[312] Am Sarg eines neunzigjährigen Landmanns vom Zürichsee

1846


So bist du eine Leiche!
So ist die alte Eiche
Doch endlich abgedorrt!
Es ist ein lang Stück Leben,
Das wir dem Staube geben,
Ein ausgeklungen Gotteswort.
Da wir vor zwanzig Jahren
Als Kinder um dich waren,
Standst du schon silberweiß:
Und noch ein Jünglingsleben,
Ein zwanzigjähriges eben,
Trankst du begierig, durst'ger Greis!
Des Mittelalters Schwingen
Mit letztem bebendem Klingen
Umfachten die Wiege dir:
Jetzt, voll von Sturmesahnen,
Umrauschen die dunklen Fahnen
Der neuen Welt dein Bahrtuch hier.
Darin wir uns vertieften,
Die aberhundert Schriften,
Was uns erfüllt die Brust:
Das zog dir all vorüber,
Dämmernd heran, hinüber,
Du aber hast es nicht gewußt.
[313]
In jenen fernen Tagen
– Ich hör die Finken schlagen –,
Als durch den grünen Wald
Herr Geßner las im Brockes:
Ins Herz des Eichenstockes
Hat deiner Jugend Axt geschallt.
Hast du dem deutschen Sänger,
Dem edlen Schlittschuhgänger,
Den Stahlschuh hier gereicht?
Du hast vor fünfzig Jahren
Den See hinauf gefahren
Den fünfzigjährigen Goethe vielleicht.
Vorüber deiner Leiche
Flieht heut der zornesbleiche
Poet den See entlang;
Verschwunden sind die Spuren,
Wo heitre Dichter fuhren,
Und anders tönt des Flüchtlings Sang!
Die Scherben stolzer Kronen,
Zwei Revolutionen,
Die haben dich umklirrt;
Erdbeben und Kometen,
Sturmglocken und Schlachtdrommeten
Sind deiner Stirn vorbeigeschwirrt.
Der unsre Welt gewendet
Wie seine Hand, geendet
Im Meere still und fern,
Mit seinem ehrnen Tritte
Fiel just er in die Mitte
Des Lebens dir, ein irrer Stern.
[314]
Du sahst auf deinem Felde
Erstaunt die fremden Zelte,
Die Flucht durch Saatengrün
Und, als sie abgezogen,
Zum alten Sternenbogen
Der Väter Haus in Flammen sprühn.
Doch alles ist in trüben
Gebilden dir fremd geblieben,
Ein Rätsel dir und Traum;
Auch die vorüberjagten,
Sowenig nach dir fragten
Als dort nach deinem Apfelbaum.
Doch in dir hell erglühte
Das Urlicht und erblühte
Ein grünes Urwaldreis;
Oft sah ich dein Auge scheinen,
Als ob's in heiligen Hainen
Noch ruht' auf der Runensteine Kreis.
Du hast den Stier gezwungen,
Du hast das Beil geschwungen,
Daß Birk und Föhre fiel;
Wer diese harte Erde
Mit eiserner Pflugschar kehrte,
Erlernt' auch leicht des Krieges Spiel.
Es schliefen geheime Sagen
Von grauen Heidentagen
Auf deines Gemütes Grund;
Du sangst noch hin und wieder
Verschollne Schwänk und Lieder –
Freund Uhland wohl ein guter Fund!
[315]
Vom Weltend die vier Winde
Durch deiner Heimat Gründe
Sahst wallen du und wehn;
Doch jener nahen Firnen,
Die ragen zu den Gestirnen,
Hast selber den Fuß du nie gesehn.
Und dennoch ist's das echte,
Das bleibende Volk, das rechte,
Das auf der Scholl erblaßt,
Auf der es ward geboren!
Das Schifflein geht verloren,
Des Anker diesen Grund nicht faßt.
Propheten, lernt euch neigen!
Nicht auf zu euch soll steigen
Der Kronen kalte Pracht:
Hernieder laßt uns dringen,
Demütigen Herzens bringen
Licht in der engsten Hütte Nacht!

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. Gedichte. Gesammelte Gedichte. Vermischte Gedichte. Am Sarg eines neunzigjährigen Landmanns vom Zürichsee. Am Sarg eines neunzigjährigen Landmanns vom Zürichsee. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9894-F