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Tief im Gehirne brennt mich diese Stille!
Wenn ich verzweifelnd einen Augenblick
Geruht, wie mir befahl mein schwacher Wille,
So kehrt die Angst verdoppelt mir zurück.
Und vor den Augen stets die schwarze Hülle,
Sie tun mir weh, so offen starren sie.
Wie brennt mich im Gehirne diese Stille –
Ihr Nachbarn! schreit ihr denn im Schlafe nie?
Horch – endlich zittert es an meine Bretter!
Was für ein geisterhaft metallner Klang,
Was ist das für ein unterirdisch Wetter,
Das mir erschütternd in die Ohren drang?
Jach unterbrach es meine bangen Klagen,
Ich fuhr zusammen, still, fast hoffnungsvoll –
Eilf – zwölf – wahrhaftig, es hat zwölf geschlagen,
Das war die Turmuhr, die soeben scholl.
Die große Glocke ist's im hohen Stuhle,
Die klingt ins tiefste Fundament herab,
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Bahnt sich den Weg in diesem Leichenpfuhle
Und singt ihr Lied in mein verlaßnes Grab.
Das ist gewiß, gesteh's nur, armer Racker!
Wohl so poetisch, wie wenn vordem ich
Am Mittag oft vom fernen Frühlingsacker
Bei diesem Klang vergnügt nach Hause schlich.
Gewiß sind jetzt die Dächer warm beschienen
Vom sonn'gen Lenz, vom jungen Ätherblau;
Nun kräuselt sich der Rauch aus den Kaminen,
Die Leute lockend von der grünen Au.
Was höhnst du mich, o Glockenton, im Grabe
Und mehrest meine namenlose Qual?
Entdeckst mir plötzlich, daß ich Hunger habe
Und nicht kann hin zum ärmlich stillen Mahl?
Ich hab mein Teil gehungert doch dort oben,
Und nun im Grabe wieder hungert's mich –:
Ist dieser Stern aus Hunger denn gewoben,
Und mehrt der Hunger mit der Tiefe sich?
Halt aus, mein Herz! wir müssen ihn bezwingen,
Es ist ein feiger, schmählich gift'ger Feind!
Auf dem Geworfnen laß uns grimmig ringen
Mit andern, die sich gegen uns vereint!

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. 9. [Tief im Gehirne brennt mich diese Stille!]. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9D59-B