht recht umzuschauen, ungeachtet Neugierde nach dem Aussehen meines Hauses, mit der Freude ihres erfüllten Wunsches, in ihren Gesichtern war. Ich umarmte Alle, und hieß sie willkommen in meinem Hause, und setzte hinzu, ich hoffte sie öfter zu sehen. –

»Wie gütig sind Sie! – ach, das wäre glücklich! – unser guter Ernst hat uns immer schöne Tage gemacht.« – Das sagten sie so in der holden Verwirrung gemeinschaftlichen Vergnügens. – Hannchen sah dann die Stühle. – »Ist dies unsre Arbeit, Frau Residentin?« »Ja, meine Lieben! wollen wir anfangen?« und ich nahm meinen zugeschnittenen Theil. Wie schön war die liebreiche Eile, die sie bezeigten, als jede ihre Zwirnfäden, die ich nur vom Strange geschnitten hatte, um ihren artigen Hals hing, die Leinwand in einer Hand hielt und mit der andern Nadelbüchsgen und Fingerhut suchte; dann sich setzte, und mit so viel Anstand, und [446] Artigkeit sie insgesamt sich fertig machten ihre Aufgabe zu nähen, wie die guten, zum gehorsamen Ton gewöhnte Stimmen, mich fragten, wie breit die Säume seyn sollten; und als ich antwortete, ich hätte den Anfang dazu schon gelegt, –– wie sie da nachsuchten! – ach, Mariane! es war recht viel süsses Andenken meiner wohlverlebten, blühenden Jahren, in alle dem für mich! –– Nun nähten sie alle eifrig, und spannten den Saum über ihre Finger. Das war ungemächlich, und hält sehr im geschwinden Nähen auf. –– Da sagt ich: Wartet, Kinder! dem will ich abhelfen, und stand auf, ging in mein Nebenzimmer und hohlte da ein klein, rund Tischgen, nahm ein Küssen von einem Lehnstuhl und band dies auf dem Tischgen fest. Dann mußten sie sich da umher setzen und jede konnte ihre Arbeit anheften. Dieser Einfall machte den lieben Mädchen Freude, und so nah um mich sitzend, wurden sie trauter und schwazten recht artig mit mir von allerley Arbeiten, nur, wenn sie was gehen oder eine Thür auf- und zumachen hörten, da stuzten sie und wurden etwas roth und unruhig, weil sie natürlicherweise nichts [447] als fremde Gesichter erwarteten, von deren guten oder bösen Gesinnungen sie nichts wußten. Als wir nun so recht im Eifer waren, in die Wette zu arbeiten und ich ihnen mit Fleiß zeigte, daß ich auch einen hohen Werth auf eine geschickte Hand legte, welches ihnen sehr gefiel, weil es den Preis der Ihrige bezeichnete: – Da trappelte es stark im Nebenzimmer. Sie zuckten sich zusammen, und es fehlte wenig, so hätten sie sich auch wie schüchterne Täubchen geduckt. Als die Thür aufgemacht wurde, und Cleberg mit ihrem Bruder herein trat, eh eine von ihnen aufsah, waren sie aus Verlegenheit schon roth und blaß geworden; aber ein Ausruf ihres Bruders: –– »O, meine Schwestern!« – und dann der, von Cleberg, »wie schön ist das meine lieben, lieben Nachbarinnen!« –– brachte sie gleich in Ruhe und zum Ausdruck der reinsten Herzensfreunde, mit ihrem Bruder und Freunden zu seyn. – die zwey artigen jungen Männer gingen rings um unser Tischgen, betrachteten es, und die jungen Frauenzimmer hatten nun Muth genug zu sprechen und zu erzählen, daß dieses Nähküssen von meiner Erfindung sey; daß ich sie selbst geholt hätte [448] und so weiter. – Itten war entzückt, das sah ich, und Cleberg ging nach einigem Scherzen von uns. – Eine Viertelstunde nachher kamen Otto und Linke, staunten auch an der Thür über den Anblick, kamen aber mit ihrer gewöhnlichen ehrerbietigen Miene zu mir, machten den Frauenzimmern eine Verbeugung, die sie mit dem liebenswürdigsten Anstande, aber vielem Erröthen erwiederten. Linke umarmte Itten, als ich ihnen die Frauenzimmer genannt hatte, und wünschte ihm Glück, ihr Bruder zu seyn. Hannchen senkte da ihren Kopf tiefer gegen ihre Arbeit und sah eifriger darauf als vorher, hingegen Linke, auch mehr auf sie, als ihre Schwestern. Die drey Männer stellten sich dann in eine Ecke des Zimmers, wo Itten mit überfliessender Dankbarkeit von mir, und Liebe von seinen Schwestern sprach. – Aber, eh wir es uns versahen. kam Cleberg, machte beyde Flügel der Thüre auf, und hatte Herrn und Frau Itten an den Händen. »Da sehen Sie, was meine Frau mit Ihren Töchtern macht.« –– Ach, was Freude bey Vater, Mutter und Kinder! – Der Sohn Heinrich und auch Reinhold kamen nach. Cleberg bemerkte daß[449] Frau Itten sorgsam nach Ott und Linke sahe. Da nahm er diese Beyden und sagte: »Herr Rath! Frau Räthin! – dieses sind meine verdienstvollen, werthen Freunde, Otte, und Linke, die auch Freunde meines jungen Herrn Itten sind, und sich gewiß freuen, durch mich eine der schäzbarsten Familien unsrer Stadt kennen zu lernen;« und zu diesen sagte er: »Dies sind die vortrefflichen Eltern und Kinder Itten, die bisher, wie ein durch ihren Anherrn vergrabner Schatz, in dem alten Familienhaufe wohnten, bis mir der Himmel das Glück schenkte, sie zu entdecken.« – Frau Itten dankte durch eine Verbeugung; aber es freute sie, daß mit so viel Achtung von ihnen Allen gesprochen wurde, und er sagte, daß er die beyden Herren auf dem Kaffeehause hätte kennen lernen und sie immer sehr höflich gegen ihn gewesen wären. – Cleberg nahm mich dann bey Seite: »Salie! ich habe heute früh meinen erpressen Bothen vom Oheim zurück bekommen. Ernst wird in zwey Jahren Unteramtmann zu Langensee, und Heinrich kommt ins Stipendium. Ich will Alle beym Nachtessen haben, und Deine Köchin weiß schon was; rede [450] nun noch das Uebrige mit ihr ab. – Bey den Ittens dürfen wir so nichts Kostbares haben.« ––

Der liebe, rasche Mann hätte mich bald für Freude krank gemacht. Er war mir so werth, daß er die Sache der Itten so betrieben und ausgeführt hatte. –– Da mußten nun die Eltern an unsere Redlichkeit glauben; Denn einsame Menschen, die sich aus Schmerz und Mangel abgesondert haben, sind gegen die Versprechen der Glücklichen so mißtrauisch, und dann hatte ich auch gefürchtet, daß Clebergs Eifer erkalten möchte, und daß er mit dem Stipendio zu viel gesprochen hätte. – Das war nun alles wie es mein Herz wünschen konnte. Ich ging durch eine Seitenthüre zu meiner Köchin, ordnete noch alles an, gab Weißzeug und etwas Confect her, und kam wieder, da die guten Mädchen schon meine Arbeit genommen hatten und fertig machten, indem die Aeltere ausserordentlich geschwind nähet. – Wir kamen mir Falten und Allem noch zurecht, und Cleberg, der die Herren alle in einem Nebenzimmer unterhielt, hatte mit ihnen vielen Spaß. Als ich nun oben in Ittens Zimmer die Falbala an die [451] Vorhänge zu nähen, mit meinen artigen Arbeiterinnen aus meinem Zimmer daher zog; ich, mit einem Licht voran, und eine Falbala am Arm; dann Hannchen Itten mit ihrer Arbeit; Caroline, die wieder ein Licht hatte, Dorchen keins, aber Marie wieder. Wir hatten uns zusammen beredt, daß Keine von uns nach den Mannsleuten sehen und wir unsern Gang ganz gerade nach Ittens Zimmer nehmen wollten. Das geschah auch, und unsere Mama mußte auch über unsern Ernst lachen. Sie liessen uns ziehen: aber, als wir nun oben Jede an einem Vorhange sassen, die ich nicht abgenommen hatte, und immer Zwey an einem Fenster und bey einem Lichte geschäftig nähten, kamen die Männer mit Cleberg und der Mama nach, hatten Alle an der drolligen Art dieser Arbeit eine Freude und wollten endlich uns auch helfen. Weil es wieder mit dem Anheften beschwerlich ging, so boten sie sich zum Halten an. Ernst Itten kam so bescheiden zu mir, daß ich ihm gleich anwies, wie er den Vorhang halten sollte. Hannchen war neben mir am nehmlichen Fenster, und Linke bat sie, in einem ehrerbietigen Ton, ihm zu erlauben, ihr zu helfen. Die[452] Einwilligung, die sie mit einem Anmuthsvollen Nicken ihres schönen Kopfes gab, war sehr reitzend. Sie sah Linken nicht an, er hingegen blickte voll Glück und Liebe nach ihr hin. Cleberg und Otte hatten sich zu Caroline und Dorchen gesetzt, und die kleine muntre Marie hatte ihre Mutter, und ihre zwey jüngern Brüder zu Gehülfen bekommen. Der gute Vater Itten ging von einem Fenster zum andern und spaßte über unsre sonderbare Nähtherey. – Als wir nun, abgeredter maßen, einander zuriefen, ob wir fertig wären, denn es durfte Keine vor der Andern aufstehen, da fehlte es noch bey Marien, die im innern Zimmerchen war; und Hannchen bat mich um Erlaubniß, ihr zu helfen. Ich ließ sie gehen. Sie machte Linken ein so artig Compliment für seine Mühe. daß er aus Vergnügen darüber, und tausend andern Gefühlen, nicht halb so klug aussah, als Hannchen. – Cleberg bat dann den Vater, die Mutter und zwey ältere Söhne, mit ihm zu kommen, wo er ihnen dann die fürstlichen Dekrete zustelte und sie bat, mit ihrer Familie bey uns die Abendsuppe zu essen, aber ja keinen Dank oder sonst etwas davon zu sagen; und als sie Alle [453] so von Ausdrücken der Bewunderung und Freude überflossen, verließ er sie, weil er die gute Julie Otte holen wollte um mit ihrem Mann bey uns zu seyn. – Was war das für ein seliger Abend! wie theuer, wie werth war mir mein Mann! Er setzte sich bey Frau Itten und Mariechen; ich hatte den Vater und Reinholden zu mir genommen, Julie saß zwischen Ernst und Heinrich; Ott und Linke besorgten Hannchen und Caroline; Dorchen und die Jüngste waren auch bey Cleberg. – Der Vater weidete sich an der zufriedenen Miene seiner Kinder, und die Mutter sah, bald sorglich, bald fröhlich, auf sie umher, betrachtete aber auch mein Tischzeug, die Speisen, mein Vorlegen; winkte bald der einen, bald der andern Tochter mit den Augen, auf mich, oder Julien zu sehen. – Und mit wie viel Mutterfreude und Liebe sah sie ihren Ernst und ihren Heinrich an! – Sie und ihr Mann müssen sehr schön gewesen seyn. Aber man kann von ihr doch sagen, das salzige Thränen ihre Wangen verzehrt haben; denn sie ist sehr hager und blaß. – Alle gingen glücklich nach Haus, und Ernst, der sie heim begleitete kam mit Segen für ihn und uns zurück.

[454]
92. Brief
Zwey und neunzigster Brief
Rosalia an Mariane S**.

Mein Oheim ist mit Clebergen, wegen dessen, was er ihm von den Ittens schrieb, und für sie zu thun wünschte, ausserordentlich zufrieden, und dankt dem Himmel, daß er sich, in Beurtheilung seines Charakters, nicht betrogen habe; freut sich auch, daß unser Hof jetzo einen Minister hat, der sich nicht zu groß dünkt, eine Familiengeschichte anzuhören, die, ob sie schon nur den kleinen Zirkel eines alten Privathauses betrift, dennoch der Menschheit Ehre macht.

»Unserm edlen Minister von H**,« sagt mein Oheim, »der mit philosophischen Geiste Menschen und Staaten durchdenkt, nur Wahrheit und Natur würklich schätzt und liebt, und bey dem das, was er an sich selbst am meisten achtet, nicht das Zufällige seiner adelichen Geburt und nicht die Ehrenstellen sind, die er bekleidet, sondern das, was er sich durch unermüdeten Fleiß an [455] Kenntnissen erwarb; und sein moralischer Charakter, den alle aufgeklärte und edel gesinnte Menschen äusserst in ihm verehren; der mit sanftem Eifer und stiller Größe, Gutes zu würken sucht und die erste Freude seiner Ministerstelle und seines Ansehens in dem Augenblick fühlte, da er einem rechtschaffnen, mit großen Fähigkeiten begabten, aber nicht genug bekannten Manne die beste Stelle verschafte, und seine zweyte Freude von dem Tag an zeichnet, wo der Unterricht der Jugend unter seiner Anordnung und Vorschrift sich gründete und glücklich fortgeht: – Diesen Minister konnt ich, schreibt er, auf einem Spaziergange, wo er Einfalt, Schönheit und Güte der Natur mit so viel Einsicht und Empfindung bewunderte, mit einem fleißigen Bauer so liebreich sprach, am Ende des Lobes, welches er dem Ackersmanne und nach diesem allen Privattugenden gab, von der ausübenden Tugend meines Neffen und seiner Nachbarn reden; – war sicher, daß ich mit Vergnügen angehört und in meinem Gesuch unterstützt wurde. –– Ach, möge der vortrefliche Fürst, den Gott uns gab, ja niemals Rathschläge hören, und ihm keine [456] annehmlich vorgetragen werden, als die aus einer so reinen, Menschen und Gerechtigkeit liebenden Quelle kommen! –– Schreiben Sie ihrem neuen Neffen,« sagte er mir, »daß er fortfahren soll, in Ihre Fußstapfen zu treten, und daß ich ihm viel mehr danken und ihn ehren werde, wenn er mir verborgenes Gute zu belohnen zeigt, als wenn er den Fehlern und Schwachheiten der armen Menschen nachspürte und sich dadurch ein Verdienst machen wollte.« ––

Ist dieser Zug allein nicht hinreichend, Ihnen, meine Mariane die größte Hochachtung für unsern Minister einzuflössen! – Aber niemals vergiebt er Fehler gegen die Rechtschaffenheit und Pflichten eines Amts; und das schätzt mein Oheim sehr. ––

Meine Liebe! – wie sonderbar ist dies! – vor zwey Tagen erhielt ich den Brief meines Oheims, aus welchem ich Ihnen heute früh obige Auszüge machte; und diesen Abend kam er selbst, und kündigte mir und Cleberg an, daß wir mit ihm auf acht Tage nach der Residenzstadt unsers Fürsten reisen müßten. – Ach, wie ungern thu ich das! – Frau G**, die mit uns zu Nacht speißte, macht mir [457] noch dabey über die Besuche bange, die ich bey dortigen adelichen Damen werde ablegen müssen. – Die böse Frau verderbt mir damit meinen Schlaf, denn ich habe dies noch geschrieben eh Cleberg von dem Zimmer meines Oheims kam. – Aber jetzt gute Nacht! –

Und heute, nur eiligen guten Abend bis aufs Wiederkommen. – Adieu sagte ich diesen Morgen auch ganz kurz. Ich mußte meine zehn schöne Putzsachen einpaken lassen, und nun früh schlafen gehen, daß wir bey anbrechenden Tage auf dem Wege seyn können. Sie sollen bey meiner Zurückkunft hören, ob ich eben so von unserm Minister denke, wie mein Oheim. ––


Montags; gerade vierzehn Tage nach unserer Abreise, ganz ausgeruht und nachgedacht.

Da bin ich wieder! mit neuen Ideen bereichert, im alten Guten bestärkt, und von Vorurtheilen befreyet, die man mir mitgegeben hatte. ––

Schöner kann beynah keine Lage seyn, als die Lage der Stadt C**, an dem Zusammenfluß zwey schiffreicher Ströme, der R** [458] und der M**. – Weinberge auf einer, Kornfelder, Wiesen, Obst- und Nußbäume auf der andern Seite; die Festung an einem, die Stadt an dem andern Ufer; – nahe und entfernte Gebürge, und dann die reizende Fläche, durch welche man, von dem Festungsberge, den R** hinfliessen sieht. ––

Ich habe unsern Fürsten und Ihre Hoheit, Seine Prinzeßinn Schwester, selbst gesehen und gesprochen. Wie viele Leutseligkeit und Herablassung wohnt neben Größe der Geburt und Tugenden, in ihnen! Es geht mir auch, wie meinem Oheim. Möge doch ihnen Beyden nichts als reine Wahrheit, Treue, Verdienst und ehrerbietige Liebe sich nähern! – weil, wie man sagt, die besten Fürsten sehr oft von feinen, bösen und eigennützigen Menschen umgeben sind, die ihre Güte mißbrauchen. ––

Die zwey Damen der Fürstinn sind sehr verehrungswürdig und vereinigen alle Eigenschaften in sich, die von rechtswegen Adeliche immer besitzen sollten, weil sie, nach der Ordnung der sittlichen Welt, die tägliche Gesellschaft der Fürsten sind, und freymüthig mit ihnen sprechen können. – O, wie innig heftete [459] sich mein ganzes Herz an den edlen, starken Charakter, voll Klugheit und Güte, welcher die Hofdame von N – d – f, unschätzbar macht. ––

Cleberg ist von dem Minister ganz und gar eingenommen, – nicht allein wegen der besondern Achtung welche er ihm bewieß, sondern wegen der vielen Wissenschaften, wegen seines Geschmacks an schönen Künsten, und weil er sehr vergnügt schien, mit einem Menschen zu sprechen, der auch nützlich gereist war, und Kenntniß und Freude bey seiner schönen Büchersammlung bezeigte. Bey dem Gegenbesuch den er bey meinem Mann und Oheim ablegte, sah ich ihn auch, voll Ernst und Würde in seinem Bezeigen und seiner edeln Gestalt. Diese Würde war auch in seiner Höflichkeit gegen mich; sie begleitete seine Bescheidenheit, und jede Unterredung. –– Als er weg war, fragten mein Mann und Oheim mich, wie er mir gefallen hatte? – Ich sprach in einem sehr lebhaften Ton der Verehrung von ihm. – »Aber er ist ja gar nicht galant,« sagte Cleberg, »und Du bist doch so ein schönes junges Weib.«

[460] »Pfui!« sagt ich, – »ein Mann, wie dieser, galante Sachen sagen! – das wäre ja ärgerlich. Ich möchte ihn gleich die Hälfte seiner Verdienste berauben können, wenn er den Galanten machen wollte. Dies soll er den Kammerherren und Kammerjunkern überlassen; so wie sie ihm Weisheit und Arbeit, Ruhm und Sorgen seines Platzes überlassen müssen.« ––

»Aber, wenn er nun nicht höflich gegen Dich gewesen wäre, was würdest Du gesagt haben?« sprach mein Oheim. ––

»Ey. Höflichkeit und das, was man galant nennt, ist weit verschieden. Ich habe an seinen Blicken bemerkt, daß er mich, auch so gar meiner eignen Person wegen, seiner Achtung würdig hielt. Diese flüchtigen Blicke, in denen er den Kenner des Schönen und Artigen zeigte, ohne seine edle Kälte dabey zu verlieren, waren meiner feinen Eigenliebe viel schmeichelhafter, als wenn er mir schöne Tändeleyen gesagt hätte, die, unter uns sey es bemerkt, noch keinem einzigen Menschen einen Funken Ruhm erwarben, und auch keinen besondern Aufwand von Geist erfordern; sonst würdet Ihr Männer [461] diesem Euren Talent schon längst einen Lorberkranz geflochten haben. Aber noch nie hab ich einen Mann von Gefühl und Geist am Ende der Beschreibung des wahren männlichen Verdiensts, wie Sie Beyde den Minister mir mahlten, in einem Ton der Verehrung sagen hören; er ist auch sehr galant bey Damen, weiß ihnen so gut, als irgend ein artiger Mensch, schöne Sachen zu sagen. – Wenn sie so was von diesem Manne wissen, so erzählen Sie mir es ganz geschwind, damit ich meine Seele nicht zu sehr mit Verehrung überlade. – Es schadet mir zwar so nichts; er gehört in eine andre Welt, als ich, – und da mag er galant seyn, so viel ihm gut dünkt.« ––

Cleberg und mein Oheim lachten herzlich über mich. »Aber Rosalia!« sagte mein Oheim, »Cleberg suchte doch auch artig um Dich zu seyn und schöne Sachen zu sagen. Warum äussertest Du diesen Widerwillen nicht auch gegen ihn?«

»Ich weiß nicht mein Onkel, ob es edler Stolz seiner Seele, oder feine Kenntniß meines Charakters war, was ihn verhinderte, meine Achtung und meine Liebe mit dieser [462] Alltagskunst zu gewinnen. Denn er sagte mir wenig, war auch mit Andern nicht galant, und das Wenige, so er nach langem Schweigen sagte, war ernsthaft, aber so ganz für mich, für mein Herz gesagt, daß er mich glücklich, und sich auf ewig beliebt machte.« ––

Cleberg umarmte mich. »Meine liebe, sonderbare Rosalia! sieh ich will Dir was bekennen. Schon vier Jahr liebst Du mich; – Du bist nun mein! Aber Deine Hochachtung für meinen Charakter und meine Denkungsart, ist mir so werth, daß ich untröstlich wäre, wenn ich diese Gesinnung in Deinem Kopf und Herzen vermindert sehen sollte. Denn unsre Verömdung soll in Nichts den Gang der Leute nehmen, die Du Alltagsleute nennst. – Du bist kein Alltagsweib, und ich schmeichle mir, auch eine gleiche Ausnahme unter jungen Männern zu verdienen; so wie ich sicher bin, immer süsses, wahres Glück des vernünftigen Mannes, in meinem Leben mit dir zu genüssen, wenn auch schon diese reizenden Wangen welkend, Dein Auge matt und die schönen kastanienbraunen Haare silberfarb seyn werden. Laß mich nur immer [463] der einzige Vorgezogne in Deiner Seele seyn. Ich kann auch keine Alltagsliebe, und Alltagshochachtung leiden.« ––

Er wandte sich gegen meinen Oheim und faßte eine seiner Hände, während er mich mit einem Arm umschlungen hielt. »O, mein Oheim! Ehrenstellen und Vermögen, die ich durch Sie erhalten habe, sind der geringste Theil meines Glücks. Aber Wahrheit und Stärke Ihrer Seele, die Sie in Rosalien, neben weiblicher Feinheit des Gefühls, und zärtlicher Liebe pflanzen konnten, – das, das macht mich selig.« ––

Sagen Sie, liebe Mariane! war das nicht eine schöne Stunde meines Lebens, die mir allein meine Reise nach C** auf ewig werth machen muß? ––

Ich machte bey allen Damen Besuche, und habe es gestern bey Mademoisell Bogen in zahlreicher Gesellschaft erzählt. Alle, Alle haben mir auf das gütigste begegnet, mir meinen Besuch erwiedert; eben so, wie Frauenzimmer meines Standes mir viele Höflichkeit und Begierde nach meiner längern Bekanntschaft zeigten. Da waren nun bey den Bogens einige Personen die mir sagten: –– [464] »ja, das ließe sich von den Damen sagen, weil sie mich nicht lange gesehn hätten; denn sonst würden sie mir auch die Geringschätzung haben fühlen lassen, die sie gegen Leute der übrigen Klassen hätten.«

»Wir wollen billig seyn,« sagte ich. »Wenn wir nun in einer Gesellschaft sind, wie diese hier, würden wir es gerne haben, daß sich Leute von andern unter uns stehenden Klassen zu uns drängten? würden wir nicht auch näher zusammen rucken, um unsre Plätze unvermischt zu erhalten? – Ich für meinen Theil habe gar nichts gegen die eingeführte Rangordnung zu sagen, und bin aus Erfahrung überzeugt, wenn man dem Adel seine gerechten Vorzüge läßt, und zeiget, daß man sie erkennt, und von ihm nicht mehr fordert, als uns gebühret: so ist er gewiß auch gegen uns gesinnt, wie es Klugheit und Billigkeit wollen. Unser Spotten und Tadeln ihres Stolzes ist lächerlich und fließt auch aus übertriebnem Hochmuth. – Natürlicher Weise faßt der Stand des Adels, so wenig als andre lauter verdienstvolle Personen in sich; aber ich kenne Viele? die in Wahrheit den Adel der Seele mit dem Adel ihres [465] Namen vereinigen, und die ich mein ganzes Leben äusserst verehren werde.« ––

Vielleicht, meine Mariane, hab ich zu lebhaft widersprochen. Aber ich kann nichts Unrechtes, und nichts niederträchtig Hoffärtiges leiden. Es ist in Wahrheit unbillig, wenn wir zu sehr auf den Ahnenstolz losziehen. Denn sagen Sie, ist nicht eine ganze Nation auf den Namen und Ruhm eines Mannes stolz, der in Wissenschaften oder großen Thaten sich vorzüglich merkwürdig machte? – Ist nicht die Privatfamilie stolz, in deren Schoos er erzeugt wurde? – Nun so geht es denen, die seit Jahrhunderten den Namen eines ruhmwürdigen oder mächtigen Mannes führen. Daß sie manchmal dieses Gefühl übertreiben, ist wahr und empfindlich; aber wann, in was, ist jemals eine Leidenschaft im Gleichmaaße geblieben? ––


Hier, meine theure Freundinn! wieder ein Blätgen mehr, und einen Tag weiter. Wenn es so fortgeht, so muß ich Ihnen in Zukunft nur halbe Briefe schicken, oder alle Vierteljahr [466] ein Tagebuch, und indessen nur dann und wann eine Zeile mit der Nachricht meines Wohlseyns; wie ich es mit der van Guden mache, bis ich ihr, nach unsrer Verabredung, immer von Zeit zu Zeit vier oder sechs von den Briefen mittheilen kann, die ich Ihnen schrieb und die Sie mir wieder leihen wollen. ––

Dieser hier, ist von Cleberg gelesen worden. Er kam freundlich, aber zu einer mir unverhoften Stunde, in mein Zimmer, fragte, an wen ich schriebe? Ich sagt es. Er bat mich, ihm etwas davon zu lesen; ich that es. Er schien zufrieden, hielt sich aber besonders bey dem Zuge auf wo von Alltagsleuten gesprochen wird. – Ich fragte ihn da, ob es ihm Ernst gewesen, als er mich versicherte, daß ihm meine Hochachtung eben so werth sey, als die von Fremden oder von einem Manne? »ja meine Liebe! sie ist es mir in Allem, was edles und feines Gefühl der Seele betrifft; weil Du von Allem, was menschliche Gesinnungen angeht, große und richtige Begriffe hast, und weil ich, in meiner Klasse, einer der besten Menschen seyn möchte, und Du, als die nächste Zeuginn meines Lebens, mich durch Beyfall belohnen, oder durch eine [467] liebreiche Erinnerung auf dem edlen Weg erhalten kannst, den ich wandeln will.« –

Ich war gerührt, erstaunt und glücklich, alles zugleich; nahm seine Hand, die eine der Meinigen hielt, druckte sie mit beyden Händen an meine Brust, sah mit Zärtlichkeit ihn an: »Theurer Mann! Du heiligest den Werth, den, ich gesteh es Dir, meine Eigenliebe auf mein Herz und auf meinen Kopf gelegt hatte. Ich darf also Dich beobachten, Dir Freude zeigen, wenn ich Gedanken und Handlungen von Dir sehe, die den edlen, rechtschaffenen Mann bezeichnen, wenn ja Feuer des männlichen Charakters in gewißen Anlässen Dich zu einer Heftigkeit führte, die Deiner unwerth seyn könnte. – Mein Cleberg hat also die kleine, niedrige Besorgniß nicht, daß feine beste Freundinn stolz werden, oder sich in Etwas über ihn erheben möchte, wenn er ihr manchmal eine Bitte für sein Wohl und seine Ruhe zugestünde.« –

»Salie! diese Besorgniß könnte nur ein Mann haben, dessen Seele durch Eitelkeit, und Eigendünkel so eingeschränkt und verblendet wäre, zu glauben, daß er niemals fehlen könne; und dieser Mensch würde [468] auch von den größten und weisesten Mann nichts annehmen. Ich will Dir aber auch weisen, daß mein Vertrauen in Deine Einsichten nicht ohne Gränzen ist. Denn in Allem, was jemals Ausrichtung der Pflichten meines Amts betreffen kann, werd ich weder Dich, noch irgend ein andres Weib anhören. Aber in Ansehung der Verhältniße mit andern Menschen und des Einflusses, den kleine Sachen haben können, da sollen mir Deine Vorstellungen und Vermuthungen willkommen seyn. Ich wäre ja elend, wenn ich Mißtrauen in die Absichten Deines Herzens setzen sollte; – des Herzens, das mit all seiner Zärtlichkeit sich mir eigen gab. Nein! ich will den schönen Stolz, der in Dir Achtung fodert, weil er Achtung verdient, nicht verletzen; und auch darinn niemals kein Alltagsehmann werden, dem lieben Geschöpfe, das ich wählte, und das, mit Vertrauen auf mein Herz, mein Eigenthum wurde, mit Geringschätzung zu begegnen, wenn ich nun so die Blüthe von Schönheit und Freude genossen haben würde. –– das soll nicht seyn, meine Salie! und ich will auch von Dir immer verdienen, daß [469] Du Alles, was ich an Dir liebte, und was mir mein Glück versicherte, sorgfältig erhalten und vervollkommnen sollst.« ––

»Das will ich, bester Mann! Sage mir nur, was Dir angenehm ist.« ––

»Noch Alles, in Allem,« – sagte er lächelnd, indem er mich vom Kopf bis zu den Füssen beschaute; und dann zu Otten ging, den er mit Julien zum Abendessen brachte. – Dünkt es Sie nicht, daß auf diese Art das Glück meines Lebens dauerhaft seyn wird? Ich will schön, recht schön auf kleine Sachen Achtung geben, nie keine rügen, die sich nur auf mich beziehen, nur mir empfindlich wären; –– sondern bloß, was Andre, und die Ruhe und den Ruhm von Clebergen angehen kann, keine von meinen Pflichten versäumen, und, wie mich die van Guden schon belehrte, immer in meinem Hause am liebenswürdigsten seyn. –

Es freut mich, daß der Ton meines Hauses Fremden und Einheimischen gefällt, und daß man zufrieden ist, alle Nachmittage bey uns wohl aufgenommen zu seyn und gute Gesellschaft zu finden, ohne von mir eine ängstliche Erwiederung der Besuche zu fodern. – Die Ittenschen Töchter kommen nun wechselweis [470] alle Tage Eine in mein Haus, arbeiten und eßen bey mir; so wie auch die Töchter des Geheimenraths von E** und B**, lauter artige, tugendvolle Mädchen. Mein Cleberg hat würklich einen herrlichen Gedanken gefaßt und will, auf meine Bitte, unter seinem Büchervorrath eine Auswahl machen und sie uns zum Lesen geben, so daß, wenn die Andern arbeiten, Eine von ihnen liest; und ich junge Sibylle, sagt er, solle dann, nach meinem Mehrwissen, mit ihnen darüber sprechen. Auch will er manchmal kommen und was vorlesen oder erzählen, von dem, wies junge Männer bey einem Frauenzimmer anzutreffen wünschen, die sie zu ihrer Freundinn, Gattinn und Mutter ihrer Kinder haben möchten. »Denn, sezte er hinzu, ich bin nun verheyrather, und kann etwas von unsern Männergeheimnissen bey den liebenswürdigen Freundinnen meiner Rosalia entdecken. – Wir sagen uns manchmal, wenn wir einen Kreis blühender Schönen beysammen sehen, und all ihre Reitze und Annehmlichkeiten in Person und Bezeigen bemerken: Das thun sie für uns! – sie folgen den geheimen Befehlen der Natur, welche von ihnen will, [471] daß sie uns zu gefallen suchen sollen; so wie uns von ihr leise zugeflüstert wird, daß wir allein in ihnen das süsseste Glück finden werden. Aber, setzen wir dann hinzu, die guten Kinder wissen doch nicht Alles, was uns freut. Schön, artig, witzig, ist etwas, so wir nicht entbehren möchten; aber wahre Güte, wirthschaftliche Kenntnisse, und Geschmack an vernünftigen, edlen Dingen, mit denen wir uns gern beschäftigen, – das ist Grundlage unsers daurenden Wohls.« ––

Er mischte eine Menge schmeichelhafte Sachen für sie alle darunter, und die muntere junge Louise L** forderte ihn auf, ihr allerseitiger Lehrmeister zu seyn. Sie verspreche für sich und ihre Gesellschafterinnen viele Aufmerksamkeit und Folgsamkeit; aber er solle auch für die edlere Bildung der jungen Mannsleute sorgen, damit sie artige Mädchen auch liebenswerthe Bewundrer haben möchten. Sie wolle ihm auch hie und da erzehlen, was gute Frauenzimmer zu wünschen hätten, damit sie ihre künftigen Herren Meister ihren Söhnen mit gutem Gewissen zum Beyspiel anpreisen und den Gehorsam mit Hochachtung verbinden könnten. Sie hätten sich ohnehin Alle [472] vorgenommen, ihn und mich zu beobachten, um ein Muster von Verdiensten, und von dem Glück eines Frauenzimmers zu nehmen. –

»Sie geben mir und Rosalien eine schöne Rolle! – Salie! Du bist die Tugend, und ich, das Glück, so Dich belohnt!«

»O, die hochmüthigen Männer die! – Glück der weiblichen Tugend zu seyn!« – sagte Frau G**, »Wäre dies nur immer wahr! – aber Ihr seyd so oft nichts, als Uebung- und Zuchtmeister dieser Tugend!«

Cleberg floh hier aus dem Zimmer, mit einer Bewegung von Angst gegen Frau G**. Adieu, beste Mariane, adieu. ––

[473]
93. Brief
Drey und neunzigster Brief
Rosalia an Mariane S**.

Ich bin seit vier Tagen allein. Ob ich schon von meinen Freunden und Bekanten mehr als sonst umgeben werde, so fühle ich doch, daß Cleberg, daß mein Oheim nicht da sind. Clebergs Abwesenheit macht mich einsam. O, ich liebe ihn, ich bin an ihn geheftet! – Gott sey Dank, daß mein langes Verwerfen und Wählen mich eine glückliche Verbindung finden ließ, mich, über mein Leben mit ihm, zu freuen; Schmerz über seine Abwesenheit, und Sehnsucht nach seiner Rückkunft zu fühlen! Ich habe noch dabey sichere Hofnung, daß er als ein noch edlerer Mann zurückkommen wird. –– Ich will Ihnen hier den Grund dazu schreiben. Mein Oheim hatte seit unsrer Zurückreise von C** öftere Unterredungen mit meinem Manne, über hundert Gegenstände, die sowohl den Fürsten, die Minister und die Räthe, als auch die Geschäfte und den Ton, in welchen sie geführt werden, angingen. [474] Manchmal war ich dabey, arbeitetete aber ruhig fort; doch freute michs innig, wenn ich meinen Cleberg Sachen sagen hörte, die den ganzen Beyfall meines Oheims erhielten, der ihn auf verschiedene Proben führte. – Zum Beyspiel: Es wäre wohl möglich, daß Cleberg einmal zu einem wichtigen Platz, und an den Hof berufen würde, wo er öfters den Fürsten, und täglich den Minister sehen, von vielen Leuten aufgesucht und beobachtet werden würde; – was wohl da sein Haupt- oder Grundplan wäre? –– »Rechtschaffenheit, unermüdeter Fleiß und undurchdringliche Verschlossenheit;« – antwortete er mit einem Gesicht und Ton voll Eifer.


»Die beyden erstern Eigenschaften kenn ich in Ihnen schon lange; aber, warum setzen Sie undurchdringliche Verschlossenheit dazu?«


»Weil ich an den Höfen, die ich sah, und an den Geschäftsführern, die ich beobachten konnte, so oft Ursach fand, zu glauben, daß ihr Ansehen und der gute Fortgang nützlicher Entwürfe, viel fester und gewisser gewesen seyn würden, wenn sie ihre Leidenschaften [475] und ihre Absichten verborgen gehalten hätten.« ––

»Es giebt aber Leidenschaften, die uns lieben oder fürchten machen; – und beyde weiß ein kluger Mann zu benutzen.« ––

»Nicht so gut, und nicht so lange, als er seine Gleichmüthigkeit benutzen wird. Denn durch unsre Leidenschaften werden Andre Meister über uns, und lenken sie, wie es ihr Eigennutz erfordert. – Und bey einem Manne, der nah an dem Fürsten ist, wird endlich die Furcht in Haß, und die Liebe in eine Vertraulichkeit verwandelt, die beyde das nothwendige Gewicht aufheben, und seiner Person und den Würkungen seiner Arbeiten schaden; so wie die Entdeckung seiner Absichten, bösartigen und neidischen Menschen den Anlaß giebt, das Beste zu verhindern, zu erschweren und zu untergraben.«

»Aber, wenn Sie so verschlossen sind, so wird sich auch niemand gegen Sie eröffnen; und das ist doch bey einem Manne, an dem Platze, wo ich Sie denke, eine sehr nöthige Sache.« ––

»Es wird einige Zeit dauern, bis ich Vertrauen habe. Aber wenn ich nun gegen [476] Alle gütig und höflich seyn werde von keinem nichts Nachtheiliges sage, und Jedem Gelegenheit gebe, sich gelten zu machen: Da soll mir schon Vertrauen zufliessen. – Behalten will ich es, indem ich niemals Jemand verrathen, oder in Verlegenheit bringen werde. Und dann, mein lieber Oheim,« fuhr er fort, »ob ich schon weis, daß man an Höfen weniger über Versäumniß seiner Pflichten, als über kleine Versäumnisse gegen gewisse Leute gestraft wird: so will ich Beydes verbinden, nichts Schädliches sagen, und nichts Ungerechtes thun.« ––

Mein Oheim faßte ihn bey der Hand, schüttelte sie freundlich, und sah ihm lächelnd ins Gesicht: »Lieber, junger Mann! wie schnell gingen Sie den Weg zur Größe der Seele, wenn diese schönen Vorsätze einst von Ihnen anhaltend ausgeführt würden!« ––

Andre Unterredungen müssen meinem Oheim noch besser gefallen haben, weil er endlich sagte: »Rosalia! Dein Cleberg hat mir die Freude gemacht, an ihm einen würdigen Gesellschafter zu einer Reise zu haben, die meinem Herzen angelegen ist. – Du mußt mir ihn acht Tage überlassen.« ––

[477] Sie denken wohl, daß ich nicht widerstrebte. Beyde reisten vergnügt ab, und heute früh erhielt ich einen Brief von Clebergen, von dem ich Ihnen das abschreiben will was Ihnen gefällig seyn kann: »Meine Reise ist eine reiche Erndte von Güte und Kenntnissen, die ich unserm Oheim verdanke. Nun weiß ich, wie es zuging, daß Du von Erde und Menschen so viel edle und richtige Begriffe sammletest. – Und weist Du, wohin ich reise? Ach, dahin, wo Du mit so viel Vergnügen warest, wo Du die Schweitzergebürge sahest, die so große Gefühle in Deiner Seele erweckten. – Morgen sind wir in Warthaußen; da soll ich Alles sehen, wo unser Oheim die besten Jahre verlebte. – Es ist eine dankbare Wallfarth,« sagte er, »zu der Quelle meines Glücks. Ich muß noch einmal, mich an dem Anblick ergözen. – Aber, er ist sehr nachdenkend dabey, unser guter Oheim.«


»Salie! ich war in Warthaußen, hatte aber das Glück nicht, Jemand von der Gräflichen Familie anzutreffen. – Sie sind in Loth- [«] [Anschlußfehler in der Vorlage]

[478] [480][»] noch wahnsinnig genug, den jezigen Grafen, oder den ehemaligen richten zu wollen.« – Und in Wahrheit, Rosalia, es ist Alles recht schön und lobenswerth eingerichtet, denn wir wurden überall umher geführt. – Aber, als wir von dem Schloß entfernt waren, und auch alle Gebäude, der so schön eingerichteten Landwirthschaft gesehen hatten, wurde unser theurer Oheim etwas still und tiefsinnig, beantwortete auch meine Ausrufungen, über die großen, edlen Anlagen, nur mit einen gerührten Blick. Ich wurde da eben so aufmerksam auf ihn, als ich es auf die Sachen war, die er mir wies. Wir kamen auf unserm Wege auf einen herrlichen Platz, wo man zwischen schönen Kornfeldern, in einer Allee von hochstämmigen Kirschbäumen, Schloß, Amthaus, Kornspeicher, Haushaltungs-Gebäude, Gemüsgarten, Waldung und Spaziergänge, mit Einem Blick übersehen kan. Da faßte er mich bey der Hand. – »Cleberg! all das große Schöne ist Arbeit zweyer verdienstvollen Väter des jetzigen Grafen! mögen Söhne und Enkel es mit so viel Vergnügen und Würde geniessen, als diese zwey Männer Größe des Geistes, und Menschenliebe besassen!« –

[480] [479]Mit einer Thräne der innigsten Empfindung im Auge und zusammengelegten Händen, sah er noch einmal sich um. –– »Ach, was für selige Tage lebt ich hier! – Himmel, segne ihn immer, den Wohnplatz, den der große Mann liebte und ohne Pralerey verschönerte.« ––

Dem Beamten, der bey uns war, und von dem er mir viel Gutes gesagt hatte, drückte er die Hand, und sagte dabey: »Sie haben ihn auch gekannt; – ehren Sie immer sein Andenken!« ––

Damit ging er, mit schnellen Schritten, einen, mit wildwachsenden Bäumen schön gedeckten Weg, den Berg hinunter, wo unser Wagen hielt, wir Beyde schweigend einstiegen, und eine Viertelstunde davon wieder Halte machten, und in eine Dorfkirche gingen, wo er mit dem Küster etwas sprach, der ihn dann auf einen Platz in dem Chor führte, auf den Boden wies und sagte: »Hier liegt der alte Graf.« – Ich möchte mein eigenes Gefühl und den Ausdruck beschreiben können, der nicht nur, in den Gesichtszügen, sondern in der ganzen Stellung unsers Oheims war, als er einige Minuten still [Anschlußfehler in der Vorlage, M.L.]

[479] [481][»] Euren Herrn und seine Söhne, mit dem Geist des Verstorbenen, wie er ihm seine Güter gab.«

Er schenkte dem Küster was, kniete sich schnell hin, küßte den Stein der die Gruft deckt. – »Diese Thräne des Danks und der Verehrung, ist Alles, was ich Dir geben kan«; –– sprach er mit äusserster Bewegung. – »Aber, so lang ein Tropfen Blut in mir wallet, wird das Andenken Deiner großen Eigenschaften, und Deiner Güte, Deinem L. R** heilig seyn!« ––

Dann stand er eilig auf, ging fort, und ich saß fast eine Stunde neben ihm, eh er ein Wort sagte. Endlich fing er an: »Nun ist mir wohl! – ich habe noch einmal den Ort gesehen, wo der Mann lebte, dem ich den Anbau meiner Talente, meines Charakters, und meines Glücks schuldig bin. Wär aber auch all dies nicht, so freute michs immer, in ihm einen wahren Edlen von Deutschland gekannt zu haben, der seinem Vaterlande, seinem Stande und jeder Stelle, die er bekleidete, Ehre machte.« – Nach einigem Schweigen fuhr er fort: »Wie viel Menschen- und Sachen-Kenntniß hab ich [481] bey ihm gelernt! – In meinen Papieren, Cleberg, werden Sie einst meine wichtigsten Erinnerungen von ihm finden. –– Ihre Kinder sollen sie einst lesen, und darin die Grundzüge eines deutschen, patriotischen Ministers sehen, der Feuer, Scharfsinn, Muth, Würde und strenge Gerechtigkeit, mit wahrer thätiger Güte des edlen Menschenfreundes vereinigte. – Welch ein Herr für seine Unterthanen! Ach, wie oft erinnre ich mich sein, wenn ich durch andre Gefilde reise und –– ach! Er, – und was Er war, ist nicht mehr!« ––

Hier schwieg er wieder lange, in Gedanken verhüllt; – endlich faßte er mich, mit einer Hand, und sagte ganz Ernst: »Ich weiß nicht, was für eine Würkung diese Reise und diese Scene auf Ihre Seele machen; – aber lassen Sie mich den Wunsch sagen, daß bey dem Grabmale dieses Mannes der große Borsatz in Ihnen bekräftigt werde, ein rechtschaffener, und um das gemeine Beste verdienter Mann zu werden! –– Es ist ein Beweis meiner Achtung und Liebe gewesen, daß ich Sie mit nahm. Nun sind meine Reisen zu Ende; ich will auch Ruhe und [482] Muse geniessen. Nur ein kleiner Plan sitzt noch in mir: Ich möchte bey dem Beamten in Mahnheim, ein Paar junge Leute in die Kost und Lehre bringen, eh sie auf Universitäten gingen, damit sie durch Uebung ihre Köpfe und Herzen thätig verwendeten, eh sie gelehrt würden. Ihr junger Itten taugt ganz vortreflich dazu; und dann weiß ich noch einen herrlichen Jungen, den ich mitgeben will. Das Ende meines Lebens sollte mir süß werden, wenn ich drey wackere, junge Männer gebildet hätte, und der Erste davon mich durch das daurende Glück meiner guten Nichte belohnte!« ––

»Salie! Du kennst das Herz, das so ganz Dein gehört; – Du kannst Dir das Gelübde denken, so ich Deinem Oheim ablegte; – und, Liebe! Du sollst erfahren, daß ich es niemals brechen werde.« ––

O Mariane! wie viel Wiedererinnerung hat dieser Brief von Cleberg in meine Seele gebracht! – Ich habe auch wieder Gelübde erneuert, von Allem was ich Edles und Gutes, in meinen Lebensplan bringen kan. – Es wär auch schrecklich und unverantwortlich, wenn ich, nach so vieler Gelegenheit die besten[483] Kenntnisse für Geist und Herz zu sammlen, nichts davon in meine Handlungen legen wollte! Was hülfe mirs alsdann, Sie zu kennen, von meinem Oheim erzogen zu seyn, so viel schätzbare Menschen gesehen zu haben? –– und meine Bücher? die stillen Lehrmeister, die Gefühle und Denken des Guten in mir erwekten.

Immer will ich Hochachtung verdienen, von Ihnen, Edelste, Beste; und von den unschäzbaren Freunden, die zerstreut von mir, auf dieser Erde wohnen, und denen mein, für Tugend und Verdienste so fühlbares Herz, Verehrung und Liebe gewidmet hat. ––

[484]
94. Brief
Vier und neunzigster Brief
Rosalia an Mariane.

Ach, Mariane! es ist gewiß nichts vollkommen, weder Glück noch Tugend. Ich erfahre beydes an mir selbst. Mein Cleberg und mein Oheim kamen vergnügt von ihrer Reise zurück; meine Freude sie wieder zu sehen, wurde durch ihre beyderseitigen Erzählungen von dem, was sie gesehen und gehöret, was mein Oheim an Clebergen lobte, und dieser von der Güte des Erstern rühmte, unendlich vervielfältigt, und ich wollte Ihnen Alles das recht schön, in meiner ersten Entzückung schreiben. – Aber da wurde mein Oheim krank, sehr krank, und ist noch so, daß ich seine Reise zum Grabe seines Wohlthäters, als eine Vorbedeutung seines eignen Todes ansehen kan. – Der Himmel und Sie kennen mein Herz genugsam, um die Aufrichtigkeit meiner Sorgfalt und Wünsche für die Erhaltung meines Oheims zu glauben. Aber, nun kam ich auf die Probe über mich selbst. – [485] Mein verehrungswerther Oheim fast ohne Hofnung zur Wiedergenesung krank, und meine arme van Guden ringt zu Wollinghof mit dem zerreissenden Gedanken, daß Pindorf wieder verheyrathet ist, und so gar mit seiner neuen Gemahlin eine Spazierreise nach Mahnheim gemacht hat. Hier ist das Zettelchen und der Brief, die ich beyde zugleich erhielt. – Wie nöthig wär es, meine arme Freundinn zu besuchen! Aber meinen treuen Pflegevater kann ich und darf ich nicht verlassen; da muß ich jedes andre Verlangen meiner Seele unterdrücken. – Mein Oheim hat ohnehin öfters vor Clebergen die van Guden als eine Schwärmerinn behandelt und etwas verächtlich von ihr gesprochen; sogar den Werth ihrer Gutthaten herabgesetzt, weil ihre widersinnige Liebe, wie er sie nannte, der Beweggrund dazu war. – Ich weiß wohl, daß ihr Wollinghof nur wegen der Nachbarschaft Pindorfs so lieb war; daß sie Hofnungen in ihrem Herzen ernährte; und die Bilder, Bücher und Geschenke für die Kinder waren bey ihr, was bey einem andern Frauenzimmer ausgesuchter Putz und übrige Anlockung sind. Sie hat auf die Würkung davon gerechnet; sie [486] kann nicht in Wollinghof bleiben: Pindorf und sie werden elend darüber. O, Zufall! was thust du! was zerstörst du auf so hundertfache Weise! ––

Es ist mir leid; mein guter Oheim tröstet mich, und dankt mir für Thränen und für Unruhe, die nicht für ihn allein sind. Cleberg will mich stärker und gelaßner haben, – und ach! der Himmel vergeb es mir, ich habe gewünscht, daß mein Oheim überwunden hätte und nicht mehr litte! – Es war aber nicht so ganz rein der Gedanke, daß er nicht mehr leiden möchte, sondern auch der, daß ich alsdann zur van Guden eilen könnte. – Sagen Sie, o meine Mariane! sagen Sie, kann ich mein Herz von den Vorwürfen befreyen, die ich mir darüber mache? – Hätten Sie, hätt ich selbst jemals gedacht, daß das Gefühl meiner Dankbarkeit, und meiner kindlichen Liebe für meinem so gütigen, liebreichen Oheim, bis zu diesem Grade unterbrochen werden könte! – Ach! liebe, liebe Freundin! und dann maße ich mir das Recht an, die Unvollkommenheiten Andrer zu beurtheilen, im Stillstande meiner herrschenden Leidenschaften Andre zu tadeln, die durch die erregte Unordnung in ihren [487] Gedanken und Gefühlen, etwas von der Richtschnur abweichen? ––

Mein Kummer über meinen Oheim, und die Beängstigung, welche ich über die van Guden bezeigte, machte Clebergen unruhig. Er umarmte mich und sagte mir so gütig, so gütig und so männlich dabey: »Liebe Rosalia! ich bete Sie wegen ihrer zärtlichen und starken Empfindungen an. Es war der Grund meiner Liebe und des Wunsches, mit dem Herzen der Einzigen mein Leben zuzubringen. – Aber, o meine theure Liebe! bemühen Sie sich, Alles, was Schicksal, was Folgen der Gesetze der Natur, und nothwendige Folgen erster Schritte, in Begebenheiten sind, mit ruhiger Unterwerfung und Muth zu tragen; sonst zittre ich, Sie und mein Glück nicht lange zu geniessen!« –

Ach, Mariane! mich dünkt, ich habe Muth für meine Leiden; aber für die von meinen Freunden habe ich keinen. Lehren Sie michs haben!

Zettelchen von Frau van Guden.

»Ich kann Ihnen, liebe Rosalia, auf Ihren letzten Brief nicht viel sagen. – Ich [488] bin sehr beschäftigt. – Wollinghof hat für mich eine ganz neue Aussicht bekommen. – Adieu.« ––

Großer Brief, zehn Tage nach dem Billet geschrieben.

Meine Freundin! ich athme wieder, aber meine Brust ist sehr, recht sehr abgemattet. – Es war zu arg, zu überfallend! – Ich werde Ihnen erzählen, wie Jemand der aus einem ruhig schwimmenden Boot durch das jähe Anstossen auf einen verborgnen Felsen, in die See stürzt, für Schrecken seine eigene Kräfte nicht gebrauchen kan, – und halb durch die Wellen selbst, halb durch mitleidige Hände an das Ufer gebracht wurde, noch in den nassen Kleidern zittert, und selbst seine Rettung noch nicht glauben kann. Das Aeusserste von meiner Vernunft und meinem Herzen ist geschehen. – Hofnung und Furcht, Zweifel und Ungewißheit, sind alle weit von mir! – O Rosalia! denken Sie sich, was ich Ihnen von Pindorf erzählte; denken Sie, was meine Liebe für ihn noch war, als ich von Ihnen reiste, seine Kinder zu besuchen und hier die Gegend zu sehen, von welcher er mit so vieler [489] Empfindung gesprochen hatte. – Mein Aufenthalt bey den Wellings. – Ach wie vermischt waren die Beweggründe! – Immer erkundigte ich mich von Zeit zu Zeit nach Herrn von Pindorf. –– Er reiste. – Die Kinder und ihre Aufseher wußten nicht viel von ihm, erhielten nur kleine Briefgen, worinn die Nachricht von seinem Wohlbefinden, und wiederholte Empfindungen für die gute Besorgung der Kinder war. Endlich hörten sie lange nichts, –– und dann auf einmal den Befehl, Alles recht schön zuzubereiten; er käme bald, und seine Frau Schwester mit ihm. Mein Herz klopfte, ja, Rosalia! es klopfte laut, stark bey dem Gedanken: Bald ist er in dieser Gegend! dort, dort wo ich die fernen Thurmspitzen sehe. – Ich wünschte den frühen Herbst, damit die Bäume ihre Blätter bald verlieren möchten, daß ich mehr von der Stadt W** sehen könnte. Wie bald sah ich mehr! – mehr, als ich tragen konnte! – O Rosalia, was sah, was fühlt ich vor zwölf Tagen, als ich Nachmittags in den Baumgarten gehen wollte und das Getrappel von Pferden hörte, aus dem Hofgitter sah und zwey Damen dem Haufe zuritten; ein schöner [490] [495]Mann nachsprengte, und mit der, mir durch die Seele tönenden Stimme, rief: »Das hier Wollinghof!« sagt ihr? – »des Gärtners, der in der zerfallnen Burg wohnt?« ––

Ich hörte die Antwort nicht, sondern eilte in mein Zimmer zurück, weiß aber nicht, wie ich hin kam. – Gott, – Pindorf! er! – edel, einnehmend, Alles, was seine Person ehmals mir war! –– dieses Gefühl war Rausch, und Taumel. –– Der Gedanke: zwey Damen mit ihm! war Schlag, betäubender Schlag. – Eine gewiß seine Schwester; – aber die Andre! was ist die? –– Dunkel erschien es in meiner Seele, das Bild einer zweyten Gemahlin Pindorfs, – aber ich wand mit Abscheu und Schmerz mich davon ab, und hing mit verwirrten Ideen und Empfindungen an ihm, – allein an ihm! – Ach Rosalia, Gott sey Dank, daß er vorbey ist, der Jammer, der mich zerreist! – es ist über alle Beschreibung. – Wer? o, wer schriebe, was ich fühlte, als Wolling halb ausser Athem zu mir kam: »Kommen Sie, meine Wohlthäterinn, Herr von Pindorf ist da! – ihm hab ich Ihre Güte zu danken. – Er hat seine Gemahlin, und Schwester [495] bey sich; –– mein Glück entzückt ihn.« ––

Ich weiß nicht; wie die Bewegungen unsrer Seele in gewissen Augenblicken sind. Aber ich glaube, so wie mir da war, so ist die Ruhe derer gewesen, die durch unbewegliche Anhänglichkeit an eine Parthey, ihr Leben auf dem Schavott verlohren, und noch Anreden hielten. ––

»Lieber Herr Wolling,« sagt ich mit Ruhe, »ich kann und ich will weder die Damen noch Herrn von Pindorf sehen, niemals, mein Freund, – niemals! – – Ich bitte Ihn, sag Er, daß ich Niemand sehe. Weise Er ihnen Alles; – sag Er alles was Er will, nur nicht viel von mir. Mein altes Schlafzimmer soll aber Niemand sehen, als Herr von Pindorf, nur er!« ––

Wolling faltete seine Hände, sah mich an: »O Gott! was seh, was errath ich erst jetzt!« Ich reichte ihm freundlich die Hand. –– »Es ist gut so, lieber Herr Wolling. –– Sorg Er für unsre Gäste; – hernach soll Er Alles, was ich hier verborgen habe, von mir hören.« – Er sah fest und wehmüthig [496] mich an: »Ach Sie! ich lasse Sie Gott, dessen edelstes Geschöpf Sie sind.« ––


Er ging. – Was ich that, weiß ich nicht; aber ich war gewiß elend, unbegreiflich elend. Beynah zwey Tage fragte ich gar nicht und Wolling sagte nichts, aber er war tiefsinnig und traurig, seine Frau ängstlich. – Die Kinder hatten kaum das Herz zu sprechen; – meine Meta blickte mit thränendem, gesenktem Auge nach mir; – das Gesinde ging niedergeschlagen herum. – Ich hatte Trost nöthig: das allgemeine Leidwesen drückte mich noch mehr! – Tugend wohnte hier, übende zufriedne Tugend; – und meine aufs neue erweckte Leidenschaft störte in all diesen unschuldigen, guten Herzen, den Genuß ihrer Freude und ihres schuldlosen Lebens? – Ach, wie dank ich Gott für die lebhafte Empfindung die er mir für Recht und Wohl meines Nächsten gab, weil dieses immer meine Seele und mein Leben rettete. – Ich ertrug den Gedanken nicht, den Ausdruck des Wohls und der Freude bey meinen Wollingen erloschen zu sehen, und bat ihn den zweyten Tag Abends, mir zu sagen, warum er so traurig mich anblicke, [497] und selbst seit Herrn von Pindorfs Besuche traurig sey? ––

Er antwortete mit Bewegung: »Ach, Sie! – Er! – die mich und meine Lotte so selig machten, Sie Beyde so unaussprechlich elend zu sehen, das verbittert mein ganzes Leben!« ––

»Wie so, Herr Wolling? – Bey mir ist nun Alles Ruhe. – Ich liebte Pindorfen, so lang ich ihn kenne; – ich wünschte, ich hofte ihn; – das Schicksal wollte es nicht. Die Vorsicht segne ihn, auf immer!« ––

»Ach! dieser Segen kommt zu spat, – er hilft ihm nichts mehr.« –– »O, Herr Wolling was will das sagen? – das muß ich wissen! – wie weiß Er das?«

»Aus dem Jammer, aus dem Wahnsinn, der ihn befiel, als er Ihr Zimmer und Ihre Zeichnungen erblickte. – Blaß und betroffen sank er auf einen Stuhl, nahm meine Hand: Wolling! wo ist die Person, die diese Zeichnungen machte?« sagte er. ––

»Sie wohnt in meinem Hauß'.«

»Hier; in Wollinghof!« ––

»Ja, seit zwey Jahren; und ihr hab ich all mein Glück zu danken. Sie hatten ihr [498] in England von uns gesprochen; sie suchte Sie auf, und wollte Ihre Rückkunft bey uns erwarten.« ––

»Meine Rückkunft erwarten! – o, van Guden! wie bin ich verwickelt!« er schlug sich mit beyden Händen vor den Kopf. »Vor drey Monaten hätt ich noch glücklich seyn können!«

Nachdem mußte ich ihm sagen, wie Sie zu uns gekommen waren? – Was Sie bisher gethan, und wie Sie leben. – »Wohnte Sie in diesem Zimmer?« – –

»Ja, bis das Haus gebaut war:« – Er »hatte sich, während ich redte, auf den kleinen Tisch gesezt. Endlich stand er auf, betrachtete mit thränenden Augen den Platz, wo ich ihm gesagt, daß Ihr Klavier gestanden, blickte auf Ihr simples Bettgen und ging nah an die Wand, wo Ihre Zeichnungen von Rom und England sind; legte seinen Kopf an eins, und breitete beyde Arme über die andern aus. – Nach wenig Augenblicken warf er sich auf den Boden, küßte die Schwelle Ihres Schlafzimmers; – – »Wolling! sagen Sie dem Engel, daß ich mit Todesraserey ihre Fußstapfen küßte.« – [499] »Hielt sich dann einen Moment auf dem kleinen Altare, und als ihn die Damen so blaß und verstellt sahen, sagte er, es wäre ein Anstoß von Schwindel, weil er zu hoch gestiegen sey.« – –

Des andern Tages war er wieder da, in aller Frühe. Wolling mußte ihn in mein altes Zimmer führen. Dort erzählte er ihm Alles, von sich und mir; – wehklagte, daß er mich nicht mehr in Holland gefunden, verwünschte sich und seine Schwester, die ihn wegen der Schulden, in die sein Garten und Hausbau ihn gestürzt, zu einer reichen Heyrath übertaumelt habe; – daß schon meine Geschenke an seine Kinder sein Herz zerrissen hätten. – Nun wünscht er, noch einmal mich zu sehen, und in meinem Zimmer zu sterben.

Verzeihen Sie, Rosalia! aber ich weinte sehr bey dieser Erzählung, und das war glücklich; – denn ich hatte noch nicht geweint. Mir wurde leichter – und ich sagte Wolling meine Besorgniß, daß Pindorf mir auflauren möchte; daß ich ihn noch nicht sehen könnte, und auch an seiner Frau, die ihn liebte, keinen Raub begehen wollte. Ach! wenn sie edel ist, wie Amalia von T** gegen das [500] Fräulein von Essen war: – so könnte diese Nachbarschaft noch glücklich werden. Ich möchte seine Kinder erziehen, Herzens Mutter an diesen werden. Er kann für die sorgen, welche seine zweyte Frau ihm geben wird. – Aber ich kann ihn noch lange, lange nicht sehen. Doch bin ich heiter, und meine Wollinge auch.

Rosalia! fühlen Sie nicht, wie glücklich Sie bey dem Loose Ihres Lebens sind? –– Segnen Sie, o segnen Sie die Hand, die Sie leitete, und mit dem Beyfall der ganzen Welt an das Ziel Ihrer Bestimmung führte, Gattinn, – Freundinn und Mutter zu werden. – Nicht alle Ihre Tage werden heiter seyn. – Aber das Zeugniß erfüllter Pflichten in ihrem Herzen; das Zeugniß derer, die Sie handeln sehen, wie süße Beruhigung gießt dies über jede Bekümmerniß des Lebens aus! glauben Sie, ausserordentliches Glück, ausserordentliches Schicksal, haben eisernes Gewicht, das oft zu Boden drückt! – Aber ich will mich zur Rechenschaft ziehen, über jede Kenntniß, jede Erfahrung, und jeden Theil meines Wohlergehens; und will nicht mehr eigensinnig, nicht mehr undankbar seyn. – Aber [501] theuer, – sehr theuer bezahl ich Klugheit und meine Ruhe! ––


Rosalia! Morgen, morgen seh ich ihn! Seine Ruhe wills. –– Wolling soll Zeuge seyn. –– Ich will ihn bey der alten Hütte sehen am Bogen, wo man das ganze Thal vor sich hat, – auf dem Platze, wo Wolling den edlen Muth hatte, seiner Lotte zu entsagen.

[502]

Dritter Teil

95. Brief
Fünf und neunzigster Brief

Sie ist vorbey; meine Unterredung mit Pindorf! – Sie ist vorbey; und mit ihr alles Wünschen, alles Hoffen so vieler Jahre. – Aber ich habe meine Ruhe wieder, und diese ist doch das größte Glück, des müde gelaufenen Menschen. – Ich will Sie nicht mit der Erzählung alles dessen plagen, was noch seit seiner ersten Erscheinung auf meinem Berg, durch den immer vor mir schwebenden schwarzen und niederdrückenden Gedanken seines zweyten und gänzlichen [3] Verlustes, in meinem Geist und Herzen vorging. Es kostet viel, sich von der Idee seines Glücks, seines selbst geschaffenen Glücks loszuwinden! Ich will aufrichtig seyn und Ihnen auch darüber alles sagen, so wie ich bisher gethan habe.

Es war mir lange unmöglich, an eine Unterredung mit Pindorf zu denken; mir schauderte immer davor; aber Wollings Abschilderungen des zunehmenden Weh und Kummers von Pindorf, und die Betrachtung, daß er auch beynahe Nichts, von aller meiner sonderbaren Zärtlichkeit für ihn gewußt habe, – dieß bewog mich endlich seiner Ruhe zu Liebe, und auch der Meinigen, wäre sie auch durchs Leiden zu erringen, vor zehn Tagen zu dem Entschluß, ihn zu sprechen. – Er wünschte, daß es in meiner alten kleinen Wohnung, zwischen den Schloßmauren seyn möchte. Aber, das konnte ich nicht; die vielfache Abbildung seiner Person, die die beyden Kämmerchen ringsum ganz bekleiden; die Aussicht auf die Stadt W; – die Erinnerung jedes Seufzers um ihn; alle das wäre mir zu nahe gewesen und hätte mich vielleicht zu sehr erweicht – oder auch zu einer bittern Empörung gegen ihn [4] gebracht; und beydes wollte ich vermeiden. Seine erneuerte Zärtlichkeit anfachen, und die meinige nähren, wäre eine Verletzung der heiligsten Pflichten gewesen; und dann schien mir der freye Himmel, der von der Moosbank an den Ruinen des Thurms zu sehen ist, und die weite Aussicht, auf die schöne Welt Gottes, etwas Stärkendes für meinen Geist, und auch viel Besänftigendes für die Leiden meines Herzens zu haben. Er liesse sich alles gefallen, was ich wollte, wenn er mich nur sprechen könnte, sagte er zu Wolling, und blieb denselben Abend in meinem alten Zimmer, ohne daß ich es wußte. Morgens ging ich hinaus. O, wie oft wechselte Muth und Muthlosigkeit bey mir ab! – Wie beklemmt wurde mein Herz, als ich ihn von der Seite auf der Moosbank erblickte! Wolling war mit mir gegangen; ich verdoppelte aber meine Schritte in dem Augenblick, da ich am meisten litte, um bald am Ende aller dieser Quaal zu seyn. Das schnelle Gehen machte mich beängstigt; ich blieb auf Einmal stehen, und wurde, da ich Wolling ansahe, Thränen in seinem männlichen Auge gewahr, da er einen Arm gegen mich, zu meiner Unterstützung ausstreckte, und ich ihn ablehnte, [5] meinen Kopf zum Himmel erhob, und tief Athem hohlte. – Pindorf zu gleicher Zeit uns erblickte, aufstund, aber wieder auf die Bank zurück fiel – ach Gott! rief Wolling, dieser Boden ist also zu lauter Schmerzen bestimmt!

Ich eilte itzt Pindorf entgegen, der sich auf einen Arm gegen die Mauer stützte. Wie edel, o, wie höchst edel war diese Stellung! und wie viel vermehrte sie meine Uebel. Wolling blieb zurück; ich faßte mich, so viel ich konnte, nahm Pindorfs matte, da liegende, eine Hand; setzte mich neben ihn, konnte aber nicht sprechen, sondern blickte ihn an, mit Augen voll Thränen. Schnell wandte er sich, und faßte nun meine Hand in seine Beyden, ließ seinen Kopf darauf sinken, seufzte und weinte dabey. Ich unterbrach Ihn lange nicht, weder durch eine Bewegung meiner Hand, noch durch einen Laut meiner Stimme. Ich war froh, die ersten Augenblicke so vorüber gehen zu sehen. Endlich legte ich meine freye Hand auf seinen Arm:

Theurer Pindorf! fassen Sie sich: Schonen Sie Ihre arme van Guden!

[6] Meine arme van Guden! rief er aus, indem er seine beyden Hände faltete, keine Thräne mehr in seinen Augen, sondern nur noch einen zitternden Tropfen auf der schnell glühenden Wange; wobey er fest auf mich blickte. Aber seine etwas erhabene Arme senkten sich, da ich ihn mit vieler Wehmuth ansah und zum Glück die Kraft hatte, ihm zu sagen: Ja, ich werde arm seyn, wenn ich Sie unglücklich sehe; wenn nach so vielen Jahren, mein Anblick, der Ihnen so werth war, Sie nun Thränen kostet –

O van Guden! was soll ich von alle meinem Elende sagen? meinem unaussprechlichen Elende!

Sagen Sie alles, was Sie wollen, was Ihr Herz erleichtern kann. Es lebt Niemand (sagte ich mit Thränen, und mit Erhebung seiner Hand an meine Brust) Niemand der mehr Antheil an Ihnen nimmt, als ihre Freundinn van Guden!

Freundinn van Guden! wiederhohlte er, mit einem sonderbaren Tone, und schwieg wieder lange. – Endlich fing er an:

Ich kann unter diesem Namen nicht mit Ihnen reden; ich kann nicht; ich muß Sie [7] Sophie Hafen nennen dürfen, um die Frage zu thun; an deren Beantwortung mein Leben hängt –

Ach, Rosalia; wie sonderbar ist das Herz der Menschen. Er konnte mich nicht mit dem Namen eines Mannes denken, dem ich verwählt gewesen war, und dachte nicht daran, daß ich ihm als Mann von zwey Frauen nach einander vor mich sehen mußte! – Schreiben uns die Männer weniger Feinheit im Lieben, oder weniger Ansprüche zu?

Nennen Sie mich immer ganz freymüthig Sophie Hafen, denn ich bin's, ob ich schon van Guden heisse! –

Rosalia! dieß sagte ich! ich, die so klug seyn konnte; die so edelmüthig, so feindenkend zu seyn glaubte! O meine Freundin! auf wie vielerley Art führen uns Leidenschaft und Eigenliebe irr und übel. Pindorf war, glücklicher Weise, gar nicht gefaßt genug, um diese Unvorsichtigkeit zu bemerken, aber ich fühlte sie so lebhaft, daß ich mir gleich die strengste Beobachtung meiner selbst vorschrieb, – dem verwittweten Pindorf hätte ich dieses kaum sagen dürfen, und ich sagte es dem, der eine zweyte Gemahlin hatte. – Ach, Rosalia! [8] wie demüthig bin ich seit diesem unwürdigen Geschwätz.

Pindorf war aufgestanden, blickte voll Liebe mich an; griff mit seinen beyden Händen nach den meinen.

Sagen Sie, Sophie, sagen Sie! würden Sie mich jedem andern Mann vorgezogen haben, wenn ich so glücklich gewesen wäre, Sie, in den Tagen meiner Freyheit anzutreffen. –

Ja, Pindorf! ich hätte Sie vorgezogen, der ganzen Welt vorgezogen! –

Er drückte meine Hände einen Moment, ließ sie gehen, wandte sich um, und legte sich auf seine verschlungene Arme, mit dem Gesicht über die abgefallene Mauer hin. Ich gerieth darüber in die äusserste Verlegenheit; schwieg auch wieder eine Zeitlang, und rief endlich:

Pindorf! kommen Sie! lehnen Sie sich auf den Arm der Freundschaft und Tugend! Sie sollen beyde unzertrennt in meiner Seele finden. Gönnen Sie mir das Glück, etwas über Sie zu vermögen!

Er antwortete nicht, sondern drückte seinen Kopf fester auf seine Arme – Er jammerte mich, und ich dachte auf ein Mittel – seinem [9] Schmerz eine andre Wendung zu geben. Ach, warum haben Sie mich sehen wollen! sagte ich. Hier richtete er sich auf.

O, mißgönnen Sie mir dieses Glück nicht! Bereuen Sie es nicht! Denken Sie, daß es Alles ist, was ich von meiner Liebe für Sie habe!

Er sah mich hier unaussprechlich traurig an, und rang die Hände. Nach einigem Schweigen sagte er wieder: – Was ich ietzt leide, ist viel, viel bitterer, als das, was ich in Brüssel bey meiner Trennung empfand, nachdem ich so viele Monate lang alle Reitze Ihres Geists und der Güte und Anmuth Ihres Umgangs genossen hatte. – Auch der Schmerz, den ich einmal in Holland fühlte, als ich von ungefähr in van Gudens botanischem Garten herum ging, Sie erblickte, und von dem Glücke reden hörte, das Sie auf alle Menschen ergossen, die sich Ihnen näherten: – Auch dieser Schmerz war lange nicht so wüthend, wie der, so mir ietzo das Leben kosten wird – Sie liebten mich Sophie! Sie liebten mich, Sie hätten mich vorgezogen. Ach, ich hofte diese Antwort; ich hofte sie, nach den Merkmalen von zärtlicher Erinnerung an [10] mich, die ich hier fand. Er zeigte da auf die Fenster meiner Zimmerchen im alten Schlosse. Diese Antwort macht mich aber elender, als ich war.

Er war weit davon, zu denken, was ich da fühlte, als während seiner Rede, das Bild von seligen Tagen vor mir stund, die ich mit dem Edlen, Guten würde verlebt haben. Ich achtete ihn aber bedaurungswürdiger, als mich, und suchte auch nur für seine Beruhigung zu sorgen; und glaubte, daß, da er schon so lang hätte reden können, möge sein Herz etwas erleichtert seyn. Ich wollte diese Beobachtung nutzen. Ich war der Tugend und Feinheit des Gefühls einen Ersatz schuldig, wegen meiner Unbesonnenheit, und nahm gleich diesen Anlaß dazu, ihm zu sagen.

Lieber Pindorf, ich kenne das Hülfsmittel, das mich und Sie beydemal rettete, und glücklich erhielte. Es hat noch seine Kraft, und muß sie an unsern Herzen beweisen; denn wir lieben die Tugend viel zu aufrichtig, um Ihr nicht in allen Gelegenheiten zu folgen. –

Bey unserer Ersten Trennung wurden wir beyde durch das hohe Gefühl des Gedankens unterstützt, daß Sie Ihren Pflichten gegen [11] Ihre Eltern, und Ihrem, einer liebenswürdigen Braut gegebenen Worte getreu blieben. Süsser, innerer Friede heilte die Wunden unserer Herzen; ich sah, ich erkannte Sie auch im botanischen Garten; ich beobachtete alle Empfindung der Zärtlichkeit, die der junge Medicus in Ihnen erregte, und fühlte auch alle meine Gesinnungen für Sie erweckt, die Zufälle und Umstände hatten einschlafen lassen. – Ich kämpfte mit mir selbst, denn ich war nur vier Schritte von Ihnen entfernt; und auch da kam die Tugend der Verehrung Ihrer und meiner Pflichten, uns zu Hülfe. – Sie rissen sich loß, gingen eilend weg, und ich rief nicht, gab nicht das geringste Zeichen, daß ich in der Nähe war, ob ich schon die innigste Begierde hatte, Etwas von Ihren Umständen, und der Ursache Ihrer Reise nach Holland zu wissen. – Ich bin sicher, daß das Zeugniß Ihres Herzens recht gethan zu haben, Sie für dieses zweyte Opfer Ihrer Wünsche, eben so sehr belohnt haben wird, als das Meinige beruhigt wurde, wenn ich an meinen Sieg dachte. –

Ich schwieg hier etwas .... Nun! mein theurer Freund, jetzo –

[12] Rosalia! ich weinte und konnte nicht gleich fortreden; ich hatte meine Hand gegen ihn bewegt, er faßte sie, bog sie gegen mich, und legte seine Stirne auf die meinige. Sanft, aber häufig flossen Zähren über meine Wangen auf meine schwarze taffente Schürze. Er zitterte etwas, weinte dann auch still, und die abfallenden Thränen seiner Augen mischten sich mit den meinigen; er bemerkte es, umfaßte mich mit dem einen Arme und druckte mich mit einen Seufzer an seine Brust.

Sophie! unsere Thränen vereinigen sich!

Siehe! sagte er, da er zugleich sich aufrichtete, und auf einen Tropfen deutete, der von meinem Gesicht auf einer Falte meiner Schürze hinfloß und eine Zähre, die von seinem Aug geträufelt war auffaßte. Mit schmachtenden Blicken sah er auf mich, seine Lippen bebten; es kam Angst und Betäubung in meine Seele, aber mein guter Genius umschwebte mich, und ließ mich ihm sagen –

Ja, Pindorf! und sie sollen vereint der edelmüthigen Entsagung unserer Liebe geweyht seyn! Lassen Sie mich in Ihnen einen verehrungswürdigen Freund besitzen, so wie ich Ihnen – Ihrer und meiner Liebe, [13] verspreche, daß ich Ihre Hochachtung bis in den letzten Augenblick meines Lebens verdienen will.

Ich hatte eine seiner Hände mit meinen beyden gefaßt und an mein Herz gedrückt. Meine Seele war erhaben und stark, so sehr sie auch mit Zärtlichkeit angefüllt schien.

Ich sah umher und sagte: Himmel und Erde sind Zeugen dieses neuen edlen Bundes unserer Seelen; Lassen Sie beyde, für jeden künftigen Tag, Zeugen von der Wahrheit unserer Tugend seyn!

Hier umschlang er meinen Arm und rufte: entsagen soll ich, Ihrer und meiner Liebe, in dem Augenblicke des Wiedersehens? ach, Sophie, ich ertrage diese Härte nicht! Da stund ich auf. – So muß ich fort, Pindorf, und darf auch in Zukunft Sie nicht sehen, und was mich am meisten grämt, ich werde auch einen süssen Entwurf meines Herzens aufgeben müssen. Schnell fragte er: – was! – was für einen süssen Entwurf! habe ich Antheil daran! wird das Süsse auch für mich Armen seyn? – Ich möchte Ihre Tochter erziehen, wenn Sie und Ihre Gemahlinn mir das liebe Kind anvertrauen wollten.

[14] Es freuete mich, das Vaterliebe allein ihn zu meinen Füssen legte, denn er kniete vor mir, umfaßte mich – O Sophie! ein gütiger Engel hat diesen Gedanken in Ihr Herz gegeben; meine Frau kann die arme Henriette ohnedem nicht leiden, und mein Kind wird in diesen Armen seyn – Ach um wie viel glücklicher als ihr Vater –

Stumm hüllte er seinen Kopf in meine Schürze und bat mich endlich, sie ihm zuschenken. Ich weigerte mich lang, aber müßte dennoch nachgeben. Mit Entzücken küßte er sie auf den Stellen, wo er dachte, daß sie von meinen Thränen benetzt gewesen und legte sie zusammengewickelt auf seine Brust:

Ihre Thränen – die Meinige –

Ich unterbrach ihn mit der Frage: werden Sie mir Henrietten bald geben?

Ach, wenn Sie wollen! Ich will also in acht Tagen kommen, um sie abzuholen, ich stund auf und setzte hinzu, versprechen Sie mir, daß ich Sie mit einem ruhigen Herzen finden werde, sorgen Sie für Ihre Gesundheit und auch, ich bitte Sie, für das Wohl meiner Tage.

[15] Ich küßte ihn auf die Stirne mit einem: Gott seegne Sie und mich! nach diesem ging ich nach Hause in den Wald, und Wolling begleitete Pindorf den Berg hinunter, wo seine Pferde hielten. An Kräften des Geists und Körpers erschöpft, blieb ich halb betäubt unter der kleinen Wallnußlaube. Meine Wollinge wurden ängstig und suchten mit Meta mich auf. Still folgte ich ihnen; mußte mich aber zu Bette legen, und ich bat mich allein zu lassen, um mich satt zu weinen, zu kämpfen und meine Entschlüsse mit mir selbst zu befestigen. Hin ist er; hin auf immer! – Ach Rosalia! –

[16]
96. Brief
Sechs und neunzigster Brief
Van Guden Fortsetzung.

Sie haben lange nichts von mir gehört, schreiben Sie; Sie sind darüber unruhig und bekümmert. Dank sey Ihnen, für Ihre immer gleich daurende Freundschaft, und mein langes Schweigen vergeben Sie mir!

Den ersten dieser Briefe hätte ich schon vor zwölf Tagen abschicken können; aber, da er Ihre Neugierde nur gereitzt, und nicht ganz befriedigt hätte, so dachte ich, daß Sie eher mein längeres Schweigen, als die Ungeduld nach dem Ausgang meiner Reise, um Henriette Pindorf ertragen würden; und heute kann ich Ihnen von allem genaue Rechenschaft geben. – Pindorf sah nicht gerne, daß ich selbst in sein Haus kommen, und die Kleine abholen wollte; aber ich hatte vielerley Ursachen, darauf zu bestehen. Ich wollte ihm beweisen, daß reine, ruhige Freundschaft in meiner Seele Platz genommen habe. Ich [17] wollte mir die Achtung seiner Frau und seiner Schwester erwerben, um in dieser Achtung Stärke gegen mich selbst und gegen Pindorf zu finden: weil der Entwurf, seine Tochter zu erziehen, einen großen Ueberrest von Anhänglichkeit für ihn zeigte, und er es gegen Wolling mit vieler Freude bemerkt hatte. Dann wollte ich auch seine Schwester besonders sehen, die, wie ich aus Ihres Clebergs Briefe wußte, so viel Gewalt über seinen Verstand und Neigungen ausübte. Und, meine theure Rosalia! was war das Ende alle dieses Nachdenkens und Ueberlegens? Die Ueberzeugung, daß Eigenliebe mich elend gemacht habe, und Eigenliebe mich rettete. Ich weiß, daß Sie diese Ausdrücke von mir nicht gern hören, weil Sie glauben, es sey der Person, die Sie so sehr schätzen, unanständig und nachtheilig: aber, lassen Sie mich immer jede Wendung der Worte zu meinen Ideen gebrauchen, weil auch in den Ausdrücken derer wir uns bedienen, so viel Trost und Unterstützung liegt; und dann will ich Ihnen auch durch die offenherzige Anzeige meines Empfindens und Denkens in diesem zärtlichen Falle einen kleinen Maaßstab geben, nach welchem Sie die [18] Handlungen einer gewissen Gattung Sonderlinge berechnen und beobachten können.

Ich ließ in meinem großen Zimmer, das Sie kennen, auf der Seite gegen das Ihrige einen Abschnitt machen, wo ich für Henriette Pindorf eine Bettstelle, und zwey kleine Cabinette anordnete; denn sie soll Tag und Nacht um mich, und unter meinen Augen seyn; und dann ging ich vor vier Tagen mit Wolling in meinem simplen, aber sehr schönen englischen Reisewagen, ganz früh nach Pindorfs Landgut ab, um dort zu essen und Abends zeitlich wieder hier zu seyn; wo, durch unsere Bauren und Wollings Kinder, ein kleines Willkomms-Fest, für Henriette Pindorf veranstaltet war. – Meine weiß seidene, ganz englische Kleidung, mit Hut, Halstuch, Schürze und Manschetten von den feinsten Spitzen besetzt; die großen einfachen Brillanten meiner Ohrringe; die schönen Schnüre Perlen um meinen Hals und Hände, die auch durch Brillanten geschlossen werden, mußten mir, bey den Alltagsseelen, deren Verdienste und Glückseligkeit, am äusserlichem Anschein klebt, mehr Gewicht geben, als Weisheit und Güte in ihrem vollen Glanz nicht gethan hätten. Wolling hatte in [19] einem braunen Kleide vom feinsten Tuche, glatter Wäsche und seiner schönen muthigen Gestalt ein herrliches Ansehen, unser Knecht als Kutscher, und der Gärtner als Bedienter, in guten staubfarbenen Röcken mit gegossenen silbernen Knöpfen, heitern und gesunden Gesichtern zeigten auch von dem Wohlstande, der zu Wollinghof herrschte. – Die immer gleich fliessenden Tage, die einfache Nahrung, und balsamische Luft auf unserm Berge haben dieß, was Ihnen und Ihrem Cleberg das äusserliche Einnehmende meiner Person zu seyn dünkte, gar gut unterhalten; nur, daß mein innerer Kummer eine feine Blässe über meine Wangen goß, die mir auch, bey der wenigen Munterkeit in Pindorf, recht gut stund; wo beyde Damen ganz unmäßig roth geschminkt waren.

Sie wissen, daß ich den ganzen Brief Ihres Clebergs abgeschrieben habe, welcher das Gemählde von Ihrer Reise nach W. und dem Pindorfischen Garten enthält. Der Weg von Wollinghof führt gerade nach dem alten Wohnhaus und Baurenhof zu, wo wir, da es noch sehr früh war, abstiegen, etwas Milch aßen und alles betrachteten; endlich in den Lustgarten [20] hinüber gingen, wo ich in der That alles so fand, wie ich es aus dem mitgetheilten Briefe in meinem Gedächtniß behalten hatte. Die ganze Anlage ist in einem edlen, großen Geschmack; und diese mächtige Uebereinstimmung in Ideen des Schönen und Ergötzenden wirkte stark auf meine Seele. Vorbedeutung dieses Eindrucks hätte mich immer zurückgehalten, diesen Garten zu sehen, und nun fühlte ich zu spät, daß es besser gewesen wäre, wenn ich mich diesen Empfindungen, während der Abwesenheit von Pindorf ausgesetzt hätte, als in der Zeit, wo ich ihn zugleich sehen mußte. Ich sagte es Wolling; der mir antwortete, daß er dieses vermuthet habe; doch wäre der Zufall sehr vortheilhaft, daß die erste Aufwallung dieser Gefühle in der Zeit unsers einsamen Herumwanderns entstünde: weil nun das Ueberfliessende ausströmen könnte, und er die Stärke meiner Seele zu gut kenne, um wegen meiner Beruhigung in Sorgen zu seyn. Er hatte recht; dazu kam auch, daß mir an dem Badhaus etwas mißfiel, und sicher unterbrach dieses die Stärke meiner zu zärtlichen Erinnerungen und Vorstellungen, denn ich ging von da an leichter umher, bis in den[21] großen grünen Saal, wo wir uns setzten und die Landschaft mit dem glücklichen Gedanken des Wasserfalls und den größten Theil des Hauses und Parterre betrachteten; unterdessen daß der Bauerjunge, den wir mitgenommen hatten, uns meldete, und die Antwort zurück bringen sollte. Auf einmal sah ich die Kinder, mit einem neuen Hofmeister und einer Wärterinn die Stufen des untern Saals herunter kommen und der Allee zu gehen. Alle drey seit den zwey Jahren viel gewachsen; der jüngere Sohn hüpfend, und bald mit diesem, bald mit jenen schwätzend; der ältere aber führte Henrietten, und schien sie immer an ihrem starken Gehen verhindern zu wollen. Mein Herz pochte wieder laut: Kinder vom Pindorf!

Ich ging ihnen in die halbe Allee entgegen und sah mit Bedauren den überladenen Kopfputz der artigen Henriette, die unter einer Last von Federn, Bändern, Flor und welschen Blumen, ihr kleines Köpfgen schwankend bewegte, einen Reifrock, eine Schleppe am Kleide und Blonden und Falbala die Menge an Hals und Armen hatte. Die Söhne, in steifen gestickten Kleidern, sehr frisirt und gepudert, Degen an der Seite und die Hüte mit [22] Federn unterm Arm. So bald der Herr Hofmeister uns erblickte, durfte Junker Fritz nicht mehr springen, sondern mußte stattlich nach Tanzmeister Vorschrift einhertreten, und dem Aeltern gab er mit der einen Ecke seines Huts einige Stöße in die Seite und an den Arm, der mit seiner Hand gegen Henrietten, die er immer führte ausgestreckt war, die er erst zurückzog, als sie in der Entfernung von zehn Schritten still stehen, und sehr künstliche Verbeugungen machen mußten, wo die Wärterin sorgfältig ihre Hände auf Henriettens Achseln legte, und sie damit zur gehörigen Tiefe des Knieebeugens hinunter zu drücken, und an dem zu schnellen Erheben zu hindern, daß ich daraus bemerkte, weil das gute Kind, eine verdrüßliche Mine, und die Wärterinn, eine beherrschende Bewegung ihrer Hände machte und das Niederdrücken der Achseln wiederholte.

Gut; dachte ich, liebes Mädchen, wie froh wirst du unter meinen zärtlichen Händen seyn, die dich nichts als den sanften Zug der Liebe werden fühlen lassen!

Ich eilte mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, blickte alle mit der Frage an: –

Kennen Sie mich noch?

[23] Der Kleine rief, mit einem Kratzfuß dabey: O ja, recht gut! Henriette, deren Arme, in dem Augenblick freygelassen wurden, lief mit Vertrauen auf mich zu; wäre aber, da im Laufen ihr langer Rock von der Seite herunter hing, vor mich hingefallen, wenn ich sie nicht aufgefaßt und an mich gedrückt hätte. Ich wurde bewegt; eine Thräne war in meinem Auge. Das holde Mädchen sah sie, und machte auch ein traurigs Gesichtgen dazu, sagte aber zugleich:

Liebe Madame! ich geh recht gern mit Ihnen, fragen Sie nur Papa und Mama, und die gnädige Frau Tante; ich habe gar nicht geweint, wie es der Papa sagte, ich freute mich gleich!

Ihre kleine Hand lag da vertraut auf meinem Halse, und treuherzig hatte sie dieses mir ganz nahe zugeredt.

Mein Bruder Gustav, sagte sie mir leise ins Ohr, gienge auch gern mit!

Ich beobachtete im nämlichen Augenblick, daß der arme Knabe wieder einen Kniff von seinem Hofmeister bekam, weil er sich von uns weggewendet hatte, und zu gleicher Zeit zupfte die Wärterinn an der Henriette: pfui! Sie [24] müssen die Hand nicht so grob auf die Madame legen – sie wird denken, das man Sie gar keine Manieren gelernt hätte! Wenn die Fräulein so schön geputzt sind, so müssen sie artig seyn! sagt die gnädige Tante, das arme Kind zog sich zurück und legte ihre Aermchen wieder nett an ihr enggeschnürtes Leibchen an; die Magd ordnete alle Fällgen und drehte das gedultige Mädchen so lange herum, bis sie wieder ganz die Puppe war, zu der man sie bisher erzogen hatte. Ein paarmal guckte sie nach mir, und ich lächelte ihr das Versprechen zu, daß sie von alle dem Zwange befreyet seyn würde. Der Hofmeister sagte mit einem ernsten Gesicht zu dem ältern Sohn:

Nun, Junker Gustav, wenn werden Sie Ihre Reverenz machen?

Ein Zug von Eigensinn, Schmerz und Furcht, ging durch das Gesicht des Knabens, und es ist wahr, er machte eine sehr schlechte Figur bey seiner Verbeugung gegen mich, so wie ihm denn auch der Hofmeister einen stark drohenden Wink darüber machte. Junker Gustav wurde über diesen Wink blaß und roth; näherte sich seiner Schwester und sagte mit bittender Mine ihr etwas ins Ohr. Henriette [25] nickte ihm Ja zu. Der Knabe wollte noch Etwas sagen, aber der Hofmeister zog ihn am Kleide und mit Bitterkeit im Gesicht sagte er:

Junker Gustav, wir sollen ja den gnädigen Papa aufsuchen.

Die zwey Söhne gingen auch mit ihm hinweg, nachdem er der Wärterinn Etwas zugeflüstert hatte, die sich immer noch an die junge Pindorf hielt. Ich that, als ob ich alle das nicht bemerkt hätte, und fragte nur Henriette, ob sie mich auch würde erkannt haben, wenn ihr der Papa nichts gesagt hätte?

O ja; an Ihrem Hut, an Ihrem Gesicht – und weil Sie die Hände gleich nach mir reichten, wie Sie das Erstemal auf der Stiege im Stadthause thaten. Es ist noch keine Dame so gut mit mir gewesen wie Sie!

Was sagen Sie, Fräulein Jettchen, sind nicht die gnädige Damen, Mama und Tante, sehr gütig gegen Sie gewesen. – Sehen Sie nur Ihren Putz an, den hat Ihnen doch Ihre gütige Mama gegeben!

Ach! ist wahr! antwortete das liebe Geschöpf – aber, ich habe die schönen Sachen erst heute bekommen; und die alte Schnürbrust, [26] die mir so weh thut, habe ich doch behalten müssen! ––

Alle Fräulein müssen jung so geschnürt werden. Sehen Sie nur die Madame an. –

Hier machte das elende Ding, mir eine niederträchtige Verbeugung ––

sie würde nicht so schön groß seyn, wenn sie nicht ganz klein, schöne feste Schnürleiber getragen hätte.

Ich fiel hier ein:

ich sähe, sie hätte viele Sorge für Henrietten getragen, und ich würde ihr auch ein Andenken dafür geben.

O Rosalia! wie sich da jeder Muskel ihres Leibs und ihres Gesichts zum Kriechen anschickte, was sie für Lobens machte, von dem, was sie von der alten Wärterin, die nun bey dem Weißzeug wäre, von mir und von den Geschenken gehört, die ich ihr und dem Herrn Hofmeister gemacht; sie hätte auch viel Sorge getragen, für den schönen Putztisch, den ich der Fräulein gegeben; wie lieb sie das Kind hätte, wie leid ihr wäre, es zu verlieren! aber, sagte sie leise gegen mich: die gnädige Frau waren ganz jalour über die Fräulein, denn der gnädige Herr lieben das Kind zu arg. [27] Sie wäre ganz verdorben worden, so wie der Junker Gustav; dem mußte man sein Bilderbuch und seinen Schreibtisch wegnehmen, weil er sagte, er wollte, daß die fremde Dame seine Mama wäre.

Sie werden wissen, Kinder machen Uneinigkeit! und die gnädige Frau hat aus Liebe für den gnädigen Herrn, all ihr Haab und Guth hergegeben! Sie werden sehen, wie kostbar alles ist. – Ganz reiche Stühle, und Betten und Canapees. – Ich habe selbst zu den fünf reichen Kleidern der seeligen Mama von der gnädigen Frau noch acht ankaufen müssen, um alle Zimmer der Herrschaft damit einzurichten, weil nur Zitz darinn war, und das stund so todt, und wenn ichs sagen soll, so armselig in dem schönen Schlosse da! (Sie wies auf das Haus). Alle die blau und silbernen Blumen-Töpfe mit vergoldeten Blumen, die zwischen den großen weißen Töpfen und Bildern stehen, hat die gnädige Frau heimlich machen und aufstellen lassen. Sie stehen sehr schöne! die auf der Gallerie blinken in der Sonne, und nun läßt das Parterre, wie eine grün atlaßene Weste mit Gold gestickt. [28] Aber das gab Verdruß, Gott helf mir! wie tobte der gnädige Herr, und die gute junge Dame weinte, und sagte endlich, sie würde selbst gehen, wenn er ihr diese Freude störte. Er wollte lange nicht daran, aber seine Frau Schwester, eine sehr kluge Dame, die weis mit ihm umzugehen. – Ein Bißgen Schönthun und dann Spaßen, und etwas artig erzählen, o da thut er alles, und ist dann selbst froh, über die Sachen. Die Damen sind sehr Freunde, und das ist ein Glück für ihn. –

Rosalia! glauben Sie wohl, daß mir bey diesem Theil des Geschwätzes, eine Uebelkeit anfiel? Ich mußte Eßig nehmen und begehrte in freyere Luft, als in der Allee nicht war. Wie verhaßt wurde mir das Mensche nach diesem Zuge von unmännlicher Schwäche des Charakters, den sie an Pindorf beschrieb. Ich ging ganz nahe an das Ufer des Grabens gegen das Feld hin; hatte Henrietten an der Hand, und unvermerkt näherten wir uns dem andern Theile des Gartens, woben der Hofmeister mit den Söhnen gegangen war, um Herrn von Pindorf zu suchen. Da wir auf lauter Strassen giengen, so konnte man unsere [29] Tritte nicht hören. Wir aber dagegen hörten auf dem Kies stark laufen, und laut rufen: Gustav, wart! Du solst mirs zahlen!

Ich stund still, und auf einmal drang der gute Gustav, nur in seiner Weste und Hemdeärmeln zwischen der Tannenhecke durch, zu uns, warf sich mir zu Füssen, mit aufgehobenen Händen:

O, liebe Madame, nehmen Sie mich doch auch mit, ich will alle Bücher auswendig lernen, und niemals reden, und mich bewegen! Nehmen Sie mich mit! oder ich laufe so vom Papa.

Ach, wie erschütterte mich das Flehen des armen Knaben. Pindorfs Ebenbild zu meinen Füssen. Die Güte, Schwäche und Unschuld der Kindheit, die Hülfe bey mir flehte; Henriette, die sich an mich hieng auch weinte und bat: O nehmen Sie meinen armen Gustav mit! ich bitte, bitte, ihr Köpfchen mit ihren Händchen in die Höhe haltend. Ich bückte mich und umfaßte beyde mit aller Zärtlichkeit und Mitleiden:

Ja, Lieben! ich will Euch beyde mit mir nehmen, wenn es der Papa und Mama zufrieden seyn wollen.

[30] Was für Freude entstund bey den Kindern! sie küßten sich und mich, und der arme Knabe wiederholte sein Versprechen, alle Bücher auswendig zu lernen und gerne nicht zu schlafen, und nicht zu essen, bis er seine Lektion wüßte. Lassen Sie mich nur nicht in die Arme kneipen und an die Füsse stossen!

Gott behüte, mein lieber Gustav, wer wird das thun.

O der Herr Bärenz thuts! Sehen Sie, wie ich heute im Garten gekneipt wurde weil ich Jettchen gebeten, sie solle machen, daß ich mit ihr wegkäme, und weil ich die Reverenz nicht so schön machte, als ich sollte. – Er streifte seinen Ermel auf und, liebe Rosalia! die beyden Oberntheile seiner Arme waren blau und gelb gekniffen. – Der Unmensch vom Aufseher! Henriette streichelte mit holder rührender Mine, die neuen Flicken, die er zeigte; indem er von andern sagte: die sind alt, der ist von gestern!

O, du armer Gustav, wie web muß das gethan haben! die Jungfer Zwingen kneipte mich auch manchmal, ach, Madame, das thut sehr weh; Sie könnens nicht glauben! Und fuhr der Knabe fort, wir dürfens dem [31] Papa nicht sagen; sonst soll es noch ärger gehen! Ich habe meinem Rock ausgezogen und wollte es Papa weisen, aber Herr Bärenz kam und da lief ich weg; denn ich hatte den Papa früher gefunden, und er küßte mich, da ich sagte, Sie wären da!

Ich führte beyde Kinder, bey einem Durchschnitt der Hecke, in den Wald; setzte mich mit ihnen auf eine Bank. Wolling und die Wärterin kamen nach und ich bat Jungfer Zwingen, dem Junker Gustav seinen Rock zu holen. Wo liessen Sie ihn dann, sauberer Junker? sagte sie mit spitzen Gesicht, weisen Sie mir den Platz.

Der Arme holte tief Athem, sah mich ängstlich fragend an, ob er gehen solle –

Nein, mein Lieber, Er bleibt bey mir; Herr Wolling ist so gütig und hilft ihn holen:

Da sagte er, sein Rock liege am Rosengang: der Platz, wo wir sassen, war die Phasanenhecke. Wenige Minuten nachher da Wolling mit der häußlichen Dirne weg war, und die Kinder und ich ganz stille geschwiegen, kam eine welsche Henne mit acht jungen Phasanen, die sie führte. Junge Tannen-Bäume, Blumen, [32] Kräuter, alles war blühend, gesund und glücklich um uns; und die Kinder des Mannes, der für die Bäume feines Lustwaldes und für die Phasanen so gut sorgte, daß nichts zerknickte, und keins verwahrloßt würde; der überließ seine Söhne und seine Tochter der Gewalt eines Bärn und einer Zwingin, welche Leib und Seele dieser guten Geschöpfe zu Grunde gerichtet hätten; denn, es ist unmöglich, daß ein mißhandeltes Kind, ein gutes Kind werde. Wenn die geringste Stärke, in seiner Anlage ist, so muß sie innere Empörung, Haß gegen unrecht verwendte Gewalt und auch Härte erzeugen. Die fremde Mutter der Phasanen sorgte so treu, so eifrig für ihre angenommene Kinder; und Frau von Pindorf, an dem Platze der Mutter dieser guten Schaafe, bezeugt sich so, daß die Armen eine Zuflucht in meinem Schooße suchen müssen. Alles dieses gab mir wenig Lust, die Damen zu sehen. Unzufriedenheit mit Pindorf schlich sich in meine Seele, aber seine Kinder wurden mir theurer, lieber. Ich sagte ihnen: aber, Lieben, was wird euer guter Bruder. Fritzgen, sagen, wenn ich Euch wegnehme?[33] Er wird trauren, wenn ich dem Papa alle seine lieben Kinder fortführe; was wollen wir da thun, wenn der Papa und der Bruder jammerte? O, der Fritz, der kriegt alles Zuckerwerk und schöne Sachen von der Mama. Er wird auch nicht gekneipt, und er hat mir gesagt: die Mama wollte, daß ich mit wegkäme; da wäre er der einzige Sohn, und würde bey Herrn Bärn alles allein lernen, und dann bey Mama seyn! (das sagte Gustav, und Henriette setzte hinzu:) er weinte nicht um mich, sagte er heut, ob ich wegreißte oder sterbe; weil Herr Bärn sagte: Männer müssen nie weinen, nur Mädgen und alte Weiber, wie Gustav, weil er da weinte.

Die Idee, daß Pindorfs Federvieh weit glücklicher, als seine Kinder sey, erweichte mein Herz unendlich. Ich faßte beyde, und sagte sie sollten mich recht betrachten, ob sie dann mein Gesicht alle Tage gern sehen und mich immer lieben wollten? Mit was für Ausdruck sahen Sie mich an! wie viel Wahrheit und Liebe war in ihren Augen!

[34] Sie sind ja schön, sagte Henriette – und Gustav sagte, etwas stockend und nach einigem Auf- und Abblicken an meinem Gesicht: und Ihre Augen sind so gut! ich will Sie immer ansehen! Ich küßte beyde und sprach, wir wollen es also probiren, und ganz munter und freundlich miteinander leben.

Den Augenblick zappelte Henriette, die ihren Vater sah, von der Bank weg und rief: Papa, Papa! Lief aber, als er sich gegen uns wandte, wieder zu mir, und hieng sich an meinem Arm. Gustav bebte. – O bitten Sie für mich! Was er noch sagte weiß ich nicht; meine eigene Bewegung hinderte mich, ihn zu beobachten.

[35]
97. Brief
Sieben und neunzigster Brief
Van Gudens Fortsetzung.

Sie bekommen in der That ein Buch, statt ein paar Briefen! aber, ich will meinen Kopf und mein Herz mit einemmal von allen diesen Bildern und Empfindungen losmachen, und nichts als den Plan und die Bemühung für Erziehung und Glück der Kinder meiner Seele darinn erhalten. Hören Sie also den Ueberrest meines Tags in Pindorfswald.

Ich hatte meine Backe an das Gesicht seines Sohns gedrückt, da er zu Wolling, der allein mit Gustavs Rock mit ihm kam, etwas sagte und mit trauriger Miene auf mich deutete. Ich verstund diesen Wink in meiner Seele.

Es war der Wunsch, daß ich Mutter seiner Kinder seyn möchte! Wolling sagte mirs hernach

Pindorf blieb mit seinem Hute auf dem Kopf, halb an einen Baum gelehnt stehen. [36] Ich hingegen stund von meinem Sitz auf, bewegte mich gegen ihn, und rief ganz heiter: Ja, Papa! kommen Sie geschwind, wir haben was zu bitten! Er wankte gegen mich. Ich ließ Gustavs Hand fahren.

Zieh Er seinen Rock an, sagte ich, und komm Er gleich wieder.

Henriette war noch an meiner Linken, die Rechte nahm Pindorf und küßte sie etlichemal ohne zu reden. Gustav kam da wieder, und ich wiederhohlte: Haben Sie gehört, Papa, daß wir dreye was von Ihnen bitten.

Ja, was wollen Sie! Alles, alles was ich bin, ist Ihnen!

Haben Sie Dank, mein Freund!

Also ist ihr guter Gustav auch mein Gustav, samt Henrietten? sagte Er, mit einem etwas staunenden und fragenden Gesicht.

Ja; beyde!

Sie behalten Fritzgen, besuchen uns manchmal, und sehen was wir für gute und schöne Sachen thun werden. Denn das haben wir uns versprochen. Ich konnte lang reden; er war etwas verwirrt und unruhig. Gustav nahm seine Hand, lieber Papa; wollen Sie mich zu Madame lassen?

[37] Gehst du dann so gern von mir?

Ach, nein! aber Sie kommen ja zu uns, wie Madame bat, und ich will Ihnen Freude machen, wenn Sie mich sehen!

Er küßte seinen Sohn zärtlich.

Ja, du sollst mit mein Kind!

Meine glückliche Kinder, fuhr er fort, da er mir von jedem eine Hand darreichte, nicht reden konnte, und so auf die Bank sich hinsetzte; die Hände sinken ließ, und ich die Kinder umarmte, küßte, und mit vieler Bewegung auf Englisch sagte:

Sie gehören nun meinem Herzen! Und nichts soll der Treue und Liebe gleichen, die sie darinn finden werden.

Nun nahm er beyde an seine Brust, küßte jedes auf die Stelle, die mein Mund berührt hatte und sagte:

Mehr, tausendmal mehr, als ihr mich liebt, sollt ihr Madame Guden lieben!

Ich mußte ihm dieses sagen lassen; ich widersprach auch nicht, sondern sagte zu Gustav! Herr Wolling, auf den ich deutete, hätte auch einen Sohn, der schon viel gute Sachen wissen und der sein Freund seyn würde. Pindorf stund da auf, und nahm Wollings Hand. [38] Ich hof' es! mehr konnte er nicht sagen. Fritzgen zog uns aus der Verlegenheit, indem er gelaufen kam, noch einen fremden Besuch ansagte, und zugleich meldete, daß Mama und die gnädige Tante, mit den zwey Herrn im Wald bey den Grazien wären, Madame und der Herr möchte mit Papa hinkommen!

Ich verachtete zum voraus, alles, was die zwey Weiber waren und thaten, so, daß mich diese Art geringschätziger Behandlung gar nicht beleidigte. Pindorf war aber sehr darüber betroffen; bot mir seinen Arm mit sichtbarer Verlegenheit zum Führen an; den ich aber ausschlug, weil ich gern allein geh, und ihn durch mein Fragen nach dem was ich sah, nach und nach ermuntern wollte. Der Platz bey den Grazien ist, wie Sie wissen, wirklich sehr schön, und die Rosen-Schaßmin- und Hollunder-Bögen waren in voller Blüte. Ueber zwanzig Schritte lang hatte ich die Bildsäulen der Huldgöttinnen, und die zwey gezierten Damen, nebst vier Herren im Gesicht, von denen allen auch Wir, gar sehr begukt und begast wurden. – Zwey französische süsse Herren, waren in dem äusserst nachläßigen Anzuge um [39] die Damen und schwazten ihnen immer Etwas zu, dabey sie zugleich, auf uns sahen, und sehr albern und unanständig lachten. Die zwey andern schienen vernünftige teutsche Männer zu seyn, die uns aber auch mit Neugierde betrachteten; doch war Verstand und eine sichtbare Achtung zugleich in ihren Gesichtern ausgedrückt. Frau von Pindorf saß allein auf einem kleinen Canapee von reichem Zeug mit versilberten Holzwerk, in rosenfarbnen Taffent, dicht und breit mit Silber-Flor garnirt gekleidet, hatte ganz schwarze Haare; die eine halbe brabanter Elle hoch frisirt, und mit Silberflor, Bändern, Federn und Blumen eines Korbs voll, behängt waren. Ihre sehr schöne weise Brust äusserst entblößt, und die vollen Backen geschminkt, ohne daß es nöthig gewesen; denn sie hat von Natur, eine sehr niedliche Gesichtsfarbe. Auf den Augbraunen sah man noch das Fett und Ruß der verbrannten Mandeln, womit sie bemahlt und verdorben waren. Eine, man kann sagen, ungeheure Menge italienischer Blumen waren auf den Puffen des Silberflors angebracht. Ihre Füsse über einander geschlagen, daß man beyde sehr weit sehen konnte. Dieses vergab [40] ich ihr auch gern, denn sie sind äusserst niedlich und klein. – Frauenzimmer zeigen immer gern das Schöne, so sie besitzen; und die meisten wachsen ja mit keiner andern Idee des Vorzugs auf, als die Reitze ihrer Person geltend zu machen. Henriette wird auch einen zierlichen Fuß und eine vortreffliche Brust haben; aber die Empfindungen ihrer Seele sollen sie weit über den Menschen hinaussetzen, der sie zuerst von dieser Seite bemerken wollte! Auch soll sie eine so kluge Eigenliebe bekommen, mit diesen Geschenken der Natur als eine edle Eigenthümerin ohne Ausbieten zu handlen.

Frau von Sofein, Schwester des Herrn von Pindorf, groß, wohlgewachsen, aber nicht so edel gestaltet, als ihr Bruder; ein artiges Gesicht; Spottgeist in ihrem Auge; Falschheit in ihrem Lächeln; mit sehr feinem Geschmacke gekleidet; mit Gang, Stellung und Geberden einer Tänzerinn; spricht das Französische sehr gut; kennt alle Romane und Comödien. Nach letztern ist der Ton ihrer Unterredungen und ihrer Grundsätze gestimmt, so wie sie auch das Maaß ihrer Kenntnisse sind. So stolz und so höflich, als sie, habe ich [41] noch niemand gesehen. Sie saß auf einem Lehnstuhl von Rasen, an der Seite eines blauen Hollunderstocks. Ihr Kleid von feinem gelb und weißspielenden Zeuge mit dünnen weissen Flor garnirt, und mit violetten Bändern und Blumen in ihren schönen blonden Haaren; im Ganzen sehr reizend, mußte sie auch dem Künstler-Auge ihres Bruders gefallen; zu dem sie bald mit schwesterlicher Zärtlichkeit sprach, bald mit ihrem Auge einen witzigen Gedanken zueignete, indem ihr Blick gleichsam sagte: Niemand als Du, hat Geist genug, mich zu verstehen, und das redliche Auge des Guten dankt der Schlange dafür. Sie sog das Mark seines ersten Vermögens noch aus, nachdem er schon die meisten Kräfte verhauet hatte; und sie überredete ihn zu dieser zwoten elenden Heyrath um Geld; denn Frau von Pindorf ist an Stand nicht mehr, als ich und am Vermögen und Charakter weniger. Aber Frau von Sofein regiert sie ganz; zieht von ihr zu Spiel und Kleidung, was sie will; und ihren Bruder überwältigt sie, gegen seine große richtige Gefühle, bald mit Flehen, bald mit Trotz, Schmeicheln, oder Furcht vor ihrer beissenden Zunge. In meiner Gegenwart bemerkte [42] ich diese Uebermacht, die er ihr ließ und nun nicht mehr zurücknehmen kann. Seine Seele liebt und schätzt mich vorzüglich; doch war er nicht fähig, unter den Augen seiner Schwester, mir seine ganze Achtung zu bezeugen. Aber, ich bemerkte an allem, daß er in seinem Hause nicht mit der Würde erschien, die ihn als jüngern Mann in Italien und England Verehrung erwarb, und die er bey edlen Menschen immer hat. Die beyden Frauen blieben ganz stattlich sitzen, bis ich ganz nah war.

Ach! dachte ich, ihr wollt mich von eurer Höhe behandeln! Ich habe auch Weiber- Grillen, die um Eure Köpfe sumsen können!

Ein Blick auf Pindorf, der etwas verlegen schien, als er mich und Herr Wolling vorstellen sollte; die mich messende Miene seiner Schwester, worüber er roth wurde; die großen Augen seiner Frau, die gleich an meinen Perlen am Hals und Ohrringen sich starr guckten. – Hier gab Verachtung der zwey Weiber, und der Gedanke der Schwäche von Pindorfs Charakter meiner Eigenliebe einen Schwung über sie alle, und auch über meine Leidenschaft. Ich sah mit einemmal die Ursachen, welche die Gewalt seiner Liebe für mich [43] unterbrochen hatten. Das Gefühl von größerer Stärke meiner Seele gab mir einen höhern Grad Achtung für mich selbst der unumgänglich mit so viel Verminderung meiner Verehrung für ihn verbunden war; und von da an, blieb mir nichts, als Freundschaft für ihn. Ich kann ihn nun an der Seite und in den Armen einer andern Frau denken, ohne einen Schatten des Zerreissens zu empfinden, das ehmals in meinem Herzen wühlte, wenn dieses fürchterliche Bild vor meine Seele trat. –

Ich erhob meinen Kopf nun auch, machte eine von meinen halben Verbeugungen, von denen man immer sagte, daß niemand so viel edlen Anstand dabey zeige, als ich; nahm Gustaven und Henrietten bey der Hand, und sagte in einem ganz bekannten, aber sehr sanften Ton: Ich weiß nicht, ob es die beyden Damen artig finden werden, daß ich bey meinem ersten Besuch, diese zwey liebenswürdige Kinder entführen will! Herr von Pindorf wird Sie aber versichern können, daß sein Sohn und Tochter recht gut versorgt seyn werden.

Mit der leichtesten Miene führte ich beyde Kinder gegen ihre ganz stockend aussehende Mama und sagte zu ihnen: Meine Lieben! ersuchen [44] Sie die Frau Mama und Tante, um ihre Einwilligung dazu.

Die Kinder gingen hin, beyden die Hände zu küssen. Frau von Pindorf spitzte ihren Mund.

So, Gustav! gehest Du auch weg? Ja, gnädige Mama, wenn Sie und die gnädige Tante es erlauben! O gerne! sagte sie, gegen ihre Schwägerin blickend, die hinzusetzte: unsere Einwendung käme wohl zu spät! Und dann sagte die Frau noch, führt Euch nur gut auf und lernt schön fleißig bey der Madame und dem Herrn, auf Wolling zeigend. Mein Mann wird wohl den Accord schon gemacht haben? sagte sie gegen mich, indem sie die Kinder mit der Hand zurückwies.

O ja, schon lange! antwortete ich, mit einer muntern Verbeugung dazu. Herr von Pindorf schien über seine Frau und mich etwas verdrießlich. Seitenblicke seiner Frau Schwester brachten ihn völlig aus der Fassung. Ich ging zu den Bildsäulen bin, ließ seine Flau, mit ihrem lächerlichen stoffnen Canapee und die Dame von Sofein mit den galanten Messieurs stehen, und sprach mit Wolling über die Schönheit der Grazien und den so vortreflich gewählten Platz. Wolling hatte noch [45] gehört, daß die Dame von Sofein den Herrn sagte, ich sey eine Engländerin, die eine Erziehungsschule aufrichtete, und, auf ihn deutend, hinzusetzte, der würde wohl der griechische Sprachmeister seyn. Die zwey Herrn en Polissons lachten, wie wir selbst hörten, sehr stark. Die andern Fremden sprachen unter sich und Pindorf redete seiner Schwester zu. Die Kinder kamen zu mir, und ich setzte mich an den Fuß eines Baumes, der den Grazien gegenüber stund, und fragte die Kinder: welche von den drey Figuren ihnen am besten gefiele? that nicht einmal, als ob die andern Gesichter da wären; suchte auch Pindorfen mit keinem Blick auf. Endlich kam er, und sagte etwas unmuthig und beschämt; ob wir nicht mit ins Haus wollten? Herr und Frau von Bargen wären auch angekommen. Meine kleine Unzufriedenheit gab mir eine Röthe auf die Wangen, die mir, nach Wolling, vortreflich stund. Einer der vernünftigen Fremden bot mir den Arm; ich nahm ihn, und da er mich französisch angeredet, so sprach ich mit ihm über den Garten, die Verzierungen desselben und über die Gebäude fort. Pindorf nahm seine Kinder, und der herrliche Wolling [46] ging still an seiner Seite mit bis in das Haus, wo wir der Frau von Pindorf durch alle ihre Zimmer nachgehen mußten. Sie sah sich hier immer nach mir um, ob ich wohl ihre köstliche Stühle und Betten bemerkte. Die Bedienten trugen auch ihr Canapee aus dem Garten nach und wir mußten still stehen, bis sie vorbey waren. Sie befahl, es an seinem ordentlichen Platz in gelb und silbern Zimmer zu stellen. Sie wissen Pindorfs Geschmack. Er hatte die Zimmer ganz weiß mit leichter Gipsarbeit zieren lassen und Betten und Stühle von Zitz geschaft. Die Gast Zimmer sind, dem Himmel sey Dank! noch so. Aber der reichen Tochter des Kriegs-Commissairs Raffberg war dies zu schlecht; und die vielen reichen Kleider, wovon die Jungfer Zwingin geredt, waren alle in Streifen geschnitten, blau und gelber Grund, roth und andre zusammen gesetzt und die Küssen der Canapees, Stühle und Rückwände von zwey Betten überzogen; die Füllungen der Zimmerwände weiß gelassen, aber von den Stoffen eine Art Rahme darum gemacht. Eine sehr lächerliche Pracht, die ich, um Pindorff zu schonen, nur flüchtig ansah. Denn, ich weiß, daß man oft aus Uebermaaß von Güte Sachen [47] dultet, die einem äusserst mißfallen. Herr und Frau von Bargen waren in dem grossen Saal, welcher in seiner edlen Schönheit gelassen worden. Bargen ein junger Mann von sieben und zwanzig Jahren; seine Frau etwas älter als er, aber voller Kenntnisse, und er noch im ganzen Feuer der Begeisterung von einer Reise durch Italien und England, welche die einzige Bedingung war, die seine Frau in den Heyrathsvertrag eingeschalter haben wollte und wovon er vor wenig Zeit zurückgekommen. Frau von Bargen hatte ein Englisches Reitkleid an, und er einen Frak; beydes noch in England selbst verfertigt. Der Werth, den sie sich noch, über ihre Reise, und die Sachen die sie alle gesehen, beylegten, vergrößerte auch ihre Aufmerksamkeit auf mich; weil ich ganz den Anschein einer aus Brittanien herstammenden Person hatte. Bey meinem Eintritt in den Saal war Frau von Sofein noch in der Umarmung der Frau von Bargen, und Pindorf an der Hand seines Freundes vor seiner Frau, die er ihm vorgestellt hatte. Die Bargen fragte gleich:

Wer ist die Englisch gekleidete Dame?

[48] Ach, es ist keine Dame, sondern eine Frau, die eine englische Kostgänger- Schule aufrichtet und die Kinder meines Bruders abhohlt!

So ist es doch eine Person von Talenten, und wird gut Englisch reden: und hierauf ging sie auf mich zu; und fragte mich: ob ich schon lange aus meinem Vaterland entfernt sey? lobte meinen Gedanken, eine englische Erziehungsanstalt zu errichten; es würde, hofte sie, (sprach sie deutsch, weil Dame Sofein zuhörte,) bey allen vernünftigen Leuten mehr gefallen, als die französischen Nachäfereyen. Dame Sofein sagte hier ganz richtig: Ey, mein Schatz! wenn die Rede vom Nachäffen ist, so muß ich fragen, ob die Englischen Aefgens artiger sind, als die Französischen?

Frau von Bargen schien etwas empfindlich, und ich antwortete statt ihr: –

Frau von Sofein können ganz ruhig glauben, daß Gustav und Henriette, in Nichts affenartig werden sollen:

Ich will es mir auch ausbitten; erwiederte sie. – Die Bargen sprach nun wieder Englisch, und fragte, wo ich wohnte? Sie hätte eine Nichte von Henriettens Alter, die wolle [49] sie mir auch geben. Ich antwortete, daß ich fürs Erste nur die Pindorfischen Kinder nehmen wollte. In dem nemlichen Augenblick kam Pindorf mit Herrn von Bargen zu uns und sagte, auf mich weisend: Hier ist eine Dame van Guden, die England und Italien so gut kennt, als wir beyde. – Von da an war für die beyden Leute niemand angenehmer, als ich; denn sie wiederholten nun mit mir ihre Reisen, Spaziergänge und Bemerkungen. Der Fremde so mich geführt, betrachtete mich je mehr und mehr, nachdem ich tiefer in die Unterredung verwickelt wurde. – Herr von Bargen und sie wollten bey Tische nur neben mir sitzen, und Pindorf wurde ganz heiter, über die Kennzeichen von Hochachtung, die sie mir gaben. Die Pollisons und seine zwey Hausdamen machten nach und nach eine traurige Figur. Dame Sofein wollte nach dem Essen, da Pindorf selbst mit seinen Kindern ging, um ihre Abreise zu bestellen, eine andre Idee in Frau von Bargen bringen, und bat sie zu versuchen, ob sie noch Clavierspielen und Singen könne! denn setzte sie hinzu, das Clavier ist aus England; mein Bruder ließ es erst kommen.

[50] Frau von Bargen ging hin, spielte und sang ziemlich artig. Ich stellte mich hinter ihren Stuhl. Den guten Wolling hatte der Partheygeist für mich angegriffen, und er sagte Herrn von Bargen, daß ich keineswegs eine Hofmeisterin, sondern eine edle, reiche Frau und Freundin des Herrn von Pindorf sey; einsam wohne, und deswegen die zwey Kinder zu mir nähme. Er setzte noch viel hinzu; unter andern auch mein großes Talent, im Singen und Clavierspielen. Da kam Bargen, und die zwey Fremden, welche Wollingen zugehört hatten, und baten, daß ich mich hören lassen möchte. Ich phantasirte lang und fiel endlich mit einem Englischen Liedgen ein. Die Frau von Pindorf, die jung ohne Verstand, aber nicht so böse ist, daß eine Empfindung von Vergnügen sie nicht mit Leuten aussöhnen sollte, die ihr erst mißfielen; lobte mich sehr und klatschte in die Hände, und dankte mir für mein Liedgen. O das müssen Sie unserm Jettgen auch singen lehren. Ich versprach es ihr ganz freundlich. Da ich noch am Clavier saß, aber nicht mehr spielte, kam Pindorf zurück. Eine starke Bewegung erschien in seinen Augen, als er auf mich blickte, und Wollingen fragte, ob [51] ich gespielt hätte? Ja! Und auch gesungen? – Eine Geberde von Bedauren, es nicht gehört zu haben, war die einzige Antwort die er gab, und er nahete sich mir mit Wünschen und Bitten in seiner Miene. Ich fuhr fort zu spielen, und sang das Recitativ: Cari prali è selere, und endigte mit einer Arie, deren Worte ich selbst zusammen gesetzt habe, worinn Ueberdruß der lärmenden Weltliebe, Liebe der Einsamkeit, und Ruhe der Seelen ausgedrückt ist. Pindorf lehnte sich auf meinen Stuhl, während ich sang. und machte mir als ich aufstund, nur eine Verbeugung. Herr Bargen, seine Frau und die zwey Fremden sagten mir vieles. Frau von Pindorf küßte mich; es war mir in meiner Seele zuwider, besonders, da sie noch hinzufügte, daß ich den Abend da bleiben solle. Das war mir aber unmöglich. Darüber wurde sie auch wieder böse, wie Kinder, wenn man nicht thut, was sie wollen.

Frau von Sofein spielte eine wahre Coquetten-Rolle mit den zwey artigen Herren, Ihre Schwägerin war auch mit dabey; aber nur als Fürwand und Gegenstand des heimlichen und hämischen Spottes. Ich hatte Herrn Wolling um Bestellung unseres Wagens[52] und der Geschenke an Hofmeister, Wärterinnen. und Hausbedienten gebeten; und als er mir meldete, daß alles geschehen sey, schickte ich mich zu unserer Abreise an. Wolling hatte in einem Fenster mit mir gesprochen; Pindorf näherte sich uns und Ersterer ging zu den Kindern.

Sie gehen mißvergnügt aus meinem Hause! sagte Pindorf. Nicht mißvergnügt, aber traurig über die Gewalt die Ihre Frau Schwester in Allem über Sie hat, und nicht verdient. Suchen Sie den Grund davon in Ihrer Seele auf, denken Sie nach. Dem guten Kinde, das Sie zu Ihrer Gemahlin machten, begegnen Sie edelmüthig, und bilden Sie sie selbst. In den Händen Ihrer Frau Schwester wird sie schlecht und sie ist doch Ihre Frau! Sie verachten mich, sagte er mit Schmerz. Nein! da wäre ich am elendesten; aber, Ihre Schwester wird Scheidewand zwischen mir und Ihnen. Eine große Seele, in der Gewalt einer kleinen, arglistigen. – O Pindorf! – Und da ging ich, nahm kurzen Abschied, und sagte dem Hofmeister, er möchte sich das Kneipen abgewöhnen. Die zwey guten Kinder schliefen nach der ersten halben Stunde ein; und es [53] war mir lieb, denn ich konnte da der Geschichte des Tags nachsinnen. Seit vielen Jahren war ich nicht in so großer Gesellschaft gewesen; fühlte auch nicht die geringste Begierde in mir, mich in Zukunft öfterer darinn zu sehen. Vielleicht trug das Wegwenden meines Herzens von Pindorf, eben so viel zu dieser Gleichgültigkeit bey, als mir ehmals meine Anhänglichkeit an ihn, jede Gesellschaft, wo er nicht war, unangenehm und widrig machte. Jede Scene, durch welche meine Liebe mich geführt hatte, stellte sich vor mein Gedächtnis, und ich mußte mir endlich sagen, was ich Ihnen schrieb:

Daß Eigenliebe mich elend gemacht und Eigenliebe mich rettete.

Meine Leidenschaft für Pindorf hatte zu der Zeit angefangen, da ich in ihm die nämlichen Grundsätze, Beschäftigungen und Geschmack sahe, die mich beherrschten. Dies war mit der Gestalt und dem Bezeugen verbunden, die ich allein edel und liebenswürdig achtete. Gemeinsame unerfüllte Wünsche nährten unsere stille Liebe. Das, was ich in der Opera empfand, war im eigentlichen Verstande Eifersucht; und die ist immer Beweis der Liebe [54] gewesen. Erinnern Sie sich, was Sie mich thun sahen; meiner Reise nach W. mein Bauen und Wohnen auf diesem Berge. Aussichten führten mich her; alle, alle Leidenschaft lag noch in mir, als ich ihn hier sah, Tugend kämpfte gegen sie, weil er wieder vermählt war: aber sie hätte mich nicht so geschwind geheilt, als der Gedanke mich stärkte, daß Personen und Umstände Pindorfs Gesinnungen wenden könnten wie sie wollten, daß keine Uebereinstimmung mehr in uns seyn könne. Verhaßt, oder gleichgültig wird er mir nie werden, aber anbeten, lieben, kann ich ihn auch nicht mehr, seitdem ich mich höher schätze als ihn.

[55]
98. Brief
Acht und neunzigster Brief
Van Gudens Fortsetzung.

Und auch, nachdem ich so viel geschrieben, sind Sie doch ungedultig? weil ich das kleine Kinder Fest nicht gleich dazu gefügt hatte. Soll ich wohl glauben, daß das Glück, so Sie mit Ihrem Cleberg geniessen, ein verwöhntes eigensinniges Kind aus Ihnen machte, das sein Stirnchen runzelt, das Mäulchen eckig zieht, und ein kleines abgebrochenes Murren äussert, wenn es nicht den ganzen Vorrath von dem kleinen Spielzeug bekommt, den es in der zweyten Schieblade des Schranks vermuthet? Verzeihen Sie mir, meine Liebe, und fragen Sie sich, ob Sie nicht unrecht haben, so eifrig in mich zu dringen? Glauben Sie aber nicht, daß ich aus Unmuth vier Tage später antwortete. Ich hatte zwey davon mit dem Entwurf eines Erziehungsplans für die Pindorfischen Kinder zugebracht; ich fühle, daß ich eine schwere Arbeit unternommen; und auch, daß mein Plan manchen lächerlich [56] und thöricht scheinen muß, so lang als mir die Neigungen und Fähigkeiten der Kinder nicht völlig bekannt sind; dazu hat mir der Zufall durch Wollings Gedanken, den Kindern ein Willkommfest zu geben, mehr Dienste geleistet, und einen sicherern Weg gebahnt, als vielleicht Jahre von Nachdenken nicht gethan hätten. Genuß von Freyheit und Vergnügen, bewegt und öfnet die Seele der Kinder so gut, wie die unsere. Diese beyden allein, entwicklen den Keim der Fähigkeiten und Empfindungen. Das Wohl wieder zu geniessen, dem Uebel zu entgehen, diese Triebe bestimmen die erste Richtung des Auges, nach Hülfsmitteln zu sehen, und die Anspannung der Kräfte, sie zu erreichen. Eigenliebe und Nächstenliebe zeigen sich da in Mittheilung des Guten, oder im Alleinhabenwollen; wohl gar auch im gewaltigen, offenen, oder listig heimlichen Wegnehmen bey der andern. Heftigkeit der Begierden zeigt sich im Genuß des Vergnügens, im Darumbitten, und im Danken. Ich hatte im Pindorfischen Hause bemerkt, daß der Vater sehr wenig von seinen Kindern mußte, und ihr Aufseher den Willen und Verstand nicht hatte, sie richtig zu kennen und zu leiten. [57] Ueble Begegnung über unschuldige Fehler der Kindheit; Zwang, der ihnen angethan worden, sich das Bezeugen und Wissen erwachsener Leute eigen zu machen, hatte natürlicher weise ihr Herz verschlossen, Henrietten furchtsam, Gustaven mißtrauisch und beynah storrisch gemacht. Ich mußte sie also Wollinghof, seine Freuden und Bewohner in aller Freyheit kennen lernen laffen, und nur still beobachten, an welches Kind von den unsern, an welche erwachsene Person, sie sich mit dem ersten Vertrauen wenden, und welchen Zeitvertreib oder welche Belustigung, sie zuerst wiederhohlt wünschen würden; wonach sie zuerst fragen möchten, u.s.w. Zu diesem Allen zündete das kleine Fest das Licht an. Sie wissen wir kamen zu spät nach hause, um noch den Abend etwas vorzunehmen; die Kinder waren auch auf einer Seite durch den Prunk des Tages, durch Bärnskneipp und dem Abschied vom Vater zu sehr erschüttert, und dann hatte Frau von Pindorf den Eigensinn gehabt, daß beyde junge Pindorfs in ihrem Staatsputz nach Wollinghof geführt werden sollten, damit die Leute dort sehen möchten, daß sie nicht aus Barmherzigkeit aufgenommen [58] würden. Ohne Zweifel dachte sie Frau von Lißheim, unsern Kindern und Leuten damit eine Ehrfurcht einzuflössen. Aber Wolling und ich wollten die unsrigen weder dem Schmerz des Unterschieds, noch der Gefahr des Bewunderns und Nachwünschens aussetzen. Henriette wurde also, wie Gustav in einen großen Mantel gewickelt und durch den Obstgarten gleich in meine Zimmer gebracht, wo Meta das Fräulein, und Wolling den Junker auskleideten, doch ohne das Mindeste von Lobsprüchen wegen der schönen Kleider zu äussern. Als es bey dem armen Jettchen aufs Aufschnüren kam, fieng sie schon an zu seufzen und zu zittern, und faltete ihre Hände mit dem Bitten. O langsam! langsam! Meta hielt gleich inne; und ich knieete vor das gute Kind hin: was fehlt Dir, meine Liebe? warum zitterst Du? Ach die Schnürbrust und mein Hemd, stecken in meiner Haut: Hier! sie wies auf die Hüften, und hielt den Athem an sich, indem Angst in ihrem Gesicht und Thränen in ihren Augen zu sehen waren. Ach, Rosalia! was verderbt Unsinn und Vorurtheil an Leib und Seele! Sie hatten, um dem Mädchen einen dünnen Leib zu ziehen, das [59] steife Schnürleib über ihren Hüften so zusammen gezogen, daß auf beyden Theilen die Haut theils offen, theils mit einer Rinde bewachsen war, und durchgehends ein brauner Streif um den ganzen Leib ging. Sie bat mich, daß sie das Hemde selbst losmachen dürfe. Ich ließ es gern geschehen; sie schrie und fiel mir weinend um den Hals. Tröste dich, mein Engel, du sollst die häßliche Schnürbrust niemals mehr anziehen! Wie sie mich da küßte und liebkoßte, das gute Kind; und dann in ihrem Schlafzeug, das ganz artig war, mit Gustav in seinem Ueberrock recht herzlich zu Nacht mit mir aßen, und auch so wohl schliefen. Gustav hat ein Zimmer dessen Fenster auf den Weg gehen. Der Gärtner blieb neben ihm, aber den zweiten Tag nahm ich den vortreflichen jungen Mooß zu ihm, der als Freund mit ihm leben, als Freund, alles was er weiß, mit ihm theilen soll: sobald Gustav zu Etwas. womit sich Wilhelm Mooß beschäftigt, Lust bezeugt. Als die Kinder schliefen, durchsuchte ich mit meiner werthen Meta ihren Koffer und Kleidungsstücke, um Etwas zu finden, daß Henriette des andern Tages anziehen könnte, ohne das Schnürleib zu brauchen, [60] und doch geputzt zu seyn, wie es dem Stande ihres Vaters zukommt; denn sie sollen die Erziehung haben die ihnen gebührt. Aber auch sehr genau Ordnung, Werth und Pflichten eines jeden Standes, nebst deren Ansprüchen kennen lernen. Die Vortheile im Glück, Ehre, und Wissen ihrer Classe sollen sie nicht mit Stolz, sondern mit edelmüthigen Gesinnungen gegen ihre Nebenmenschen, und dankbarer Verehrung gegen die Vorsicht erfüllen. Meta und ich arbeiteten noch lange in der Nacht, dis ein weisses musselines Leibkleidgen fertig war, daß Henriette den Morgen über ein anderes dünnes Leibkleidgen anzog, aus dem wir die Aermel schnitten und ihr nur eine breite blauseidene Binde um den Leib gaben, die mit einer großen Schleife auf der Seite festgemacht wurde, und nicht die geringste Bewegung ihres Körpers verhinderte. Die Aermel waren auch wie der kleine Strohhut mit blauen Bändern gebunden. Die Blumen sucht sie aber seit dem Tage des Willkommfests, wo sie Kranz und Strauß geschenkt bekam, meistens selbst und lernt sie zusammen binden. Sie besorgt auch schon Blumentöpfe; so wie Gustav, Oberaufseher, über das Stück Wald seyn [61] will, wo der Anflug junger Eichen und Buchen ist. – An diesem Theil unsers Berges hatte Wolling das Kinderfest veranstaltet, so Abends gegeben wer den sollte, nun aber zum Frühstück wurde. Ich hatte wenig geschlafen, stund früh auf, zog mich an, und setzte mich in mein Kabinet, um Bemerkungen über mich aufzuschreiben; gab aber dabey auf Henriettens Erwachen Achtung. Sie wissen, die obere Füllung der Thüre meines Kabinets ist von Flor, wodurch ich mein großes Zimmer meistens übersehe. Das Kleidgen, die Binde und der Hut lagen auf einen kleinen Tischgen neben Henriettens Bette hübsch geordnet. Auf dem kleinen Stuhl ihre übrigen Kleidungsstücke nett gelegt. Nachdem sie erwacht war, und einige Augenblicke sich hin und her bewegt hatte, richtete sie sich auf und guckte nach meinem Bette, streckte den Kopf vorwärts, um zu horchen; kniete dann und betrachtete die Kleidung auf dem Tisch; berührte die Binde mit Staunen, lächelte auf den Hut, horchte wieder, nahm ihn dann und versuchte, ob er ihr paßte; legte ihn wieder auf seinen Platz; wollte dann ihre Strümpfe anziehen, war aber ziemlich ungeschickt dabey, wie auch in Zubinden ihres [62] Rocks. Dies merkte ich mir, zu einem Anlaß von Beweise des Werths der Menschen in der dienenden Classe, und ging zu ihr, umarmte sie, fragte: ob sie wohl sey? wohl geschlafen habe? und nahm sie auf meinem Arm an das Fenster, von dem man einen Theil des Obstgartens, Feldes und Teiches sieht. Himmel und Erde waren schön.

Sieh, mein Kind! du und die Bäume und das Feld sind so wohl und schön, durch den nächtlichen Schutz Gottes. Ich danke ihm dafür, und bitte ihn, dich deinen Papa, und alle Menschen auf der ganzen Erde zu seegnen, Drückte sie an mich und küßte sie. – Sie können nicht glauben, liebe Freundin, wie süß mir die Rührung war, die ich in Henrietten hervorgebracht hatte; sie schloß ihre Arme um mich und ich hielt sie noch einige Augenblicke still in den meinigen, und sagte dann, daß sie nun zum Ankleiden und zum Frühstück gehen müsse. Ich kann mich selbst nicht anziehen, sagte sie ganz verschämt und kleinmüthig.

Ich weiß es Liebe! denn ich brauchte auch einmal gute erwachsene Menschen, die für mich sorgten.

[63] Nun ging sie ganz Mädchenartig zu dem Tischgen mit ihren Kleidern. Liebe Madame! ist das mein? Ich sprach ihr von Reinlichkeit durch Waschen und sonstige Sorgfalt, und kleidete sie selbst an. Wolling kam mit Gustaven, der nett in einem grauen Frak mit grünen Kragen und Aufschlägen, sich mir ehrerbietig und zufrieden näherte. Guten Morgen, mein Sohn, hat Er in Wollinghof gut geschlafen? Mit inniger Zufriedenheit versicherte er mich, ja! Nun wollen wir zum Frühstück in den Wald sagte ich. Henriette nahm die Hand ihres Bruders, als er sie, wegen der Leidbinde betrachtete. Sie bog sich hin und her. Da fühle, wie weich das ist! und sieh wie ich mich biegen kann! Denke! gar niemals mehr soll ich die Schnürbrust bekommen. Der holde Knabe freute sich brüderlich, über die Zufriedenheit seiner Schwester und sah mich dabey, mit dem Ausdruck des Vertrauens an, daß auch er bey mir von allem schmerzlichen Zwang befreyt seyn würde. Nun gingen wir durch die Seiten-Thüre längst dem Teiche bey den alten Birken und der Nußhecke zum jungen Eichwald, in welchem wir einen Graßplatz leer gelassen, und von der großen Quelle, [64] eine Rinne abgeleitet haben, die durch gedeckte Röhren läuft, und zwischen zwey Moosbänken über kleine Kießelsteine in ein Becken sprudelt; dort hatte der gute Wolling die Kinderscene veranstaltet. Auf der ersten Hälfte des Wegs blieben wir bey dem Tone einer Schalmey stehen, die man sehr artig spielte. Aber Wolling winkte uns nach dem Eingange des Quellplatzes und verschwand sogleich. Ich staunte über den Anblick der Verzierungen, die er angebracht hatte. Die Quelle und zwey Moosbänke sind gerade dem Eingange gegen über. Da war hinter der Quelle ein von Tannenreis gemachtes Stück Wand, das sich an zwey schöne Eichen lehnte; etwas vorwärts waren zu beyden Seiten über den Moosbänken, auch solche Wandstücke, die bis an die Aeste der Bäume reichten, welche darüber herunter hingen. Auf der mittlern Wand war in weissen Rosen ein V. G. auf denen an der Seite in Rothen H. P. und G. P. zwischen gelben Wiesenblumen Cränzen aufgehänkt. Alle Bäume an beyden Seiten waren mit grünen Wandstücken bestellt, an denen große Blumensträuße herunter hingen. An der Ecke der einen Moosbank stunden die zwey Mädchen unsers [65] Bauren, sauber gekleidet, mit weissen Schürzen und neuen Strohhüten. Die eine hatte die Hand an einem großen Milchtopf, der auf der Bank stund, und kleine Milchschüsselgen waren in einer Reihe dabey gestellt. Das andre Mädchen hielt die Henke eines schönen Armkorbes, über den die Ecken eines weissen Tuchs etwas heraus hiengen; über dies ragte eine grosse irdene Schüssel mit Blättern bedeckt, auf welchen frische Butterstücke, nach bäurischer Art geziert und geformt lagen. Neben dem Korbe auf einem hölzernen Teller kleine Käse, und Weidenkörbchen mit Kirschen. An der andern Bank stunden zwey hübsche Bauerknaben, auch reinlich angezogen; ihre runden Hüte auf den Köpfen. Der eine, bey einem leeren Bienenkorbe, auf welchem noch Stücke von Wachswaben lagen, in denen noch Honig war. Ein weißes irdenes Geschirr voll Honig mit einem Löfel darinn, stund daneben; dann Weidenteller voll Pflaumen und an der einen Ecke der Bank ein andrer Knabe mit einem Korbe voll kleiner weißer Brödtchen. Ein großer Laib Hausbrod lag neben dem Korbe. Den Augenblick, da ich mit den Pindorfischen Kindern, ein paar Schritte vorwärts gegangen [66] war, hüpften, nach der Musik einer Flöte und Schalmey, Lottchen und Nanny Wolling mit der kleinen Auguste und Louise Moos, an einer Blumenkette sich haltend, uns entgegen; alle in neu Leinen gekleidet, Strohhüte und Sträusse an den Köpfen, drehten sich recht artig gegen Henrietten und sangen; da ihr Lottchen ein Blumengewinde umhing:


Sey willkommen, Henriette!
Schön, wie diese Blumenkette,
Sollen deine Tage seyn;

Kaum hatten die Mädchen das ausgesungen, als die Knaben auf der andern Seite hervor tanzten. Carl und Gottlieb Wolling mit Bernhard und Philipp Moos in saubern leichten Zeug gekleidet und Kränze um ihre Strohhüte gewunden, hatten auch eine Blumenkette, an der sie sich hielten, gegen Gustav sich bewegten, und Carl, der einen Kranz in der Hand trug, setzte ihn unterm Singen auf Gustavs Hut:


Willkomm Gustav, edler Knabe!
Nimm von uns die erste Gabe,
Einen Kranz aus diesem Hayn.

Während dem Singen der Knaben tanzten die Mädchen auf der andern Seite im Reyhen [67] herum; kamen dann näher, und Carl und Lottchen sangen zusammen:

Kommt und nehmet alle Beyde
An der Lust, und an der Freude
Von uns guten Kindern Theil.

Nun tanzten die Knaben allein, und Lottchen sang, auf die Quelle weisend:
Rein und helle,
Wie die Quelle,
Macht die Unschuld unser Herz!

Alsdann kamen die Knaben näher, und die Mädchen tanzten fort:
Carl sang:
Wald und Sonne
Giessen Wonne
Ueber frommen Jugend-Scherz

Gustchen Mooß, mit ihrem Silberstimmgen:
Morgenröthe
Und die Flöthe
Guter Hirten weckt uns auf;

Bernhard Mooß:
Und dann lernen
Wir von Fernen
Guter Menschen Lebenslauf.

[68] Nanny Wolling:
Engel sehen
Wo wir gehen:
Sind zu Wächtern uns bestellt.

Gottlieb Wolling:
Thau und Regen
Bringen Seegen
Auf den Garten und das Feld.

Louise Mooß:
Blumen blühen;
Bienen ziehen
Wachs und Honig uns daraus.

Philipp Mooß:
Vögel singen,
Schaafe springen,
Ganz vertraut um Hof und Haus.

Lottchen Wolling:
Abends blinken
Stern', und winken
Uns, und alles in die Ruh!

Carl Wolling:
Und wir schliessen
Mit dem süssen
Gott sey Dank! die Augen zu.

[69] Nun hüpften die Knaben und Mädchen gegen die jungen Pindorfs, die ganz entzückt neben mir stunden. Carl Wolling reichte Gustaven, und Lottchen Henrietten das Ende des Blumengewindes, an dem sie getanzt hatten und beide sangen dabey:


Komm, Gustav! komm, Henriette,
Fasset diese Blumenkette,
Machet sie zum Freundschaftsband.

Sie blickten mich an und ich winkte ihnen, daß sie es thun, und mittanzen sollten. – Mit was für Freude sah ich die liebenswürdige Reihe dieser guten unverdorbenen Herzen, voll inniger Fröhlichkeit, gesund und harmlos mit so viel natürlicher Anmuth herumspringen! – Schon im Singen hatten Sie mein Herz erweicht. Ich wollte die Baurenkinder sich mit anschliessen lassen, und bewegte mich also von meinen Platze. Den Augenblick kamen Wolling, seine Frau, Meta und Willhelm Moos hinter einer Fichtenwand hervor, schlossen sich an die Reihen, und tanzten alle um mich her. Meta sang mit ihrer so schönen Stimme:


Wollinghof hat tausend Freuden,


[70] Frau Wolling:
Liebe, Güte –

Wolling:
Trost im Leiden –

Alle drey:

Fließen auf van Gudens Hand.


Sie mögen denken, wie äusserst gerührt ich da stand. Ein süsser Schmerz durchdrang meine Seele. Ich mußte weinen. Küßte meine beyde Hände, und reichte mit meinen Armen nach Frau Wolling, die mit den andern noch im Reihen herumtanzte. Nun kam sie, faßte meine Hand, küßte sie; alle andre tanzten fort, schlossen sich aber nach und nach um mich, und die, welche einen Arm, ein Stück Kleid von mir erreichen konnten, küßten und drückten sie. Die Schalmey und wir alle, schwiegen eine Zeitlang; denn, wer kann da reden! Ich umarmte endlich Frau Wolling, und sagte ihr:

»O was machen Sie!«

Er blickte mich an und dann gen Himmel, konnte nicht reden, alle Augen waren auf uns geheftet. – Dank! sagte ich endlich, tausend Dank! kommt Ihr Lieben alle, wir wollen [71] zum Frühstück tanzen. Die guten Baurenkinder kamen auch in die Reihen, und dann gingen die Kinder zum Essen, setzten sich hier und da; gingen mit einander; beguckten die neuen Ankömmlinge. Der Pfarrer, der Beamte, und unsere Dienstleute, die hinter den Fichtenwänden gestanden und zugesehen hatten, kamen nun auch; und wir aßen alle zusammen eine Art Mittagsbrod und waren sehr glücklich und vergnügt! Ich bemerkte an Gustav ein wahres offenes Herz; an Henrietten viel Feinheit, und sprach ihnen zu, mit den guten Kindern freundlich zu seyn, die sich so viele Mühe um sie gegeben hätten. Da thaten sie nun auch recht artig. Gustav und Henriette wußten einen Tanz für vier Kinder und wollten ihn die andern lehren, wenn ich es zufrieden wäre. Ich willigte gern darein, und sprach mit den großen Leuten fort, damit die Pinvorfischen Kinder nicht denken möchten, daß ich sie beobachtete. Gustav lehrte seine drey Tänzer recht gedultig; Henriette aber, hatte immer vielmehr zu tadeln und zu bessern, wurde aber eher ungedultig als er und wies die kleineren Kinder lebhaft auf die Seite. Zu diesen ging ich dann, und lehrte sie nachtanzen, [72] indem ich mit ihnen nachzuahmen suchte. Henriette blieb, als sie es sah, mitten im Tanzen stehen und blickte aufmerksam mich an. Ich lächelte ihr aber zu und rief: sie sollte fortfahren, denn sonst könnten wir nichts lernen. Da sprang sie freudig zu mir, küßte mich und sagte: O, ich dachte, Sie wären böse! Warum, meine Liebe? über kleine Kinder werden gute Menschen niemals böse. Geh, meine Tochter, und tanze ruhig fort. – Sie bemerkte dies ganz, und war denn mit den kleinen recht gedultig und sanft. Dies war mir ein Merkzeichen ihres Charakters. Carl hat ein Schaaf erzogen, das ihm überall nachläuft. Es gefiel Gustaven. Carl wollte es ihm schenken, aber Gustav nahm's nicht, sondern bedingte sich nur, daß es auch ihm manchmal folgen und aus seinen Händen essen sollte. Alles das that meiner Seele wohl. – Und nun ist meine Liebe für Pindorf zur wahren Freundschaft geworden. Das Glück seiner Kinder ist alles, was ich wünsche, und ihre Erziehung mir ein süsses Geschäft!

[73]
99. Brief
Neun und neunzigster Brief
Rosalia an Mariane S**.

Sie klagen in Ihrem gestrigen Briefe über trübe und leere Stunden: dieser Gedanke schmerzt mich von Ihnen mehr, als von tausend andern, weil er mir entweder eine große Zerrüttung Ihrer Gesundheit oder einen ausserordentlichen Zufall in Ihrer Familie anzeigt; denn Ihr Reichthum und Geschmack an Kenntnissen, und der richtige Werth, den sie auf alles Zufällige, Leichte oder Wandelbare legen, läßt mich keine geringe Ursache vermuthen. Ziehen Sie mich, ich bitte Sie, aus dieser Besorgnis und sehen Sie in diesem Paquet nach, ob Sie, wie Sie von mir verlangen, etwas fremdes Zerstreuendes darin finden können. Es sind lauter Papiere von Wollinghof, worinn die Auflösung des Zauber-Knotens erzählt ist, mit welchem die Liebe meine sonderbare van Guden neun Jahre lang gefesselt hielt. Ich wünsche sehr, daß Sie mir Ihre Gedanken [74] darüber sagen möchten, wie Cleberg es that, der aber dabey anfangs ganz unbarmherzig urtheilte; das van Guden eine ununterbrochene Anbetung gefodert habe, und deswegen so trotzig aus der Opera in St – fortgereiset sey; daß sie in blühenden Jahren einen gleichen Stolz auf Talente und Gestalt gehabt, wie sie jetzo auf Geist, Geld und Liebe hätte. Es schmerzte mich, daß er alles dies so ernstlich behauptete und ich gab mir alle Mühe, sie zu vertheidigen. Madame Grafe war dabey; freute sich, von ihrer Rivalin bey mir so reden zu hören; denn sie sagte, das Weib hätte ihr die Hälfte meiner Freundschaft geraubt. Da mußte ich aufs neue kämpfen; als es aber eine Weile gedauert und Cleberg eifrig dazu geholfen hatte, so fieng sie an: Ey Rosalie! sehen Sie mit alle ihrem Geiste nicht, daß ich nur den ganzen Männerneid kennen wollte, den van Gudens Charakter erregt, und den ich im Tadel am allerdeutlichsten finde. Mein Cleberg hatte aber beynah Madame Grafe dadurch böse gemacht, daß er mir sagte: Salie, wenn Du mich eines Neids beschuldigtest, so würde ich dirs nimmer vergeben, weil mir eine so unedle Vermuthung [75] auch im Scherz unerträglich wäre, und weil ich mit all meinem Tadel nichts wollte, als die schönste Seite eines weiblichen Herzen ans Licht ziehen, die nicht allein darin besteht, daß man viele Jahre einen Mann zärtlich liebe, eine gute Wirthin, oder eine gute Mutter sey; sondern glänzendes übertreffendes Verdienst der Freundin innig verehren, und ihre Fehler eifrig entschuldigen zu können, so, wie Du es machtest, meine Liebe, setzte er mit Darreichung seiner Hand hinzu. Dies freute mich zwar, aber es war mir schon voraus zu empfindlich gewesen, daß er Frau Grafen so unfreundlich behandelt hatte, so, daß ich sehr bewegt aussah, ihn freylich mit zufriedener Liebe anblickte, aber doch den Moment meine Augen, auch nach Madame Grafe richtete, die etwas roth geworden, sehr lebhaft aufgestanden und in ein Fenster gegangen war. Er verstund diesen Blick, und folgte ihr nach. Vergeben Sie, Madame Grafe, wenn ich Etwas sagte, das Ihnen mißfiel! Vergessen Sie es, um Rosaliens willen, die mir wirklich noch schätzbarer geworden ist!

Ich war auch zu ihr gegangen, und hatte sie umfaßt. Sie fing zum Glück an zu [76] lachen; küßte mich und sagte zu meinem Manne: ich verzeihe Ihnen gern! Nehmen Sie es nur nicht übel, daß ich Gott danke, daß mein Mann anders gesinnt ist, als Sie! Ihnen, mein Schatz; sagte sie zu mir, gönne ich von Herzen, daß Sie für des Herrn Clebergs Spitzkopf eine feinere Denkungsart haben als ich. Machen Sie sich aber alles dies für Ihre künftige Ruhe zu Nutz; denn, wenn ein sonst höflicher Mann, sich auf diese Art gegen eine fremde Frau in Unterredung äussert, was würde er gegen das Geschöpf unternehmen, daß seiner ganzen Willkühr übergeben ist? Cleberg lachte nun auch, und küßte ihre Hand für die Weisung, die sie ihm gegeben; er versicherte, er wolle künftig ein artiger Fremder gegen sie, und immer ein edelmüthiger Oberherr von mir seyn.

Bey alle dem Scherze war bittre Wahrheit, die ich mir merkte, und sehr sorgfältig wurde, die für Kleinigkeiten so fühlbare Seite meines Mannes kennen zu lernen. Denn das Große verwahrt sich selbst, und wird auch von selbst geschont! Es ist ihm aber etwas gegen Frau Grafe geblieben; denn er wollte nicht, daß sie jemals zu den Lesestunden kommen solle, die [77] er mit mir den Ittenschen und Badischen Töchtern hält. Wir sind erst zwey Tage zusammen gekommen, die aber wirklich sehr artig sind, und ich und die gute Mädchen würden untröstlich seyn, wenn etwas daran verrückt, oder sie gar aufgehoben werden sollten. Sie wissen, daß ich immer um halb acht Uhr des Morgens ganz angezogen bin, und in meinem großen Zimmer mit Cleberg frühstücke. Da unterdessen meine Hausmagd unsere gewöhnlichen Zimmer zurecht macht; worauf dann Cleberg zu seinem Schreibtische und Büchern, ich aber an meine Arbeit und Umsicht im Hauswesen gehe. An dem grossen Saale war ein etwas ungeheures viereckiges Zimmer, von dem mein Mann einen Theil durch lauter Schränke abkürzte; und da streifige Tapeten darinnen sind, so konnte der Schluß der Thüren überall in den Streifen versteckt werden. Da habe ich nun alle mein weisses Zeug, Kleider und große Putzsachen für Cleberg und mich, unter andern auch einen Schrank voll von verschiedenem weissen Zeuge, daß er, aus einem sehr weit gesuchten Beweggrunde, bey einer Versteigerung in seiner Familie gekauft hatte: Er sagte nemlich den ersten Lesetag zu [78] den beyden Mädchen, ob ich Achtsamkeit und Geschicklichkeit genug haben würde, schon gebrauchtes und auch etwas abgängiges Weißzeug zu Rathe zu halten, zu beurtheilen und noch zu verwenden; oder, ob ich allein nur lauter neue Sachen haben und gebrauchen wolle. Er konnte in der That auch nichts anders denken, als daß mein Oheim mich erst durch seine Liebe verzärtelt und dann durch die Besorgung alles und jedes heimlichen Stücks meines Hausraths mich noch, wie das Sprüchwort sagt: »auf ein sammtnes Küssen setzte.« Bey unserer ersten Bekanntschaft und anfänglicher Liebe, sah er mich bey schönen Handarbeiten für Putz, seidene Strümpfe zu stricken, Lichtschirme und Brieftaschen zu weben, zu zeichnen und Clavier zu spielen, beschäftigt; lobte mich darüber, besonders auch über die große Reinlichkeit meiner Person, Kleidung und Zimmers. Meine Bücher- und Sprachkenntnisse gefielen ihm auch. Das Schimmernde meines Standes hatte ich nun: daß war aber für das Ideal eines teutschen Weibes, für einen ganz teutsch denkenden Mann unserer Classe, nicht genug, wie er sagt, und noch jetzo erst sagt, da ich seine Frau bin. Er lobte mich, daß ich den neuen [79] französischen Moden immer nur von ferne folgte, immer nur die simpelsten Formen des Putzes nachahmte, mit welchen der Ausdruck von Sittsamkeit und bescheidener Würde und die natürliche Begierde zu gefallen sehr artig verbunden werden könnte. Denn er behauptete, daß es einen Grad von Modeputz gebe, der einem feindenkenden jungen Mann das Gefühl der innerlichen Hochachtung benehme, aus welcher allein die Zärtlichkeit des Herzens entstünde, die unter tausend und aber tausend Mädchen, nur die Einzige lieben und wünschen läßt. Lieber Mann! sagte ich, machest du nicht zu strenge Anforderungen an uns gute Geschöpfe? denn wir putzen uns ja nur für Euch, du bist ja undankbar! Nein, Salie! ich bins nicht; aber dein Oheim hat Recht, Caroline Boge hat Recht, Kleidung und Putz machen einen Theil des Charakters aus. Sey zufrieden mit mir, und mit dir! Du bist mir Modell des liebenswürdigen Mädchen, der schätzbaren Freundin gewesen, nach deinem Bilde beurtheilte ich, was ich auf meinen Reisen sah. Du sagtest in einem deiner Briefe an die edle, weise Mariane St –, daß um die physischen Weltzirkel, unter [80] welchen die Menschen einerley Grad physisches Gute genössen, und du nur einen moralischen Kreis umher gezogen sähest; den, von Treue und Glauben der Handelsleute. Du bemerktest die Schönheitslinie, die Winkelmann anzeigte. Glaube, meine Liebe, die Tugendlinien sind auch da, mit allen Graden des mehr und weniger Vollkommenen, zu allen Zeiten und Orten; man giebt nur nicht genau Acht darauf. Ich habe in Frankreich Frauenzimmer gefunden, die, wie du, die neuen Moden mit vieler Mäßigkeit nachmachten; die, wie du, eine sittsame Munterkeit hatten.

Cleberg, sagte ich, es ist Seeligkeit für mich, so von dir geschätzt zu seyn. Sag aber, was ist dir das Liebste in meinem Charakter? Daß du ein teutsches Weib bist, und neben den glänzenden Eigenschaften, die eine Französin, Engländerin und Italienerin zieren würden, auch Hauswirthin bist, und weißt woraus unsere tuchnen Männerröcke, euer Tafentrock und Weißzeug bestehen; daß man die Baumwolle nicht macht, den Wein nicht brauet, und das Papier nicht webt; daß du deine Köchin die Suppe und das Backwerk, den Braten und [81] das Beyessen zubereiten lehren kannst; daß dein häußliches Leben dir lieber ist, als alles andre; daß du mir so gern gefällst; so sorgfältig bist, daß ich dich niemals unordentlich, unreinlich, ungefällig sehe; daß du nähen, stricken und flicken kannst. Ja, flicken! denn, sieh Liebe! es freue mich als ich mit unserm Oheim von Warthhausen zwey Tage früher zurückkam, dich mitten unter dem Vorrath des alten Leinen fand, daß ich hieher brachte, und die vielen so nett gelegten Bündel mit ihren verschiedenen Aufschriften sah:


Nro. 1. Abgehendes weiches Leinen für arme Kranke, oder Verwundete. –

Nro. 2. Bettücher zum Wenden.

Nro. 3. Bettzeug für nicht oft kommende Fremde; weil es fein, aber nicht mehr so dauerhaft ist, vieles Brauchen und Waschen zu leiden.

Nro. 4. Tischzeug alle Jahre zweymahl zu verwenden, bis das andre stärkere gewaschen ist, und ein wenig geruht hat. –

Nro. 5. Verschiedenes Weißzeug zum Hausgebrauch, wo dichtes und grobes unnütz wäre. – – –

[82] Ich sagte Dir da nichts, weil wir von unserer Reise zu erzählen hatten. – Aber, da ich Dich mit so viel Aemsigkeit und so netten feinen Stichen ausbessern sah, da hohlte ich unsern Oheim, es mit anzusehen, und ich küßte die teutsche Weiberhand, die wechselsweise weisses Zeug nähen, Landschaften und Bilder zeichnen, sticken, kochen, Hauben und Garnirung machen, Clavierspielen, Hausrechnung führen, Wäsche plätten und Briefe schreiben kann. Dieß, meine theure Salie! ist ein wahrer Zauberkreis von so vielen reizenden Tugenden, indem ich mit süssem Bewußtseyn einer daurenden Glückseligkeit um dich herum gehe. Alles dies ist auch Ursache, warum ich die Lesetage in diesem Zimmer halten will; um ganz nahe bey den Beweisen deines häuslichen Verdienstes zu seyn, die ich unsern jungen Freundinnen, neben meinen Büchern bekannt machen will.

Was kann ich zu alle dem sagen? es ist süß, von seinem Ehemann gelobt zu werden. Aber wie wohl hat mich der Genius meines Schicksals geleitet, von selbst alles zu thun, was der Mann fodert! Denn, hören Sie, meine Liebe, was Cleberg sagt: er würde mir, [83] wenn ich es erst nach seinem Wünschen gelernt hätte, nicht so viel Dank wissen, als für die freywillige Verwendung meiner jugendlichen Jahre und Talente! Er sagt, wir Weiber hätten durch Heyrath ein Amt angetreten, wie er, und andre Männer Amtsbeschäftigungen erhielten, die ihnen ein Fürst oder eine Obrigkeit anvertraue; weil man denke, daß sie in niedern oder hohen Schulen durch ihren Fleiß die nöthige Kenntnisse gesammlet hätten. Für diesen Fleiß erhielten Sie Achtung, die sich dann natürlicher Weise vermehre, wenn man sie das freywillig Gelernte in Ausübung bringen sähe: so, wie man sie auch um so mehr schätze, wenn sie in ihren Amtsgeschäften ohne besondre Vorschrift alles Mögliche, Gute und Nützliche auf eigenem Antrieb thäten. Hingegen, auf Ausrichtung gegebener Befehle und Ermahnungen folge nichts, als ein Merkmal von Zufriedenheit, mit dem eine jede Sklaventugend belohnt würde. Der Himmel solle aber ihn und mich vor dem Augenblick bewahren, in welchem er mir seine Wünsche nach einem Vergnügen oder irgend einer Sache, unter der Gestalt eines oberherrischen Willens oder gar Befehls, anzeigen würde. [84] Nein, meine Salie! Du bist meine Freundin; du wirst mir gern Gutes thun, wie es die wahre gütige Freundschaft immer that. Rechne auch darauf, edles, liebes Weib! sagte er, da er mich umfaßte und an sich schloß; rechne darauf, alles, was dein Freund Cleberg für dich, für die Wünsche deines Herzens thun kann, wird er thun.

Ich hatte hier eine Thräne in den Augen und sah etwas bedenklich, auch, wie er sagte, traurig aus. Er fragte sehr freundlich nach der Ursache. Ach Lieber! das Gefühl meines Glücks mit dir, und der Gedanke des Wehes und Elendes so vieler liebenswürdigen Weiber ist vor mir und schmerzt mich. Meine gute menschenfreundliche Salie! das bist du wieder ganz. Es giebt schlecht denkende Männer, die unrechtmäßig mit ihren Gehülfinnen handeln; aber, glaube mein Engel, viele sind selbst Schuld; denn, ich muß auf mein Gleichniß zurück kommen, es ist in Teutschland nun einmal noch Sitte, daß der Mann bey seiner Verheyrathung denkt, er vertraue seinem Mädchen ein Amt; und er vermuthet, wie der Herr, der ihm eins gab, daß das Mädchen alles wisse, was zu guter Verwaltung [85] des Amts gehört, wozu er sie beruft. Diese Erwartung wird endlich Anspruch; und wenn man denkt, daß man in seiner Hofnung betrogen worden; daß man weder das versprochene Angenehme, noch das Nöthige, Nützliche gar nicht, oder doch nicht zu rechter Zeit erhält; so kommen Befehle, Verweise, Verdruß u.s.w.

Sie können sich nicht genug vorstellen, meine unschätzbare Freundin, wie aufmerksam die lieben Mädchen waren; wie sie wechselsweise bald mich, bald Cleberg ansahen, der am Ende ganz munter gegen alle eine Verbeugung machte, und sie bat, dieß, was er da gesagt, als Vorrede zu den Lesetagen anzusehen, die wir doch nur zu dem Ende mit einander halten würden, damit ein halbdutzend rechtschaffener junger Männer, durch sie die liebenswürdigsten Weiber bekämen. Er hätte ihnen nun fügte er hinzu, schon einen Theil der Geheimnisse der besten Jünglinge verrathen, das Uebrige wolle er in den Lesestunden austheilen, wenn sie Gefallen daran fänden.

Freilich gefiel es ihnen und machte auch mehr Eindruck, als wenn es von dem schönsten oder weisesten Weibe wäre vorgetragen worden. [86] Sie wissen, Cleberg ist ein sehr hübscher Mann und seine Manieren sind höchst einnehmend. Zudem, glaube ich, daß die Achtung und Zärtlichkeit, welche er mir bey allen Gelegenheiten beweiset, zur Unterstützung seiner Lehren dienen.

Bald will ich Ihnen von unsern Lesetagen Nachricht geben. Aber erst, wenn einige davon vorbey sind, und ich Etwas von den Wirkungen werde sagen können.

Mir ist leid, daß ich noch immer in der Stadt bin, da doch Ort und Julie schon zwey Monate in Seedorf wohnen. Anfangs künftiger Woche ziehen wir auch hin, weil bis jetzo unser Haus noch nicht trocken genug war. Doch muß Cleberg wieder Etwas vorhaben, denn ich durfte seit zwanzig Wochen nicht hin, sondern nur von Kahnberg aus bis nach Ottens Landhans fahren, und mußte ihn versprechen, auch Niemand zu fragen, was man da machte? Mein Oheim ist mit einverstanden, und da muß es was Gutes seyn; denn dieser liebt die angenehmen Ueberraschungen gar sehr.

Frau Grafe sagte letzt: Cleberg wäre so artig als ein Hausdespote immer nur seyn könne!

[87]
100. Brief
Hunderter Brief
Rosalia an Mariane S**.

Nun wohne ich seit einigen Tagen auf dem Lande und bin froh, daß ich immer dieses Leben liebte, immer die Beschreibungen davon gerne las; auf meinen Reisen mich über den Landmann und seine Arbeiten freute; gerne meinen Schlaf abbrach, um, wie mein Oheim sagte, mit ihm der Sonne entgegen zu gehen. Hier kann ich aus meinem Bette sie willkommen heissen, denn unser Schlafzimmer ist gegen Morgen, und ich darf nur einen Laden aufziehen und in meinem Bette mich aufrichten, so seh ich über meinem Garten hin, am Ende des Wäldgen die entfernte Anhöhe, hinter welchen die Purpurwolken sich färben und dann der schimmernden Aurora Platz machen. Die Morgenluft strömt in mein Zimmer, ich höre das Plätschern des kleinen Springbrunnen in meinen Garten bald auf der steinernen Einfassung, wohin der Wind den dünnen Wasserstrahl treibt, bald im Becken [88] selbst, und dann das frohe Gezwitscher der Vögel, das kleine Flattern der Flügel von denen, die nah an meinem Fenster vorbey streichen, das Gacksern unserer Hühner und das Krähen der Dorfhähne; sehe dazu das schöne Grün und die blinkenden Thautropfen. O! wie gern danke ich dann mit der ganzen Natur unserm Schöpfer und bete ihn an! Ich weiß nicht, meine Beste, ob Sie das kleine Gedicht das Gräschen kennen: daher will ich es hier einschalten, weil es wirklich erst auf dem Lande seinen ganzen Werth erhält, und ich es unendlich liebe:


Das Gräschen.


Gräschen, beperlt vom Thau,
Das jüngst Mutter Erde noch
Dem verderbenden Nord
Sanft im Schooße verschloß,
Dich sang kein Lieder-Sohn.
Du! sey du mein Gesang
Kleiner, erster Bothe des Frühlings.
Ist dein stilles Daseyn dann
Dichtern so unmerkbar?
[89]
Doch vergißt dich der Tags-Strahl nicht!
Wandelt in Silber-Glanz
Deine Morgen-Thräne!
Dir, wie dem Sternen-Heer
Wachet der Vorsicht Aug,
Und, wie das Sternen-Heer,
Neunt des Allwaltenden
Namen dein stiller Pracht!
Freudig entsprangst du der Erd;
Rufest Enkel auf Enkel empor;
Deckest mit Nachkommen
Deiner Gebährerinn
Haupt, indes ungebohrner Eichen
Langsam mächtigen Drang
Unter deinen Fuß ihr
Busen bezähmet.
Gräschen! Schmuck des Hügels!
Kleid der Erde!
Augenweide!
Mehr als kühn strahlend Gold
Ist deine Farbe!
O du, des Menschen
Lust und Lager zur goldenen Zeit!
Welcher Hügel, welch
Wildes Gestade kennt
[90]
Dein Geschlecht nicht!
Deiner Brüder, wie viel!
Wanken im sanften Arm
Jedes Zephirs von Abendstern,
Bis zu der Morgen Sonne,
Die den vergötterten
Länder Beherrscher nicht
Unter goldenen Gewölben kennt;
Aber dich jeden Tag,
Wenn im Schimmer zerreissend das
Wolkenbett ihren Rosenfuß
Blendend enthüllt,
Dich, ihr Gräschen, freudig küßt.
Unbezwingbar dem Sturm,
Der die Wälder zerriß,
Stehst du triumphirend,
Wie eine Lanze des Siegers,
Stehst du da, glänzend vom Ufer
In den irrenden Bach!
Doppelschneidig scheinst du zu drohen,
Doch beugt dein Wipfel sich
Sanft der Weste Hauch,
Sanft den Liebes Götterchen
Zarter Insekten Heere.
Nicht den luftigen Erlen gleich
[91]
Scherzt mit der Wolkensonne
Deine Spitze, doch steht sie dem
Kleinern Luftvolke Erlen hoch
Und bleibt Welten unersteiglich.
Welten! auf meinem Gräschen!
Welten! dem Menschen Aug
Unscheinbar, seyd ihr glücklich?
Staub Bewohner!
Schleicht nicht der Neid, der
Wonne Verzehrer durch
Eure Städte
Aus Monaden gebauet?
Rasseln nicht Ketten von
Eines Tyrannen Thron
Ueber Eure Nacken hin?
Würgt ihr Euch nicht
Um Atomen Gewinn
Und setzt Ehren nur
Dem, der Atomen häuft?
O! dann glücklich! glücklich seyd ihr!
Staub-Bewohner! dem Menschen, der
Aus dem Daseyn euch
Unbemerkt wegtritt,
Dem sticht Gram ins Herz!
Aber Gräschen! du,
[92]
Bald hast du weggescherzt
Deinen Frühling! ein Sichelschnitt
Fällt dich mit Tausenden
Deiner Brüder; Doch, traure nicht,
Stufenweise steigst du zu
Höheren Leben auf;
Eile zu wandlen dich
In das Leben des Thiers;
Einst ein heiliger Theil des
Edelsten Gottes Geschöpfs.
Wall ein Tropfen Blut
In dem Herzen des Menschenfreunds.

Ich will alle Landarbeiten kennen lernen. Ackerbau, Viehzucht, die ersten der nützlichen Wissenschaften; von diesen will ich anfangen, einen neuen Gang durch alle menschliche Kenntnisse zu machen. Sie denken aber schon, daß es nichts anders seyn wird, als Namen und kleine Beschreibungen des Gebiets der Erfindungen und des Wissens durchzugehen, wie man, ohne von seinem Geburtsort zu reisen, die geographische Beschreibung der Erde sich bekannt machen kann, und es angenehm ist, bey Durchlesung einer Zeitung, oder Anhörung einer Geschichte, gleich zu wissen, in [93] welcher Gegend der Welt der Auftritt sich ereignete.

Meine Hauseinrichtung war den Ersten Tag geschehen, weil alles höchst einfach angestellt ist. Da habe ich gleich die Bekanntschaft, mit unserer Bauren-Haushaltung gemacht. O, Liebe! was für ein theures, schätzbares Weib ist eine gute Bäurin! Wie viel mehr, als wir, muß sie die Kräfte ihres Lebens verwenden, um Kühe, Kälber, Milch, Butter und Käse zu der gehörigen Nahrung ihrer Leute und zugleich zum nutzbaren Verkauf einzutheilen. Den Hühnerhof und das Mastvieh durch Abfall der Früchte des Obsts- und des Gemüsgartens aufzuziehen, und zu vermehren; damit alles benüzt und von des Bauren angepflanzten Futter, wieder Etwas zum Verkauf gespart werden könne. Hanf- und Flachsbau, Zubereitung, nöthiges Leinen davon in das Haus und dann das möglich Uebrige auch zu Gelde gemacht, früh und spate Aussicht über das Gesinde, und dann Kindes zu besorgen. Die Verantwortung des ganzen innern Hauswesens; das Beyspiel der Arbeit in allen Zeiten; in der Heu- und Korn-Erndte, die so schwer sind. Ich seh mit wahrer Achtung [94] die jungen Weiber an, welche zugleich mit mir zur Ehe eingeseegnet wurden. Mich dünkt, sie haben mehr nützliche Thaten vor sich, als ich sammlete. Mein Oheim machte mich mit so viel Vergnügen mit den Ackerwerkzeugen bekannt, die ich um so mehr betrachtete, als mein Cleberg die Säemaschine einführen will, mit welcher ein Acker nur Ein Fünftel Aussaat braucht, und kein Körnchen verlohren geht.

Unser Hofbaner soll der zweyte Klyjag werden, und es ist schon alle Anstalt zu des Schwitzers Dünger gemacht. So gar aus meiner Koch- und Waschküche darf kein Tropfen verlohren gehen. Der Eifer, den mein sonst so galanter Cleberg für alle diese Beschäftigungen zeigt, macht mir ihn sehr werth. Er legt einen Ton von Verehrung der Erde und ihrer Wohlthaten hinein, der an dem schönen jungen Weltmann ganz reizend ist. Die Ursache, warum ich nicht in unsern Garten durfte, eh wir herzogen, war, das eine artige englische Brücke über den großen Graben geschlagen wurde, der durch Cleberg zur Austrocknung eines Sumpfs diesen Winter aufgeführt ward. O wie viel kann ein denkender und thätiger Mensch für sich und andere thun, besonders [95] auf dem Lande, wo die Tage weniger zerstreuet werden; Ich freue mich, über das Glück der Bauerkinder! Gleich jungen Vögeln, sobald sie aufrecht sich halten können, tragen sie etwas zu ihrer Nahrung bey und die nützliche Arbeit wird ihnen Vergnügen und Bedürfnis.


So müd' ich auch von einem etwas langen Spatziergange bin, so muß ich doch das beschreiben, was mich besonders rührte. Eine Viertel-Stunde von Seedorf geht das Land abwärts und macht ein anmuthiges Thal, das durch die Ringbach bewässert wird. In der Spitze dieses Thals liegt ein kleines Dorf, welches vor einigen Jahren beynah ganz abbrannte und freylich jetzo um so schöner aussieht. Ein Fußpfad leitet in der jähesten Ecke hinunter. Mein Oheim führte uns zum Müller des Orts in den Garten, der in ein Baum-und Gemüsstück abgetheilt ist. Nun liebe ich von meiner ersten Jugend an die Baumstücke am meisten, weil ich in einem Bauergarten das Erstemal eine freye Aussicht, freye Luft, die Schönheit der Wiesen und[96] blühenden Bäume genossen hatte. Und gewiß, daß erste starke Gefühl des Vergnügens bleibt und zieht uns immer zu diesen Gegenstand. Ach! möchte doch jede erste Freude eines gefühlvollen Herzens aus unschuldigen Gegenständen fliessen, weil diese Quelle niemals versiegt und immer reizend bleibt. Sie liessen mich und Hannchen herum trippeln, bis sie uns am Ende des Baumstücks stille stehen sahen, denn dort liegt ein zerbrochener Mühlstein an einem großen Birnbaum und ein Rebenstock ist an einem Pfosten hinauf über den Stein zum Schatten gebogen. Hannchen und ich blieben stehen, weil wir zwischen dem Traubengeländer und der Hecke hin die Aussicht in das ganze Thal hatten. Mein Oheim führte mich aber näher zum Stein, in welchem diese Aufschrift gegraben ist:

»1772 hab ich, Hanns Kofel, 80 Jahr alt, bey dem Brand meine zwey Enkel, Michel und Hanns Kofel, sammt 200 Thaler Herrengeld hierher aus der Münle getragen und bin nach dem guten Werk, aus Angst für meinen braven Sohn, der zu viel wagte, auf diesem Steine selig verschieden.«

[97] O Liebe! wie weinte ich bey diesem einfachen Denkmal der Vaterliebe und des treuen Unterthanen, der Enkel und Herrengeld mit gleicher Sorgfalt rettete! Man fand ihn zwischen den zwey Knaben hingesunken, die ihn immer wecken wollten. Der Geldsack war unter ihn gefallen, und die armen Buben von sechs und fünf Jahren sassen im Hemde auf den beyden Ecken seiner Jacke, die er für sie ausgebreitet hatte.

Mein Oheim drückte mir die Hand:

Nicht wahr, Salie! der Hausvater-Tod ist auch ein schöner Tod? Der gute Alte! In der Angst seines Herzens arbeiteten die Triebfedern, die in seinem ganzen redlichen Bürgerleben ihn geleitet hatten. Nun Liebe! adieu.

[98]
101. Brief
Hundert und erster Brief
Rosalia an Mariane S**.

Ich dachte schon einigemal, meine Liebe, daß die immerwährenden Erzählungen von dem, was um mich in unserm Seedorf geschieht und mein häusliches Leben angeht, Sie wohl ermüden könnte, und freue mich in der That Sie mit einem neuen und wahren Character bekannt zu machen, der nächstens bey uns erscheinen wird. Ein Universitätsfreund meines Clebergs und Ottens, von dem sie lange nichts gehört hatten, schrieb vorgestern an den letztern eine Art Geschichte von sich, die auf einer Seite den eigensten willkührlichsten, aber auch einen von den schätzbarsten Menschen bezeichnet. Sie sollen nicht alles lesen, weil viele jugendliche Züge darinn sind, die wenig Reize für sie haben könnten, obschon nichts Unordentliches und Unanständiges darinn ist, und ihm auch seine Freunde das Zeugnis der besten Sitten geben. Herr Latten ist der einzige Sohn eines reichen Kaufmanns und wurde [99] nach dem Tode seines Vaters unter der Vormundschaft seiner Mutter Bruder erzogen; welcher als Gelehrter den Geschmack des jungen Menschen auf Wissenschaften lenkte, ihn seine Handlung für ein Stück Geld an einen andern verkaufen ließ, und seine Erziehung bis auf die Universitäts-Jahre besorgte. Historie, Geographie, Moral und Poesie waren die von ihm ausgewählten Lieblingstheile der Kenntnisse, die ihm gegeben wurden, doch beward er sich auch fleißig um Geometrie und landwirthschaftliche Einsichten. Er kam auf die hohe Schule und benutzte jede Gelegenheit, seinen Geist anzubauen. Seine beste Belustigung bestund im Lesen der Dichter und Romane. Seine ihn anbetende Mutter starb schnell, sein Oheim auch, eh er auf Reisen ging, und er wurde mit dem ein und zwanzigsten Jahre sein eigener Herr und dabey eines sehr großen Vermögens. Der erste Gedanke über seine vollkommene Freyheit war, mit seinem Gelde so zu wirthschaften, daß er memals kein Amt nöthig hätte; viel zu reisen und immer mit Anstand erscheinen zu können, ohne durch unbesonnenen Aufwand ein darbendes Alter vor sich zu sehen. So beschloß er niemals zu spielen; [100] nahm einen armen aber mit vielen Fähigkeiten begabten Purschen mit sich nach Haus, wo der unterscheidende Zug des Enthusiastischen, so in ihm wohnte, sich bey Anordnung des Denkmals zeigte, welches er seinem Vater, seiner Mutter und seinem Oheim errichten ließ; wo er nach den Ausdrücken von Liebe und Dankbarkeit am Ende den Stein zu einem Zeugen gegen sich aufrief, wenn er je durch sein Leben etwas thun sollte, das der Tugend und Güte seiner Verwandten unwürdig wäre. Er ging mit seinem Freund auf Reisen, die er bald zu Fuß, bald zu Pferde oder in einer Postkalesche machte. Zuerst besuchte er alle Orte unsers Teutschlands, die der Aufenthalt berühmter Männer waren; vorzüglich aber eilte er zu denen, deren Geist er bewunderte, und deren Charakter und Handlungen am schiefesten beurtheilt wurden, und bald, sagte er, zerbrach ich jedes Modell, jeden Maasstab von Verdienst, die mir von andern gegeben worden, oder den ich selbst geschnitzelt hatte. Die Stücke davon liegen an der Schwelle von Wohnungen der großen Gelehrten. Ich fing an den Gang der moralischen Welt nach dem Beyspiel derer zu betrachten, die den Gang der [101] Erdkugel berechneten, und ihn nur nach den Tagen nicht nach den Nächten zählten. Ich suchte nur die helle Seite meiner Nebenmenschen auf, und strebte mich das Wahre und Schöne zu finden. Es giebt überall Leute genug, die den Fehler nachspähen, sie aufdecken und bekannt machen. Ich habe kein Land, und kein Genie, hätte also weder den Plan einer Regierung, noch den zu einem Buch zu nehmen, als die Wahrheit, daß man von ferne das beste durch einen Rebel sieht, und im Uebel beurtheilt. Nachahmen konnt ich am leichtesten den willkührlichen Ton des Lebens und Gebrauch der Kräfte des Geistes, der Umstände und Gewalt. Nach diesem wollte ich aus dem großen Magazin von Erdeglückseeligkeit auch für mich das nehmen, was meinem Gemüthscharakter am tauglichsten schien. Was für seelige Tage verlebte ich mit verdienstvollen Personen in der Schweiz. Wie gestärkt und erhaben fühlten wir uns, mein Rohr und ich, bey Durchreisung der Gedürge und Seen dieses wundervollen Landes. Wir hatten der teutschen Joseph und Friederich ihre Gelehrte und Weise gesehen; und durchwanderten im Lauf von vier Jahren Italien,[102] Spanien, Portugall, Frankreich und England, und giengen von dort durch Holland und Frankreich zurück. Ich hatte mich diese Jahre über an Nichts, als Wissen, Sehen und meinen Rohr geheftet. Mein Kopf wurde angefüllt; meine Seele oft bewegt und erschüttert, eigene, und antheilnehmende Freude, Mitleiden und Menschenliebe, strömten oft, in und aus meinem Herzen, aber daurend und fest war und konnte nichts werden: weil vieles reisen mir eine Gewohnheit des Abwechselns gab und endlich gar den schmerzlichen Gedanken fühlen ließ, daß ich nun nichts Neues, nichts Reizendes mehr finden würde; weil ich alles gesehen, verglichen, das nemliche so oft angetroffen und genossen hätte. Alles war in mir, wie abgenützt, nur noch der Keim eigener Schwärmerey war unversehrt geblieben. Rousseau war seit meiner Abreise von Frankreich gestorben. Ich machte eine Wallfahrt zu seinem Grabe. Starke, melancholische, unruhige und mir süsse Bewegungen stiegen beym Anblick und Auflehnen auf sein Denkmal in mir empor. Seine Schriften, der Park von Ermenorville wurden die Welt, Ruhpunkt, Paradies und Glückseligkeit für mich. Rohr [103] beobachtete und bedaurte diese Stimmung meiner Seele. Sie nützen ihr Gefühl ab, sagte er. Wenn Sie dies, was Ihnen jetzo so viele Freude giebt, lang geniessen wollen, so entfernen Sie sich einige Zeit, und kommen zum neuem Genuß zurück. Ich ließ mich wegführen. Aber es blieb eine Leere in mir und ein Widerwillen an Städten und Gesellschaften. Doch ging ich mit Rohr nach Hause, und fand mein Vermögen und meine Bekannte in guten Umständen. Rohr verlangte auch in seine Heimath; ich begleitete ihn und befestigte sein Glück nach meinen Kräften, da ihm ein abgelebter Vater seine Stelle abtrat. Ich nahm meinen Rückweg allein; blieb in Dörfern, deren Lage mir gefiel, einige Tage liegen; lernte in dem einen Feldarbeit, und feuerte ein Paar junge Bauren zu bessern Fleiß an; half eine Schule bauen; kaufte ödes Land von dem Gemeinplatz; machte es urbar, und legte es dem Pfarrer und Schulmeister zu.

Das Danken und Achtung geben der Leute fiel mir beschwerlich; und ich ging bey Nacht und Nebel fort, kam Abends spät auf ein dem Herrn von Grünburg gehöriges Guth, war müd, und legte mich nach einer kurzen Mahlzeit [104] schlafen. Ich hatte ungefähr eine Stunde geruht, da hörte ich eine Kalesche kommen und in der Kummer neben der meinen ein Bette bereiten, in welches endlich zwey Reisende kamen, aus deren Unterredung ich fand, daß der eine ein Sohn eines Beamten, der andre ein abgesetzter Schreiber sey, die sich sehr liebten und über den Geitz und die Härte des alten Beamten wehklagten, dessen Sohn mir ein gutartiger Mensch schien, da er unter andern jammerte, sein Vater nähme nun vielleicht einen schlechten unvernünftigen Purschen an des Schreibers Stelle, oder einen listigen und bösen, dem er sich nicht anvertrauen, nichts von ihm lernen und auch den Unterthanen nichts gutes würde thun können. Bey dem Geschwätz der beyden Leute fiel mir ein, mich als Amtschreiber anzugeben und den Dienst eine Zeitlang zu versehen, möge er auch Beschwerden haben, wie er wolle. Es dünkte mich herrlich, eine solche Verläugnung meines Wohlstands auszuüben, und den jungen Beamten in seiner Begierde des Wissens und Wohlthuns zu stärken. Ich stellte es auch den andern Tag mir dem Wirth an, daß er mich vorschlagen möchte. Ich gefiel dem jungen [105] Mann; und ging gleich eine geringe Besoldung ein, worauf er mich mit sich nach Grünburg nahm, um mich seinem Vater vorzustellen. Ich erzählte ihm unterwegs, eine Geschichte von mir, die ich auch dem Vater wiederholte der mich unter dicken, finstern Augbraunen heraus stark betrachtete. Es war ihm lieb, daß ich keinen Wein tränke, und er versprach mir alle Quartal einen Gulden mehr, also des Jahrs vier Gulden Zulage zu geben; und ich sollte Abends ein Stück gedörrte Wurst und etwas Butter haben; weil sein Dienst ihm selbst nicht viel trüge könne er auch nicht viel geben. Das Hans hieß die Neue Burg, weil es nach Zerstörung der Alten auf eine Anhöhe gebaut wurde. Man gab mir ein Stüdchen im dritten Stocke, denn der Beamte schlief bey dem Geldgewölbe ganz unten, um bey Feuersgefahr sich und seine Kiste gleich retten zu können, und sein Sohn mußte im Vorzimmer liegen, um bey Angriff von Dieben bey der Hand zu seyn. Meine Treppenthüre wurde verriegelt und versperrt, damit ich als ein unbekannter Mensch, nichts in dem Hause anfangen könnte. Zu allem Glücke hatte man mir ein klein Krügelchen Lampenöhl [106] auf vier Tage mitgegeben, so, daß ich mein Licht konnte brennen lassen. Eine lange bis auf den Kornspeicher laufende Wendeltreppe führte in mein Stübchen, wovon die Wände und Decke getäfelt, aber vor Alter und Schmuz so schwarz waren, daß es des Nachts bey dem schmalen niedrigen Bett ohne Vorhänge, ein Leichen Kämmerchen zu seyn schien. Die Decke war voller Spalten zwischen denen von Speicher herab, Haberkörner fielen, die ich sammlete und auf dem halb vermoderten Blumenbret vor meinem Fenster für die Vögel hinstreute, die ich auch, bey nachgekauftem Futter so anzog, daß sie mit im Winter durch eine ausgehobene Scheibe in meinem Zimmer aus und einflogen. Meine Aussicht war herrlich. Auf einer Seite über den Garten des Beamten hinaus, eine weite Strecke Fruchtland, und schöne Wiesen an einem Bache hin, den ich eine halbe Stunde von da die waldigte Anhöhe herunter stürzen sah. Gerade aus, ein einzelner grosser Bauernhof, der an dem Fusse des Hügels liegt, auf dem die Trümmer der ehmaligen Burg stehen, deren mit Eichen bewachsene Ueberbleibsel der ganzen Gegend eine malerische Schönheit geben. Der von der [107] Seite hinab geführete, auch zerfallene Treppengang gegen die Pfarrkirche, von welcher ich die Chorfenster über den Kirchhof hin sehen konnte das alles machte mir des Morgens da ich von meinem harten Lager aufstund viele Freude. Ich überdachte dabey den Schritt, den ich durch Antretung dieses mühsamen Diensts gemacht hätte, und was man wohl von mir sagen würde, daß ich einen solchen Sonderling spielte? Aber ich sagte: Sollte mir wohl viel an dem Geschwätz der Menschen gelegen seyn, die ich nun in dem halben Europa gesehen habe. Ist in der ganzen Masse ein solches Gemisch von Weisheit und Thorheit: Warum soll es nicht in mir seyn? Dürfen anderwärts die edelsten Jünglinge ihr Leben und Vermögen elend und niedrig verprassen, und ich sollte wegen des ungewöhnlichen Guten mich scheuen? Um sechs Uhr öfnete man meine Treppenthüre; und ich bekam von dem Beamten eine Einladung zur Kirche, weil es eben Sonntag war. Nach der Predigt zeigte er mir die Liste meiner Arbeit und der Stunden, die er mir dazu vorschrieb, und die Frau wies mir das ganze Haus. Mein Stübchen, ein Kämmerchen und eine kleine Küche war der [108] Witwensitz einer Anfrau des Herrn von Grünburg. Von der Küche war im Winkel, den die Schneckentreppe an der Mauer hin machte, eine Art von Keller angebracht, worin die ehrwürdige alte Frau ihren kleinsten Vorrath verwahrte. Das Nachdenken und Vergleichen der Schicksale und der Genügsamkeit der Ahmen mit Begebenheit und Erfordernissen der Jetztlebenden machte mir, von da an, meine Wohnung doppelt werth. Ueberreste von uralten Hausgeräthe, Bildnisse von Rittern mit ihren Frauen; die Männer in Rüstung und mit Hunden; die Frauen in alter Kleidung mit Blumen oder einem Handschuh in den Händen; die einfache bescheidene Stellung alles däuchte mir wahrer, und näher bey der Natur, als wir. Der Mann mir den Zeichen des Muths, die Frau Blumen, Zierlichkeit, Schönheit und sanftes Wesen andeutend, die breiten schwarzen Rahmen dabey; dann die große Stammtafel in einem Schrank, der erste Stiften im Harnisch daliegend; ein Baum aus seinem Herzen entstanden, in so viele Zweige und Aeste verbreitet, Tugend, Ehre die aus seiner Seele quollen, allen zum Leben ausgetheilt, war mir ein schönes rührendes[109] Bild der Hoffnung der Alten auf immer ähnliche Kinder. Die großen Hirschgeweihe im Speise-Saal; die Treppe, welche aus diesem Zimmer gerad in den Keller ging, die Glasschränke, die über den Treppenhals angebracht waren; große knotige, und andre alte Gläser als Waldhörner, wilde Schweine und Vögel gestaltet; Weinkrüge mit langen dünnen Hälsen, all dieses freute mich ungemein. Zu dem hatte, nur eine halbe Stunde von da, ein anderer Edelmann ein schönes Schloß im neuen Geschmack erbaut und eingerichtet; und nur ein paar Flintenschüffe davon stand eins von Anfang dieses Jahrhunderts; so, daß ich in dem kleinen Bezirk einer Stunde Beweise des Geschmacks und der Sitten der Edlen aus verschiedenen Menschen-Altern vor mir hatte.

Der Beamte war stolz, geitzig und hartherzig; sonst, voll Verstand seiner Zeit und seines Amtes; in Geschäften und Rechnungen fleißig und genau, ordentlich und eigensinnig dabey. Die Frau eine sehr geschickte Hauswirthin, schmeichlerisch und voll Ziererey, aber reinlich in allem; sprach viel von der alten gnädigen Frau bey der sie Cammermagd gewesen; trug Sonn- und Feyertags die stoffenen [110] Kleider, die sie von ihr geschenkt bekommen hatte. Sie zeigte mir in der Pruntstube ein Bett und Stühle von weißen Canevas mit zerstreuten Blumen in farbiger Englischer Wolle genäht. Die Geschichte dieses Betts und dieser Stühle kam nach. Das alle bunte Blümgen aus lauter kleinen Fäsergen und Stümpgen Wolle gestickt wären, die sie vom Boden aufgehoben und gesammlet hatte, als die gnädige Frau mit ihren Fräulein Lehnstühle nähre, und aus Ungedult oft die Fäden abrissen und wegwarfen. Die nahm sie alle beym Auskehren, zog sie gerad; legte Roth zu Roth, und Grün zu Grün, alles in eigene Papiere. Als die Lehnstühle fertig waren, machte sie sich den Spaß ihre Bündelgen der gnädigen Frau zu weisen, die sich verwunderte, daß so viel zu Grunde gegangen wäre. Der gnädige Herr sagte auch, darum wäre des Wollekaufens kein Ende gewesen! dann wurde gefragt: was sie mit den armen Trümmergen machen wollte?

Ey! ein Wams von meinem selbst gesponnenen Canevas damit sticken! Wenn ich Else wär, (sagte der gnädige Herr mit lachen) so stickte ich mir ein Brautbett, denn du wirst ja Frau Amtmännin!

[111] Da stieg ihr in den Kopf. Aus dem Spaß wurde Ernst. Die gnädige Frau schenkte ihr die noch übrige Wolle und etwas Flachs. Baumwolle kaufte sie selbst und bekam so viel Canevas als sie brauchte; bleichte und stickte ihn, und da hatte sie im dritten Jahre hernach ihr Bett, ihre Stühle und ihren Mann. Das Holzwerk hatte man ihr auch geschenkt, weil die alten Ueberzüge von den Matten zerfressen waren. Gelacht hatte man oft; wenn sie so fleißig nähte, so hieß es: sie hätte gern bald einen Mann, aber sie that noch mehr, denn sie vernähte die übrige Läpgen Canevas zu einem Taufzeug, und zwey Kinderhäubchen. Denn nach der Braut kann ja eine Wöchnerinn kommen, dachte sie; sagte aber Niemand Nichts, als bey ihrer Heyrath. Hierin, sprach sie, bey Aufschliessung eines Schranks, (ein Häubgen und Decke weisend,) ist mein Friedmann getaufft worden, die Mädchenmütze konnte sie nie brauchen, weil sie kein Kind mehr bekam. Aber ihre Schwiegertochter würde froh seyn, es zu finden. Ich ergötzte mich an der Frau, die mir in ihren weissen Zeugschränken ihren Fleiß, ihren Verstand und ihr Glück zeigte. Ich mußte die Bettpfühle in die Höhe heben. [112] Lauter Federn und Pflaumen von selbst gezogenen, und mit Nutzen verkauften Gänsen waren darinn. Alles Leinen war von ihr; denn sie hatte nur vier Betttücher, und nur für dreymal Tischzeug mitbekommen, allen Flachs selbst gehechelt, alle Gemüse selbst gepflanzt. Sie kocht die Seife selbst, hilft waschen, gießt Lichte, näht, strickt und kocht für alle, nicht zu vergessen die Milch, Butter und Käse, getrocknetes Obst und Schaafe, die sie zieht; schwarze und weisse Wolle vermengt, das dann dem Manne und Sohne Alltagskleider giebt, die recht gut stehen. Die Baumwolle behält sie für sich zu Kamisölchen; denn sie läßt sie mit weissem Garn in Streifen wirken, und das sieht wie Stof. Ich bewieß ihr meine aufrichtige Hochachtung darüber. Es freute sie herzlich; sie drückte meine Hand und empfahl mir ihren Friedmann. Sie wollte schon manchmal Etwas in mein Stübchen bringen, das mich freuen sollte. Ihr Mann sey ein wenig zu streng; aber ein geschickter Mensch, wie ich; wüßte sich in Alles zu schicken; sie blintzte mir dabey freundlich zu. Den Tag darauf, war die Frage von einem Streit, den zwey Gemeinden über die Gränzen hatten; [113] Ich sagte, da müßte man das Land nach den Lagerbüchern abmessen, wo alle Morgen und Ruthen beschrieben seyn müßten; ich verstünde das Feldmessen. Das freute den Alten; ich sollte es seinen Sohn (aber umsonst) lernen. Denn ich müsse ja in seinem Dienst arbeiten. Ich bewilligte alles, und bey diesen Beschäftigungen auf dem Lande hatte ich Gelegenheit, den jungen Mann recht kennen zu lernen; umzubilden; im Guten zu stärken; mit den Bauren zu reden, die bald gern in allen folgten, und mich lieb gewannen; denn es war den guten Leuten so fremd, so ungewohnt, daß man liebreich mit ihnen umging, und darauf bedacht war, ihr Leben zu versüssen und ihnen auch ihre Arbeit vortheilhaft zu machen, denn bisher hatte man sie gedrückt und ausgesogen. Sie merkten, daß der junge Beamte besser seyn würde, als der Alte, und fingen wieder an, froh auf ihre Kinder und Felder zu sehen. Ich wurde von den Eltern gesegnet und von den Kindern geliebt, und niemals habe ich meinen Kopf und Herze besser genossen, als bey diesen guten Leuten!

Heute Latten so weit! Die nächste Woche das Uebrige, wenn Ihnen der Mensch eben so [114] gefällt, wie mir. Er soll dazu schön seyn, wie Benjamin West. Gefährlich für mich, sagt Cleberg, weil er ein melancholischer Schwärmer wäre. Wir wollen sehen, wenn nur muntere Mädchen für Cleberg nicht gefährlicher sind.

102. Brief
Hundert und zweyter Brief
Rosalia an Mariane S**.

O meine Liebe! wie viel verborgenes Weh, und was für gehäßige, einem wohlwollenden Herzen unglaubliche Art Menschen wohnen mit und neben uns auf der guten Erde; Gott sey Dank! daß es gewiß eben o viel unbekannte Freuden und Tugenden giebt, die den Himmel wieder aussöhnen, und uns vor einer neuen allgemeinen Verwüstung bewahren; dieser Anfang meines Briefs muß ihnen sonderbar scheinen; aber, wenn Sie nun das Uebrige von Herrn Lattens Schreiben werden gelesen haben, und Da Sie mich kennen, so wird es [115] Sie ganz natürlich dünken, daß ich in diesen Ton gerathen bin. Herr Latten fährt fort:

»Nachdem ich etwas über fünf Monate da gewesen, wurde ich krank und mußte mein Zimmer hüten; konnte aber dabey herumgehen und schreiben; ich ging manchmal an mein Fenster, um mich des Morgens an der schönen Aussicht zu erquicken, da sah ich den zweyten Tag einen Hügel herunter, eine liebenswürdige Gestalt langsam gegen die zerfallene Schloßtreppe gehen, an einem Stocke heruntersteigen und auf dem Kirchhof, zwischen den Gräbern hin, an den abgesonderten Platz schleichen, wo die sogenannten armen Sünder verscharrt werden. Sie setzte sich auf den Absatz der Mauer, (ich hatte mich gleich Anfangs zurückgezogen, um sie, von ihr ungesehen, zu beobachten) lehnte ihren Stock neben sich, faltete ihre Hände, streckte sie mit einer Art von ringender Bewegung auf einem ihrer Kniee aus, senkte mit kummervoller Anmuth ihren Oberleib und Kopf gegen diese Seite, und schien den Platz eines elenden Grabhügels zu betrachten; sah von Zeit zu Zeit gen Himmel und mit sanfter Wendung des Hauptes auf dem Kirchhof umher; weinte, betete, brach Blumen von dem [116] Grabe und ging endlich matt und schwankend den Weg zurück, den sie gekommen war. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, weil mein Zimmer zu hoch von dem Kirchhof abstund; aber, sie däuchte mich jung, schön und nach Kleidung und Gang von der besten Erziehung zu seyn. Für mich hatte sie etwas so Anziehendes in ihrem ganzen Wesen, daß ich lange nicht von meinem Fenster und von der Betrachtung des Platzes kommen konnte, wo ich sie gesehen hatte. Ich vertiefte mich mit in den Kummer, der sie zu den Gräbern geführt hatte. Aber der Platz, den sie gewählt, und wo sie Blumen gepflückt hatte, war das, was mich beynahe am meisten staunen machte. Ich hielt mich nun öfter an meinem Fenster auf, und sah in den folgenden Tagen wohl tausendmal nach dem Wege, den ich sie von der Anhöhe her hatte kommen gesehen. Es verflossen wohl acht Tage, ehe ich sie wieder erblickte. Da saß sie auf einer der obersten Stufen der Treppe mit einer Bauerfrau, die ein Kind von einem Jahr auf dem Schooße hatte, welches die junge Person streichelte und küßte; aber auch dazwischen weinte; der Bauerfrau die Hände drückte; ihre eine Achsel mit ihren Händen [117] faßte und dann eine Zeitlang ihren Kopf auf sie lehnte. Die Bauerfrau weinte mit, suchte sie aber zu trösten und wie mich däuchte, so versicherte sie sie mit dem redlichen Herzen, das in ihrer einfachen Bildung lag, daß sie sie und ihr Kind treulich liebe, und fort lieben wolle. Sie nahm darauf das Kind selbst und drückte es mit beyden Armen an ihre Brust; während ihre Augen starr und sehnend gen Himmel erhoben waren. Ich hatte sie durch mein Fernglas betrachtet. Ihre Gesichtszüge waren fein, ausdrucksvoll, äusserst weiß große blaue Augen, schöne Haare, schönen Mund, abgezehrte Arme und auf den Wangen war die carmoisin Röthe, die bey jungen abzehrenden Leuten sich immer einfindet. Ich vermuthete nun, daß sie auf eine unglückliche Weise Mutter geworden, von ihrer Familie gestraft, von dem Verführer verlassen, und durch Reue und Elend ihrem frühen Tode entgegen geführt werde. Ihre Kleidung war reinlich, passend aber armselig, so wie auch des Kindes seine umhängende Läpchen zu seyn schienen. Aber seine ganze Gestalt war Schönheit des Kindes der Liebe, und sehr munter in allen seinen Bewegungen.

[118] Dieses unschuldige Geschöpf, so voller Leben und Anlage zur Freude aus dem Schooße der Natur in den hinfälligen Armen seiner jungen und seines Daseyns willen kraftlosen Mutter, sein Schicksal nicht ahnend, nichts von dem zerreissenden Jammer des Herzens fühlend, unter dem es Geist und Kräfte eingesogen hatte, die ringsum reich tragende Gegend, und die zerfallenen Schloßmauren, der Kirchhof, alles, vielleicht die damalige Schwäche meines eigenen Körpers brachte mich zu wehmüthigen Gedanken, über das menschliche Elend, und die so nah dabey liegenden Freuden, daß ich herzliche Thränen vergoß, und mir dabey vornahm mich nach der Person zu erkundigen, die mir arm schien, und auch Sorge für das Kind zu tragen.

Ich fragte den jungen Beamten, der mich alle Abend besuchte, nach der Person, die mit auf dem Kirchhofe, und der alten Schloßtreppe erschienen war? Sie ist die Wittwe eines jungen Strassenräubers, der bey einem Angriffe im benachbarten Walde geblieben, und auf den Armen-Sünderplatz begraben wurde. Gott! was für ein Schauer durchlief mich! Das mich so anziehende, weibliche Geschöpf, [119] Wittwe eines Räubers! Mit alle dem moralischen Gefühlen, die ich in ihr zu sehen glaubte, hatte sie einen Strassenräuber geliebt, sich ihm ergeben! Das Kind, das ich erziehen wollte, aus Räuber vielleicht auch Mörder-Blute entsprossen! Sein Vater, seine Mutter jung, und dieses Leben!

Ich war stumm und starr bey dem innern Gewühle dieser Gedanken. Ich fragte meinen Freund noch den folgenden Tag, um die Geschichte, die mir fürchterlich war, die ich nicht glauben konnte, nicht glauben wollte und eben so elend darüber wurde, als ob sie meiner Schwester begegnet wäre. Friedmann brachte mir das Gerichts-Protokoll, in welchem der ganze Vorgang beschrieben, und von dem Schwager der Wittwe ein Eid abgelegt war, daß ihr Mann mit den Räubern einverstanden gewesen, zu ihnen aus der Schaise gesprungen, seiner Frau, die er herausgezogen, was zugeredt, und sie darauf weggelaufen sey, Er und seine kranke Frau darauf angefallen, geplündert und seine Frau so mißhandelt worden, daß sie kurz darauf gestorben wäre. Das Protokoll sagte auch, daß die Wittwe des Erschossenen mit Aechzen und Flehen von der Unschuld [120] ihres Mannes gesprochen und versichert, daß er sie alle hätte retten wollen und deswegen den Räubern sein Geld und Uhr zugetragen habe. Aber, setzte Friedmann hinzu der Eid ihres Schwagers und die Aussage des Kutschers waren gegen sie und sie erhielt nur zu Ertach die Freyheit, im Hirtenhause zu wohnen, weil der benachbarte Pfarrer gut für sie sagte, und sie von Jugend auf gekannt hatte. In dem Hirtenhause wäre sie mit dem Knaben niedergekommen, und seit ihren Wochen immer kränklend. Der alte Pfarrer sey vor einigen Tagen gestorben, deswegen würde sie um so trauriger seyn, weil ihr dieser so viel Gutes that. Ich war immer still, und laß nur die Stelle des Protokolls, wo von ihrem Hinknien und dem Betheuren der Unschuld ihres Mannes die Rede war. Ich bedauerte den Tod des alten Pfarrers, der mir so viel Licht hätte geben können, doch seine Frau lebte und zu dieser ging ich, so bald ich wohl war, aber das dauerte noch sechs Tage. Von der Pfarrerin hörte ich, dem Himmel sey Dank! Gutes von der Redlichkeit des armen Todten und seiner Wittwe, die nirgend keine Verwandte mehr hätte. Ihr seeliger Mann habe sich der Ehre [121] des Entleibten und der Frau angenommen; aber man glaubt bey uns, (sagte sie) einen Geistlichen nicht so viel, wie bey den andern Religionen, und die Wittwe ist arm und ohne Freund, wer wird ihr Recht schaffen? Es wäre ihr Glück gewesen, daß vor zweyhundert Jahren eine Edelfrau bey dem Hirtenhause mit Geburtsichmerzen befallen worden, daß sie nicht weiter gebracht werden konnte, und froh seyn mußte, in der Hütte zu genesen; diese habe dann eine ewige Stiftung gemacht, daß man alle atme Schwangere dort aufnehmen und ein Bierteljahr verpflegen solle. Der Herr von Ehrtach hatte nachdem erlaubt, daß die arme traurige, so kang sie lebe, da seyn dürfe, und ihr Kind ins Waisenhaus sollte, wenn es drey Jahr seyn würde. Aber dieß hätte man ihr bisher nicht sagen dürfen, weil sie das Kind gar zu lieb hätte und ihr seeliger Mann ihr auch versprochen hätte, es mir seinen Enkeln zu erziehen. Wir wollten sie mit Kleidung und Wäsche unterhalten. Denn die Stiftung giebt nur ein Stübchen, Bett, Holz, Habermehl, Salz Brod und etwas Schmelzbutter, wenig und klein, doch so, daß ihre Wohnung nicht übel ist. Sie läßt der Hirtin [122] alles, was sie von der Stiftung kriegt, und ißt Brey und Suppe mit ihrem Kinde. Denn Brodt kann sie nicht mehr geniessen, und weisses haben wir im Dorfe nicht alle Tage.« Von der Niederkunft, von den Wohlthaten, die sie und ihr Mann der Unglücklichen erzeigt, konnte die Frau Pfarrerin sehr lang und ordentlich erzählen; aber die Geschichte wurde mir nicht klar. Sie mengte Vorwürfe darunter: Man sollte nicht höher fliegen wollen, als einem die Federn gewachsen wären; und dann von einem liederlichen Bruder, der gemeiner Soldat geworden, und mit einer Marodeur Bande herum gezogen, und seinen jüngern Bruder selbst erschossen habe! Nun machte ich Bekanntschaft mit dem Hirten auf dem Felde, dessen einfache Reden und Bemerkungen meine Ideen und Entschlüsse festsetzten. Ich fand ihn bey seinen Kühen an einem Baum gelehnt, die Hirtenflöte recht gut und mit anständigen Geberden blasend; ein starker hübscher Mann, handbest, aber freundlich in seiner Miene. Ich sah, daß er meine Freymüthigkeit verdiente, und fragte ihn gleich nach der Frau und dem Kinde die bey ihm wohnten. Er betrachtete mich schweigend und [123] genau; endlich sagt er: Warum fragen Sie nach ihnen, mein Herr? Weil mich beyde dauren, und ich der Mutter und dem Kinde Gutes thun möchte. Er sah mir noch forschender ins Gesicht und fiel ein: Ey, sie sind; wie mich däucht, der Herr Amtschreiber von Grünburg, Ja, mein Freund! kennt ihr mich? Nun reichte er mir seine Hand ja Herr! ich kenne sie! Gott lohne ihnen, was sie dem armen Söldner Jacob vor acht Tagen Gutes thaten! Er ist mein ältester Bruder: Es ist ein redlicher Mann und ich hab ihn gerne. Ich bin auch redlich. Sagt mir doch was von der Frau und ihrem Kinde; es wird euch nicht gereuen. Er sagte lebhaft: Gewiß nicht, Herr! denn ich kann nichts sagen, das ihr Schaden thäte, und das wär', was mich reute! Warum gebt ihr nur eine so stutzige Antwort? Ach, Herr Amtschreiber! Ich weiß wohl, daß sie recht gut mit den Bauerleuten sind; aber, ich muß es nur sagen, es verdroß mich, daß sie von der Redlichkeit meines Bruders sagten, und von der ihrigen, und dann von mir dachten das Versprechen: es wird euch nicht reuen! werd mich gleich alles her erzählen machen, was ich von der armen Frau wisse! [124] Hirt! gebt mir eure Hand! Ihr seyd ein eben so braver Mann als euer Bruder! Die Anliegenheiten eurer Freunde sind euch also nicht um Geld feil; aber, ich meinte es nicht so, sondern ich wollte euch die Sorge nehmen, als ob der Frau Leid geschehen könnte, wenn ihr was von ihr sagtet; denn, sehr! ich möcht ihr helfen; aber, ich muß doch wissen wie? Die Mutter, Herr Amtschreiber, wird keinen Menschen mehr viel kosten! der hilft Gott, denn sie ist ausgezehrt, wie ein Marterbild und geht dem Himmel zu. Aber dem Kinde! nun das wird dem gewiß vergolten, der es thut. Ich hab den Gottes Lohn verdienen wollen aber, der arme Bube ist mir so lieb, daß ichs ihm gern gönne, wenn es ihm besser geht.

Guter Mann! Ihr sogt mir alles, nur das nicht, was ich wissen möchte. Lieber Herr Amtschreiber! ich glaub, sie wissen schon Alles, was man ins Protokoll gesetzt hat, und was kann da ein armer gemeiner Mann gegen ein Amtsurtel sagen, wo noch dazu ein Reicher einen Eid geschworen hast Hirt! Soll ich jezt auch böse werden, weil ihr über die Amtsurtel so verdächtig redt? [125] Er schien etwas betreten, faßte sich aber gleich: Verzeihen sie mir Herr- Amtschreiber, aber, der Eid von einem reichen Manne und ein Amtsurtel sind Schuld daß ich Hirt bin; und sind Schuld, daß die Frau im Spital stirbt, da ist eins zum andern gekommen, und hat mir warm gemacht! Ich erkannte in allem was er sprach und an seiner Miene einen vernünftigen und entschlossenen Mann, und verlangte von ihm die Geschichte seines Lebens und die, von der armen Frau; er möchte mich dagegen auch fragen was er wollte, ich würde ihm nach der Wahrheit antworten. Herr! Sie sind ein neuer Schlag von Amtschreibern, Wenn es vor sechs und zwanzig Jahren so einen gegeben hätte, aber was nutzts daran zu denken! Gott hat es so haben wollen, daß mein Vater und Osan Schultheiß und ich Hirt seyn soll; es ist gut, recht gut, wenn alles im Gewissen ruhig ist. Ein redlicher Hirt in unserm Dorfe und dem kleinen Spital, der den armen Kranken ein Wort von Gott und Christo den Herrn zu reden und vorlesen kann, ist auch was werth, und den Bauern ist an ihren Kühen eben so viel gelegen, als dem Fürsten an seinem Mahrstall, und den lieben [126] Vieh thuts auch gut, wenns einen treuen freundlichen Hirten hat! Dies sagte er Alles vor sich hinsehend mit halb nachdenkendem, halb vergnügtem Gesicht, als ob er mit einem Dritten redete. Ich klopfte ihn auf die Achsel: Mann Gottes! ihr seyd doch nicht gar zu wohl zufrieden, Hirt zu seyn!

Manchmal kommts; aber, wenn ich denk, daß vor Gott alles gleich ist, so ist mir alles recht; ich wär' doch nichts, als Bauer oder Schulmeister worden, aber das hätt' mich am meisten gefreut, und de alte Pfarr hatte mich auch abgericht. Gott vergelt ihm noch seine Bücher. Was habt Ihr denn für Bücher von ihm? Predigten, Gebeter und Auslegung vom Catechismus, zwey Bücher von der Viehzucht, vom Futter, Kräutern, Vieharzney; und eins, zu was der Ehrenpreis, die Salbey- die Camillen und Schaafgarben für Menschen gut sind; das hat mir viel geholfen. Dadurch könnt ihr ja der beste Hirt im ganzen Land werden! Seyd es gern. Ein ehrlicher und geschickter Mann ziert einen jeden Stand, ihr könnt dem gemeinen Wesen mehr nützen, als ihr glaubt, und ich bin sicher, daß die ganze Gemeinde was auf euch hält![127] Herr! das ist wahr und ich darf auch zwey eigene Küh halten, Wind und Wetter thut mir nichts; Gott laß es mich zur guten Stunde sagen, ich bin Jahr aus, Jahr ein so gesund und frisch, wie ein Bogel. Es freute mich, eine Bewegung von Stolz in ihm zu sehen, als er mir seine Gesundheit rühmte, und auch das gefiel mir, daß er immer während dem Reden einen kleinen Pfiff durch die Finger that, worauf der Junge abgericht war, und gleich die Heerde zusammen hielt. Ich erzählte ihm dann, daß ich das Dienen nicht nöthig hätte, und warum ich es gethan. Das wunderte ihn sehr, und ich mußte ihm meine Ursachen recht deutlich sagen. Er rührte mich innig, als er mit seinem Hute in der Hand mir sagte: Nun, Herr, wenn sie das Gott und den armen Bauren zu Liebe gethan haben, so verdienen sie einen schönen Platz im Himmel. Er schwieg etwas und dann fuhr er fort: Jetzt ist es mir recht, daß sie mir zugeredt haben, ich soll ein guter Hirt seyn, denn im Anfang dacht ich, der hat gut reden. Aber, so, Herr! das ist viel. Gott vergelts ihnen in ihrer letzten Stunde mit vielem Trost! aber, er [128] aber, er hielt inne und sah mich fragend an. Nun, was aber? was wollt Ihr wissen? Ey Herr! ob es Sie nie gereut hat. Nein, bey Gott! nicht einen Augenblick und ich bin auch um eurer Bekanntschaft willen froh, daß ich diesen Dienst angenommen habe. Lächlend sagte er: Es ist doch wahr, was man sagt, die Freywilligen dienen am besten, und wagen am meisten. Er mußte mir Verschwiegenheit versprechen, und ich erzählte ihm nun, was ich von der Frau im Hirten-Spital gesehen und gehört hatte, und bat ihn um seine Nachrichten von ihr. Herr! das erste, was ich hörte, war, daß im Walde von Alt-Grünburg eine Kutsche angegriffen worden, und daß einer von den Spitzbuben am vorletzten Ort mit seiner Frau um einen Platz in der Kutsche gebeten hatte, daß sie des Handels sicherer wären, den hätte man aber erschossen und seiner Frau sitze zu Grünburg. Nun bey dem Protodoll und beym Eid des einen Herrn hat man sie losgesprochen, und sie kam krank ins Hirtenhaus. Die Kindeswehen dauerten viele Tage mit Gicht und Krämpfen bis sie endlich den armen Jungen zur Welt bringen sonnte. Mein Weib und ich, hatten [129] noch mit niemand mehr Mitleiden. So jung, so gut und so eine saubere Frauensperson war sie; der alte Pfarrer stund gut für sie und ihn. Er hatte sie zusammen gegeben. Aber der Eid und das Protokoll war da, und der Mensch todt. Die andere fort. Sie schrie oft: gottloser, gottloser Bruder! O du armer Wilhelm! Du unschuldiger Märtyrer! u s. w. Aber das hätt' mir nicht viel gegolten, wenn ihr Gebet nicht geweßt wär. Sie betete als Kind mit Vertrauen, nicht mit Furcht als Magd, und das war mir das Zeichen der Wahrheit und Unschuld. Da sorgte ich doppelt für sie. Der Pfarrer seliger starb jähling. sonst wär es ihr noch gut gegangen. Sein Zuspruch und christliche Betrachtungen über den Willen Gottes haben sie getröstet; aber sie zehrt doch aus, sie hat ihrem Schwager wegen dem Kinde geschrieben, aber er hat keine Antwort gegeben. Ich wett' mein Leben, daß sie und wie sie sagt, ihr Mann unschuldig sind. Es hilft aber oft nichts als im Himmel, mein Vater ist auch unschuldig geweßt, und ist doch ausgepfändt worden, und aufm Stroh gestorben, und ich im zehnten Jahr ein Bettelbub geworden, und war der Beste in der [130] Schul, nun alles in Gottes Namen! Amen-Hier hatte er seinen Hut zwischen seinen gefaltenen Händen, und der redliche Ausdruck seines Gesichts bey den letzten Worten, und seine Bemerkung, daß die Frau als Kind nicht als Magd gebetet, sein gutes Weib, seine zwey Kinder, die Reinlichkeit, die Genügsamkeit und der Fleiß, das Buch in dem er die Kranken aufschrieb, die im Hirtenhause allzeit zwey Nächte bleiben dürfen, und dann mit Frohnfuhren auf das nächste Dorf geliefert werden; seine wahren und einfachen Gedanken über die Leute und ihr Schicksal, auch die Aufzeichnung dessen, was er für sie gethan, so, als ob er mit sich selbst geredt hätte; kurz abgebrochen, das war mir lieb. Ich bat ihn, der Frau nur im Anfang von meiner Redlichkeit zu sagen, und daß er im Sinn habe, mich zu bitten, in das Amtsbuch ein Zeugnis von der Unschuld ihres Mannes zu setzen, das einmal ihrem Kinde gut seyn könne. Dann wollte ich einmal selbst mit ihr reden. Ich gab ihm Geld, um sie zu laben und bat ihn, zu einem Arzt zu gehen. Aber der gute Mann hatte es schon gethan und keinen Trost erhalten. Sie sollte nichts thun, als halb Milch, halb Wasser [131] mit etwas Honig trinken und Brey essen. Ich ging halb traurig, halb vergnügt nach Hause. Ich setzte auch wirklich eine Ehrenrettung für den Verstorbenen auf, so weit ich von der Sache Kenntniß hatte. Der Hirt kam den zweyten Tag zu mir und bat mich, bald nach Ertach zu kommen, weil die arme Person täglich schwächer würde, und sie möchte so gern mit mir von ihrem Mann sprechen und ihr Kind empfehlen. Ich ging hin, stieg die schmale Treppe in ein enges Kämmerchen. Ein schlechtes aber doch reinliches Bett, zwey hölzerne Stühle und ein an der Wand festgemachtes Tischgen war alles was darinn Platz hatte. Die arme Verlassene stund, so bald der Hirt mich genannt hatte mit ihrem Kinde auf, kniete, legte das schlafende Kind vor meine Füsse: Ach Herr! um des armen Wurms willen retten sie die Ehre seines unschuldigen Vaters. Mit was für Sehnsucht sie mich anblickte, ihre bittende Hände erhob und halb ohnmächtig sich gegen das Kind beugte, das ich mit Thränen in einem Arm faßte und mit dem andern sie aufzuheben bemüht war. Die Hirtenfrau half ihr auch; aber sie wandte sich noch da knieend gegen mich. Wollen sie meinen [132] Wilhelm retten. Ja, ich verspreche es ihnen bey dem allmächtigen Gott und um des unschuldigen Lammes willen, wobey ich ihr das Kind zeigte. Sie faltete ihre Hände, und dieser allmächtige Gott wird sie ewig lohnen, aber thun sie es bald. Bald! geben sie mir nur alles an Hand, ich hab hier schon einen Aufsatz gemacht Sie war aufgestanden, und sah mich mit gerungenen Händen an. Als ich nach dem Papier in meine Tasche langte, zitterten ihre Lippen und Hände, sie sank auf das Bett. Die Hirtin hatte das Kind genommen ich nahm der armen Amalia (so hieß sie) zitternde Hand, die sie auf die Lehne des hölzernen Stuhls gelegt hatte. Fassen sie sich, gute liebe Seele. Ich will ihnen lesen, was ich angefangen habe. Sie nickte mir, trocknete ihre Thränen, und ich las ihr den Aufsatz, bis auf das, was sie noch zu sagen hatte, und sagte, daß ich es von der Kanzel würde ablesen und in die Zeitung setzen lassen. Sie hob die Hände auf: lieber, lieber Wilhelm nun sterb ich gern und ruhig! O, lieber Hirt! und Thränen erstickten ihre Stimme; aber sie hatte beyde unaussprechlich angeblickt, dann faßte sie ihr Kind: Mein Kind! [133] o wenn du leben bleibst, liege tausendmal zu den Füssen unsers Wohlthäters. Sie wollte es wieder auf die Erde legen, aber ich hinderte sie daran und sagte: Schonen sie ihr Leben, und lassen sie mir die Freude ganz ihnen und dem lieben Kinde Gutes zu thun. Leben? ich! O nein, nein! und du! (ihr Kind an sich schliessend) ach stirb mit mir. Werthe schätzbare Frau, fassen sie sich um wenigstens alles zu sagen, was zu der Ehrenrettung nöthig ist.

Hastig sagte sie: Ach Gott! ja! hören sie mich nur: Nun weinte sie wieder stark und ich war selbst so sehr erschüttert, daß ich den Vorschlag that, sie sollte sich zu beruhigen suchen, ich wollte unterdessen ein wenig in das Baumgärtgen gehen. Es war mir auch bey der starken Gemüthsbewegung in dem engen niedern Stübchen bange. Ich ließ sie mit der Hirtin und ging allein durch den kleinen Gemüßgarten dem Baumstück zu und setzte mich auf einen am Ende liegenden Klotz. Es dauerte beynah eine halbe Stunde eh sie zu mir kam. Die Hirtin führte sie. Bebend und erröthend setzte sie sich neben mich, schwieg lang und fing dann mit gesetztem Ton an: Ich werde ihnen eine kurze Geschichte von Unschuld [134] und Unglück erzählen; aber sie ist wahr, wie die Abnahme meines Lebens wahr! wie die Gnade des Himmels über uns. Mitleiden und Eitelkeit sind der eigentliche Grund meines Elends. Ich verlohr meine Eltern früh, und wurde von meiner Mutter Schwester, der Frau eines Universitäts-Raths in F** erzogen. Sie hatte keine Kinder und nur ein kleines Vermögen, vermiethete Zimmer und gab auch angesehenen Studirenden die Kost. Mein Onkel gab mir manche Stunde guten Unterricht, den ich auch benützte und mir bald viel auf meinen Verstand einbildete. Meine Tante las gern Romane und ich bekam auch Geschmack daran. Sticken, tanzen und etwas wichtig und jugendliches Aufsehen machte ihre Liebe für mich und meine Eigenliebe blind, so, daß wir auf eine vornehme Heyrath rechneten. Zwey Brüder einer angesehenen Familie kamen in unser Haus zu wohnen. Der ältere voll Boßheit und List, stark, garstig und tückisch; der arme jüngere schön, sanft, still und lernend, litte viel von dem ältern, der ihm alles Spielgeld nahm, seine Kleider und Bücher verkaufte, durchbrachte und ihn, wenn er klagte, oder ihm Vorstellungen that, noch schlug und zankte. [135] Ach, wer sollte den guten Herrn Wilhelm nicht geliebt haben. Meine Tante half diesem heimlich, und ich tröstete ihn. Er freute sich darüber liebte mich und studirte doppelt fleissig. Meine Tante dachte, da der ältere Soldat werden wollte und immer liederlicher ward, so müßte einst der jüngere den Vorzug in Vermögen und Gütern erhalten, und da sie so viel für den Jüngern gethan und er mich liebte, so würde ich durch seine Dankbarkeit einmal eine glückliche vornehme Frau werden. Der gute Wilhelm kam auch durch ihr Zureden und seine jugendliche Liebe, zu einer heimlichen Heyrath mit mir. Der alte Herr Pfarrer von Ertach traute uns, und wir lebten ruhig fort, als meine Tante krank wurde und auf ihrem Todbett ihrem Mann von der Heyrath redte, der aber darüber so entrüstet wurde, daß ich des andern Tages aus dem Hause mußte und zu meiner Stiefschwester ging, die mich aber meine Kindbettzeit über nicht behalten wollte. Meine Tante hatte mir in Eil noch ein Demant-Kreuzchen und Ohrringe gegeben. Die letztern hatte schon mein Schwager für meine Kost genommen, das Kreuzgen, (sie zog es aus ihrer Tasche) ist alles, was ich für mein [136] armes Kind und mich von der Welt übrig habe. Denn, da mein guter unglücklicher Mann mich abholte und zu dem Herrn Pfarrer führen wollte, wurden wir angegriffen und beraubt. Ach Gott, ewiger Gott! mein Schwager war bey den Marodeurs, die uns anfielen. Mein Mann erkannte ihn, und lief ihm deswegen mit seinem Geld und Uhr zu, und bat mich, weil ich hochschwanger war, auf die freye Strasse zu laufen. Meine Stiefschwester erkannte ihn auch und schimpfte ihn da gab er ihr Schläge; darauf entstund, alles, alles das Elend, der Tod und der Schimpf meines armen Mannes und von mir. Niemand hörte mich, als Gott und sie; o retten sie, retten sie die Ehre meines Mannes, so, wie er seinen Bruder retten wollte. Sie schwieg einige Augenblicke, rang dann ihre Hände und setzte mit einer unaussprechlichen Wehmuth und Stärke hinzu: Göttliche Vorsicht! du wußtest, daß der Beste nichts wollte, als Brudertreue, Bruderliebe üben, und du liessest dadurch sein Leben, seinen guten Namen und mich zu Grunde gehen! Ach! wie sollen Menschen an eine Unschuld glauben, die deine allmächtige Hand nicht retten wollte.

[137] Niemals, mein Freund! wird dies Bild des Schmerzens, der Würde und Liebe aus meinem Gedächtnis verschwinden. Ich faßte ihre Hand, schwur bey der, Gott sey Dank! eigenen Unschuld meines Lebens, daß ich die Unschuld und das Unglück ihres Mannes glaube, und den nemlichen Abend noch einen Aufsatz in das Protokoll und die Anzeige an die Gemeinde machen wolle. Sie hielt, während ich ihr das sagte, eine meiner Hände zwischen ihren beyden, und ihre sterbenden aber sehr schönen Augen waren voll Sehnsucht, Hoffnung, Dank, und sanfter Freude auf mich geheftet. Endlich drückte sie meine Hände an ihr Herz: Gott, Gott lohne sie! Ich kann nicht reden, in der Ewigkeit will ichs thun, mit meinem Kinde will ich sie vor Gottes Thron begleiten und himmlischen, ewigen Lohn erbitten. Ich sagte ihr, daß ich so leben wollte, daß ihre fromme Seele und ihr unschuldiger Mann mich mit Freuden in der Ewigkeit erblicken würden.

Sie weinte nun vor sich bin. Ich war auch still, und gewiß, die ganze Welt mit Größe und Macht war vor dem Hirtenhause an der Seite einer höchst unglücklichen, dem [138] Tode nahen Person, völlig vor mir verschwunden und Tugend, Wahrheit, Menschenliebe, Güte und Ewigkeit allein in meiner Seele. Ich begleitete sie schweigend in das Haus, und ging tief heim. Auf dem Wege begegnete mir jemand, der mich suchte. Der alte Beamte sey dem Augenblick an einem Schlagfluß gestorben. Wie froh war ich über diesen Zufall, weil mir dadurch alles erleichtert wurde, was ich für das arme Geschöpf thun wollte. Da der junge Beamte das Herz gut und weich genug hatte, um im ersten Genuß von Glück, der Freyheit, den Besitz des Amts und Vermögens gern eine Wohlthat auch auf andre auszugiessen. Er mußte noch in der Nacht fort, um dem Herrn von Grünburg den Todesfall anzuzeigen, und die Bestätigung in seinen Dienst zu erhalten. Ich besorgte die zwey Tage das Amt und die Anstalten des Begräbnisses. Schrieb aber meine Gedanken über die Ehrenrettung des armen Rechels auf. Ließ den Hirten kommen, daß er die Frau bis auf die Zurückkunft des neuen Amtmanns trösten sollte, und brachte es wirklich dahin, daß der Verstorbene bey dem Gerichte und der Gemeinde gerechtfertigt, sein Sarg ausgenommen [139] wurde, und er ein ordentliches Grab bey den ehrlichen Dorfbewohnern erhielt.

Die Ergiessungen der Freude und des Segens seiner Witwe sind unbeschreiblich, eben so, wie die Scene vierzehn Tage vor ihrem Tode.

Als es eines Morgens sehr neblicht war, wollte ich, wie im Frühjahr das Aufsteigen der Wolken, und ihre durch den mindesten Hauch des Windes abgeänderte Gestalten sehen, und dachte wohl, daß die Dünste des Kirchhofs die stärksten und dichtesten seyn müßten; heftete also meine Augen am meisten dahin, und wurde allmählig einen weissen Fleck gewahr, der an der Seite der Mauer fest blieb. Als ich ihn deutlich erblickte, war es die Gegend von Rechels neuem Grabe auf dem sein armes Weib mit ausgestreckten Armen lag. Ich eilte mit Angst dem Kirchhofe zu, und fand sie wirklich starr und sinnlos auf dem nassen Hügel liegen; faßte sie in meine Arme, und suchte sie zu beleben; legte ihre todtkalten Hände auf meine Brust, mein Herz wurde durchbebt und mit der heftigsten Theilnehmung durchglüht und ich glaube noch, daß meine heisse Wangen, die ich an ihr blasses lebloses Gesicht [140] hielt, wieder Lebenswärme in sie brachten; denn sie erholte sich, und ich führte und trug sie halb in das Amthaus, wo ich sie, mit der freundlichen Hülfe der Hausfrau, wieder erquickte und endlich, da sie nicht bey uns bleiben wollte, zurück in das Spitälchen leitete; wo sie sich legte, und sich endlich so viel wieder erholte um mir zu erzählen, daß eine unnennbare Bewegung von Zärtlichkeit, Wehmuth und Freude sie auf dem Ehrengrab ihres Mannes ohnmächtig niedersinken gemacht hätte. Der Anfall eines heftigen, nicht zu heilenden Fiebers, nahm sie vor acht Tagen aus der Welt und von ihrem Jammer weg. Bereitwilliger und seliger bat noch niemand das Opfer seines jungen Lebens da gegeben; denn sie war kaum zwanzig Jahre alt. Sie dankte mir noch daß ich ihre beyden Schwäger bey der Ehrenrettung ihres Mannes geschont hätte; und empfohl mir ihr Kind das (wie sie sagte) zu allem Unglück, alle jugendliche Gesundheit seiner armen Eltern in sich vereinigte.

Ich nahm, mit aller Feyerlichkeit das arme Fritzgen an Kindesstatt an, und seine bedaurenswürdige Mutter fiel in dem Augenblick, da ich ihren Sohn von ihrem Bett in meine [141] Arme nahm, und der Pfarrer durch eine Anrede mich zu dem Vater des Waisen einsegnete; in Zückungen, die sich nur mit dem Tode endigten. Wie jammerte mich das Schlachtopfer einer übelverstandenen Liebe ihrer Verwandtin, und einer noch übler verstandenen Gerechtigkeit. Wie oft schon sind Vorurtheile und Mißdeutungen aller Arten Henkersknechte und Mörder, der unvertheidigten und furchtsamen Unschuld geworden. Ich ging mit dem Knaben auf dem Arme weg, setzte mich mit ihm auf dem Platz, wo vor einigen Wochen, noch seine Mutter mit mir saß und ihr Schicksal erzählte. Mit Thränen sagte ich: armer Wurm! du hast nun in der ganzen Schöpfung niemand, als mich; wenn nun auch ich dir entginge, großer Gott! erhalt mich! zärtlich und treu will ich mein Wort halten. Ich erhob ihn gen Himmel und schloß ihn darauf an meine Brust. Die Seele seiner Mutter mag mich noch gesehen, noch gehört haben; denn gewiß, sie umschwebte ihr so geliebtes verlassenes Kind. Die Hirtin besorgte es noch zwey Monate, denn länger blieb ich nicht mehr in Grünburg. Ich hatte mein Bestes da gethan, weil der neue Amtmann das ist, [142] was er seyn soll. Wären nur alle so! und das einfache Grabmal für die zwey Gatten war nun aufgerichtet aus grauem Sandstein. In dem Schlangenring, den ich darauf aushauen ließ, steht:

»Hier ruhen

Wilhelm und Amalia Rechel, junge, treue, unschuldige und unglückliche Ehgatten. Die Ewigkeit lohnet ihre Liebe, ihre Tugend und ihre Leiden.«

Ich nahm meinen Sohn mit der Hirtin zu meinem Freunde Rohr, der mit einem schätzbaren Weibe recht wohl und genügsam lebte. Dem erzählte ich nun, was ich unterdessen gewesen und gethan. Seine Frau sorgte für meinen Fritz, der hold und lieb heran wuchs; immer Gegenstand der Sorge und Zärtlichkeit. Rohre Vaterstadt ist eine kleine Republik, deren wir ja unserm Teutschland so viele haben. Alte Sitte und Gewohnheiten, Patriciat, Magistrat, Zünfte, Kirchen, Einkünfte und Spitäler alles ist unter Catholische und Lutherische Glaubensverwandte getheilt. Unter beyden sind viel Hochachtungswürdige Personen, mit denen ich zwey Jahre lang, schöne ruhige Tage verlebte. Die Gegend ist höchst [143] angenehm, Berge, Wiesen und Wälder wechseln schön ab, und ein kleiner Fluß durchschneide das Thal. Hier sah ich Beweise, daß die Mittelstufe von Reichthum, Rang, Wohlstand und Größe die meiste Zufriedenheit des Lebens gewährt. Was mich an angesehenen und bürgerlichen Personen freute, war, daß sie alle Gärten und Spaziergänge aufs Land oder auf ein Dorf unendlich lieben und ihrem väterlichen Boden anhängen. Die Patricii reden gern von den Angelegenheiten der Stadt, ihre Frauen gern von ihren Kindern, sind mit schätzbaren Stolz gute Mütter und Hauswirthinnen. Hier wurde Wieland gebohren und genoß die Erziehung verdienstvoller Eltern. Sophie la Rosche lebte auch hier und erinnert sich noch mit Rührung jedes vergnügten Tages und jeder Familie, deren Freundschaft sie genoß. Sie segnet noch Menschen und Gegend besonders das schöne Wohnhaus, erzählt gern, und mit schönen freundlichen Eifer, alles Gute, dessen sie sich erinnert. Auch von den Anstalten zu Kinderfesten, die von alten Zeiten her in der Stadt gestiftet sind, wo zweymal des Jahrs alle Schulkinder in einem Zuge nach einer moralischen Anrede in der Schule an sie,[144] hinaus ins Grüne gehen, Reyhentänze halten und ihre Lehrer, Väter und Verwandte mit in ihre kindliche Spiele sich mischen und Antheil an ihrer Freude nehmen. Sie glaubt, daß dieß der Grund der Liebe ist, die alle Einwohner dieses Städtchens, und sie selbst in der Entfernung, auch in den grössesten Städten für das einfache Biberach behalten, und sie wünscht, daß diese Grundlage von vielen vaterländischen Tugenden immer wohl erhalten werden möge!

Nun hat aber mein Fritzgen drey Jahre; ist schön stark, gesund, voll Fähigkeiten, die ich in meinem Zirkel von Kenntnissen und Künsten anbauen möchte. Doch so, daß sein Unterricht von den Sachen nicht vom Wortlehren und Erklären käme. Ich habe mich bey diesem Nachdenken an alles erinnert, was mir in meiner Jugend gewesen ist; und da erschien mir Ott als der beste meiner Universitätsbekannten, und Cleberg, den ich auf meinen Reisen mit so vielem Vergnügen sah. Ich erkundigte mich nach euch, und hörte ganz viel herrliche Sachen von Aemtern, Heyrathen und Lebenstone und mich dünkte, daß ich recht wohl zu euch stimmen könnte und ich machte [145] mir ein Bild von freundschaftlicher Verbindung, von edlem, ruhigem Geniessen meines Vermögens und meiner Erfahrungen, von Otts Studium, Clebergs Geist und Beobachtungen; eure, wie man mir meldete, so artige Weiber, vielleicht schon liebenswürdige Kinder ordneten sich in einen schönen Kreis edler Freuden des Lebens. Darauf nun schrieb ich selbst, was ich seit unserer Trennung geworden bin und gethan habe. Der größeste Theil meiner traurigen Schwärmerey ist vorüber. Lichte, stille Vernunft, lebendiges Auffassen alles Schönen und Guten wo es liegt, ist allein thätig geblieben. Wolt ihr mich so, meine Freunde! unter euch aufnehmen, und mich Antheil an euch nehmen lassen, so ladet mich ein; aber bald, damit der Bau meiner Hofnung auf euch nicht zuwest werde, und mich dann das Abreisen zu viel koste.

So weit die Auszüge aus Lattens Briefe an Ott, bey dessen Vorlesung Julie und ich, Linke, Hannchen und ihre jüngere Schwester nebst Lisette Boder waren. Cleberg foderte unsere Meynung auf; wir wollten ihn alle hier haben, und Linke schafte ihm schon ein Haus in der Stadt und ein Landguth an. Ott machte [146] eine Art Anzeige der gesammleten Stimmen, zeichnete ihm auch wieder alle unsere Charakter dagegen, und wir unterschrieben einhellig seine Aufnahme in unsern Zirkel, mit der Bedingung der baldigen Ankunft noch auf dem Lande. Nun erwarten wir ihn, besonders wir Weiber und Mädchen, mit vieler Begierde; denn er muß uns viel von seinen Reisen, seiner Amtsschreiberstelle und die Geschichte der armen Rechel erzählen. Mein Oheim, der alles ganz ruhig angehört hatte, sagte am Ende zu Cleberg und Ort: Helfe eurem Freunde wieder auf den rechten Weg, den ein guter, vernünftiger Patriot geben soll. Man findet selten dauerhaftes Glück in ausserordentlichen Dingen. Es ist viel Gutes in der Welt, und das Meiste auf der großen Heerstraße des gemeinen Wesens. Strebt, lieben Kinder! sagte er gegen uns alle: die Besten unter den Guten zu seyn! aber, bleibt auf Gottes Erde! macht euch keine Flügel und steigt auf keine Stelzen, um über andre hinaus zu sehen. Ein fester und unwandelbarer Gang der wahren edlen Menschheit führt zum Glück der Weisen. Schwärmerey thut es nicht.

[147]
103. Brief
Hundert und dritter Brief
Von Rosalien.

O Mariane! es giebt keine daurende Glückseligkeit, nein, es giebt keine! Wir mögen es machen wie wir wollen; besonders wenn Weh und Freude unsers Lebens an die Gesinnungen eines andern Menschen gebunden sind.

Hören sie, Liebe, aber nur sie allein von allen Menschen der Erde; denn mein Oheim darf von diesem nichts wissen. Cleberg, der mir um alle des eigenen Sonderbaren willen so werth, so vorzüglich wurde, dem ich tausend Liebhaber aufgeopfert hätte, den ich edler als andre Männer glaubte, nicht vermuthete, daß jemals eine große oder kleine Coquette etwas für ihn seyn könnte, ist selbst Coquet. Ich finde kein Wort im Teutschen um dieß so eigentlich auszudrücken was man unter Coquet versteht, und so lassen sie es da seyn, Er ist es; schon die ersten vierzehn Tage, da wir Lesestunden hielten, fing ich an es zu bemerken [148] verwarf aber diese Idee, als Träumerey von meiner auch eigenen Art Sachen und Leute zu beurtheilen. Aber, es nahm zu, und nun hier auf dem Lande ist es allen sichtbar; so, daß Julie, Ort, Linke und mein werthes Hannchen Itten ihr Staunen und Bedauren zeigen. Ich thue nicht, als ob ich etwas sähe, ich habe sogleich mit Vergnügen eingewilligt als er die zweyte Badische Tochter, auch neben Hannchen mit hierher nehmen wollte, da er ihre Naivetät ausserordentlich zu schätzen anfing, (und sie ist es nicht; listig ist sie; aber eine schöne, aber eine sehr schöne Blondine, also auch in diesem sehr von Rosalien verschieden, so wie sie auch kleiner ist, niedlichere Knochen hat und mit süsseren Augen, so ganz empfindsam thun kann.)

Sie pries mich immer so glücklich, den schönen artigen Mann zu haben, der noch nach seiner Heyrath so gallant wäre, wie ein Liebhaber; sie merkte sich alle Redensarten von Cleberg; gewöhnte sich am ersten alles an, was er im Bezeigen, Ton und Wesen eines Frauenzimmrs lobte; wenn er vorlas und die andern Mädchen alle arbeiteten, so ging sie hinter seinen Stuhl, und sah ihm über seine Achsel [149] so gierig in die Augen und nach dem Munde, daß er es selbst beobachtete und sie neben sich sitzen hieß, wo er ihr aber immer mit seinen Blicken seine Vorlesungen zueignete. Hierauf putzte sie sich mehr auf die Lesetage, wurde traurig und schmachtend, wenn er nicht mit ihr sprach; munter und stolz, wenn er ihr vorzügliche Aufmerksamkeit zeigte; begehrte von mir die Stücke auf dem Clavier zu lernen, die ihm am besten gefielen. Ich that es auch mit vieler Sorgfalt. Er war oft dabey und beobachtete mich und sie, lobte aber allein Lisette Bader. Artige Arbeiten, kleine Lieder, was ich weis, mußte ich sie nach und nach lehren. Ihr Stimmgen ist gefällig, Liebe beseelte und lohnte sie. Denn oft, meine Mariane, oft sah ich Clebergs Augen voll Zärtlichkeit, oft mit so viel Feuer eingenommen, daß er es weder sie noch mich wollte ganz sehen lassen, und bey den Lektionen selbst, nur das Ohr gegen das Clavier wandte, seine Blicke zur Erde heftete, und dann seinem Gesichte jeden Ausdruck einer wachsenden Leidenschaft erlaubte, denn sie wissen, es blieb immer eine von den Leserinnen bey uns zu Mittage, nun ist sie ganz um mich. Ich weiß nicht, ob er jemals allein mit [150] ihr spricht; ob er in ihr Zimmer kommt. Ich mag nicht fragen, nicht lauren, nichts ausfindig machen; ich bin, so viel ich kan, mir immer gleich gegen Cleberg, gegen das Mädchen und die andern. Mein Oheim betrachtet mich oft mit einem forschenden bemitleidenden Blick, der mich bald ausser Fassung bringen könnte, und er gebt allein mit mir spatzieren, wenn er sieht, daß Cleberg weg ist.

Ich nähte einen recht schönen Tapetenfeuerschirm und nun hilft sie mir; verdirbt manches wenn Cleberg im Zimmer ist, weil sie nur ihn sieht; und ich freue mich über die Gewalt, die ich über mich habe, es ihr mit der äussersten Sanftmuts und Lächeln zu zeigen. Wenn er zusieht; so arbeitet sie artig, und ich senke meinen Kopf etwas tiefer; denn oft ist sein Gesicht ganz nahe zwischen ihrem und meinem. Gestern sagte er in einem dieser Augenblicke: Rosalie! ich wollte, daß dieses Stück die Lehne eines großen Armstuhls für mich würde, in dem ich Abends bey stillen nachdenkenden Stunden mich setzen, und artige Sachen träumen könnte. O ja! rief sie; aber da muß das Stück, wo ich arbeite, gerade für das Anlehnen ihres Kopfs seyn.

[151] Er sah sie an und sagte nur halb: deswegen will – Sie wurde roth, und er ging eilig weg. Ich war froh, denn meine Lippen zitterten ein wenig, und mein Herz war gepreßt. Doch arbeitete ich mit Eifer fort, wie Lisette auch that, aber verkehrte Farben nahm. Einige Augenblicke nachher kam mein Oheim ins Zimmer, und sagte mir, daß er mit Cleberg auf etliche Tage verreisete, und daß die Pferde schon bestellt wären. Er umarmte mich mit Zärtlichkeit. Sey wohl und ruhig, beste Seele, sagte er mit Rührung und einem bedeutenden Blick auf Lisetten und mich. Nach kurzer Zeit, da mein Oheim noch mit Hannchen gesprochen und mich ihrer Sorge empfohlen hatte, kam Cleberg im Reisekleide sehr gut aussehend herein, und sagte: es wäre alles bereit, führte Linken an der Hand gegen mich und sagte: Rosalia, unser Freund wird diese Tage da bleiben, besonders da ich Briefe habe, daß mein Freund Latten morgen oder übermorgen ankommt, dem man die große Alcove, und das Zimmer mit Kupferstichen eingeben kann, weil er vielleicht sein Kind mitbringt. Ich sagte: es freue mich, wenn Herr Linke seinen Freund wolle unterhalten helfen; ich [152] würde mir auch alle Mühe geben. Er fuhr fort. Hannchen und Lisette werden es auch thun. Ich nicht, sagte Letztere: denn ich will nur an meiner Lehne nähen. Er lächelte ohne etwas zu antworten. Mein Oheim ging gegen die Thüre, Cleberg küßte meine Hände, und das noch ziemlich kalt, wie mich däuchte. Lisette ging gegen ihn, aber er wandte sich schnell um und warf ihr nur einen Kuß zu. Abreisen, ohne mich zu umarmen! O Mariane! das schmerzte mich und dennoch fühlte ich auch, daß seine Umarmung mich nicht gefreut hätte, und daß ich so gar mit seiner Abwesenheit zufrieden war. Denn meine einsamen Stunden mit ihm wurden mir unerträglich durch den Zwang, den ich mir auflegte, ja nicht eifersüchtig zu scheinen; und ich bins doch, liebe, liebe Freundin: ich bins; und ich danke dem Himmel, daß es noch so ist, daß Zärtlichkeit und Jammer über den verlohrnen Theil seiner Liebe im Grunde liegt, denn ich kenne mich, es könnte eine Ursach zur Kälte entstehn, die den Tod meines Glücks anzeigte. Noch keine zwey Jahre besitzt er mich, und ist schon halb satt. Mariane! ach wie gut ist es, daß er weg ist, ich konnte nun sicher vor [153] dem Fragen meines Oheim, und dem scharfen Blick von Cleberg Ihnen schreiben, mein Herz erleichtern, um Rath bitten und mich sammlen. Sein Freund Latten soll einer der edelsten Menschen seyn. Etwas stille, aber der feinste Beobachter und das Ebenbild von Benjamin West. Und wie dieser schöne edle Gestalten zeichnet, so schreibt Latten Züge edler Seelen auf. Linke schien sich eine Freude zu machen, uns dieses ganz ausführlich zu erzählen. Er sagte es mit besonderm Nachdruck gegen Lisette, die über sein langes Reden ungedultig wurde, und endlich spöttisch sagte: Es wäre ihr an diesem vortreflichen Menschen gar nichts gelegen, sondern sie möchte wissen, wie lange Herr Cleberg ausbleiben würde.

Hannchen wurde aus einer Empfindung für mich ganz feuerroth, und bewegt sah sie Linken an, der sagte: Sie sind sehr neugierig, Lisette, Madame Cleberg fragt nicht einmal; und, Lisette fiel ein, hätte mehr Recht; wollen sie sagen; aber, fuhr sie fort, die Frauen sind der Gesellschaft ihrer artigen Männer so gewohnt, daß sie sie nicht mehr achter. Hannchen sah sie starr und mit Unmuth an. Ey, Lisette! wie kommen sie zu diesem Gedanken [154] bey Frau Cleberg? Ich unterbrach dieses Gespräch mit der sanften Frage an Lisetten: Sagen sie mir, warum sie es wissen möchten, ich sehe ihnen etwas wichtiges an. Ja, ja, es ist mir wichtig; ich hätte gerne, daß sie eine andre Rahme nähmen und an dem Sitz des Stuhls arbeiteten, weil ich die Lehne ganz allein machen möchte. Dies war nun wirklich unverschämt. Linke stund auf und betrachtete sie von allen Seiten mit großen Augen voll Verachtung und Staunen. Hannchen sah zärtlich auf mich. Ich faßte mich gleich, und sagte ihr lächelnd: ich will sie gleich allein nähen lassen. (Und ich glaube, daß es ihr Freude verursachte.) Morgen kann ich einen Rahmen aus der Stadt haben. Sie rief voll Freuden: O, das ist charmant! küßte ihre Hände und setzte hinzu: Sie müssen mich alles allein machen lassen, alles; ich kann nun die Schattirang schon absehen. Das ist mir lieb, antwortete ich, wollen sie auch auf meinen Platz sitzen?

Sie rückte ihren Stuhl, ich war von meinem aufgestanden; Hannchen erhob sich den nemlichen Augenblick mit einem Was? und auf sie blickend. So wie Linke mit einer Hand [155] ihren Stuhl fest hielt und sie steif fragte: den Platz da wollen sie? auf meinem Lehnstuhl weisend. Sie blieb sitzen, sagte nichts, sah aber etwas verdrießlich aus, und ich fiel ein: Ich bekenne, es wäre mir ein Bißchen Leid um meine Aussicht gewesen. Sie sollen einen eigenen schönen Platz in meinem Hause und in diesem Zimmer haben. Ich zeigte ein Fenster; da können sie auf die Landstraße sehen, wenn die Reisende wieder kommen.

Das war ihr recht, und sie schafte ihren Rahmen gleich hin, wollte mich küssen, das konnte ich aber nicht leiden. Ihre Annäherung und die Absicht war mir Näherung einer glänzenden Schlange, die mit doppelter Zunge mir doppelte Wunden drohte. Ich wand mich seitwärts ob. Schauer fuhr durch mich, Widerwillen ergoß sich in jeden Tropfen meines Bluts. Ich lasse mich in Clebergs Abwesenheit von Niemand küssen, sagte ich. Nun wurden wir aber alle still, und zum Glück, kam Julie und Ott mit ihrem ältern Kinde und sagte, sie wollten mich trösten und zerstreuen helfen. Ich ging einen Augenblick hin, um das Zimmer für den Fremden zu besehen und ließ es gleich vollends zurecht [156] machen. Es sind die schönsten Stücke von West Kaufmann, Strange und Reinolds darinn, die ich allezeit gern sah, und so oft ich in den Gang kam und Zeit hatte, hielt ich mich dabey auf. Nun stand ich alleine vor dem Bilde der Nymphe Clitia von Bartolozzi still. Es zog mich an. Ich suchte an ihr eben die Ursache, und sahe sonst keines an. Da ich lang ausblieb, kam Julie geschlichen und rief mir an der Thüre: Sind denn so schöne neue Bilder da, daß sie die alten Freunde allein lassen?

Dies brachte mich von dem dumpfen Gefühl zurück, daß meinem Herzen das nemliche Schicksal drohte. Ich ging dann mit der ganzen Gesellschaft in den Garten. Lisette dauerte mich beynah, ungeachtet meiner Gehäßigkeit gegen sie. Denn alle begegneten ihr mit so viel Kälte und Geringschätzung, daß man sie gar nicht anredete, sondern sich nur mit mir beschäftigte. Sie ging aber auch gern allein, sie war auf einmal weg und ich sah nur noch einen Zipfel ihres Kleides, wie sie in den kleinen Schoppen ging, den Cleberg bey dem Bau des Hauses zur Schreinerey hatte errichten lassen, und nun seine Drechselbank und kleine Steinhauerey [157] darinn hat, wo er Vasen und deren Fußgestell aushauen hilft, und allerley sehr artige Sachen drechselt. Ich sagte, daß sie dahin gegangen sey, und Linke flog auch von uns, nahm aber den Weg auf einer andern Seite, wo er durch ein Gitter den Schoppen übersehen konnte. Als er wieder kam, sagte er mit einer nachdenkenden Miene: Lisette will drechseln lernen, denn sie beschäftigt sich mit dem Drechselhandwerkszeuge. Ist Niemand bey ihr? fragte Hannchen. Nein! keine Seele, als ihr eigener böser Geist. Ich fühlte, daß das Mädchen nur dorthin gegangen war, um alles in ihre Hände zu fassen, was Cleberg berührt hätte. Ihre Leidenschaft war also schon stark und sehr zärtlich. Gewiß, Mariane, sie jammerte mich aufrichtig bey diesem Gedanken, ob schon eine Mischung von Unwillen in mir war, und ich wünschte ein Mittel zu wissen, ihr zurecht zu helfen. Ost, Julie und Hannchen schüttelten die Köpfe gegeneinander, und ich nahm Juliens Mädchen an meine Hand, um ihr Blümchen suchen zu helfen. Niemand hielt mich zurück, weil sie gern sprechen wolten. Ich setzte mich endlich mit dem Kinde in das halbe Geißblatthüttgen, [158] das an dem kleinen Bache steht und Saliehüttgen heißt. Die Gesellschaft dieses unschuldigen Kindes erquickte mich, und that mir wohl. Ich ergoß manch Bewegung meiner Zärtlichkeit, indem ich es an meine Brust drückte. Ich umfaßte sein Hütgen und Schürzgen mit artigen Feldblumen; verweilte mich aber lang genug, daß sie mich endlich suchen mußten und mich ruften. Ich ging mit der lieben kleinen Grazie nach ihnen hin und erblickte gleich einen Fremden, in einem simpeln, aber sehr netten Reisekleide. Linke stellte mir Herr Latten vor, der mich, wählend ich zur Gesellschaft ging, sehr genau betrachtete, und auch das Kind ansah, um dessentwillen ich etwas langsamer gegangen war. Edel, höchst edel, ohne einen Zug von Schönheit ist dieser Latten gebildet. Groß, schlank, ein herrliches Auge voll Feuer, und doch ohne die mindeste Schnelligkeit in seiner Bewegung. Aber aufheften kann er sein Auge mehr, als ich je an einem Menschen bemerkte, und dann sieht man gleichsam das Eindringen seiner Gedanken in die Sache, die er betrachtet. Seine Sitten sind so rein, seine Urtheile so richtig, mit so treffenden Ausdrücken, daß er, nach diesem [159] Durchblicken seiner Augen, für einen Menschen gehalten werden kann, vor dem man das Herz nicht hat, Böses zu denken: denn, wahrhaftig! es ist als ob er in das Innerste schauen könnte. Wir assen im obern Saale zu Abend. Latten bezeugt Vergnügen an den Gebäuden und der Einrichtung, die Cleberg hier gemacht hat. Lisette hatte eins von Clebergs Büchern geholt, und saß in ihrem Zimmerchen und laß. Hannchen brachte sie zu uns, wo sie doch etwas verschämt auf uns blickte; aber ich suchte sie durch mein natürliches Bezeugen aufzumuntern. Latten beguckte sie, kann ich sagen, denn sein Auge hatte nicht das, was betrachten heißt. Linke führte ihn nach seinem Schlafzimmer, und ich blieb lange mit Nachdenken wachsam, was ich für Lisettens Stimmung und zur Erhaltung meiner Ruhe thun könnte. Cleberg ist liebenswürdig, sie ist freylich zwanzig Jahre und hat schon Kenntniß von Welt und Liebe, aber nicht Stärke der Tugend, nicht Stärke des Geistes genug, um der Gewalt zu widerstehen, die durch reizende Eigenschaften und vorzügliche Achtung eines jungen Mannes, auf ihr eitles leichtes Herz wirkten. Cleberg ist nicht großmüthig gegen [160] sie, nicht zärtlich gegen mich gewesen. Ich will noch zusehen; aber wäre ich noch Mädchen, wäre es der Abend vor meiner Trauung, ich träte ihn Lisetten ab. Mein Herz, meine Hand zögen sich zurück, und ich ginge nach Wollinghof. Er soll keine Klage, keinen Unmuth von mir hören; keine Frage; nichts! Gute Nacht, Beste! Ach, sie haben mir niemals Schmerz der Seele erregt, niemals! Der Himmel lohne sie dafür! Lieben sie mich. Freundschaft ist das wahreste, edelste Gefühl der Menschheit. Traum, Rausch der Liebe, mit all deinen Seligkeiten, wie weit bist du von mir! Ich fühl es, nie, nie kommst du wieder zurück. Ach, Mariane! wie viel weinte ich gestern in meinem Bette um diesen Traum. Sie erhalten mein Leben und meine Vernunft; denn, da ich niemand etwas sagen will, und doch alles so heftig in mir arbeitet, wühlt und kämpft, so erläge meine Gesundheit oder mein Kopf. Denn mein Herz, o Mariane! mein Herz leidet viel, leidet in seinen Grundsätzen und seinem Wohl, denn niemals konnte ich Coquetterie ertragen. Es schien mir immer unedel, unwürdig. An einem Fremden schien mirs so; und nun an [161] Cleberg; und ich sein, auf ewig sein! Seine Liebe mein einziges Glück! Adieu, ich fühle mich stark genug, um mich zu beobachten und meinen Plan des ruhigen Ertragens durchzusetzen. Lieben sie, o lieben sie mich!

104. Brief
Hundert und vierter Brief
Rosalia an Mariane S**.

Ich will fortfahren, ihnen zu schreiben. Es erleichtert und stärkt mich. Neben diesem fiel mir auch der Gedanke ein, daß ich durch die Briefe über diesen Vorgang in meinem Kopfe und Herzen, einmal bey wiederkommender Ruhe mich selbst recht kennen werde. Ich bin gestern sehr früh aufgestanden, weil ich diesen Gast habe, und völlig angekleidet zum Frühstück kommen wollte. Mein Putz nimmt mir so nicht viele Zeit weg, eine braun und blauspielende tafente Polonaise, ein Strohhut mit blauen Bändern, eine weise Schürze und ein Halstuch von weisem Flor war alles. Mein Nährahmen aus der Stadt [162] war da. Ich machte mit Hannchen meine Arbeit zurecht, noch eh Linke und Latten zu uns kamen, und in der Küche hatte ich das Mittag- und Abendessen schon bestellt, auch wohl vorläufig etwas auf morgen; denn es sey im Vorbeygehen gesagt, meine Köchin und ich verstehen uns vortreflich darauf, einer schon erschienenen Schüssel mit Speisen ein anderes und neues Ansehen zu geben, welches am Ende des Jahrs in meiner Küchenrechnung etwas Ansehnliches erspart. Da wir ohnehin nicht von der vorgesetzten Zahl der Schüsseln abgehen, und hier auf dem Lande mein Aufsatz von lebendigen Blumen in der Mitte des Tisches, der alle Tage abgeänderte Formen hat, neben meiner schönen Tafelwäsche und der Nettigkeit, womit der Bediente meines Oheims und der unsrige aufwartet, dem Auge eines Gasts soviel Vergnügen geben, daß er sich nicht so genau nach der Anzahl der Speisen umsieht, und ohne ein schwelgendes Mahl vor sich zu haben, satt wird und zufrieden aufsteht. Mein Tisch zum Frühstück bestand aus Obst. Milch, Thee, Caffee und Chocolade war auch bereit, und Gläser mit Blumen waren dazwischen aufgestellt. Lisette saß schon an ihrer Arbeit, nicht so sorgfältig [163] gekleidet, als sie es bisher gewesen war. Ich hatte noch eh ich aus meinem Zimmer ging, mit mir selbst gesprochen, sie entschuldigt, mir Edelmüthigkeit gepredigt und gesagt, daß die Ausübung einer jeden Tugend, mit Beschwerden und Ueberwindung verbunden sey; daß tausend liebenswürdige Frauen dieser Art von Lebenskummer ausgesetzt sind; daß Lisette unglücklicher würde als ich, weil sie in der Achtung der besten Menschen so viel verliehre, die Ruhe und Unschuld ihres Herzens dahin sey, und endlich kam ich bis auf die Stärke des Vorsatzes, nach der Zurückkunft von Cleberg mit ihr oder ihm darüber zu sprechen, wenn ich bemerken sollte, daß es noch weiter ginge, als es würklich gegangen ist. Ich will meine Bitterkeit gegen Lisetten auch innerlich bekämpfen, und wirklich suchen, gut, sanftmüthig mit ihr und streng auch gegen mich selbst, wie bisher gegen sie zu seyn. Schon so fleißig! sagte ich, als ich in das Zimmer trat, und sie erblickte. Sie stund ein wenig auf, als ich auf sie zuging, und deckte alles zu, was sie genäht hatte. Sie müssen nichts sehen. Ich habe gestern darum gebeten. Ich ging lächelnd zurück. Ich will nichts sehen: Ich will recht bescheiden seyn; fahren [164] sie nur fort, erwiederte ich, und ließ sie auch, ohne mehr darüber mit ihr zu sprechen, ruhig sitzen, ausgenommen, daß ich sie zum Frühflücken bat, als die beyden Herren in das Zimmer kamen. Linke sah ernstlich auf meinen Nährahmen. Haben sie wirklich den Eigensinn nachgegeben? fragte er. Ach, artige verwöhnte Kinder haben immer so was für sich zu wollen, sagte ich lachend: etwas so unschuldiges als diese Arbeit ist, kann man ja gehen lassen! Lisette ward roth, und sah Linken und mich etwas bitter an. Das ist schlimm, dachte ich, Mädchen! für dein Herz. Aber ich verdoppelte meine Gefälligkeit gegen sie. Denn, ich will nicht, daß sie bey Cleberg über mich klage. Wenn er sie liebt, so soll es von mir nicht in einem üblen Bezeigen geahndet werden; ich will edler seyn als sein Mädchen und großmüthiger als er. Latten mußte uns bey dem Frühstück von den Sitten und Gewohnheiten der englischen Nation erzählen, die er die größeste nennt und in der That, da er uns von England sprach, gar nicht der stille Mann war, wie ihn sein Ott beschrieben hatte. Denn er redete mit vielem Eifer, aber in so bestimmten Ausdrücken, daß er nicht ein Wort zu viel [165] brauchte, und seine ganze Rede eine große edle Einfalt in sich faßte. Er kennt die Angelika Kaufmann, die mich als teutsche Künstlerinn zuerst anzog. Nachdem er viel auf Linkens, Ottens, und mein Hin- und Herfragen geantwortet hatte, beklagte ich, daß er bey seinem emsigen Reisen in diesem Reiche nicht auch auf den Gedanken gekommen sey, Schottland und Irrland zu besuchen, die mir für mein Herz beynah werther und merkwürdiger wären. Der Herzog von Bukleigh allein hätte es verdient, sagte ich. Warum dieser? fragte Latten. Ich erzählte was er zum Besten seines Vaterlandes bey Errichtung der Wechselbank gethan hatte, und sprach auch von den westlichen Inseln dieses Königreichs, wo ich dem edlen jungen Maeleän so gerne ein Denkmal möchte errichten lassen, der um den Wiesen- und Ackerbau auf diesen Inseln zu verbessern, sich bey einem Pachter in England als Knecht verdingte, alle Feldarbeiten lernte, nach drey Jahren zurückkehrte, und dann seine väterlichen Erbländereyen selbst umarbeiten half, und den Leuten Unterricht gab. Sein Herz hatte ein süsses Glück zu hoffen, da er eine der liebenswürdigen Töchter eines Edelmanns[166] bekommen sollte, der ganz allein mit seinen Kindern auf einer dieser Inseln wohnt. Der schätzbare Jüngling ging an den Feyertagen hin, war der beste Steuermann, den Fremde und Einheimische haben konnten, führte viele glücklich hin und her, ihn aber ließ die Vorsicht in einem Sturm umkommnn, als er von seiner Braut zurückkehrte. Mein liebes Hannchen hatte Thränen in den Augen und Herr Latten sah mit Nachdenken und gerührt auf mich und sie. Wir sollten alle bey Ott zu Mittag essen, aber Lisette entschuldigte sich mit einem Kopfweh, und blieb zu Hause, um recht eifrig fort zu arbeiten. Das arme Mädchen hat nun wirklich keine Kraft mehr, gegen ihre Leidenschaft zu kämpfen, und läßt es sich so ganz hingehen. Mich dünkt, dies müsse wirklich Naivete seyn; denn es wäre ja sonst der größte Mangel an Sittsamkeit und Feinheit des Gefühls. Ich will ihr nachgehen mit Güte, mit Mitleiden, um zu sehen, was ich thun kann, um sie wieder zu gewinnen und zu retten.

Ottens Baurenhaus gefiel dem Herrn Latten ungemein und er zeichnete es heut früh mit farbigen Bleystiften ab; so, wie er auch mit unserm Landhause und Garten thun will.

[167] Morgen gehen wir nach Kahnberg. In die Stadt soll er erst, wenn mein Oheim und Cleberg zurück kommen. Die Gesellschaft dieses jungen Mannes ist äusserst einnehmend, da er niemals das Fehlerhafte rügt, von der ganzen Erde gutes denkt und spricht; alles Schöne und Gute aufsucht, fühlt, sich dabey verweilet, und auch uns Frauenzimmern feine Schmeicheleyen sagt, wie zum Beyspiel Julie und ich das Lob erhielten, daß wir in Kleidung, Hausgeräthe und Bestellung des Tisches, wie im Ton unserer Unterredungen gleichsam einen Auszug der besten Zeiten, was vier große Europäische Nationen eigenes haben, machten. Wir wurden, ich versichere sie, wahrhaftig beschämt; und ich sagte: O, Herr Latten! wie wollen sie dieses alles in zwey Tagen gesehen haben? Nun wurde mein Hut, meine weiße Schürze, meine Gestalt, die niedrigen Absätze meiner Schuhe, und die Zubereitung des Frühstück-Tisches Beweiß des engländischen Geschmacks in meinem Hause; Juliens Anzug und Bezeigen das ausgewählteste Feine und sittlich schöne Französisch nach seines Otten herrschender Vorliebe zu dieser Nation. Unsere Musikalien, dann die Vasen im Garten, einige [168] Säulen am Hause waren Italienisch. Die wenigen Schüsseln bey den Mittags-und Abendessen, die Freymüthigkeit mit welcher wir unserer Liebe für unsere Männer zeigten, der kleine Stolz und Eifer mit welchem wir unsere Hauswirthschaft führten, sey teutsch. Die Büchersammlung von Italiens, Englands, Frankreichs und Teutschlands schönsten Werken, bewiese auch, daß seine Anmerkung richtig sey; Ja, selbst in unserer Sprache, ob wir schon alle fremde Worte sorglich vermieden, wären ganze und einzelne Spuren eines Ganges oder Wendung der Ideen, die uns das Lesen dieser verschiedenen Schriftsteller gegeben habe. Er sagte dies alles recht artig, und gar nicht als ein Mensch, der Jahr und Tag nur mit Bauren und einem rauhen Beamten gelebt hatte. Ich sagte zu Julien: Es liegt viel Schönes in der kleinen Geschichte von unserm Haus- und Wirthschaftswesen, aber es ist kein Ganzes, sondern nur zusammengetragenes Zeug, und das mißfällt mir, Liebe! Wir sind so gern ganz teutsch. Die drey Männer sahen mit Vergnügen und Aufmerksamkeit uns an. Julie sagte auch mit ihrer innigen Sanftmuth: Mich däucht wirklich, daß wir mit dem glänzenden [169] Gemische nicht ganz zufrieden seyn sollten; und zu ihrem Manne: Wie machtest du es dann, aus mir guten, einfachen, teutschen Mädchen eine feine Französin zu bilden.

Latten stund mit Eile auf und bog sich mit edler Bewegung seiner Hände gegen uns: Julie, Rosalie! sie werden doch nicht ernsthaft unzufrieden seyn, wenn man schöne Wahrheiten von ihnen sagt? Also doch Wahrheiten! erwiederte Julie mit reizendem Nicken ihres artigen Kopfs. Wollen sie mir erlauben, daß ich es ernsthaft beweise, sagte Latten. Können sie dies wohl? fragte ich. Ja, und noch dazu wird mein Beweis völlig ihre Rechtfertigung mit sich führen. Also auch die meinige, fiel Ott noch ein. Gewiß, sagte Latten, aber da die Frage von lauten guten, die Menschen glücklich machenden Sachen ist: so müssen sie mich etwas ernst sprechen lassen.

Wir neigten uns alle ein wenig, um unsere Einwilligung zu zeigen, und er fing mit einem zärtlichen Ton der Stimme und der gefühlvollsten Miene an, indem er freundlich auf uns blickte: Ich glaube, daß wir alle recht gute Kinder der göttlichen Vorsicht sind; sie hat ihrer viele auf allen Ecken der Erde zerstreut [170] und sie will allen wohl: darum schmückte sie überall die Wohnplätze der Menschen mit Bäumen und Blumen, und gab dem Boden und Thieren Fruchtbarkeit und Nützlichkeit für Geschöpfe. Wegen dem allgemeinen Menschenwohl, läßt sie an Ausbreitung der Lehre einer wahren reinen Religion arbeiten. Physik, Weltweisheit, Gestirn- Handlungs- und Gesetzkunde fliessen zum grossen allgemeinen Besten überall zusammen und werden von allen genossen; warum sollte dann von den übrigen Gütern des Lebens und Vergnügens die Zweige weniger ausgebreitet und vielleicht gar aus kleinen Eigensinn weniger angenehm werden. Ich habe mir den Plan gemacht, sagte er gegen Ott, ein Naturalien-Cabinet anzulegen, worinn alle Kräuter nach dem Linnäus, alle Steine und alle Mineralien versammlet wären. Meine Bücher sollen historisch-geographische Beschreibungen der Welt enthalten, und so viel möglich Kupfer und Abbildungen von Menschen und schönen Gegenden; dadurch könnte wohl unser Zirkel der ganzen Erde äusserst merkwürdig werden, wenn bey mir Auszüge des Wunderbaren, der physischen, und bey meinen Freunden alles Ehrwürdige und Reizende der moralischen[171] Welt zu finden wäre. Wir wollen keine ausschliessende Menschenliebe, keinen ausschliessenden Geschmack haben, sondern das schätzbare Gute und Angenehme aller Nationen hochachten, alles Nützliche und was das Leben versüsset, uns zu eigen machen, und da im Mittheilen und Annehmen unsern Mitmenschen Brüderschaft bezeugen. Diese Ergiessung allgemeiner Bruderliebe von dem kleinen Winkelchen meines Zimmers bis in die äussersten Grenzen der Erde, aus dem Munde eines jungen Mannes von sechs und zwanzig Jahren; die flammende Röthe die sein Gesicht einnahm, als er sprach; der wachsende und fallende Ton der Stimme, seine bald lebhaften, bald sanften Blicke; das, was ich hörte, was ich dazu dachte und fühlte, brachte mich in die sanfteste, und ich darf es sagen, edelste Stimmung der Seele. Ich war bis zu Thränen gerührt und eingenommen. Er bemerkte es mit vieler Feinheit. Denn, als er zu reden aufhörte, fragte er erst Julien: ob sie nun mit ihm ausgesöhnt sey? Sie versicherte es ihm, mit alle der Anmuth, die den Charakter ihres ganzen Wesens ausmacht. Zu mir wandte er sich nur mit den wenigen Worten: und Rosalia? [172] Er mochte meine Augen noch naß gesehen haben; denn gleich sanken seine Blicke aus Schonung zur Erde; ich faßte mich aber und sagte: Herzlich bin ich versöhnt und noch mehr, ich stimme ganz mit ihnen ein.

Hier erhob er seine Augen, aber nur blitzartig auf mich, wandte sie gleich ab, und ich sagte zu Julien! Wir wollen also moralische Seltenheiten sammlen und Herrn Latten bitten, sein Cabinet bald anzufangen; dann stund er auf und lehnte sich an ein Fenster. Wir waren olle still. Ort ging zu ihm. Julie sagte mir: Ich bringe heut einen Theil meines Mittagsessen zu dir, und mein Mädchen auch. Ja, meine Liebe das ist ein recht glücklicher Einfall. Hannchen ging mit ihr, und ich bemerkte erst da, daß Lisette nicht im Zimmer wäre. Ich fragte Linken: ob sie schon lange weg sey? Ey freylich! Es mußte ihr ja bey den Aeusserungen von Güte und Tugend ganz übel werden.

Diese bittere Anmerkung that mir für Lisetten weh.

Pfui Linke: schämen sie sich, daß diese Güte so wenig auf sie wirkte, um ihnen diese grausame Auslegung über etwas ganz Zufälliges sich zu [173] erlauben. Die Arme jammert mich herzlich, und ich bitte sie, sagen sie diese nachtheilige Idee keinem Menschen mehr. Er ging weg, kam bald wieder und sagte zu mir: Lisette macht ihre Betrachtungen in Clebergs Cabinette. Ach, sie wird um so bedaurenswerther. Sie sind eine sehr eigene Art Frauenzimmer. Gott gebe, daß ich es auf der guten Seite immer bleiben möge und ich bitte sie, Linke, sagen sie mir nichts, das meinen Gang wankend machen könnte. Ort und Latten waren fort. Linke folgte ihnen, als Julie und Hannchen darauf wieder zu mir kamen. Als ich mit der kleinen Rosalie spielte, erschien Latten unter der Saalthüre, sah mir einige Augenblicke zu und näherte sich mit sanften ehrerbietigen Gebehrden: Ich darf wohl hoffen, sagte er, daß sie, meinem Fritz erlauben, mit der kleinen Salie bey ihnen zu essen? Ach ja, wo haben sie ihn dann? Er ist mit meinem Bedienten bey dem Herrn Pfarrer. Und das seit ihrer Ankunft? O Herr Latten, wie konnten sie an mir zweifeln. Er antwortete nicht, sondern flog davon, und führte den holden Knaben zu mir, da ich unterdessen in dem untern Saal gegangen war, und auf einer der [174] Stufen vor der Thüre saß. Der gute Kleine sah seinen Pfleg-Vater und mich an; seine Schönheit und zärtlichen Augen und die Erinnerung an das Schicksal seiner Eltern hinderten mich, zu reden. Ich breitete meine Arme nach ihm aus und das gute Kind lief zu mir, hängte sich an meinen Hals und küßte mich. Latten ging weinend in die Allee, und ich drückte Fritzgen mit Thränen an mein Herz und bat Gott, seine Unschuld zu schützen, und Latten zu seegnen.

105. Brief
Hundert und fünfter Brief
Rosalia an Mariane S**.

Nun, Mariane, kann ich auch sagen, ich habe das Schwerste gethan, was eine zärtlich liebende und empfindliche Frau thun kann. Vor fünf Tagen kam Cleberg mit meinem Oheim zurück. Ich hatte so viel über mich gewonnen, daß ich noch während seiner Abwesenheit Lisetten mit alle meiner vorherigen [175] Achtung und Freundlichkeit begegnete; ein ofenes natürliches Wesen behielt, und alle meine Anwandlungen von Unmuth und Rachsüchtigkeit, von denen ich nicht frey war, dahin zu wenden suchte, jede gute Eigenschaft meines häuslichen und gesellschaftlichen Verdienstes, die Cleberg an mir geliebt hatte, in ganzer Thätigkeit zu erhalten, indem ich mir sagte: seine Hochachtung soll mich für den Verlust seiner Liebe schadlos halten. Aber, o Mariane: Was kostet es, dies zu sagen; und wie viel eigene Erkältung des Herzens gehört dazu die Kälte eines andern mit Ruhe zu tragen. Ich bemerkte, daß Linke dem vortreflichen Latten von der kleinen Ehstandsbegebenheit geredet hatte, weil sie mich, wenn ich mit Lisetten sprach oder Cleberg nannte, am meisten zu beobachten schienen, und mir vereint eine vermehrte Achtung bezeugten. Lisette wurde auch wieder etwas vertrauter; arbeitete aber mit anhaltendem Eifer fort; fuhr zehnmal des Tages von ihrem Sitz auf, wenn sich das Rasseln einer Kutsche auf der Landstraße hören ließ. Eine Röthe und verdrießliche Miene zeigte, daß sie sich betrogen hätte und sah doch immer wieder hinaus, dann auch mit gesenktem Kopf [176] nach uns, und ihren Stuhl rückte sie mit Ungeduld zurecht. Ich nähete auch, beschäftigte mich aber viel mit Lattens Fritzgen; ein holder empfindungsvoller Knabe, für den ich van Gudens Bilderbuch aus der Stadt bringen ließ und Mittags, weil es zum Spatzierengehen zu warm war, die Bilder anzeichnete, die er merken und mir ähnliche Sachen des Abends im Felde, im Dorf oder im Garten zeigen mußte. Nicht nur die Geschichte seiner Mutter, sondern auch die Aussicht, die vor mir ist, selbst ein Kind zu haben, hefteten mich an ihn, und machten, daß ich eine Probe vom nützlichen Gebrauch des Bilderbuchs mit ihm vornahm und ihn auch das, was er im Herumgehen sah, wieder im Buche aufsuchen ließ. Er wollte ein kleines Feld und einen kleinen Pflug haben. Der Wagner im Dorfe hat einen Buben von sechs Jahren, der alles, was sein Vater im Großen und von harten Holz macht, im Lindenholz nachäst, und gewiß ein sehr vortreflicher Mann in diesem Handwerk werden wird; er hörte auch nicht auf, den Sohn des Schmids dahin zu bringen, daß er ihm kleine Pflugschaaren machte, damit sein ganzes Ackerzeug vollkommen seyn [177] möchte. Mit dem Jungen des Zimmermanns baute er sich einen Schoppen, wozu ihm Cleberg das Holz gab, und auch für die Jungens das Lehrgeld zahlen will, die sich durch das Beyspiel von diesen zum Fleiß und Geschicklichkeit aufmunterten; wie ich ihnen auch hier sagen will, daß er bey dem Bau unsers Garten und Hauses nebst meinem Oheim auf die herumschlendernden Buben Achtung gab und diejenigen, welche sich oft und anhaltend bey einem oder andern Urtheilsplatz einfanden, befragten sie um die Ursache: war es wirklich vorzüglicher Hang, der die Jungen zum Steinmetz, Zimmermann, Gärtner oder Maurer führte, so sorgten sie dafür, daß die Eltern, die ihnen manchmal eine andre Bestimmung gaben, in den Sinn der Knaben willigten, und erleichterten jede Beschwerde, die sich dabey fand. Unser Gärtner, der zugleich unser Bedienter ist, hat wirklich vier Jungen in der Lehre, die gewiß gute und geschickte Menschen werden. Der Gärtner und Cleberg selbst halten ihnen Zeichnenstunden. Wir kleiden sie und schaffen das Essen. Es kostet auch nicht so viel, als man denken sollte. Ich und Cleberg einen Einbildungsrock weniger in einem [178] Jahre giebt uns Geld für Nahrung und Kleidung der guten Jungen. Auf die Werkeltage sind sie alle in groben weißen Leinen und grünen Hüten; Sonn- und Feyertage haben sie Röcke von grünem Zeug dazu. Alle Tage hilft einer aufwarten, ordnet die Blumen vom Nachtisch und die in den Zimmern stehen, damit sie einst auch den Dienst eines Laquayen mit der Gärtnerey verbinden können. Obst trocknen und in Zucker sieden lernen sie auch, und ich versichere sie, daß es recht artig ist, die vier wackern jungen Leute arbeiten zu sehen. Wir haben Fritzgen ein Stück Land eingeräumt; dort pflügte er mit dem kleinen Ackerzeug des guten jungen Wagners und säete auch. Die Freude des lieben Kindes ist nicht zu beschreiben, und Lattens Vatertreue auch nicht. Mit was für einen Ausdruck melancholischer Zärtlichkeit er ihm zusah, über ihm gebeugt war, wenn der Knabe zu ihm kam, den guten Papa zu fragen, oder ihm was zu erzählen. Sein kleines Feldchen liegt an einem Traubengeländer hin, und am Ende davon stehen etwas erhöht zwey sehr große Birnbäume, die Cleberg beyde in den Baurengarten fand, als er ihn zu dem Unsrigen kaufte, und [179] die zwey so freundlich beysammen stehenden Gewächse nicht trennen und nicht ausrotten wollte. Latten und wir alle fassen an diesen Bäumen, als das Stückgen Erde für Fritzgen zugerichtet wurde, der sehr viel dabey zu thun hatte, und dann auf seines Vaters Schooß ausruhte. Als er es angesäet hatte, regnete es zwey Tage, das machte den Kleinen sehr unzufrieden weil er seinen Acker und das Haus des guten Wagners nicht sehen konnte. Latten erklärte ihm den Nutzen und das Wohlthätige des Regens, und der liebe Bube wurde so gerührt, daß er an das Fenster kniete, gen Himmel sah und mit gefaltenen Händgen sagte: O lieber Gott, laß auch auf meinem Acker und auf Hansens Acker regnen, daß unser Brod wachsen kann.

Latten sprang auf, kniete zu ihm hin, faßte die geschlossenen Hände des Kindes in die seinigen: Lieber Gott, erhör das Gebet meines Fritzgens! und drückte ihn an sich. Was er für das Kind erbat, sprach sein Auge und seine darinn zitternde Thräne und der Knabe war so herzlich froh, daß sein Papa für die Erfüllung seiner Wünsche bettelte. Latten nahm diesen Weg zu dem Herzen seines Sohnes, daß er in [180] guten oder gleichgültigen Anlässen immer von der Meinung des Kleinen war, um ihn ja die Obergewalt nicht zu einer unrechten Zeit fühlen zu lassen und weil man durch eine immerwährende Rechthaberey bey Alten und Jungen verhaßt würde. Diese Anmerkung, meine, Liebe, machte ich mir auch zu Nutz, und setzte mir vor, gegen keine Seele über irgend etwas zu streiten, wenn es nur auf das kleine Vergnügen des Rechthabens ankäme, und auch in der so feinen Sache zwischen Cleberg, Lisetten und mir ja keinen widerstrebenden, eigensinnigen Ton zu nehmen. Das Kind erhielt mein Herz in einer sanften Stimmung. Lattens Geschichte und Grundsätze befestigten mich in der Pflicht des Ertragens der Fehler und Unvollkommenheiten anderer, und erhöhte den Werth eines großmüthigen Bezeigens. Alles das fühlte ich; aber dieß war nicht mehr Liebe, und das macht den empfindlichsten Theil meines Kummers in den ruhigsten Augenblicken aus. Endlich kam Cleberg und mein Oheim; aber Abends spät, gerade als wir schon nach dem Essen noch im Garten herum giengen. Mein Herz pochte unendlich. Cleberg war in seinem Reisekleide so schön; seine Freude über [181] Latten so edel in ihren Ausdrücken. Er küßte meine Hände, sah mich aber nicht viel an, sprach auch mit Lisetten nichts besonders; ob sie ihm schon hundert Fragen that. Er und mein Oheim nahmen nur etwas Wein und Brod im Garten; nachher ging ich mit Letzterm ins Haus, und da dieser schlafen wollte, in mein Zimmer; zog mich aus, schickte mein Mädchen fort, und legte mich, da ich mein Licht ausgelöscht hatte, an das Fenster. Es war nicht gut, daß ich es that, weil Unruhe und dunkle Vermuthungen mich dazu brachten, die mich auch natürlicher Weise zu den schlimsten Auslegungen des allerunschuldigsten Vorgangs verleiteten. Ich hörte, daß Cleberg, Latten und Linke in dem Laubengang auf und ab spazierten. Endlich gab Cleberg Linken den Auftrag, er solle Latten nach seinem Schlafzimmer führen. Er für sich, müsse noch einige Zeit herum gehen; es wäre ihm heiß, und er sey zum Reden zu matt. Seine Freunde gingen auch; und er lehnte sich einige Augenblicke hernach an den Pfosten des Laubengangs gegen meinem Fenster über. Wie mich däuchte, sah er nach, ob ich noch Licht habe. Die grünen Sonnenschirme meiner Fenster waren [182] nahe beygezogen; er konnte mich nicht sehen, aber ich ihn, weil er ganz hellgrau gekleidet war und auch so einen Hut hatte. Seine Stellung schien nachdenkend und beynah traurig. Er rührte mich und ich fing an zu überlegen, ob ich ihn nicht zärtlich anrufen sollte. Meine Hand wollte auch schon den Schirm in die Höhe heben, als ich ihn sich schnell wenden sah und Lisetten sprechen hörte. Ach, mein Arm und mein Kopf sanken auf die Fensterrahmen nieder und endlich gieng ich von Schmerz und Unmuth wankend in mein Bette. Ich schlief nicht, also bemerkte ich auch ganz deutlich, daß Cleberg nicht in sein Zimmer kam. Es war eine sehr elende Nacht, die ich da durchzuleben hatte. Ich weinte aber nicht eine Zähre, stund früh auf, kleidete mich auch gleich ganz gut an, und nahm mir vor, beyden nicht im mindesten merken zu lassen, was ich von ihnen dächte. Nach Lisettens Gesundheit und nach Clebergs Nachtruhe zu fragen, das war mir unmöglich; aber Ruhe, Güte und Gleichmüthigkeit suchte ich zu zeigen. Cleberg saß tiefsinnig bey dem Frühstück. Lisette sprach auch nicht; machte hundert kleine Brodtkrumen, tauchte sie in ihren Caffee, ohne eine [183] davon zu essen. Ich machte mir viel mit Fritzgen Latten zu thun, nahm aber mein Frühstück wie sonst. Beyde jammerten mich; ich sah ihre Glückseligkeit noch viel elender zu Grunde gerichtet als meine, und ich fühlte Würde und eine herrliche Gelegenheit, Größe und Güte der Seele zu zeigen, in mir. Doch konnte ich den sonderbaren Einfluß nicht hindern, den Clebergs Trübsinn und Schweigen auf alle machte. Wie der Tisch weggeräumt war und ich mich zu meinem Nährähmen setzte, bat ich Linken den Pack Bücher zu holen, welchen er Tages vorher bekommen hatte; er that es und dies belebte uns alle, ausser Lisetten, die fortnähte. Latten, Linke, Cleberg und mein Oheim geriethen in eine wichtige Unterredung über den Nutzen und Schaden, den das viele Bücherschreiben und Lesen verursache. Latten setzte etwas darüber auf, das ich ihnen einst schicken werde. Es kamen Gäste aus der Stadt. Cleberg ging fort, und ich mußte bis Abends die Leute unterhalten. Ich bezeigte mich aber gegen Lisetten wie sonst; ob sie schon unempfindlicher gegen mich war, als ehmals. Die Gesellschaft ging am Ende des kleinen Essens im untern Saale zu Fuß der Stadt zu. Ich blieb im Hause und[184] ordnete mit meinen Leuten die Besorgnisse des andern Tages. Ich fürchtete mich vor der Nacht, legte mich aber, eh die andern zurückkamen, schlafen. Cleberg kam leise in sein Zimmer, ging auch wieder hinaus, und ich hörte ihn nicht mehr. Daß war wieder schlimm für mich; doch weinte ich etwas und schlummerte ein. Ich führte Morgens wieder meinen Plan der Ruhe durch, ging wohl gar bis zu einem Grad der Heiterkeit; Cleberg blieb nicht bey uns. Ich wurde in ein Gespräch verwickelt, das mich hinderte, Lisettens Abwesenheit zu bemerken. Ich ging auch selbst hinaus, um in dem äussersten Zimmer ein Bette aufschlagen zu lassen, weil mir mein Oheim einen Fremden meldete. Sie wissen, daß ich niemals bey den Kupferstichen vorbeygehe, ohne einige Zeit da zu verweilen. Ich machte das Zimmer auf und bey dem ersten Schritt sah ich meinem Cleberg zu der Seitenthüre hinauseilen und Lisetten da sitzen. Ich wandte mich gleich um und gab mit dem kleinen Taumel in meinem Kopfe dennoch meine Befehle, ging wieder in den Saal an meine Arbeit, und zum Gespräch. Cleberg kam auch, sah manchmal sehr eifrig auf mich, legte sich ans Fenster, setzte sich auf Lisettens Stuhl an ihrem [185] Rahmen, und betrachtete mich von dortaus einigemal vom Kopf bis zu den Füssen.

Vergleichst du mich mit deiner Blondine? dachte ich und sah ihn, ich bin es gewiß, mit lächelnder Kälte an. Er spielte noch mit der Scheere, der Seide und den Nadeln etwas fort; und biß in seine Lippe. Ich wollte hindern, daß niemand, als ich, es bemerken sollte und fing eine muntere Unterredung an. Da stund er heftig auf, biß einen Faden, den er um die Finger gewickelt hatte, entzwey und ging fort. Ich sah ihm nach, blickte unwillkührlich auf Lisettens Arbeit, und war etwas zerstreut. Lisette kam nicht zum Mittagsessen. Sie hätte Kopfweh, ließ sie sagen. Ich ging den Augenblick zu ihr, aber sie sagte mir mit Ungedult, sie könne nicht viel reden hören. Ich kam zurück und fragte Hannchen Itten, ob Lisette öfters mit dem heftigen Schmerz geplagt wäre? sie könne nicht einmal sprechen hören, und befahl den Leuten, ja leise hin und her zu gehen. Nach dem Caffee ging ich wieder zu ihr. Sie hatte sehr geweint und war noch mürrisch, ich redete sanft mit ihr. Sie war stöckisch; ich fühlte mich groß, und nahm ihre Hand. Lisette! dieses Betragen gegen [186] mich, sagte ich, hat einen andern Grund, als ihr Kopfweh. Habe ich ihnen was zu Leide gethan? Sagen sie es! Ich möchte nicht, daß es geschehen wär, und hatte den Vorsatz niemals. Ach, Hannchen ist ihnen doch lieber als ich, sagte sie. Das ist artig, dachte ich, so bist du auch eifersüchtig. Das haben sie nur bey ihren Kopfweh gesehen, mein Kind? Sie schwieg lang auf dem Stuhl gelehnt, und weinte dann stark. Liebe Lisette, ihr Aufenthalt bey mir hat für sie nicht alles das Angenehme, was ein feines und wohldenkendes Frauenzimmer wünschet; es ist Unruh in ihre Seele gekommen; mein Kind, ich will nicht, daß sie mir davon sprechen oder glauben, was ich ihnen sage; aber ich bedaure sie redlich. Hören sie mich, ich will ihre Freundin seyn, und ihnen wieder zu ihrer Munterkeit helfen. Sie werden sie nicht anders wieder finden, als in ihrer eigenen Hochachtung und in der Hochachtung ihrer Freunde. O Frau Cleberg! was sagen sie da? hat Herr Cleberg ihnen so von mir gesprochen? Nein! Gewiß, er hat nicht das mindeste Nachtheilige von ihnen geredet, so lang er sie kennt. Das macht nichts! Er ist doch falsch und stolz.

[187] Ich begreife sie nicht, Lisette! bitte sie aber nur, fassen sie sich: denken sie von niemand Böses und suchen sie allein das gute liebenswürdige Mädchen zu seyn, das sie beym Anfang unserer Bekanntschaft waren. Da geben sie mir das zweyte Lehrstück; haben sie es mit ihrem Gemahl verabredet? Ihre Bitterkeit setzt mich in das äusserste Erstaunen! was soll ich mit Cleberg verabredet haben? Er war ja nicht hier, als sie ihr, sonst so holdes, artiges Bezeigen abänderten. Ich werde ihm aber gewiß nichts davon sagen, denn, es ist nicht gut, wenn auch die liebenswürdigsten Männer unsere Fehler wissen. Der liebenswürdigste ist also wieder Herr Cleberg? Ja, Lisette, er ist es; ich wollte, es gäbe mehrere, da würden sie nicht so unzufrieden seyn, mein Kind! Aber – sie wollte nun wieder mit Zorn reden. Ich hielt meine Hand vor ihren Mund.

Nichts Lisette! nicht zornig! ich könnte es ja auch werden. Sehen sie mich an; denken sie, wie werth ich ihnen in den ersten Zeiten unserer Freundschaft gewesen bin. Löschen sie alle andre aus, und seyn sie wieder wie damals. Ich will es immer seyn, ich verspreche es ihnen! Das ist ganz gut. Machen sie [188] nur, daß ich heut noch wegkomme, ich kann nicht mehr bleiben. Aber so jähling abgehen? Kind! bedenken sie sich. O ich bitte, machen sie Anstalt dazu! Nun so will ich mit Hannchen und ihnen in die Stadt fahren. Wieder ihr Hannchen? Geben sie mir nur ihre Cammerjungfer und einen Bedienten, Mein Kopfweh entschuldigt alles.

Ich sähe gern, daß sie sich eine Viertelstunde bedächten! Ich will wiederkommen, überlegen sie es noch einmal! es ist zu auffallend. Ich weiß alles, aber ich will weg. Nun so will ich Anstalt wachen; beruhigen sie sich!

Ich ging wirklich ganz verlegen weg. Soll ich sie gehen lassen, für mich allein? Soll ich es sagen, wem? In diesem Nachdenken ging ich langsam, mein Oheim begegnete mir bey meinem Zimmer, und hielt seine Arme offen. Ich umfaßte ihn und legte meinen Kopf an seine Brust. Mein Herz brach, als ich das Umschliessen seiner Arme fühlte, und von ihm halb getragen in mein Zimmer geleitet wurde. Ich weinte; er konnte nicht reden. Cleberg kam aus seinem Nebenzimmer. Plötzlich hörten meine Thränen auf und ich zitterte als er sich mir näherte. Er nahm meine Hand:[189] Salie! angebetete Salie! O, vergieb dem letzten Eigensinn dieses Herzens. Ich habe dich beleidigt! Ich hätte es nicht thun sollen, ich wollte dich eifersüchtig sehen! Unser Oheim weiß alles. Meine Seele ist dein, sagte er zu meinen Füssen: vergieb mir! O wie grausam hast du mit unserm Glück gespielt, Cleberg! wie grausam mit der Ruhe des armen Mädchens!

Mariane! der ungerechte Mann klagte Lisettens Eitelkeit an. Ich mußte sie vertheidigen.

106. Brief
Hundert und sechster Brief
Rosalia an Mariane S**.

Da, Liebe! haben sie den Ausgang der kleinen Hausgeschichte von Cleberg und mir.

Mein Oheim und er hatten mich und Lisetten belauscht; daher ging auch Cleberg sogleich, alles zu Lisettens Abreise zu bestellen, und mein Oheim bat mich, auch ihm zu [190] vergeben, daß er sich mit meinem Manne gegen mich verbunden hätte, um mir die Idee seiner anglimmenden Liebe für Lisetten zu geben, nur, um den Gang meines Herzens in dieser so feinen und entscheidenden Gelegenheit zu beobachten. Er dankte mir für die innige Freude, die ihm mein edles und kluges Betragen gegeben habe; er versicherte mich, daß mein Mann mehr dabey gelitten habe, als ich, weil er alle meinen Schmerz und mein Kämpfen gegen meine aufgebrachte Empfindlichkeit gesehen hätte. Er habe deswegen eine Reise vorgeschlagen, um Clebergen noch ein paar Tage bey festem Sinn zu halten, und Herr Linke hatte den Auftrag, mich und Lisetten zu beobachten, dessen Anmerkungen mir eine süsse Belohnung für meine Unruhe seyn würde. Du hast die Hochachtung deiner Freunde verdoppelt; dein Mann verehrt dich auf das Neue; du mußt ihm vergeben, wie mir.

Bin ich nicht in einer sonderbaren Lage mit diesen zwey Männern und wie viele vortrefliche Herzen von Frauenzimmern würden elend durch die Leute, wenn sie sich nicht gerade zu, nach ihrem Sinn aufführten! Gott sey ewig für die Richtung gedankt, die er meinen Gefühlen [191] gab, und möge mir diese Erfahrung den Vorsatz der gedultigen und verschwiegenen Ertragung alles Uebels recht tief einprägen: möge die Ruhe des Herzens, die meine Ueberwindung des Widerwillens gegen Lisetten mich empfinden ließ, möge diese die Grundlage eines immer edelmüthigen Bezeigens gegen alle werden, die mich hier und da beleidigen können, unausgesetzt so gut zu seyn, als ich kann. Mariane! dieß, dieß sey die Stütze für den Gang meines täglichen Lebens, und möge die Vorsicht diesen herzlichen Vorsatz allein dadurch seegnen und lohnen, daß ich niemals einer niedrigen Leidenschaft des Neides, der Rache, des Hasses und der Eitelkeit zu Theil werde. Sagen sie Amen dazu, theure, edle Freundin! Sagen sie Amen zu diesem theuer erkauften wahren Wunsche meiner Seele, und schicken sie mir meine Briefe über diese Sache durch diesen Reitknecht zu. Cleberg und mein Oheim wollen sie sehen.

Lisette jammerte mich nun aufrichtig; wie wenig Kunst gehört für einem schönen, die Welt und Menschen kennenden Mann dazu, einem zärtlichen, etwas eiteln Mädchen etwas weis zu machen. Man wird sagen: ja! aber [192] Cleberg war ja ein verheyratheter Mann, das wußte sie! warum wußte sie doch noch Coquetenstreiche mit ihm anfangen? Ach, sie sah ihn gewiß nur aus dem Gesichtspunkt an, daß er ein schöner, artiger Mann sey, der viel Geist habe, und dessen Aufmerksamkeit auf sie, der größte Beweiß ihrer Liebenswürdigkeit war, und so wurde sie hingezogen. Die Arme! Hätte sie je vermuthen können, daß sie nur zu einem Probestück meiner Vergrösserung dienen sollen, so würde ihre beleidigte Eitelkeit sie geschützt haben: so wie die geschmeichelte ihre Verirrung veranlaßte.

Ich ging noch zu ihr, nahm Abschied, weinte mit ihr und schloß sie an mich: Lisette! liebenswürdige Lisette! ich bitte sie, verwahren sie ihr zärtliches Herz vor den Schmeicheleyen der Männer, von welcher Gattung sie seyn mögen; wachen sie über den Ausdruck ihrer Empfindungen, mein Kind, damit ihre Freude oder Mißvergnügen nicht gleich allen, die sie sehen, deutlich werde! Und, wenn sie eine Freundin brauchen, so rechnen sie auf Rosalia Cleberg. Sie ließ sich zu ihrer Tante aufs Land führen, wo sie schon eingeladen war und bis im Winter bleiben will. Ich weiß nun [193] nicht, ist Folgendes, was ich Ihnen schreiben werde, wirklich ein Beweis von einem Mangel seines Empfindens, wie ich es nannte oder wie Linke behauptet, Uebermaas der Vergütung, die Cleberg und mein Oheim mir schuldig zu seyn dachten, oder auch Uebermaas von Feinheit in mir. Irgend etwas ist es; denn der kleine Widerwille, den der Vorgang in mir erweckte, beweiset, daß Uebermaas da war. Ich wußte nicht, warum wir so lange allein gelassen wurden, und weder Latten, Hannchen oder Linke zu sehen und zu hören waren. Aber Cleberg hatte sie darum gebeten, um mit mir sprechen zu können. Als ich ihn meiner Vergebung versichert hatte, sagte mein Oheim: nun wollen wir im Laubensaal unser Abendbrod essen; Ott und seine Julie müssen dazu kommen. Cleberg ging hin, sie zu holen und mein Oheim führte mich am Arm durch den Garten hinunter, und gab mir durch tausend Liebkosungen seine Zufriedenheit zu erkennen. Alle unsere Freunde kamen uns an dem Bach entgegen; wir setzten uns auf Verlangen meines Oheims auf den Bänken am Ufer nieder. Linke allein blieb stehen, und gab auf meinen Oheim acht, der ihm endlich sagte: Ich bin [194] sicher, Herr Linke, daß alle liebe Freunde von Rosalien Antheil an Ihrem kleinen Tagebuche nehmen werden; lesen sie es doch vor! Und, liebe, liebe Mariane! was kam? die Erzählung des Vorsatzes von Cleberg mich durch Eifersucht auf eine Probe zu stellen, und das ganze Betragen von Lisetten, das meinige; Bemerkungen jedes meiner Freunde; Ottens, Juliens, und Hannchens Beurtheilungen; Lattens seine über Cleberg, über mich und Lisetten. Ich wurde ganz niedergedrückt vom Lobe der Liebe und dem Antheile, die alle an mir bewiesen hatten. Cleberg saß neben mir, hielt eine meiner Hände, drückte sie oft, küßte sie, legte auch seinen Kopf ein paarmal auf meinen Arm. Latten sprach sehr wenig; hatte aber das gefühlvollste Aussehn. Mein Oheim blickte mich mit nassen blinzenden Augen an, und klopfte mir oft auf die Achsel. Bravo, Rosalie, bravo! sagte er mit einer halb lachenden, halb weinenden Stimme, wenn Etwas zu meiner Erhebung dienendes vorgelesen wurde. Könnte ich doch eine Berechnung darüber darlegen was für Empfindungen von Seeligkeit in den wenigen Tagen von Kümmernissen für mich entstanden waren, als ich stillschweigend litt und mit so [195] viel Anmuth und Rechtschaffenheit zu tragen suchte. So war das Zeugnis meines Herzens Recht zu thun, Trost, Stärke und Lohn schon im Innern für mich; und nun sammlete ich eine so reiche Erndte des Beyfalls, von so viel edlen Menschen ein. O Mariane! es müßte sehr schlimm, sehr unglücklich mit mir gehen, wenn ich nicht fest, unwandelbar fest auf dem Wege des Guten bliebe. Ich bekannte, daß mich mein freundliches, sanftes Betragen gegen Lisette viele Ueberwindung gekostet habe. Cleberg und das Mädchen wurden getadelt und die Natur der Liebe und Eifersucht in Untersuchung gezogen; endlich dem guten Hannchen allein die Nutzanwendung zugeeignet, damit sie andern Frauenzimmern davon predigen möge; ich aber bat alle um den Beweis ihrer Achtung für mich, ja keiner Seele von der armen Lisette in diesem Ton zu sprechen, und redte mit Eifer gegen das ungerechte Betragen der Männer, und den Mißbrauch ihrer mehrern Geisteskräfte. Ich bat endlich Linken mir sein Heft zu geben, weil ich es als Denkmal seiner Freundschaft für mich ansähe. Er gab mirs, und ich ging mit Julien und Hannchen dem kleinen Feldheerd zu, bey dem meine [196] Köchin etwas warme Speisen im Walde bereitete. Linke muthmaßte meine Absicht, das Heft zu verbrennen, und kam schnell genug zu uns, um es mir just in dem Augenblicke aus den Händen zu reissen, da ich es unter den Gemüstopf stecken wollte. Er packte mich aber so hastig um den Leib, daß er mich vor Schrecken halb krank machte, und mir für den ganzen Abend Mattigkeit und Blässe zurückließ. Wir gingen in den Lauben-Saal, wo der Tisch gedeckt war. Wir speißten sehr vergnügt, unter Gesprächen über den wahren Werth der ausübenden Tugend, und der wahren Reitze, welche die Männer fesselte. Die Nacht sank gänzlich nieder, und mein Oheim zog dann den Zapfen aus, der den Tisch und die Stelle, auf welcher die Stühle stehen, fest hält und ließ uns da umdrehen. Ich ward bey der abgeänderten Aussicht, die mir vorkam auf einmal über den Anblick einer kleinen artigen Beleuchtung des ganzen nahen Hügels in Staunen gesetzt; indem die in die Anhöhe eingesteckten Lampen die Worte anzeigten:

»Lebelang, edle Rosalia!«

Ein Kranz vom blauem Feuer brannte umher, und Fritzgen Latten kam zu mir gehüpft, [197] noch mit der Zündruthe in der Hand und küßte freudig meine Hände; Ich habe die Lampen von ihrem Namen angezündet. Zärtlich umarmte ich ihn, und wünschte mir ein so gefühlvolles Kind, möchte es Mädchen oder Knabe seyn. Als ich nach Hause ging, gab er mir eine artige Brieftasche, und wünschte mir gute Nacht. Ich öfnete sie, und fand folgendes:

»Noch ist meine Seele nicht groß genug, alle den Werth der Seeligkeit zu fassen, an ihre edle Brust gedrückt zu werden: aber mein Vater wird mich lehren, wie ich sie verehren soll, und dann komme ich und lerne süsse liebende Weisheit von ihnen, und bin wieder so glücklich, die Luft zu athmen, die sie umgiebt. Fritz Latten.«

Ich las es flüchtig durch, denn der Tag hatte von Clebergs Seite so viel Eindruck auf mich gemacht, daß ich nichts, als ihn dachte, und ihm auch diese Brieftasche erst den andern Tag zeigte, da wir alle über Lattens Abreise traurig und verwirrt beysammen saßen. Cleberg las diese Zeilen einigemale mit Aufmerksamkeit und Lächeln durch. Guter rechtschaffener Latten, sagte er gerührt: Gott erhalte dich, wo du auch seyn magst!

[198] Ott hatte ihm zu seiner Reise alle Anstalten gemacht, und kam um zehn Uhr uns die Danksagungen und Freundschaftsversicherung des Edlen zu bringen. Cleberg sprach lang allein mit ihm, kam dann mit gerührter Miene wieder zu uns, und war den ganzen Tag und Abend sanft traurig. Wir sprachen viel von Latten, alle mit Antheil und vieler Verehrung. Fritzgen hatte sehr um sein Feld und Hannsen geweint. Da versprach ihm sein Vater, daß es fortgebaut werden sollte. Und das soll es auch, sagte Cleberg, und für seinen Hanns will ich auch sorgen. Der Himmel weiß, wenn wir ihn wieder sehen den lieben Mann! Denn ich muß es Ihnen nur sagen, es ist Liebe die ihn weit von uns führt. Liebe für mich! Dieser entfliehet er nach Holland. Durch Otten werden wir hören, ob er lebt und wohl ist. Ach, sagte ich ihnen nicht, daß es gefehlt sey, als das Tagebuch von Linken gelesen wurde? und sie gaben ihm auch meine von ihnen zurück. gekommenen Briefe hin, zu was taugte dieses Aufweisen? Der arme Latten! Gefühl ist die Klippe, an der seine Weisheit immer scheitern wird. Ich habe doch niemals nichts von Liebe gegen mich bemerkt; ausgenommen, ein [199] paarmal däuchte mich, daß er sein Fritzgen schnell von mir rief und ihn mit etwas Erröthen auf die Stelle küßte, wo, so zu sagen, die Küße lagen. Aber sein Auge war so bescheiden zur Erde gesenkt und seine Unterredung und sein Bezeigen ging so gewöhnlich fort, daß ich mir diese Bemerkung vorwarf und als falsch untersagte. Er bot mir auch seinen Arm seltener an, als die andern Männer; doch, da er sonst kein Frauenzimmer führte, so machte ich auch keine Glossen darüber. Nun bin ich froh, daß er weg ist, und Linke singt auch: »Seelig die Abwesenden!« Meine Briefe sind mir beynah verhaßt worden, weil sie, wie Ott sagt, Latten den Garaus gemacht haben; aber Cleberg hat sie mit vielem Nachdenken gelesen, und mir über alle Stellen, wo ich seine Leidenschaft zu sehen glaubte, die Auflösung gegeben. Niemals hat er Lisetten allein gesprochen; niemals ihre Hand, oder ihre Lippen berührt; nur so viel Blicke und halbe Worte zu ihrem Lobe angewandt, als nöthig war, mich besorgt zu machen. Des Mädchens Eitelkeit machte sie zunderartig, sagte er. Abends, als ich ihn aus dem Fenster beobachtete, lag er wirklich am Stock gelehnt und dachte an die traurige [200] Wirkung, die seine tolle. Grille schon auf mich gemacht hatte. Ich war auch schon blasser, hagerer, und er unentschlossener, wie ich, ob er den Abend noch sprechen sollte, und mitten unter diesen Gedanken hört er gehen, sieht sich um und erblickt Lisetten, die ihm sehr unangenehm war, weil er von Linke schon alles wußte. Er begegnete ihr mit Ernst, wie er auch den zweyten Tag bey den Kupferstichen that, da er auch erst einen Augenblick vor mir in das Zimmer gekommen, und aus Unwillen, sie da zu finden, wieder in das Nebenzimmer geeilt war. Daher wäre ihre Unzufriedenheit gekommen und ihre Klagen über seinen Stolz und seine Falschheit. Ach, meine Mariane, es war doch eine häßliche Spielerey, die der Mann da mit mir, vor hatte, und mich zum Balle jedes Zweifels und jedes Argwohns machte, die mich alles in dem schlimmsten Verstande nehmen liessen! Ich will über nichts mehr Auslegungen herklügeln und alle gute Menschen warnen, sich nicht von Ahndungen hinreissen zu lassen. Es ist doch ein wesentlicher Theil meines Wohls dahin, ich fühle es, und Cleberg befürchtet es. Mit Latten ist uns auch was verlohren, und ich sehe fast ganz deutlich, daß es den artigen Cleberg [201] verdrießt, daß er keine Beobachtung auf dieser Seite über mich machen konnte. Latten, meint er, wäre der einzige gefährliche Mensch für mich gewesen, da würde der Streit zwischen meinen Grundsätzen und meinem Geschmack sehr stark und sehr schön gewesen seyn. Salie! wärest du auch vor Latten geflohen? Nein denn ich fürchtete ihn nicht. Dein Bild und mein Misvergnügen über alle Männer waren meine Schutzwehr, und werden es bleiben. Wir offen bey Ott zu Mittag, und Julie sagte mir mit Thränen noch vieles von Latten, daß er seine Abreise so schmerzlich gefunden, und sie gebeten habe, ihre kleine Rosalia recht wohl zu besorgen, und für seinen Fritz zu erziehen; daß er bey all unsern Armen und Kranken gewesen, auch oft in die Dorfschule gekommen sey; bey ihrem Ott gar viel geweint habe. Es erweichte mein Herz!

Warum, ach warum, mußte ich ihm gefallen! ich seine Ruhe stören! Möchte dieses schmeichelhafte Looß auf jemand anders gefallen seyn, und ich, als seine Freundin und Trösterin, ihn noch bey uns sehen, ihn zerstreuen helfen! Möge der erste Abendwind, den er nach dem schwülen Tage herbey rufen [202] wird, auch dieses sein Wohl zerstörendes Aufwallen einer unordentlichen Liebe verwehen, und nichts übrig lassen, als was Erinnerung einer treuen zärtlichen Schwester seyn kann, welche ich so gern für ihn gewesen wäre! Die van Guden hatte wohl Recht zu sagen: Süße und bittre Leidenschaften unterbrechen den Gang unsers Glücks und unserer Tugend. Möge er beyde auf dem Wege seiner edlen Flucht finden und der Himmel sein Herz mit Stärke und Ruhe segnen!

Mein Cleberg ist sehr sorgfältig um mich herum, und läßt mir die Freude für Arme bey ihm zu bitten. Ich und Julie unterhalten vier arme alte Weibsleute; diese müssen aber, da alle junge bey der Erndte zu thun haben, für die kleinen Kinder im Dorfe sorgen. Wir haben ein Tagelöhner-Häußgen mit einem Baumgarten gekauft, darinn wohnen die vier Weiber, denen die Kinder recht gern zulaufen und auch zugetragen werden; die dann in dem Baumgarten sorgloß und frey herum krabeln, spielen und springen. Mädchen, die schon etwas Geschicklichkeit haben, sitzen da und spinnen, nähen oder stricken, welches Julie und ich einigen von ihnen gelehrt haben; auch müssen [203] die kleinen Mädchen das Dorf vor den Häusern hin sauber halten. Bey vielen haben wir es schon dahin gebracht, daß auf einer Seite des Eingangs schmale Streifen von Rasen oder Blumenbeeten angelegt sind; auf der andern, Bänke oder eine halbe Laube; da wir dann oft mit unsern Männern herumgehen, uns zu den Leuten setzen, mit ihnen sprechen, und mein Oheim oder Cleberg mit dem Pfarrer vereint, oft einen kleinen Streit schlichten helfen. Latten hatte wohl wahr gesagt: der Landmann ist ein lieber kostbarer Mensch. Mißhandlung, Verachtung und Härte macht ihn bös und ändert seine natürliche Anlage zu einfachen, guten Gesinnungen! Wir muntern sie sehr zum Fleiß und Ordnung auf; hingegen bekommen sie auch oft kleine Festtage; das heißt, die jungen Leute einen Tanz, die Alten einen Trunk und das meistens bey der Linde im Dorfe. Der gute Latten wollte ihnen auch einen frölichen Tag machen, und wurde dieser Freude beraubt. Ist es aber nicht schön, daß er auf alles Verzicht thun konnte, jeden Entwurf des Vergnügens, jedes genossene aufgeben, um ja nichts gegen seine Pflichten und gegen unsere Ruhe zu [204] thun? Edler, edler junger Mann, Gott leite dich!

Cleberg läßt mich nicht am Rahmen fortnähen, und wollte Lisetten ihre Arbeit nachschicken. Es schien mir aber grausam und ich widersetzte mich so lang, bis er nachgab. Nun liegt alles verschlossen. Rachsucht an leblosen Dingen, sagte ich: kommt aus der nämlichen Ursache, wie die Bewegung des Danks und der Liebe gegen Sachen, die eine uns werthe Person gleichsam einweyhete. Er gab mir recht, und ich nähe nun mit Hannchen an weissem Haus-Leinen. Julie kommt auch mit ihrem Strickzeug und unsere Männer lesen dann, wann wir keine Fremde haben und ihre Geschäfte vorbey sind, etwas aus neuen Schriften, aus Zeitungen, sprechen darüber, und wir freuen uns, so gute, vernünftige Männer und Freunde zu haben.

Uebermorgen kommt Frau Grafe, eine Ihrer Nichten, und ihr Mann auf vierzehn Tage zu uns; und dann wird der anfangende Herbst uns bald in der Stadt sammlen.

[205]
107. Brief
Hundert und siebender Brief
Cleberg an seinen Freund.

Trotze niemals dem Elende, und spiele nicht mit dem Glücke! denn das erste kann mit aller Gewalt über dich kommen, und das zweyte dir gar leicht entfliehen. Dieß, mein Lieber! dieß ist alles, was ich jetzt für mich und meine Freunde, von einem großen Plane zurück habe, den ich, um den Genuß meines Wohls zu vermehren, seit einigen Wochen befolgte. Meine Residentenstelle giebt mir wenig Arbeit, und mein artiges Amt und meine guten Bauren auch nicht viel. Ein noch ziemlich neuer Ehemann bin ich auch, so, daß wir noch erlaubt ist, mit meiner Frau zu tändeln. Ich habe freylich etliche ernsthafte Beobachtungen mit unter gemischt, die alle einen sehr angenehmen Aufschluß hatten. Denn, meine Salie ist, ohne es zu wollen und zu wissen, noch so artig so neu und blühend, als ein Mädchen; daneben aber so voll Würde, Klugheit und anstelligem Wesen, daß man sie für ein schätzbares [206] Weib ansehen muß: und da ich sie auf allen Seiten kennen wollte, so mußte ich auch die vom Gefühl der Eifersucht ans Licht ziehen.

Sie hatte mit etlichen artigen Mädchen Freundschaft gemacht, und diese kamen alle Wochen zwey mal in unser Haus mit ihrer Arbeit, und da mußte ich Bücher zum Vorlesen schaffen. Oft las ich selbst was vor und ergötzte mich an den Ideen, den Fragen und dem Witze der Mädchen; sagte ihnen dabey auch oft schöne Sachen vor. Eine war hübsch, niedlich und aus Eitelkeit empfindlich; dann das mußte sie seyn, sonst wäre es nicht möglich gewesen, daß sich das Mädchen getraut hätte, neben Rosalien stehen zu wollen. Ich merkte dieß, und anfangs wollte ich bloß sehen, wie weit sie gehen würde; dann fiel mir der rasende Gedanke ein, meine Salie mit diesem Geschöpf auf die Probe der Eifersucht zu stellen. Zu meinen Glück habe ich alles ihrem Oheim gesagt, der auch seinen Spaß daran haben wollte, wenn sie nun zu ihm kommen würde, über mich zu jammern und zu klagen. Wir nahmen das Mädchen mit aufs Land, und dort führte ich meinen Entwurf aus. Lisette, so hieß sie, dachte sich wirklich vorgezogen, [207] und gab mir auch ihre Zufriedenheit mit dem unverhohlnen Anscheine eines Einverständnisses zu erkennen. Ich lehnte nichts ab, nahm es aber nur halb an, weil dieß hinreichte, bey Rosalien den verlangten Eindruck zu machen. Ich bemerkte sehr deutlich, wie der Stachel anfing zu ritzen. Sie dauerte mich, und das um so mehr, als die gute reine Seele ihrem Gefühl und ihren Beobachtungen widerstrebte und es von mir und von Lisetten nicht glauben wollte; sich von Gelegenheiten der Ueberzeugung entfernte und wegwandte. Das Mädchen wurde zudringlich, und verlohr sich zu weit. Meine Salie jammerte mich desto mehr, je edler sie sich betrug. Ich bat unsern Oheim, eine kleine Reise zu erdenken, mich mitzunehmen, und dann bey unserer Rückkunft der Komödie bey einem guten Anlaß ein Ende zu machen. Ich habe hier einen Schulfreund, Linke, ein rechtschaffener, vernünftiger, ungekünstelter Mensch; dem sagte ich die Absicht meines Verhältniß und meiner Reise; er solle doch Lisetten und meine Frau genau bemerken und ein Tagebuch halten. Er versagte mirs anfangs, und stellte mir mein Unrecht vor, die liebe, redliche Satie zu kränken, und machte mir mit Kopfschütteln [208] über einen Mangel an Liebe Vorwürfe.

Freylich liebt er anders, als ich; doch kann niemand mehr Zärtlichkeit für sein Weib haben, als ich für Salie, aber nach meiner Weise.

Mein Freund und Oheim mußten selbst mit dem Menschen sprechen, um ihn zu Ausrichtung meines Auftrages zu bewegen, den er auch nur erst annahm, als ihm versprochen wurde, daß er Saliens Briefe an ihre Mariane zu lesen bekommen sollte; weil ich sicher war, daß sie dieser ihr ganzes Herz aufschliessen würde, und am Ende auch die Rückfoderung dieser Briefe in meinem Plan kam; welche natürlicher Weise zu der ganzen Kenntniß von Saliens Empfindungsart nöthig waren.

Sie war Weib, aber ein edles, gutes Weib. Die vermeinte Theilung meines Herzens that ihr schmerzlich weh. Sie war tadelsüchtig, fand Fehler an Lisetten und mir; aber immer mischte sich Zärtlichkeit für mich, und Menschenliebe für Lisetten unter all dieses, und faßte also mehr Wahrheit und Natur in sich, als wenn sie gleich alles so groß angenommen und getragen hätte. Sie versöhnte sich; aber ihre Briefe an Marianen beweisen, daß mein [209] Gefühl richtig ist, wenn ich sage, daß die Blüthe meines Glücks dahin sey. Es liegt tief in ihrem Herzen etwas wider mich. Ihre Hochachtung für mich hat gelitten, und also auch ihre Zärtlichkeit. Du weißt nicht was ich alles für namenlose Seeligkeiten damit verlohr! Daß doch wir Menschen nichts ruhig geniessen, nichts so lassen können, wie das Schicksal es giebt! Mit unserm Künstlen und Raffiniren verderben wir immer das Beste! Ich sagte nach Durchlesung ihrer Briefe über diesen Vorgang, daß sie diese Seelenkrankheit nicht so geduldig ertragen hätte, als ich sie Schmerzen des Körpers hätte tragen sehen. Eine ganz kleine Erröthung lief über ihr Gesicht; und ein unmuthiger Blick war in ihrem Auge, aber nur wie ein Blitz, und mit einer gedämpften Stimme antwortete sie: Krankheiten entstehen nach den ewigen Gesetzen der Natur, denen ich mich mit innigster Verehrung unterwerfe; aber – sie hielt inne und lächelte gegen uns alle. Liebe, liebe Salie! was aber? was? Sie erröthete wieder und wollte es nicht sagen; aber endlich fuhr sie fort; vergeben Sie Cleberg! wenn ich diese ehrerbietige Unterwerfung für die Willkühr eines Mannes nicht [210] fühle. Ich schwieg und fragte sie nichts weiter: ich fühlte auch, was sie da sagte. Ein Stück Verachtung ist in ihr. Sie haßt alle Arten von Ränken, als niedrig. Sie ist so wahr, so offen; sie liebte mich mit dem so ausserordentlichen Vorzug, und sie hatte mir ihren Abscheu vor Coquetterie so oft gezeigt. Ich hab eine zu empfindliche Seite verletzt, und da werden die Wunden immer tiefer. Ich will nun sehen, wie lange sie Unzufriedenheit ernähren kann! Ich bin äusserst sorgsam und liebreich um sie herum, theils aus Plan, aber auch aus ganzer Seele; denn es ist ein reizend Weib. Komm doch und sieh sie! Der edle Umriß, die Geist-und Gütevolle Physiognomie, Blick, Lächlen und Stimme, Gedanken, Empfindung, Gang, Geberden, Kleidung, Reinigkeit, Leben und Sanftmuth, Arbeiten, Clavier und Gesang; und ihre Liebe, ihre Liebe! o ich Thor! Mit was für Uebermuth setzte ich einen Schatz von erworbenem Gold auf eine zweifelhafte Karte. Ich bin noch ihr Liebhaber, aber nicht mehr ihr Geliebter, ich bin ihr nur Ehemann; so blickt sie mich an, so umarmt sie mich, so spricht sie mit mir. Aengstliche, mißtrauische Sorgfalt, das Uebel nicht[211] ärger werde, ist an die Stelle der lebhaften Begierde, mir zu gefallen, mich zu geniessen, getreten. Arme Salie! Auch du bist nicht mehr so glücklich, als du warst. Alles, alles was du thust, ist Tugend; denn dein Herz, und deine Grundsätze erlauben dir nicht, die geringste deiner Pflichten zu versäumen. Du willst nun das Zeugnis deines Gewissens für dich haben, weil die Ueberzeugung vom Glück der Liebe dahin ist. Ihre Heiterkeit ist fort, und nur wie heller Mond, an dem immer graue Wolken vorbey ziehen und seine angenehme Beleuchtung unterbrechen. Kein ganz reines Blau, kein helles Licht mehr! Sie giebt sich Mühe, gut und zärtlich zu seyn; aber, diese Bemühung macht mich toll und elend. Sie sagt auch ihrem Oheim nichts, in ihren Briefen an Marianen nichts. Sie hat die verwünschte Lisette mit einer solchen Großmuth behandelt; hat sich im Ganzen so untadelhaft betragen, daß sie nothwendiger Weise sich selbst hochachten muß. Ich will aber ihr Ziel dadurch verrücken, daß ich ihr den Ehemann auf keiner Seite zeigen will, sondern als Liebhaber soll sie mich nun um sich sehen. Ich will ein paar Unglückliche aufsuchen, und sie in Wohlstand [212] setzen; mit Otten, Oheim und Linken über verschiedene wichtige Gegenstände vernünftig sprechen; dann hab ich sie wieder ganz, und feyre einen neuen glücklichen Tag. Unser Latten verdarb mir einen andern Entwurf, der halb aufkeimte. Ich sah, wie sehr sich seine Verehrung der Liebe näherte. Bald hätte sie es auch sehen müssen; denn diese Bemerkung entgeht auch der dümmsten nicht, und auf dieser Seite hätte ich sie auch belauschen mögen; aber es kam zu nahe mit Lisetten, und unser Freund floh vor dem angebeteten Weibe. Ich weiß nichts, als daß er lebt.

Nachschrift.

Er thut doch mehr als leben, er liebt noch. Denn da ich diese erstere Blätter schon vor zwey Tagen schrieb, da ich eben in einem Gedränge von Gedanken war, und der Bothe nach der Stadt erst heute abgeht, so kann ich dir noch etwas hinzusetzen.

Ott verreisete vor vier Tagen. Gestern kam er wieder und brachte Lattens Fritzgen mit sich zurück, den er Juliens und Rosaliens Güte empfiehlt; denn er geht noch einmal nach Italien, und will das Kind nicht mitnehmen, weil [213] es schon so vieles von der Reise gelitten und immer nach seinem Garten, nach Hannsen und nach der Garten-Mama weinte. Ott hat zugleich alle Capitale und Wechselbriefe nebst einem Testament von Latten mit sich gebracht, worin Ott und ich zu Vormündern und Erziehern des Kleinen ernannt sind, im Fall Gott ihn auf seiner Reise wegnehmen sollte. Ein großer Brief an mich, worinn er von seiner Leidenschaft für Rosalien als ein braver Biedermann spricht, und nicht zu uns zurück kommen will, wenn nicht aller Aufruhr seines Herzens gestillt, und zu der ebenen sanften Wärme der Freundschaft für Salie und mich herab gestimmt ist. Sein Tagebuch ist dabey; das soll aber Salie, so wahr ich lebe! nicht eher zu sehen bekommen, als bis sie und ich unsere Jubel-Hochzeit gefeyert haben werden, oder erst, wenn sie mich überlebt, in meinen Papieren finden. Was für ein edles Feuer lodert in allen Fibern des Schwärmers. Wenn Rousseau noch lebte, so müßte Ott den lieben Kranken zu ihm führen, weil er mehr als St. Preur ist. Lebte ich in einer Insel, so hätte ich am Ende der Durchlesung, meine Salie mit einem Schleyer gedeckt, an der Hand zu [214] ihm geführt und sie ihm gegeben; so mächtig hob er mich aus jeder bürgerlichen und mir gewöhnlichen Verfassung heraus; und gestern schien mir Salie das ihm entrissene Weib zu seyn. Ueberhaupt ist sie ihrem Oheime, Julien, Otten und mir zu einer Art Heiligthum geworden, seitdem wir die reine Flamme kennen, die sie entzündete. Mein Herz und meine Augen flossen für den guten Menschen über. Ich suchte Fritzgen, nahm ihn auf meine Arme und trug ihn von Ottens Haus, ohne Hut auf meinem Kopfe, zu Rosaliens Füßen, die sich vor Staunen kaum zu helfen wußte. Ist Latten wieder da? fragte sie. Nein, Liebe! der Arme ist noch nicht stark genug, er übergiebt uns das Liebste und geht weit. Ich konnte nicht fort reden. Der Kleine hing an Saliens Halse; sie umfaßte ihn, mit einem Arme, und reichte die andre Hand nach mir, mit einem Blick voll Thränen und einem Ausdruck der mich durchdrang. Salie! Engelsweib, sagte ich, sey gern mein; Vergieb mir ganz! liebe mich wieder; liebe Latten, wie ers verdient und laß Fritzgen unser Kind seyn. Ihr Kopf sank wieder vertraut auf meine Brust, ihr Kuß war wieder zärtlich[215] und lebhaft; und von diesem Augenblicke an liegt wieder neuer Schimmer auf allem! Mein Glücke, ihr Glück ist neu! dank Lisette! dank Latten! ohne euch hätte ich diesen Rausch von Freuden nie gekannt.

108. Brief
Hundert und achter Brief
Rosalia an Mariane S**.

Vergeben sie, Theure, Liebe! Ich schrieb wenige und kurze Briefe. Mein Herz war zu gedrängt, da konnte ich nicht sehr viel schreiben. Ich weiß nicht eigentlich so recht, wo mein Stocken lag! Vielleicht fürchtete ich, sie möchten meine Gemüthsverfassung tadeln; und ich hatte sie lieb, ob sie schon nicht ganz angenehm war, denn es lag noch viel gegen Cleberg in mir. Ich konnte ihm noch immer nicht vergeben. Mein Oheim und sie würden mich für übertrieben empfindlich gescholten haben; und ich konnte mir durch nichts als durch mein Schweigen eine Art von Rache aufbehalten. Ich bratzte doch nicht mit ihm; wie [216] man es hier zu Lande heißt,) ich war gut, freundlich, artig, munter und gewiß, eine recht gefällige Frau. Aber das herrliche Bild süsser ehelicher Liebe, des daurenden Friedens, daurender vorziehender Achtung, das war verschwunden. Ich sagte mir wohl, warum willst denn du fodern, daß für dich ein Hirngespinst vor Vollkommenheit, Fleisch und Blut bekommen soll, es ist nicht im Menschen und nicht im Schicksal. Aber, ich hatte es von Cleberg erwartet, und ich konnte es ihm nicht so bald vergeben, daß er mich betrogen hatte. Ich bemerkte, daß er mich mehr beobachtete, als jemals. Mag er doch! dachte ich, und verdoppelte meine Aufmerksamkeit auf alles, was man immer von einer Frau fodern kann. Mein Cleberg war anfangs etwas stutzig darüber; ich um so sanftmüthiger, wohl mitunter auch zärtlich; hatte aber mehr ausser meinen Zimmer zu thun, als sonst, und als nöthig gewesen wäre, weil mir in Wahrheit die Luft schwer und drückend vorkam, so bald wir allein mit dem Oheim oder Hannchen Itten waren. Unsre Schlafzimmer blieben so seit seiner Rückkunft geschieden; denn da mir mit meinen Unmuth in der Seele unser Wohnzimmer und[217] Garten zu eng schien, was würde aus einem Cabinet geworden seyn? Niemals wird mein Hauswesen und Gesinde besser und liebreicher geführt werden, als diese zwey Wochen über geschehen ist; niemals werde ich mehr arbeiten und vollkommener als diese Tage und auch niemals weniger und vernünftiger sprechen; meine Stimme so gar hatte einen süßern Ton. Aber ich aß weniger und wurde etwas hagerer und auch blässer. Gewiß, Liebe, uns ist nicht wohl, wenn wir irgend jemand in der Welt übel wollen. Denn ich genoß mein Leben, mein Glück, meine Freunde und meine Talente nur halb. Mein Herz war dem Vertrauen und der Freude verschlossen. Ich liebte niemand als mich; aber auf eine sehr unedle und verkehrte Weise. Cleberg wandte sich wieder auf den Weg des Liebhabers, und das nach einer Unterredung, wo mir nur wenige auf die Geschichte mit Lisetten zielende Worte entfallen waren, und vielleicht ist das nie für eine bessere Frau geschehen was der artige Mann für mich that. Ohne Zwang und gesuchtes Wesen umgab er mich mit einer so galanten Sorgfalt, als ob er um meinen Beyfall werben wollte. Ich fand mich zum Vergessen [218] meiner Klagen verbunden, und ihn zu meiner vorigen Liebe verdient und berechtigt. Dennoch floß es noch nicht rein aus dem Herzen; ich mußte mir Mühe geben, seine Zärtlichkeit mit Anmuth zu erwiedern; aber, ich vermied nun keine Gelegenheit mehr, ihn allein zu sehen, besonders da er anfing, etwas Nachdenkendes und dann und wann Unruhiges zu zeigen. Da fühlte ich den glimmenden Tocht der ersten Liebe in meiner Sorge um ihn, und wünschte nicht so weit von meinem Wege abgewichen zu seyn, weil mir das Zurückgehen etwas hart ankam. Sie sehen alles, was verwundete Zärtlichkeit und Eigenliebe für Krümmungen machten, und mich in einem Kreis herumführten, aus dem ich so bald nicht gekommen wäre, wenn nicht der Zufall das Gefühl von Gerechtigkeit in mir erwecket hätte, dem ich nachgab und glücklich auf den Pfad der Wahrheit und des Wohlseyns zurückkam. Ach, was für Seligkeit liegt in Vergebung, im Aussöhnen und in dem Gedanken, daß wir uns selbst eben so streng, als den Nächsten beurtheilten. Beste, beste Freundin, dieses habe ich erlebt und geübt; wünschen sie mir Glück dazu? Es kann für mein künftiges Leben und Betragen recht nützlich[219] seyn. Und nun denken sie sich alles zurück, was ich ihnen von Latten und seiner schnellen Abreise geschrieben, und wie der Mann uns alle an sich gezogen und intereßirt hatte. Wir sprachen nicht mehr so oft von ihm, besonders ich und Cleberg, ich glaube, beyde aus Delikatesse, weil sie alle sagten, seine Liebe für mich wäre Ursache seiner Entfernung gewesen. Cleberg besorgte, ich möchte endlich Vergleichungen zwischen ihm, und Latten und Lisetten machen, da diese auch weggereiset sey, und ich wollte nicht von einem so vollkommenen und mich liebenden Manne sprechen, während das etwas Kälte für meinen Mann in mir lag. So war ungefähr gestern Vormittag noch die Lage von Cleberg und mir. Ott war verreist, kam gegen Mittag wieder und ließ Cleberg gleich um zwey Uhr rufen. Er blieb lange weg, so wie auch mein Oheim. Ich arbeitete noch eine Weile, und ging endlich in mein Zimmer um alleine zu seyn und etwas zu lesen. Gegen Abend kam auf einmal Cleberg mit dem kleinen Fritzgen Latten in mein Zimmer gestürzt, halb ausser Athem, ohne Hut und mit glühendem Gesichte; kniete mit dem Knaben[220] im Arme vor mich hin, gab mir ihn auf den Schooß und sagt mit halbem Keuchen: »Da Salie!« Er bebte, ich zitterte vor Staunen, und fragte auch abgebrochen: ob Latten wieder da wäre? Nein, er hätte uns nur das Liebste zum Pfande des Wiederkommens geschickt, und nun erzählte er mir kurz und mit Thränen im Auge, daß der edle gute Mensch sich noch weiter entfernte, und endigte mit der Bitte, Latten zu lieben, wie er es verdiente, ihm ganz zu vergeben, und gerne seine Rosalie zu seyn. Seine beyden Arme waren um mich und Fritzgen geschlungen, sein Kopf lag halb auf meinem freyen Arme, halb auf meinem Schooße, meine Seele war äusserst bewegt; ich lehnte meinen Kopf auf den Seinigen, weinte und küßte ihn herzlich, in dem Augenblicke, da in mir doppelte Betrachtungen über ihn und mich auch zu doppelten Beweggründen des Versöhnens und Vergebens geworden waren. Denn, der Blick und der Ton, mit welchem er mich bat, Latten zu lieben und ihm zu verzeihen, war so innig, so edel, daß er mir nicht nur hochachtungswerth schien, sondern ich mir auch sagte, habe ich denn nicht [221] gleich anfangs als ich Lattens vorzügliche Verehrung für mich bemerkte, eine geheime aber wahre Freude darüber gehabt. Ist nicht noch diesen Augenblick meine feine Eigenliebe durch die Versicherung das seine Leidenschaft noch dauert, geschmeichelt worden, warum sollte ich es dann Clebergen nicht übersehen, wenn er sich hie und da an dem Beyfall eines Frauenzimmers ergötzte, da es bey ihm, wie bey mir, nichts als eine vorübergehende Eitelkeit ist. Der gute Mann war so froh, so glücklich über mein wieder erworbenes Herz, Fritzgen wurde bald von ihm, bald von mir geküßt, und wir gelobten ihm beyde, Liebe und Sorgfalt zärtlicher Eltern, denn Latten hatte gewünscht, daß das Kind bey uns seyn möchte. Wir führten ihn beyde nach seinem kleinen Garten; Hanns wurde geholt, und der liebe Fritz lief ihm, so weit er ihn sah, entgegen, küßte und liebkoßte ihn. Hanns schüttelte ihm die Hände und beguckte ihn mit einer so treuen Freude, daß wir beyde uns auch wieder bey der Hand faßten und simpathetisch mit Hannsens Herzen sie uns auch schüttelten und drückten. Nun kam mein Oheim, Julie und Ott langsam lauschend herbey, und Cleberg [222] umarmte alle, wie ein Mensch im Taumel eines starken Rausches thun mag. Ott küßte meine Hände, Julchen meine Wangen, und Fritzgen hing alle Augenblick an meinen Armen. Der Abend war äusserst glücklich. Ich dünkte mich so leicht zu seyn, als könnte ich fliegen. Mein guter Oheim bekam ganz glänzende Augen, nachdem er eine Weile auf mich und Clebergen gesehen hatte. Der Pfarrer besuchte uns auch, und wir aßen bey unserm Birnbaum etwas kalte Küche mit warmer herzlicher Freundschaft. Die Sterne kamen, wir sahen sie mit so rechtschaffenen Herzen an, daß sie gewiß deswegen schöner blinkten. Mein Auge heftete sich einige Zeit dahin, besonders gegen den Abendstern. Mein Mann bemerkte es, faßte liebreich meine Hand, und sagte: Salie! die Liebe hat mir viele Abende verschönert, aber der heutige ist der schönste von allen. Ich drückte dankbar seine Hand dagegen; aber da ich nicht sprach, so sagte er: Liebe! du denkst was besonders in diesem Augenblick. Und es war so. Meine Seele fühlte bey dem so herrlich gestirnten Himmel und dessen dämmernden Erleuchtung der Erde, bey der Ruhe der ganzen Natur, so viel Erhebung [223] und Dank gegen Gott; ich versprach mir, ja niemals mehr die Sonne über meinem Zorn untergehen zu lassen. Wie klein, wie ungerecht stolz schien ich mir. Mein Herz wallte von guten Entschlüssen auf. Es dünkte mich, daß ich die Stärke und den festen Willen hätte, nie mehr etwas Unedles, etwas Kleines oder Ungütiges zu thun. Mir war, als könnte jeder Stern in meine Seele schauen und wäre nun Zeuge von allen den Gesinnungen, die in mir entstunden. Ich war froh daß sie mich von meinem garstigen Groll geheilt und gereinigt sahen. Die Unterredung der Männer lenkte sich auf die Sternkunde und ihre ersten Erfinder auf die Schiffarth, auf die sichere Hofnung in dem andern Leben unsere Kenntnisse in Allem vervollkommt zu geniessen, und dann da wieder mit Zufriedenheit an diesen, der Verehrung Gottes geweihten Abend zu denken. Mich machte der Gedanke traurig, daß während da wir sieben so ganz natürlich im Anblick des Himmels auf gottselige Gesinnungen geleitet wurden, so viele Bösewichter sich nur über die ankommende Nacht und Sternhelle frenen, um eine menschenfeindliche That auszuüben, in der Stille der Nacht [224] die Stimme des winselten Unglücklichen, der in Mörder Hände fiel, desto stärker hören; bey dieser Sterne sanften Schimmer seine ängstlichen flehenden Gesichtszüge, die ersten Wunden sehen, und noch alsdann ihr Bubenstück vollführen. Ach! Menschen mit einer unsterblichen Seele, wie ich habe. Was für ein Schauer durchlief mich. Unser ehrwürdiger Pfarrer segnete uns, als wir uns trennten, indem er wünschte, daß alle Leute von unserm Stande und Vermögen auf ihren Landgütern solche Abende verleben möchten, wo der Genuß zeitlicher Güter durch Unterhaltungen mit nützlichen Wissenschaften gewürzt und der Verehrung unsers göttlichen Urhebers geweiht gewesen wäre. Wir dankten ihm alle recht sehr für seine Zufriedenheit und Wünsche, mein Oheim aber hielt ihn stillschweigend bey der Hand und nickte ihm nur zu, so wie er auch, ohne zu reden, von uns ging und nur mit Blicken und Winken gute Nacht sagte. Wir, mein Mann und ich, schlichen uns noch beyde in Fritzgens Zimmer, das gleich an Cleberg seinem ist, um zu sehen, ob er gut schliefe. Die Züge der schlafenden Unschuld sind sehr rührend. Sie können nicht glauben, wie schön [225] der holde Knabe in einer so ganz ruhenden Stellung in reinem Weiß ohne Haube da lag; so wie der Genius der Zärtlichkeit nach Verbindung zweyer edlen Herzen ruhen mag. Clebergs Blicke sahen aus wie Wünsche einen solchen eigenen Sohn zu haben. Vielleicht! Ach, Mariane beten Sie für mich!

109. Brief
Hundert und neunter Brief
Rosalia an Mariane S**.

Heute wird, denke ich, mein Brief Farben haben, wenn ich so glücklich bin, alles zu schildern, was seit einigen Tagen hier geschah. Madame Grafe ist mit einer artigen neu verheyratheten Nichte bey uns und Cleberg hat schon vor einer Woche einen sehr guten Maler hier, der ihn, Fritzgen und mich auf ein Stück für Latten malen soll. Der junge Mann ist voll Genie, und so ganz von seiner Kunst trunken voll, daß ihm alles eine malerische Stellung, einen malerischen Faltenbruch, ein malerisches Licht hat, und erblickt er so[226] etwas, so wirds den Augenblick aufgezeichnet. Ich glaube, daß er mich wohl schon zehenmal skizzirt hat. Wir haben Herbst gehalten, und dazu auch die ganze Ittensche Familie eingeladen. Unsere Leute waren alle hübsch gekleidet; alle Mägde hatten weiße Schürzen, alle Buben rothe und gelbe Bänder auf den Hüthen; die Körbe waren alle neu, und wir auch nett angezogen. Mit Hüthen und kleinen Handkörben giengen wir mit dem Zuge nach dem großen Baumgarten, der dem jedesmaligen Beamten von Seedorf gehört. Die Bäume waren alle gestützt und schienen sich zu freuen, daß sie ihrer Last erledigt werden sollten. Wir pflückten von den niedern Aesten selbst, unsere Männer brachen mit den Stangenkörben vieles ab, und die Knechte kletterten dann auch auf die Bäume. Wir Frauen wollten gleich die Haushälterinnen machen, zogen Handschuh an und suchten die schönsten Aepfel und Birnen zum Aufheben aus. Cleberg machte halt! indem er ohne Unterschied den zehnten Korb für die fünf arme Familien bestimmte, die keine Obstbäume haben, und diesen zehnten Korb bekommen sie, so wie er gefüllt war, mit Groß und Kleinen eben wie ich in mein Haus. Wir hatten eine Harfe [227] und zwey Flöten, die spielten unterdessen, daß wir sammleten. Unser Maler half bald, bald aber lehnte er sich an einem Baum und krizelte geschwind einem Umriß dieser oder jener Gruppe. Es wurde gesungen, Kuchen gegessen, Kuchen unter die Armen, die ihr Obst abholten, ausgetheilt, und dann einige Korbwagen beladen nach Hause geführt. Die Mägde und Knechte trugen immer ihrer drey zwey Körbe voll hinterher. Ein Knecht in der Mitte mit jeder Hand die Henkel eines Korbes und dann zwey Mädchen, die an den andern Henkeln trugen; die Musik ging voraus, und wir alle wieder mit fort; das Obst wurde in die Tenne verschlossen. Wir assen munter zu Nacht und waren die zwey folgenden Tage sehr eifrig mit dem Aussuchen, zu Most, zum Trocknen und zum Verwahren. Ich ließ süssen Birnmost kochen, Apfelwein machen, ganze und halbe Aepfel schälen und dann sorgfältig in einem großen, dazu eingerichteten Schranke trocknen. Da saßen die Ittenschen Töchter, Mad. Grafe, ich, Julie und das muntere junge Weibchen in meinem großen untern Saale, all mit weißen Schürzen, mit den Mägden beysammen und schälten mit silbernen Obstmessern so eifrig, [228] als müßten wir davon leben, ordneten und legten es auf die Hurten zum Trocknen. Da ist Hannchen, welche die feinen großen Birnen, die schon etwas zu rief oder anbrüchig waren abwischte und schälte; ihre Schwestern, die sie entzwey schnitten und besorgten; Hannchen aber die Schaalen mit etwas reinem Wasser kochte, bis alles zu Brey wurde, dann den Brey durch ein Haarsieb laufen ließ, nochmal ganz dick einkochte, und dann die halb trocknen Birnen darein tauchte, und auf Papier wieder in den Trockenofen brachte, wieder eintauchte und platt drückte, vollends trocknete und in flache Schachteln legte, da sie wie glasirt aussehen und gegen das Licht gehalten, ganz durchscheinend sind. So machte sie es auch mit Zwetschen, und nun gießt sie Apfelgelee ein, die sie ohne Zucker verfertigt. Sie nimmt Porstorfer-Aepfel, macht sie mit einem Tuche rein und reibt sie auf dem Reibeeisen klein, läßt sie über Nacht in einem irrdenen Gefäße stehen und zieht den Saft durch ein Haarsieb ab, welchen sie im Zuckerkessel so lange kochen läßt, bis er dick und eine Sülze wird. Alle diese häuslichen Geschäfte sind mit vielen Freuden verknüpft. Meine Mägde sind doppelt fleißig, wenn ich so mit [229] dabey bin und auch doppelt reinlich. Unsere Männer ergötzen sich auch daran und waren schon bey dem Trocknen der feinen jungen Bohnen, der Auskernererbsen, der Kirschen und Pflaumen um uns herum, und schienen uns um so mehr zu achten, als wir Eifer und Geschicklichkeit zeigten. Ich sagte immer, Wir, weil Julie und ich uns so nennen; da wirklich unsere Arbeiten und Vergnügen ganz gemeinschaftlich sind. Alle diese häuslichen Vortheile haben wir Hannchen Itten zu danken, und ob wir schon zwey stattliche Damen sind, so machen wir uns doch eine Freude und Ehre daraus, von dem schätzbaren Mädchen zu lernen, was wir nicht wissen. In dem Hause meiner Tante, die mich erzog, war das, was man eine gute Stadtwirthschaft heißt, üblich. Sie faßte gewiß alles Gute in sich, was eine wohldenkende Privatfamilienmutter wissen und thun soll. Ich mußte alle Art häuslicher Näherey, vom Männerhemde aus holländischer Leinwand an bis auf das Küchen-Handtuch, recht gut und geschwind zu verfertigen und zuzuschneiden wissen; das Waschen, Plätten und besonders schönes sorgsames Ausbessern, so gut wie unsere Näherin verstehen; Einrichtung [230] der Zimmer, das Kochen und jede Mägdearbeit lernen; damit ich einst meine Leute mit Verstand regieren könnte und nicht meine Mägde klüger wären, als ich. Daneben behauptete sie, das einzige Vorrecht des bessern Standes wäre, in Allem doppelt so viel zu wissen und zu thun, als die Geringeren. Daher kommen der Unterricht in Musik, Zeichnen, Blumenmalen, Sticken, Putzarbeit verfertigen, die Erlaubnis des Lesens und das Lernen der Sprachen. Oft war ich ihr böse und gram; aber, wenn sie nun noch lebte, so reisete ich zu ihr; um ihre Hände zu küssen und ihr zu danken. Die Kenntnisse einer Landwirthschaft aber waren mir in allen ihren Theilen fremd. Frau Itten hatte sie vom Lande mit sich gebracht und ihre Kinder gelehrt. Eben so ging es mir auch mit Flachs, Spinnerey und Weberkenntnissen, meine theure Freundin Hannchen theilte mir schwesterlich alles mit, was sie davon wußte und hatte auch die Einrichtung mit den Witwen und Mädchen ihre Spinnerey allein besorgt. Ich versichere Sie, meine Liebe, daß mich das Auslesen, Abwischen, ein wenig Abkochen, auf weißen Tüchern ausbreiten und Abtrocknen, hernach langsames Dörren unsere [231] Böhnchen und Erbsen eben so freute, als meine Tapetenarbeit an schönen seidenen Stühlen, die ich nähe. Julchen kam zu mir und half in allem, dann ging ich und Hannchen alle Tage zu ihr, bis auch alles zu Stande war. Mittheilung ist gewiß doppelter Genuß und das Leben der Freundschaft das süsseste Leben der Erde. Das edle gute Hannchen und ihr so ganz rechtschaffener Bruder, freuten sich, mir durch ihre wirthliche Talente etwas von demjenigen zu vergelten, was sie mir schuldig zu seyn glauben, und uns freute, daß die schätzbare Mutter dieser Kinder in der Achtung, die wir für Hannchens Wissen und Geschicklichkeit haben, einen Lohn für ihre vieljährige Erziehung, Mühseligkeit und Sorgen erhält. Denn ich zeigte ihr schon hier meine großen Zuckergläßer voll trockenen Gemüßes, darunter Artischokenboden, kleine Morcheln, und ein Versuch in Wiesenspargel war, der uns recht gut gerathen ist. Meinen Vorrath an Flachs, Hanf, und schon gesponnenem Garn, wies ich auch, als Früchte von Hannchens Unterricht und Freundschaft. Linke verdarb diese Herbstfreude, da er nur einen Tag da blieb und seitdem nicht mehr kam. Wir hatten alle gehoft, daß er Hannchens [232] Lohn und Glück werden sollte, aber er war den Tag, da eben die Eltern und alle Kinder bey uns waren, erst wenige Minuten vor dem Essen gekommen, hatte wenig gesprochen und blieb auch des Abends nicht bey uns, so, daß wir nicht hätten tanzen können, wenn nicht Ott ein paar Vettern bey sich gehabt hätte, wovon einer schon vier Wochen bey ihm ist, der auch unserm Hannchen gern nachgeht, und als ein von Reichthum unterstützter Mensch ihr mit Zuversicht schöne Sachen sagt.

Frau Grafe und ihre Nichte bleiben hier, bis Frau Cotte sie abholt. Die junge Person ist hübsch, gut, voll Heiterkeit eines schuldlosen Herzens, hat ungemein vielen natürlichen Geist, und hat oft die witzigsten Gedanken, lacht gern innig und treuherzig über den geringsten Anlaß, hängt weder an Putz noch ausserordentlichen Zeitvertreiben, haßt die Tadelsucht und Schwätzereyen mit einem ihrem Herzen Ehre machenden Abschen, jede Fähigkeit zu thätiger Tugend ihres Standes und zu Kenntnissen liegt in ihr unverdorben und ohne falsche Richtung, und sie kann in allem einen der schätzbarsten weiblichen Charaktere nach Geist und Seele werden. Ihre Erziehung war[233] kunstlos, aber voll Sorgfalt, daß nichts an ihr bös oder verkehrt würde. Dieses Weibchen erhält durch den Zufall eines der schönsten Portraits von sich, die jemals gemacht wurden. Frau Grafe mag zuweilen einmal spielen, da saß ich mit Cleberg bey ihr am Lombretisch in des Malers Zimmer, weil mein Mann gern eine Zimmerwandrung macht, wie er es heißt. Die Thüre geht gerade auf die Treppe, deren Fenster gegen Abend stehen. Unser Spieltisch war oben im Zimmer, der Maler sah uns zu, und das Weibchen hatte ein wenig auf dem Clavier getändelt, das an der Wand nah an der Thüre steht; sie hörte auf, nahm ein Buch und setzte sich seitwärts gegen uns ohne den Stuhl zu wenden, der einer von den Weidenstühlen von Metz ist, wovon die Lehne nur aus zwey runden Stäben in die Höhe und zwey schmalen Zwerchstücken besteht, so, daß wir die ganze Gestalt des guten Geschöpfs dadurch sehen konnten. Ihre Kleidung war eine Pekesche von weißem mit rosenfarbenen Punkten durchzeichneten Zitz, mit einer Einfaßung von lauter Rosenzweigen. Ihre hübschen leicht frisirten Haare waren nur mit einem kleinen Aufsatz von Flor geziert, über welchen ein Gewinde von [234] rothen und weißen Rosen herum gebogen war; ihre heitre Gesichtsfarbe, lebhaften schwarzen Augen zeigten sich schön; der linke Arm war artig über die Lehne des Stuhls mit dem Buche in der Hand hingelegt, und von der rechten Hand nur ein paar Finger sichtbar, welche die Blätter umwendeten. Das Clavier von braunem Holze, die Gemählde auf der Wand auch in dunkler Farbenmischung, besonders eins dessen sehr breiter schwarzer Rahmen gerade den Grund hinter dem jugendlichem Kopfe machte, und alles das durch die offene Doppelthüre von der Abend-Sonne beleuchtet, that die herrlichste Wirkung. Unser Maler rief uns, wie ein entzückter Mensch, aufzusehen, bat zu gleicher Zeit die junge Frau, ja sitzen zu bleiben und sich zeichnen zu lassen. In Wahrheit batten wir alle niemals eine reizendere Beleuchtung eines Gegenstandes gesehen: denn die junge Person und ihre Kleidung allein mit einem Stück des Fußbodens wurden von der Sonne bestrahlt, und die Wand mit den Gemählden, nebst dem Clavier wurden nur durch den Widerschein er hellt, und dienten also gerade zum Grunde, der die vorstehende Figur um so mehr erhob. Das [235] Weiße der Kleidung, die Rosenranken der Einfassung, die florne Schürze, der Faltenbruch, die hellbraune Lehne des Stuhls und die etwas dunklere Decke des Buches nahe gegen den Kopf; in diesem wieder ein blühendes Gesicht und dann, die sich zum Lichtbraunen senkende Haare und die Rosen darinn; alles mit Glanze der neigenden Sonne übergossen; machte wirklich eines der schönsten Gemählde. Auch ging es nicht verlohren, denn nachdem der gute entzückte Künstler, so schnell er konnte, das Ganze richtig hinzeichnete, besonders die Beleuchtung bemerkte, so fing er auch gleich den zweyten Tag an, das Portrait des niedlichen Weibchens zu mahlen. Das Stück wird in Lebensgröße gemacht. Er will, sagt er, sein Meisterstück daran verfertigen; es müßte ihm seine Aufnahme in der Akademie verschaffen; und wirklich scheint es, als ob die Musen seine Farben und seinen Pinsel begeisterten, so schnell und vortreflich wächst das Ganze unter seinen Händen zur Vollkommenheit hinan und stellt eine ganz einnehmende Gestalt dar, die dem Mahler und dem Gegenstande Ehre macht, und dem Auge aller, die es jemals sehen werden, ein großes Vergnügen gewähren wird. Ueberhaupt [236] hat dieser junge Mann ganz den Enthusiasmus seiner Kunst; wie ein Poet jemals den Einfluß des Apolls fühlen kann; auch geht er gleich hin, sich alles zu bemerken. Unser Bild für Latten ist eben so schön, aber im Kleinen genommen. Bey Fritzgens Feldgen ist an dem Birnbaum ein Grasplatz, der an den geschonten Traubengeländer hinläuft. Dies macht eine Seite von unserm Gemählde. Cleberg, in einer leichten Kleidung am Birnbaum gelehnt, bläset die Flöte und ich tanze mit Fritzgen; Hanns steht am Geländer und sieht uns zu; in der Ferne sieht man unser Haus, und vor diesem einen Theil des Gartens. Das Ganze ist drey Schuh breit und zwey Schuh hoch; sieht sehr freundlich und uns ähnlich.

[237]
110. Brief
Hundert und zehnter Brief
Rosalia an Mariane S**.

Wir bleiben länger hier, als ich dachte! Alle Zimmer haben Oefen bekommen; denn Cleberg will erst den ein und zwanzigsten November in die Stadt zurück, um, wie er sagt, die Natur sich auskleiden und einschlafen zu sehen; welches bey dem ersten Schnee seyn wird. Er reist doch öfters nach der Stadt, und läßt gewiß da, nach seinem herrschenden Baugeiste, etwas machen, denn ich habe Briefe von Bauleuten und Tapezierern an ihn gesehen, jedoch nicht gelesen, weil wir beyde hierinn recht artig miteinander handeln, und keine Briefe öfnen, nach keinem fragen, und beyderseits mit dem, was wir uns davon erzählen, zufrieden sind. Dieß scheint eine unbedeutende Kleinigkeit unter Ehegatten zu seyn; und doch, meine Liebe, liegt in dieser Bescheidenheit viel Gutes, so, wie überhaupt an allen kleinen Fäden der Achtung und Höflichkeit. [238] Keine Theile des häuslichen Glücks hängen daran, besonders bey Leuten, die einen Theil Eigenliebe neben der ehelichen Liebe nähren. Ein Mißvergnügen hatte ich noch: meine Freundin, Hannchen, verließ mich. Obschon Linke seinen Wohnsitz wieder bey uns aufschlug, so ging sie doch mit Julien vorgestern früh in die Stadt, Ott aber und seine Vettern blieben noch hier. Julie hat sich zu einem Wochenbette anzuschicken. Meinem Hannchen fehlt etwas; sie schien so beklemmt, als sie ging, und weinte doch nicht. Ihr guter Bruder sieht auch unzufrieden und unruhig aus, und bleibt mehr auf seinem Zimmer als sonst: und Madame Guden schreibt mir weniger, als jemals. Aber Nichts ist vollkommen; die Wagschaale muß nothwendig manchmal steigen oder sinken, denn, welche Sterblichen blieb sein Schicksal immer im Gleichgewicht! Cleberg vermuthet, Hannchen wäre entweder über die muntere Niece der Frau Grafe eifersüchtig geworden, weil ich ihr viel Liebe zeigte; oder sie hätte Absichten auf Ottens Vetter und hefte sich daher an Julien. Aber ich widersprach beydem, denn ihr Herz ist für Neid und Intriguen zu edel. Linkens Kälte mag sie etwas [239] geschmerzt haben; mich dünkt, meine Vermuthung darüber sey die richtigste.

Ich nahm meinen Brief Mittags 2 Uhr zurück, um Ihnen eine mich sehr freuende Nachricht zu geben. Linke frühstükte gestern bey Ott, und kam nachher sammt diesem zu uns. Halb munter fragte er: warum ist Hannchen fort? Ich sagte: ich wüßte es nicht. Es hat doch eigene Ursachen! Warum wollen sie es dann wissen? Weil es mir leid thäte, wenn es aus Liebe für Jemand geschehen wäre. Und wollten sie nicht, daß Hannchen liebte? Ja, aber nur mich! Husch, Linke; das ist schnell gefodert für einen Menschen, der so kalt war, als das artige Geschöpf hier lebte. Kalt? ich war eifersüchtig, und beobachtete sie nur; aber nie hat mein Herz eine andere Frau gewünscht, und nie werde ich eine andre nehmen. Hohlen sie sie wieder, reden sie für mich; mein Haus ist bestellt: es mag zum Sterben, oder Heyrathen seyn.

Linke! sagte ich, sie gefallen mir nur halb bey Allem, was sie da sagen; und mit diesem Tone da, sollen sie Hannchen nicht haben.

Vergeben sie mir! ich fühle, daß ich ihre [240] edle Freundschaft beleidigte. Aber ich bin so froh von Ott gehört zu haben, daß Hannchen seinen Vetter abgewiesen hat, daß ich für Freuden tolles Zeug sprach. Denn gewiß, ich werde Hannchen mit der Hochachtung begegnen, die sie verdient.

Nun erzählte er, warum er in die Stadt gegangen sey: eines theils, weil er wirklich vermuthet, Herr Stiegen sey Hannchen werther als er; und auch, um mit seiner Großmutter über einen Brief zu reden, in welchem er ihr von seinen Absichten auf Hannchen geschrieben hatte, um ihren Beyfall und eine Beysteuer zu erhalten; denn da er anfing, an Hannchens Neigung zu zweifeln, konnte er an seine Großmutter nicht mehr in dem dringendem Tone schreiben, und wollte daher lieber mündlich mit ihr reden, um alles auf Schrauben zu setzen, die sich wenden lassen, wenn sein Glück sich wendete. Also wäre die doppelte Besorgniß, daß er bey der alten Frau sich zu voreilig ausgelassen, und seine Eifersucht zugleich, die Ursache von seinem finstern und, wie ich gesagt, kalt scheinenden Aussehen gewesen; um so mehr, da seine Großmutter alles recht wohl genommen, und auch ihm viel Gutes versprochen [241] hätte; doch mit einer Bedingung, die ihn besorgt macht, wenn er auch des lieben Mädchens Neigung ganz für sich hätte. Ich fragte begierig nach dieser Bedingung: daß wir bey ihr wohnen sollen, und sie bey uns in die Kost gehen will. Denn mein Heyrathsvortrag kam eben auf einen Tag, wo sie mit ihrer Magd unzufrieden war. Und nach dem Lobe, welche ich Hannchens wirthschaftlichen Kenntnissen gab, rechnete sie auf geschickte Führung ihrer Hausangelegenheiten und Küche: wobey sie auch sicher seyn konnte, niemals verlassen zu werden. Es ging, setzte er hinzu, wie bey den Angelegenheiten der größten Menschen: kleine Nebenideen befördern die Hauptsache. Aber nun hilft mir das alles nichts, wenn Hannchen gegen mich geändert ist, sagte er traurig und trübe gegen mich, die Augen auf den Platz geheftet, wo das liebe Mädchen sonst in meiner Stube saß.

Cleberg war unvermerkt von uns fortgegangen, und hatte den jungen Itten aufgesucht, mit dem er von Linkens Absichten auf seine Schwester sprach, und ihn ersuchte, aufrichtig zu sagen, ob sie nicht für jemand anders eingenommen sey; und ob sein Freund sich[242] Hofnung machen könnte, mt Achtung in seiner Familie aufgenommen zu werden? Der junge Mann öfnete Clebergen sein Herz und zugleich das Herz seiner Schwester, die gewiß eben so viel Neigung für Herrn Linke, als er für sie habe. Sie habe ihrem Bruder alles entdeckt, und ihn zu ihrem Aufseher angenommen, damit er sie beobachte, ob in ihrem Wesen und Bezeigen nichts ihre stark werdende Zärtlichkeit verrathe, damit sie ja in Zeiten auf den Pfad der sittsamen Zurückhaltung einlenken möge. So lang sie hofte, war sie stark genug, gleichmüthig zu scheinen; aber da sie ihn geändert glaubte, bekam ihr Kummer die Oberhand. Sie konnte ihn nicht überwältigen, und wollte ihn doch auch nicht sehen lassen, deswegen ging sie nach Hause, wo sie ruhig weinen konnte. Cleberg erzählte dieses auch mir, und ich schrieb ein Billet an Hannchen, daß mir ihre Abwesenheit unerträglich wäre, und ich sie morgen wieder hohlen würde. Ich ging auch heut Vormittag wit ihrem Bruder, mit welchem Linke gesprochen hatte, in die Stadt, um Hannchen mit mir nach Kahnberg zum Mittagsessen zu nehmen, wohin sie und wir geladen waren. Sie hatten auch im Hause eine wahre Freude mich zu sehen; [243] ausgenommen Hannchen und ihre Mutter, über deren Gesichte eine Wolke von halbem Weh hing. Das war mir nicht möglich lange anzusehen: ich bat also beide, mit mir in die kleine Laube von Eßigtrauben zu gehen, die ich sehr liebe, und deren Blätter nun auch schon die röthliche Farbe annehmen, die ich so gern sehe. Sie folgten, und da die übrigen bemerkt hatten, daß ich diese allein sprechen wollte, so blieben sie zurück. Ich setzte mich zwischen Mutter und Tochter, die auch beyde etwas zu erwarten schienen, und, wie ich, halb verlegen waren; endlich nahm ich Hannchen bey der Hand: Ich wünschte, meine Liebe! daß sie bey uns geblieben wären, so hätte der gute Herr Linke seinen Antrag und seine Bitte selbst vorbringen können, die er mir aufgegeben bat. Hier erröthete das gute Mädchen, senkte den Kopf und die Mutter legte ihre Hand auf meinem Arm, und faßte mich mit etwas Zittern, aber keine von beyden sprach ein Wort. Ich fuhr fort: Sie müssen, meine liebe Freundin, schon lange bemerkt haben, wie werth und theuer sie unserm Linke sind: er suchte ihre Hochachtung zu verdienen, eh er ihnen etwas von Liebe sagen wollte; und [244] dann wollte er auch nicht von Liebe reden, ohne zugleich im Stande zu seyn, ihnen seine Hand und eine hinlängliche Versorgung anzubieten. Das kann er nun, meine Liebe, und thut es heute durch mich bey ihnen und ihrer Frau Mutter. Sie schwieg noch, und ich sagte: Sie haben ihm Achtung gezeigt; er fürchtet aber, diese vortheilhafte Gesinnung sey durch die Aufwartung des Herrn Stiege in etwas gestört worden. Hier sagte sie schnell: Nein ganz und gar nicht! aber Herr Linke änderte sich! Gewiß nicht, liebes Hannchen! Warum ging er denn fort, als meine Eltern kamen, die er ja gern sehen sollte, wenn er mich liebte. Meine Liebe! sie haben ja gesehen, was Eifersucht für ein böses Gespenst ist, und uns lauter fürchterliche Sachen vormalt! Linke dachte, Herr Stiege würde sich einzuschmeicheln suchen, und auch leichter Gehör finden, weil er reicher ist, als er. Warum hat er diese Vermuthung von mir, da er selbst nicht auf Reichthum sieht? Nun, mein Hannchen! ich glaube, Herr Linke wird ihnen in seinem Leben keinen Verdruß mehr machen! Wollen sie ihm nicht diesmal vergeben, und ihm erlauben, auf ihre Liebe zu hoffen? Sie [245] küßte meine Hand und weinte stillschweigend. Ich schlug einen Arm um sie: Was ist das, liebe Freundin! Warum in Thränen, mein Hannchen? O glauben sie, ich würde nicht eine Silbe für Linken gesagt haben, wenn ich nicht sicher wäre, daß sie glücklich mit seinem Herzen seyn würden! aber wenn ihres nicht einstimmt, mein Kind, so wollen wir von jetzo an, die ganze Sache ruhen lassen, und wie vorher unsere ruhige gute Freundschaft fortsetzen. Sie versuchte zu reden, ihre Stimme wurde aber durch Weinen erstickt, und da fing die Mutter an: Nun muß ich reden, liebe Frau Residentin, weil ich das Herz meiner Tochter kenne. Herr Linke ist ihr nicht gleichgültig und sein Antrag macht Hannchen und uns allen Ehre und Freude; besonders da Herr Cleberg und sie die Sache gut finden, so glaube ich auch, daß unser Kind glücklich seyn wird. Da standen der Mutter auch Thränen in den Augen und die meinigen blieben nicht trocken. Ich erzählte dann, wie Herr Linke schon über zwey Jahre her Hannchen liebte; was er alles gethan, nur um sie zu sehen und wie er alles eingerichtet hätte. Dieß gefiel der Mutter und Tochter. Erstere sagte: Siehst du, Hannchen, [246] daß die Mädchen nicht verliehren, wenn man sie fein im Hause hält? Vielleicht wäre deine Haut nicht so rein und weiß geblieben, wenn du oft spatzieren und zu besuchen gegangen wärest; dann hättest du auch allerhand fremde Sachen zu essen bekommen, die auch die Haut verderben. Hannchen lächelte hier und sagte, wobey sie auf mich deutete: Ey, Mama! ich habe ja an diesem Tisch viel Fremdes gegessen und muß doch nicht schlimmer geworden seyn, weil ich Herrn Linke noch so wohl gefalle? Ich fiel ein: es ist also doch recht, daß sie ihm gefallen? Sagen sie, Liebe, haben sie nichts einzuwenden? bedenken sie sich und sagen mir es nachher oder morgen. Sie räusperte sich und war bemüht, das Weinen zu unterdrücken. Endlich gelang es ihr, mir zu sagen: Ich habe nicht nöthig mich zu bedenken, denn ich liebe Herrn Linke aufrichtig und werde ihn immer einen reichern und vornehmern Manne vorziehen. Nun weinte die Mutter und reichte mit ihrer Hand über meinen Schooß hin nach ihrer Tochter, da ich zugleich letztere umarmte, und ein herzliches: Gott segne sie! aussprach. Nach dieser ersten Bewegung war unser Gespräch freyer und heiterer. Darauf sagte ich: [247] Linke hätte doch noch eine Besorgnis. Und das? sagte Hannchen schnell. Ob sie wohl gern bey seiner Großmutter wohnen werden, die ihnen das ganze Hauswesen übergeben will? Sie zuckte ein wenig. O Mama, wenn es mir ginge, wie ihnen! Ich sagte dann, was ich davon wußte, und die Mutter sprach ihr Muth zu. Unter andern: mein Kind! da kannst du am besten die Erziehung beweisen, die du durch mein Beyspiel erhalten hast, da jedermann wußte, was ich ausstund. Hannchen beruhigte sich, und ich fragte, ob sie mit zu Kahnen wollte? »Ja!« Nun so kleiden sie sich an. Ich redte noch mit der Mutter, die mir herzlich für meine Verwendung dankte, aber dabey sagte, sie könnte Hannchen nichts geben, als weisses Zeug, Betten und noch ein Kleid zu denen, die sie hätte. Ich wußte, daß Linke sonst nichts begehrte, und bat sie an nichts zu denken, als daß ihre gute Tochter einen guten Mann bekäme. Der Bruder hatte unterdessen auch geschwatzt, denn ich bemerkte, daß die übrigen Schwestern ihrem Hannchen mit einer Art von Ehrerbietung begegneten. (Wie es einer geweihten Sache gebührt, sagte Cleberg als ich ihn davon erzählte.) Wir trafen[248] in Kahnberg unsere Freunde an. Linke kam schüchtern aber artig zu uns an den Waagen, und hob mich heraus. Haben sie für mich gebeten? sagt er, indem er Hannchen anblickte. Ja, mein Freund, und mein edelmüthiges Hannchen vergiebt ihnen ihre Unart und glaubt Gutes von ihnen. Er küßte eine ihrer Hände: Tausend Dank, bestes Hannchen! Sie sollen mich immer gut finden. Wir waren sehr vergnügt, und Hannchen erfreute die große Achtung, die ihr Linke bey uns allen bezeigte. Er kam als glücklicher Mensch zu uns zurück, und ist wirklich nach der Stadt gefahren, um seine Bewerbung zu thun.

111. Brief
Hundert und eilfter Brief
Rosalia an Mariane S**.

Ich war weit entfernt zu denken, daß die kleine Geschichte unsers guten Hannchen Ihnen so anziehend scheinen würde, um zu wünschen, daß sie die nachkommenden Auftritte des ersten Antrags sogleich erfahren möchten, [249] sonst hätten sie sie schon längst haben sollen; da ohnehin der ganze Roman seit drey Wochen geendigt ist, und ich nicht mehr von Hannchen, sondern von Frau Linke schreiben muß. Aber ich habe weit nachzuholen, und viel zu erzählen. Nach meinem letzten großen Briefe war Linke den Morgen nach dem Kahnischen Mittagsessen in der Stadt und hielt bey Herrn und Frau Itten um ihre Tochter zu seiner Frau an, und legte ihnen die Papiere vor, welche die Einkünfte seines Amts, und diejenigen, welche ein vorzügliches Geschenk von seiner Großmutter bezeichneten; aber freylich vom letztern nur in so fern, als er und seine Frau sie bey sich versorgen würden. Da war nun zwar kein Ueberfluß, obschon beydes zusammen gerechnet wurde; aber es war mehr, als die gute Frau Itten mit ihren sechs Kindern jemals gesehen hatte. Also kam es ihnen viel vor, und sie freuten sich ihre Tochter um so viel glücklicher zu sehen, als sie nicht gewesen. Man bewilligte ihn sein gewünschtes Hannchen, neben der aufrichtigen Eröffnung, daß man ihr kein Vermögen mitgeben könne, er solle dieß seiner Frau Großmutter nochmals sagen, und allen Vorwürfen vorbeugen. Er [250] ging gerade zu der alten Frau hin, und diese faßte einen ganz eigenen Entschluß; sie hieng nemlich ihren großen Mantel um sich, nahm unter denselben ein kleines Kästchen und eine lederne Brieftasche mit einem eisernen Schloß verwahrt, und sagte zu ihrem Enkel im Herausgehen aus dem Zimmer: Christian! komm und führ mich zu deiner Braut. Ich will deine Sache selbst richtig machen, sonst wird es mit dem ewigen Geträndel kein Ende. Linken ward angst und bange, wie die Ittens wohl diesen plötzlichen Einfall aufnehmen würden; er besorgte auch etwas von dem trotzenden Tone seiner Großmutter. Doch durfte er ihr nicht widersprechen oder Vorstellung thun, und empfahl also alles den lieben Himmel. Er ging aber, sagte er, als auf Dornenspitzen mit blossen Füßen, und mußte der alten Frau immer von Hannchen und ihren Eltern vorerzählen. Als sie gegen das Haus kamen, fehlte ihm beynah der Athem; er wies es ihr, und ging langsamer, damit sie es betrachten, und er sich fassen könnte. Aber, sie sagte: ich kenne es von aussen schon lange; denn, so bald du mir von dem Mädchen und den Leuten sprachst, so ließ ich mich in die [251] Straße führen, und beguckte das Haus, wo meine Enkeltochter wohnt. Nun mußte er klingen und alle seine Vernunft zusammen fassen, um in allem auf seiner Hut zu seyn, und gleich alles wieder gut zu machen, wo es hie oder da fehlen könnte. Die Magd öfnete die Thüre, bückte sich schön gegen ihn, sah aber die alte Frau mit etwas Staunen an. Linke, sagt ihr, sie möchte der Frau Itten melden, seine Frau Großmutter wolle sie besuchen. Das Mädchen lief was sie konnte und Linke ging langsam durch den Thorweg, und sah nachdenkend aus; so, daß die Alte sagte: Hör! was ist es mit dir? du bist ja ganz verwirrt! Entweder schämst du dich meiner, oder du hast mir zu viel Schönes von den Leuten gesagt, und fürchst, ich ertappe deine verliebten Erzählungen auf der falschen Seite. Liebe Frau Großmutter! rief er: haben sie keinen Verdacht auf nichts. Sie werden finden, daß ich wahr geredet habe, aber mir ist Angst, ob sie meine Augen für Hannchen haben werden.

Da! da! sagte sie; aber Frau Itten kam mit möglichster Eile herbey; die Magd öfnete die Prunkstube und man führte den Besuch hinein. [252] Die alte Frau war sehr höflich, und sah mit Vergnügen um sich her; dann kam Herr Itten auch, wo dann die alte Frau gleich anfing: »daß sie wohl nicht nöthig habe, die Ursache ihres Besuchs zu erzählen, weil Linkens Großmutter nur kommen könnte, um selbst alles zu bekräftigen, was er von ihren Beytrag zu der Heyrath gesagt habe.«

Die Itten sahen sich an! Linke erholte sich wieder und dankte ihr. Nun nahm sie Frau Ittens Hand und bat sie ihr die Braut, ihre Enkelin, sehen zu lassen. Linke wollte sie holen. Das ist recht: aber du solltest doch erst Vater und Mutter fragen, ob du darfst?

Sie nickten, ja! und er war fort; da sagte sie viel Gutes von ihrem Enkel Sohn, wie er von Jugend auf ein guter Bub gewesen, und ihr Mann ihn meist erzogen habe; daß ihre Tochter recht gut mit ihm ankom men würde, und daß sie gegen Gewohnheit der Schwiegermütter, mehr auf Hannchens als auf Linkens Seite seyn wolle. Hannchen kam etwas zaghaft und verschämt, aber sie ging ihr freundlich entgegen. Das ist recht schön! sagte sie: so sittsam roth zu werden das ist auch alte Mode, wie dieser Teppich und diese Stühle, aber meine [253] liebe Tochter, das ist das beste Stück vom Heyrathsgut eines braven Kindes. Nun verlangte sie das ganze Hans zu sehen. Der arme Linke gerieth aus einer Verlegenheit in die andre, über diese Art von Unverschämtheit der alten Frau. Er hatte nicht mehr das Herz aufzusehen. Hannchen aber hatte sich gefaßt, und führte sie überall hin, wieß ihr alles, erklärte alles, und bot ihr den Arm, wo eine Stufe zu steigen, oder sonst eine Beschwerlichkeit war. Im Krankenzimmer faltete die Frau die Hände, und war ganz bewegt, legte ihre Brieftasche hin. Lieber Gott! sprach sie endlich: Meine Tochter! so ein Zimmer ist das erste für mich. Aber das ist schön! sie hielt Hannchens Hand dabey, als sie dieß sagte: Christian! rief sie zweymal, (denn er war immer etwas zurückgeblieben.) Er kam und sie winkte ihm näher. Hör, mein Sohn! Ich wünsche dir Glück, daß du in eine so christliche Familie kommst; Ich wollte, daß das Versprechen im Zimmer bey den Spinnrädern seyn sollte, weil mich die sehr freuten; aber, diese Stube ist noch besser. Hier legte sie Linkens und Hannchens Hände zusammen. Der allmächtige Gott segne euch herzlich, sagte sie, liebt euch [254] bis die Auferstehung euer Trost seyn wird, (auf das Gemählde zeigend) und versprecht mir, für mich zu sorgen, wenn ich auf dem Krankenbette seyn werde.

Diese Anrede und die Wendung, welche alles dadurch bekam, brachte allen Thränen in die Augen. Hannchen weinte am meisten, und küßte ihr die Hände, und die wunderliche Frau fand dieß auch neumodisch, so wie sie die zinnerne Waschbecken der guten Ittenschen Mädchen auch gefunden hatte und sich die Wasserkugel lobte, die sie in der Mutter Schlafzimmer, und in der Wohnstube angetroffen, über welche das Handtuch herunter hängt, und das Waschwasser aus dem kleinen Krahn in eine zinnerne Muschel läuft. Linke hatte Hannchen bey der Erinnerung des Neumodischen die Hand gedrückt. Sie verstunds und sagte lächelnd: Aber, liebe Großmama! wie soll ich ihnen dann meine Verehrung und meine Liebe zeigen? durch das Händeküssen geht das am besten und behendesten. Drücke sie meine Hand und gebe sie mir einen freundlichen Namen dabey: aber das soll unser größter Streit gewesen seyn, setzte sie hinzu, und suchte nun die Schlüssel zu ihrer Brieftasche [255] in ihren Schubsäcken, öfnete sie, setzte die Brillen auf, und nahm eine Verschreibung von vier tausend Thalern, die sie Linken zu einer Aussteuer schenkte. Auch zeigte sie, die andre, damit Itten und seine Frau sehen möchten, daß ihrer Tochter wohl seyn würde. Nachdem verschloß sie die Tasche mit den Papieren wieder, und ermahnte Linken, die Verschreibung immer in dem Papiere eingewickelt zu lassen, worinn er sie bekam, denn sein Großvater hätte aussen darauf geschrieben, wenn er das Geld angelegt, und sie auch den Tag, da sie es geerbt; sie zeigte dabey alle Linien der Aufschriften, und zählte die Jahre nach, wo dieses Capital angelegt worden, und wie sie und ihr Mann das Geld zusammen gespart hätten. Nun nahm sie das kleine Kästgen von Ebenholz, zierlich mit Meßing beschlagen und nach der Jahrzahl, die oben eingelegt ist, hat es schon ein Alter von hundert und sieben Jahren. Es ist von der Größe eines kleinen Octavbandes und etwa sechs Finger hoch. Inwendig mit blauen Atlas ausgemacht und in drey Fächer getheilt, die mit feiner Baumwolle stark überdeckt waren. Daraus nahm sie einen Ring von Tafelstein mit schwarzem Schmelz nach alter [256] Art gefaßt, und reichte ihn Linken: Da gieb deiner Braut den Ring, und bitte sie ihn nicht zu vertauschen und nicht umzufassen, denn er ist fast zweyhundert Jahr in meiner Freundschaft; aber dies Kreuz und diese Ohrringe sind nicht so alt, denn die hab ich von meiner Mutter. Diese gab sie selbst an Hannchen zum ersten Geschenk von ihr, und die Geschichte des Rings und des Kästchens dabey. Ein rundes Balsambüchsgen mit alten farbigen Schmelz, in Blumen, inwendig vier Fächer zu viererley Balsam, stark vergoldet: aber sie hatte es nie gebraucht, so, daß es also noch Funkelneu war; das Kreuz und die Ohrringe waren auch Tafelstein, ziemlich schön, und ein paar Ohrringe von einer einzigen großen Perle und schwarzen Schmelz, auch in einem silbernen Büchsgen. Das alles zusammen bekam Hannchen. Die letzten Ohrringe mußte sie gleich einthun; so wie auch die goldenen Handschnallen, mit den Sammtbändern, die schon seit sieben und zwanzig Jahren darinn sind, weil sie solche eben neu anlegte, um auf Christians Taufe Staat zu machen; denn hier fuhr sie fort lächelnd zu Hannchen zu sagen, indem sie das Innere von Hannchens Hand heraus drehte und [257] die Sammtbändchen wies: »Hierauf hat ihr Linke von sieben und zwanzig Jahren gelegen, als ich ihn nach der Kirche aus dem Taufzeug hob.« Hannchen sah freundlich auf ihre Armbänder nieder, und wurde von der alten Frau darüber gelobt, die ihr ins Gesicht gukte und sagte: nicht wahr! die alten Bänder sind ihr nun lieber? Die Braut nahm ihr Kästgen unter den Arm. Wo thut sie es hin? fragte die Grosmutter. In meinem Schrank; aber ich zeigte es auch meinen Schwestern. Das wohl! aber nicht verschenken! setzte sie hinzu. Sie ging dann in den Garten. wie im Hause in allen Ecken herum, tobte alles und pries immer ihren Enkelsohn glücklich. Hannchen mußte dann mit ihr nach Hause gehen und Linke bey den Ittens bleiben bis sie wieder kämen. Da wieß sie ihr auch alles in ihrem Hause und gab ihr die Schlüssel zu vier Schränken und einer Stube gleich in Verwahrung, weil sie wollte, daß sie dort alles so einrichten möge, als in ihrer Mutter Hause. Sie zeigte ihr auch zwey Stuben, die Hannchen und Linke noch zu der bekommen sollten, die er schon bewohnte. Sie müsse aber die alte Einrichtung in der neuen Stube auch so in Ehren halten, wie ihre Mutter [258] in der Prunkstube gethan. Sie schenkte ihr auch einen Schreibtisch, woran die Thüren des obern Schranks von Spiegel sind, gab ihr alle ihre Spitzen, und ein Stück feinen Indischen geflickten Mousselin, das sie schon, vor, wer weiß, wie viel Jahren, von einem Freunde ihres seligen Mannes bekommen hatte. Meine Haut, sagte sie, war für das dichte weisse Zeug zu braun; da hob ich's auf. Ihr aber wird's gut lassen, da sie so weiß ist; und bey dieser Rede legte sie das halb aufgefaltete Stück über Hannchens Achsel. Dann folgte noch ein Kleid und Rock von grün und gelben schielenden Gros de tour, der an sich schon stark und gut, aber noch ganz mit Flanel ausgefüttert war, das möge sie nach ihrer Art und wie es Linken gefiele, zurecht machen. Ein zu allem Glück ganz strohgelber guter Damast, an Stücken, die zu einem Bette für vornehme Leute zugeschnitten waren, und den sie an einer Schuld annehmen mußte, wurde zum Brautkleide bestimmt; hingegen auch ein grün und weißes Ras de Siele zum Hochzeit Schlafrock für Linken, und endlich noch für Hannchen, eine schöne gestickte Geldtasche mit einem silbern Schloß und Hacken, worin sie eine Nadelbüchse [259] mit oben aufgeschraubten Fingerhut von Silber und einen Georgen-Thaler steckte. Damit sie immer Geld im Sack habe, soll sie ihn ja niemal verwechseln, und mit einem Löffel, den sie hinzu legte, solle sie nun alle Tage essen, es wäre ein L. darauf gestochen; dazu dürfte sie nur ein H. setzen lassen, weil sie doch bald Hannchen Linke seyn würde.

Im nemlichen Jahr gab sie ihr auch drey schöne seidene Halstücher für ihre Schwestern; führte aber das arme Hannchen mit dem grün und weißen Kleide überm Arme in Linkens Schlafzimmer, wo das gute Mädchen das Kleid auf seinem Bett ausbreiten, und seinen Schlafrock darüber legen mußte, damit er beym Schlafengehen es finde, und so gleich merken könne, wozu es gehöre. In dem Zimmer war es ziemlich unordentlich; nun fing sie an aufzuräumen, und Hannchen mußte helfen, damit er sähe, zu wes eine brave Frau nütze. Dies war der Braut herbe, weil sie sich da mit alten Kleidern und schwarzer Wäsche des Linken bekannt machen mußte, eh sie ihn selbst recht kannte. Es blieb ihr auch etwas von diesem Mißvergnügen übrig, als sie nach Hause kam, und sie vermied mit[260] Linke viel zu sprechen; der dann auf die Verninthung kam, seine Großmutter müßte sie mit etwas beleidigt haben. Hannchen war froh, als er mit der Frau fort mußte, die Abends spät Hännchen einen Pack mit den geschenkten Sachen schickte, die dann ihrer Mutter alles Vorgegangene erzählte: welche ihr Muth zusprach und sie sorgfältig ermahnte die alte Frau in dem guten Humor zu lassen, und aufs geduldigste und sorgfältigste mit ihr umzugehen. Sie wieder holte ihn dabey immer, daß sie sich freue, sie um viel glücklicher zu sehen, als sie in ihrem Leben nicht gewesen wat. Linke errieth nun zu Hause die Ursache der Verlegenheit, worinn er seine Braut gesehen, war aber so feindenkend, nicht viel davon zu sagen. Hannchen machte sich mit ihren Schwestern alle die Kleider und Hauben zurecht, und mußte nach dem Eifer der Großmutter sich acht Tage hernach trauen lassen, welches ganz still nach dem Morgengebet in der Pfarrkirche geschah. Gleich den zweyten Tag erinnerte ihre Großmutter sie an die Einrichtung des ihr anvertrauten Zimmers und der Schränke. Ihre Enkelin machte sich ohne Widerrede an die Arbeit, ordnete und schrieb alles auf; maaß die [261] Stücke Leinwand, säuberte dann die Schränke selbst, und fing an einzuräumen. Die Großmutter sagte: sie solle alles ablesen; dieses that sie, und da auf einer Seite das Beste, und dann das Mittlere u.s.w. stund; so sagte die alte Frau; nun schreib sie auf:

»Weisses Zeug von Christian und Hanne Linke.«

Das gute Weibgen staunte und dankte ihr mit nassen Augen. Das hat sie durch ihr Spinnrad verdient, meine Tochter, sagte sie, indem sie ihr die Hände drückte. Ein Zimmer darf sie neumodisch einrichten, wär' es auch nur wegen Herrn und Frau Cleberg, damit die sehen können, daß sie nicht so schlecht sey. Die Sanftmuth und kindliche Achtung Hannchens freut die Frau ungemein, und sie will nun, daß der Sohn einer reichen guten Freundin von ihr eine Schwester Hannchens heyrathe, und Linke ist unendlich glücklich. Ich habe die zweyte Schwester zu mir genommen, ob schon Herr Stiegen gern gesehen hätte, daß es die dritte gewesen wäre, die ihm, nach Hannchen, am besten gefiel und wie Ott vorbat, so soll er sie recht wünschen, und dann bekommen. Die Mutter ließ mir sie nicht, weil sie zu luftig [262] und zu hübsch sey. Cleberg hatte die jungen Leute und die Großmutter selbst abgeholt, als sie bey uns in Seedorf das erstemal nach ihrer Heyrath assen. Das gefiel der alten Frau auch sehr, und sie sagte nach ihrem Tone recht gute Sachen. Die Aufführung ihrer Enkelin gegen sie ist rührend und ein Beyspiel für alle junge Leute, wie die Stärke der Jugend die Schwachheiten des Alters tragen solle. Jeder Tag erwirbt ihr Segen, und vermehrt die Liebe ihres Mannes.

Nun haben sie einen ganzen Roman aus dem Privatstande, denn Linke ist nur zweyter Stadtschreiber.

112. Brief
Hundert und zwölfter Brief
Rosalia an Mariane S**.

Ich habe einen neuen merkwürdigen Gast. Das ist ein sonderbarer Mann der alte Stiegen! Aber nie sah ich einen so einnehmenden und so geistvollen Alten, als ihn und meinen Oheim, jedoch mit dem wesentlichen Unterschied, [263] daß, da Letzterer alle seine Ideen zu Thaten zu machen suchte, er sich mit vieler Klugheit, in seinem Wirkungskreis einschränkte, in diesem aber alles ausführte, was darinn zu thun war; weil er, wie er sagt, alles sein Feuer nur auf die Thätigkeit lenkte. Hingegen seine Geduld und Sanftmuth in seine Vorstellung eines Entwurfs, in seine Unterredungen mit den Leuten und in seine Beurtheilungen über andre legte. Durch dieses gewann er sich so viel Vertrauen und Liebe, daß er Mithelfer, oder doch wenigstens ruhige Zuschauer bey seinen Unternehmungen hatte. Beyfall, Dank und Nachahmung erweckte er in seinem Alter, Ruhe und Segen genießt er ungestört und er hat den Beweis gegeben, daß wenn also in dem von der Vorsicht ihnen bestimmten Stunde das Gute thäten, was ihnen darinn vorkommt, es wenige, sehr wenige unglückliche oder unzufriedene Menschen geben würde. Er erniedrigte sich nie, strebte auch nicht un ruhig in die Höhe. Er war der Sohn eines Gelehrten und durchging nach geendigten Schul- und Universitätsjahren die Stufen vom Sekretaire an, bis zum Geheimenrath als geschickter, sanfter und fleißiger Mann. Sein Freund Stiege kennt und liebt [264] das Gute und Wahre, wie er; und zum Glück für ihn selbst kannte er auch sich selbst und die, wie er behauptet, unbezwingbare Aufwallungen des Eifers für Recht und Wohl der Menschheit. Ehrwürdige Gesinnungen, welche wie mein Oheim sagt, ihm bey alten Republiken, oder in Amerika, wo eine Neue entsteht, einen Theil der gesetzgebenden Macht und der Vatersorge für das Volk erworben hätte; aber in unserm Staate, nach dem Gang der Gedanken, nach den Sitten und Wendungen die alles hat, setzt sie ihn in den Ruf eines unverträglichen, gewaltsamen und eigensinnigen Mannes. Bey dieser Unterredung sagte mein Cleberg: Die weiblichen Tugenden wären glücklicher, als die Tugenden der Männer, weil sie zu allen Zeitaltern gewünscht und geliebt würden. Also könnte wohl geduldiges Ertragen der Fehler, und das auf so tausendfache Weise sich zeigende Wohlwollen, die einzigen wahren Tugenden der Menschheit seyn, und die übrigen nur auf Millionen Bedürfnissen entstehen. Das mag seyn, aber diese Bedürfnisse haben auch die vielen Zweige der Künste und Wissenschaften hervor gebracht, durch welche Millionen von Freuden und Vergnügen über unserer Erde ausgegossen [265] worden. .... Sehen sie, Liebe! so ist manchmal der Ton unserer Gespräche, der sein Angenehmes um so besser erhält, weil er nicht immer herrscht, und wir recht wohl mit andern und mancherley Gattung von Menschenkindern umgehen und reden können.

Der alte Stiegen hat sein Zimmer gleich neben meinem Oheim, da lassen sie die Thüren des Nachts offen und sprechen noch miteinander aus ihrem Bette, bis einer von ihnen einschläft, von alten und neuen Zeiten, von Menschen und Gewohnheiten. Es ist höchstrührend, wenn sie nun nach dem Frühstück oder Mittagsessen so ihre Welt und die unsrige vornehmen: Stiege, mit Eifer die Alte lobt und vorzieht, mein Oheim die jetzige vertheidigt und ihre Verdienste hererzählt; Stiege ihm zuhört! manchmal mit Lächeln den Kopf schüttelt, oder mit Empfindung ihm zunickt; endlich seine Hand ergreift und sagt: Nun, mein lieber Eben, du bist noch immer der gute Junge der du in Halle warest, du vertheidigst jetzt Nationen, wie du die Schulfüchse in deinen Schutz nahmst, wenn ich und andre alte Pursche zu derb mit ihnen verfahren wollten.

[266] Mein Oheim erwiedert dann auch freundlich, Stiegen mit dem Finger drohend: Du hast mich manchmal für dich und andre geängstigt, wenn du so deinem wilden Eifer nachgiengst, und da auf den Augenblick alles gebogen oder in Stücken gebrochen haben wolltest. Oft dachte ich mich von dir loszureissen, weil du so unbändig warst; aber die Redlichkeit deiner Seele, die Wahrheit deines Gefühls und Liebe jedes Großen und Guten, zog mich wieder stärker an dich Eisenkopf, als an alle andre. Schön, gewiß, recht schön, glüht bey solchen Anlässen Freundschaft in ihren Augen, ernste Freude lacht in den Falten ihrer Gesichtszüge, und sie geniessen noch das schönste und beste Glück der Menschen, wechselseitige Hochachtung und Liebe. Der Zufall brachte hier, so wie er oft im Zusammenfluß von ärgerlichen Geschöpfen thut, an diesen zwey erlebten Männern und an uns übrigen in Seedorf gesammleten Leuten, eine recht schön gegen einander stehende und sich doch anschliessende gute Menschenzahl auf einen Fleck. Nehmen sie den eben so empfindlichen als vernünftigen Ott, meinen fertig liebenden und fein denkenden Mann, die sanfte, zärtliche Julie, mich, [267] Linken, Hannchen, Latten und die junge und ältere Frau Grafe, den herrlichen würdigen Pfarrherrn, und die so gute Bauren von Seedorf. Ja die Gegend umher, unsere und der Landleute Wohnungen, den Wald, die Berge, und den Bath, alles faßt sich in eine schöne Reihe glücklicher, wohlthätiger Kinder der Erde, beseelter und unbeseelter. – –

Ich komme so eben aus der gewohnten Dankpredigt, die am Ende und nach Einsammlung jedes Herbstes gehalten wird. Alles, was ich da fühlte und sah ist recht eigentlich dazu gemacht, an meine vorherige Gedanken angereihet zu werden. Die Kirche war voll, und schon dies freuete mich, das Gedränge zum Danken war der Beweis, daß sie den erhaltenen Segen mit Freuden fühlten. Alle Kleider, alle Gesichtszüge, waren festlich. Die Kirche wird ohnehin durch die Aufsicht des Pfarrherrn sehr rein und gut gehalten. Die Predigt, o meine Liebe! wie gerne sagte ich, es sey eine Engelszunge gewesen, die alle Herzen in Bewegung setzte. Wie einfach die Sprache und Ausdrücke, wie innig redete er die Alten, die Jüngern und Kinder an, da er ihnen das Bild der Erndte von ihrer Hände Arbeit und des von [268] Gott darauf gelegten Segens darstellte. Auch in den rauhesten Gesichtsbildungen erschien Empfindung. »Alte Hausväter, Hausmütter! Ihr hebt eure durch lange Arbeit kraftlos gewordenen Hände gewiß mit herzlichem Dank zu Gott, daß ihr die Schemen, die ihr für Kinder bautet, voll Früchte seht, die euer gesunder fleißiger Sohn mit fleißiger männlicher Stärke anpflügte und säete. Junge Väter, junge Hausmütter; freuet euch im Herrn, daß ihr eure euch von Gott zugeschriebenen Berufsgeschäfte treulich, nach der noch sehr lebendigen Kraft eurer Jahre verrichtet habt, sorgt durch euer Exempel, für eure kommenden alten Tage, auch noch Freudenthränen aus halb geschlossenen Augen zu weinen, wenn eure jetzt noch spielenden und auf eurem Schooße sitzenden Kinder, zu rechtschaffenen Landleuten herangewachsene Söhne und Töchter hinter vollen Wagen nach Hause kommen werden: Ach, sorgt, daß ihr redliche Hände zu Gott erheben könnet, und ihr, lieben Kinder! die ich alle getauft, und von dortan als treuer Seelsorger durch Unterricht zu Gott geführt, und durch tägliche Fürbitte seiner Gnade empfehle; ohne Sorge und [269] Mühe geniesset ihr jetzt Nahrung und Kleidung aus der fleißigen Hand eurer Eltern; aber alle Tage wachset ihr den Jahren zu, wo ihr Aecker und Wiesen, auf denen ihr jetzt jugendlich spielt und hüpft, mit den Schweise eures Angesichts werdet anbauen müssen. Freuet euch darauf! Es ist schön, von unserer mütterlichen Erde, durch treue Verwendung der Kräfte und Geschicklichkeit, Brodt und Kleidung zu verdienen! Folgt euren guten Eltern, euren guten Schulmeister und dem was ich euch durch Gottes Gnade immer Gutes lehren will; damit wir alle, das größte Glück der Menschen, das Zeugniß eines guten Gewissens geniessen mögen: nemlich, daß wir treulich alles gethan haben, wozu uns Gott in unserm Stande angewiesen hat.«

Er sprach in eben dem Tone und auch kurz mit den Handwerkern, dem Gesinde und den Armen, die er tröstete und ermunterte, endlich allen andern Landleuten der ganzen Welt auch Gutes wünschte, wozu eine so gute Oberherrschaft und Beamten zu rechnen wäre, wie sie hätten. Sie sollten auch daher die Pflichten, als Unterthanen gerne erfüllen und gedenken, [270] um wie viel glücklicher sie auch dadurch wären als viele Tausende ihrer Mitbrüder in allen vier Welttheilen. Unbeschreiblich, ganz und gar unbeschreiblich ist der Ausdruck der auf den einfachen Gesichtszügen lag, wie die alten Hände voll Falten und Schrunden zitternd erhoben wurden, und die starke fleischige Hand jüngerer Männer sich fester schloß. Die Knaben und Mädchen kindisch, halb aufmerksam, halb nachläßig, treuherzig den Pfarrer, Ahnen, Väter und Mütter beguckten, so wie sie angeredt wurden, sich nach den Handwerkern, Knechten, Mägden und Armen umsahen. Aber gewiß, obschon leicht und flüchtig, wie die Jugend ist, ging auch Rührung und Vorsatz des Guten über ihre Stirnen. Unser Kirchenstuhl ist nahe an der Orgel und vergittert, aber alle Augen waren dahin geheftet als der Pfarrer meinen Mann so rühmlich meinte, und dem Himmel sey Dank! in keinem Gesicht war ein Funke von Zweifel über das von ihrem Beamten gesagte Gute. Mein Oheim, dessen Thränen haufenweis in seinen vorgehaltenen Hut flossen, faßte Clebergs Hand und drückte sie ihm. Mein Mann fühlte es und küßte diese väterliche Hand dankbar in Hause Gottes, der [271] ihn an dieser Hand zu Ehren und Glück geleitet hatte. Ich, o Mariane, wie war ich bewegt! Ich kann sagen, jeder Athemzug war Gebet und Fürbitte für mich und für die ich sah, ach! wie leicht ists gut zu seyn!... Wie süß ist es, vom Guten reden, wie lieb war mir mein Mann, wie heilig, wie ehrwürdig der Pfarrer, der so Gott und der Tugend die Herzen zu öfnen weiß. Was war der Austritt aus der Kirche für mich, nachdem Ott die Orgel zu dem Te Deum gespielt und mein Cleberg und Oheim, Otte und die jungen Stiegen nebst mir dem Chor gesungen und Ott am Ende noch einige schöne in die Seele tönende Läufe gespielt hatte. Der ganze Kirchhof war voll von den Bauersleuten; alle sahen so liebend, so vertraut und vergnügt auf meinen Mann und ihren Pfarrer, der aus der Sakristey heraus kam. Cleberg ging mit schönen schnellen Schritten auf ihn zu, eichte schon, noch eine Strecke von ihm, nach seiner Hand und sagte: Lieber Herr Pfarrer! Gott segne sie für ihre Predigt. Aber wie kamen sie darzu, auf mich zu deuten? Er antwortete: Gott sey Dank! daß ich es mit dem Zeugnis der ganzen Gemeinde thun konnte. Nicht alle Pfarrer können[272] es, und es war die Frage von den göttlichen Wohlthaten für die Landleute; und ein Beamter, wie sie, gehört darunter. Dieß sprach der Mann noch so laut im Calzeton, und mit so einem Ausdruck in seinem Auge, daß mein Cleberg auch bewegt sagte, indem er sich zu den Bauren wandte: Gewiß, meine lieben Seedorfer, ihr dankt Gott auch mit mir, daß wir einen solchen Seelsorger haben. Wir wollen ihm auch alle treulich folgen. Ich gab ihnen, (setzte er mit nochmaliger Darreichung seiner Hand an den Pfarrer hinzu) mein Wort, und das Wort von meinen braven Landleuten dazu. Nicht wahr? sagt er, alle anblickend und ihnen mit seiner ganzen edlen Gestalt und offener Miene zulächelnd; ein redliches Ja! wurde gehört, und Freude, wahre Gottes, und Menschenfreude war in allen Gesichtern. O der schöne, glückselige Tag! möge er durch seine Erinnerung immer Gutes und Vergnügen in alle die Herzen zurückrufen. Ich mußte mich führen lassen, so sehr war ich von allen diesen seligen Empfindungen erschüttert. Nun läßt Cleberg Schinken, Käse und mürbes Brod auf morgen Nachmittag bestellen, und giebt bey der Linde Jungen und Alten ein Herbstvesperstück: [273] Bier, Wein und Musik. Der alte Stiegen behauptete, mein Oheim hätte dem Pfarrer die Predigt vorgeschrieben und vorgesagt, denn er hätte ganz den Geist seines Freundes darinn gesehen. Adieu und Dank, daß sie mich lieben und lesen.

113. Brief
Hundert und dreyzehnter Brief
Rosalia an Mariane S**.

Ich bin wirklich sehr böse über mich: denn da ich mein Briefbüchelchen nachsehe, so sind es so viele Tage, daß ich Ihnen Antwort und einen Brief schuldig bin. Meine Abwesenheit trug was zu dieser Verzögerung bey, aber es ist doch nicht recht; ich hätte aus dem Hause der Frau Grafe schreiben können. Doch meine Nachläßigkeit ist genug bestraft, da ich so lange Zeit ohne eine Unterhaltung mit Ihnen zugebracht habe, und dann erinnere ich mich, daß Sie ein Paarmal mir sagten, daß Sie in spätern Briefen von mir, eher das sehen, was [274] meinem Verstand und Empfindungen am meisten gefallen habe, als gleich anfangs, wo die Umstände mein zur Schwärmerey geneigtes Gefühl überraschen und manches schöner als wahr darstellten. Bey erfolgter Ruhe aber, rufte ich nur das in mein Gedächtniß zurück, was meinem eigentlichen Selbst am meisten Vergnügen gegeben hätte, und Sie glauben, daß Sie in meiner Art Sachen zu denken, zu beurtheilen und Entwürfe zu machen, nicht nur mein Inneres mehr sehen, sondern, daß auch meine wunderbaren Aufzüge von Leuten und Sachen, in Ihrem einsamen Aufenthalt, die entfernte Menschenwelt in einem gefälligen Licht erscheinen macht. – – Ich habe das Beste und Edelste, was in mir liegt. meinem Oheim und Ihnen zu danken. Mit ihnen beyden habe ich mein Bilderbuch von guten Menschen angefangen, und da ich so glücklich war, auf dem bisherigen Wege meines Lebens so viel Gute anzutreffen, so will ich fortmalen und bey ihnen meine Probe- und Meisterstücke aufstellen. Es muß einst in erlebten Jahren süsses Vergnügen für mich seyn, diese Sammlung durchzusehen und am Ende meiner Bahn durch die moralische Welt lauter Ideen um mich zu [275] haben, die der Beweis eines wohlwollenden Herzens sind.

Das ist nun eine lange Vorrede zu zweyen vielleicht sehr kleinen Gemählden, die Sie schon vermuthen, und ich will sie nun geschwind auspacken. Wir wurden von Frau Grafe gebeten noch ein paar Tage in Rehberg bey ihr zuzubringen; sie hätte ohnehin Fremde, die uns gewiß gefallen würden. Wir gingen auch vor sechs Tagen hin und trafen zwey Frauenzimmer und zwey Herren, die alle einen durch Bücher- und Menschenwelt ausgebildeten Geist zeigten. Wenigstens, sagt Cleberg, müßte viel Schönes und Merkwürdiges von ihnen vorbeygegangen seyn. Ich glaube, er will damit sagen, daß er ihnen keine gründlichen Kenntnisse zuschreibt. Es mag seyn, es liegt doch wahre Verehrung jedes Verdienstes in ihnen, und eines der Frauenzimmer kennt die Gesinnungen der Freundschaft gewiß ganz, denn es ist ihr Heiligthum, in dem sie mir als Priesterinn erschienen ist; und Frau Grafe behauptet vor diesen Fremden ein schöneres Stück Philosophie gelernt zu haben, als Sie und van Guden mir jemals mittheilten. Es war die Frage von Tadel und Verläumdung, welche so vieles[276] Misvergnügen über unsere besten Tage verbreiten. Die Fremde sprach: diese Gewalt lasse ich bösen Menschen nicht. Einmal suche ich Fehler zu vermeiden, um innerlich mit mir zufrieden zu seyn, und dann gönne ich ihnen großmüthig die Freude mich zu tadeln, ohne mir Haß und Rache dagegen zu erlauben; dadurch erhalte ich meine Ruhe und meine Menschenliebe unverletzt. Das ist aber sehr schwer! sagte jemand mit dem Lächlen des Zweiflens. Sie haben recht erwiederte sie: aber es ist schön, etwas schweres zu versuchen. Jeder Schritt zu einer Anhöhe ist beschwerlich, aber man wird auch belohnt. Sie hassen also nicht so sehr, als sie lieben können? Nein! denn ich achte es für eine eben so große Pflicht, Fehler zu vergeben, als Tugenden zu lieben. Ja! aber, wenn man sie übel beurtheilt, ihren guten Namen, ihre Ruhe und ihr Wohlseyn unterbricht, was thun sie da? sagte einer der zwey Fremden. Ich verwahre mich gegen den Schaden ohne dem Beleidiger weh zu thun. Sie wissen meine Grundsätze darüber, denen ich getreu seyn werde. Verschiedene Denkungsart bringt immer Entfernung in den Gemüthern hervor, und was mich gleichgültig macht, kann das [277] Herz eines andern zum Haß bewegen, wenn ich ihn nur nicht verdiene, wie der edle Amerikaner sagte: »den Schmerz, den sie mich fühlen machen, soll durch mich niemand fühlen.« und vergesse alles; denn was würde aus dem Leben guter Menschen werden, die den Tag über an Verläumder und Feinde und die Nacht an Gespenster und Diebe dächten. So lang ich wache sind meine Kinder, meine Arbeit, meine Freunde, Bücher, Ideen von Schönen und Guten in der Welt, vom Wohl, das die Vorsicht mich geniessen läßt, wechselsweise in meinem Kopfe und Herzen. Des Nachts freut wich die Ruhe und Stille der Natur, und die von meinem Zimmer und meiner Seele. Ich danke und bitte für mich und die Meinigen und wünsche allen alles Gute, was sie bedürfen, und so fassen sich meine Stunden bey der Hand bis die letzte mit Lächeln den Reihen unterbrechen wird, und (sagte sie zu den nemlichen fremden Manne,) die letzte Stunde kann nicht lächeln, wenn sie uns mit dem Andenken des Hasses und der Beleidigungen unsers Nächsten erscheint. Sie küßte dann mit einer Thräne im Auge, einen aus Haaren geflochtenen Ring. Gutes thun und Gutes glauben [278] will ich, Julie, bis ich dich sehe, um der Freundschaft deiner edlen Seele werth zu bleiben. Sie können denken, daß ich sie hier aufmerksam anblickte, und sanft sagte ich, mich gegen sie biegend: darf ich den Ring sehen, der ihnen so werth ist? Gern! aber nicht anrühren. Er ist Reliquie und die ganze Erde hat nichts ähnliches mehr. Dann erzählte sie mir von einer schweizerischen Dame, deren Tod sie seit einem Jahr beweint, und durch ihre innige Liebe und Verehrung für diese ausserordentliche Person macht sie sich selbst hochachtungswürdig.

Diese Dame hieß Julie Bondeli, ein, wie die Fremde sagt, für alle, die sie kannten, heiliger, geliebter Name, weil er ihnen Größe des Geistes und der Seele in einem Bilde darstellt. Kenntnisse, Tugend und jeder Reiz des Verstandes und der Güte lagen in ihr vereint.

Sie gab uns dann Briefe von ihr zu lesen. O meine Mariane! diese Freundin hätten Sie haben, Sie kennen sollen. Unsere Männer bewunderten den Scharfsinn ihrer Einsichten, die Richtigkeit ihrer Urtheile und Ausdrücke, neben der schönen Schreibart. Ihre Feder hat alle Grazie ihres Geschlechts und ihr Geist alle[279] Stärke des unsern, sagte Cleberg. Die Frewde lächelte vergnügt, und erwiederte: Sie sind sehr nah bey dem Gedanken von J. J. Rousseau, der meine verewigte Freundin kannte und zu schätzen wußte. Dieser sagte von ihr: »daß sie zwey der seltensten Vorzüge in sich vereinige: unsers Leibnitz Geist und Voltairs Feder.« Mariane! unsere Männer alle zuckten zurück, so wie es bey jähen Einfällen eines Lichtstrals auf unsere Augen geschieht, und mein Cleberg hatte nach Frau Grafens Vermuthung die Miene, als ob er das, was er gesagt, zurück haben möchte. Vielleicht thu ich ihn Unrecht; (fuhr sie fort) aber ich habe manchmal bemerkt, daß Eitelkeit uns an den Gedanken eines grossen Mannes anschliessen, und dann ists bey andern ein Stück Stolz, wie ihr Cleberg hat, der uns lieber schweigen heißt, als einen guten Gedanken mit einem andern zu theilen. Diese Bemerkung mag richtig seyn; aber sie mißfiel mir. Vielleicht, weil sie den Mann traf, dessen Namen ich trage. Die Fremde hatte während unserm Flüstern noch einige Briefe aufgesucht, die dann vorgelesen wurden. Und gewiß, alle Feinheit des Gefühls und Geschmacks liegt darinnen. Die Fremde sog, mit [280] Entzücken und Wehmuth im Auge, die Lobsprüche ein, die wir ihrer Freundin gaben. Sie sagte aber dabey: O, wie viel mehr als dieß, war die Güte, Sanftmuth und Menschenfreundlichkeit ihrer Seele. Wir wünschten alle, daß diese Briefe gedruckt werden möchten. Aber der edlen Todten zuweit getriebene Bescheidenheit verbot es. So, wie sie alle Briefe und Papiere verbrannte, die sie von Freunden erhalten, oder selbst aufgesetzt hatte. Es ist gewiß schön, so lieben zu können wie diese Frau; gewiß glücklich, eine Julie Bondeli zu seiner Freundin gehabt zu haben, und für mich ist es immer wahr, daß, wenn in den besten Stunden unsers Lebens, das, durch Unterricht und Nachdenken erhaltene Bild der Weisheit und Tugend von uns tritt, wir immer die Arme darnach ausstrecken und wünschen ihn ähnlich zu seyn, weil wir fühlen, daß Einigkeit in ihm liegt. In diesen Stunden machen wir unserm göttlichen Urheber Ehre, und empfinden, daß wir für unsterbliches Glück und für die Tugend geschaffen sind. Jede Faser unsers Herzens ist dann Bestreben nach edlen Thaten. Wir empfinden Willen und Kräfte dazu; freylich erlöschen und verschwinden diese [281] Vorstellungen wieder, aber sie zeigen sich mit Macht, wenn wir in irgend einer Geschichte, oder in einem lebenden Menschen; einige von den Eigenschaften erblicken, die wir in seligen Stunden uns selbst wünschten, und gewiß, wer edle gute Menschen herzlich lieben kann, ist ganz nahe dabey, selbst so zu werden. Ich denke also in meiner Neigung für diese Fremde nicht zu irren, und es freuete sie, als ich ihre Julie mit ihr beweinte.

Cleberg und Ott behaupten, daß unsere Julie, seit diesem Tage einen geheimen Stolz auf ihren Namen hätte, und sie will, daß ihr nähestes Mädchen Julie Bondeli getauft werden soll. Mir sagte sie: Dann wird Latten finden, daß ich noch mehr Engländerin bin, als du, weil diese ihren Kindern so gar die Familiennamen ihrer geliebten Freunde geben. Das jüngere Frauenzimmer war eine artige Brunette, niedlich gebaut, hatte schöne schwarze Augen und war voll Verstand und Empfindung. Sie hat unschuldige Munterkeit wie ein Kind, ob sie schon mit drey und zwanzig Jahren selbst schon Mutter von drey Kindern ist. Cleberg sprach gern mit ihr, weil sie ihm voller Witz zu seyn schien; aber er fand mehr, wie er sagt; da [282] jede Liebenswürdigkeit blühend und ungekünstelt in ihr ist, wie die Insel Finian von dem Genius der Natur, ohne Ordnung und Scheerschnitt des Gesuchtens, Pflanzens und Formens angenehmer Gestalt, Blumen und Früchte von selbst tragend; hie und da nur bemerke man Spuren, von gleichsam zufälliger Aussaat durch Menschen Hand, die in dem vortreflichen Grund leicht zur Vollkommenheit anwuchsen. Sie erzählt allerliebst und war mit so viel zärtlicher Achtsamkeit um unsern Kahnberg herum, dessen Blindseyn sie äusserst rührte. Sie freute sich auch so treuherzig ihren schätzbaren Mann wieder zu sehen, sprach so gern von jeder guten Eigenschaft die er besitzt, von seiner Liebe für sie, von ihren Kindern, so daß sie uns auch dadurch unendlich lieb wurde.

Sie waren alle vier Tage mit uns zu Rehberg und dies sind wirklich Göttertage für mich gewesen. Denken sie sich den Hausherrn und Frau, die Callen, die Kahnberge, Otten, der herrliche Rath Franke, unserer Grafe Bruder und feine artige Frau, wir Cleberge und meinen Oheim; dieser und mein Mann freuten sich ungemein über die Erneuerung vieler halb erloschenen Bilder, die ihnen durch diese wieder [283] fremde vorkamen; wie sie auch durch Nachrichten ganz kurz entstandener Ideen und Sachen Schriftsteller und Arbeiter in dem Gebieth der Wissenschaften und Künste, die sie auf ihrer Reise sahen, unserer Kenntnisse bereicherten. Wir haben auch durch sie eine große Liste von Büchern und Kupferstichen, Namen von Kaufleuten und Fabrikanten, wo schöne und artige Sachen neuer Erfindung zu haben sind, erhalten. Unsere Männer lieben alle dieß, und haben nun viel Stoff zu neuen belebten Unterredungen, über Mechanik, Musik und andern Künsten, woraus wir Weiber auch Nutzen für unsern Kopf ziehen und dadurch unser Leben verschönern.

Für mich war dieser Aufenthalt noch viel mehr als für die andern; weil er die ersten reizenden Tage in mein Gedächtnis zurück rief, die ich in Redberg verlebt habe. Der vortrefliche Pfarrer lebt nicht mehr, durch den ich Henriette von Effen kennen lernte; aber sein jüngerer Bruder hat die Stelle, und die Einwohner von Effenhofen sind durch Herr T. sehr glücklich, sagte Herr Callen, dessen Gut hier in Rehberg liegt. Mein Mann ließ mich nicht nach Effenhofen gehen, weil er mich von starken Gemüthsbewegungen [284] bewahren will. Hier genießt man Frühlings- und Herbstaussichten besser als in Seedorf. Das Schloß liegt auf einem Berg, das Dorf an der Anhöhe desselben. Da ist im Frühjahr, die verschiedene Blüte der Obstbäume und jetzo die vielerley Farben der absterbenden Blätter, das welkende Grün der Wiesen und die noch frisch aussehende Tannen dagegen ein sehr angenehmer Anblick. Der Zufall hatte mich und die Ottens gerad in die Zimmer gegen das Thal angewiesen, wo wir zweymal während dem starken Nebel, der in dem Thal lag, und dem heitern Himmel mit Sonnenschein auf dem Berg, uns vorstellten, als ob wir von einem Felsengebäude das Meer betrachteten und eine Idee seiner Unermeßlichkeit, war vor uns. Unsere Männer Ott und Cleberg erzählten uns dabey von ihren Seereisen, und es ist wohl in langer Zeit nicht bey einem Frühstück und Aussicht auf Nebel so viel Nutzen und Vergnügen genossen worden, als die zwey Tage. Adieu, Beste, Theuerste!

[285]
114. Brief
Hundert und vierzehnter Brief
Rosalia an Mariane S**.

Nun ist die zweyte Ittensche Tochter ganz bey mir. Sie ist, ohne Schönheit, höchstgefällig, von mittler Größe, schlank, weiß, etwas Pockennarbigt, Wangen und Lippen fein roth, der Mund groß, aber schöne Zähne, und die Bewegung im Reden und Lachen ganz artig, Anstand in allem was sie thut. Sie faßt alles leicht, bewegt sich und geht leicht; denkt und spricht gut, ist freundlich, edel und dienstfertig. Wie innig das holde Mädchen sich an mich heftet, kann ich ihnen nicht genug sagen! Sie lauscht, sieht und horcht nach mir, wenn ich mich wende, komme oder rede. Aber eben so aufmerksam ist Ott auf sie. Letzt sagte sie mir, in seiner Gegenwart: Sie wolle meine mir ganz ähnliche Tochter werden. Da faßte er ihre Hand und sprach ganz lebhaft: O wie glücklich machten sie uns alle, meine Liebe, wenn dieß geschähe. Was will er damit? Ich ward roth, und das liebe Mädchen sagte so [286] treuherzig: warum ist ihnen an einer Rosalie nicht genug daß sie dazu noch eine Julie haben wollen? Er antwortete: Seyn sie ruhig, Liebe, und suchen nur, so viel sie können, Wiederschein von diesem strahlenden Bilde zu werden; wobey er auf mich deutete. Ich nähte emsig fort, weil mich der Inhalt dieses Gesprächs verlegen machte. Ott hatte sonst nie keine Art von Schönthun bey mir gezeigt. Ich will es auch nicht, dann wahre Freundschaft besteht nicht mit diesem Getändel; und der schätzbare Mann sah so ernst und nachdenkend dabey aus, daß er mir fast mißfiel. Aber nun ist meine Pflicht des guten Beyspiels doppelt geschärft; gute Eltern vertrauen mir jungen Frau ihr Kind, und die truglose Seele des Mädchens hält mich für so verdienstvoll, daß sie für ihre eigene Liebenswürdigkeit nichts bessers zu thun siebt, als mir nachzuahmen und der Ott nimmt den feyerlichen Ton und Miene an, um ihr dieses Nachahmen recht wichtig zu machen. Dem Himmel sey Dank, daß der natürliche Gang meiner Seele nach einem guten Ziele gelenkt ist, sonst würde mir die Idee einer Nachfolgerinn sehr beschwerlich werden, weil ich sie mir immer zugleich als Aufseherin denken [287] mußte. Ich lehrte sie die französische Sprache. Des Morgens, wenn wir ganz allein sind, lieset sie und sagt mir das Wenige, so sie in der Gramaire gelernt, auswendig vor, und dann geht sie mit mir in Haus und Hof umher, und muß, wann wir bey unserer Zimmerarbeit zurück sind, mir, was sie sah und mich reden hörte, wiederholen und dann wird es übersetzt, und manche schöne Betrachtung gemacht. Die Gute! wie zärtlich ist sie! Aber, meine eigene Erfahrung und die noch ganz neue über eine Fremde gemachte Betrachtung überzeugt mich, daß die Fähigkeit zu lieben, uns nicht sehr glücklich macht, weil die geringste Störung im Genuß dieses Wohls den bittersten Kummer über uns ergießt. Denken sie, was ich bey Clebergs vermeinter Aenderung litte. Ich will mich selbst und das liebe Mädchen zu stählen suchen. Helfen sie mir zu einem sichern Mittel, das uns gegen zu starke Anfälle der Empfindsamkeit schützen kann. Ich mag das Rezept meines muthwilligen Clebergs nicht; daß. »wenn man sich in allen Augenblicken, höher als alle andre Menschen schätzte und liebte, vermeide man sicher alle starke Anhänglichkeit und sey daher auch vor dem Leiden der Trennung und des [288] Verliehrens bewahrt.« Meine gute große Tochter bat mich ihr zu versprechen, daß sie mich um alles fragen dürfe und ich ihr auch sagen wolle, was ich an ihrer Stelle denken oder thun würde. Dieses hat zu manchen recht köstlichen Unterredungen Anlaß gegeben. Das Mädchen ist ein herrliches Geschöpf. So wahr in Allem, und so rein in ihrer Seele. O Caroline! nie werde ich vergessen, daß du gestern an meiner Brust die schönsten Thränen der edlen Empfindung weintest. Rein sollen deine Gesinnungen bleiben, und dich einst glücklich machen. Sie will nicht lieben, will auch für den besten Mann nur etwas mehr, als bloße Freundschaft haben. Männerstolz will sie erniedrigen, und ihnen zeigen, daß man ohne Verbindung mit ihnen glücklich seyn kann. Ich sagte ihr da von dem Widerspruch, der in diesem Vorsatz und ihrer Phantasie läge, mich in Allem nachzuahmen; weil das Beste, so sie jetzo von mir sehen könne, eine gute liebende Frau sey. »Ja!« sagte sie, »das ist auch die einzige Unvollkommenheit in ihnen: dies will ich auch nicht lernen, aber sonst alles.«

Eine Begebenheit von diesem Morgen muß ich Ihnen noch erzählen. Wir gingen nach dem [289] Frühstück zu dem neuen Bauernhause, das bey dem ausgetrockneten Stück Moon erbauet wurde, und versuchten das erste Brodt, so aus dem, zum erstenmal da gewachsenen Korn gebacken worden. Mein Cleberg war glücklich, als er aus dem kleinen Hause ging, und die Anlage von Aeckern, Wiesen und Baumstücken sah, die durch ihn, aus einem öden Sumpf entstanden waren, und nun einen ehrlichen Landmann mehr nährten. Bey einem kleinen Umwege in das Dorf zurück, fanden wir an einer Hecke eine Bettlerfamilie sitzen, die etliche Brodkrumen in dem Queersack zusammen suchten, und zum Einweichen in einen Topf mit Milch warfen. In der Kötze, welche die Frau auf dem Rücken getragen, saß ein Kind und spielte mit einem zahm gemachten Raben. Der ältere Knabe von zehen Jahren hatte ein gelb und weiß scheckiges Hündgen mit einem Strick voller Knoten an seinem Gürtel gebunden. Die Frau war ordentlich und redte als gute Mutter mit ihren Kindern, auch recht vernünftig von dem Tode ihres Mannes und wo sie nun hinwollte, und bat um etwas altes Leinen. Cleberg wollte den Raben kaufen. Die Frau sah ihn bedenklich [290] an, und sagte: Ja, Herr, wenn ihn mein Kind gern hergiebt. Aber wenn es weint, ach, Herr! ich kann ihm keine Freude machen; da will ich ihm diese nicht nehmen. Aber geben sie; Sie wieß dem Kinde, das drey Jahr alt seyn mochte, Geld, und sagte: das ist dein, gieb den Herrn den Raben und wollte ihn nehmen. Das Kind hatte das Geld gefaßt; als aber die Mutter den Vogel nehmen wollte, ließ es das Geld, schrie und faßte den Vogel mit beyden Händen. Er fragte dann den ältern Knaben, der traurig auf seinen Bruder und den Raben blickte, ob er seinen Hund nicht auch verkaufen wolle? Er ging zu seiner Mutter-Mutter! sagt er: der Hund wacht so treu, wenn wir auf dem Felde oder in einer Scheune schlafen. Ex ißt kein Brod, als wenn mir ihm geben. O Mutter! behalt den Bello; er gautzt sich tod um mich, ich will weniger essen, laß mir doch den Hund. Aber Jörg! der Herr will dir ja einen großen Thaler geben. Denk, wie arm wir sind, du kriegst schon wieder einen andern Bello. Der arme Junge sah auf den Thaler in Clebergs Hand, weinte und murmelte. O kein Bellon krieg ich nimmer. Er fieng an mit verdrüßlichem Gesicht den Knoten des[291] armen lumpigen Stricks loszumachen, mit dem der Hund an feinen Lenden fest gebunden war, und ließ den Strick fallen. Da, sagte er, und lief hinter die Ecke des Baurengartens. Der Hund lief ihm nach. Er stieß ihn mit einem Fuß von sich; aber als der Hund schrie, so zog er ihn an, und liebkoßte ihn. Meine liebe Itten und ich hatten Thränen in den Augen und blickten auf Cleberg und Ott. Ersterer that nicht, als ob er es achtete. Aber Ott sah auf meine junge Freundin und sie flüsterte ihm zu: Ach mein Gott! wenn ich reich wäre, so gäbe ich dem armen Jungen den Thaler zu seinem Hunde, weil er als Bettler für seinen Dienstboten besser sorgt und ihn mehr liebt, als vornehme, glückliche Menschen die lieben, die für sie wachen und arbeiten. Ich umarmte sie, und Ott gab ihr einen Thaler. Da Gute! befriedigen sie ihr edles Herz, Cleberg schenkt ihnen den Hund. Nicht wahr? Mein Mann lächelte Ja! Schnell lief sie zum Buben, und rief ihm schon von weitem zu: Bube, guter Bube! bind den Hund wieder an dich, er ist dein, und den Thaler da gieb deiner Mutter. Nun kam der Junge, küßte ihr die Hände, dankte uns mit noch rothen Augen, und ließ [292] seinen Hund aufwarten. Er schüttelte an seinen Schubsäcken, wandte sie um, und ließ den Hund die Brosamen darinn weglecken, nach welchen das arme Thier dazu noch recht hoch hüpfen mußte. Die Frau war sehr froh über das Geld und die Kinder über ihre Freunde, den Hund und den Vogel. Mein Oheim fragte nach dem Namen des Orts, wo sie hinginge und sagte ihr, wenn er Gutes von ihr hörte, so würde er ihr auch noch Gutes thun. Ich schickte ihr noch einen Bündel altes Leinen, worüber sie große Freude bezeigte. Die junge Itten sagte auf dem Heimwege zu meinem Manne. O wie viel Angst haben sie mir gemacht, als sie den armen Kindern die Thiere abkaufen wollten. Ich war böse über alle Reiche, daß sie glauben, Geld sey alles werth, Bettler müssen doch auch eine Freude haben, dachte ich, und fürchtete auch, die Mutter würde die Kinder zum Verkauf zwingen; denn die kennt freylich den Nutzen des Geldes, wie junge Leute die Süßigkeit des Vergnügens.

Ich mußte sie hier freundlich anblicken und sie sagte mir: aber warum sagten sie nichts? Sie sind sonst so gut gegen die Armen. Ich mußte erst sehen, ob es meinem Cleberg mit [293] dem Kauf der Thiere Ernst sey. Sie antwortete mit sanftem Ton: Der Kummer von den armen Kindern war doch sehr ernstlich. Ott sagte da mit Rührung gegen mich: Herrliches Mädchen, ach wenn! Seine Blicke auf mich und auf meine junge Freundin waren so bedeutend, daß ich nicht wußte, was ich daraus machen sollte, denn ich wiederstrebte den Vermuthungen, die sich schon ein paarmal in mir erhoben hatten. Die Anmerkung von Carolinen, über mein zögerndes Mitleiden, hatte mich schon etwas düster gestimmt und vielleicht war dies die geheime Feder, welche den Gang meiner widrigen Vermuthungen beschleunigte. Denn, da ich auf einer Seite von der jungen Itten getadelt wurde, so war ich gewiß mehr geneigt, auch andre zu tadeln. Mein Cleberg bemerkte, daß Etwas besonders in mir lag, und ich gestund ihm meine Verlegenheit über Ott, in Ansehung meiner jungen Freundin und mir. Er lachte mit einer Art satyrischen Muthwillen. Salie! sagte er, gewiß liegt die Idee einer Lisettengeschichte in dir? Ich zuckte ein wenig zurück vor dem Andenken und vor dem Scharfsinn des Mannes. Er kam gegen mich: Sey ruhig, meine Liebe! und laß das [294] Mädchen alles werden, was sie nach dir werden kann. Ott will sie für Latten so haben, und es wird ihm wohl gelingen. Nun reute mich der Schritt und alles, was ich geargwöhnt hatte, weil das Bilden nach mir, noch so viel Anhänglichkeit in dem jungen Manne zeigte, und ich wohl denken konnte, von meinem Cleberg doppelt beobachtet zu werden. Aber der Entschluß, den ganz geraden Weg zu gehen, half mir, wie er immer helfen muß. Ich änderte nichts, in meinem ganzen Thun und behielt dadurch mein natürlich es Wesen und hatte nichts zu besorgen; obschon, ich bekenne es Ihnen, ganz ungesucht alles in mein Gedächtniß zurückkam, was Latten an mir gelobt hatte, und gewiß auch alles dieß in mein Bezeigen eingeschaltet wurde. Das Fritzgen besorgte ich besonders vor Carolinen und gab ihr immer eine Beschäftigung mit ihm, sie zeigt dem Kinde auch viel Zärtlichkeit.

Nun schicken wir uns an zur Rückreise in die Stadt und mein Oheim sagt, unser Besuch bey dem sogenannten Moorbauren sey ein Abschiedsbesuch gewesen. Er hat mich diesen Abend sehr bewegt, da er mit mir auf dem kleinen Altane stund, der über unserer Hausthüre [295] ist. Es waren viel leichte Wolken am Himmel, die in einer Menge schöner Farben abwechselten. Er sah sie sanft ernsthaft an. Da sie etwas falb wurden, nahm er meine Hand: Liebe Salie! du, dein Mann und eure Freunde, ihr habt den Abend meines Lebens eben so erheitert, wie diese Wolken die letzten Stunden dieses Tages, vielleicht seh ich keine mehr auf diesem Platze neben dir. Ich werde glücklich seyn, wenn meine letzten Augenblicke in eine sanfte Düsterheit verhüllt, unter deiner zärtlichen Sorgfalt verschwinden. Bleib, meine Beste! auf dem Wege deines Herzens. Es wachsen dir gewiß bey jedem Schritt innere Ruhe, Liebe und Achtung aller Zeugen deines Lebens auf, und mein Segen, mein Kind, (sagte er mit Thränen, mich an sich drückend, da ich schluchzste und seinen Arm gefaßt hatte) mein Segen wird um dich seyn, wenn ich über die Wolken (auf die er deutete) erhoben seyn werde. O Mariane! dieser feyerliche Abschied von der Natur und mir, von diesem väterlichen Freunde, zerriß mein Herz mit traurigen Ahndungen. Gott erhalte ihn mir noch lang, lang.

[296]
115. Brief
Hundert und funfzehnter Brief
Rosalia an Mariane S.**.

Mariane! Sie, die immer alles was mich quälte und freute mit mir theilten, nehmen Sie heut den Ueberfluß dessen was ich gestern fühlte, und gewiß es freut Sie mit mir.

Gestern Abend zogen wir wieder in die Stadt, und wirklich ist unser Gartenhaus zu leicht gebauet, um uns genug gegen die Nordwinde zu schützen, meine Leute giengen schon des Morgens nach dem Frühstück ab. Wir aßen bey dem Pfatrer zu Mittag und es wurde bis zu unserer Ankunft in die Stadt so spät und dunkel, das schon in allen Häusern die Lichte angezündet waren. Cleberg hatte Carolinen zum Namenstag einen blauen Reiserock und Kappe mit weissem Pelz ausgeschlagen machen lassen, wie meine gelbe Kleidung ist. Wir mußten beyde diese Kleider anziehen, theils weil es kalt und duftig war, theils auch weil es uns beyden sehr gut stund. Sie denken sicher, daß uns letztere Ursache eben so wohl gefiel, als erstere [297] und daß wir uns in der Kutsche selbst sein gerad hielten, um unsere schöne Taille immer in guten Licht zu halten, ob es schon dunkel war. Die Stadt, die Strassen und Häuser hatten etwas neues für mich bekommen, weil ich den ganzen Sommer nur einmal da war, um mit Hannchens Eltern wegen ihrer Heyrath zu sprechen. Ich sah also während dem Fahren immer mit einer Art Neugierde, die Gassen hin und her, staunte aber gar sehr als ich ein Haus in der Nachbarschaft des unsrigen, in beyden Stockwerken ausserordentlich beleuchtet sah. Bey der Räherung unserer Kutsche, da wir bey diesem Haus um die Ecke mußten, wo unser Hofthor ist, bemerkte ich einen Saal mit Wand- und Hängeleuchtern mit vielen Wachslichtern und mehrere Personen an den Fenstern, die mir sogar Bewegungen des Grüssens zu machen schienen. Ich sagte es meinem Mann, indem ich zugleich hastig fragte, wer wohl da wohnen möchte? Er drückte mir etwas zitternd die Hand und antwortete: rechte gute Freunde von uns mein Kind, mit denen wir zu Nacht essen werden. Wenige Augenblicke darauf hielt der Wagen still, ich dachte Ott und Julie hätten ihre Wohnung verändert, oder die Callen [298] wären in die Stadt gezogen. Aber ein Bedienter, den ich nie sah und ein Soldat erschienen mit Lichtern an der Thüre und gleich darauf kam ein artiger Officier in Rußischer Uniform, und bot mir die Hand, mein Oheim half Carolinen aus der Kutsche, denn mein Mann war heraus gesprungen, und hieng an dem Hals eines Fremden. Ich blickte mit Verlegenheit und Unruhe nach meinem Oheim, in dessen Gesicht ich die Auflösung dieses Räzels lesen wollte. Er verstund mich, lächelte freundlich und sagte: fasse dich Salie, du wirst mehr als eine Freude finden. Caroline stund denn mit dem kleinen Fritzgen an der Hand neben mir, der Knabe versteckte sich bey den vielen Fremden in meinen Rock. Cleberg rief ihm zu und den Augenblick schrie der Kleine innig, Papa! Papa! verließ Carolinen und mich, um in Lattens Arme zu eilen, welches der Fremde an Clebergs Hals war, der während den ersten Küssen des Kindes flüchtige, aber sehr bedeutende Blicke auf mich und die gute Caroline warf. Ich bewillkommte ihn nur mit der Bewegung meiner rechten Hand, indem ich die Auffoderung des Officiers folgen mußte, der mich gegen die Treppe führte, die sich von einer Seite in einen [299] Winkel dreht, wo man einige Schritte nach der ersten Hälfte zu ruhen hat, ehe man die zweyte zu steigen anfängt und dort einen schönen Vorplatz sieht. Den nemlichen Augenblick, wo ich die Augen dahin wandte und nur noch vier Stufen zu steigen hatte, sah ich ein Frauenzimmer zu einer Thüre heraus eilen, und mit ausgestreckten Armen gegen die Treppe laufen. Und, o liebe, liebe Mariane, es war van Guden, die mich an ihre Brust drückte und eben so wenig reden konnte als ich. Wir taumelten mit verschlungenen Armen in ein Cabinet, wo Freudenthränen unsere gepreßten Herzen erleichterten, wo wir uns faßten und über den Gedanken entzückt waren, den ganzen Winter mit einander zu leben. Sie dankte meinem Mann und Oheim, die in allem so gut für das Haus gesorgt hätten und ich fand darinn die Ursache, warum Cleberg die letzte Herbstzeit so oft in die Stadt ritte ohne mir je etwas von seinen Geschäften zu sagen. Nun waren die andern auch in den Saal gekommen, mein Oheim klopfte an die Cabinetsthüre und bat mich, ihn der Frau Guden vorzustellen. Diese zwey würdigen Personen umarmten sich, indem van Guden sagte: der väterliche Freund von Rosalien und[300] ihre mütterliche Freundin könnten sich auf keine andre Art bewillkommen. Hierauf stellte sie mir den Officier als den jüngsten Bruder von Frau Wolling, die zwey Pindorfischen Kinder, den Carl Wolling, Meta und Wilhelm Mooß vor. Dieser Herr (auf Latten deutend,) sagte sie, wird ihnen nicht fremd, aber unerwartet und etwas neu vorkommen. Lattens Aug betrachtete mit Nachdenken meine Gestalt, die durch mütterliche Hofnungen etwas verändert war. Er bückte sich nach seinem Fritzgen, den er an sich schloß, dann meinen Mann an der Hand faßte, mit dem er in ein Fenster gieng. O möchten sie doch sehen, was in der Einöde von Wollinghof aus den Pindorfischen Kindern geworden ist. Reiner Wuchs, edle Offenheit der Seele in allen Zügen, alle Anmuth freyer jugendlicher Bewegung, der Ton der Stimme lauter Liebe und Leben; vertraute zärtliche Blicke auf van Guden als ihre Freudengeberin; zuweilen Anhängen und leichtes Weghüpfen von ihr. Meta Mooß, wie hold, wie so voll jungfräulichem Anstand und Sittsamkeit neben dem Ausdruck von Geist und Glück ihrer Jahre. Wilhelm Mooß, zu einem Freund, Lehrer und Vorgänger gebildet, Bescheidenheit und [301] Selbstbewußtseyn in der lebhaften Jünglingsmiene, Aufmerksamkeit und Anbetung im Auge, so oft er van Guden ansah, oder sie mit ihm sprach. Gustav und Henriette, alle edle Kennzeichen ihres Standes in ihrem feinen gefälligen Bezeugen und dann Unschuld, Einfalt und Wissen wechselweiß auf ihren hübschen Gesichtern. Wir speißten höchstvergnügt beysammen zu Nacht. Wie die Kinder schlafen giengen, und von Frau van Guden angewiesen wurden, mich Tanne Cleberg zu heissen, Fritzgen aber nach seiner Gewohnheit mich Mama Salie nannte, und an mir hieng; so wurde mein Herz zu Thränen erweicht. Mein Oheim der neben mir saß, bemerkte es mit Rührung und faßte meine Hand: du gute halbe Mutter! auf wie vielerley Weise wurde heut deine Seele bewegt, ich wünsche herzlich, daß es einen unauslöschlichen Eindruck auf die keimende Fähigkeiten deines Kindes machen möge, und das dich Gott die Freude geniessen lasse es aufgewachsen zu sehen; denn es muß gewiß ein menschenfreundliches edles Geschöpf an Leib und Seele werden. Ich sank hier aus Uebermaaß von verschiedenen Empfindungen an den Busen meiner Freundin und im nemlichen Augenblick sprangen [302] Cleberg und Latten zugleich von ihren Stühlen auf, weil sie dachten, ich sey ohnmächtig geworden. Cleberg kam zu mir, Latten aber hielt sich mit krampfigen Fingern an seinen Stuhl fest, war etwas blaß und sah starr auf mich, da ich gerad mein glühendes Gesicht erhob um die Hand meines Oheims zu küssen und meinen Mann zu beruhigen, der äusserst ängstlich nach meinem Befinden fragte. Unsere gute Caroline Itten hatte, wie mir van Guden sagte, viel zu sehen; denn sie blickte mit Freundes Augen auf mich, aber mit Staunen auf Lattens starre Augen, mit Beyfall auf Clebergs Bemühungen um mich, und mit etwas Unmuth auf meinen Oheim, der Ursach an dem Auftritt gewesen. Der Officier beobachtete sie, und redte den Latten an, der einen ziemlich artigen Rückweg zu dem Aussehen der Freundschaft nahm, indem er Carolinen ins Ohr flüsterte, das der gute alte Mann unsere Freude durch einen Schreck unterbrochen habe. Er habe auf seinen Reisen gesehen, wie sehr gefährlich auch sanfte Empfindungen in meinen Umständen werden könnten, wenn sie zu stark wären. Meinem Cleberg war nichts von Lattens Bewegung entgangen; er drückte seine Hand, als er sich [303] wieder zu ihm setzte, und sagte auf Englisch: Mein lieber Freund! wie viel Schmerz ist bey Wünschen und Genuß des Glücks. Latten gieng ehender weg, als wir Cleberge; da wurde mir erzählt, daß ihm Ott gerathen hätte nach Wollinghof zu gehen, und der Frau Guden ganz freymüthig den Zustand seines Herzens zu eröfnen. Das hätte er gethan und sich bey der Verordnung recht viel von seiner Liebe zu reden, sehr wohl befunden, da Frau Guden ihn angehört, mitgesprochen und durch weises Nachgeben und Theilnehmen dahin gebracht habe, die Idee seines Glücks, in zärtlicher Freundschaft mit uns, und in der Verbindung mit einem liebenswerthen Mädchen zu suchen, deren Glück er machen würde; und so sey er wieder zurück gekommen. Er würde aber in der Vorstadt wohnen, wo er eine Fabrik von striefigen Leinen aufrichten wolle, das theils für Weibskleidungen, theils aber zu Hausgeräth bestimmt werden solle. Sehen sie, wie in diesem Brief alles verwirrt unter einander läuft. Der Freudentaumel ist noch in mir. Ich habe auf nichts denken, noch weniger von dem Officier erzählen können; aber ich hohl' es nach, und will ihnen nur ganz kurz den Auftritt mit [304] Latten beschreiben, der bey uns frühstückte, und sein Fritzgen besuchte. Er schien mir etwas blässer und hagerer als er bey seiner ersten Ankunft bey uns nicht war; Ott hatte ihn begleitet, und fragte mich: ob ich nicht recht zufrieden sey, auch diesen guten Menschen in unserer Stadt erst zu sehen? Ich versicherte es, dankte ihm auch, daß er gleich den jungen Wolling mit in den Plan seiner Geschäfte genommen habe, und hörte nun auch, daß sein Haus schon völlig eingerichtet sey, Nebengebäude aufgeführt wären und ein Vorrath von Hanf und Flachs daliege, um Spinnereyen zu errichten und Weber und Färber zu beschäftigen. Es wurde dann von Carolinen Itten gesprochen, und ich aufgefodert von ihrem Herzen und Kopf zu reden, weil Frauenzimmer sich einander mehr Vertrauen bewiesen, als ein Mann jemals von ihnen erhalten würde. Ich malte dann ganz getreu das Bild meiner Freundin bis auf die kleinsten Züge aus. Latten trank, während ich sprach, sieben Tassen Thee ohne aufzusehen, endlich sagte ihm Ott: Ey Bruder! du schwemmst ja das artige Bild wieder völlig aus deiner Seele weg; nun soll unsre Rosalie trinken, nachdem sie so lang geredet hat. Ich sagte: Das will ich auch [305] thun; aber ich möchte vorher wissen, ob unser lieber Latten mit meinem Gemählde zufrieden ist. Er ergrif meine Hand, drückte sie sanft zwischen seinen Händen und sagte mit seiner so wohltönenden Stimme: Sie haben, meine theure Freundin, sich und Carolinen in mein Herz gegraben. Ich denke wohl, daß ihre schöne Seele Zusätze machte; aber ich fühle zugleich, das ein rechtschaffener Mann mit Carolinen glücklich leben kann, wenn auch nur die Hälfte des Guten wahr ist, das sie sagten. Geben sie nun ihrer Freundin auch eine günstige Idee von mir, so will ich mich freuen die Achtung und Zärtlichkeit meiner Gattin von ihnen erhalten zu haben. Ja, mein Bruder Latten, ich will Carolinen den ganzen Werth des Glücks zeigen, das sie mit ihrer Hand und ihrer Liebe erwartet; aber, aber sie müssen sie lieben, ganz lieben; das gute herrliche Mädchen würde ja elend, wenn sie ihrem schätzbaren Mann gleichgültig wäre. Das ist sie mir nicht und wird es nicht werden; ich wäre ohrfähig um sie zu werben. Nun war alles gut. Wir sprachen dann vom Glück der Freundschaft, von dem Vergnügen eine nützliche Beschäftigung zu haben, und auch durch dieses Beyspiel etwas [306] zu dem gemeinen Wohl beyzutragen; wir sagten dann, daß unser Haus, das Grafische, die Callen, Kahnberge, Ittens, Linke und Otten wirklich für Fremde und Einheimische, als so vielerley Art von Verdienst und Glück angesehen werden könnten, keines zu viel Schimmer, alle einen Grad Wohlstand, der ihnen den mäßigen Genuß der feinen Freuden des Lebens erlaubt. Nun kommt Latten dazu, und seine Fabrik giebt uns eine neue Art Paste; denn wir Weiber und Mädchen alle sollen des Jahrs zweymal seiner Caroline helfen, an die gerollte und zubereitete Stücke Leinen, die kleinen Zierathen und Handlungszeichen nähen; wo er uns dann in dem leeren Verlagszimmer einen reichen Kaufmannsschmauß geben wolle. Die Frankfurter Messe schaft uns diesen Past. Wie froh bin ich, daß Latten ruhig ist.

[307]
116. Brief
Hundert und sechszehnter Brief
Rosalia an Mariane S.**.

Ja meine Liebe, der Officier hat uns alles selbst erzählt, und Sie würden auch ohne Bitten einen kleinen Auszug der Geschichte dieses schätzbaren jungen Mannes erhalten haben. Aber eines müssen Sie thun, Mariane! In meinen ältern Briefen nachzusuchen, wo die Frau Wolling der van Guden ihre Geschichte erzählt; denn dort werden Sie einen jüngern Bruder finden, der Charlotten und ihren Carl unendlich liebte, aber mit 17 Jahren von dem väterlichen Hause wegkam, und gleich in Kriegsdienste trat. Sein schwanker richtig gebauter Körper, sein mit sanftem Feuer viel Geist versprechendes Auge, das gute Herz, und die Gefälligkeit, welche in seinem Lächeln und in dem Ton seiner Stimme bemerkt wurden, gefielen dem Obristen seines Regiments so gut, daß er sich gleich vorsetzte, eine besondre Sorgfalt auf die Ausbildung dieses Jünglings zu [308] verwenden; indem er sich Hofnung machte, nicht nur einen schönen, sondern auch einen verdienstvollen Mann an ihm zu ziehen. Er gab ihn unter die Aufsicht eines erfahrnen alten, und eines vortreflichen jungen Officiers, von denen er den Dienst und die Kriegsbaukunst erlernte. Edle Ehrbegierde, und Dankbarkeit für seinen Gönner und seine Lehrer, sporten ihn zu unausgesetztem Fleiß an, und er wurde einer der brauchbarsten und schätzbarsten Leute. Es ist äusserst angenehm, diesen bescheidenen, meist nur andern mit Achtung zuhörenden jungen Mann, mit so vieler Wärme und überfließendem Herzen, von seinen Freunden sprechen zu hören, besonders von dem Officier, der ihn in dem ersten Winterquartier vollkommen Zeichnen und Mathematik lernte.

Der Sturz seines Vaters, das verringerte Vermögen seiner Familie, eine Art von Beschämung, die er darüber fühlte, machte ihn wünschen, recht weit von seinem Vaterlande wegzukommen, und es gelang ihm, in russische Dienste aufgenommen zu werden; und daselbst unter der Anführung und dem Beyspiel eines deutschen Generals 2 von großem Geist, seine [309] angebohrne Talente und Rechtschaffenheit in vielen Gelegenheiten zu zeigen. Er sagte uns: der Genius seines Generals, und die wahre große Kaiserseele seiner Monarchin hätten ihn angefeuert, die Verdienste zu erwerben, durch welche er würdig geworden sey, unter den Befehlen dieses Mannes für diese Frau zu sterben. Er befliß sich deswegen auch besonders auf die Sprache des Landes, und auf Kenntniß des Nationalkarakters, um den Weg zu der Liebe und dem Vertrauen des gemeinen Mannes zu finden, wodurch man in Friedenszeiten für das gemeine Beste arbeiten, und im Krieg wichtige Unternehmungen ausführen könne. Als er nun des Beyfalls und der Gnade seines Generals versichert war, und sich durch seine Lebensordnung auch etwas erspart hatte, so suchte er um die Erlaubniß an, nach Deutschland zu reisen, indem es ihm unerträglich geworden, in den seltenen Briefen seines Bruders so wenig Deutliches von dem Schicksal seiner Mutter und Geschwister zu hören; denn, (setzte er hinzu,) je größer und sicherer ich mein Glück vor mir sah, je mehr wünschte ich auch, von dem Wohlstand meiner geliebten Verwandten gewisse Nachrichten zu haben, und [310] genoß in dem immerwährenden Zweifel und Unruhe darüber mein eigenes Wohlseyn nur halb. Er kam also vor drey Monathen auf ein Jahr in sein Vaterland, und besuchte zuerst seinen Bruder den Secretair, welcher aber eben verreißt war. Da gieng er zu seiner ältern Schwester der Frau Hofräthin H**, bey dieser hörte er die Erzählung von dem Tode seiner so geliebten Mutter. Er wartete sodann auf Nachrichten von Charlotten mit ängstlichem Herzen, weil er fürchtete, sie lebe auch nicht mehr, da ihr Name von keiner Seele genannt wurde, und man ihm nur von den Umständen der Familie so ganz überhaupt Nachricht gab. Sein Bruder, welcher ihn den zweyten Tag dort aufsuchte, sagte ihm ein weites und breites von den Rechnungen über das Vermögen, so sich alles dahin endigte, wie er ihm nichts mehr geben könnte, indem das lange Krankenlager der Mutter so viel gekostet habe, und daß er verbunden gewesen, die zwey vornehme Schwäger am ersten zu befriedigen, weil er ihnen viele Unterstützung in seinem Dienst zu danken hätte. Dem guten Officier war alles recht, und er versicherte seinen Bruder, daß er mit seinem Besuche nichts anders wollte, als die [311] Freude, seine Verwandten wieder zu sehen, ihr Wohlseyn und ihre Liebe sey alles, was er sich wünschte. Nun war sein Bruder sehr zufrieden und munter; aber ihm schien Charlottens Tod gewiß und schon lange vorbey zu seyn, weil sie von allen Leuten so vollkommen vergessen war, daß sie gar nicht mehr gezählt wurde. Es schmerzte ihn sehr, aber er schwieg, war über diesen Gedanken in sich selbst gekehrt, und gieng diesen Tag nebst den folgenden Morgen tiefsinnig umher; tadelte sich aber, daß er den lebenden Geschwistern wegen der Todten mit so viel Kälte begegnete. Er sagte sich: sie können ja nichts dafür! Tod und Sterben ist Anordnung der Vorsicht – Gott nahm das gute Geschöpf, ihr ist wohl! – – Mit diesem Gespräch in sich selbst kam er zum Mittagsessen nach Hause, heiterte sich auf, und suchte einem jeden durch freundliches Bezeugen zu ersetzen, was er ihnen so ungerecht entzogen zu haben glaubte. Sie waren auch alle sehr froh, ihn so aufgeweckt zu sehen, und wetteiferten in ihrer Bemühung um ihn herum; seine zweyte Schwester und ihr Mann waren auch gekommen, man hatte noch Gäste gebeten, die mit dem russischen. Herrn Bruder speisen sollten. [312] Der Tisch' war in einem großen Zimmer gedeckt, in welchem einige Familienbildnisse hiengen, man wieß ihm endlich das seinige als Knaben. Hier erinnerte er sich, daß Charlottens Bild neben dem seinigen auf dem nemlichen Blatt gemalt gewesen, und daß das ganze größer gewesen war. Er fand auch, daß etwas abgeschnitten worden; und sagte es, fragte auch: wo denn das Bild der guten Charlotte hingekommen sey? Warum man es abgeschnitten habe? Er wolle es für sich haben. – Der Wein und die Lustigkeit des Schmauses hatten den ältern Bruder und die zwey Schwäger schon so weit gebracht, daß sie ohne alles Nachdenken dem ruhigen Wassertrinker über seine Charlotte loszogen. Er staunte erst, dann sagte er mit einer Thräne im Auge: Ach laßt sie in ihrem Grabe ruhen, und gebt mir ihr Bild, das neben dem meinen war; ihr mögt sagen was ihr wollt, sie ist ein gutes holdes Mädchen gewesen. Nun schrieen die rauhen Leute zugleich: Ich wollte, sie wäre tod, so beschimpfte sie uns doch nicht mehr mit ihrer Bettelzucht auf dem Mohnheimer Berg. Der arme Hauptmann fuhr auf: Was! Charlotte lebt? hat Kinder? ist im Elend? und ihr! [313] Ihr seyd Brüder und Schwestern! Er hatte seinen Stuhl unigestoßen, und wollte voll Unmuth und Schmerz aus dem Zimmer gehen; sie hielten ihn, und erzälten von dem Gärtner Carl, der sie verführt und unglücklich gemacht habe. Mehr hörte er nicht an. riß sich loß, und gab seinen Bedienten Befehl, ihm zwey Pferde zu schaffen, und eilte mit Heftigkeit in sein Zimmer, indem er auf seine Brust schlug, und sagte: Charlotte! Carl! ihr habt noch einen Bruder an mir. Da man ihm nachgienge, und ihm Vorstellungen über die jähe unfreundliche Abreise und endlich auch wegen der nahen Nacht Einwendungen machte, so drohte er bey Einpackung seiner Sachen, er würde sich seinen Weg mit seinen Pistolen frey machen, wenn sie ihm. die mindeste Hinderniß vorlegten, und reißte nach Mohnheim ab, wo er aber erst den zweyten Tag anlangte; indem er selbst in der Nacht krank wurde: und auch die Pferde ruhen lassen mußte. Er wünschte anzukommen, und fürchtete sich zugleich vor dem Anblick zweyer Personen, die ihm immer so werth gewesen. Er ließ den Boten und seinen Bedienten im Dorf zurück, weil er das Elend seiner Charlotte ohne Zeugen sehen wollte, [314] und ritt allein auf Mohnberg zu. Mein Pferd, sagte er, keuchte nicht so sehr darüber, meine Last Berg-auf zu tragen, als ich unter den Druck meines Kummers um Charlotten; der so lang verwundene einsame Weg des Waldes schwärzte meine traurige Gedanken noch mehr, und als ich nah an Wollinghof kam, und das schöne Haus fand, so dachte ich irre geritten zu seyn, und es verdroß mich, so glückliche reiche Leute auf einem Berge zu sehen, wo ich meine Schwester im Elend finden würde. Ich rief einer Magd, die ein artig Kind auf dem Arm hatte, sehr trotzig zu, mir zu sagen, wohin ich zu der Hütte des Gärtners von Mohnberg kommen könnte, ich wäre sein Verwandter und wolle für ihn sorgen. Das Mensch lief, ohne ein Wort zu sagen, fort, und ich ritte den Thorweg hinein, da kam Wolling mit Eile den Gang her. Ich erkannte ihn wohl, aber das Bild von Armuth war so in mir, daß ich nicht glauben konnte was ich sah, und nur steif ihn anguckte. Er erkannte mich sicherer: O mein Freund Heinrich! rief er, mich noch auf dem Pferde umfassend, willkommen! o Gott willkommen! Ich kam aus meinen Steigbügeln und von dem Sattel, ich[315] weiß nicht wie, und lag in Wollingsarmen: alles war um uns versammelt. Meine Lotte wurde vor Freuden ohnmächtig, und ich beynah krank vor inniger Erschütterung des jähen Wechsels der Angst mit Entzücken. Ach wie oft fragte ich sie: Kinder wie ist das? ist es gewiß? das Haus euer? der Wohlstand euer? man sagte mir von Armuth und Jammer. – Ach was erzählten sie mir dann von der Erscheinung der van Guden, von dem Zustand, in welchem diese Frau sie fand, was sie that, und wie sie nun mit ihnen lebte. Dann führten sie mich im Triumph zu dem Engel, der dieses Paradies für sie geschaffen hatte. O was war der Anblick dieser Gestalt für mich! (sagte er, auf van Gudens Bildniß zeigend, denn sie wollte nicht dabey seyn, als er den Auftritt erzählte.) Wolling und Charlotte nannten mich bey dem Eintritt in das Zimmer, da ging sie mir eilend mit einer ausgestreckten Hand entgegen, ich fiel auf meine Knie, umarmte ihre Füße, küßte sie und benetzte sie mit Thränen. Es war nicht soldatisch, aber brüderlich; van Guden war mir eine wohlthätige Gottheit, ich betete vor ihr, so wie ich vor dem lebendigen Gott gebetet [316] hätte; ich war ausser mir und vor Seligkeit beynah erschöpft. Die edle Frau weinte aus Rührung über mich gebeugt, und sagte, daß sie unendlich glücklich sey, einen solchen Bruder auf der Erde zu wissen; sie winkte den andern, stille zu seyn und mich gehen zu lassen. Das leise sanfte Zureden von ihr brachte mich nach und nach zur Ruhe, und zur Theilnehmung an ihr und aller Süßigkeit in Wollinghof. Die Kinder meiner Lotte, die Hütte, in welcher die ältere gebohren waren, der Platz, wo die van Guden zu den Kindern gekommen, das jetzige Haus, alles hatte etwas übermenschliches für mich, es war immer in mir, der Frau Guden auf den Knien nachzukriechen, immer zu danken und zu beten. Ich schätzte meinen Bruder Wolling auch sehr wegen der Sorgfalt, mit welcher die Hütte in allem erhalten wird, wie sie war, und daß er immer das Gärtgen pflegt und pflanzt, das neun Jahre hindurch, mit seinem Schweiß und Thränen benetzt, ihm Frau und Kinder ernähren half. So wie auch Frau Guden mir ehrwürdig ward, daß sie bey Erbauung des neuen Hauses nicht einen Stein des zerfallenen Schlosses wegnahm, sondern daß sie noch auf den großen [317] Seckelstein des Hauptpfeilers die Aufschrift graben ließ:

Schloß Mohnberg, durch adelichen Wohlstand der edlen Mohnheimer erbaut, durch adeliche Wuth im Faustkriege verstört; dennoch schützten meine Ueberreste neun Jahre lang die zu mir geflüchtete Unschuld und Tugend einer ganzen Familie, die mich nun als Denkmal der göttlichen Güte betrachtet. Möge ich für ihre Nachkommen ein Stein der Erinnerung werden, daß Gottesfurcht, Fleiß und Rechtschaffenheit die wahren Grundlagen des Glücks sind.

Als er dies aus seiner Schreibtafel vorgelesen hatte, fuhr er fort zu sagen, daß er während der ganzen Zeit, die er in Wollinghof zugebracht, immer ein Gefühl in sich getragen, als ob er in einem großen Tempel herum gienge, in welchem die wahreste und Gott gefälligste Religion gepredigt würde. Er habe auch Gottes Segen so sichtbar in allem gefunden, die Menschen, Thiere und Gewächse so gut, so glücklich, daß er oft im Wald, bey der Hütte, oder dem Stein seiner Mutter ausgerufen hätte: O das ist Elysium! Die größte irrdische Belohnung, die er sich für unsere van Guden [318] denken kann, ist, daß sie verdiene, bey seiner Kaiserinn zu leben. Ich belohnte ihn für den herrlichen Morgen, den er uns durch seine Erzählung gegeben hatte, mit der Erlaubniß, das Pack Briefe abzuschreiben, welche ich von Frau Guden aus Mohnberg erhielt, worinn er also alle das Gute findet, welches sie von den Wollingen sagt. Er hat die Ruinen von Mohnberg, die Hütte, das Gärtgen und das neue Haus abgezeichnet und in Dusch gebracht, das glebt nun ein herrliches Heft, welches er immer bey sich tragen will, weil er es als ein untrügliches Mittel ansieht, sich in seiner Liebe und Verehrung der Vorsicht zu stärken, und den Glauben an Menschenliebe und Menschentugend fest zu halten. Er übersetzt es auch in die russische Sprache; denn er wünscht, daß die ganze Welt wissen möchte, was die Tugend des Armen, und die Edelmüthigkeit des Reichen für herrliche Früchte hervorbringen.

Es ist ein hochachtungswürdiget. Mann. Wir haben ihn malen lassen, ehe er nach Wollinghof zurück gieng. Sie werden also bey uns sein Bild sehen.

[319]
117. Brief
Hundert und siebenzehnter Brief
Rosalia an Mariane S.**.

In drey Wochen keinen Brief! Schreiben Sie: nimmt van Guden alles? gehört ihr alles? –

Ja meine Beste! Sie haben Ursache zu klagen, daß ich so lange schwieg; aber hören Sie mich, und Sie werden sehen, daß van Guden von dieser Zeit an nicht mehr erhielt, als ihr gebührte. Ich nähere mich einem wichtigen Zeitpunkt meines Lebens, und die vielen obschon angenehmen Bewegungen der Seele, die ich einige Wochen durch zu tragen hatte, machten mich vermuthen, daß ich von einer frühen Niederkunft überrascht werden könnte; da führte ich also mit einer Art Aemsigkeit alle das aus, was ich mir auf diesen Fall vorgenommen hatte; das ist, nicht nur die nöthige Zubereitung der Betten und weißen Zeuges, denn das war alles fertig; aber eine mich stärker angreifende Beschäftigung, Briefe an Sie, meine [320] Liebste, an meinen Oheim, meinen Mann, an van Guden, die Ottens, und alle die ich schätzte, diese waren in dem Ton der Vermuthung gedacht, daß der Augenblick, wo mein geliebtes Kind gesund zur Welt käme, wohl der seyn möchte, in welchem seine zärtliche Mutter sie verlassen würde, und da wollte ich nun, daß nach meinem Tod alle meine Freunde noch ein Kennzeichen meines Danks für ihre Liebe, und den letzten Beweis meiner zärtlichen Verehrung erhalten sollten. Sie können sich die Stimmung denken, in welche mein Kopf und Herz bey jedem dieser Briefe kam; ich durfte mich auch nicht immer dabey aufhalten, weil ein Ausdruck von Trauer auf meinem Gesicht bey Clebergen und meinem Oheim jedes Vergnügen stört, ja sogar der junge Itten, und meine Leute niedergeschlagen werden, wenn ich weniger heiter bin als gewöhnlich, und jemehr diese Theilnehmung und mein Einfluß auf sie alle mich freut, um somehr halte ich mich verbunden, ihnen alle ihre Stunden angenehm, und den Dienst leicht zu machen. Denn wie möchte ich jemand eine freundliche Miene versagen, wenn ich weiß, daß diese Miene einen guten Menschen einen Augenblick seines Lebens verschönert. [321] Ich hoffe, meine beste edelste Freundin tadelt mich nicht wegen diesem Theil meiner Zubereitung, denn es ist mir nun recht wohl, da ich diese Briefe, meine Rechnungen und Verzeichniß alles Hausgeräthes, in Ordnung da liegen habe, und mir auf allen Fall nichts zu thun übrig ist. Nun sollen Sie das hören, was seit diesen drey langen Wochen mit van Guden und den übrigen vorgieng; zuerst aber die Nachricht, welche Sie von dem Besuch in der Vorstadt verlangen.

Ich und andre wären gerne mit dabey gewesen, aber van Guden wollte es nicht, sie glaubte, es würde eine Art Prunk für sie, und etwas niederdrückendes für die guten Leute seyn, wenn so viel stattliche Herren und Frauen mit ihr durch die Straße zögen, und sie nahm ganz allein unsern Latten mit sich, der auch ihr Haus bewohnt, worinn er eine kleine Leinenfabrik aufrichtet, und welchen sie bey dieser Gelegenheit den Leuten bekannt machen wollte. Er holte sie in der Frühe ab, und sie gieng in dem nemlichen braunen Kleib, das sie ehemals trug, zu ihren alten Freunden, von denen sie mit Liebe und Verehrung aufgenommen wurde. Latten bewunderte ihr höchst feines [322] Gefühl, mit welchen sie mit den Leuten sprach und umgieng, als ob sie nur eine theilnehmende Freundin und nicht ihre Wohlthäterin gewesen wäre. Sie gab dem erhaltenen Guten ihren Beyfall, als ob es die Anstalt derer gewesen, die es genossen, oder derjenigen, die es besorgten. Sie antwortete auf Bitten, auf Dank oder Vorstellung mit der Bescheidenheit einer Person, die selbst nur Fürbitterin bey einer andern ist. Manches war nicht mehr in dem schönen heilsamen Stande, worein sie es gesetzt hatte, und in vielen Häusern sah man kaum die Spuren der von ihr eingerichteten Ordnung und Reinlichkeit, aber sie ahndete nichts, bestrafte nichts, besonders da sie bemerkte, wie ihre Blicke auf das Handwerksgeräthe und Hauswesen umher die Augen der Frau oder des Mannes zur Erde schlugen, oder auch Entschuldigungen suchen machten. Eine Beobachtung gab ihr vieles Vergnügen, nemlich daß in den Häusern, worinn die Knaben und Mädgen waren, welche der Schulmeister und seine Frau ihr gelobt hatten, die Ordnung am besten erhalten schien, das tröstete sie über alles Mißfällige bey den andern. Weil, sagte sie, die Macht der Gewohnheit der Jugendjahre [323] die Väter und Mütter auf den alten Weg der Nachlässigkeit und des Schmutzes geführt habe, so würde die nemliche Gewalt die Kinder auf der neuen Bahn der Ordnung fest halten. Sie will nicht oft in die Vorstadt gehen, sondern den Herrn Latten den Einfluß benutzen lassen, den ihm seine Fabrike und der für die Einwohner daraus hoffende Gewinnst neben dem Reiz der Neuheit geben würden. Sie sagte dabey zu uns: Ich war bey meiner ersten Erscheinung Trost und Erleichterung für diese guten Leute; ich würde nur durch Vorwürfe oder strenges Anhalten an meine Vorschriften ihre Last vermehren, wobey ich doppeltes Unrecht hätte, weil würklich bey den Bauern und Bürgern dieß, was unsern verwöhnten Ideen von Anstand und Feinheit als rauh, hart und unrecht vorkommt, einen Theil des Glücks von ihrem Stande ausmacht, indem ein gewisser Grad von Empfindlichkeit für das Schöne und Beste eine Weichlichkeit und einen Ekel hervorbrächte, welche in den Umständen des gemeinen Mannes nicht zu befriedigen wären, und ihm seine schwere Arbeiten, schlechte Kleidung, Bett und Nahrung unerträglich machen würden. – Als wir nun dieses Entschuldigen [324] der Leute an ihr lobten und bewunderten, so sagte sie sehr artig: Was für schöne Farben die Freundschaft allen Sachen giebt! denn was ich da sagte, war doch nichts als Pflicht gerecht zu seyn, und vielleicht war meine Eigenliebe mit darunter beschäftigt, mir dadurch einen verdrießlichen Gedanken zu benehmen. Darüber mußte sie nun den Wunsch ertragen: daß sich alle Menschen ihr Mißvergnügen über andre auf eben diese Art benehmen möchten. Die Unterredung wurde fortgesetzt in der Frage: wie weit wohl Zierlichkeit und feiner Geschmack unter dem Volk verbreitet werden sollte, und welches das sicherste Mittel dazu seyn möchte? Man fand dazu doch nichts bessers, als öffentliche Schulanstalten, in denen immer den Kindern ein gemeinsamer Geist und ein gemeinsamer Bug gegeben würde, und ihnen da nur Bilder des wahren Schönen dargestellt werden dürften, um den Grund des guten Geschmacks zu legen: so würden auch große Nähschulen für Mädchen, wo sie angehalten würden, in allem recht neu und ordentlich zu seyn, den Grund zu reinlichen Hauswirthinnen legen; zudem aus zahlreichen allgemeinen Schulen nicht nur ein Nationalgeist entstünde, [325] sondern auch der Zweig der stolzen Sonderlinge abgeschnitten würde, welche unausbleiblich im Privatunterricht entstünden, wo jeder Hauslehrer sich besser als der in einem andern Hause dünkte, der andern Lehrart tadelte, und diesen Eigendünkel auch seinen Zöglingen mittheilte, die sich dann immer als Vorbilder betrachteten, und die meisten eitele, feindselige Menschen würden. Latten hat was Sonderbares: er haßt die Idee von Verfeinerung, und möchte immer lieber die von Simplicität im Gang sehen. Er behauptete: bey einem hohen Grad Verfeinerung der Ideen ging die Wahrheit und Größe der Seele verlohren, so wie in materiellen Dingen die Stärke nach dem Maaß des Niedlichmachens verlohren gehe. Jedes von uns äusserte seine Gedanken nach seinen Kenntnissen. Van Guden, die nachdem mit mir am Fenster stund, sagte mir, da sie zugleich mit Mutterliebe mich an der Hand faßte: Suchen sie nie, meine Liebe! nie in andern sich selbst wieder. Es ist immer vergeblich, und nach dem Gang der Menschheit wohl gar eine ungerechte Erwartung. Wir drechseln und künsteln alle an dem Bilde des Glücks und der Verdienste, und wollen dabey [326] immer unser Modell auf den Altar des allge – meinen Beyfalls und der Nachahmung setzen. Zählen sie nie, meine Beste! nie darausselbst bey keinem Kind, bey keinem Geliebten nicht, und heften sie nie das innige einzige Glück ihres Lebens an den Gedanken einer vollkommenen Uebereinstimmung der Gesinnungen. Sie werden es nur in Büchern finden, weil die Menschen in diesen immer das Beste an den Tag geben. Bauen sie ihren eigenen Garten so schön und vollkommen, als sie können. Lieben sie, und gefallen sie sich in dem, was sie säeten und pflanzten, da, wo sie Meister über den Boden sind; bey andern übersehen sie gerne das Fehlerhafte, und geniessen das Gute, so wie man niedrige Blumen der benachbarten Wiese, das reiche Ackerfeld und die schönen Bäume des Waldes, eines fremden Gebietes, durch das Vergnügen ihres Anblicks genießt, ohne daß man überall Rosen und Nelken finden will; und vergessen sie nicht, meine liebe Rosalie, daß ihre van Guden diese Wahrheiten auf dem Wege alle des Kummers fand, den ihr das Anhängen an der Idee des vollkommenen Geliebten uns des vollkommenen Glücks der Liebe bereitete. Sie [327] und ich schaffen uns gerne Ideale. Ich weiß, wie süß es ist, unter den schönen Bildern herum zu wandeln; wir wollen sie aber in Zukunft nur als Zeichnungen aufbewahren und uns manchmal daran ergötzen, aber nicht böse werden, wenn in dem Zirkel unserer Bekanntten kein Gesicht und keine Figur so schön ist, als wir das Schöne uns denken können. Durch dieses, meine Liebe, werden wir zeigen, daß Kenntnisse des Geistes und ein edles Herz eben so menschenfreundlich als glücklich machen, und (setzte sie mit einer aus Gutherzigkeit und Spott vermischten Miene hinzu,) den angenehmen Ge danken, daß wir zwey Ideale von der besten Gattung sind, muß man uns immer lassen. Sie sehen, meine Mariane, wie getreu diese Frau ihren einmal bekannten Grundsätzen folgt, da sie behauptete: Reichthum des Geistes müßte mit eben so viel Großmuth genossen und ausgetheilt werden, als der vom Gold: man müsse nicht stolz auf die Armen blicken, sondern auf eine liebreiche Art geben, was man an Geld und Lehre nehmen wolle. Sie würden sehr zufrieden mit ihr seyn, wenn Sie sie stundenweiß stillschweigend um uns sähen, und in ihrem so bedeutenden Gesicht bald das feine Lächeln [328] des Beyfalls, bald den Blick des Wohlwollens, oder Ausdruck der wahresten Hochachtung bemerkten. Sie arbeitet immer, wenn Leute um sie sind, und Henriette Pindorf hat ihren Platz in einem Fenster neben ihr, wo das holde Mädchen an ihrem artigen eigenen Tischgen sitzt und auch arbeitet, Vormittags aber von Frau Guden Unterricht bekommt. Nachmittags, ehe Besuche kommen, ließ sie mit ihrem Bruder etwas bey ihrem Lehrmeister, worüber sie dann der Frau Guden Rechenschaft geben muß, um sie von nützlichen Sachen gut und ohne Gepränge reden zu lernen. Mitlerweile schreibt oder liest van Guden, sieht nach ihrem Hause, nach ihren Rechnungen. Sie speist wie wir, simpel; aber der Tisch wird mit der äussersten Reinlichkeit besorgt, und nie, auch wenn wir alle beysammen sind, mehr als acht Schüsseln gegeben. Wir alle und Fremde sind mit dem größten Vergnügen in ihrem Hause. Das Gesellschaftszimmer ist mit feinem Grün ausgeschlagen, und eine einzige Reihe Kupferstiche der schönsten englischen Gärten darinnen, und dann in zwey Ecken die vortreflichsten Abgüsse von zwey Geniis, in Größe achtjähriger Knaben. Der Ofen ist von Porcellan, ganz [329] weiß, wovon der untere Theil einen alten Altar vorstellt, auf welchem eine große Urne ruht, die mit schön gearbeiteten und vergoldeten Lorbeerblättern umwunden ist, von denen zwey Zweige noch über den Altar herunter hängen. Zwey Canapee, und viele Stühle von grün und weißen Zeug sind umher, und schöne porzellanene Blumentöpfe voll Blumen vor den Spiegeln, welche von ihr, von Meta und Moos gezogen und gepflegt werden. Man kommt, geht, spielt und spricht, bringt Fremde mit, ohne Ceremonien zu machen, und alle Abende können sechs Personen bey Tische bleiben, wo dann die Unterhaltung voll sanfter Munterkeit und feinem Scherz bis zehn Uhr dauert.

[330]
118. Brief
Hundert und achtzehnter Brief
Rosalia an Mariane S**.

Sie wollen von dem gesellschaftlichen Leben so vieler gescheuten Männer und Weiber mehr wissen, besonders da ich Ihnen von einem Entwurf schrieb, der für unsern Winter gemacht wurde. Das trieb sich sattsam umher, weil der muthwillige Kopf meines Mannes den Vorschlag gemacht hatte, daß man eine Zusammenkunft halten, und gemeinsam darüber sprechen sollte.

Wir sassen alle in van Guden Gesellschaftssaal umher. Glücklicher Weise hatten wir Frauenzimmer alle unsere Arbeit bey uns, so wie Mutter Guden an ihrem Tapetenrahme beschäftigt war; sonst würden wir lächerlich ausgesehen haben. Denn beynah wußten unsere Männer nicht ganz, was sie für eine Gattung Gesichter machen sollten: indem sie da höflich, aber doch vorzüglich klug zu Werk gehen wollten; die Weiber sehr bescheiden seyn, aber doch zugleich vorsichtig genug, um keinen von ihren [331] Wünschen zu verliehren, und, wie Frau Grafe bemerkte, so wollten die Männer keine Gesetze vorschreiben, und die Weiber schienen auch nicht geneigt, in dieser Gelegenheit welche anzunehmen. Es wurde lang von ausländischen Gesellschaften und Winterbelustigungen gesprochen, wobey Ott, Latten und mein Cleberg wegen ihren Reisen in neueren Zeiten sehr viel Artiges zu erzählen wußten, so wie mein Oheim etwas von den Erinnerungen vorsuchte, die ihm vom Hof des letzten Herzogs von Lothringen geblieben waren, weil er zu Nanci und Lüneville studirt hatte. Stiege sprach von alter deutscher Sitte in dieser Jahrszeit, und unsere van Guden ward aufgefordert, uns von Holland zu erzählen. Das nahm einige Zeit weg. Unsere muntere Frau Grafe hörte immer aufmerksam zu, schüttelte manchmal den Kopf, und da Frau Guden gar keinen Vorschlag machen, sondern nur von ganzem Herzen einen jeden eingehen wollte, der uns alle am meisten freuen würde; so fieng Frau Grafe endlich an: Weil die Frage von leiblichen Freuden und Vergnügen wäre, so dächte sie ein Recht zu haben, das erste Wort in der Gemeine zu führen, von den schönen Kenntnissen, [332] welche unsere gereisten Herren (hier stund sie auf und verneigte sich tief, auf alle umher sehend,) gesammlet hätten; möchte sie nur dieß gebrauchen dürfen: Daß wir Weiber den Ton der Belustigungen angäben, wie es in dem belobten Frankreich üblich wäre, (hier war wieder eine Reverenz,) auf allen Fall aber müßten wir uns sogar die Fastnachtskappe nach unsern Köpfen zurecht schneiden. Sie wünsche, daß man gute alte Gewohnheiten und artige Neuerungen mit einander verbinden möchte; deswegen sollten die Vormittage unangetastet bleiben, um die nöthige Zeit zu Hausordnung und Schlaf für die Weiber, für die schöne Gesichtsfarbe und Putz der Mädchen, wie für das nöthige Studieren der jungen Leute, und die Regierung der Welt für die Männer zu haben. Mittags speiste man mäßig zu Hause, sammlete sich bis Nachmittags vier Uhr etwas artige Gedanken für die Gesellschaft, und käme die Woche zweymal zu Frau Guden, um zu ihren Füßen die liebreiche Weisheit der Weiber zu lernen, und mit ihr den Abend hinzubringen. Dann gienge man einmal zur Frau Cleberg, und ergötzte sich an dem artigen Wettstreit zwischen dem guten Geist der Frau, und dem achteckigen [333] auf allen Seiten fein geschliffenen Kopf des Mannes. Den Tag der Comödie käme man zu ihr, weil sie immer sorgen wolle, daß wir ein artiges Nachspiel ihrer Erfindung in ihrem Hause finden möchten. Bey Ott und Julchen würde eine Gattung Ruhetag gehalten werden, um durch ihr sanftes Wesen und die Musik ihres Mannes alles wieder harmonisch zu machen, was sich in dem ersten Theil der Woche verstimmt haben sollte, Den Fremden aber müßte allerwegen der Zutritt und Theilnehmung gelassen werden. Sie wollte nun für unser geduldiges Zuhören danken; aber wir klatschten ihr alle unsern Beyfall und Einstimmung zu. Nachdem aber hatte sie sich über die kleinen Angriffe zu vertheidigen, die sie während ihrer Rede auf uns gemacht hatte; und dies war sehr artig. Dann wurde auch der Entwurf zu einer Schlittenfahrt nach Rehberg gemacht, sobald wir einen schönen Wintertag und gute Schneewege haben würden; und der alte Stiegen versprach, ein Feuerwerk auf den Stiegenhof zu geben, wenn wir dazu helfen wollten, daß seines Neffen Hochzeit mit der jungen Itten auf den letzten Tag im Jahr veranstaltet würde. Das Versprechen und die [334] Bedingung kam uns allen so drollig vor, daß wir herzlich lachten, aber doch versprachen, zu Erfüllung seines Wunsches beyzutragen. Mein Oheim kam mit der Idee dazu, auf den Tag meines glücklichen Vorgangs Seedorf zu beleuchten, und einen Ball zu geben. Wie oft doch die Leute alle von diesem Zeitpunkt reden, und wie leicht weg da mich immer ein kleiner Schauer ergreift über alle das, was in diesem Fall möglich ist; ob ich schon glaube, daß die Mutter Natur mir nicht mehr Leiden machen wird, als andern, und weniger zu leiden verdiene ich nicht, und fodre es nicht. Getreu, zärtlich und muthig will ich seyn, ganz, ganz Mutter für mein Kind, mit meinem Kind leben und sterben. Gott lasse mich nur den besten Erziehungsplan durch mein tägliches gutes Beyspiel ausführen. Im übrigen mag es Menschen-und Erdegang gehen mit mir und ihm.

Diese durch meines Oheims Vorsatz geweckte Ideen hatten mich in van Gudens Cabinet geführt, wohin mir meine liebe Caroline Itten folgte, weil ihr fein fühlendes Herz die Bewegung des meinigen sehr deutlich mit empfunden hatte, und das gute Mädchen auch [335] für sich selbst froh war aus der Gesellschaft zu kommen, weil der zu der Verheurathung ihrer jüngern Schwester bestimmte Tag natürlicher Weise den Wunsch in ihr rege machte, daß ihre Hofnungen auf Lattens Herz und Hand eben so fest, eben so bestätigt seyn möchten; und das holde gute Geschöpf wurde durch diese zärtlichen Wünsche so bewegt, daß sie sich nicht getraute aufzusehen. Ihre Sorge um mich floß also mit der Selbstsorge für die Ruhe ihres eigenen Herzens zusammen, und vermehrte aber auch die Rührung, in welche sie durch Lattens Eintritt in das Cabinet gebracht wurde. Er näherte sich uns mit der edlen bescheidenen Miene, die alles begleitet, was er thut. Er faßte eine Hand von Carolinen, nachdem er nur einen flüchtigen aber unaussprechlichen Blick auf mich geworfen hatte. Das arme Mädchen zitterte, und ergrif eine Hand von mir, da Latten anfieng: Caroline! es sind mehrere Gelübde gemacht worden, um glückliche Tage zu feyern; mein Herz machte auch eines: Ich will auf den Tag, wo Sie mir ihre Hand geben werden, vier Waisenkinder versorgen. Sie sah ihn an, faßte seine Hand mit ihren beyden Händen, fieng an zu weinen, und legte ihren [336] Kopf auf meine Brust. Ich umarmte sie, drückte sie an mich, und der vortrefliche junge Mann blickte mit einem unbeschreiblichen Gefühl auf sie und mich; Caroline erhob ihren Kopf, legte Lattens Hand in meine, und sagte so innig: Rosalie! Ihre Hand soll mir den Mann meines Herzens geben. Latten kniete zu uns hin in der größten Bewegung; aber er faßte sich, und sagte zu ihr: Caroline! ich habe zwey Engel geliebt, und dieses geweihte Herz ist nun Ihnen ganz eigen. Ich will mich bestreben, Sie so glücklich zu machen, als Sie liebenswürdig sind; und küßte ihre und meine Hand, indem er sich mit vielem Anstand erhob, und der nun ganz glücklich gewordenen Caroline, die mit Rosenröthe übergossen war, auch Muth zusprach, und ihr die selige Aussicht zeigte, die aus der Vereinigung so vieler rechtschaffenen Menschen entstünde. Ich verließ das glückliche Paar, und sagte den übrigen, was vorgegangen sey, Alles freute sich herzlich. Frau Grafe sagte dann: O! ich will auch eine Heyrath stiften, das weis ich. Ott, Cleberg, und der junge Stiegen entfernten sich, kamen aber bald wieder. Ott brachte Linken und seine Frau, Cleberg aber den Herrn Itten und sie, und Stiegen natürlicher Weise seine schöne [337] Braut. Vater und Mutter konnten nicht reden, hielten sich bey der Hand, sahen um sich mit thränenden Augen, ihre Caroline suchend, welche noch mit Latten und der van Guden im Cabinet war. Frau Grafe ging mit Eile, die Ankunft der Eltern zu vermelden. Caroline kam mit dem schönen Latten bis an die Thüre, wo sie umsank, und von ihrer Mutter und Liebhaber unterstützt, bey dem Segen des Vaters sich wieder erholte, nachdem auch den Jubel und die Wünsche ihrer Geschwister genoß, welche zu dem Verlöbnißfest gerufen wurden. Unsere edle van Guden war über den Anblick dieses Familienzirkels ganz entzückt, sie sagte mir: Ich glaube, daß dieser Abend für den Himmel selbst ein schöner Abend ist, denn das Band der Tugend, das uns vereinigt, ist auch der Grund unserer hoffenden Seligkeit mit den vollkommenen Wesen der andern Welt. Gute Eltern, gute Kinder, Ehegatten und Freunde um mich, liebe Rosalie! o wie süß ist das Theilnehmen an der Freude edler Menschen! Kurz darauf nahm sie Linke mit einer trüben Miene an der Hand, und bat sie, ihn auf einige Augenblicke anzuhören. Sie folgte ihm in das andre Zimmer, wo sie den braven jungen Mann mit Erstaunen in eine Art Jammer [338] ausbrechen hörte, daß seine geliebte Frau mit ihm nicht so viel Ansehen und Glück erhalten habe, als ihre zwey jüngern Schwestern erreicht hätten. Er könne sein Hannchen nicht ansehen, ohne daß sein Herz durch diesen Gedanken gepreßt würde. Van Guden lobte dieses feine Gefühl seiner Liebe; sagte ihm aber dabey, daß er doch den Karakter seiner Frau so gut kennen müßte, um sicher berechnen zu können, ob der mehrere Glanz in dem Schicksal ihrer Schwestern ihr einen Neid oder Kummer machen würde. Da kam seine Frau an die Thüre, um zu fragen: ob ihrem Linken nicht wohl sey? denn er habe etwas geändert geschienen. Van Guden erzählte ihr seinen Jammer. Lieber Mann! sagte sie zärtlich und ernsthaft, wie wenig kennest du deinen Werth und mein Herz, und wie traurig ist es mir, daß ich nun nichts zu sagen weis, womit ich dir diese unangenehmen Gedanken benehmen könnte. Stelle dir mein ganzes Wesen und alle meine Wünsche dar, es liegt gewiß nichts in mir, das nur im geringsten nach Glanz und Höhe trachtet. Ich wäre unglücklich, mein Bester, wenn dein Stand und Vermögen sich änderte. Dich haben, dich behalten so wie du warest, als ich dich kennen lernte, als du mir [339] Liebe zeigtest; dies, mein Linke, dies ist mein Glück. Dein Haus, die nemliche Stube für meine Kinder, wo du, ihr geliebter Vater, auch als Kind warest, als guter Knabe aufwuchsest, als edler Jüngling an mich dachtest, und als rechtschaffener Mann mich so unaussprechlich glücklich machst. Linke! was soll ich mehr? Meine häuslichen Beschäftigungen, alles, alles ist mir lieb. Gott erhalte mir dieses; alles übrige drückte mein Herz nieder. Wenn du mir nicht glaubst, wenn mein vergangnes Leben und meine Gesinnungen dir nicht Bürge sind, o so machst du mich elend. Mögen meine geliebten Schwestern ihr Wohl fühlen und geniessen, wie ich das meinige; denn der Unterschied ist für sie, weil auch der Unterschied in unsern Gemüthern ist. Glaube, mein Lieber! weder Rang noch Reichthum könnte mir geben, was ich durch dich und in dir habe. Laß mir deine Liebe und dich, glaube an die meinige, und sey dadurch eben so glücklich als ich. Nun hieng er an ihrem Hals, weinte mit ihr, und freute sich; van Guden umarmte beyde, und schätzte sie als das glücklichste Paar Menschen; und Linke behauptet, er sey an diesem Abende noch viel glücklicher geworden, als an dem Tage, wo ihm Hannchen an [340] dem Altar gegeben wurde. Wie oft lernen wir das Beste und Nöthigste erst durch den Zufall kennen. Dieser Mann da ward von den herrlichen Gesinnungen seiner Frau erst an dem Verlöbnistag seiner Schwägerinnen überzeugt. Frau Grafe sagte aber, da ich ihr den Auftritt beschrieb: Es sey ihr Beweis von dem innern Ehr- und Geldgeiz des Hrn. Linke; denn wenn er nicht selbst so vielen Werth darauf legte, so würde er das große Aufheben über die Genügsamkeit seiner Frau nicht gemacht haben. Sie mag doch unrecht haben; denn wir beurtheilen den Nächsten nicht immer allein nach uns, sondern sehr oft nach andern, und thun ihm um so mehr unrecht.

119. Brief
Hundert und neunzehnter Brief
Rosalia an Mariane S**.

Ich sagte es Clebergen gleich, daß Sie gewiß mit der Eintheilung unserer Tage nicht ganz zufrieden seyn würden; ob Sie schon versichert wären, daß selbst unser Scherz immer das Gepräge der Güte des Herzens und eines feinen Verstandes tragen würden: so[341] möchten Sie doch eine etwas ernsthafte Beschäftigung unsers Kopfs mit untergemischt sehen. Das geschieht auch, meine Beste! nur ist es nicht so allgemein für alle, weil Berufsgeist und Geschäfte, so wie Umstände und Erziehungsgewohnheiten, wenn ich so sagen kann, natürlicher Weise darinn verschiedene Würkungen machen. Zum Beweis, Weltgeschichte und Bemerkungen über Höfe, über große Handlungszweige, Krieg, Frieden, und alle in die große Menschenhaushaltung gehörige Dinge werden von meinem Onkel, von Cleberg, Ott und den Fremden auf allen Seiten gefaßt, beurtheilt, gelobt und getadelt, auch Vermuthungen geäussert; daher liegen immer große Folianten von Landcharten in unserm Ansprechzimmer, in welchen bey Zeitungen und Briefen nachgesucht wird. Mein Mann war bey Gesandschaften. Mein Oheim ist geheimer Rath eines großen Fürsten. Ott hat viele Reisen gemacht. Sie besitzen alle einen Theil Gelehrsamkeit: daher kommt das begierige Wesen, mit dem sie sich an den politischen und gelehrten Zeitungstagen aufsuchen, wodurch auch unser sonst so sanfter und meist nur auf Empfindungen lauschender Latten auch angezogen wird. Die Zusammenkunft ist zu meiner größten Freude bey [342] uns, weil die edlen jungen Männer alle so viele Achtung für meinen alten Oheim haben, und zu ihm kommen. Da sitze ich mit meiner Arbeit, und höre, was Menschen thun, und wie Menschen die Handlungen der andern theils nach vorgeschriebenen, theils nach willkührlichen Maaßregeln beurtheilen. Die Artickel der Naturgeschichte, der schönen Künste und der Moral werden bey van Guden gelesen, die Kupferstiche, Gipsabdrücke, Gartenbaukunst, neue mechanische Erfindungen, die Verordnungen zum Besten des Volks, und edle Thaten; alles dieses kommt bey ihr vor, und macht schöne Tage für meinen Geist. Zu den städtischen und landwirthschaftlichen Sachen werden Linke und die beyden Stiegen gerufen, weil der erste Stadtschreiber und die zwey andern Besitzer von Landgüthern und Landbeamte sind. So wie mein Oheim zum Durchlesen eines jeden neuen Bandes von der unserm Deutschland so viel Ehre und Nutzen schaffenden Berliner Bibliothek, bald einen Geistlichen, bald einen Arzt, oder einen Rechtsgelehrten zum Mittagsessen bittet, und die Stücke ihres Fachs mit ihnen durchgeht; Schullehrer, ein paar vortrefliche Kaufleute, und unser Wundarzt; alle haben ihren Tag, bey ihm über alles, was ihre Hauptbeschäftigung [343] ist, zu sprechen; auch junge Leute werden dazu geladen, und ich kann Sie versichern, daß diese Art, gelehrte Anzeigen zu genießen und mitzutheilen, ganz gewiß die beste ist: denn ich bemerke es nicht nur an mir, daß ich würklich von Woche zu Woche meinen Kopf gebessert habe, sondern auch bey den Männern selbst bestärken sich die Urtheile und die Zweifel. Die Fragen werden schärfer, tiefsinniger, weiter um sich fassend, und das moralische Gefühl öfters geweckt. Für mich ist aber auch besonders angenehm, so ganz in der Stille zu sehen, wie die innere Anlage des Herzens der erworbenen Wissenschaft des Kopfs Falten und Wendungen giebt, wie oft auch das Gefühl den Gang des Geistes aufhält und unterbricht, oder auch eine zufällige Kleinigkeit den ganzen Faden der Betrachtungen entweder abreißt oder verwirrt. Ich habe wohl schon gedacht, daß die Gegenstände der Unterredung wieder einen Rückeinfluß auf den Ton und auf den Karakter der Gedanken haben. Geistliche, welche die Sache und Gebote Gottes zu verwalten haben, dünkten mich oft einen Strahl der Allmacht in ihre Beleuchtungen ein zumischen. Dem Rechtsgelehrten entflohen manchmal Züge der Herrschsucht, der Härte, der Unempfindlichkeit für Gemüthsleiden, wie es den [344] Aerzten in Ansehung der körperlichen Schmerzen geschieht. Weltweisheit nährte den Stolz der Seele; Naturgeschichte machte gut, besonders das Pflanzenreich sanft, die schönen Künste weich, und machen zu oft den innern Gehalt der äussern Forme aufopfern. Cleberg und Ott haben viele Kunstkenntnisse. In dieser Gelegenheit seh ich gar zu deutlich den Unterschied zwischen dem Scharfsinn des Verstandes, und dem überfliessenden Gefühl des Herzens: denn wenn nun eine Rolle oder ein Kasten Kupferstiche ausgelegt wird, so empfinde ich den Eindruck der Seele des Bildes, so viel der Künstler darstellte, zum Beweiß: bey einer Landschaft strömt der Einfluß von Schönheit, Größe und Ruhe der Natur in mich, weil ich allein das Gefühl meines Herzens geübt habe. Cleberg und Ott aber sehen gleich die Kunst, und zergliedern diese zuerst. So gehet es auch immer bey Menschenbildern, bey historischen Stücken, wo nur der moralische Ausdruck mir auffält und mich beschäftigt. Frau Grafe sagte einmal: Clebergs Kopf hätte sein Herz gefressen, der Platz sey leer, es erschiene nur hie und da in heiligen Zeiten das Gespenst eines Herzens an der Stelle. Dies sey die Ursache, warum sie immer von einem Schauer ergriffen würde, wenn Herr Cleberg von Empfindungen [345] spreche. Wir lieben alle die kleinen Neckereyen, welche sie mit meinem Mann hat; es verbreitet meist einen großen Theil Munterkeit über uns. Letzt war sie dabey, als von den Unruhen gesprochen wurde, welche die Einführung des neuen Gesangbuchs in gewissen Landen hervorbrachte. Sie lachte, zuckte die Achseln, und sah mit halben Staunen, halben Mitleiden auf die Männer umher, wobey sie mir und der van Guden zuzischelte: Was doch die weisen Leute für Widersprüche in sich fassen! Letzt wollten sie mit Macht eine Kleiderordnung für den gemeinen Mann haben, der soll einfach, unverziert, seinem Stand und Erwerb gemäß Kitteljacke und Halstuch tragen. Man lobte die Zeit, wo das bürgerliche Brautkleid von einem Stof genommen wurde, welcher die ganze Lebenszeit der Frau ihr Festkleid bliebe. Der Pracht vermische die Stände, verderbe die Sitten u.s.w. Nun wollen die guten Bürger ihre alten einfachen Kirchen-Morgen- und Abendlieder behalten. Da nun, wie die gründlichen Herren sagen, die Worte und Ausdruck das Kleid unserer Gedanken sind: so will man ihren Kopf und ihre Empfindungen neumodisch einkleiden, nach dem verfeinerten Geschmack von uns schönen Damen und Herren, und verbietet hingegen, den Schnitt der Mütze [346] nach der unsern zu formen; und wir werden mit den Liedern der alten Minnesänger heimgesucht, müssen sie kosten lernen und herrlich finden; da doch diese Minnesänger nichts anders haben, als daß sie ihre Liebchen in der nemlichen alten simplen Sprache liebkoßten und lobten, in welcher die alten Kirchengesänge den lieben Gott preißten und anbeteten. Was soll dem Bürger die zierliche Gedankenform des Redners und des Poeten für seinen Geist, wenn er die Augen und den Geschmack für die Erfindungen der schönen Formen der übrigen bildenden Künste verschliessen soll? Ich fürchte, unsere Enkel werden zu thun haben, die moralische Würkung der Zierlichkeit wieder fortzubringen. – – Hätte ich das Geschicke gehabt, auch die Aeusserungen der Männer über diese Gedanken der Frau Grafe im Gedächtniß zu behalten, so müßte dieser Brief eine Wichtigkeit haben, die er nun allein durch ihre eignen Betrachtungen erlangen wird. Die launige Art, mit welcher diese muntere aber in allen Stücken schätzbare Frau sich über diesen Gegenstand ausgelassen hatte, war doch der Anlaß zu ganz vortreflichen Sachen, die von den Männern gesagt wurden, welche gewiß nicht erschienen wären, wenn der drollige Tadel über einen Theil ihrer Gesetzgebung sie nicht gereizt [347] hätte. Frau Grafe war überhaupt herrlich gestimmt, denn da sie von Latten gefragt wurde: wie sie auf diesen Ton der Ideen gekommen sey? da sagte sie: auf der Stelle, wo sich alle meine Lieblingsideen befinden. O da möchte ich mich einmal umsehen, sagte Latten. – O mein guter Freund! da fänden Sie alles anders wie hier; denn der Untergebene ist mehr geschätzt als sein Gebieter; der Bauer mehr als der Kunstgärtner; der Zimmermeister höher als der Schreiner; der Zuckerbecker sitzt an der Thürschwelle dessen, der uns Brod knetet; der Schmidt steht über dem Goldarbeiter, und der Tuch- und Leinenweber weit über dem, der goldene Borten und seidene Stoffe würkt; der gute Mensch über dem witzigen, und der Arbeiter über dem Redner; so wie der Schuhmacher dem Tanzmeister vorgezogen wird. Er lächelte, und fragte sie: Wo ist denn Ihre Magd? Mein feiner Herr, ich habe gar keine, sondern nur eine Freundin, die mir einen Theil meiner täglichen Last tragen hilft, welcher ich noch dazu nur das leichteste aufbürde, indem ich jede Verantwortung und die Gefahr des Tadels und Schadens auf mich allein nehme. Er küßte ihre Hand: O Frau Grafe! wie viel Güte und Weisheit ist in Ihrem Muthwillen. Das lautete [348] schön, antwortete sie; aber möchten Sie wohl Ihre Caroline so gestimmt haben? Er war verlegen und sagte nur: Sie ist noch zu jung dazu. Und, erwiederte sie, es störte Ihre Oberherrschaft ein wenig, nicht wahr? Nun war ihr Muthwille böß. –

120. Brief
Hundert und zwanzigster Brief
Rosalia an Mariane S**.

Frau Grafe hat Wort gehalten. Sie stiftetete würklich eine recht artige Heurath zwischen unsern guten jungen Itten und der liebenswürdigen Meta Mooß, die mit van Guden hierher kam. Es war ganz besonders, daß wir alle nichts bemerkten, indem Meta selten aus dem Hause geht, und der junge Mann niemals zu van Guden kam, als mit Cleberg, wo er dann entweder mit uns in dem Gesellschaftssaal sich aufhielt, oder bey dem jungen Pindorf und seinem Lehrer Mooß auf der Stube war. Bey unsern kleinen Concerten sang Meta, und bey den Gesprächen war sie neben der kleinen Henriette oder mit den Ittenschen Töchtern [349] beschäftigt; aber nie hatte der junge Mensch eine besondere Unterredung mit dem lieben Mädchen gesucht. Frau Grafe aber behauptet, daß ihre ersten Vermuthungen aus dem Stillschweigen des jungen Itten, aus seinem starr vor sich Hinsehen gereizt wurden, der Ursache nachzuforschen; da habe sie nun auch bemerkt, daß Meta sich in acht nahm, den Herrn Itten anzublicken; und nach diesem sey die große Freundschaft von ihr zu den Schwestern, und von ihm für dem Bruder entstanden, woraus sie die ganze Geschichte des furchtsamen Liebhabers, und des edlen bescheidenen Mädchens errathen hätte. Der Verlöbnistag von Latten und Stiegen habe auf den guten Gesichtern der Meta und des Itten die geheimen Wünsche ihrer Herzen so deutlich gezeigt, daß sie mit der Frau Guden darüber gesprochen, und darauf durch ihren Mann für Itten die Amtmannsstelle zu Rebberg erhalten habe. Frau Guden statte ihre Meta als Tochter aus, und so wäre dieser Roman zu Ende gekommen, ehe irgend jemand an den Anfang gedachte. Mutter Guden habe auch Beobachtungen gemacht, und an Meta einen verdoppelten Fleiß, und Dankbezeugungen gefunden, die alle einer Bitte gleich gesehen hätten. Da nun [350] die Sache wegen des Beamtendienstes richtig war, so ging Frau Grafe zu van Guden, und erzählte ihr diese Neuigkeit mit einer umständlichen Beschreibung der Einkünfte, der artigen Wohnung, und der Freude, die sie fühle, dieser so schätzbaren Familie einen neuen Zusatz von Glück verschaft zu haben. Sie sprach eilig und abgebrochen, wie jemand, der nur geschwind weiter gehen will, und that nicht, als ob noch jemand anders im Zimmer wäre. – Die arme Meta saß da, hörte alles, schlürfte jedes Lob von des neuen Amtmanns Geist und Herzen, von den Tugenden der Familie, und auch von den vortheilhaften Umständen dieser Landstelle mit ein. Ihr Herz freute sich über alles, nahm Antheil an den Wohlergehen der Tugend. Wünsche und Furcht kamen auch an die Reihe. Sie schien lange von Ittens Liebe versichert; aber nun zweifelte sie. Er hatte noch nichts gesagt, und seine Aeltern würden auch wohl andre Absichten haben. – Diese Bilder tanzten auf ihrem Nähküssen umher, Thränen, die sie zu zerstreuen suchte, rollten in ihren Augen, die Stiche wurden ungleich, und sie hätte alles gegeben, wenn sie nur geschwind umgesehen aus dem Zimmer hätte kommen können. Die zwey Frauen stunden [351] in einem Fenster, und van Guden bemerkte währender Erzählung der Frau Grafe zwischen dem Fenstervorhang hindurch jede Bewegung der guten Meta. Frau Grafe ging, ohne sich setzen zu wollen, hinweg, und sagte noch: Jetzt will ich dem neuen Beamten auch um eine artige Frau sehen; und mit diesen Worten war sie zu der Thüre hinaus, Meta aber aus aller Fassung, denn nun weinte sie stark. Van Guden eilte zu ihr, und hielt sie am Arm, weil sie mit abgewandtem Kopf auch aus dem Zimmer schleichen wollte: Was fehlt dir, meine Tochter! warum weinest du? sagte sie ihr mit aller Liebe. Meta, betroffen und ängstlich, konnte ihr nichts anders antworten, als durch einen Thränenguß, und durch das Umschlingen eines Arms der van Guden, den das liebe Mädchen mit beyden Händen an ihre Brust drückte, und ihr Gesicht über die Hand ihrer mütterlichen Freundin beugte. Frau Guden wurde gerührt, und umfaßte ihre Meta mit Zärtlichkeit: Komm, meine Liebe! komm mit mir in mein Cabinet, sag mir da den Kummer deines Herzens, denn du mußt Kummer haben bey diesen Thränen. Glaube, mein Kind! was deine Mutter Guden thun kann, wird sie thun. Meta sträubte sich etwas, [352] sie wollte nicht in das Cabinet, hing sich aber an den Hals der van Guden, und ließ sich endlich von dieser wegführen. Als sie beysammen auf dem Sopha saßen wurde sie von der Guden auf das neue um die Ursache ihres Weinens gefragt. Nun sagte sie, daß die Nachricht von dem Glück der Ittenschen Familie sie so bewegt hätte. Van Guden küßte sie und sagte: Diese Thränen einer theilnehmenden Freude sind schön, meine Liebe! aber etwas zu stark, Liegt nicht auch ein Gedanke dabey, daß du einen deiner Brüder oder Schwestern eben so glücklich versorgt sehen möchtest? O nein! liebe Mutter! es ist gewiß kein Gedanke von Neid in mich gekommen. Das wäre auch kein Neid gewesen, meine Liebe, wenn du einem Bruder das nemliche Gute wünschtest, das der junge Itten erhielt. Mein älterer Bruder ist ja versorgt, und Wilhelm denkt an nichts. Es wäre mir leid, wenn die Ittens nicht in allem glücklich wären. Du bist mein edles gutes Mädchen; sey auch meine aufrichtige Tochter. Ich will dich was fragen. Nun zitterte und glühte das gute Geschöpf, und sah zur Erde, indem sie kaum Athem hohlte. Liebe Meta! hat der junge Itten dir nie mals von Liebe vorgesprochen? [353] Es dünkte mich oft, wenn du sangest, oder Henrietten bey einer Arbeit etwas lehrtest, auch, wenn du mit seinen Schwestern in Unterredung warest, daß seine Augen voll reiner Liebe und Verehrung auf dich geheftet waren. Ein lächelnder Zug von Vergnügen flog über Metas Gesicht, als van Guden dies sagte; doch antwortete sie: Ich habe ihn nicht oft angesehen. Das habe ich auch bemerkt, mein Kind! und es schiene mir, um aufrichtig mit dir zu sprechen, nicht ganz natürlich. Du bist sonst so freymüthig, so voll unschuldiger Offenherzigkeit – in deinen schönen Augen. Da kam nun wieder eine Anwandlung von Angst; aber sie sagte, van Gudens Hand küssend: Liebe Mutter! ich habe ihn deßwegen nicht oft angesehen, weil ich ein paar mal auch gedacht hatte, daß er mich zärtlich anblickte. Sie blieb auf van Gudens Hand liegen, die ihr liebreich sagte: Wäre dir denn die Liebe dieses tugendhaften Jünglings nicht angenehm gewesen? Leise und mit äusserster Bewegung sagte sie: O ja, es hätte mich schon gefreuet; aber – zu was hülfe es nun! Wie das? meine Liebe! es wäre jetzt besser als jemals, da er dir mit seinem Herzen zugleich seine Hand, und eine gute Erhaltung [354] anbieten könnte. Ein neuer Strohm von Thränen floß über ihre den Augenblick blaß werdende Wangen: Ach liebe Mutter! sprach sie, haben Sie denn nicht gehört, daß Frau Grafe sagte, sie wolle sich nun nach einer artigen Frau für Herrn Itten umsehen? und da er den Dienst durch sie erhielt, so ist ja billig, daß er ihr in allem folgt; sie giebt ihm gewiß ein artiges und auch ein reiches Frauenzimmer, und es wird sich keine lang bedenken, des Herrn Ittens Frau zu werden. – Frau Guden umarmte sie, lobte ihre Gesinnungen, und dankte ihr für die Eröfnung ihres Herzens: Meine Meta! nun habe ich die süsse Hofnung, eine der besten Familienvereinigung zu stiften: eine Tochter von Mooß, und ein Sohn der Ittens! nie ist mehr stille und wahre Tugend verbunden worden. Nun lag Meta vor ihr auf den Knieen, weinte und küßte van Gudens Hände: Ach Mutter! englische Mutter! sonst konnte sie nichts sagen. Indessen hatten wir auch eine Scene in unserm Hause, denn Frau Grafe kam von van Guden gerade mit einem glänzenden Gesicht voll guter Laune zu uns, und brachte das Fürstliche Decret für den jungen Itten auf Rehberg, und sagten mein Mann möge die Stelle, die er dem[355] jungen Menschen zugedacht habe, jemand anders geben. Das war nun eine herzliche Freude unter uns, besonders auch, da Cleberg den jungen Itten aufsuchte, umarmte, und zu unsern Glückwünschen in mein Zimmer brachte. Die innerliche Freude des jungen Mannes war ein anfangender Rausch, der die Sprache hemmt und die Füße wanken macht. Er bewegte uns ausserordentlich, indem er mit zusammengefalteten Händen ausrief, nach dem Hause seines Vaters hinübersehend: O meine lieben Eltern! was muß der Name von Cleberg für euch seyn! Einer von euren Kindern so glücklich, so sehr glücklich durch dies edle Haus. Nun ergriff er eine meiner Hände, und eine von Frau Grafe, und küßte sie: Ewigen Dank! ewigen Seegen! stammelte er, und schwankte. Cleberg umfaßte ihn, und sagte auch, auf unsern Erker weisend: Mein lieber Freund! Sie machen mir dieses Fenster recht lieb, weil ich da schwur, daß ich mir den Eingang in ihr Haus verschaffen wollte. – Frau Grafe blieb bey mir, während daß Cleberg mit dem jungen Mann am Arm zu den Ittens eilte, um das Glück anzukündigen. Er sagte: O keine Seligkeit der Erde kann dieser gleichen, welche gute Eltern bey dem Glück und [356] der Tugend ihrer Kinder empfinden. Es war heiliges Entzücken bey der Frau Itten, als sie ihren Sohn umarmte, und mit ihrem mütterlichen Segen zu seiner Stelle einweyhte. Ihr Dank gegen Frau Grafe und mich war Ergiessung der besten Gefühle der Menschheit. Mein Cleberg und mein Oheim waren äusserst gerührt, denn sie hatten bey weitem diese hohe Freude bey der Versorgung ihrer Töchter nicht geäussert.

Nun stimmte Frau Grafe wieder zu dem Muntern, und da sie mich von ihren Absichten unterrichtet hatte, so winkte sie dem Herrn Amtmann von Rehberg zu uns, und sagte ihm mit etwas ernstem Ton: er müsse sich nun auch bald nach einer guten artigen Frau umsehen. Er lächelte, erröthete; sagte aber ganz bescheiden: Er glaubte zuerst verbunden zu seyn, einen Beweis zu geben, daß er die Stelle verdiene, eh er es wage, eine ganze Haushaltung auf Rehberg zu führen. Ihre Bescheidenheit steht ganz schön; aber Sie denken doch, Herr Grafe mußte wissen, daß Sie der Mann für den Plan sind: und ich will jetzt für eine Frau dazu sorgen. Itten blieb staunend bey mir, sprach nichts, sah vor sich hin; nur auf einmal wandte er um und ging fort, kam aber [357] in einigen Augenblicken wieder, und gab mir ein Heft Papier, mit einer sehr bedenklichen Miene, und furchtsam sagte er: Sie hatten immer viele Güte für mich, lesen sie dieses Heft, und verhindern Sie um des Himmels willen jeden andern Vorschlag, oder – (stockend setzte er hinzu,) lassen sie mir das Amt wieder nehmen. Er entfernte sich ehrerbietig, und ging zu den Männern, ich aber in mein Schlafzimmer. Als ich unter der Thüre den jungen Itten noch einmal anblickte, machte er eine bittende Bewegung gegen mich, und ich wurde um so viel begieriger auf sein Papier: Da fand ich einen Auszug von van Gudens Briefen, die er für sie abschreiben mußte, und dieser Auszug betraf nur die Stellen, in denen van Guden von ihrer Meta Meldung thut, und immer war am Ende eines Absatzes ein Wunsch, daß er einmal diese Meta sehen möchte; oder ein Gebet für das Glück dieses herrlichen Mädchens. Bey dem Tag ihrer Ankunft mit van Guden steht die Beschreibung ihrer Gestalt und des Eindrucks, den sie auf ihn gemacht hatte: kurz, ein Tagebuch über alles, was er an ihr bemerkte, und was er fühlte. Sehnsucht nach Glück, um es mit ihr zu theilen. Der Vorsatz, niemals [358] zu reden, um die unschuldsvolle Ruhe des Engels nicht zu stöhren, jeder Blick, den sie ihm gegönnt, jedes Wort, jeder Ton ihres Gesangs, alles war angemerkt, Einmal hatte er die Hand ihres Bruders gefaßt, gerade in dem Augenblick, als Meta sie loßließ. Er fühlte noch die sanfte Wärme des Drucks der Schwesterliebe, und er war nur zu glücklich. – Ich weinte über dem Heft aus zärtlicher Bewegung, die das Bild dieser reinen Flamme eines tugendhaften Mannes mir gab. Ich freute mich über die Sicherheit seines Glücks, und kam wieder in die große Stube mit meinem Mantel: Itten blickte mich an, machte mir die Thüre auf, und ich sagte ihm nur: Ich geh zur Frau Guden; edler junger Mann, hoffen Sie alles. Ich brachte sein Heft zu van Guden, die mir den Auftrit mit ihrer Meta erzählte; und dem guten Mädchen das Tagebuch ihres Geliebten zum lesen brachte. Als wir dachten, daß sie fertig seyn könnte, ging van Guden zu ihr, und fand sie auf ihren Knien betend: Liebe Mutter, segnen Sie mich und meinen Itten. O wie glücklich bin ich, und, o mein Gott: ich will gut seyn mein ganzes Leben; sagte sie mit gefaltenen Händen. Van Guden hob sie aus, und sagte ihr, Frau[359] Grafe hätte an keine andre Frau gedacht als an sie, und spreche nun würklich mit Ittens Eltern darüber, welche den Abend mit uns bey ihr speisen würden. Der junge Mann wurde kurz darauf gerufen, und Frau Guden führte ihn selbst zur Meta, indem sie ihm sagte: Meine liebe Tochter und ich haben Ihr Heft gelesen. Meine Meta liebt Sie, und ich segne Euch beyde. Mit diesem schloß sie die Hände der zwey jungen Leute in ihre, küßte beyde, und kam zu mir. Bald darauf kam Itten, kniete nur einen Augenblick, und dankte van Guden und mir, eilte zu seinen Aeltern, um mit diesen zu sprechen, und Abends war Meta als seine Braut erklärt, die Frau Guden als ihre Tochter ausstattet.

Um 10 Uhr Abends.

Mariane! ich bin nicht wohl, vielleicht – doch ich habe noch einen schönen Abend gelebt, ich sah das Glück und die Freude guter Menschen, sah Hr. von Pindorfs Entzücken für seine Kinder und seine Freundin, denn er kam noch unvermuthet.

Mariane! ich bin Mutter, habe meinen Sohn in meinen Armen. Welch ein unaussprechliches Gefühl! ich lebe! O bete um Gesundheit und Tugend für mein Kind und mich.

Fußnoten

1 Sternheim, 1. Theil, S.

2 von Baur.

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TextGrid Repository (2012). La Roche, Sophie von. Romane. Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DADA-E