[295] Mein Vaterland

So schweigt der Jüngling lang,
Dem wenige Lenze verwelkten,
Und der dem silberhaarigen thatenumgebenen Greise,
Wie sehr er ihn liebe! das Flammenwort hinströmen will.
Ungestüm fährt er auf um Mitternacht,
Glühend ist seine Seele!
Die Flügel der Morgenröthe wehen, er eilt
Zu dem Greis', und saget es nicht.
So schwieg auch ich. Mit ihrem eisernen Arm
Winkte mir stets die strenge Bescheidenheit!
Die Flügel wehten, die Laute schimmerte,
Und begann von selber zu tönen, allein mir bebte die Hand.
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Ich halt es länger nicht aus! Ich muss die Laute nehmen,
Fliegen den kühnen Flug!
Reden, kann es nicht mehr verschweigen,
Was in der Seele mir glüht.
O schone mein! dir ist dein Haupt umkränzt
Mit tausendjährigem Ruhm! du hebst den Tritt der Unsterblichen,
Und gehest hoch vor vielen Landen her!
O schone mein! Ich liebe dich, mein Vaterland!
Ach sie sinkt mir, ich hab' es gewagt!
Es bebt mir die Hand die Saiten herunter;
Schone, schone! Wie wehet dein heiliger Kranz,
Wie gehst du den Gang der Unsterblichen daher.
Ich seh ein sanftes Lächeln,
Das schnell das Herz mir entlastet;
Ich sing es mit dankendem Freuderuf dem Wiederhall,
Dass dieses Lächeln mir ward!
Früh hab ich dir mich geweiht! Schon da mein Herz
Den ersten Schlag der Ehrbegierde schlug,
Erkohr ich, unter den Lanzen und Harnischen
Heinrich, deinen Befreyer, zu singen.
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Allein ich sah die höhere Bahn,
Und, entflamt von mehr, denn nur Ehrbegier,
Zog ich weit sie vor. Sie führet hinauf
Zu dem Vaterlande des Menschengeschlechts!
Noch geh ich sie, und wenn ich auf ihr
Des Sterblichen Bürden erliege;
So wend' ich mich seitwärts, und nehme des Barden Telyn,
Und sing, o Vaterland, dich dir!
Du pflanzetest dem, der denket, und ihm, der handelt!
Weit schattet, und kühl dein Hain,
Steht und spottet des Sturmes der Zeit,
Spottet der Büsch um sich her!
Wen scharfer Blick, und die tanzende glückliche Stunde führt,
Der bricht in deinem Schatten, kein Märchen sie,
Die Zauberruthe, die, nach dem helleren Golde,
Dem neuen Gedanken, zuckt.
Oft nahm deiner jungen Bäume das Reich an der Rhone,
Oft das Land an der Thems' in die dünneren Wälder.
Warum sollten sie nicht? Es schiessen ja bald
Andere Stämme dir auf!
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Und dann so gehörten sie ja dir an. Du sandtest
Deiner Krieger hin. Da klangen die Waffen! da ertönte
Schnell ihr Ausspruch: Die Gallier heissen Franken!
Engelländer die Britten!
Lauter noch liessest du die Waffen klingen. Die hohe Rom
Ward zum kriegerischen Stolz schon von der Wölfin gesäugt;
Lange war sie Welttyrannin! Du stürzetest,
Mein Vaterland, die hohe Rom in ihr Blut!
Nie war, gegen das Ausland,
Ein anderes Land gerecht, wie du!
Sey nicht allzugerecht. Sie denken nicht edel genung,
Zu sehen, wie schön dein Fehler ist!
Einfältiger Sitte bist du, und weise,
Bist ernstes tieferes Geistes. Kraft ist dein Wort,
Entscheidung dein Schwert. Doch wandelst du gern es in die Sichel, und triefst,
Wohl dir! von dem Blute nicht der andern Welten!
Mir winket ihr eiserner Arm! Ich schweige,
Bis etwa sie wieder schlummert;
Und sinne dem edlen schreckenden Gedanken nach,
Deiner werth zu seyn, mein Vaterland.

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TextGrid Repository (2012). Klopstock, Friedrich Gottlieb. Gedichte. Oden. Erster Band. Mein Vaterland. Mein Vaterland. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-B4EC-9