Poetentod

Der Herbstwind rauscht; der Dichter liegt im Sterben,
Die Blätterschatten fallen an der Wand;
An seinem Lager knien die zarten Erben,
Des Weibes Stirn ruht heiß auf seiner Hand.
Mit dunklem Purpurwein, darin ertrunken
Der letzten Sonne Strahl, netzt er den Mund;
Dann wieder rückwärts auf den Pfühl gesunken,
Tut er den letzten Willen also kund:
»Die ich aus luft'gen Klängen aufgerichtet,
Vorbei ist dieses Hauses Herrlichkeit;
Ich habe ausgelebt und ausgedichtet
Mein Tagewerk und meine Erdenzeit.
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Das keck und sicher seine Welt regierte,
Es bricht mein Herz, mit ihm das Königshaus;
Der Hungerschlucker, der die Tafel zierte:
Der Ruhm, er flattert mit den Schwalben aus.
So löschet meines Herdes Weihrauchflamme
Und zündet wieder schlechte Kohlen an,
Wie's Sitte war bei meiner Väter Stamme,
Vor ich den Schritt auf dieses Rund getan!
Und was den Herd bescheidnen Schmuckes kränzte,
Was sich an alter Weisheit um ihn fand,
In Weihgefäßen auf Gesimsen glänzte,
Streut in den Wind, gebt in der Juden Hand:
Daß meines Sinnes unbekannter Erbe
Mit find'ger Hand, vielleicht im Schülerkleid,
Auf offnem Markte ahnungsvoll erwerbe
Die Heilkraft wider der Vernachtung Leid.
Werft jenen Wust verblichner Schrift ins Feuer,
Der Staub der Werkstatt mag zugrunde gehn!
Im Reich der Kunst, wo Raum und Licht so teuer,
Soll nicht der Schutt dem Werk im Wege stehn!
Dann laßt des Gartens Zierde niedermähen,
Weil unfruchtbar; die Lauben brechet ab!
Zwei junge Rosenbäumchen lasset stehen
Für mein und meiner lieben Frauen Grab!
Mein Lied mag auf des Volkes Wegen klingen,
Wo seine Banner von den Türmen wehn;
Doch ungekannt, mit mühsalschwerem Ringen
Wird meine Sippschaft dran vorübergehn!«
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Noch überläuft sein Angesicht, das reine,
Mit einem Strahl das sinkende Gestirn;
So glüht' noch eben in dem Purpurscheine,
Nun starret kalt und weiß des Berges Firn.
Und wie durch Alpendämmerung das Rauschen
Von eines späten Adlers Schwingen webt,
Ist in der Todesstille zu erlauschen,
Wie eine Geisterschar von hinnen schwebt.
Sie ziehen aus, des Schweigenden Penaten,
In faltige Gewande tief verhüllt;
Sie gehn, die an der Wiege einst beraten,
Was als Geschick sein Leben hat erfüllt:
Voran, gesenkten Blicks, das Leid der Erde,
Verschlungen mit der Freude Traumgestalt,
Die Phantasie und endlich ihr Gefährte,
Der Witz, mit leerem Becher, still und kalt.

Notes
Aus der Sammlung »Gedichte« (1846).
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. Poetentod. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9B9D-3