Neue Erziehung und alte Moral

[107] [109]Im weiten Hof, der das Gut des Ökonomen Paul Steffert umschloss, fand ein grosser Kampf statt. Hans, dem jüngsten unter den sieben Söhnen, war das Federmesser aus der Westentasche geglitten; sofort stürzten sich einige seiner Geschwister darauf, um es für sich zu kapern. Ein wirrer Knäuel von zappelnden Armen und Beinen entstand, ein mörderisches Gezeter; die Hühner gackerten und kamen herbeigelaufen, Karo, der Bewacher des Hauses, bellte wie besessen, und Gänse [109] und Enten flohen watschelnd aus dem Bereich dieses Aufruhrs. Plötzlich ertönte der schrille Ton einer Pfeife. Sofort kam Ordnung in die Schlacht. Die einzelnen Kämpfer begannen die eignen Arme und Beine zu suchen, die mit denen der Brüder auf die schwerzulösendste Art verschlungen waren. Mitten aus der Schar tauchte plötzlich ein Zopf auf, zu dem ein hochaufgeschossenes Geschöpf gehörte, das merkwürdigerweise nicht in Bubenkleidern steckte. Die holde Schöne, sie hatte sich gleich den andern im Staub gewälzt, war ganz zerkratzt und zerschunden, der linke Ärmel ihrer Bluse hing in Fetzen, der Rock war aus dem Gürtel gerissen. Mit hochrotem Gesicht[110] und noch von der Aufregung leuchtenden Augen stand sie da und sah unsicher auf die Gartenthür hinüber. »Es ist nur der Vater, Seffi,« flüsterte Hans, der siegreich im Kampf um sein Messer hervorgegangen war; als der jüngste wurde er von den Brüdern »geschont«. »Die Mutter ist noch bei der Rolle beschäftigt.«

Sie verteilten sich im Hof und gingen an die Arbeiten, die ihnen von den Eltern aufgetragen waren. Seffi stand überlegend da, wer ihr helfen könnte, ihre Zerrissenheit vor den Augen der Pflegemutter zu verbergen; denn sah diese den bös zugerichteten Ärmel, dann setzte es ein paar Ohrfeigen ab.

[111] Da schien sich Rettung in Gestalt ihres ältesten Pflegebruders zu nahen, der in der Stadt bei den Jägern als Leutnant diente. Sein Gesicht strahlte vergnüglich beim Anblick der Verzweiflung des Bubenmädels.

»Na Seffi, heute hast du dich ja fein gemacht, das Haar voll Staub und zerzaust, die Kleider in Lumpen, sogar der Strumpf –«

»Hast du vielleicht eine Nähnadel bei dir?« Sie schob geschickt mit dem Fuss den niedergerutschten schwarzen Strumpf hinauf.

»Nähnadel nicht, aber Stecknadeln.« Der schmucke, junge Mensch zog seine Brieftasche heraus.

[112] »Nein, nein, lass nur, die Stecknadeln verlier' ich doch wieder, ich zieh lieber ein anderes Kleid an, wenn nur nicht alle so kaput wären,« setzte sie kläglich hinzu, »und die guten Sachen hat sie eingesperrt, damit ich das andere flicke.«

Von irgendwoher hörte man eine tiefe, scheltende Frauenstimme. Seffi, wie ein flüchtiger Windhund, stob über den Hof. Auf der Treppe stiess sie mit einem hübschen, braunlockigen Burschen zusammen.

»Wohin?«

»Umziehen.«

»Du, Seffi,« er sah ihr vertraulich in die Augen, »ich komm heut abend und helf dir nähen, versteck mir einstweilen das in deinem Schrank.« Er steckte ihr [113] ein schmieriges, mit der Leihbibliotheksmarke versehenes Buch zu.

»Komm aber nicht vor zehn Uhr, sonst erwischt uns die Mutter wieder, wie neulich, und abschliessen darf ich ja nicht.«

Von oben nahendes Gepolter liess die beiden auseinanderfahren. Fritz, der Techniker, eine Mappe unterm Arm, stürmte herab. Er musste zum Kolleg nach der Stadt fahren, und in ein paar Minuten ging der Zug ab.

»Was hast du denn da auf der Treppe mit Alfred zu flunkern?« Er blickte sie unwillig an. »Dir imponiert ja der Primus gewaltig. Du bist doch eine Polargans.«

»Sei froh, so stehe ich doch nicht gar zu hoch über euch.«

[114] »Hahaha.« Er warf ihr eine Kusshand zu und sprang mit einigen Sätzen hinab.

Sie indes ging in eine Kammer unterm Dach, von wo aus man eine entzückende Fernsicht über Felder und Wiesen nach dem nahen Waldsaum genoss. Dicht am Fenster stand ein niederes Eisenbett mit einer dünnen, abgelegenen Matratze darauf. Eine alte Kamelhaardecke und ein Laken vervollständigten die Ausstattung dieses Bettes ohne Kissen, bei dessen blossem Anblick einem alle Knochen weh thaten. Hier schlief Seffi seit ihrem siebzehnten Geburtstag, das war seit vier Wochen. Bis zu dem Tag hatte Karl dieses »Zimmer« innegehabt, der gegenwärtig [115] als Volontär auf einem Nachbargut diente. Ein Schrank, dessen Thür weit offen stand, in dem Wäschestücke, Stiefel, Kleider, Bücher, Hüte einträchtig nebeneinander lagen, ein alter, wackliger Tisch, auf dem sich ein Haushaltungsbuch, eine Lampe, eine Bibel befanden, ein Stuhl und, noch aus Karls Zeiten, ein vergessner, wehmütig dreinblickender Stiefelzieher bildeten die Einrichtung des Stübchens. Das Fenster stand das ganze Jahr geöffnet, selbst im strengsten Winter. Die Steffertschen Jungen waren bis zur Unempfindlichkeit abgehärtet, und Seffi wurde ganz als Junge erzogen.

Seit ihrem achten Jahr, als ihre beiden Eltern kurz nacheinander gestorben waren, [116] befand sie sich hier bei dem ältesten Freund ihres Vaters. »Haben wir für sieben Platz, so wird sich wohl noch für ein achtes eine Luke als Unterschlupf finden lassen,« meinte er. Frau Steffert, eine Rubenssche Vollblutgestalt, hatte damals ein bedenkliches Gesicht gemacht. »Unter sieben Jungen ein Mädel und ich nicht die geringste Zeit zur Beaufsichtigung, wie wird das werden?« Aber ihr kluges, gutes Herz liess sie einen Ausweg ersinnen. »Man wird die Kleine eben vollständig wie die Buben behandeln.« Dadurch entkräftete sie alle Bedenken.

Und Seffi wurde genötigt, Winters und Sommers des Morgens sich unter die kalte Dusche zu stellen; weigerte sie sich, [117] so setzte es eine Tracht Prügel ab; sie wurde genötigt, unter einer dünnen Decke, Winters und Sommers bei weit geöffnetem Fenster zu schlafen, mit den Dienstmägden die schwersten körperlichen Arbeiten zu teilen u.s.w. Um ihre geistige Entwicklung kümmerte sich niemand. Sie konnte lesen und schreiben, ging mit der übrigen Familie Sonntags zur Kirche und erhielt jede Weihnacht von ihren Pflegeeltern sechs blanke Goldstücke, die man in die Sparbüchse für sie legte. Sie verstand die Hauswirtschaft aufs beste; jedoch die Nadel zu führen oder irgend eine zierliche Putzarbeit zu verrichten, dazu konnten sie selbst die Ohrfeigen der Pflegemama nicht bewegen. Da kamen ihr [118] nicht selten die Brüder zu Hilfe, die ihr alle gleich gut waren. Das Erziehungsexperiment Frau Stefferts war ein gewagtes. Oft im Sommer, wenn sie allesamt im nahen Teich badeten und wie sie Gott geschaffen ins Wasser spazierten – Mama allein machte eine Ausnahme -, zögerte die heranwachsende Seffi, bevor sie am Ufer ihr letztes Kleidungsstück fallen liess. Da gab's tüchtige Schelte von seiten der Mutter, die bereits, von ihren Jungen umgeben, ihre Schwimmkünste übte.

»Na, wird's bald? Hab dich man nicht so!« Und wenn Seffi nun mit einer resoluten Bewegung ins Wasser sprang, näherte sich ihr die energische Mutter. »Mir scheint gar, du schämst dich! Glaubst [119] wohl am Ende, die Jungen guckten nach dir? Du dummes Ding! Was an dir wohl abzugucken wäre!«

Und Seffi gab der Mutter innerlich Recht und fühlte sich sicher in ihrer grossen Naturunschuld. Weil ihr das Nähen verhasst war und sowohl bei ihren Hausarbeiten, als auch bei ihrer jugendlichen Toberei mit den Brüdern ihre Kleider sehr mitgenommen wurden, so trug sie möglichst wenig am Körper. Ausser dem Oberkleid nur ein Hemd. Nie mehr, weder im Sommer, noch im Winter. Das dünne Kattunkleidchen flatterte ihr mehr als einmal im Tag hoch, wenn sie über die Treppe hinabsprang, oder im Hof umhertollte, und ihre von der Luft gebräunten [120] schlanken Dianenschenkel wurden sichtbar. Niemand fand etwas Anstössiges dabei, am wenigsten sie selbst. Ihre Brüder waren gewöhnt, sie genau als ihresgleichen zu behandeln. Wenn sie sich miteinander herumbalgten, pufften sie sie wie die übrigen, unbekümmert, wohin ihre Fäuste trafen.

Bis vor einigen Wochen hatte sie mit den zwei Jüngsten in einem Zimmer geschlafen. Hans war öfters als einmal in ihr Bett geschlüpft, sie hatten einander gekneipt und an den Haaren gezerrt und nichts als Kinderthorheiten im Kopfe gehabt. Da mit einem Mal, als die warmen Frühlingswinde zu wehen begannen und alle Pflanzen ins Kraut schossen, machte[121] Mama Steffert die Bemerkung, dass Seffis Brüste mächtig anwuchsen. Sie sagte weiter nichts; als aber Karls Kammer frei wurde, befahl sie ihrer Pflegetochter kurz, von nun an oben zu schlafen. Seffi war sehr zufrieden, den übermütigen Neckereien ihrer Stubengenossen zu entgehen, und zog hinauf. Kaum aber hatte die bedeutungsvolle Trennung stattgefunden, als schon Seffis Persönlichkeit für die Jungen etwas Geheimnisvolles erhielt. Ihr früheres Schlafzimmer hatte neben dem der ältern Brüder gelegen, und diese hatten hindurchgemusst, um in's Freie zu gelangen. Zu den verschiedensten Nachtstunden war einer oder der andere hindurchgehuscht, ohne Rücksicht auf Seffi, die fest schlief, [122] und neben den andern zwei Buben selbst wie ein Bube aussah. Jetzt lag sie allein da oben. Weshalb? Wurde sie nicht traurig, so weit von den Brüdern entfernt zu sein? Niemand würde sie mehr necken, sie an den schön geformten Zehen zupfen, ihr allerlei lustigen Blödsinn ins Ohr flüstern.

Die Jungen liessen sich's nicht nehmen, ab und zu abends, wenn sie hinaufging, sie zu begleiten. Bis jetzt hatten sie sich nicht im geringsten um die andere Form ihres Anzugs, ihrer Wäsche interessiert. Jetzt gewann das Unscheinbarste für sie Bedeutung. Sie stöberten in ihrem Schrank herum und entdeckten allerlei, was ihre Neugierde reizte.

[123] Eines Abends kam der junge Leutnant herauf. Sie lag schon im Bette. Er trat leise ein; trotzdem erwachte sie. Sie rieb sich die Augen. »Du bist's. Ich denke, du wärest schon fortgegangen.«

Er legte Mütze und Säbel auf den Tisch und setzte sich auf ihr Bett. »Ich hatte noch etwas vergessen gehabt, und da ich doch zurück musste, wollte ich dir noch gute Nacht sagen.«

»Gute Nacht,« erwiderte sie harmlos und vor Schlaf blinzelnd.

Er sah sie eigentümlich an. »Hör mal, Seffi, ich riegle ein wenig die Thüre zu, ja? Wir haben schon so lange nicht mehr geplaudert.«

»Meinetwegen.«

[124] Während er den Riegel vorschob, richtete sie sich ein wenig auf. Ihre jungen, schlanken Formen zeichneten sich deutlich unter der dünnen Decke ab. Er setzte sich dicht an sie und schob seinen Arm unter ihren Kopf.

»Seffi, willst du mir nicht einmal einen Kuss geben?«

»Einen Kuss?« Sie schlug eine helle Lache an.

»Schrei nicht so,« flüsterte er ärgerlich, »gleich werden alle andern da sein. Du bist wirklich zu dumm.« Er strich ihr über die Wangen, über das Kinn, dann zauderte er und glitt von ihrem Hals über die konisch geformten, starrenden Brüste. Erst blickte sie ihn verwundert über diese [125] ihr fremde Berührung an, dann sagte sie etwas gedrückt: »Nein, bist du heute komisch, lass ... das.«

»Aber weshalb denn?« Er beugte sich auf ihr Gesicht, und während seine Rechte ihre wunderschönen Brüste zusammenpresste, drückte er seine Lippen auf ihren überraschten Mund. In diesem Augenblick knackte die Thürklinke. Ruprecht fuhr auf. »Wer ist's denn schon wieder?«

»Augenblicklich öffnen!«

Er stürzte zur Thür und riss den Riegel zurück.

Die Mutter stand mit drohenden Blicken vor ihm.

»Was hast du hier zu thun?«

»Ich wollte Seffi nur gute Nacht sagen.«

[126] »Wie kannst du dich unterstehen, dich einzuriegeln? Du weisst, das dulde ich nicht.« Zwei schallende Ohrfeigen sausten auf die schuldlose Seffi nieder, die den Mund weder zur Verteidigung, noch zur Anklage ihres Bruders öffnete.

»Deinen Gutenachtgruss kannst du in Zukunft unten besorgen.« Frau Steffert griff nach Mütze und Säbel, reichte diese ihrem grossen Sohn und schob ihn zur Thür hinaus, während sie ihm folgte.

Seffi kehrte sich gegen die Wand. Sie fühlte ein heisses Schauern über ihren Rücken rieseln; ob das von den Ohrfeigen herkam? Über ihr Grübeln schlief sie ein.

Am andern Morgen wurde kein Wort zwischen ihr und der Mutter über den [127] Vorfall gewechselt. Es gab viel zu thun. Eine Kuh sollte kalben und quälte sich. Man schickte nach dem Tierarzt. Das Vieh brüllte vor Schmerz, die Familie war vollzählig im Stall versammelt. Seffi musste mit den Mägden allerlei Handreichungen thun. In einem Augenblick, als sie sich die Hände an der Schürze abtrocknete, flüsterte ihr der Primus zu, der eben mit dem Tierarzt erschienen war: »Auch den Frauen geht's häufig so.«

Ein Ekel ergriff sie, sie wollte sich aus dem Stall davonmachen, da fasste sie jemand energisch beim Arm.

»Oho, Fräulein Zimperlich, nur hier geblieben; das nächste Mal weisst du [128] wenigstens, wie man mit angreift und nicht Maulaffen feilhält.«

Seffi sah, wie die Knechte das vor Schmerz wütende Tier hielten und der Arzt mit dem Messer dem Jungen den Eingang ins Leben erleichterte. Ihr wurde ganz übel. Als sie endlich hinaus durfte, legte sich draussen ein Arm um sie und presste sie.

»Das war abscheulich von der Mutter.« Fritz stand vor ihr. Sie löste sich ärgerlich von ihm los. War denn in die Jungen der Teufel gefahren? Sie fassten sie plötzlich so sonderbar an. Oder war sie etwa gar – nervös geworden? Sie war nahe am Weinen.

In der Folge – es war Frühjahr – wiederholte sich die Scene aus dem Kuhstall, [129] wenngleich mit glücklicherem Ausgang, auch bei den andern Haustieren.

Je scheuer Seffis Augen diesen Vorgängen folgten, um so energischer hielt Frau Steffert darauf, dass sie überall zugegen war und mit Hand anlegte.

Mit wahrem Fanatismus stürmte Seffi dann in den freien Stunden, oder wenn die Pflegemutter nicht daheim war, in den Hof hinab, um wieder ein Junge unter den Jungen zu sein, ihre körperlichen Kräfte mit den ihren zu messen. Sie war nicht wenig stolz darauf, dass sie an Muskelstärke trotz ihres zierlichen Wuchses den Brüdern in nichts nachgab. Die Kraft imponierte ihr von allen menschlichen Eigenschaften am meisten. Man [130] hatte sie nie gelehrt, dass es noch etwas Höheres als sie gab. Die Religion erschien ihr nicht mehr als die Erfüllung einer Pflicht, der man am Sonntag oblag. Sie war ihr keine Erholung, keine Erbauung. Das Geheimnis der dunkelgoldenen Liebeswollust, die die Natur als Preis auf die Zeugung gesetzt hat, war ihr fremd; nur der letztern Schlussakt sollte sie täglich erleben, ob sie auf Befehl der Mutter dem Kücken aus dem Ei half, oder die jungen Katzen von dem Mutterschoss weg nach dem Teich trug, um sie zu ertränken.

Alles sehen, verstehen und kennen lernen, war Frau Stefferts Devise. Sie war in diesem Punkte der Modernsten eine.

[131] Abends kam, wie er versprochen, auf nackten Füssen Alfred herauf. Sie schlossen sich nicht ein. Alfred konnte nämlich nähen, und deshalb liebte Seffi ihn mehr als die andern Brüder. Er half ihr die zerfetzten Stücke ganz machen. Er war sanft, gutmütig, mit geschickten, zierlichen Händen begabt, das leibhaftige Mädchen neben ihr. Er stocherte einige Zeit darauf los, um den Ärmel wieder in seine Rechte einzusetzen. Auf Seffis Rat bediente er sich dabei einer Tapezierernähnadel und starken ungebleichten Zwirnes. Dann holte er sein Buch hervor. Es waren die ehrwürdigen Memoiren des Casanova. Sie lasen zusammen die ersten Kapitel und kicherten um die Wette. Dabei horchten sie beständig [132] auf jedes Geräusch, um beim Nahen eines Störenfrieds das Buch sofort zu verbergen.

Weil ihr heiss wurde, öffnete Seffi ihr Leibchen. Alfred sah von der Seite die starren, weissen Kegel mit der glatten, bräunlichen Ebene an ihrem Abschluss. Er hätte für sein Leben gerne prüfend seine Hand über sie gleiten lassen, aber er wagte es nicht. Nur als ihre Augen trotz des Interesses an dem Buch schläfrig zu blinzeln begannen, tastete seine Hand zwischen das Leibchen. Aber sofort rückte sie den Stuhl zurück und stand auf.

»Uh, uh,« machte er, »sei doch nicht gleich so.«

[133] Sie vereinbarten, so oft sie konnten, miteinander zu lesen. Manchmal kamen sie an Stellen, die sie beide nicht verstanden, sie las darüber hinweg, er aber errötete über seinen Mangel an Erfahrung.

Einmal lauerte ihm Fritz unten auf, prügelte sich mit ihm und schlich selbst zu Seffi. Mit niederschmetternder Beredsamkeit hielt er ihr das Verruchte ihres Thuns vor. Er suchte und fand das Schuldobjekt, nahm es mit sich und passte am nächsten Abend dem Primus auf.

In einer schwülen Julinacht stieg Fritz abermals in das Kämmerchen hinauf. Das Fenster stand weit geöffnet, und der ganze Brunstgeruch der verliebten Erde drang herein. Seffi lag der Hitze wegen nur [134] mit ihrem Laken bedeckt auf ihrem Bettchen. Fritz schob sich den einzigen Stuhl zu ihr und liess sich nieder. »Ich bring dir ein Buch,« sagte er wichtig.

»Hättest du mir lieber das Alfreds nicht weggenommen,« murrte sie.

»Ach was, das war Schund; dieses hier ist belehrend und aufklärend für dich. Und wenn du etwas dar aus nicht verstehst, frag nur mich, ich kann dir über alles Auskunft geben.«

Sie blätterte in dem dicken Band, konnte aber nichts mehr erkennen. Fritz zündete Licht an. Sie belustigte sich über mehrere der Abbildungen, fragte, ob jeder Mensch so aussehe u.s.w. Er demonstrierte, auf dem dünnen Laken herumfingernd, [135] ihr gleich vor, wo dieses und jenes Organ läge. Sie horchte auf. Auch bei den Kühen, den Schweinen, den Katzen? Er erklärte ihr allerlei und bemerkte, dass sie ungeheuer unwissend wäre. Er würde abends öfter heraufkommen und sie belehren, das wäre ihr nützlicher, als mit Alfred dumme Romane zu lesen. Er hielt Wort Doch konnte er's nicht verhindern, dass sie in andern freien Viertelstunden mit Alfred in der Scheune, auf dem Heuboden oder sonst irgendwo Boccaccio, Faublas und ähnliche Lektüre las. Einmal erzählte ihr Alfred im leisen Flüsterton, dass er ihr jetzt auch Aufklärung geben könnte; er hätte den ersten Umgang mit einem Weibe gepflogen. [136] Sie wand sich vor Kichern und befragte ihn um alle Details, die er ihr rückhaltslos mitteilte.

Nun wurde ihre Neugierde wach. Bei seinem nächsten Besuch fragte sie Fritz, ob er schon wisse, wie eine Frau, eine richtige Frau aussehe.

Er lachte. Na und ob! Wie viele Frauen hatte er schon in den Armen gehabt! Sie begann ihn zu quälen, er solle erzählen. Und er erzählte. Er, um einige Jahre älter als der Primus, empfand das Weib und alles, was es schenkte, schon viel reifer. Er erzählte ihr die tollsten, unflätigsten Dinge. Und sie fragte noch immer weiter. Sie bekam Mut. Durch die Lektüre mit Alfred war ihre Phantasie [137] gereizt, und Fritzens Erfahrungen erschienen ihr gering. Er erstaunte über ihre Zumutungen.

Eines Abends, als sie wieder miteinander flüsterten, schlich jemand herauf und riss plötzlich die Thür auf. Seffi erschrak so sehr, dass sie aus dem Bett sprang. Vor den erblassten Beiden stand Ruprecht. »So, so,« sagte er bebend vor Zorn und riss Fritz sein medizinisches Buch aus der Hand. »Jetzt ist's wieder andere Lektüre. Schäm dich, ein junges Mädel durch solche Bücher zu verwirren. Schau dass du augenblicklich hinabkommst, und danke mir, wenn ich nicht alles den Eltern mitteile.«

[138] Der Techniker schlich wie ein geprügelter Hund hinaus. Ruprecht wandte sich an Seffi. Sie kauerte, die Beine übereinander geschlagen, auf dem Bettrand. Das Hemd stand ihr auf der Brust offen. Die zwei weissen, starrenden Kegel waren noch voller geworden. Aus der kleinen, braunen Ebene reckte sich ein winziger, rosenroter Knopf auf.

»Das war früher auch nicht da.«

Ruprechts Hand fuhr grob über das Knöspchen. Dann fasste er sie hart an den Schultern. »Du hör, wenn du dir etwa von Fritz oder einem der andern Brüder etwas – du weisst schon was – gefallen lässt, dann schlag ich dich braun und blau.« Er kniff sie schmerzhaft.

[139] »Und was ging's dich an,« rief sie purpurrot und zornig.

»Weil ich dich lieb hab ...«

In diesem Augenblick packte sie eine wilde Sinnlichkeit Sie empfand nicht mehr für ihn als für die anderen Brüder, aber er war eben bei ihr hier, und sie glaubte ihr Herz zerspringen zu fühlen.

»Du mich gern?« rief sie höhnisch, »na, da bin ich ja, wodurch zeigst du mir denn, dass du mich gern hast?« Ihre beiden vollen Brüste zitterten seiner Hand entgegen.

Er wischte sich die Schweisstropfen von der Stirne.

»Wenn ich dir's jetzt zeigte, wer weiss ... vielleicht hättest du in neun Monaten [140] ein Kind, ich kann dich aber noch lange nicht heiraten. Mutter würde dich mit Schimpf und Schande davonjagen, dazu hab ich dich zu lieb ...« stammelte er.

»Bekommt man denn gleich ein Kind?« Er wich ihrem Blick aus. Meistens, wollte er sagen, sagte aber, damit er sie vor einer Dummheit mit den andern bewahre: »Immer. Sofort wenn – du weisst schon. Sieh, ich bin der älteste, und ich weiss mehr als der Primus und Fritz. Hüte dich! ...«

Von irgendwo hörte man ein Geräusch, er warf einen sehnsüchtigen Blick auf sie und entfernte sich behutsam.

In der Folge belauerten die Brüder einander gegenseitig, und alle naschten [141] an ihr herum, was sie leicht naschen konnten. Sie, in ihrer Jugendfülle und strotzenden Gesundheit, litt wie ein geknebeltes Tier unter diesen brennenden, aufstachelnden Liebkosungen. Sie wälzte sich schlaflos in ihrem Bett und verwünschte ihr Magdtum. Das »Kind« war für sie das drohende Gespenst.

Ein paarmal, als ihre Verstörtheit Frau Steffert auffiel und in dieser allerlei Mutmassungen erweckte, nahm sie Seffi vor und schilderte ihr in grellen Farben die Schmach, die ein Mädchen sich auflädt, das Mutter wird. »Nackt musst du vor einer Schar studierender Ärzte auf der Klinik das Kind gebären, denn ich würde dich sofort von Haus und Hof jagen.«

[142] Nach solchen Schilderungen schwur Seffi sich, ihre Jungfräulichkeit zu bewahren, und schrieen auch ihre vollen Adern noch lauter nach Erfüllung.

In den grossen Ferien kam eine Nichte der Hausfrau zu ihnen auf Besuch. Es war ein zierliches, blondes Mädchen, das sich, von den übermütigen Streichen der Jungen beängstigt, zu Seffi flüchtete. Auf ihre Bitte erlaubte Frau Steffert sogar, dass Agathens Bett in Seffis Kammer aufgeschlagen wurde. Der Schrank fand indessen auf dem Korridor Platz. Die kleine, liebliche, noch ganz unschuldige Agathe wusste trotz ihrer sechzehn Jahre nicht mehr von den Geheimnissen des Lebens, als ein sechsjähriges Kind. Seffi war die [143] Ankunft dieser sonnigen Genossin eine grosse Erleichterung. Erstens konnte sie keiner der Jungen mehr überfallen, wovor sie stets heimlich gebangt hatte, sodann hatte sie eine Geschlechtsgenossin, der sie ihr ganzes Herz ausschütten konnte. Sie krochen in ihren weissen Hemdchen abwechselnd eine zu der andern und tauschten ihre Gedanken über dieses und jenes. Agathe bestaunte die grosse Überlegenheit der Freundin. Eines Abends, als Seffi plötzlich zu weinen anfing – Agathe hatte ihr schon gute Nacht gewünscht und war eben im Begriff, einzuschlummern -, kehrte sie, von jener Schluchzen erweckt, noch einmal auf ihr Lager zurück. Sie streichelte sie und liebkoste [144] sie und ergriff ihre ineinander verkrampften Hände.

Was denn los wäre? Es stände doch alles aufs beste, alle hätten sie lieb, und sie, Agathe, sei ihr besonders zugethan. Bei den letzten Worten presste sie sich an Seffi und umschlang sie innig. In diesem Augenblick wurde Seffi ruhig und schloss die heissen Lider. Ein bleicher, zärtlicher Schein huschte über ihr Gesicht. Brust an Brust schlummerten sie ein.

Nach einiger Zeit machte der Primus einmal beim Mittagessen eine Bemerkung zu Seffi, die neben Agathe sass. Seffi war eben in den Anblick eines kleinen, blonden Löckchens vertieft, das ihrer [145] Freundin in die Stirn hing und bei jedem Herzschlag leise mitschwang.

Alfred wandte sich an die Mutter und flüsterte ihr einige Worte zu. Beide beobachteten die zwei jungen Mädchen, dann lachte Alfred höhnisch.

Er hatte es – aus Furcht vor den Eltern – schweigend geschehen lassen müssen, dass sein ältester Bruder ihre Gunst für sich erstrebte. Dem Mann gönnte er sie schliesslich, der Freundin niemals.

Er hatte der Mutter Argwohn erweckt. Von nun an beobachtete sie die beiden jungen Mädchen unausgesetzt. Sie machte die Bemerkung, dass Agathe lebhafter, feuriger neben Seffi wurde; dass beide sich [146] unnötig lang in die Augen sahen und mehr als sonst zwischen jungen Mädchen üblich ist, sich Zärtlichkeiten erwiesen; dass die eine die Nähe der andern suchte und traurig wurde, wenn sie sie missen musste.

Eine Woche später liess Frau Steffert Seffi zu sich ins Wohnzimmer rufen und richtete die Augen durchbohrend auf sie.

»Agathe wird noch heute unten im Fremdenzimmer schlafen; lass ihre Sachen herabbringen und sorge dafür, dass der Kleiderschrank wieder in deine Kammer kommt.«

Seffis schlanke Gestalt erbebte. Ihre schönen, braunen Augen füllten sich mit Thränen.

[147] »Lass sie bei mir, lass sie bei mir!« Sie hob die Hände bittend zu der hochaufgerichteten Frau, die wie ein Richter vor ihr stand.

»Nein, du schamloses Ding, herab kommt sie. Meinst du, ich durchschaue dich nicht?« Ihre Hände zuckten, als ob sie, wie so oft, zu einem Streich ausholen wollten. Aus Seffis gebräunten Wangen floh alle Farbe. »Hurtig! Troll dich!« Frau Steffert stiess sie unsanft an. In diesem Augenblick warf Seffi die Arme um sie.

»Mutter, von klein auf hast du mich dazu angehalten, alle Vorgänge in der Natur ohne Scheu zu beobachten. Du schlugst mich, wenn ich die Augen senkte. [148] Nichts sollte mir erspart bleiben; alle Adern des grossen Nervennetzes der zeugenden und nichts als zu zeugen begehrenden Natur hast du mir blossgelegt Keine Milderung, keinen Schleier sollte es für mich geben. Nackt alles sehen und kennen lernen, war dein Wahlspruch. Mutter, ich bin jung und kräftig; eines Tages habe ich selbst das Verlangen verspürt, das jedes Naturgeschöpf in sich trägt. Mein glühendes Liebebedürfnis zu erwidern, haben sich mir junge Arme geöffnet, aber da hast du mir dein Halt zugerufen. Eine Dirne wäre ich, wenn ich der Natur folgte, die du tags vorher als rein und gross gepriesen, und mit Schlägen und Schimpf jagtest du mich [149] aus deinem Hause. Mutter,« sie legte die bebenden Lippen an das Ohr der Frau, »du selbst bist's, die mich in die Arme der Freundin getrieben, lass sie mir nun ...«

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TextGrid Repository (2012). Janitschek, Maria. Neue Erziehung und alte Moral. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8CF5-5