Hans Kaltneker
Die Opferung
Eine Tragödie in vier Akten

[Motto]

Wir werden nicht geboren, um zu sterben, wir sterben, um geboren zu werden.

Personen

[53] Personen.

    • Der Prinz.

    • Die Sängerin.

    • Die Dame.

    • Der Graf.

    • Der Millionärssohn.

    • Der Dichter.

    • Der Komponist.

    • Einige Damen.

    • Einige Herren, darunter Bridgespieler.

    • Livrierte Diener.

    • Der Landesgerichtspräsident.

    • Der Staatsanwalt.

    • Der Verteidiger.

    • Der Gefängnisdirektor.

    • Der Gefängnisarzt.

    • Der Gefängnisgeistliche.

    • Ein Psychiater.

    • Zwei Votanten und sonstige Justizfunktionäre.

    • Ein älterer und ein jüngerer Rechtsanwalt.

    • Der Obmann der Geschworenen und einige Geschworene.

    • Einige unbeteiligte Zuseher mit Legitimationen.

    • Zwei Aufseher und mehrere Schutzleute.

    • Der Herr im Frack und seine beiden Gehilfen.

    • Der Delinquent.

    • Der Bruder.

    • Chorus damnatorum.

1. Akt

Erster Akt

In einem reichen, schönen Hause vollständig wirkliches Interieur, nicht stilisiert.
Eine Reihe von Räumen. Die Szene selbst ist ein Salon. Goldrot. Brokatbespannung. Möbel schwer, dunkel und festlich. Rechts große offene Eingangstüre aus der Halle, links Tür ins Musikzimmer. Dämpfende Portieren. Im Hintergrund große offene Bogentür in einen zweiten Salon, der seinerseits in das weiße, strahlende Speisezimmer durchblicken läßt. Zurückschiebbare Glastüren.
Festlich gekleidete Menschen sitzen an der Tafel. Sie essen Früchte zum Dessert, trinken Sherry und reden zueinander. Die Glastüren lassen keinen Laut durch. Man sieht nur heitere, bewegte Gesten.
Diener kommen (in einfacher, dunkler Livree), öffnen Spieltische zum Bridge, legen Kartenpakete zurecht, stellen Liköre und Tassen schwarzen Kaffee auf einen Tisch und rücken Fauteuils. Dann wird die Glastüre zum Speisezimmer zurückgeschoben. Die Menschen an der Tafel erheben sich und kommen in die Salons. Worte fliegen auf, Konversation wird gemacht, einzelne Sätze werden vernehmlich. Gruppen bilden sich.

DIE DAME DES HAUSES
schön, ganz leicht ergraut, warm, menschlich.

Zu irgendeinem der Gäste. Sie spielen natürlich Bridge, Herr Oberst? Wieviel Partien haben wir? Drei? Oh, und ein Partner fehlt? Aber nein! Zum Staatsanwalt. Herr Staatsanwalt, Sie spielen nicht?

DER STAATSANWALT
zögernd.
Ich weiß nicht, Gnädigste. Ich glaube, ich werde heute nicht den richtigen Kopf – –
[55]
EIN ANDERER HERR
enragierter Bridgespieler, bei einem Tisch im Hintergrund.

Aber lieber Freund, es ist theoretisch unmöglich, daß du heute schlechter spielen solltest als sonst. Wir brauchen dich leider unbedingt.

DER STAATSANWALT
geht zum Spieltisch.
Ja, also – vielleicht versuchen wir einen Rubber.
DER ANDERE HERR
zu einem dritten.

Er sagt nämlich prinzipiell Sans-Atout an, wenn der Gegner alle Asse hat. Bitte, du mischst. Man müßte dagegen einen eigenen Paragraphen im Strafgesetzbuch – –

DER STAATSANWALT
mischt.
Bitte, bitte – Berufssachen ganz aus dem Spiel –
DIE DAME DES HAUSES.

Also alle versorgt. Zu dem Grafen, der unbestimmbaren Alters ist und sich etwas gesucht altmodisch kleidet. Sie erwarten sie? Sie kommt bestimmt. Sie hat es mir noch am Nachmittag telephonisch versprochen.

DER GRAF
sieht auf die Uhr, die alt und von schwerem Gold ist.
Mir auch. Aber nach »Manon«. Übrigens kann die Oper erst in einer Viertelstunde zu Ende sein.
DIE DAME.
Wie kommt es, daß Sie nicht in der Oper sind?
[56]
DER GRAF.
Ich darf sie jetzt nicht mehr hören. Ich mußte es ihr versprechen.
DER MILLIONÄRSSOHN
nicht taktlos, im Gegenteil sehr bescheiden, doch mit der Selbstverständlichkeit, mit der alle von ihr sprechen.
Ich durfte immer in die Oper gehen – damals.
DER GRAF
lächelnd.
Sie sind wahrscheinlich sehr musikalisch, lieber Freund.
DER MILLIONÄRSSOHN
etwas traurig.
Ja, leider.
DIE DAME
läßt sich in einem Fauteuil, Vordergrund links, nieder.

Das ist interessant Erklären Sie mir das. Ich selbst verstehe auch ein wenig von Musik. Aber ich glaube doch, sie singt so, daß sie gerade einen Menschen, dessen innerster Brennpunkt so ganz Musik ist wie bei Ihnen, Graf, nicht zu scheuen hätte, im Gegenteil, eher brauchte. – –

DER GRAF.

Ehrlich gestanden, hoffte ich es auch. Erblickte eine Basis darin. Aber jetzt verstehe ich sie vollkommen. Sie kann mir einfach nicht alles geben. Draußen zwischen sieben und zehn Uhr singt ihr Unsterbliches. Ich habe keinen Teil daran. Ich wäre dessen auch kaum würdig.

[57]
DIE DAME
nachdenklich.
Ja, etwas dergleichen wird es wohl sein. Sie lieben sie sehr, um das zu erkennen?
DER GRAF.
Sprechen Sie selbst: Leben wir nicht alle in ihr?
DER DICHTER
ist dazugetreten.

Ja, sie ist etwas, das in unser Leben getreten ist wie der Tod. Nach ihr ist nichts mehr, aber in ihr haben wir alles erkannt.

DER MILLIONÄRSSOHN
geht traurig.
Ich habe nichts erkannt, aber nach ihr ist wirklich nichts mehr.
DIE DAME
sieht ihm nach.
Er leidet sehr?
DER DICHTER.
Es ist anzunehmen. Ich leide nichts. Ich finde, man kann nach dem Tode nichts mehr leiden.
DER GRAF.
Sie sind zu literarisch. Die Möglichkeiten des Leidens sind ziemlich unbegrenzt.
DER DICHTER.

Vielleicht haben Sie recht. Und doch ist heute jemand unter uns, dem ich es zutraue, nie gelitten zu haben.

[58]
DIE DAME
lebhaft.
Sie meinen den Prinzen?
DER GRAF.

Ach ja, ihn. Sie müssen mir mehr von ihm erzählen. Er ist so jung und scheint so tief ruhig. Er hat eine Art, Banalitäten auszusprechen, wie jemand Öl auf das Wasser zu gießen vermag, um ruhige See um sich zu schaffen.

DIE DAME.
Doch glaube ich nicht, daß er selbst banal ist. Sein äußeres Erleben war nicht so geartet.
DER GRAF.
Seine Mutter war die schönste Frau der Welt.
DER DICHTER.
Vor der Morena oder nach ihr?
DER GRAF
zögernd.

Ich weiß nicht. Anders, aber keineswegs geringer. Denken Sie einen griechischen Tempel, über dem die Sonne aufgeht. Aber einen, in dem kein Gott wohnt.

DER DICHTER.
Auch kein unbekannter, unsichtbarer?
DER GRAF.
Leer.
DER DICHTER.
Vielleicht geriet der Sohn dann nach ihr?
[59]
DIE DAME.
Ich glaube, Sie urteilen über beide falsch. Übrigens soll sie eines seltsamen Todes gestorben sein.
DER GRAF.

Ich hörte auch davon reden. Aber man hat zeitlebens so viel Legenden um sie gesponnen. Sie wissen Näheres?

DIE DAME.

Er erzählt, sie sei in einer Nacht vom Schiffe verschwunden. Auf hoher See. Einfach ein Unglücksfall. Andere wollen wissen, sie sei in einer Matrosenkneipe in Buenos Aires erschlagen worden.

DER DICHTER.

Oh, nun bin ich erst im Bilde. Das ist die mythische Fürstin, die fünf Jahre lang auf ihrer weißen Yacht die Meere durchkreuzte? Und nur nachts ans Land ging? Und verschleiert? Und an seltsame Orte?

DIE DAME.
Man spricht viel. – Jedenfalls – er war die ganze Zeit mit ihr.
DER DICHTER.
Aber er kann doch kaum die Zwanzig überschritten haben.
DIE DAME.

Ich sagte Ihnen ja, sein äußeres Leben verlief ungewöhnlich. Wie weit sein Inneres daran teilnahm, weiß ich nicht. Ich sehe ihn heute zum zweiten Male. Als ich von seiner Ankunft hörte, habe ich [60] ihn gleich aufgesucht. Seine Mutter war eine Freundin – nein, das kann ich kaum sagen – eine Verwandte von mir.

DER DICHTER.
Darf man fragen, wieso er hierher kam? Wir liegen doch eigentlich ziemlich kontinental.
DIE DAME.
Die weiße Yacht ist untergegangen.
DER DICHTER.
Ach –!
DIE DAME.

Ein paar Monate nach dem Tode seiner Mutter. Er hat sich – glaube ich – nur mit Mühe gerettet. Allein. Und schließlich ist er ja hier zu Hause.

DER GRAF.
Kennen Sie nicht das Palais in der Gutenbrunnstraße, das seinen Namen trägt?
DER DICHTER.

Ach so, das gehört ihm? Ja, da würde ich selbst ganz gerne scheitern. Also Romantik. Strandung in einem Barockpalais. Ich hätte ihm das gar nicht zugetraut. Mir fiel nur das vollkommen Unberührte seines Gesichtes auf. Er hat die Maske eines Gottes.

DIE DAME.

Ja, nicht wahr? Sie sieht ihn versunken näherkommen. Ein Gesicht wie ein Spiegel, der kein Bild zurückwirft.

[61]
DER GRAF
sehr zart lächelnd.
Wenn er das Ihre empfinge?
DIE DAME.
Sie spotten, mein Freund? Bin ich schön?
DER GRAF
mit sehr altmodischer Galanterie.
Sollte ich heute abend das erstemal vergessen haben, Ihnen das zu sagen?
DIE DAME.
Vielleicht, weil Sie zu oft auf die Uhr sehen – –
EIN BRIDGESPIELER
vom Tische rückwärts.
Die drei Coeurs kontriere ich.
DER PARTNER DES STAATSANWALTES.

Natürlich kontriert er. Na, lieber Freund, da hast du uns hübsch hineingeritten. Ich habe doch unaufhörlich gepaßt. Mit geradezu tragischem Ausdruck.

DER STAATSANWALT.
Ich habe dir ja schon gesagt, ich bin heute – Übrigens machen wir sie ja.
DER PARTNER.
So? Tant mieux. Legt auf. Ich bin natürlich in Coeur chicane.
ZWEI DAMEN UND DER KOMPONIST
jung, häßlich, nervös.
DIE EINE DAME.
Warum spielen Sie nicht, Meister?
[62]
DER KOMPONIST
sich umblickend.
Ich glaube, man wartet noch – – –
DIE ANDERE DAME
zum Grafen.
Oh, auf die Morena. Sind wir ganz unwürdig, den César Franck von Ihnen zu hören?
DER KOMPONIST.

Aber bitte, gnädige Frau – –! Übrigens weiß ich nicht, ob ich heute den César Franck vorspielen werde. Ich werde vielleicht etwas Eigenes – –

DIE ERSTE DAME.
Oh, etwas Neues! Ist es schön?
DER KOMPONIST.
Ja.

Ins Musikzimmer, doch wird nicht gespielt.
DER PRINZ
ist hinter der Gruppe erschienen und tritt auf die Dame des Hauses zu.

Er ist klein, sehr schlank, sehr zart. Seine tiefschwarzen Haare sind fest anliegend, aus der Stirn gekämmt. Sein Gesicht ist merkwürdig elfenbeingelb und von maskenhafter Ruhe. Seine ganze Erscheinung fast etwas zu sehr soigniert. Der Jüngling aus dem Quattrocento drüben in der Botticelli-Manier – wissen Sie, daß es ihn noch einmal gibt?

DIE DAME.

Nein, ich wußte es nicht Zum Grafen. Denken Sie, lieber Freund, der Jünglingskopf mit dem Barett, den Sie mir aus Ferrara brachten – Secundus behauptet, daß noch eine Kopie von ihm existiert.

[63]
DER PRINZ.

Nein, wahrscheinlich das Original. Ein sehr reicher Pflanzer in Florida besitzt es. Auf der Rückseite der Tafel steht dort die Legende, soviel ich mich erinnern kann: »Antonio Pisanelli ultimo die ante mortem se ipsum pinxit.« Er malte sich am letzten Tag vor seinem Tode. Wahrscheinlich hat er Selbstmord begangen, da er es so genau wußte, und ein Schüler oder Freund hat den Kopf später kopiert.

DER DICHTER
skeptisch.
Oder er hat es sich überlegt und später den Kopf auf Auftrag wiederholt.
DER PRINZ
etwas erstaunt.
Ja, das ist auch möglich. Schade.
DER GRAF.
Sie hatten wohl viel Gelegenheit, Bilder zu studieren auf Ihren Reisen?
DER PRINZ
fast lebhaft.

Oh, ich verstehe gar nichts von europäischer Kunst. Ich sagte Ihnen ja, ich sah das Bild zufällig bei einem Plantagenbesitzer in Florida und –

DER DICHTER.
Sie sagten »europäisch« fast etwas wegwerfend. Sie haben sich wohl mehr mit exotischer Kunst befaßt?
[64]
DER PRINZ.

Ja. Etwas mehr. Das heißt befaßt ist eigentlich zuviel gesagt. Wir kauften manchmal schöne Dinge von Chinesen oder Malayen. Götzen und Tiere und lebendige Seiden. Wir hatten viel davon an Bord.

DER DICHTER.
Und alles verloren?
DER PRINZ.

Wie meinen Sie? Ach, bei dem Untergang? Na, natürlich. Es gibt mehr davon, obwohl manche Stücke selten waren.

DER GRAF.

Wie merkwürdig! Ein Sammler, der so ruhig von dem Verlust seiner Schätze spricht. Ich muß sagen, ich könnte das kaum.

DER PRINZ
zuvorkommend.

Ich war wohl kein Sammler in Ihrem Sinne, Graf. Alle diese Dinge – es waren auch sehr häßliche darunter – hatten ihren Sinn und ihre Stunde. Für meine Mutter oder mich. War sie vorbei, hätten wir sie ebensogut ins Meer werfen können. Es blieb kein Schatten von Erinnerung an sie zurück.

DER DICHTER.
Warum hoben Sie sie dann auf?
DER PRINZ.

Es hatte ja keinen Sinn, sie zu zerstören! Galten sie mir auch nichts mehr, blieben die meisten doch [65] objektiv schön. Aber soll ich darum meinen kleinen Götzen und Tieren nachträumen? Es liegt mir etwas fern.

DIE DAME.
Dachte sie ebenso?
DER PRINZ.
Meine Mutter? Ich glaube, ja.

Kleine Pause.
DIE DAME.
Sie haben spät in mein Haus gefunden, Secundus. Es ist fast ein Monat, seit ich bei Ihnen war.
DER PRINZ.
Sie sind mir nicht böse. Ich hatte viel mit der Sternwarte zu tun.
DER DICHTER.
Sternwarte?
DER PRINZ.
Ja, ich habe mir eine auf das Haus gebaut.
DER GRAF.
Auf das schöne Barockpalais? – – –
DER PRINZ.

Ja. Ich kann doch nicht sein ohne freien Blick in die Nacht. Das ist eine alte Gewohnheit von der See her. Und bis man hier die paar Instrumente bekommt – – –

[66]
DER GRAF.
Aber das Palais wird nicht sehr gewonnen haben.
DER PRINZ
höflich.
Ich gebe zu, daß es sehr stillos aussieht. Aber wenn ich schon hier lebe –
DIE DAME
lebhaft.
Sie wollen also bei uns bleiben? Gefällt es Ihnen hier?
DER PRINZ
lächelnd.

Aufrichtig gesprochen, nicht sehr. Ich muß mich erst gewöhnen. Fremde Städte sind mir lieb, aber hier kommen ab und zu Leute zu mir und versichern mir, daß ich zu Hause sei. Und ich erinnere mich wirklich an manche Straßenzüge, Gebäude und so weiter wie an einzelne Gesichtszuge eines Menschen, der mir als Ganzer fremd geworden ist Ich wohne im Hotel. Und wenn ich in unser Haus ziehe, wird die stillose Sternwarte darin das einzige sein, das ich kenne.

DIE DAME.
Es ist wahr. Sie waren eigentlich selten hier.
DER PRINZ.

Bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr jeden Winter ein paar Wochen. Meine Mutter machte ein paar Bälle mit und nahm mich manchmal mit in die Oper. Übrigens nur zu Balletten.

[67]
DER GRAF
lacht.
Halten Sie das jetzt auch so?
DER PRINZ.
Nein. Ich gehe nie ins Theater.
DER DICHTER.
Es liegt Ihnen wohl auch da die östliche Art näher?
DER PRINZ.

Wenn Sie damit sagen wollen, daß ich ein Barbar sei, haben Sie recht Theater – das ist für mich wirklich mehr die japanische Heldentragödie mit Samurais und Dämonenfratzen. Unverständlich, bunt, lärmend. Oder gewisse phantastische Tänze in den Hafenvaudevilles Yokohamas oder Singapores. Oder meinetwegen noch die Stagione in Buenos Aires. Alles ist durchstrahlt wie von Scheinwerfern, und die Menschen stellen sich zur Schau – ich meine nicht die uninteressanten auf der Bühne, die dazwischen für Geld singen – nein die wirklichen in den Logen, auf den Galerien, in den Promenoirs. Aber hier tritt man in einen verdunkelten Saal und läßt sich andächtig von fremden, meist eher widerwärtigen Menschen in Mysterien einweihen, die einem gleichgültig sind oder die man besser kennt. Nein, finden Sie das im Ernst schön, wenn Ihnen jemand Richard den Zweiten im Kerker vor' spielt, wo Sie jeden Tag die Möglichkeit haben, sich der Stille Ihres Zimmers gefangen zu geben und Richard der Zweite zu sein? Ich für mein [68] Teil will ein Spektakel in einer fremden Sprache, die ich keinesfalls verstehe. Sonst Zirkus!

DER DICHTER
etwas gereizt.
Aber erlauben Sie –!
DIE DAME
lachend.

Nein, nein, lieber Freund, gegen dieses Bekenntnis werden Sie nichts ausrichten. Es ist wenigstens ehrlich. Ein Glück nur, daß die Morena noch nicht da ist.

DER PRINZ.
Ich höre diesen Namen in der Stadt schon ein paarmal. Das ist eine Sängerin, nicht?
DIE DAME.

Eine Sängerin, nicht? – Unser kleiner Prinz ist doch nett. Sind Sie mir böse, wenn ich Sie so nenne? Ich bin doch eine Art alter Cousine. Das ist nämlich die Sängerin, Secundus!

DER PRINZ
kühl und sehr höflich.

Sie verzeihen. Ich muß meine Unwissenheit damit entschuldigen, daß ich diesen Namen eigentlich mehr in einem anderen Zusammenhang hörte.

DIE DAME
ein wenig ernst.

Ja. Man sagt hier von ihr, daß sie eine Dirne sei. Aber wie Sie sehen, verkehrt sie hier im Hause und wir lieben sie alle sehr.

[69]
DER PRINZ
verneigt sich leicht.
Schon das erstere genügt naturlich, und das letzte sichert der Dame meine unbedingte Verehrung.
DIE DAME.

Wenn Sie sie sehen oder gar singen hören wollten, werden Sie uns verstehen. Sie müssen deshalb doch einmal Ihren Prinzipien untreu werden und in meine Loge kommen.

DER PRINZ
küßt ihre Hand.
Sie sind sehr gütig. Es wird mir natürlich eine Freude sein. – – –

Der Flügel im Musikzimmer rauscht einen Augenblick auf und verstummt wieder. Es kommt Bewegung in die Gruppen. Bridgepartien werden abgebrochen. Die Sängerin ist eingetreten. Sie trägt keinen Schmuck außer einer Unmenge von Ringen, mit denen ihre Hände besät sind.
DIE SÄNGERIN
zu vielen.

Guten Abend! Guten Abend! Oh, Sie sind alle noch hier! Wie schön! Es ist warm. Es sind gute Menschen hier. Zu der Dame des Hauses, ihr ein Heer von Veilchen reichend, das sie trägt. Danke, daß Sie mich gerufen haben. Hier sind Blumen. Man hat sie mir geschenkt. Darf ich sie Ihnen geben? Sie lieben Veilchen!

DIE DAME.
Ich danke Ihnen, liebste Freundin, daß Sie gekommen sind. Ich hoffte es kaum mehr, nach »Manon«.
[70]
DIE SÄNGERIN.

Oh, Manon ist tot! Arme Manon! Aber ich lebe noch. Und es ist gut bei Ihnen. Darf ich mich zu Ihnen setzen? Zum Grafen. Lieber Abend!

DER GRAF
küßt ihre Hand.
Sie sind glücklich? Mit sich zufrieden?
DIE SÄNGERIN.

Manon war schön. Sie dürfen mir nicht böse sein. Ich habe Des Grieux gehört. O, Sie lachen, er ist klein und fett und sieht wie aufgeplustert aus in der rosaseidenen Weste. Aber es hätte mir weh getan, Sie in der Loge zu wissen. Ich hätte notwendig einen betrügen müssen. Und wenn ich Manon bin, kann ich nur Des Grieux gehören.

DER GRAF.
Bedeutet »gehören« – »lieben«? Dann bin ich es zufrieden, da Sie jetzt Sie selbst sind.
DIE SÄNGERIN.
Sie quälen mich. Sie fragen so viel. Ich bin da.
DER GRAF
zu ihr gebeugt, sehr leise.
Ich habe den Smaragd.
DIE SÄNGERIN
aufzuckend.
Oh – –! Er ist schön!
DER GRAF.
Er ist fast Ihrer würdig.
[71]
DIE SÄNGERIN.
Sie tragen ihn bei sich? Ich will ihn sehen!
DER GRAF.
Nicht hier.
DIE DAME
wieder herantretend, reicht ihr eine kleine Tasse schwarzen Kaffee.

Alle haben den ganzen Abend nur an Sie gedacht. Sehen Sie, die verbissensten Bridgespieler stoppen. Soll ich eifersüchtig auf Sie sein?

DIE SÄNGERIN
zauberhaft.

Seien Sie's nicht. Alle wissen doch, daß alles Gute nur von Ihnen ausgeht. Sie geben Wärme, Licht, Ruhe, Freude. Was kommt von mir? Eine Sensation, für die Besten eine tragische. Ich bin nur eine unter allen, die sich in Ihre sanften, dunklen Sessel schmiegen dürfen. Behüten Sie mich ein wenig. Eine, zwei Stunden. Dann, oh dann – – wissen Sie, was mich der heutige Abend gekostet hat? Und übermorgen Senta und Samstag die Tosca – – Und dazwischen ganz allein gelassen.

DIE DAME
warm.
Sie? Würde das einen Freund von uns nicht schmerzen, wenn er's hörte?
DIE SÄNGERIN.

Ja, Sie haben recht, ich bin undankbar. Heimlich, fasziniert. Wissen Sie es nicht? Er hat den schönsten Smaragd der Welt für mich erhandelt Eine Großfürstin [72] besaß ihn. Sie wollte ihn nicht hergeben. Aber sie hatte Schulden. Nun hat er alle Forderungen aufgekauft. Sehr schmutzige darunter. Skandal! Nun mußte sie. Die Bestie!

DIE DAME.

Sie werden sich zugrunde richten mit dieser Leidenschaft. Und er – Sie wissen doch, daß er nicht reich ist. Er wird vielleicht sein Letztes geopfert haben. Wie können Sie, die so gut sind –

DIE SÄNGERIN
wild.

Er hat mich gehabt. Es war ausgemacht. Er wird mich heute wieder haben. Vielleicht noch morgen. Scheint Ihnen der Preis zu hoch?

DIE DAME.
Liebste – nie werden Sie mich glauben machen, daß Sie sich verkaufen.
DIE SÄNGERIN.

Warum nicht? Ich liebe meine Steine. Sie sind rein und kalt wie Gestirne. Meine Hand badet im Licht verzauberter Götter. Ich bin erst nackt, wenn ich meine Ringe von mir abtue. Auch Manon hat sich verkauft.

DIE DAME.
Sie sind nicht Manon.
DIE SÄNGERIN.
Nein. Ich bin nicht Manon. Des Grieux ist klein und fett und zittert vor dem hohen B.
[73]
DIE DAME
lachend.

Nun also. Kommen Sie, Sie fangen an, bösartig zu werden. Zum Komponisten, der in der Nähe steht. Wir wollen jetzt die neue Sonate hören. Sie werden spielen, nicht wahr? Unsere Freundin freut sich darauf.

DIE SÄNGERIN.

Wie hübsch, daß Sie hier sind. Aber es ist wahr, Sie haben mich ja begrüßt. Ich hörte den A-dur-Akkord. Sie haben eine Sonate geschrieben? Was macht die Oper? Ich freue mich auf die Partie.

DER KOMPONIST.
Sie wartet.
DIE SÄNGERIN
spöttisch.
Oh, kann Sie das? Ich auch. Ich habe Zeit.
DER KOMPONIST
stöhnend.
Verzeihen Sie!
DIE SÄNGERIN.

Gehen Sie, den Leuten Sonaten vorspielen. Sie waren häßlich. Sie wissen, daß ich einem anderen Mann gehöre.

DER KOMPONIST
verbissen.
Der Smaragde hat – –
DIE SÄNGERIN
hochmütig.
Die ich bezahle. Wie Ihre Musik. Wobei noch sehr die Frage ist, was höher im Kurse steht.
[74]
DER KOMPONIST
geht schweigend ins Musikzimmer, wohin ihm alle folgen.
DIE SÄNGERIN
zum Grafen.
Kommst du nicht mit? Du hörst doch meine Musik gern.

Die Sonate setzt mit einem großen Thema ein. Die Sängerin steht an der Portiere plötzlich dem Prinzen gegenüber.

Du gehst doch hinein. Das Thema ist stark. Wie wird er es durchführen – –?

Der Graf versteht, schweigt. Geht ins Musikzimmer. Die Portiere fällt hinter ihm zu. Die Musik tönt gedämpft weiter herein.
Sie stehen sich schweigend gegenüber.
DIE SÄNGERIN
ganz verwandelt, sehr sanft, sehr ruhig.
Sie hören nicht zu? Sie bleiben hier?
DER PRINZ
leise, noch blässer, verwandelt.
Ich höre Sie sprechen. Oder singen Sie? Ich weiß nicht.
DIE SÄNGERIN.

Wir wollen hier bleiben. Sie setzen sich. Das Speisezimmer wird verdunkelt, so daß das Licht etwas gedämpfter scheint. Sie sind – warten Sie. Meine Freundin sprach mir von Ihnen. Ich kenne Sie.

DER PRINZ.
Ich kenne Sie von länger her. Ich war ein Kind.
DIE SÄNGERIN.
Still, still – ich weiß.
[75]
DER PRINZ.
Sie wissen um mich?
DIE SÄNGERIN
weint leise, kurz vor sich hin.
Sie zweifeln daran! Sie! Sie mußten es doch wissen!
DER PRINZ.
Liebe, Liebe – ich war ein Kind.
DIE SÄNGERIN.
Ich auch. Erzählen Sie von Anfang an. Oh, seien Sie gut! Lügen Sie nicht!
DER PRINZ.
Könnte ich es?
DIE SÄNGERIN.

Alles. Alles. Und alles, was dann war. Von allen Frauen. Von allem, was war. Ich werde vielleicht sterben daran. Aber Sie müssen sprechen.


Ein Vorhang, dunkelblau, schließt sich hinter ihnen. Die Sonate tönt fort. Sie sitzen sich gegenüber. Alles Licht auf sie konzentriert. Sonst Dämmerbeleuchtung.
DER PRINZ
mit einem unwirklichen, verträumten Ausdruck.

Ich war dreizehn Jahre. Es war Sommer. Sie wissen es noch? Das Korn stand reif. Der Wind lief rot durch das gebeugte Korn.

Mittag war heiß. Der Wind fiel ab. Madonna – Sie wissen, daß ich meine Mutter so nannte – schlief in ihrem kühlen, blauen Zimmer. Ich saß mit einem Buch auf der Terrasse. Von der Stadt, [76] die nah unserem Gute lag, stieg senkrechter Rauch in den Himmel. Dunst und gelbe Wolken brüteten über der Stadt.

Ich ging auf die Stadt zu. Seltsam angezogen. Am Abend stand ich in den häßlichen Straßen. Der Himmel verbrannte über schwarzen Dächern. Im Theater spielte eine Sommerschmiere. Ich setzte mich in die erste Reihe. Die Leute sahen mich verwundert an. Ich trug einen blauen Matrosenanzug, den Hals frei, und hatte keinen Hut mit. Dann erkannten mich einige – der Notar, der Restaurateur – und grüßten. Es war entsetzlich heiß und die Leute rochen nach Bier und Schweiß und Sommer. Sie spielten. Sie waren ein Kind wie ich.

DIE SÄNGERIN.
Ich war fünfzehn Jahre.
DER PRINZ.

Es war eine obszöne Farce und Sie tanzten manchmal und sangen und sprachen unanständige Pointen. Ihr Kindergesicht war weiß geschminkt und sah unsäglich lasterhaft aus. Ich fühlte es, obgleich ich Laster damals nicht kannte. Aber Ihre Augen waren keusch und hatten Angst vor allem. Und wenn Sie sangen – einen blödsinnigen Refrain – spiegelte sich ein blendender Himmel in ihnen. In Ihren Augen kreisten alle Gestirne und es ward Tag und Nacht.

Und allmählich kamen Ihre Augen zu mir. Erst mit der gleichen Angst wie zu allen, dann wuchs Vertrauen in Ihnen und Sie lächelten mir zu. Dann[77] liebten Sie mich, Ihre Augen, und wurden nun erst ganz wach. Und wurden feucht vor Zärtlichkeit und Güte und dunkelten vor Schmerz, und das Ende war Verzweiflung und Tod. Und als Ihre Augen brachen – während eines gemeinen Couplets – war meine Kindheit abgebrannt von mir wie Zunder. Ich war alt und schien mir reif für allen Tod in der Welt. Ich stürmte hinaus, ehe. das Stück zu Ende war. Gegen Morgen kam ich heim.

Madonna hatte auf mich gewartet, um mich zu strafen. Mit ein paar Worten, die brennen konnten wie Peitschenhiebe. Als sie mich sah, sagte sie kein Wort. Sie ließ mich bewachen von unserem alten Diener, aber es gelang mir doch, noch vor Tagesanbrach, in Wasser aufgelöste Phosphorköpfe einer Streichholzschachtel zu schlucken.

DIE SÄNGERIN.

Ich versuchte in jener Nacht aus dem Fenster zu springen. Aber man hielt mich auf und band mich auf das Bett. Dann tat mir unser Bonvivant Gewalt an.

DER PRINZ
nach einer kurzen Pause.

Die Dosis war zu klein, ich starb nicht. Aber bald darauf wurde ich krank – o nein, nicht infolge jener Vergiftung! Es war nur die Lunge. Nicht sehr schwer. Aber Madonna ging mit mir in die Schweiz, ins Hochgebirge, und wir wohnten zwei Jahre lang in einem großen Sanatorium. Ich vergaß Sie, ja, glauben Sie es mir!

Viele Menschen lebten und starben an uns vorbei. Aber mich rührte das Leiden nicht mehr an und [78] ich genas schneller, als die Ärzte dachten. Ich war gefeit wie Madonna, an deren Schönheit der Schmerz zerbrach. Wir waren anders als die anderen – mit unserem Ich verankert in einer fremden Welt. Gehärtet in der Glut eines fremden Sternes, daß die Feuer dieser Erde uns nicht mehr brannten, ihre Kälte nicht mehr fror. Madonna merkte, daß ich war wie sie, und wir gehörten fortan zusammen, ohne es uns zu sagen.

DIE SÄNGERIN
tonlos.
Sie lieben Ihre Mutter?
DER PRINZ.

Manchmal vielleicht.

Hören Sie.

Als ich genesen war und um Madonnas Auge die erste Falte kroch, gingen wir zu Schiff.

Auf die weiße Yacht. Zwölf Burschen an Bord, von denen keiner gescheut hätte, für uns zu morden, aber gelegentlich auch uns zu erschlagen.

Fünf Jahre Meer. Verstehen Sie das?

Die Erde war nicht mehr. Das südliche Kreuz uns verwandter als Menschen.

Manchmal fuhren wir an heißen Flüssen hinauf, über denen Wolken weißen Fiebers dunsteten.

An brennenden Urwäldern vorbei. Südseeinseln standen in Flammen.

Wir brachten Feuerwasser in rauchige Negerkrale. Nachts heulten betrunkene Wilde um das Lagerfeuer. Mit Malayen trieben wir Tauschhandel. Vergiftete [79] Pfeile zischten um unsere Stirnen.

Wir lagen in goldenen Zelten nachts in der Wüste. Der Donner der Löwen kam von den Quellen.

Ein brauner Scheich besaß Madonna. Mir schenkte er seine drei schönsten Frauen.

Durch Monate blieben wir dann auf hoher See. Das Wasser war faulig und das gesalzene Fleisch verbrannte uns den Mund. Im Zwieback wuchsen Würmer. Es war gut, nicht ohne Revolver herumzugehen und selten zu schlafen. Den Boys stand der Schaum grün vor den Lippen.

Sie forderten, daß Madonna sich ihnen gebe. Sonst über Bord. Wir schlugen die Meuterei nieder und sie nahm sich nachher den Schönsten. In Rio mußten wir ihn leider ausschiffen. Er taugte nichts mehr an Bord. Dann gingen wir an Land. Ich meine in die Städte. Die großen Hafenstädte. Yokohama, Valparaiso, Singapore. Wir wohnten in den großen Hotels und ich hatte die schönsten Kokotten und spielte Poker mit den geriebensten Falschspielern. In den Hafenvierteln suchte ich Händel. Um die letzte Dirne von Cadix erhielt ich diesen Messerstich.

DIE SÄNGERIN.

Und litten nie wieder? Nicht an dem bösen Fleisch der Kokotten, an den falschen Brillanten der Hochstapler, dem Schmutz und Dunkel der Hafengassen?

DER PRINZ
fast erstaunt.

Litt? Nein. Schmutz und Trübes gehörten dazu, Kulissen, vor denen wir spielten. Amüsierte es uns nicht mehr, brachen wir ab. Die Yacht wartete.

[80]
DIE SÄNGERIN
leise.
Und ich? Kam ich nie wieder in ihre Welt?
DER PRINZ
zögernd, nachdenklich.

Doch. Ich weiß von zwei Malen, wo Sie noch da waren.

In einer Nacht, unsäglich gestirnt, trieb ich in einem Kanoe an der Küste. Ein Weib lag bei mir. Ein Annamitenmädchen, das kein Wort meiner Sprache verstand. Ich keines der ihren. Ihr sagte ich alles von Ihnen. Warme Nacht. Vom Himmel stürzten Sternschauer herab. Segnend waren Ihre Augen aus Milchstraßentiefen über mir.

DIE SÄNGERIN.
Geliebter – –
DER PRINZ.

Dann später.

In einer Nacht, die weiß von Nebeln war, tief im Pazifischen Ozean – merkte Madonna, daß sie nicht mehr schön war. Hatten meine Augen es ihr gesagt oder nur der Spiegel – ich weiß nicht. Am Morgen fanden wir sie nicht mehr.

DIE SÄNGERIN.
Da littest du – –
DER PRINZ.

Nein. Sie mußte so sterben. Sie war eine Göttin. Man leidet um Götter nicht wie sie nicht um uns. [81] Ein halbes Jahr später ging unser Schiff unter. – Still, ich bin am Ende und dann ist das alles gewesen oder nicht gewesen, wie du es willst.

Ich selbst zerschlug die Instrumente und wir trieben ziellos. Ich wußte, daß die Boys mich einmal erschlagen würden. Ein Zyklon war im Anzug. Ich gab ihnen Branntwein, so viel, daß ihnen sogar die Lust zum Morden verging. Wir scheiterten nachts. Zwei Tage trieb ich an einen Balken gebunden und sprach mit dir. Das war das zweitemal. Dann nahm mich ein englischer Schoner auf. Nun bin ich wieder hier. Mein Leben gehört ganz dir. Es ist neu. Ich weiß nichts mehr. Ich habe nie eine Frau berührt.

DIE SÄNGERIN.

Mein Leben ist anders. Was tut es, da es nun in deines mündet. Traurigkeit, Erniedrigung und manchmal Haß. Und die Kunst. Meine schöne, schöne Stimme. Nein, laß! Ich werde nie mehr singen, wenn du es nicht willst!

Nur dies eine ist gleich in unserem Leben: Ich habe nie einem Manne gehört.

Viele, viele haben mich besessen. Es mußte so sein. Viele hatten Macht über mein Blut. Zu manchen trieb mich die Musik und das gräßliche Nichts, wenn die Rampen ausflammten.

Und auch das noch. Ich habe Edelsteine. Sieh diese Ringe an. Für jeden habe ich mich verkauft. In jedem Stein ist Musik, Musik des Lichtes – und mehr noch, etwas von der kühlen Lieblichkeit deiner Augen, deiner Augen, wie ich sie sah an jenem Abend, da du in einem Matrosenanzug in [82] der ersten Reihe eines Sommertheaters saßest und ich obszöne Lieder sang.

Glaube mir, ich bin ganz rein von dir. Nur daß ich gelitten habe und du das Leiden vergessen hast. Mein armer Geliebter! Du wirst noch viel leiden müssen!

DER PRINZ
zum erstenmal ganz jugendlich.

Ich werde nie leiden. Nie. Ich werde glücklich sein. Muß ich nicht glücklich sein, dir alles Glück zu geben? Ich will – – Nein, nein – nicht Worte, nicht – – – Ich habe keine Gewalt über das Wort. Geben Sie mir einen Augenblick Ihre Hand. So – –


Die Sängerin erhebt sich, beugt sich über ihn und will ihn küssen. Sie verharrt einen Augenblick so, ohne seine Lippen zu berühren. Sie lieben sich so, daß ihre Münder sich nicht zu finden wagen. Langsam entfernt sich ihr Antlitz von dem seinen.
Der dunkelblaue Vorhang hat steh gehoben. Der Salon, in der gleichen Beleuchtung wie früher, ist wieder um sie. Die Sonate endet.
DIE SÄNGERIN.

Ich werde morgen abend bei Ihnen sein. Nein. Ich will diese Nacht allein sein. Ich muß diese Nacht haben – mich ganz suchen, um mich ganz an dich zu verlieren. Still – – still – –


Sie stehen sich sprachlos gegenüber wie am Anfang der Szene. Stimmengewirr: Die Menschen strömen aus dem Musikzimmer zurück. Bewundernde, beifällige Ausrufe.
EIN KRITISCHER ZUHÖRER.
Nein, schön ist seine Musik nicht, aber er kann etwas.
[83]
EIN JUNGES MÄDCHEN.
Ich weiß nicht, im Gegenteil, er kann viel zu wenig, aber es ist etwas Schönes in seiner Musik.
DER KRITIKER.

Gut, gnädiges Fräulein, wir gleichen uns aus, jeder gibt fünfzig vom Hundert nach. Die Musik ist nicht schön, aber dafür kann er zu wenig.

DIE DAME DES HAUSES
zum Komponisten.

Ich verstehe nicht viel davon, aber ich glaube, daß diese Sonate den Höhepunkt Ihres bisherigen Schaffens bedeutet.

DER DICHTER.

Mir gefiel besonders der zweite Satz. Er ist wie das Erlebnis einer Reise durch abenteuerliche, gefährliche Zonen. Mit einem Blick auf den völlig versunken dastehenden Prinzen. Oder kommt mir diese Interpretation nur von außen – –

DER GRAF
zur Sängerin, ganz unbefangen.
Wie fanden Sie das Werk?
DIE SÄNGERIN
erwachend, einfach.
Was ich davon hörte, schien mir schön.
DER STAATSANWALT
zur Dame.
Sie entschuldigen, gnädige Frau, wenn ich mich schon verabschiede.
[84]
SEIN BRIDGEPARTNER
sucht sich seiner zu bemächtigen.

Aber erlaube mir, wir müssen doch den Rubber fertig machen! Nachdem du mich in ein Defizit von achtzig hineingerissen hast –

DER STAATSANWALT.
Ja, entschuldige – es wird aber nicht mehr gehen. Die Musik vorhin –
DER PARTNER.

Staatsanwälte stehen grundsätzlich in keiner Beziehung zur Musik. Es sei denn, sie tritt als nächtliche Ruhestörung auf. Gnädige Frau, helfen Sie mir doch. Wenn wir einen anderen Vierten hätten –

DIE DAME.

Aber im Ernst, Herr Staatsanwalt, bleiben Sie doch! Es ist kaum elf. Sie könnten sonst ein schlechtes Beispiel geben.

DER STAATSANWALT.

Sie dürfen mir nicht böse sein, Gnädigste – ich muß wirklich gehen. Ich habe morgen um drei Uhr aufzustehen und werde ohnehin kaum mehr schlafen.

DER PARTNER.
Ja, aber, was hast du denn um drei Uhr früh – da gibt sich noch kein Mensch Rendezvous.
DER STAATSANWALT
sehr zurückhaltend, aber sichtlich im Bestreben, endlich fortzukommen.
Ich habe einer Hinrichtung beizuwohnen.

Ein paar Umstehende haben, so gedämpft er spricht, das Wort aufgefangen. Es pflanzt sich fort. Peinliches Schweigen tritt ein.
[85]
DER STAATSANWALT
sehr nervös, unangenehm berührt.

Ich bitte tausendmal um Verzeihung, Gnädigste – aber ich hätte mich sonst unseres lieben Freundes nicht erwehren können. Und ich habe wirklich keinen Kopf zum Bridgespielen. Ich habe es ja vorhin versucht.

DIE DAME
etwas betroffen.
Aber ich bitte Sie, lieber Herr Staatsanwalt – das ist doch selbstverständlich.
DER STAATSANWALT
hastig, wie unter einem Zwange.

Ich weiß, ich hätte überhaupt Ihrer liebenswürdigen Einladung keine Folge leisten sollen. Aber Sie werden mich vielleicht verstehen, ich griff geradezu nach ihr – ich bin so doch über einen Teil der Nacht hinweggekommen. Ich habe ja selbst die Anklage vertreten – und ich darf sagen, nicht immer mit so völliger Überzeugung wie in diesem Falle – aber man ist schließlich doch ein Mensch – wenn das auch natürlich den Lauf der Gerechtigkeit nicht tangieren kann – natürlich –

DER PRINZ
irgendwie hat das Wort »Hinrichtung« auch zu ihm gefunden.

Er begreift nicht ganz. Hört den letzten Sätzen interessiert zu. Verzeihen Sie, bitte – Sie sagten da etwas, das mir merkwürdig vorkam. Das kann also den Lauf der Gerechtigkeit nicht berühren, daß man ein Mensch ist? Gerechtigkeit und Menschliches widersprechen sich also bei uns irgendwie?

[86]
DER STAATSANWALT.

Nein – derartiges zu behaupten konnte absolut nicht in meiner Absicht liegen. Es ist völlig gerecht, diesen Menschen morgen hinzurichten. Ich habe selbst alles getan, um das bezügliche Verdikt herbeizuführen und billige es als Mensch vollkommen.

DER PRINZ
noch nicht ganz bei der Sache.

Einen Augenblick – aber Sie äußerten doch vorhin, daß Ihnen dabei nicht wohl zumute sei, daß Sie nicht – wie soll ich mich ausdrücken – von Ihrem Erfolge befriedigt seien?

DER STAATSANWALT
etwas ungeduldig.
Gott, das ist doch begreiflich – das ist eben menschliche Schwäche!
DER PRINZ
immer beteiligter, wie vor etwas ganz Neuem.

Sie sagen immer »menschlich« in Verbindung oder im Sinn von Schwäche. Gott – ich meine nicht unseren Katechismusbegriff, sondern überhaupt irgendein vollkommenes Wesen im Gegensatz zu »Mensch« – Gott wäre also über diese Schwäche erhaben, er wäre nur »gerecht«? Er könnte ohne weiteres Bridge spielen mit dem Gedanken an morgen?

DER STAATSANWALT
geärgert.
Ja, wahrscheinlich – selbstverständlich.
[87]
DER PRINZ.
Aber – das ist doch seltsam – wäre dieser Gott dann nicht eher eine Art Ungeheuer?
DIE DAME.
Aber ich bitte, meine Herren, wir wollen doch nicht –
DER PRINZ
wie fasziniert von dem seltsamen Gedanken, der sich bei ihm anspinnt.

Verzeihen Sie, Cousine – nur noch einen Moment. Darf ich Sie fragen, warum an diesem Menschen morgen – die Gerechtigkeit vollzogen wird?

DER STAATSANWALT.

Ich glaube nicht, daß sich eine Fortführung dieses Gespräches für diese Umgebung eignet. Aber wenn Sie es durchaus wissen wollen – es handelt sich um einen Lustmörder.

DER PRINZ
unwillkürlich leicht angeekelt.
Oh, das ist allerdings häßlich – –
DER STAATSANWALT.

Vielleicht genügt Ihnen das und ich muß nicht auf die näheren Details des Deliktes eingehen, die haarsträubend sind. Sie billigen mir also zu, daß ich das Recht habe, auch als Mensch mit dem »Lauf der Gerechtigkeit« einverstanden zu sein?

DER PRINZ.
Ja – – vielleicht – –
[88]
DER STAATSANWALT.
Sie sind natürlich grundsätzlicher Gegner der Todesstrafe?
DER PRINZ
verwirrt.
Ich muß gestehen, daß ich mich mit dieser Frage eigentlich noch nie befaßt – –
DER STAATSANWALT
leicht ironisch.
Vielleicht würde es Sie dann interessieren, der morgigen Justifizierung beizuwohnen?
DIE DAME
empört.
Aber nein, Herr Staatsanwalt – das geht zu weit.
DER PRINZ
versteht nicht gleich.
Wie meinen Sie das?
DIE SÄNGERIN
ist dem Dialog vom Moment an, da der Prinz seine erste Frage gestellt hat, gespannt gefolgt.
Nun geht sie auf ihn zu und legt ihre Hand leicht auf seinen Arm. Sie sollten nicht weiter fragen.

Leichte Bewegung um sie. Man flüstert.
DER STAATSANWALT
noch gereizter.

Ich meine, ob Sie morgen der Hinrichtung zusehen wollen. Ich gebe Ihnen eine Karte von mir, die Sie zum Eintritt legitimiert. Dreiviertel vier Uhr früh. Landesgerichtsgebäude.


Völliges Schweigen.
[89]
DER PRINZ.
Ja – – natürlich – geben Sie.
DER STAATSANWALT
schreibt mit einer Füllfeder ein paar Worte auf eine Visitenkarte.
Bitte.
DIE SÄNGERIN
ganz laut, langsam.
Ich bitte dich, geh nicht.

Bewegung.
DER PRINZ
sieht sie an, wie aus einem Abgrund hervortauchend.
Nein, wenn du es wünschest – gehe ich nicht.

Neue Bewegung Es liegt eine leichte Stimmung von Skandal in der Luft.
DER STAATSANWALT.

Es ist auch – glaube ich – besser für Sie. Nur – verzeihen Sie, Durchlaucht – sollten Sie dann nicht so viel über Gerechtigkeit und dergleichen philosophieren. Theorien im Salon sind ja ganz schön. Zur Dame. Sie verzeihen mir, Gnädigste, ich bitte tausendmal um Entschuldigung für diesen etwas peinlichen Auftritt. Meine Nerven sind begreiflicherweise etwas überreizt, und wenn dann ein junger Mann kommt, der über diese Probleme Er küßt ihre Hand. Also noch einmal, Sie vergeben mir.


Er verabschiedet sich von einigen Zunächststehenden und geht dann zur Türe.
DIE DAME
zu jemandem in ihrer Nähe.

Der arme Staatsanwalt Er tut mir leid. Dieser Mensch ist die Güte selbst – Und Sie, Secundus, haben ihn wirklich etwas gereizt.

[90]
DIE SÄNGERIN
ohne auf irgendjemand zu achten, leise begütigend.
Komm, komm, wir wollen gehen. – – Du bringst mich nach Hause.
DER PRINZ
auffahrend, entsetzlich wach, taumelnd.

Aber – ich muß doch gehen. Ich muß doch! Er erreicht den Staatsanwalt an der Türe. Ich bitte um die Karte.

DER STAATSANWALT.
Bitte sehr, Landesgericht, III. Hof. Er geht.
DER PRINZ
vor der Dame.

Sie verzeihen, liebe Cousine. Dank für den Abend. Ich muß jetzt gehen. Vor der Sängerin, einen Moment wieder ganz versunken in ihren angstvollen Blick, dann langsam, nachdrücklich. Nein, Sie müssen das verstehen. Ich kann nicht anders. Sagten Sie nicht selbst, man müsse sich erst ganz suchen, um sich ganz verlieren zu können? Ich muß da noch etwas in mir suchen, dem ich auf die Spur gekommen bin. Gute Nacht.


Er verneigt sich leicht gegen die übrige gleichfalls aufbrechende Gesellschaft und geht.
DIE SÄNGERIN
tonlos.
Morgen abend.

Die ganze Gesellschaft verabschiedet sich etwas überhastet. Die Dame des Hauses begleitet eine Gruppe zur Tür.
DER GRAF
sehr alt, unsäglich traurig, nähert sich der Sängerin.
Darf ich Sie in meinem Coupé nach Hause – ich meine, bis zu Ihrem Hause bringen? Sie sind erregt.
[91]
DIE SÄNGERIN
bricht in einem Fauteuil zusammen.
Oh, nun wird er leiden müssen!

Pause. Die letzten Gäste gehen. Der zweite Salon wird verdunkelt.
DER GRAF
hilflos, mit einem gequälten Lächeln nach einer Tasche tastend.
Möchten Sie ihn nicht wenigstens sehen, Ihren Smaragd?
DIE SÄNGERIN
schüttelt langsam den Kopf.

Wollen Sie mich mir selbst verkaufen? – Nein, ich weiß. Sie dachten nicht daran. Danke. Ich brauche nun keine Steine mehr. Auf dem Kalvarienberg trägt man keine Edelsteine mehr. Keine Steine – –.


Sie geht. Der Graf folgt ihr langsam – Ein dunkel livrierter Diener dreht das Licht ab.
Vorhang.

2. Akt

[92] Zweiter Akt

Ein Hof im Landesgerichtsgebäude. Mauern. Himmellos. Rechts ein Tor, vor dem zwei Schutzleute postiert sind, links über Stufen der Eingang in den betreffenden Gebäudetrakt. Im Hintergrund der Galgen, vor dem der befrachte Herr mit seinen beiden Gehilfen steht. Ein Spalier Menschen zieht sich von links gegen den Hintergrund. Einige Schutzleute, ein Teil der Geschworenen mit dem Obmann, zwei Votanten, einige Justizbeamte und sonstige legitimierte Zuschauer.
Ein leichter Regen geht nieder Mantelkragen werden aufgestellt ein paar Schirme werden aufgespannt.
Einige verlassen den Kordon und gehen nervös und fröstelnd auf und ab. Manchmal fallen halblaute Bemerkungen, die man nicht versteht. Jemand sieht auf die Uhr.
Am Tor wird geklopft. Ein Schutzmann öffnet einen Spalt, prüft die dargereichte Legitimation und läßt hierauf ihren Träger – den Prinzen – ein. Hinter ihm wird wieder geschlossen. Der Schutzmann weist ihm einen Platz im Spalier an. Lange Pause. Der Regen fällt etwas stärker.

DER EINE VOTANT
zieht wieder die Uhr.
Schrecklich, noch acht bis zehn Minuten!
DER ZWEITE
gähnt.

Man weiß nicht recht, ob aus Langeweile oder Nervosität. Mhm! Ich lege mich nachher unbedingt noch einmal ins Bett.

DER ERSTE.
Ich habe leider schon um halb neun in Sachen Spirihek zu tun. Da zahlt es sich kaum mehr aus.

Pause.
[93]
DER OBMANN
zu einem Geschworenen.
Wenn er sich nur nicht verkühlt, der Herr!
DER GESCHWORENE
kichernd.
Meinen S' den Delinquenten? Dem kann's Wurscht sein!
DER OBMANN
lacht zustimmend.
A ja, dem schon! Ich mein' den Herrn im Frack da.
DER GESCHWORENE.
Ah, der Herr Kurtz? Was glauben S'? Der ist abgehärtet.
EIN JUNGER RECHTSANWALT
auf der anderen Seite zu einem Kollegen.
Es muß doch eigentlich leichter sein, bei so einem Wetter – – Denken Sie, es wäre ein schöner Tag.
DER ANDERE.
Ich glaube, das bleibt sich für den Betreffenden gleich.
DER JUNGE RECHTSANWALT.

Meinen Sie? Ich weiß doch nicht. Mir wäre es leichter. Es ist doch alles so entsetzlich trostlos. – –

DER ANDERE.
Folgen Sie mir, die ganze Prozedur ist nichts für Ihre Nerven. Sie sollten sich besser – –
DER JUNGE RECHTSANWALT.
Nein, nein. Keinesfalls. Das gehört zum Beruf. Das muß man mitgemacht haben.

Pause.
[94]
EIN GESCHWORENER.
Kalte Füß' kriegt man.

Pause.
DER ZWEITE VOTANT
zum ersten.
Gestern in der Oper. Die Morena hat gesungen. Ein Weib – sag' ich Ihnen.

Der Prinz zuckt zusammen.
DER ERSTE.

Und nachher natürlich gedraht. Kann mir vorstellen. Na, da müssen Sie in der richtigen Stimmung sein!

DER ZWEITE.
Ja, es ist wirklich ekelhaft – –
EIN GESCHWORENER
blickt zum Himmel.
Ein schiecher Herbst. Und der Sommer war auch darnach. Kann einen guten Wein geben!
DER JUNGE RECHTSANWALT.
Aber warum dauert das denn so lange! Das ist ja schrecklich!
EIN PSYCHIATER
achselzuckend.
Gott, wahrscheinlich macht er drinnen Umstände. Übrigens ist es noch nicht vier Uhr.
DER OBMANN
breit.

Ah, der Kerl! Ich sag' Ihnen, der hält sich z'samm. Der ist aus Eisen. Der streckt uns allen noch die Zunge 'raus.

[95]
DER ÄLTERE RECHTSANWALT
unwillkürlich.
Das ist allerdings nicht unwahrscheinlich.

Peinliches Schweigen.
DER JUNGE RECHTSANWALT
sehr blaß werdend.

Entschuldigen Sie – mir ist etwas übel – eine leichte Magenverstimmung – schon seit ein paar Tagen. Wankt gegen den Ausgang zu, sein Kollege unterstützt ihn.

DER ÄLTERE.

Aber lieber Freund, das ist wirklich nichts für Sie – – Der junge Rechtsanwalt wird hinausgelassen, das Tor versperrt.

EIN JUSTIZBEAMTER
mißbilligend.
Diese junge Generation! Nerven haben die Leute, Nerven! Wie Zwirnfäden.
EIN GESCHWORENER
Sadist, heimlich zu seinem Nebenmann.

Haben S' schon einmal den Kurtz arbeiten g'sehn? Ein Genuß, sag' ich Ihnen. Der versteht's. Passen S' auf, ein Griff beim Gnack – und schwuppdi!

DER ANGESPROCHENE
angewidert.
Aber ich bitte Sie – wie kann man denn da hinschaun?
DER SADIST
fassungslos.
Ja, erlauben S' mal – wozu sind Sie denn nachher da?
[96]
DER ANGESPROCHENE.

Herrgott, wenn man schon den ganzen Prozeß hat mitmachen müssen, will man doch auch beim Finish dabeigewesen sein.

DER PRINZ
sein Nebenmann.
Entschuldigen Sie – Sie waren Geschworener bei dem Prozeß? Sie haben ihn schuldig gesprochen?
DER OBMANN
breit.

Na hören S'! Das Verdikt war doch einstimmig. Freisprechen hätt' man ihn auch noch sollen, den Saukerl!

DER PRINZ.
War denn sein Verbrechen so entsetzlich? Ich meine – –
DER OBMANN
beleidigt.

Ja, haben S' denn den Prozeß nicht verfolgt? A Maderl von no net zwölf Jahren in den Wald schleppen und nachher –! Gut, vergewaltigen – der Kerl war ein Viech. Aber den Hals abschneiden und nachher mit 'n Messer noch –!

EIN JUSTIZBEAMTER.
Bitte um Ruhe! Leise sprechen!
DER PRINZ
fröstelnd.
Schrecklich! Grauenvoll!

Pause.
[97]
DER ERSTE VOTANT.
Jetzt könnten sie wirklich schon da sein!

Pause.
IRGENDEIN HERR.
Wenn ich mir wenigstens Galoschen mitgenommen hätte, wie meine liebe Cäcilie gewollt hat!
DER ZWEITE VOTANT.
Endlich!

Die Gefängnisuhr hat entfernt viermal geschlagen.
Vollkommenes Schweigen. Endlosigkeit.
EIN GESCHWORENER.
Noo – –
DER PSYCHIATER
leise.
Er wird eben doch Geschichten machen.
EIN JUSTIZBEAMTER
neben ihm.
Wenn es nur schon vorüber wäre – –
DER PSYCHIATER
nickt.
DER OBMANN.
Kommen schon.

Bewegung, dann völlige Erstarrung aller.
Der Zug kommt die Treppe herunter. Alles in Schwarz. Voran ein älterer Herr mit goldener Brille, der präsidierende Landesgerichtsrat, dann der Staatsanwalt mit einem seiner Funktionäre, hierauf der Delinquent mit gebundenen Händen, von zwei Schutzleuten geführt, an einer Seite der Geistliche, leise aus der Bibel lesend, hinter ihm der Verteidiger und der Gerichtsarzt; zwei Schutzleute schließen den Zug.
[98] Der Delinquent erscheint völlig teilnahmslos. Er
wird mehr getragen als er geht. Sein Gesicht ist grau und ausgelöscht wie mit einem Schwamm, seine Augen niedergeschlagen.
Im Hintergrund unter dem Galgen macht der Zug halt. Die Leute drängen sich, so daß der Delinquent hinter den Zuschauern verschwindet.
DER PRÄSIDENT
verliest langsam und eintönig das Urteil.

Man versteht nur ab und zu ein Wort, wie »tückischen Mordes«, »gemäß Paragraph«, »schuldig«, »zum Tode durch den Strang«, »dem Gnadengesuch keine Folge gegeben«, »zu Rechtskraft erwachsen«, dann etwas deutlicher. Haben Sie das Urteil verstanden?


Keine Antwort.

Haben Sie noch einen Wunsch zu äußern?

Keine Antwort.

Somit übergebe ich Sie dem Nachrichter.

Die Umstehenden treten hastig zurück, einige wenden sich ab. Schweigen. Regen. Die beiden Gehilfen nähern sich dem Delinquenten und fassen ihn an.
DER DELINQUENT
beginnt bei der Berührung, ohne die Augen aufzuschlagen, zu brüllen.
Uuuuuuaaaah – – –!!
DIE GEHILFEN
werfen sich auf ihn.
Einer preßt ihm die Hand auf den Mund.
DER DELINQUENT
entreißt sich ihnen trotz seiner auf den Rücken gebundenen Hände und schmeißt sich brüllend auf den Boden.
Uuuuuuaaaah – – –
[99]
DER PRINZ
durchbricht den Kordon, wirft die beiden Henkersknechte zurück und stürzt sich über den Delinquenten.
Menschen!!! Menschen!!!
VERWORRENE STIMMEN.
»Aber nein! – Das ist doch unerhört! – Wegreißen!«
DER PRINZ.
Menschen! Menschen! Das kann nicht geschehn!
Eine Mutter gebar ihn in blutigen Wehn,
eine Mutter hat uns alle geboren,
ist ihre Qual um diesen verloren?
Wir alle lasen in dämmernden Kindheitstagen,
daß unser Bruder Jesus Christ
für uns ans Kreuz geschlagen ist.
Für diesen ward er an kein Kreuz geschlagen?
Steh auf, steh auf du – und schrei's ihnen zu,
sie sind tausendmal mehr Mörder als du!
Nein, sie sind nicht Mörder, sie sind deine Brüder.
Du hast nicht gemordet. Nicht wirf dich nieder,
nicht heule dein Leid den gefühllosen Steinen.
Steh auf! Sieh uns alle mit dir weinen.
Nicht Mörder, nicht Mörder! Nur hat sich tief
Böses in unsre Seelen verkrochen,
wir haben vor Urzeiten Blut gerochen,
wir waren noch klein und die Mutter schlief.
Nun ist sie erwacht – und sie sandte den Sohn,
er hat uns mit seinen gesegneten Wunden
auf Ewigkeiten vom Blute entbunden,
er trank unser Gift – unser Kreuz ward sein Thron!

Er hat den Delinquenten hochgerissen, der ihn tierisch anglotzt und zu lallen beginnt.

»Muu-a-tta – – – Muu-a-atta – –«
[100] Ich bin deine Mutter, dein Bruder, dein Kind.
In mir quillt dein Blut, dein lebendiger Samen.
Ich trage deinen heiligen Namen.
»Mensch« – wie wir alle Menschen sind!

Der Delinquent versucht vergeblich ihn zu erfassen.

Deine Hände können nicht nach mir greifen,
sie wollten gebunden zur Schlacht dich schleifen,
zürn' ihnen nicht, daß sie dich gebunden,
sieh, ihre Seelen sind wundgeschunden
wie deine, wie meine, – – sie tragen Gelüst
nach Blut, nach Leben – wie du, wie ich – –
ihre Kindheit war Grauen, war fürchterlich.
Vergib ihnen! –

Der Mörder, im Bemühen, sich an ihn zu klammern, ist an seine Brust gesunken und hat den Mund an seinen gepreßt. Betroffene, empörte Ausrufe, wie.

»Aber das gibt's nicht! Pfui Teufel!
– Reißt sie auseinander! – Das Ist ein Skandal!« –

Stimme des Staatsanwaltes.

»Herr, benehmen Sie sich,
wie es unter gesitteten Menschen –«

Schutzleute und Henkersknechte dringen auf die beiden ein. Der Prinz wirft sie wie ein Wahnsinniger zurück.
DER PRINZ.
Ah, er hat mich geküßt!!
Er hat mich geküßt! – Er hat mich geküßt!
Diese Lippen, auf denen der Tod schäumt
dieser Mund, dessen Schrei sich zu Gott gebäumt,
er hat mich geküßt!
Er hat mir die Lippen verdorrt, verbrannt!
Seht, seht doch! Er hat nur den Mund, keine Hand.
Er hat keine Hand, sie nach mir zu strecken,
doch sein Mund kann die Toten vom Tode erwecken.
Ich war tot – amorphes, verfluchtes Gestein.
[101] Ich war Wüste, durch die die Schakale strichen
nach Raub – sein Mund, vor Grauen verblichen,
goß in mich des Lebens
bitteren, brennenden, lebendigen Wein!
DER PRÄSIDENT.
Es ist genug! Herr, entfernen Sie sich sofort, sonst muß ich diesem Exzeß –

Er winkt den Schutzleuten, die sich beiden – diesmal vorsichtig – nähern.
DER PRINZ
außer sich, wie ein Tiger.
Menschen! – ihr dürft ihn nicht berühren!
Könnt ihr mit den Händen, die jetzt nach ihm greifen,
eurer Kinder heiligen Scheitel streifen? –
Mit den Henkershänden, die jetzt uns trennen,
das Kainszeichen auf eurer Kinder
schattenlose Stirnen brennen?
Ich will euren Bruder zu euch führen.
Der Priester Gottes – Hier sind Sie ja! –
Herr Pfarrer, Sie stehen auf Golgatha,
nicht sehn Sie zur Seite, nicht stehen Sie fern!
Sie müssen mit mir unseren Brüdern sagen,
daß sie unsren Herrn
nicht noch einmal ans Kreuz schlagen!!!
DER GEISTLICHE
weicht zurück.
Das ist Lästerung.
DER PRINZ.
Sie weichen zurück?

In diesem Augenblick gelingt es den Schutzleuten, ihn zu packen und von dem aufbrüllenden Delinquenten zu reißen, den sofort die Henker ergreifen.
[102] Mit unmenschlicher, verzweifelter Stimme.

Nehmt mich!! Nehmt mich!!
Ich sehe, ihr müßt zur Schlacht
euer Blut- und Brandopfer haben.
Wir sind nicht erlöst! Umsonst
hat man den Leichnam Jesu begraben,
er hat sich vergeblich dargebracht!
Nehmt mich! Hört auf mein brennendes Bitten!
Ich war eine Bestie, die nie gelitten,
ich hab' nie gemordet – ich bin ein Tier,
schädlich und schlecht, verdammter als ihr.
Nicht ihn! Nicht ihn! – Gebt mir
Galle zu schlucken,
treibt mir Dornen ins Haupt, wollt
ins Antlitz mir spucken!
Schleppt mich zum Holz! Zerbrecht das Genick mir!
Um den fetten Hals legt den würgenden Strick mir!
Erdrückt mir meine schreiende Kehle,
ermordet meine unsterbliche Seele –
nur den Bruder nicht!!!

Sie haben ihn hinausgeschleppt.
DER DELINQUENT
unterm Galgen.
Bruu-da –!! Muu-a-atta!!

Vorhang.

3. Akt

[103] [105]Dritter Akt

Die Warte. Im Palais des Prinzen. Der Hintergrund eine einstige große Glaswand, hinter der die Nacht heraufzieht. Ein paar astronomische Geräte. In der Mitte des Raumes ein breites Lager, mit weißen Fellen bedeckt, daneben ein Tischchen mit einer Kleinen elektrischen Stehlampe (rotseidener Schirm) und einem Samowar. In der Nähe ein einfacher Sessel. Rückwärts links ein amerikanischer Schreibtisch mit Telephonapparat. Tür links vorne. Die Seitenwände schmucklos weiß. Dämmerung. Der Himmel hat einen fahlgrünen Glanz, der bald erlischt.
Der Prinz auf dem Diwan, das Gesicht in Felle vergraben, unbeweglich.
Die Sängerin tritt ein. Sehr einfach, dunkel gekleidet. Sie bemerkt den Prinzen zuerst nicht, nimmt den Hut ab, streift die Handschuhe von den Händen. Ihre Hände sind rein von Ringen. Dann geht sie leise zu dem Ruhebett, sinkt in die Knie und streichelt leicht sein Haar.

DIE SÄNGERIN.
Lieber – – Lieber du – –
DER PRINZ
wie aus tiefem Schlaf aufkommend, setzt sich auf.
Du bist da. Wie gut!
DIE SÄNGERIN
sieht ihn lange an.
Willst du sprechen, sprich!
Willst du schweigen, schweig!
[105] Tut meine Hand dir gut? Sonst nehm' ich sie von deiner Stirne.
Soll ich gehn, soll ich bleiben? Sprich, Kind!
Soll ich zu deinen Füßen einschlafen?
Gott hat uns für viele Freuden zu strafen.
Sei nicht traurig, weil wir traurig sind.
DER PRINZ
hält ihre Hände fest.
Bleiben – bleiben! Nur warten – ein wenig warten.
Laß mich auftauchen. Ich war unten tief,
im verdammten Garten.
Meine Seele war müde, mein Leib entschlief.
Träume haben bös meine Stirne umgeißelt.
Sie brachen das Herz mir aus, einen weißen Stein, und haben Zeichen hineingemeißelt.
Ich muß sie lesen. Hilf mir! –
DIE SÄNGERIN.
Wie kann ich dir helfen. Ich bin nur du.
Leidest du, leide ich.
Ich habe nicht Rat, nicht Hilfe, nur ein Grenzenloses an Liebe für dich.
Einen Körper, von Urzeit für dich geboren,
eine Seele, ganz in die deine verloren.
Mach deine armen, geblendeten Augen zu.
Noch ist Tag. Sein Licht tut dir weh.
Du hast heute zu früh in sein graues Licht geschaut.
Schlaf ein! Ich will dir die Träume mit wachen Fingern von der Stirne jagen.
Wenn die Nacht unser hohes Zimmer eisigen Schauders durchblaut,
Will ich dir tausend liebe Worte sagen – –
[106]
DER PRINZ
sehr leise.
Wenn Nacht wird, höre ich aus den Armensünderzellen
tausend Schreie an die tauben Steine gellen.
Glaubst du, ich werde deine Worte hören?
DIE SÄNGERIN
erhebt sich langsam, traurig.
Nein, du hast recht. Du bist schon so weit von mir.
Wie könnte dich meine Stimme erreichen!
Und könnte sie's, sie würde jenen Stimmen nicht gleichen,
die du hörst. Meine Stimme nicht mehr.
Aber sieh meine Hände, sieh mein Auge!
Wer hat Hände, die so kühl deine verbrannten Augen bedecken?
Wer hat Arme, die sich so sehnend nach dir strecken?
Von allen Unseligen, die du liebst, sag', wer?
DER PRINZ
leise, traumhaft.
Ich sah einen, der trug seine Arme an den Rücken gebunden,
er hätte sie gerne nach meinem Nacken gestreckt,
seine Hände waren vom Schlagen an Gitter und Steine zerschunden,
seine Hände waren blutbefleckt.
DIE SÄNGERIN
ihm ganz nahe, in höchster, schmerzlichster Verführung.
Wenn meine Hände dich nicht mehr finden können,
[107] sieh meinen nackten Mund nach dir bluten und brennen!
Du hast noch nie meine Lippen geküßt –
Küß mich!
DER PRINZ
ganz wach, in unsäglicher Qual.
Mein Mund ist verdorrt und wüst,
seit jenes Mörders Mund auf ihm brannte,
seit meine Seele, seit mein Geschlecht
jenen verdammten Leib erkannte,
seines Sterbens Schmach, seines Lebens Recht,
kann dein heiliger Mund mich nimmer verführen,
können meine verdurstenden Lippen
keines Weibes segnenden Mund mehr berühren!

Er kauert sich verzweifelt in den Sessel.
DIE SÄNGERIN
läßt sich müde auf den Diwan nieder.
Ja, ja, ich weiß. Ich wußte es, ehe ich herkam.

Pause.

Mein armer, kleiner Freund. Nun sind wir wieder ganz allein,
jeder für sich.
Und diese Nacht sollte für uns die Nacht aller Nächte sein,
heilig wie unsere Sterbenacht.
DER PRINZ
wieder leise.
Unser Sterben ist unheilig auf Erden,
Blutig wie unser Geborenwerden.
Denke, es kann geschehn,
daß zwei Menschen, zwei weibentbundene, einander in die Augen sehn,
[108] daß die Ferne fällt, die ihr Blut sonst scheidet,
daß sie miteinander auf die gärende Erde sinken,
daß sie auseinander
Lust und Tod und den Gottrausch trinken –
und daß dann einer dem andern den Hals abschneidet.
DIE SÄNGERIN
bedeckt ihr Antlitz.
Entsetzlich!
DER PRINZ.
Denk' das doch aus! – Das kann geschehen!
Ich habe es heute erfahren,
Ich habe heute noch vieles erfahren.
Du tatest es nicht, ich auch nicht.
Aber gab es nicht Augenblicke, wo
vielleicht nicht wir – aber in uns einer daran dachte?
Woher kommt all das Böse in uns?
Aus welchen schwarzen, abgründigen Quellen steigt es in unser Blut herauf?
Mit welchen Ketten, an welche Höllen sind wir gebunden?
Sie sagen »Mord« und »Mörder«. Sie sprechen von Gerechtigkeit,
Aber bis einer zum »Mörder« wird – was kommt denn über ihn?
Wir sind nicht schlecht. Wir sind nicht schlecht!

Mein Bruder, das Tier heute, sagte »Mutter« zu mir, wir drängen uns nach Güte, Liebe tut uns wohl. Wir morden nicht, wenn man uns lieb hat.

Und dennoch kann es geschehen.

Denke, wie einer dasitzen muß im äußersten Dunkel [109] und alles Böse heraufkratzen muß mit seinen Nägeln, bis er so weit ist. Denke, wieviel Liebe an ihm vorbeigegangen sein muß, bis er die Liebe anfällt und mordet Wieviel Güte man ihm aus den Händen geschlagen hat, bis solche Bosheit über ihn kam. Kannst du das denken?

DIE SÄNGERIN.
Hast du früher nie daran gedacht?
DER PRINZ.

Nein! Das ist der Fluch! Das ist das Grauen! Als du mich gestern etwas Ähnliches fragtest, verstand ich dich nicht. Ich war ein Götze, ein blindes Gestirn. Ich habe nichts gewußt von dem Schweiße der Heizer auf unsrem Schiff. Ich ging in Bordelle und habe die Angst der Dirnen nie gespürt. Wenn ich nachts auf Beute durch die unbeleuchteten Hafengassen strich, gellten Schreie zu mir. Ich habe nicht gefragt, ob sie von Liebenden, von Kreißenden, von Sterbenden kamen.

DIE SÄNGERIN.
Du warst ein Gott, ein schöner Stern.
DER PRINZ
wendet die Augen langsam dem Fenster zu.

Es ist ganz Nacht geworden. Der Himmel beginnt von Gestirnen zu glühen. Ja, ich war etwas Ähnliches. Meine Mutter war eine Göttin. Die dort Er weist nach den Sternen. waren meine Brüder. Nicht, die hier unten lebten und starben.


Himmel, durch die ich flog,
Erglühten in tausend Farben
[110] Um mich, der einsam – Sternadler – seine großen Kreise zog.
Nur du warst noch. Meine Bahn lief dir entgegen.
Aber nicht Suchen, nicht Sehnsucht war in mir.
Ich konnte geruhig des Nachts mit meinen Sternbrüdern Zwiesprache pflegen,
ohne zu fragen nach dir.
Du mußtest doch kommen. Oh, daß ich dich nun verlor!
Denn nun hat mich die Erde mächtig angezogen,
meine kosmische Bahn hat sich herabgezogen
und ich stürze – ein schwarzer, rauchender Meteor.
DIE SÄNGERIN.
Und hier, sag' hier –
kann hier mich nichts mehr dir verbinden?
Kann in der Hölle, in der wir sind,
nicht einer zum andren finden?
DER PRINZ
schmerzlich.
Es sind so viele zwischen dir und mir,
es sind so viele Münder vor deinen Küssen,
aus denen Schrei und Fäule gellt,
es sind so viele Augen aufgerissen,
in die mein Blick fällt,
daß er eh' auf dem Weg erblindet,
eh' er zu deinen geliebten Augen findet.
DIE SÄNGERIN
senkt das Haupt.
Ja, nun sind wir entzweit,
und schienen eins, einander geschenkt für die Ewigkeit.
[111] Und statt daß aus unsrem reinen Blute
Freuden gewitternd einander entgegenblitzen,
wird vielleicht in der nächsten Minute
der Haß zwischen uns sitzen –!
DER PRINZ
entsetzt.
Nein, nein! Das nicht! Das nie! Bitte, mach Licht, wir erfrieren im Dunklen!

Der Schein der kleinen elektrischen Lampe wirft ein warmes, rötliches Licht um beide.
DER PRINZ
Schweigen.

Dann ganz leise, innigst. Wir haben einander doch lieb. Das ist doch geblieben. Sie geht scheu wie ein Kind zu ihm, kniet nieder, küßt seine Hände. Sie sehen sich wieder lange an, ihre Lippen berühren sich nicht.

DIE SÄNGERIN
steht auf, geht zum Tisch.
Ganz ruhiger Ton. Darf ich dir den Tee bereiten?
DER PRINZ
ebenso.

Bitte. Mich friert ein wenig. Ich war den ganzen Tag draußen. Es hat stark geregnet. Sie zündet den Samowar an, gießt dann den Tee ein, und so weiter.

DER PRINZ
grübelnd.

Wir wollen nachdenken. Wir wollen zueinander sprechen. Es liegt vielleicht nur daran, daß ich nie über diese Dinge gesprochen habe. Seit jener Stunde, da ich als Knabe um dich sterben wollte, war ich wie gebannt in den Kreis meines Selbst. Niemand [112] trat herein. Nie trat ich heraus. Die Leute, die mit mir redeten, sprachen in fremden Zungen – und Madonna sprach nie. Vielleicht ist es nur das. Du bist klug. Du bist weise. Du hast gelitten. Du warst nicht fünf Jahre allein auf dem Meer. Dich hat nicht das fremde Leiden angefallen wie ein reißender Panther, der einem an die Kehle springt. Stück für Stück war es dir bloß, Maske auf Maske nahm sich die Menschheit vor deinen Augen ab und es blieb immer noch ein Gesicht übrig, wo ich nur enthäutetes, blutiges Fleisch sehe. Sprich du zu mir!

Ich bin heute, nachdem ich von dort kam, durch die Straßen gegangen. Nicht durch verrufene, ungewöhnliche, in denen das letzte Elend hockt und zuckt, durch ganz ruhige Straßen. Man schlug Pferde, in den Fleischerläden hing Geschlachtetes, in reichen Geschäften bedienten unausgeschlafene Kommis unbarmherzige Damen, kleine Beamte eilten nach Hause und in ihren Gesichtern stand Ärger und Hunger, nicht Liebe nach heimischem Tisch, Arbeiter brachen trotzig aus Fabrikstoren und ließen das Werk wie einen Fluch hinter sich zurück, junge Männer sprachen Ladenmädchen an und ihr Blick mühte sich nicht, Bosheit und Geiles zu verbergen. An einem Orte machte ein Homosexueller mir Anträge. In einer einzigen ruhigen Straße war soviel Hölle, daß Dante verstummt wäre.

Warum ist das so?

DIE SÄNGERIN
leise, nachdenklich.
Wir sind nicht gut genug zueinander.
[113]
DER PRINZ
lebhaft.

Aber warum nicht? Was hindert uns? In jedem von uns ist süßeste Güte. Und auch, der selbst nichts Gutes zu tun vermag, sehnt sich nach Güte, weiß also von ihr, wir sind nicht schlecht!

DIE SÄNGERIN.

Nein. Wir tun ja oft Gutes – große, gute Taten – mit prunkenden Gebärden. Aber wir unterlassen sooft das Kleine, wir versäumen soviel gegen einander. Wir unterdrücken Worte, Liebkosungen, Gebärden, weil uns der Ort nicht richtig scheint, die Zeit unangebracht. Und diese unausgegebene Güte, die wir feig erspart haben, fehlt dann irgendwo in der Welt. An ihre Stelle tritt Leeres und im Chaos brütet das Böse. Und mehr noch – diese unverbrauchte Güte, diese angebrachten Opfer werden Bodensatz in uns, kehren sich gegen uns, wandeln sich in fressenden Eiter, verbitterte Reue, – endlich Haß – –

DER PRINZ.
Ja, daran ist etwas Wahres. Schwer. Also sind wir Verdammte.
DIE SÄNGERIN.
Nein, das glaube ich nicht. Nur noch nicht Erlöste.
DER PRINZ.

Noch nicht Erlöste. Früher einmal muß Urhaß gewesen sein. Menschen fraßen einander, Brüder schlugen Brüder tot, Söhne die Väter, Männer die [114] Weiber. »Sie erkannten einander.« Und da kam der Haß über sie. Noch waren ihre Augen trübe, sie erkannten einander schlecht. Und ungeheure Brocken Haß, ererbte Sünde schwimmen von damals zwischen uns. Wer erlöst uns vom Haß, wie wir lieben wollen? Was erlöst uns vom Haß?!

DIE SÄNGERIN
ganz einfach.
Ich denke, daß wir gut zueinander sind, mein Geliebter – an allen Orten, zu jeder Zeit.
DER PRINZ
unruhig.

Nein, nein, das ist es noch nicht. Kam nicht Einer, der war gut – zu jeder Zeit, an allen Orten, zu den Lebendigen und den Toten? Ja, seine Güte war so stark, daß sie im Grimm den Tod in die Knie zwang. Lazarus kam aus dem Grabe! Und wir sind nicht erlöst.

DIE SÄNGERIN.
Daß wir alles Leid auf uns nehmen, aller alles Leid, die uns begegnen – ist das nicht genug?
DER PRINZ.

Nein. ER nahm alles Leid auf sich. Er stöhnte im Ölgarten und schrie nach Engeln um Hilfe. Er wand sich an der Säule unter Geißelhieben. Er blutete auf Golgatha unter Nägeln und Dornen. Und wir sind nicht erlöst.

DIE SÄNGERIN.

Ich weiß nicht. – Als Kind las ich oft in der [115] Passion. Und in meinem Gebetbuch stand: »O agnus Dei, qui tollis peccata mundi.«

DER PRINZ
langsam.

Der du die Schuld der Welt trägst. Er steht auf, preßt die Hände auf sein Herz. Lange Stille. Er trug sie nicht. Erkennend. Er trug sie nicht! Fast jauchzend. Er trug sie nicht!! Sehr hastig, zitternd vor innerer Erregung. Er hat unsre Schuld nicht auf sich genommen. – Höre, als Kind – später dachten wir nicht mehr daran – als Kind erschien es dir noch ungeheuer sinnlos, daß wir erlöst sein sollten, weil wir einen Unschuldigen ermordet haben! Weil ein Unschuldiger sich ermorden ließ? Wir haben ein Lamm geschlachtet! Wir haben uns die Hände nur blutiger gemacht. Seither waren Morde, Kriege – Scheiterhaufen brannten, Städte verkohlten, Fabriken explodierten, Pogrome wurden abgehalten! Wir haben ein Lamm geschlachtet! Halleluja! Er fällt, am ganzen Körper zuckend, in den Sessel zurück.

DIE SÄNGERIN.
Geliebter! Geliebter!
DER PRINZ.
Nein, nein. – Laß mich das zu Ende denken.
Hier ist kein Zurück mehr.
Die Schuld, die Schuld, die von Urzeit her,
– vom Weibe, vom Manne, was weiß ich von wem? –
sie blieb ungetilgt, blieb finster und schwer,
Galle in unseren Seelen zurück.
Ihm war sein Sterben ein brennendes Glück!
[116] Er hing am Kreuz – doch als Gott ihn verlassen,
da konnte er es – der Reine – nicht fassen,
er forderte Gott, er zwang ihn zu sich.
Seine blendende Stirn den Engeln glich,
die ihn umflogen, die ihn umrauschten,
deren Gewande im Winde sich bauschten.
ER hat die Schuld nicht auf sich genommen?

Leise, grübelnd, in dynamischer Steigerung.

Es müßte einer kommen,
der die Schuld ausbräche, den finsteren Stein,
das Böse, den Haß aus den Menschenherzen,
der unter tausend Schmerzen
aussaugte aus unserem Blute
der Sünde giftigen, schäumenden Wein,
er müßte – wie ER ein Gütiger, Reiner,
ein Leidender, Liebender wie keiner –
nicht nur die Geißeln, die Nägel, die Plagen,
er müßte ruchlose, unsühnbare Schuld
in seiner Seele ertragen.
Er müßte, in Gottes ewigen Anblick versunken
verzweifelt sich bäumen von den Knien,
zerreißen müßt' er die donnernden Harmonien,
die seine schaudernde Seele getrunken.
Er dürfte in seiner letzten Stunde
nicht ein Gerechter Gott anrufen,
nicht über feurige Stufen
der Qual zu Gott empor
schreiten mit reiner, leuchtender Wunde –
sondern befleckter, schuldiger als alle
aller Schuld zum Richtplatz tragen
und im letzten grausigen Falle
entweihte Stirne an schmutzige Steine schlagen,
[117] ein der Versuchung erleg'ner Versuchter,
ein vom Fluch in die Hölle Verfluchter,
ein Schächer, ein Mörder, ein Ausgespiener,
von sich selbst, von den Menschen ans Kreuz Geschriener,
um den Hals den Strick, die Augen aufschlagen
und zu allem – schweigen und wissen, nicht sagen:
Für euch! Für euch!
DIE SÄNGERIN
in allen Tiefen erschüttert.
Und die Schuld, die Schuld, die er beginge –?
DER PRINZ
mit unheimlichem Lächeln.
Eine, die Hals und Seele
auf ewig in drosselnder Schlinge finge.
DIE SÄNGERIN.
Gibt's eine?
DER PRINZ
ausweichend.
's gibt viele.
DIE SÄNGERIN.
Nenn' eine!
DER PRINZ.
Schuld wider das Leben.
DIE SÄNGERIN.
Gott hat dem Schächer vergeben!
Sagtest du nicht selbst:
Wir sind alle am Leben schuldig geworden.
[118] Ich habe getötet – mit Haß und Tücke.
Gedanken – Taten – wo führt eine Brücke?
Die Liebe vergibt.
DER PRINZ.
Die Liebe ermorden.

Starres Schweigen. Sie schreit auf. Auf ihn zu.
DIE SÄNGERIN.

Wo bist du? Wo bist du? Du hast mich töten wollen in diesem Augenblick. Mich! Wo hast du dein Messer? Gib her! Gib her! Sie ringt mit ihm, schreiend. Ich will nicht!! Zu Hilfe!! Ich liebe dich! Gib dein Messer!

DER PRINZ
starr, geisterhaft, öffnet seine Hände.
Ich habe kein Messer.
DIE SÄNGERIN
läßt von ihm ab, plötzlich totmüde.
Vergib!

Sie geht zum Lager, wirft sich müde nieder.
Lange Stille.
DER PRINZ
unendlich traurig.
Ich habe dich nicht töten wollen, Liebste!
DIE SÄNGERIN
die Hände unter dem Kopfe kreuzend.
Nein. Ich weiß. Ich war wahnsinnig vor Angst. Ich glaube, ich fiebere von deinen Worten. Vergib!
DER PRINZ
mit der gleichen monotonen Traurigkeit, den Ton festhaltend bis zum Schluß.

Aber weißt du nun, welche Schuld der Erlöser auf [119] sich hätte nehmen müssen? Es gab eine gute Dirne, Maria von Magdala, die ihn liebte. Wenn er sie eines Tages erschlagen hätte, glaubst du, er hätte noch fragen können: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Er hätte es dann gewußt Glaubst du nicht, daß wir dann erlöst wären, daß keine Schuld mehr wäre nach dieser?

DIE SÄNGERIN
still.
Ich weiß nicht. Ich will das Licht verlöschen. Es ist Nacht geworden.

Sie dreht, ohne steh aufzurichten, das Licht ab. Himmel. Sterne.
DER PRINZ.

Wie in südlichsten Nächten flammt der Himmel. Zärtlich, traurig. Sieh, nun sind wir wieder ganz allein und die Gestirne kreisen um uns wie ehedem. Es ist kalt und klar geworden.

CHORUS DAMNATORUM
leise.
Die wir im Dunklen wohnen,
in den Häusern der Schuld,
unsre Weiber sind welk,
unsre Männer sind müd,
unsre Kinder sind alt,
Väter und Mütter faulen.

Treibriemen zerschnitten sie,
Dampfhämmer zerschlugen sie,
Wasser schluckte sie gurgelnd
Lokomotive zerriß sie feurig,
und zeugten mich doch,
[120] gebaren mich doch,
in Liebe.

Unsre jungen Schwestern lernen huren,
unsre alten Schwestern müssen hungern,
unsre Brüder schießen nach der Scheibe
in Kasernen.

Um unsre schwarzen Häuser der Wind,
um die Häuser aus Eisenbeton,
rauschender Bote von Meer und Strom,
feuchter Engel bläst Krankheit durchs Fenster,
das scherbenzerschmissene.
Rote Duchent bauscht sich
ob uns weinend Gepaarten,
Kerze flackert in unsrem Husten,
Gasflamme ächzt im Rechaud.
Vorhang aus blauem Kattun,
Erbstück und Freude des Zimmers,
flattert schreiend hinaus.
Fahne und Angst in die Gassen.
Erbarmen, Erbarmer,
Erbarmen!
DER PRINZ
unbeweglich.

Nein, dort zieht Schwarzes herauf, Gewölk greift nach den Sternen. Bald wird es den Himmel gefressen haben. Bald wird es ganz finster sein.

DIE SÄNGERIN.

Wie sanft deine Stimme ist! Sprich, du Dunkler, du Liebender, du Geliebter, mein Tod! Sing mich ein mit deinen sanften Worten! Sing mich ein und dann komme!

[121]
DER PRINZ
näher an der Glaswand.

Bald wird es ganz finster sein. Wolken droben, schwere, nasse Wolken. Als hätten sie alle Tränen getrunken. Von allen Menschenaugen alle Tränen. Bald regnet es Tränen – – –

CHORUS DAMNATORUM
wachsend.
Höre, höre:
Wir treiben über die Meere,
Auswandererschiffe
sind unsre ewige Heimat.
Zwischendeck unsre Arche
über dem Meer, das sich nährt
vom Salz unsrer ewigen Tränen.

Höre, höre
wir wandern über die Erde,
Erde, die wir geknetet,
aus dem Lehm unsrer Herzen.
Wir sind der Grund der Städte,
aus unsren Herzen wachsen
Dome, orgeldurchdonnert,
Mörtel sind wir der Steine,
zu Fabriken getürmten,
drin unsre Enkel verkohlen.
Weh unser Samen, was haben
wir ihn in Weiber geschüttet,
statt ihn hinab zu den Vätern
in die Erde zu werfen,
daß er verdorr! Weh,
wehe, ich höre mein Blut
[122] rauschen in einem Sohne,
der mich verflucht, daß er lebt!
Erbarmen, Erbarmer,
Erbarmen!
DER PRINZ
in unaussprechlicher Bewegung.
Menschen, weinende, – Mütter, Brüder, Schwestern,
Kinder, Frauen, – all
ihr weinenden,
geliebten, geliebten Menschen!
DIE SÄNGERIN
sehnsüchtig.
Komm – – komm – –
DER PRINZ.
So viele weinen in der Nacht! Hörst du sie?
Schwerer, schwerer werden die Wolken.

Es dunkelt. Traurig lächelnd.

Wollen wir nun Hochzeit feiern?
DIE SÄNGERIN
gehorsam.
Ja.

Sie steht auf, läßt ihre Kleider fallen, streift ihre Schuhe ab und legt sich ruhig wieder hin. Unterdessen.
CHORUS DAMNATORUM
ganz leise, verhallend.
Wir sind hungrig, Herr.
Wir sind durstig, Herr.
Wir sind nackt, Herr.
Wir wohnen im Gefängnis.
Wir sterben allein im Spital.
[123] Oh setz' dich zu uns, Herr.
Wir brauchen nicht Brot.
Wir wollen nicht Wein.
Was sollen uns Kleider
aus Seide und Zobel?
Nur daß du bei uns bist.
Nur daß du uns ansiehst,
uns immer alleine.
uns spärlichst geliebte.
Erbarmen, Erbarmer,
Erbarmen!
DIE SÄNGERIN
die Hände unter das Haupt gekreuzt.
Komm!
DER PRINZ.
Ich komme. Nun komm ich zu dir.

Im letzten Sternenlicht funkelt ein malayischer Kris in seiner Hand auf.

Über alles Geliebte,
Alles, was gut hieß, warst du.
Lächeln warst du. Mai meiner Seele.
Freude kam von dir.
Liebe kam von dir, schmerzlose, ewige.
Gesegnete.
Über alles Geliebte.

Er naht sich ihrem Lager. Die Nacht schlägt über ihnen zusammen.
Völlige Finsternis.
Ein kurzer, leiser Aufschrei.
Lange, endlose Stille.
Man hört seine Schritte durch den Baum schwanken. Er tastet sich zum Schreibtisch.
Wieder Stille.
Auf einmal schrillt das Telephon auf.
[124]
DER PRINZ.

Hallo! Bitte, Fräulein, dringend. Verbinde. Sie mich mit dem nächsten Polizeikommissariat.

Hallo! –

Ja, Gutenbrunnstraße sieben telephoniert. Hier ist ein Mord begangen worden, Herr Kommissär! Ich habe einen Mord begangen.


Vorhang.

4. Akt

[125] [127]Vierter Akt

Zelle im Landesgericht. Pritsche. Rechts Tisch, zwei Stühle. Links oben vergittertes Fenster. Türe im Hintergrund. Später Abend.

DER PRINZ
vollkommen gebrochen.

Geht unruhig auf und ab. Unzusammenhängende Sätze. Madonna spielt Klavier. Abend schleicht über die Räume, drückt schwarze Wipfel zu Boden. Madonna spielt im Nebenzimmer. Wenn sie nur nicht immer dieselbe endlose Etüde spielte. Ich möchte gern Beethoven hören. Bitte – einmal Beethoven. Nicht? Nun, dann nicht. Es ist auch gleichgültig. Immer kommt dieselbe Wendung: La – la – lala – la – – Ich verstehe gar nichts von Musik, aber das peinigt mich unsäglich. Übrigens, warum eigentlich? Nein. nein. Man denkt einfach nicht daran. Wenn nur nicht auch schon Abend würde. Der Abend ist so entsetzlich lang. Madonna wird bei Kerzenlicht ihre Spitzen abwickeln und wieder aufspülen. Und ich kann nicht lesen, muß ihr zuschauen. Muß einfach. Ihre Hände. Wenn das nur nicht so lange dauern würde. Manchmal sitzen wir bis elf, halb zwölf. Und man sollte mehr schlafen. Man kann dann nämlich so schwer einschlafen. Von den offenen Augen im Finstern kommt alles. Alles Schlimme. Unsere Augen sind nur für den Tag. Im Finstern sieht man, daß gar [127] nichts ist Ganz feste, schwere Dinge sind plötzlich weg, Waschtisch, Kasten. Bilder sind schwarz und ausgelöscht. Was bleibt denn noch? Wir ganz allein. Grauenvoll. Grauenvoll. Früher glaubte ich wenigstens an Engel. Das war sehr beruhigend. Aber Madonna hat mir neulich erklärt, daß es keine Engel gäbe. Warum tat sie das? Warum hast du mir das gesagt, Mutter? Ich hatte einen so schönen Engel. Fast so schön wie du. Den hast du mir getötet. Das war nicht gut, Mutter – sicher nicht ...


Die Tür wird aufgesperrt. Es treten ein: der Staatsanwalt, der Gefängnisdirektor, der Verteidiger, zwei Justizfunktionäre, zwei Aufseher und der Herr im Frack, diesmal in Zivil, der sich bescheiden im Hintergrund hält.
DER STAATSANWALT.

Ich habe Ihnen die Mitteilung zu machen, daß Ihrem Gnadengesuch, zumal es seitens des hohen Gerichtshofes keine Unterstützung finden konnte, nicht stattgegeben wurde. Das zu Rechtskraft erwachsene Urteil wird demnach morgen vier Uhr früh vollstreckt werden.

DER PRINZ.
Bitte, wie – ich verstehe nicht ganz – –
DER STAATSANWALT.

Das Urteil ist Ihnen ja bekannt. Wenn Sie es wünschen, werde ich es noch einmal zur Verlesung bringen. Sie sind mit Stimmeneinheit des tückischen Mordes schuldig erkannt und gemäß Paragraph – – des Strafgesetzbuches zum Tode durch den Strang verurteilt worden.

[128]
DER PRINZ
ungeduldig.
Ja, ja, das weiß ich ja. Aber die Gnade – – es heißt doch, daß die Gnade – – –
DER STAATSANWALT.

Bitte, stellen Sie sich doch nicht, als ob Sie mich nicht verstünden. Wir sind durch das psychiatrische Gutachten über Ihren Geisteszustand hinreichend informiert Es ist ganz überflüssig, daß Sie hier noch einmal Simulationsversuche unternehmen. Aber wenn Sie darauf bestehen, wiederhole ich also: Ihr Begnadigungsgesuch ist abgewiesen worden. Die Vollstreckung des Urteiles wird morgen um vier Uhr früh stattfinden. Der irdischen Gerechtigkeit – –

DER PRINZ.

Aha – wird Genüge geschehen. Das wollten Sie doch sagen? Oder – wird ihr Lauf gelassen. Nicht wahr? Aber die Gnade, ich bitte – die Gnade?

DER STAATSANWALT.

Ich habe Ihnen schon gesagt: der hohe Gerichtshof hat durch Ihr ganzes Verhalten während des Prozesses nicht den Eindruck gewonnen, daß es am Platze wäre, Sie zur Begnadigung zu empfehlen.

DER PRINZ
leise.
Aber ich habe die Welt erlösen wollen.
DER STAATSANWALT
achselzuckend.

Wenn Sie wüßten, wie Sie uns durch Ihr Benehmen die ganze Sache erleichtern! Es ist vielleicht [129] inkorrekt, wenn ich Ihnen das an dieser Stelle vorhalte, aber – entschuldigen Sie – ein Mensch von Ihrer Abkunft, Ihrem Bildungsgrad sollte doch den Mut aufbringen, die Folgen seines – seiner Handlungsweise mit etwas Würde auf sich zu nehmen.

DER PRINZ.
Ich habe die Welt erlösen wollen.
DER STAATSANWALT.

Das Urteil der Geschworenen über Sie wäre vielleicht nicht so einstimmig vernichtend ausgefallen, wenn Ihr Simulieren religiösen Wahnsinns, Ihr geradezu frivoles Ausspielen der heiligsten Begriffe und Gefühle die Herren nicht unwillkürlich gegen Sie aufgebracht hätte.

DER PRINZ.
Ich simuliere –!
DER STAATSANWALT
wider Willen heftig.

Ja. Und recht ungeschickt. Das psychiatrische Gutachten hat in dieser Hinsicht keinen Zweifel offen gelassen. Auch der Exzeß, den Sie sich am Vormittag vor der Tat geleistet haben, hat ja gottlob das richtige Gesamturteil der Herren nicht zu beeinflussen vermocht Sie sind ein degenerierter, zu exaltierten Ausbrüchen neigender, aber geistig vollkommen verantwortlicher Mensch. Sie haben einen gewöhnlichen Lustmord begangen und suchen diesen nun mit einem mystisch-romantischen Schimmer aufzuputzen. Wie tief Ihre Verderbtheit geht, erhellt [130] eben am besten der Umstand, daß Sie die Tat begangen haben, unmittelbar nachdem Sie durch die Justifizierung eines gleichen Verbrechers gewarnt worden waren – ja, daß dieser Akt Ihren sadistischen Neigungen gewissermaßen als Stimulans gedient haben mag!

DER VERTEIDIGER.
Herr Staatsanwalt, ich muß mich entschieden verwahren –!
DER STAATSANWALT
wieder beherrscht.

Entschuldigen Sie, Herr Doktor. Ich weiß, daß meine vielleicht begreifliche Erregung nicht am Platze ist. Über den Fall selbst sind hier gewiß keine Worte mehr zu verlieren. Es steht mir nicht zu, einen Gerichteten zu richten. Nochmals – entschuldigen Sie. Zum Prinzen. Sie haben also verstanden, um was es sich –

DER PRINZ
mit erzwungener Ruhe.

Herr Staatsanwalt, ich begreife Ihren Standpunkt, aber Sie müssen doch auch versuchen, den meinen – – Ich –

DER STAATSANWALT.

Ich bedaure, mich mit Ihnen in keinerlei Konversation weiter einlassen zu können. Etwaige Wünsche sind dem Herrn Gefängnisdirektor vorzutragen.

DER PRINZ
kämpft einen furchtbaren Ausdruck nieder.
Ich möchte –
[131]
DER GEFÄNGNISDIREKTOR
jovial.

Bitte, äußern Sie ruhig Ihre Wünsche. Was irgend möglich ist und den Vorschriften nicht zuwiderläuft, wird gern getan. Wollen Sie ein Henderl mit Reis und Kompott? Oder lieber eine kalte Platte? Man wird sie Ihnen holen.

DER PRINZ
vor einem Brechanfall.
Nein, danke. Ich möchte nichts essen.
DER GEFÄNGNISDIREKTOR.
Aber Sie müssen doch etwas essen! Sie sind sonst morgen –
DER PRINZ
leise, feig, gequält.
Könnte ich – könnte ich nicht – eine Morphium – injektion – –
DER GEFÄNGNISDIREKTOR.

Bedaure, das ist unmöglich. Künstliche Beruhigungsmittel dürfen wir nicht verabfolgen. Aber lassen Sie sich eine Flasche Champagner kommen. Den können Sie haben. Trinken Sie sie aus. Dann werden Sie ganz gut schlafen.

DER PRINZ.
Ja – also bitte – eine Flasche –
DER GEFÄNGNISDIREKTOR.

Schön. Ihr Herr Verteidiger bleibt noch bei Ihnen. Wenn Sie noch irgendwelche Angelegenheiten zu ordnen haben sollten –

[132]
DER PRINZ
macht eine abwehrende Bewegung.
DER GEFÄNGNISDIREKTOR.
Das ist ganz Ihre Sache. Wünschen Sie den Besuch eines geistlichen Beistandes?
DER PRINZ
mechanisch, ohne zu überlegen.
Ja.
DER GEFÄNGNISDIREKTOR.

Ich werde das Nötige veranlassen. Fast herzlich. Und nehmen Sie sich zusamm'! Es ist nun einmal nicht zu ändern. Sie sind doch – soviel ich weiß – schon wiederholt dem Letzten gegenübergestanden. Man muß – – Ja, was wollte ich sagen? Kurze, schreckliche Pause. Bricht ab. In anderem Tone. Der Herr dort hat ein paar Worte mit Ihnen zu reden. Es ist besser, wenn Sie ihn heute schon sehen, damit Sie ihm morgen gefaßter – – ja. Er tritt mit den anderen in den Hintergrund.


Der dunkel gekleidete, behäbige Herr der bisher im Hintergrund gestanden ist, tritt vor. Letztes, unsicheres Zwielicht, in dem der Herr kein Gesicht zu haben scheint.
Der Prinz erkennt ihn an irgend etwas an der Haltung, weicht mit einem Ausdruck namenlosen Grauens einen Schritt zurück. Das Folgende sehr leise, etwas gespenstisch.
DER BEHÄBIGE HERR.
Erlauben schon. Mein Name ist Kurtz.
[133]
DER PRINZ
am ganzen Körper zitternd.
Sehr angenehm. Ich glaube, ich habe schon –
DER BEHÄBIGE HERR.
Ja, ja. Haben uns schon g'sehn. Damals haben S' mir schreckliche G'schich ten aufg'führt!
DER PRINZ.
Aber damals waren Sie – im Frack.
DER BEHÄBIGE HERR.
Ah, die Uniform zieh' ich erst morgen an. Heut' bin ich in Zivil.
DER PRINZ
blödsinnig lächelnd.
Aha, Zivil. Zivilisation. Civis. Der Bürger.
DER BEHÄBIGE HERR.

Bitte? – Alsdann, Sie sollen nämlich ein schrecklich nervöser Herr sein, hat man mir g'sagt. Na, ich weiß ja eh. Macht nix. Schauen S', das kann jedem passieren. Darum komme ich auch her. Sie brauchen nämlich gar ka Angst zu haben. Es tut überhaupt nicht weh.

DER PRINZ.

Nicht? Aber ich dachte – wenn man so langsam erstickt. Ich versuche manchmal mich zu trainieren. Halte den Atem an. Aber es geht höchstens bis zwanzig, dann – –

DER BEHÄBIGE HERR
beleidigt.
Aber Herr – wer red't denn von ersticken? Das sind halt die Vorstellungen des Laien. Erlauben mal.

Er greift ihm blitzschnell nach dem Nackenwirbel.
[134]
DER PRINZ
blöckt kurz auf.
DER BEHÄBIGE HERR.

Aber ich tu' Ihnen doch nix. Nix für ungut. Sein Sie aber nervös! Na servus, das kann morgen lieb werden!

DER PRINZ.
Aber warum – haben Sie mir – daher gegriffen?
DER BEHÄBIGE HERR.
Aber nur um zu schauen, ob S' sehr feste Knochen haben.
DER PRINZ.
Ja – aber – wozu – –?
DER BEHÄBIGE HERR.

Aber wissen S' denn das nicht? Das ist ja der Trick. Ganz unbetont. Ich dreh' Ihnen nämlich dann mit einem Griff das Genick um.

DER PRINZ
starrt ihn mit verglasten Augen an.
DER BEHÄBIGE HERR.

Ja. Das tut gar nicht weh. Im Gegenteil. Sie stehen sich starr gegenüber. Der Behäbige lächelt einen Augenblick leicht, satanisch. Also lassen S' sich keine grauen Haar' wachsen bis morgen. Trinken S' a Flascherl Schampus. Und sein S' mir fesch morgen. Net so – Was, der Mensch muß doch an Ehrgeiz haben! Ich hab' einen 'kannt, der hat mir, wie ihm 's Krawattel schon umg'legt war, noch schnell gesagt: »Kannst mich – –!« [135] Allerhand Hochachtung. Also machen S' es ihm nach. Habe die Ehre. Guten Abend. Auf Wiedersehen! Zieht sich zurück.

DER STAATSANWALT
in der Tür.

Also – Sie haben jetzt mit dem Herrn Nachrichter gesprochen. Er wird Sie hoffentlich über den – physiologischen Vorgang beruhigt haben. Ich kann Ihnen nur den Rat geben, erleichtern Sie Ihr Gewissen – das wird auch Ihren Nerven gut tun. Also – etwas vor vier Uhr.

DER PRINZ
mit einem Sprung auf ihn zu.

Zwei Aufseher fallen ihm in die Arme. Würgt hervor. Herr Staatsanwalt, glauben Sie wirklich, daß ich – daß ich – Ich habe die Welt – –!!


Der Staatsanwalt und die Übrigen entfernen sich rasch. Der Verteidiger und ein alter Aufseher bleiben zurück.
DER PRINZ
schwankt auf den Sessel zurück.
Ich habe die Welt erlösen – – –
DER VERTEIDIGER
zum Aufseher.
Sie können ruhig gehen, Doleschal – Sie sehen ja. Es ist absolut keine Gefahr.

Der Aufseher geht. Fast völliges Dunkel.
DER PRINZ.
Ich habe die Welt erlösen wollen. Ich habe wissend die Schuld auf mich genommen. Alle Schuld.
[136]
DER VERTEIDIGER.

Aber bitte, Durchlaucht, bemühen Sie sich jetzt nicht. Wir sind unter vier Augen. Und selbst wenn es anders wäre, es hätte doch gar keinen Sinn. Ich hab' es Ihnen ja prophezeit. Sie haben mir nicht folgen wollen. Ich habe Ihnen gesagt, religiöser Wahnsinn zieht nicht mehr, seit gewöhnliche Raubmörder schon mit dem heiligen Antonius arbeiten. Weder bei den Psychiatern noch bei den Geschworenen. Erstere sind zu wenig aufgeklärt, letztere leider zuviel. Hätten Sie mir gefolgt, hätten Sie sich als Erzsadist ausgegeben! Psychopathia sexualis mit schwerer hereditärer Belastung. Ein Onkel von Ihnen hat doch auch einmal ein kleines Mädchen genotzüchtigt, die Sache ist nur vertuscht worden. Damit hätten wir vielleicht reüssiert. Aber Sie haben die ganze Sache aus der sexuellen Sphäre, für die sich alle interessiert hätten, in die mystische transponiert, um die sich keine Katz kümmert. – Tja, was hilft jetzt alles Reden? Ich habe Sie gewarnt.

DER PRINZ.

Ich habe die Schuld auf mich genommen! Aller alle Schuld! Und jetzt kann ich nicht mehr! Sie erdrückt mich. Ich kann einfach nicht. Es muß doch ein Zurück geben. Es muß doch, Herr Doktor –! Es hilft ja so nichts! Ich kann ja nicht mehr! Ich bin schwach, ich bin schwach!

DER VERTEIDIGER
erschrocken.

Aber, lieber Freund! Das Thema regt Sie zu sehr auf. Red'n wir von was anderm. Haben Sie noch [137] letztwillige Verfügungen zu treffen? Sie haben volle Testierfreiheit.

DER PRINZ
schüttelt den Kopf.
Das ist ja nicht –Wesenlose Geste. Herr Doktor –! Gibt es auf. Nein. Danke für Ihre Bemühungen.
DER VERTEIDIGER.

Es tut mir leid – aber Sie müssen einsehen, Durchlaucht, Sie haben mir die Situation so schwer gemacht –

DER PRINZ
bricht ab.
Gute Nacht!
DER VERTEIDIGER
verblüfft.
Ja, soll ich nicht bei Ihnen – bis der Geistliche kommt –
DER PRINZ
mit schneidendem Hohn.
Glauben Sie, daß er Bridge spielt?
DER VERTEIDIGER
entsetzt.
Wer?
DER PRINZ.
Der Geistliche. Dann könnten wir nämlich noch ein Dreierbridge machen.
DER VERTEIDIGER
aufrichtig empört.
Nein, ich glaube kaum. – Verzeihen Sie, aber das ist zynisch.
[138]
DER PRINZ.
Schade. Also dann ist nichts zu machen. Sehr hochmütig. Gute Nacht!
DER VERTEIDIGER.

Für Sie ist es jedenfalls besser, in dieser Stimmung zu sein. Ich wünsche Ihnen aufrichtig, daß sie vorhält. Ich werde morgen natürlich zur Stelle sein.

DER PRINZ.

Natürlich. Erstens kostet es nichts. Zweitens können Sie von der Geschichte eine Woche lang in den Salons leben.

DER VERTEIDIGER
sehr verletzt.

Ich begreife Ihre Erregung und bin weit entfernt, Ihnen diesen Ausbruch übel zu nehmen. Es tut mir leid, daß ich sonst nichts für Sie tun kann. Ich wünsche Ihnen von Herzen eine möglichst ruhige Nacht. Er geht.


Vollkommene, dichte Finsternis. Der Prinz schreitet auf und ab.
DER PRINZ
leise.

Doleschal! Er horcht, zwingt sich zusammen. Dann stärker. Doleschal! Schreiend. Doleschal! Er wirft sich heulend auf die Steine und schlägt mit der Stirne den Boden. Doleschal!! Doleschal!!!

DER ALTE AUFSEHER
stürzt herein, eine Petroleumlampe, die kalte Platte und die Champagnerflasche tragend.

Scho' da! Scho' da! – Jesus! – Na, was is' denn? Aber was is' denn? Aber – bitt' Sie – bitt' Sie! [139] No ja, das geht vorüber. No – – Er richtet den Prinzen auf, der sich an ihn klammert.

DER PRINZ
fliegend.

Doleschal! Doleschal! Sie glauben mir nicht! Ich habe die Welt erlösen wollen! Ich habe alle Schuld auf mich genommen – nicht wie ER, verstehst du, nur das Leiden! Das Leiden, das ist nichts – aber die Schuld! Ich habe nicht gemordet aus Lust, Doleschal, ich habe gemordet in Schmerzen, wie eine Mutter sie leidet, wenn sie gebiert. Und nun kann ich es nicht mehr tragen!! Ich kann einfach nicht! Es schlägt über mir zusammen! Ich bin schwach, ich bin feig! Es muß alles rückgängig gemacht werden. Das kann doch geschehen, Doleschal! Ich werde ein neues Gesuch schreiben. Du wirst es mit mir unterschreiben, nicht wahr, Doleschal?! Auf dich hören sie, du bist alt, du hast die Medaille für vierzigjährige treue Dienste. Es muß rückgängig gemacht werden. Ich kann das Leiden nicht ertragen!

DER AUFSEHER.

Aber, aber – bitt' Sie – also beruhigen S' Ihna! Schaun SY da kann ma doch nix machen. Sind doch alle so, Herr Jesus! Da is' Essen! Schauen S' nur, ein feines Schinkerl – und französischer Schampanjer.

DER PRINZ
läßt sich willenlos zum Tisch führen.
Aber es muß doch rückgängig gemacht werden. Wenn ich nicht kann
[140]
DER AUFSEHER
leise, schonend.
Ich schenk' Ihna ein. Trinken S' erst a bissel.
DER PRINZ
fallend.
Rückgängig – – alles rückgängig – –
DER AUFSEHER
einfach.
Aber schaun S', das geht doch nicht. Schaun S' – die ist doch tot.
DER PRINZ
leise.
Sie sollen mich zu ihr führen. Ich will die Tochter des Jaïrus von den Toten erwecken.
DER AUFSEHER.
Jesus! Jesus!

Die Tür öffnet sich. Vom Korridor schwaches Licht. Der Bruder in brauner Franziskanerkutte mit Kapuze steht dunkel in der Türe.
DER BRUDER.
Pax vobiscum.
DER AUFSEHER
murmelt.
Et cum spiritu tuo. Zum Prinzen. Stehn S' auf, stehn S' auf. Der geistliche Herr ist da.
DER BRUDER
freundlich.
Lassen Sie nur. Er tritt ein.
[141]
DER AUFSEHER
leise zum Prinzen.
Tun wir nachher essen. Er räumt die Platte und den Champagner weg.
DER BRUDER
ruhig zu ihm.
Sie können gehen, lieber Freund.
DER AUFSEHER.
Bin', wenn S' mich Hochwürden brauchen, nur rufen. Bin in der Nähe. Bitt' um den Segen.
DER BRUDER
macht ein Kreuz über ihn.
In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti.
DER AUFSEHER
entfernt sieh, schließt die Zellentür.
DER BRUDER
setzt sich dem Prinzen gegenüber.

Das Licht der kleinen Petroleumlampe liegt voll auf ihm, doch beschattet die Kapuze sein Antlitz. Der Prinz sitzt ganz im Dunkeln. Können Sie das Paternoster?

DER PRINZ
starrt ihn gebannt an.
Ja, ehrwürdiger Vater.
DER BRUDER.
Nur Bruder, bitte, nur Bruder. Wir wollen zusammen beten:

Pater noster, qui es in coelis,
sanctificetur nomen tuum,
adveniat regnum tuum,
[142] fiat voluntas tua
sicut in coelis et in terra.
Et panem nostrum quotidianum da nobis hodie.
Et dimitte nobis debita nostra sicut et nos dimittimus debitoribus nostris.
Et ne nos inducas in tentationem,
sed libera nos a malo.
Amen.

Schweigen.

Sie haben mir einiges zu sagen. Bitte, sprechen Sie ganz frei. Ich brauche Sie nicht auf das Siegel des Beichtgeheimnisses aufmerksam zu machen. Ich werde mich bemühen, Ihnen zu folgen.

DER PRINZ
ihn fortwährend starr ansehend.
Ich weiß nicht, ehrwürdiger Bruder – –
DER BRUDER
lächelnd.

Nur Bruder, bitte einfach »Bruder«. Wer von uns ist würdig der Ehre? Es steht geschrieben: »Ich bin nicht wert, ihm den Riemen von seinen Schuhen zu lösen.« Wissen Sie, wer das von sich sagt?

DER PRINZ
starr.
Ja, der Täufer.
DER BRUDER.
Also ein großer Heiliger, Und ich bin keiner. – Sprechen Sie.
DER PRINZ.
Ich habe die Welt erlösen wollen.
[143]
DER BRUDER.
Wovon?
DER PRINZ.

Vom Blute. Vom Leiden. Von der Schuld. Von der Erbsünde. Vom Fluche, der über der Liebe ist. Vom Schweiße, der am Werke klebt. Vom Kriege, den Brüder wider Brüder führen. Von der Revolution, die Brüder wider Brüder führt. Von allem Übel.

DER BRUDER.
Wie wollten Sie das erreichen?
DER PRINZ.
Durch Mord. Ich habe gemordet.
DER BRUDER.
Wie kamen Sie dazu?
DER PRINZ.

Ich wollte die Schuld auf mich nehmen. Ich wollte mich selbst ausschließen von der Gnade, auf daß sie allen zuteil werde. ER ist rein geblieben. ER hat nur das Kreuz auf sich genommen. Das ist zu wenig. ER hat seinen Körper dargebracht, ich mehr – ich habe auch meine Seele geopfert. Sein Leiden wuchs rein zu den Sternen auf, meines aber gebiert sich aus trächtiger Schuld. Niemand kann mehr verdammt werden nach mir. Denn ich habe die schwerste Sünde begangen. – Ich habe Gott geschaut und mich von ihm gewandt Gott wollte den Kelch an mir vorbeigehen lassen, ich aber habe ihn an mich gerissen. Ich habe ihn geleert bis zum [144] letzten bittersten Tropfen. Ich war vorhin schwach, mein Irdisches krümmte sich zur Erde. Nun aber weiß ich, daß ich den rechten Weg gegangen bin. Und wenn ich morgen unter dem Galgen stehen werde, wenn mein Leib sich erbrechen wird vor Angst und Ekel, wird meine Seele aufschreien vor Lust. Denn ich weiß, nach meinem Tode wird der Tod nicht mehr sein und nicht Leid und Geschrei. Millionen meiner Brüder und Schwestern werden kommen unter mein Holz und sich umarmen und Hosiannah singen. Kinder werden geboren werden ohne Schmerz und heranwachsen mit reinen Augen und glänzenden Scheiteln. Die Kranken werden genesen, die Verlorenen werden heimfinden, die Geknechteten werden frei sein, die Toten werden erstehen und die Pforten der Hölle auffliegen für ewig!!

Nun sprechen Sie mich schuldig, wie es Ihre Pflicht ist. Ich habe nichts zu bereuen.

DER BRUDER.
Ich tue es. Schuldig im zweifachen Sinne: des Mordes vor den Menschen und der Hoffart vor Gott.
DER PRINZ
schwer atmend.

Ihr »Schuldig« trifft mich nicht. Doch Sie sprechen von Hoffart? Ich, der ich mich unter alle gebeugt habe, der ich mich in die Hände der Henker gegeben habe?

DER BRUDER.

Sie sprechen immer von »sich«. Hören Sie nicht, wie sich aus jedem Ihrer »Ichs« die schwarze [145] Schlange des Hochmuts bläht? Sie haben sich aufgeopfert – gut, das durften Sie, ich weiß nicht, ob Ihr Opfer Gott wohlgefällig gewesen, ob sein Rauch zum Himmel aufgestiegen wäre! Ich weiß es nicht. Aber Sie haben mehr getan. Sie haben Gott ein Blutopfer dargebracht. Wer gab Ihnen das Recht über ein anderes Leben? Das besser war als Ihres? Wissen Sie nicht, daß Gott unblutiges Opfer verlangt?

DER PRINZ
höhnend.

Verlangt er das? Warum gibt es dann Maschinengewehre, Flammenwerfer, Gasbomben, schlagende Wetter, Tuberkelbazillen, Syphiliskeime?

DER BRUDER.

Eitler! Hochmütiger! Ehrgeiziger! Sie wollen die Harmonie, und die Dissonanz, aus der sie einzig wird, wollen Sie nicht hören? – Warum? Daß wir wachsen, daß wir kämpfen, daß wir niederbrechen, uns neu erheben, aufs neue zum Staube geschlagen werden! – Daß uns blutend, zerfetzt, bespien, am Wegrand, am Fuß des Berges – die Liebe finde! Denn die Liebe geht überall durch die Welt.

DER PRINZ.
Worte – ich kenne sie. Ich bin ihr nicht begegnet.
DER BRUDER.

Sie sind ihr begegnet, aber Sie wußten mit ihr nichts anzufangen als sie totzuschlagen. Der Prinz zuckt zusammen. O seien Sie ruhig, Sie Erlöser. Sie ist [146] nicht tot, sie geht überall durch die Welt. Und ehe der Tag anbricht, wird sie auch zu Ihnen gefunden haben.

DER PRINZ
zurückweichend.

Ich will nicht – ich will nicht – Und wenn es wahr ist, was Sie sagen, ich will verdammt, ich will das Opfer sein!

DER BRUDER.

Der, über den Sie sich erhoben, hat das Opfer gezeigt, das gebracht werden muß. Die Sie mordeten, hat es Ihnen genannt: den eigenen Hochmut darbringen, den Haß des Herzens, die Ehrsucht des Geistes, die Eitelkeit der Sinne – – – Demut heißt das Opfer, Güte, Gnade. Die Arme ausstrecken zum Segen, nicht zum Mord. Wie, Sie wollten aller Schuld auf sich nehmen und sehen die eigene nicht?!

DER PRINZ
beginnt innerlich zu wanken.
Ich weiß nicht sprechen – – Sie, sprechen Sie weiter!
DER BRUDER.

Ihre Schuld war Hoffart, Ungenügsamkeit in der Güte. Sie wollten nicht den schweren, langsamen Weg der Liebe gehen, den tausend Namenlose vor Ihnen gegangen sind und heute gehen. Sie waren nicht gut zu der, die Sie liebte. Sie haben die Betrübten nicht getröstet, die Gefangenen nicht besucht. Sie wollten den Kalvarienberg stürmen. Sie [147] wollten das Opfer Christi bringen – und haben das Opfer Kains gebracht!

DER PRINZ
läßt den Kopf in die Hände fallen.
Gott, Gott, Du prüfst mich schwer!
DER BRUDER.
Wie, Sie rufen nach Gott? Wollten Sie nicht von ihm verstoßen sein?
DER PRINZ.
Ich wollte es sein.
Gott, Du weißt,
ich wollte allein,
von allen bespien, von allen geschlagen,
die blutige Kreuzlast bergwärts tragen.
Doch nun ist der Versucher an mich getreten,
er hat meine Seele erwürgt, erhängt.
Nun muß ich zu Dir beten!
Meines Leibes Not,
meines Gaumens Bitternis,
der körperliche Tod,
vor dem die Angst mir mein Hirn zerriß,
was sind die gegen des Zweifels Grauen,
den er wider meine Seele hetzt?
Jetzt,
mein Gott, jetzt muß ich Dein Antlitz schauen,
daß ich Sünder meine verdammte Seele
in Deine barmherzigen Hände empfehle.

Die Kapuze ist von dem Haupt des Bruders geglitten, das nun ganz im Lichte steht. Es ist das Haupt des Crucifixus.
[148]
DER BRUDER.

Nun hast du dich gebeugt, mein Bruder. Das ist gut. Aber es ist noch nicht alles. Nun sollst du erkennen!

Du sprichst stets von der Schuld. Ich weiß nicht, ob es eine gibt. Aber nimm an, es bestehe etwas wie Schuld, das auf uns Menschen Hegt, das einer wider den andern trägt – Begierde nach fremdem Leib und fremdem Leben, unausgegebene Güte, Gleichgültigkeit, Haß sogar. Du wirfst IHM vor, daß er diese Schuld nicht auf sich genommen habe, daß er sein Leiden trug wie ein fremdes Kind, nicht aus eigenem Blute, aus eigener bewußter Schuld geboren, du vermaßest dich, es zu tun. Weißt du nicht, daß es dies, was du Schuld nennst, ist, was die Menschen aneinander bindet – nicht in Haß und Verzweiflung, wie du meinst, sondern in Liebe? Daß wir immer sündigen müssen, um lieben zu können? Weißt du nicht, daß wir ohne die Schuld herzlose Götter wären, wie du einer warst? Weißt du was Güte ist? Abtragen wollen die Schuld gegen deinen Gläubiger – langsam, langsam abtragen, mit eigenem Leid bezahlen, was er von dir litt – dir abringen die guten Gedanken, die lieben Worte, freundlichen Blick und Segnen der Hände. Wer liebt, trägt ab. Wer leidet, trägt ab. Erlöst sich selbst, erlöst die anderen, erlöst am Ende – wo gibt es ein Ende? – die Welt – das ist der Sinn von Golgatha. – – Du aber, Eitler, Hochmütiger, Ehrgeiziger, fühltest dich nicht genug verschuldet, ein ganzes Leben lang zu lieben und zu leiden? Du mußtest erst morden?! Teuerstes Leben, [149] dir namenlos gläubig an die Brust gelegt, in die Seele geschmiegt, mußtest du verraten, um schuldig zu werden?! So rein warst du? Künstlich mußtest du erst Schuld auf dich laden, du Schuldigster?! Du hast nicht das Opfer Christi gebracht, du hast das Opfer Judas' gebracht.

DER PRINZ
auf den Knien.
Mein Gott, mein Gott, in der äußersten Qual,
der Sünde Leuchte, des Hasses Fanal,
erkennend, was ich, Verlorner, getan,
ruf ich dich an:
Der die Liebe erschlug, ihm hingegeben,
der das Leben,
das ihm Güte und Gnade verhieß,
in brennendem Hochmut von sich stieß,
der Erlöser der Welt, der vom Blut und vom Bösen
nicht konnte die eigene Seele lösen,
der das Leben verriet, in die Welt trug den Tod,
der Kain, der Judas Ischariot,
schreit auf nach dem Übermaß deiner Huld:
Vergib mir, Herr, vergib meine Schuld!

Er bricht weinend zusammen.
DER BRUDER
steht auf.
Es beginnt zu tagen.
Nun bist du gebrochen, mein Bruder. Das ist gut
Nun sollst du losgesprochen werden.
DER PRINZ
sieht zu ihm auf.
Herr! – –
[150]
DER BRUDER
gütig.

Nicht »Herr«. Nur Bruder, nur Bruder. Von allen Sünden sollst du losgesprochen werden, denn sieh, ich weiß, du hast aus Liebe gesündigt.

DER PRINZ.
Herr –! Herr –!
DER BRUDER.
Steh auf, mein Bruder! Noch einmal setze dich mir gegenüber. Schau, der Tag bricht an.

Er löscht das Licht. Fahlgraues, langsam anwachsendes Dämmern. Kurzes Schweigen.

Wie schön das Licht mit deinen Haaren spielt. Sagte ich nicht, ehe der Tag anbricht, würde auch dich die Liebe gefunden haben? Du bist kein Erlöser – wir sind es alle nicht. Du bist ein Mörder, mein Bruder – wir sind es alle. Es gibt keine Verdammung. Wir werden nicht geboren, um zu sterben. Wir sterben, um geboren zu werden.

DER PRINZ
ehrfürchtig, leise.
Darf ich fragen – sieh, ich bin unwissend wie ein Kind – warum müssen wir sterben?
DER BRUDER.

Das Saatkorn stirbt, um geboren zu werden. Siehe, ein Sämann gehet aus und die Saat fällt in die Erde und manches Korn erstickt im Geröll. Aber ein Tag kommt und Grünes bricht aus dem Dunkel, wird gelb und reif und schwer und bringt hundertfältige [151] Frucht. Und am Himmel steht rot der Sommer. Mußtest du nicht leiden, um gut zu werden?

DER PRINZ.
Aber auch andere mußten für mich leiden.
DER BRUDER.

Aber nun littest du für andere. Von deinem Leiden gehen Wellen der Güte aus, durchströmen den Äther – tausend Seelen, die du nicht kennst, beginnen zu schwingen wie Saiten, Musik wird – und das Ende ist die Harmonie.

DER PRINZ
mit einem letzten Zweifel ringend.

Aber die sterben, ehe sie zu ihren Ohren dringt, die sterben, einer Handgranate Zischen im Ohr, einer Stichflamme Pfiff, eines Hammers Donnern, eines Stromes Gegurgel – die sterben, Fluch auf den Lippen?

DER BRUDER
ganz einfach.

Ich bin die Auferstehung und das Leben. Ich bin der Sämann, der sät, ich bin der Schnitter, der Ernte hält. Ich habe alle gezählt und sieh, noch keiner ist verloren gegangen.

DER PRINZ
ebenso einfach.

Dann will ich meinen Weg gehen. Er erhebt sich und kniet vor ihm nieder. Gib mir deinen Segen! Sprich mich los! Verzeih mir, aber mein irdisches Ohr möchte das Wort hören!

[152]
DER BRUDER
legt die Hand auf sein Haupt.
Ab solvo.
DER PRINZ
erhascht seine Hand und küßt sie.
Wie schön deine Hand ist. Oh – weißt du, an wen deine Hand mich erinnert?
DER BRUDER
lächelnd.
Sprich!
DER PRINZ
ruhig, heiter.
An ihre Hand.
DER BRUDER
hebt ihn auf und schließt ihn in seine Arme.
Mein Bruder! Er küßt ihn, wie jener den Mörder geküßt hat.

Es ist ganz hell. Strahlender Morgen.
Die Zellentüre wird geöffnet. Landesgerichts-Präsident, Staatsanwalt, Verteidiger, Gerichtsarzt und Aufseher treten ein. Der Bruder verschwindet unter ihnen.
DER PRÄSIDENT.
Wir sind gekommen.
DER PRINZ
heiter, still.

Verzeihen Sie mir, meine Herren, die Mühe, die ich Ihnen mache, Sie, Herr Staatsanwalt, meinen törichten Simulationsversuch, mit dem ich Sie gestern reizte – Sie, Herr Doktor, meinen häßlichen Ausbruch von gestern Abend. Es tut mir herzlich leid.


Alle sehen sich verwundert an.
[153]
DER STAATSANWALT.
Es freut mich aufrichtig für Sie, Sie so gefaßt zu finden. Bereuen Sie? –
DER PRINZ
ruhig.
Ich bereue.
DER VERTEIDIGER.
Ich danke Ihnen für Ihre Worte. Ich habe mir die ganze Nacht Vorwürfe gemacht.
DER PRINZ.
Nein, nein, mit Unrecht, Herr Doktor!
DER PRÄSIDENT.
Der Form halber müssen Ihre Hände –
DER PRINZ
legt die Hände auf den Rücken.
Ein Aufseher bindet sie ihm zusammen.
Ich bitte.

Während er gefesselt wird, ganz ruhig vor sich hin.

Wie wird das schön sein, diese zwanzig Schritte,
den Himmel über mir, die Luft, vielleicht
ein Kreis von Sonnen auf den dunklen Steinen.
nicht Lerchenruf, nicht Möwenschrei – wozu?
ein Kreis von Sonnen auf den Backsteinmauern,
Nicht mehr, genug. Und den sieht jeder, jeder
einmal, wie dunkel auch sein Leben sei.
Die Kinder wachsen auf, die Menschheit hebt sich
von Tod und Schlummer – stirbt, gebiert sich neu,
wächst Gott entgegen, – aus dem Samen wird
lebend'ge Frucht. Was noch? Gesang? Woher?
[154] Ich hörte nie sie singen. Ist das ihre
gebenedeite Stimme, die sich höher
und höher schwingt? Ist's deine? Ja, sie ist's!
Wie schön und gut! Und Glocken fallen ein?
Nein, was ist das? Von allen Türmen alle
stürmenden Glocken – nein, nicht Sturm – den Frieden,
den Frieden läuten sie. Durch alle Länder,
auf allen Sternen. Aber über allen
schwebt deine Stimme. Daß mir dieses ward,
zuviel, zuviel – – O Liebe – – –

Sehr einfach.

Gehen wir.

Vorhang.
Explicit tragoedia.
[155]

Notes
Erstdruck in »Hans Kaltneker: Dichtungen und Dramen«, Wien (Zsolnay), 1925.
License
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Kaltneker, Hans. Die Opferung. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8E6C-9