[257] Die Chöre

Goldener Traum, du, den ich nie nicht erfüllt seh,
Strahlengestalt, wie der Tag schön, wenn er aufwacht,
Kom du dennoch zurück, und schwebe
Mir vor dem trunkenen Blick!
Decken sie denn Kronen umsonst, dass des Traumes
Himlisches Bild sie ins Daseyn nicht verwandeln?
Soll ihr Marmor sie auch schon decken,
Wenn die Verwandlung geschieht?
Königessohn! Edelster! dir, ja die schönste
Leyer ertönt zu dem schönsten der Gesänge
Dir, der einst es vollführt! Dein warten
Ehren der Religion!
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Liess mich das Grab; säng ich von dir! Zu der schönsten
Leyer ertönt mein Gesang nicht; doch begeistert
Säng' ich! schöpft aus der Freude tiefsten
Strömen, Vollführer, dein Lob!
Gross ist dein Werk! jetzo mein Wunsch. O es weiss der
Nicht, was es ist, sich verlieren in der Wonne!
Wer die Religion, begleitet
Von der geweihten Musik,
Und von des Psalms heiligem Flug, nicht gefühlt hat
Sanft nicht gebebt, wenn die Schaaren in dem Tempel
Feyrend sangen! und, ward diess Meer still,
Chöre vom Himmel herab!
Täusche mich lang, seliger Traum! Ach ich höre
Christengesang! Welch ein Volkheer ist versammelt!
So sah Kephas vordem fünf Tausend
Jesus auf Einmal sich weihn.
Hört ihr? den Sohn singet sein Volk! mit des Herzens
Einfalt vereint sich die Einfalt des Gesanges!
Und mehr Hoheit, als alle Welt hat,
Hebt sie gen Himmel empor!
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Wonnegefühl hebt sie empor, und es fliessen
Thränen ins Lied! Denn die Kronen an dem Ziele
Strahlen ihnen! sie sehn um Sion
Palmen der Himlischen wehn!
Oben beginnt jetzo der Psalm, den die Chöre
Singen, Musik, als ob kunstlos aus der Seele
Schnell sie ströme! So leiten Meister
Sie, doch in Ufern, daher.
Kraftvoll, und tief dringt sie ins Herz! Sie verachtet
Alles, was uns bis zur Thräne nicht erhebet!
Was nicht füllet den Geist mit Schauer!
Oder mit himlischem Ernst.
Himlischer Ernst tönet herab mit des Festes
Hohem Gesang. Prophezeiung! und Erfüllung!
Wechseln Chöre, mit Chören. Gnade!
Singen sie dann, und Gericht!
Ach von des Sohns Liede beseelt, von der Heerschaar
Sions entflamt, wie erheben sie ihr Loblied!
Eine Stimme beginnet leise,
Eine der Harfen mit ihr.
[260]
Aber es tönt mächtiger bald in dem Chor fort!
Chöre sind nun in dem Strom schon des Gesanges!
Schon erzittert das Volk! schon glühet
Feuer des Himmels in ihm!
Wonne! das Volk hält sich noch kaum! Die Posaune
Donnerte schon! und itzt donnert sie von neuem!
Aller Chöre Triumph erscholl schon!
Schallt, dass der Tempel ihm bebt!
Länger nun nicht, länger nicht mehr! Die Gemeine
Sinket dahin, auf ihr Antlitz zum Altare,
Hell vom Kelche des Bundes! eilt, eilt!
Strömt in der Chöre Triumph!
Ruhet dereinst dort mein Gebein, an der Tempel
Einem mein Staub, wo der Chorpsalm den Gemeinen
Tönt; so bebet mein Grab, und lichter
Blühet die Blume darauf,
Wenn, an dem Tag', als aus dem Fels der Entschlafne
Strahlte, der Preis in dem Jubel sich ihm nachschwingt!
Denn ich hör' es, und: Auferstehung!
Lispelt ein Laut aus der Gruft.

Notes
Entstanden 1767. Erstdruck in: Oden und Elegien, Darmstadt 1771 (anonym).
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Klopstock, Friedrich Gottlieb. Die Chöre. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-B31A-9