An Justinus Kerner

Erwiderung auf sein Lied »Unter dem Himmel«


Morgenblatt 1845


Laßt mich in Gras und Blumen liegen
Und schaun dem blauen Himmel zu,
Wie goldne Wolken ihn durchfliegen,
In ihm ein Falke kreist in Ruh.
Die blaue Stille stört dort oben
Kein Dampfer und kein Segelschiff,
Nicht Menschentritt, nicht Pferdetoben,
Nicht des Dampfwagens wilder Pfiff.
[387]
Laßt satt mich schaun in diese Klarheit,
In diesen stillen, sel'gen Raum:
Denn bald könnt werden ja zur Wahrheit
Das Fliegen, der unsel'ge Traum.
Dann flieht der Vogel aus den Lüften,
Wie aus dem Rhein der Salmen schon,
Und wo einst singend Lerchen schifften,
Schifft grämlich stumm Britannias Sohn.
Schau ich zum Himmel, zu gewahren,
Warum's so plötzlich dunkel sei,
Erblick ich einen Zug von Waren,
Der an der Sonne schifft vorbei.
Fühl Regen ich beim Sonnenscheine,
Such nach dem Regenbogen keck,
Ist es nicht Wasser, wie ich meine,
Wurd in der Luft ein Ölfaß leck.
Satt laßt mich schaun vom Erdgetümmel
Zum Himmel, eh es ist zu spät,
Wann, wie vom Erdball, so vom Himmel
Die Poesie still trauernd geht.
Verzeiht dies Lied des Dichters Grolle,
Träumt er von solchem Himmelsgraus,
Er, den die Zeit, die dampfestolle,
Schließt von der Erde lieblos aus.

Justinus Kerner

[Dein Lied ist rührend, edler Sänger]

Dein Lied ist rührend, edler Sänger,
Doch zürne dem Genossen nicht,
Wird ihm darob das Herz nicht bänger,
Das, dir erwidernd, also spricht:
[388]
Die Poesie ist angeboren,
Und sie erkennt kein Dort und Hier;
Ja, ging' die Seele mir verloren,
Sie führ zur Hölle selbst mit mir.
Inzwischen sieht's auf dieser Erde
Noch lange nicht so graulich aus,
Und manchmal scheint mir, daß das: Werde!
Ertön' erst recht dem »Dichterhaus«.
Schon schafft der Geist sich Sturmesschwingen
Und spannt Eliaswagen an:
Willst träumend du im Grase singen,
Wer hindert dich, Poet, daran?
Ich grüße dich im Schäferkleide,
Herfahrend, – doch mein Feuerdrach'
Trägt mich vorbei, die dunkle Heide
Und deine Geister schaun uns nach.
Was deine alten Pergamente
Von tollem Zauber kund dir tun,
Das seh ich durch die Elemente
In Geistes Dienst verwirklicht nun.
Ich seh sie keuchend glühn und sprühen,
Stahlschimmernd bauen Land und Stadt,
Indes das Menschenkind zu blühen
Und singen wieder Muße hat.
Und wenn vielleicht in hundert Jahren
Ein Luftschiff hoch mit Griechenwein
Durchs Morgenrot käm hergefahren –
Wer möchte da nicht Fährmann sein?
[389]
Dann bög ich mich, ein sel'ger Zecher,
Wohl über Bord, von Kränzen schwer,
Und gösse langsam meinen Becher
Hinab in das verlaßne Meer.

Lizenz
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link zur Lizenz

Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. An Justinus Kerner. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9AB9-B