[35] Herbst

1

Im Herbst, wenn sich der Wald entlaubt,
Nachdenklich wird und schweigend,
Mit Reif bestreut sein dunkles Haupt,
Fromm sich dem Sturme neigend:
Da geht das Dichterjahr zu End,
Da wird mir ernst zu Mute;
Im Herbst nehm ich das Sakrament
In jungem Traubenblute.
Da bin ich stets beim Abendrot
Allein im Feld zu finden,
Da denk ich fleißig an den Tod
Und auch an meine Sünden!
Ich richte mir den Beichtstuhl ein
Auf ödem Heideplatze,
Der Mond, er muß mein Pfaffe sein
Mit seiner Silberglatze.
Und wenn er grämlich zögern will,
Der Last mich zu entheben,
Dann ruf ich: »Alter, schweige still!
Es ist mir schon vergeben!
Ich habe heimlich mit dem Tod
Ein Wörtlein schon gesprochen!«
Dann wird mein Pfaff vor Ärger rot
Und hat sich bald verkrochen.

[36] 2

Im Herbst erblichen liegt das Land,
Und durch den dichten Nebel bricht
Der blasse Strahl von Waldes Rand,
Den Mond doch sieht man selber nicht.
Man weiß nicht, was die Helle macht,
So duftig weiß und doch nicht klar –
Die Freiheit wandelt durch die Nacht
Mit wallend aufgelöstem Haar!
Und wandelnd horcht sie still und lauscht,
Die bleiche, hohe Königin,
Und ihre Purpurschleppe rauscht
Leis über dunkle Gräber hin.
Sie hat gar eine reiche Saat
Verborgen in der Erde Schoß:
Sie späht, ob die und jene Tat
Nicht schon in grüne Halme sproß.
Sie drückt ein Schwert an ihre Brust
– Es blinkt im weißen Dämmerlicht –
Und bricht mit wehmutvoller Lust
Manch blutiges Vergißmeinnicht.
Es ist auf Erden keine Stadt,
Es ist kein Dorf, des stille Hut
Nicht einen alten Kirchhof hat,
Drin ein Märtyr der Freiheit ruht!

[37] 3

Sonntagsjäger

Es lässet sich mit aller Kraft
Ein Horn im Walde hören;
Ich krieg ein altes Rohr beim Schaft
Und schlendre in die Föhren!
Der Wald, der macht mir vielen Spaß,
Er flunkert in der Sonnen;
Der Reif, der hat wie Jungfernglas
Die Nadeln übersponnen!
Da hüpft ein junger Has daher
Und spielt vor mir im Grase,
Ich brenne wie von ungefähr
Mein Schrot ihm auf die Nase!
Es ist, als schrie er: »Gott vergelt's!«
Mit kläglicher Gebärde;
Sein rotes Blütlein färbt den Pelz
Und macht sich in die Erde!
Was stierst du so, du Heidekind,
Im Sterben immer dümmer?
Ich bin halt, wie die andern sind,
Nicht besser und nicht schlimmer!
Und als das Häslein überschnappt,
Hab ich es heimgetragen;
Doch hab ich schon genug gehabt
Von Weidmanns Heil und Jagen!

[38] 4

Wo ist der schöne Blumenflor,
Den wir so treu gehegt?
Vom Hoffen und vom Grünen sind
Herz, Garten reingefegt!
Und wie in einer Nacht ergraut
Ein unglückselig Haupt,
Hat sich heut nacht mein Vaterland
Geschüttelt und entlaubt.
Der Rhein entführt ins Niederland
Die welke Sommerlust,
Läßt kahl und fahl die Felder uns,
Den Frost in unsrer Brust;
Die Silberfirnen hüllen sich
In dunkle Nebel ein,
Doch bald wird jeder Kehricht nun
Ein blanker Schneeberg sein!
Und alles wird so klein, so nah,
So dumpf und eingezwängt,
Wie drückend dicht ob unsrem Haupt
Der graue Himmel hängt!
Auf jedem Kreuzweg sitzt ein Feind –
Es ist ein harter Stand:
Mit Schurken atmen gleiche Luft
Im engen Vaterland!

[39] 5

Es ist ein stiller Regentag,
So weich, so ernst – und doch so klar,
Wo durch den Dämmer brechen mag
Die Sonne weiß und sonderbar.
Ein wunderliches Zwielicht spielt
Beschaulich über Berg und Tal,
Und die Natur, lind abgekühlt,
Sie weint und lächelt allzumal!
Wie ein Kristall, von Flor umhängt,
Erglänzt geheimnisvoll die Luft,
Der Tag glimmt spärlich und bedrängt,
Wie Lampenschein in einer Gruft.
Die Hoffnung, das Verlorensein
Sind gleicher Stärke in mir wach;
Das Leben und die Todespein,
Sie ziehn auf meinem Herzen Schach.
Ich aber schaue innerlich
Still lächelnd zu in guter Ruh,
Und meine Seele rüstet sich
Ergebend ihrem Schicksal zu.

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TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. Herbst. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9824-9