[304] Die Thronfolger

Hoffnungsblumen, Morgenröten,
Die am dunkeln Himmel blühn!
Und das Volk in seinen Nöten
Schaut erwartungsvoll das Glühn;
Harrt in Demut auf die Sonne,
Die da auferstehen soll,
Und von beßrer Zeiten Wonne
Wird sein leerer Becher voll.
Horch! was flüstern diese Massen,
Und was reitet vom Palast
Schwarz ein Herold durch die Gassen,
Rufend mit gedämpfter Hast?
Hört! der König ist gestorben,
Tot der alte Eigensinn!
Hat der Sohn das Reich erworben,
Ist auch unsre Not dahin!
Bald verhallt der dumpfe Klang von
Trauerglocken weit herum;
Festdrommeten harren lang schon
Und das treue Publikum:
Heil dem Prinz, der sich gebildet
Lang mit Männern weis und alt!
Heil uns selbst! wir sind geschildet
Gegen Willkür und Gewalt!
Morgenjubel ist verklungen,
Wetter hielt sich leidlich gut,
Und die Alten nebst den Jungen
Schlendern heimwärts wohlgemut.
[305]
Sieh, da tröpfelt's auf die Nase –
Spute sich, wer laufen mag!
Und dem kurzen Morgenspaße
Folgt ein langer Regentag.

Notes
Aus der Sammlung »Gedichte« (1846), dort unter dem Titel »Kronprinzen«.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. Die Thronfolger. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9ACC-1