Therese Huber
Ellen Percy
oder Erziehung durch Schicksale

[5] Vorwort

Mein Verleger fürchtet vielleicht, daß er in dieser Erzählung kein Product für die Leihbibliotheken, kein Büchelchen für Toiletten und Theetische herausgibt. Die Mittel, jene zum Ankauf zu ermuthigen, kenne ich nicht; sind es Recensionen, so brauche ich nur zu wünschen, daß Ellen Percy von den edelsten unsrer Recensenten beurtheilt werde – und so viel Selbstüberwindung es uns Recensirten kosten mag, müssen wir doch gestehen, daß es deren gibt und geben kann – um auch [5] diesen, trotz seinem ernsten Titel, empfohlen zu werden. Was aber den Theil meiner Landsmänninnen betrifft, die beim Putz- und Theetisch lesen, so versichre ich Herrn Brockhaus zuversichtlich, für sie ist meine Ellen Percy gemacht. Ich weiß, daß eine große Zahl, ja die Mehrzahl meines Geschlechts in der glänzenden Welt (gaudy World nennt sie der ernste Young), sich nach ernsten Gedanken, tröstenden Ansichten, erhabnen Hoffnungen sehnt; ich habe vielfach erfahren, wie die anscheinend Leichtgesinnte, im einzelnen Gespräch festgehalten, erfreut, erweckt ward, wenn ich zufällig einen geistigen Funken in ihr entzündet hatte, wie mir manches Gesichtchen unter seinem Blumenkranz, manche ältere Frau im Assembleeputz freundlicher zuwinkte, wenn ich Tags zuvor ein wahres, oft ernstes Wort zu[6] ihr gesagt hatte. Diesem Theil meiner Landsmänninnen habe ich Ellen Percy vorzüglich bestimmt. Ich stelle ihnen ein gedankenlos eitles, unbesonnen selbstsüchtiges, vom Glück verzognes Geschöpf dar, das, ohne alle Widerstandskraft im Unglück, ohne alle Fertigkeit zum Erwerb, in Armuth verfällt, aber durch Unglück und Armuth zur Entwicklung seiner moralischen und körperlichen Anlagen geführt, zu innerm Frieden und gesellschaftlichem Wohlstand gelangt. Ihr Leichtsinn verletzt nie die Schaam, der Schmerz um ihre Thorheit wird nie winselnde Reue, ihre Frömmigkeit bleibt von Kopfhängerei fern, ihre Armuth ist nie ein unthätiges Versinken in widrige Hülflosigkeit. – Ellen ist eine edle Natur, die durch harte Schicksale gebildet wird und Andre lehrt, wie sie Schicksale benutzen sollen.

[7] Meinen Stoff nahm ich aus einem ältern englischen Roman in drei ansehnlichen Bänden. Ich mußte sie nicht nur verkürzen, sondern ich faßte ihren Inhalt in mein Gemüth auf und erzählte ihn, meist ohne das Original vor Augen zu haben, in der Empfindungsweise eines deutschen Gemüths. So hoffe ich manchem lieben weiblichen Wesen Freude gemacht zu haben, und wünschte nur, daß es mir gelungen seyn möchte, meiner Erzählung auch die Vollendung im Styl und in der Sprache zu geben, die zu einem guten Buche so nothwendig ist.

Therese Huber. [9]

Erster Theil

[9] [1]Selbstschilderung kann sich nie einer absoluten Wahrheit rühmen. Nicht die Gegenstände, wie sie waren, sondern wie sie mir erschienen und auf mich wirkten, stelle ich dar. Aber diese Wahrheit reicht auch hin, da die Folge der Vorstellungen im Gemüthe und ihr Einfluß auf die Handlungen den Werth einer Selbstschilderung und ihren Nutzen für Andere bestimmt. Ermuntere ich eine und die andre meiner Schwestern bei der Selbsterziehung, die sie sich, bei der Erziehung, die sie ihren [1] Kindern geben soll, die Klippen zu meiden zwischen denen mein Lebensschiff kaum dem Untergang entging, so ist es einerlei, ob diese Klippen in Wahrheit diese oder jene Linien bezeichneten, wenn ich nur mit redlichem Geist sie darstelle, wie sie mir vorkamen. Mit diesem redlichen Geiste erzähle ich, wie mich Thorheit ins Unglück stürtzte, und die auch in der Thorheit nie verlorne Reinheit des Willens durch bessre Erkenntniß aus Unglück mich gerettet hat.

Mein Großvater gehörte zu der alten, geschichtlich verehrten Familie der Percy's; als jüngrer Sohn eines jüngern Zweigs derselben war er noch glücklich, nach seiner Heirath mit einem Mädchen ohne allen Namen, die ihm den Haß seiner vornehmen Verwandten zuzog, durch eine kleine Pfarre vor gänzlichem Mangel geschützt zu seyn. Doch dieser ärmliche Schutz rettete nach seinem frühen Tode seine Wittwe [2] und Waisen nicht vor drückender Armuth, und die Percy's mogten nicht ungern sehen, daß ein nicht ebenbürtiger Zweig ihres erhabnen Stammes in Vergessenheit untergehe; denn sie ließen meiner Großmutter keine Unterstützung angedeihen. Diese Umstände legten wohl den Grund zu meines Vaters Verachtung gegen Geburtsvorrechte, die seinen Vater so unbillig drückten, und zu hoher Schätzung eigner Kraft, durch welche er sich, beim Anfang meiner Geschichte, zu einem der Directoren der ostindischen Compagnie emporgearbeitet hatte. Er ist daher auch der Einzige seines Geschlechts, mit dem ich je in Verhältnissen gestanden, und Keiner desselben ward mir bekannt, der mich bewogen hätte, ihn zum Wohlthäter, zum Vorbild, oder zum Freunde zu erwerben. Mein Vater war ein stark gebauter, bräunlicher Mann, mit lebendigem Auge, scharf gezeichneten Runzeln im Augenwinkel und buschichen Braunen. [3] Sein Mund hatte einen arglistigen Zug, der wahrscheinlich schuld daran war, daß ihn das Lächeln mißkleidete; allein da er dieses sehr selten that, war das nicht störend, um so mehr, da ich ihn nur in einem Alter kannte, dem ein gewisser Ernst zukömmt, das er aber mit Rüstigkeit trug. Meine Mutter war ganz andrer Natur: ein zartes, gefühlvolles Wesen, deren wehmüthiges Lächeln bewies, daß ihre Kräfte zum Wohlthun dem liebevollen, glänzenden Blick ihrer Augen nie genügten. Ach! noch sehe ich sie, wenn sie ihre Hand segnend auf mein Haupt legte und mehr flehend wie vertrauend emporblickte! Sie war sich bewußt, daß alle ihre Hingebung nicht ausreichte, mich zu erziehen, und fand doch zuletzt immer wieder ihren Trost in der Ueberzeugung vor Gott, sich gänzlich hingegeben zu haben. Ich weiß nicht, ob ich die Unbändigkeit meines Charakters von frühster Kindheit an einer natürlichen [4] Anlage, oder früh begangnen Fehlern in der Behandlung meiner Wärterin zuschreiben soll? Genug, daß Heftigkeit, Eigenwille, Stolz meine Erziehung vom ersten Augenblick an erschwerten. Die milde Stimmung meiner Mutter verleitete sie zu dem irrigen Schluß, daß Vermeidung jedes Widerspruchs mich der Widersetzlichkeit entheben würde, bis die reifende Vernunft, meinen Willen regelnd, ihm Herrschaft über meine Leidenschaften verliehe. Ohne einen Verstandesschluß lehrte mich nun die Erfahrung das Mittel, jeden meiner fantastischen Einfälle durchzusetzen. Ich weinte bei dem ersten Hinderniß und weinte fort, bis ich das Gewünschte erhielt. Nach meiner Mutter verderblichem Grundsatz, konnte nur die Unmöglichkeit sich mir in den Weg stellen, und wo diese eintrat, kaufte sie durch überwiegenden Ersatz meine Verzeihung für ihr Gesetz; glücklich, wenn mein Eigensinn meiner Fantasie nur erlaubte, [5] in einen solchen Handel zu willigen. Eine Tugend entwickelte diese völlige Abwesenheit des Widerspruchs: eine unverbrüchliche Wahrhaftigkeit meiner Gesinnungen und Gefühle; sie ward mir Bedürfniß gegen mich selbst und gedieh bei reifendem Verstande zu dem Grundsatz, dem ich zuerst die Entwickelung alles Guten zu verdanken hatte.

Ungezügelt in meinen kindischen Wünschen, stets angehört bei meinen kindischen Reden, konnte es nicht fehlen, daß mir hier und da Worte entschlüpften, welche die Vorliebe meiner Mutter und die Schmeichelei meiner Wärterin zu witzigen Einfällen stempelten. Sie wurden den Gästen meiner Mutter wiedererzählt, ihre unbedachtsame Bewunderung steigerte den Begriff, den ich von meiner eignen Wichtigkeit hatte, und reizte mich ganz unvermeidlich, das Talent schneller und witziger Antworten, welches in unserm Geschlecht sich so leicht [6] der Bewunderung zu erfreuen hat, zu entwickeln. Meine Mutter konnte sich nicht enthalten, auch meinen Vater mit meinen Witzfunken bekannt zu machen. Sein ernstes Gesicht erheiterte sich bei solchen Erzählungen, und, abgespannt von seinen Rechnungsübersichten, konnte er wohl bei seiner Rückkehr am Abend sagen: »Fanny, laß mir einen recht guten Bissen zum Abendessen reichen und erhalte Ellen guter Laune, so will ich heute nicht in Club gehen.« – Seine Absicht wurde aber nicht immer erreicht. Meine Mutter that zwar ihr Bestes; mir ging es aber wie vielen ausgebildeten Leuten, denen sich ihr Witz versagt, wenn sie zur Unterhaltung aufgefordert werden: ich machte ihm Langeweile und ward weinend zu Bett geschickt. Gefiel ihm aber mein Geschwätz, so sagte er etwa: Was hilft ihr das? Ja, wäre sie ein Knabe, so sollte sie mir Parlamentsglied werden; aber was hilft ihr als Mädchen der Verstand? –[7] Ich hoffe, sagte meine Mutter schüchtern, er soll sie glücklicher machen. – Pah, rief mein Vater, mit zweimalhunderttausend Pfund braucht sie kein anderes Glück, als sich von früh bis Abend die Zeit zu vertreiben. – Ich hörte diese und manche ähnliche Rede mit an, und es bildete sich in meinem Kopfe eine feste Verbindung zwischen den Begriffen von Zeitvertreib und Glück, zwischen Beschäftigung und Elend, die den Grund zu tausend Irrthümern legte.

Also der Mittelpunct der Bemühung und Sorge eines ganzen Hauses, war meine Zufriedenheit je länger je mehr getrübt. In dem Maaße, wie die Zahl meiner Begriffe zunahm, stieg die Zahl meiner Wünsche, die Beharrlichkeit meines Willens und die Unmöglichkeit der Gewährung. Die Mannichfaltigkeit meiner Genüsse gebar schon in Kinderjahren hie und da die Empfindung der Leere, welche den Satten verfolgt; die Untrüglichkeit, welche ich meinen [8] Aussprüchen beimaß, die Herrschsucht, die ich übte, vereinzelte mich unter meinen Gespielinnen. Von meinem überlegnen Werth überzeugt, schien mir ihre Abneigung eine Rebellion gegen das Recht und die Gerechtigkeit, die ich ihren guten Eigenschaften, meiner Wahrheitsliebe gemäß, widerfahren ließ, und indem ich mir diese auch zur Tugend anrechnete, vermehrte sie meinen Stolz. Nach und nach empfand mein Vater das Nachtheilige in meiner Entwicklung, und er widersetzte sich irgend einem meiner Einfälle mit einer Entschiedenheit als gälte es einen Krieg auf Tod und Leben. Allein nach einer Stunde, einem Tag, ja einer Woche, durch die ich Bitten, Weinen, Schmollen fortgesetzt hatte, gewährte er in einem Anfall von Zorn, was er bis dahin standhaft verweigert hatte; der Sieg war mein, und sein Schwäche versprach mir, daß ein jeder anderer auf eben dem Wege zu erkämpfen sey.[9] Meine gute Mutter, der jeder Mißton in der Außenwelt die Seele zerriß, suchte jeder solchen Widersetzlichkeit von Seiten meines Vaters zuvorzukommen; hatte sie einmal begonnen, so trieb ihre Schüchternheit sie an, durch verdoppelte Milde gegen mich meinen Eigensinn zu entwaffnen, und war die Krisis herbeigekommen, so befriedigte sie schnell meine Wünsche, um deren Gegenstand nicht eine neue Wichtigkeit zu verleihen. Sie mogte oft die endlichen Folgen meiner Verkehrtheiten ahnen; sie bemühte sich oft mein junges Herz zu Gott zu erheben, allein auch bei diesem heiligsten Mittel der Bildung verfehlte sie den Weg. Sie lehrte mich nur immer Gott danken für die Vorzüge, die er mir verliehen, aber machte mich nicht aufmerksam auf die, welche so viele meiner ärmern Mitgeschöpfe vor mir voraushatten, und durch deren Erwerbung ich allein zu Gotteskinde werden konnte.

[10] Endlich war der Augenblick gekommen, wo mein Eigensinn mir eine herbe Strafe bereiten sollte. Ich hatte eben mein neuntes Jahr vollendet, als eine Bekannte meiner Mutter mir eine Einladung sandte, das Schauspiel in ihrer Loge zu besuchen. Eine Erkältung mit Halsweh verbunden hatte mich seit einigen Tagen ins Zimmer gebannt, und dieser Umstand bewog meine Mutter, mich zu Hause zu behalten; unglücklicherweise war die Botschaft in meiner Gegenwart ausgerichtet, und das bestimmteste Verlangen ins Schauspiel zu gehen war die Folge. Meine Mutter wendete vernünftige Vorstellungen an, ich beantwortete sie mit ungestümen Bitten, sie wies sie mit entschädigenden Versprechen ab, ich setzte ihnen lautes Weinen entgegen. – Sorge um meine Gesundheit gab diesesmal meiner Mutter Muth zu beharren, sie befahl meiner Wärterin, mich zu entfernen. – Nun brach meine Unbändigkeit [11] los; ich wehrte mich und erhitzte mich bis zur convulsivischen Heftigkeit, als mein Vater, der dazu kam, die Geduld verlor und zu meiner Mutter sagte: »Das Schreien kann ihrem Hals gefährlicher werden, wie funfzig Schauspiele.« – So wüthend ich war, bemerkte ich doch, daß meiner Mutter diese Aeußerung mißfiel. Mein Vater, der sein Unrecht fühlen mogte, half sich damit, sie anzuklagen, daß ihre Behandlung an meiner Unart schuld sey; sie erwiederte seufzend, daß ich zu meinem eignen Wohl gebändigt werden müßte, worauf er nachläßig sagte: »Pah! bei einem Weibe ist ein Bischen Widerspruchsgeist recht nützlich«, ein Spruch, durch den mancher rohe Ehemann die milde Güte seiner Gattin belohnt. – Dieses Gespräch war für mich nicht verloren; ich schrie noch ausgelassener, wie vorher, bis mein Vater, aus aller Fassung gebracht, mir zurief: »Nun du unbändiges, ausgelassen unartiges Ding, so [12] thu, was du willst, und hör auf zu lärmen.« – Jetzt hatte ich, was ich wollte, ließ mich schnell anziehen und ging ins Theater.

Doch die Folgen waren schrecklich. Kaum war ich wieder nach Haus gekommen, so verfiel ich in ein heftiges Fieber; lange bedrohte mich der Tod. Meine Mutter, meine geliebte, engelgute Mutter, die allein die Empfindung der Liebe in mir erweckte, deren Milde bei aller meiner Unbändigkeit den Begriff von Tugend in mir wach erhielt, deren unaussprechliche Güte doch eine Ahnung von Gewissen in mir begründete, wich nicht von meinem Lager. Sie opferte ihre Gesundheit auf, um mein Leben zu erhalten. Ich genaß; aber nach einigen Monaten war die Abnahme ihrer Kräfte unverkennbar, nur ich allein verstand deren drohende Bedeutung nicht; und doch – wenn ich sie von meinem endlosen Geschwätz, meinen lärmenden Spielen gänzlich erschöpft sah, konnte [13] mich der Anblick so ergreifen, daß ich unbewußt meine jauchzende Stimme zu sanften Tönen herabstimmte und auf den Zehen um ihren Sopha einherschlich. Auch das längste Menschenleben kann nicht das Andenken der himmlischen Freundlichkeit schwächen, mit der sie diese kleinen Beweise meiner Achtsamkeit aufnahm. Bald wurde mein beständiger Aufenthalt in ihrem Zimmer täglich auf wenige Stunden eingeschränkt, dann brachte man mich nur noch früh zu ihr, wo ihre Kräfte in einiger Spannung waren, und Abends, um ihren Segen zu empfangen, und endlich – verflossen drei Tage, in denen mir ihr Anblick gänzlich entzogen blieb. Ungeduldig hatte ich sie zu sehen begehrt, leichtsinnig hatte ich mich durch nichtige Kurzweil davon abwenden lassen, als mir der Befehl gemeldet ward, zu ihr zu kommen. Mit kindischer Fröhlichkeit sprang ich in ihr Zimmer. Doch wie schnell verstummte [14] meine Freude, da mich meine Mutter mit laut ausbrechendem Weinen in ihre schwachen Arme schloß, mehrmals versuchte sie zu sprechen, aber ihre Wehmuth verhinderte sie. Da trat ein fremder, ernsthafter Mann, der aufmerksam auf sie blickend am Bette stand, herzu und wollte mich, mit der Bemerkung: »die Kranke schade sich« von ihr wegnehmen. Die Furcht, mich fortführen zu sehen, belebte meiner Mutter schwindende Kräfte, sie sagte mit gebrochner, schwacher Stimme: »Komm, meine Ellen, komm, falte deine kleinen Hände und bitte Gott, daß wir uns wiedersehen mögen!« Ich verstand den Sinn ihrer Worte nicht, aber wie ich sonst, wenn sie mich beten ließ, zu thun gewohnt war, kniete ich nieder, legte meine gefalteten Hände auf ihre Knie und betete: Guter Gott, laß mich meine Mutter wiedersehen! Zweimal ließ sie mich diese Worte wiederholen, legte dann ihre gefalteten Hände auf mein Haupt und [15] gab mir mit innigen, heißen Gebeten, in leisem Geflüster ihren letzten Segen. Nur eine der Bitten, die sie in diesem Augenblick zu Gott sprach, ist in meinem Gedächtniß geblieben; anfangs aus Verwundrung, weil ihr Sinn mir unbegreiflich war, späterhin ward sie durch die Umstände mit unwiderstehlichem Nachdruck in mir aufgefrischt: »Sey, o mein Gott! betete sie, gütiger, wie ihre irdischen Verwandten, sey ihr ein Vater, wenn du gleich durch Züchtigung dich also erweisest!« – Noch Manches sagte sie, das mein Leichtsinn bald vergaß, bis ihr erneutes Schluchzen den fremden Mann wieder herbeizog, um mich zu entfernen, welches ich mir denn auch, von der Traurigkeit des Auftritts ermüdet, ziemlich gern gefallen ließ. Noch einmal drückte sie mich an ihr Herz; wie die Thüre hinter mir sich zuschloß, hörte ich noch einmal den leisen Schrei ihres Schmerzens, und auf ewig war für mich ihre Stimme verhallt.

[16] Den folgenden Tag bat ich umsonst, meine Mutter zu sehen. Noch einen, und die Leute eilten traurig und geschäftig um mich her, die Dienstboten sahen mich verstört und mitleidig an, ein und der andre weilte mit einem Ausruf des Bedauerns bei meinen kindischen Spielen. Ein Augenblick von langer Weile brachte mich darauf, meinen Willen, zu meiner Mutter gebracht zu werden, bestimmt durchzusetzen. Meine Wärterin suchte mich abzuweisen, mit Zögern entdeckte sie mir die traurige Wahrheit; allein gewohnt, durch Täuschung jeder Art beschwichtigt zu werden, wollte ich ihr gar nicht glauben, bis ihr betrübtes Gesicht mich aufmerksam machte, worauf ich ihrer Obhut entsprang und ungestüm zu dem Zimmer meiner Mutter entfloh.

Ihre Thür, die sonst bei meinem ersten Zuruf aufsprang, blieb verschlossen, allein der Schlüssel stack im Schloß, und auf meinen [17] Versuch ließ sie sich öffnen. Alles hatte sich hier seit meiner letzten Anwesenheit sonderbar verändert: still, leer, aufgeräumt, unheimlich kam es mir vor. Ihre Bettvorhänge waren zurückgebunden, ihr Lager sorgfältig geordnet, und doch schien sie unter dem leichten Tuche zu ruhen. Ich zog es hastig hinweg, ihr blasses Antlitz bot sich mir dar. – Mutter, Mutter, wach auf! rief ich, erschrocken, daß ihr Lächeln mich nicht empfing; ich legte meine Hand an das liebe Gesicht, das ihrem Schmeicheln noch nie widerstanden, – es war kalt, wie Marmor; aber noch immer den Tod nicht erkennend stieg ich auf das Bett und schloß das fühllose Todtenbild in meine Arme. – Da scheuchte ein Schreckensgeschrei mich empor – es war meine Wärterin, die mir nachgefolgt war, und der Abscheu, mit dem sie mich am starren Busen der Mutter erblickte, belehrte mich endlich von meinem Unglück. Mein[18] Schmerz kannte keine Grenzen; der Eigensinn, der mich auf jedem meiner Einfälle beharren machte, wies auch jetzt jeden Versuch ab, mich von der Todten zu entfernen. Mein Geschrei versammelte die ganze Familie, es zog zuletzt auch meinen Vater herbei, der mich mit Gewalt in mein Zimmer zu tragen gebot.

Die Natur forderte endlich Erholung von einem so ausgelassenen Schmerz, und ein tiefer Schlaf gewährte sie ihr bald. Am nächsten Morgen erregte zwar die erwachende Erinnerung aufs neue mein Klaggeschrei, allein es ward schwächer und schwächer. Der Anblick der Trauerkleidung zerstreute mich auch, und bald kehrte meine Traurigkeit nur anfallsweise zurück. Die Stellen, wo ich sonst meine gute Mutter zu sehen ge wohnt war, konnten wohl noch oft schmerzvoll ihr Andenken erneuern; nur mit Widerwillen ließ ich mich in das Gesellschaftszimmer führen, wo nun Niemand mehr [19] für meinen Zeitvertreib sorgte; und zog meine ungefällige Laune mir Vorwürfe zu, so lehnte ich mein Gesicht mit lauten Klagen auf das Polster, wo sie ehemals ihren Sitz hatte. Mein Vater fand diese Schmerzausbrüche bei der Erholungszeit, die er sich der tiefen Trauer wegen Anstands halber im Ostindischen Hause auf vierzehn Tage verschafft hatte, sehr störend. Da mit meiner guten Mutter Tod der einzige Einfluß, der meine Halsstarrigkeit zu beugen vermogte, dahin war, ward er täglich mit Klagen über meinen Uebermuth belästigt. Anfangs versuchte er sein Ansehn bei mir geltend zu machen, allein da ihm dieses gänzlich mißlang, beschloß er mich in eine der vornehmsten Erziehungsanstalten zu thun. Da er gar nicht darauf Anspruch machte, in das Geheimniß der feinsten Erziehung eingeweiht zu seyn, überließ er diesen Gegenstand unumschränkt dem Walten der Madame Dupré, der Directorin des Instituts; [20] seine einzige Erinnerung war nur die, keine Kosten dabei zu sparen. – Und diese hat man redlich beobachtet. Ich verließ das jetzt mir so traurige Vaterhaus ohne große Betrübniß; die Aussicht, fortan mit Gespielinnen meines Alters zu leben, überwog die ängstliche Erwartung, in Zukunft unter fremder Aufsicht zu stehen.

Mein Empfang in dem Institute war schmeichelhaft; kaum den Aufseherinnen vorgestellt, hörte ich die eine derselben zu der andern sagen: welche reizende Gespielin sie für Lady Marie du Bourgh seyn wird! – Gewiß! antwortete die andre, ein paar liebenswürdige Kinder! – Die erste sah mich prüfend an und erwiederte Etwas, wovon ich nur die Worte: »nicht zu vergleichen« verstand. Das Gespräch ward fortgesetzt, ich hörte aber nur die, welche ich schon für meine Widersacherin hielt, emphatisch die Ausdrücke sagen: »ein vornehmes [21] Ansehen – Zartheit – adeliches Wesen«; und das währte so fort, bis nach kurzer Zeit Lady Marie ins Zimmer trat. Ich konnte über die Zusammenstellung, die man von uns beiden gemacht hatte, nur geschmeichelt seyn, denn sie war das liebreizendste Kind, das ich jemals gesehen. Die Damen riefen sie herbei, uns mit einander bekannt zu machen – sie verweigerte anfangs, unter dem Vorwand, sich von dem Schneider einen Ueberrock anpassen zu lassen, zu gehorchen, nur nach einem strengen Befehl von meiner Vertheidigerin trat sie mit schmollendem Munde herzu. Die Aufseherin schien absichtlich ihre Ungeduld auf's äußerste zu steigern, indem sie es ihr lange unmöglich machte, das Zimmer zu verlassen. Wir mußten gegenseitig unser Alter aufsagen. – Lady Marie war zwei Jahre älter, wie ich; wir mußten uns gegeneinander messen – ich war etwas größer, wie sie. – Mit Groll verließ sie endlich das Zimmer. [22] Ich sah sie erst in der Schule wieder, wo wir in derselben Classe dieselben Aufgaben hatten. – Mein Bestreben über sie zu siegen war aufgeregt, die üble Laune zerstreute sie, so ward am Ende der Lehrstunden meine Arbeit gelobt, die ihre getadelt; und was als edler Wettstreit zu unsrer Bildung hätte benutzt werden sollen, streute in unsere Herzen den Samen unwürdiger Empfindungen aus.

Nachdem die Lehrstunden geschlossen waren, überließ man uns einiger Erholung, wo ich dann aus Stolz und Schüchternheit ganz vereinzelt von meinem Sitz aus die sich willkürlich bildenden fröhlichen Haufen meiner Gespielinnen betrachtete. Lady Marie flüsterte eine Zeit lang mit ein paar ihrer Vertrautern, dann ging sie, wie von ungefähr, nahe an mir vorbei und fragte hochmüthig: Ich bitte, Miß Percy, gehören Sie zu des Herzogs von Northumberland Familie? – Nein, antwortete ich. – [23] Zu welchen Percy's gehören Sie denn? – Mein Vater ist ein reicher ostindischer Kaufmann in Bloomberry square, erwiederte ich, überzeugt, daß ich mich durch diese Nachricht sehr wichtig machen würde; allein ganz im Gegentheil fragte Lady Marie weiter: Nun wer war denn Ihr Großvater? denn einen Großvater müssen Sie doch gehabt haben? – Dabei sah sie, für ihren Einfall Lob ärntend, um sich her. Ich war aber wirklich in dem Fall, von meinem Großvater gar nichts zu wissen; aus Verdruß und Einfalt sagte ich: Ich weiß nicht, wer er war, doch ein Herzog kann er nicht gewesen seyn, denn ich hörte meinen Vater oft sagen, er habe bei seinem Eintritt in die Welt nicht fünf Schillinge gehabt. – Die kleinen Mädchen hielten noch einige lose Reden, die mich ziemlich aufbrachten, bis Lady Marie mir endlich noch ins Gesicht sah und ein unmäßiges Gelächter begann. Jetzt war meine Fassung zu Ende. – [24] Mit viel mehr Muth als Zierlichkeit versetzte ich ihr die derbste Ohrfeige, über welche meine Gegnerin in ein unmäßiges Geschrei ausbrach, indeß ihre Gespielinnen starr von Erstaunen und Schrecken umherstanden. Man kann sich denken, was für ein Auflauf entstand! Lady Mariens Unart ward zwar getadelt, allein für meine rauhe Selbstvertheidigung sollte ich um Verzeihung bitten; das verweigerte ich hartnäckig, und nach den heftigsten Auftritten wurde ich zum Einsperren abgeführt. Drei Tage lang beharrte ich in meinem Entschluß; am vierten trieb mich Langeweile und Einsamkeit, der Aufseherin, die sich gleich bei meinem Eintritt in das Haus zu meinen Gunsten erklärt hatte, einen Vergleich anzubieten. Ich forderte, Lady Marie solle sich für ihre Unverschämtheit entschuldigen, so wolle ich mein Unrecht wegen der ertheilten Ohrfeige bekennen. Allein die Reihe, eigensinnig zu seyn, war jetzt an Lady [25] Marie. So ging der fünfte Tag hin, nach welchem man mir, die Haft als Strafe anrechnend, mich ohne alle Bedingung in Freiheit setzte. Von der Zeit an war die entschiedenste Abneigung zwischen Lady Marie und mir ausgesprochen; nach und nach theilte sie die ganze Pension; alle unsre Gespielinnen mußten es mit einer oder der andern von uns beiden halten, – eine Trennung, wie die der Whigs und Torys fand statt.

Die letzte meiner Gefährtinnen, die sich für meine Partei erklärte, war Miß Julie Arnold, die Tochter eines kürzlich verstorbnen Seeassecuranz-Mäklers. Da der gute Mann sich selbst nicht im Stande sah, seiner Familie Glanz zu geben, gründete er seine Hoffnung auf die Zukunft seines einzigen Sohnes. Um es diesem zu erleichtern, vermachte er ihm, zum Nachtheil seiner Tochter, fast sein gänzliches, ziemlich ansehnliches Vermögen. Der junge [26] Arnold, welchem die Sorge für seine Schwester dennoch oblag, hielt es fürs beste, ihr durch eine glänzende Erziehung Ansprüche an eine gute Versorgung zu verschaffen, und in dieser Absicht kam sie in unsre Pension. Die Natur hatte diesem Mädchen alle Eigenschaften zugetheilt, die zum Emporkommen durch Abhängigkeit erforderlich sind: Biegsamkeit des Charakters, Leichtigkeit im Umgang, ein Talent sich unbefangen anzustellen, keck zu schmeicheln, ein ungezwungnes Betragen, ein kaltes Herz und dabei nur gerade so viel äußre Annehmlichkeit, wie dazu gehört, nirgend zu mißfallen und doch nie Eifersucht auf sich zu ziehen; das waren die Bestandtheile ihres Wesens. Schon als Kind drängte sie sich unter die vornehmeren Gespielinnen, man liebte sie nicht allgemein, wollte sie aber einer Einzelnen gefallen, so gelang es ihr gewiß. Diese Julie schwankte lange zwischen mir und Lady Marie; ja wie [27] es gegen die Vacanz zuging, und diese sie einlud, sie auf das Landgut ihres Vaters, des Herzogs von C., zu begleiten, sprach sie sich eine Zeit lang gänzlich zu ihren Gunsten aus; allein wenige Tage vor der bestimmten Abreise ließ Laune Lady Marie plötzlich eine Begleiterin ihres Standes wählen, und von nun an war Miß Julie mein treuer Bundesgenoß. Von meinem ersten Denken an gewohnt, Alles mit Heftigkeit zu erfassen, ward meine Liebe zu ihr bald ausschließend. Wir halfen uns gegenseitig in allen Vorfällen: ich trug ihr Neuigkeiten zu, und sie mir Confect, ich machte ihre Aufsätze, und sie half mir bei meinem Putz; doch der größere Vortheil blieb auf meiner Seite; meine ungezähmte Offenherzigkeit, auf die frühe Gewohnheit, Alles sagen zu dürfen und für nichts gestraft zu werden gegründet, zog mir bei den künstlichen Verhältnissen der Pensionswelt beständige Unannehmlichkeiten [28] zu; kam es dann zur Anklage und ich stand auf dem Puncte, mich geduldig der Strafe zu unterwerfen, so wußte Julie durch einen unerwarteten Flug ihrer Einbildungskraft den Sachbestand in ein andres Licht zu stellen, so daß ich der Strafe entging. Hätte sie ihre List für eine Andere verwandt, so würde ich sie vielleicht richtig zu beurtheilen gewußt haben, allein für mich geübt, erregte sie anfangs meine Dankbarkeit und endlich meine Bewunderung.

Sieben Jahre meines Lebens gingen darauf hin, alle die schimmernden Talente zu erlernen, welche die glänzende Gesellschaft als einzige Vorzüge erkennt. Für keines bezeigte ich so viel Anlage, wie für die Tonkunst; keines entwickelte ich auch mit so vielem Fleiß, wozu mir der Wunsch, Lady Marie zu übertreffen, Beharrlichkeit gab. Sieben Stunden des Tages, die ich unausgesetzt darauf verwendete, [29] brachten mich dahin, im Spiel auf dem Flügel und im Gesang so vollkommen zu werden, wie Tonkünstler, die von der Gunst des Publicums abhängen, zu seyn sich bestreben. – Sieben Stunden des Tages hatte ich der Musik gewidmet, indeß nicht einmal der Gedanke in mir aufgestiegen war, daß es Seelenkräfte gäbe, deren Entwicklung mein Wohl für Zeit und Ewigkeit begründete. – Nach und nach erwachte das Verlangen in mir, in eine Welt zu treten, in der ich mir bei meinen Vorzügen so vielen Beifall versprach. Daß ich reich war, wußte ich, daß ich hübsch war, vermuthete ich – ungeduldig erwartete ich den Augenblick, den Scepter der Schönheit, für den ich mich bestimmt hielt, zu schwingen. In dem Sommer, wo ich mein sechzehntes Jahr beschloß, verließ Lady Marie unser Institut, um ihre Mutter, die Herzogin von C., nach einigen Badeorten zu begleiten. Die Nachrichten, welche [30] sie ihren Vertrauten von der Herrlichkeit ihrer neuen Lebensweise gab, vermehrten den Eifer, mit dem ich in meinen Vater drang, mich zu sich zu nehmen, solchergestalt, daß der nächste Winter zu meiner Entlassung aus der Pension festgesetzt ward.

Mein Vater nahm bei meiner Rückkehr in sein Haus eine gänzliche Aenderung seiner Lebensweise vor. Seit zwanzig Jahren hatte er, die kurze Ruhezeit nach meiner Mutter Tode ausgenommen, seine Tage auf der Börse oder in dem ostindischen Hause zugebracht. Der Freitag und Samstag, die er auf seiner Villa in Richmond verlebte, unterbrachen allein seine Geschäfte; nun er mich aber an die Spitze seines Haushalts stellte, übergab er den größten Theil seiner Handelsgeschäfte, sich einen ansehnlichen Theil des Gewinnstes vorbehaltend, einem jungen Kaufmann, und den Besitz der Muße mit dem Genuß derselben verwechselnd, [31] nahm er sich vor, fortan sein Leben zu genießen. In den Weihnachtsfeiertagen verließ ich meine Pension, von Miß Julie Arnold, die ich mir auf einige Wochen zur Gesellschafterin ausgebeten hatte, begleitet. Ihre Pensionszeit war mit der meinigen zugleich geschlossen, und diese Einladung ihr, bei der Unsicherheit ihrer Verhältnisse, sehr gelegen. Mein Vater empfing mich in Richmond, wo wir den eigentlichen Eintritt der Wintervergnügungen abwarten sollten. Zu meiner Ueberraschung fand ich eine zweite Gesellschafterin vor, deren Persönlichkeit mit meinen Planen von glänzender Zukunft nicht so gut übereinzustimmen schien, wie die meiner jungen Gefährtin. Dieses war Miß Elisabeth Mortimer, eine vertraute Jugendfreundin meiner theuern Mutter, die durch rauhe Schicksale belehrt, ihren Geist zu einer Reinheit, ihr Herz zu einer Frömmigkeit gebildet hatte, die ich damals gar nicht zu [32] begreifen im Stande war. Eines Versprechens eingedenk, das sie meiner Mutter einst gegeben: den Ruf, mir nützlich zu seyn, wenn mein Vater ihn einst an sie ergehen lassen würde, nicht auszuschlagen, verließ sie ihre ruhige Hütte in der Nähe von Greenwich, in der sie fromm und wohlthätig lebte, glücklich bei dem Gedanken, ihre Sorge für mich sey ein Band, das sie mit der geliebten Todten jenseit des Grabes vereinte. Noch jetzt glüht meine Wange vor Schaam bei dem Geständniß, daß ich ihre Liebe mit unwürdigem Muthwillen erwiederte. Ihre einfachen Sitten waren der Gegenstand unsers heimlichen Gespöttes, ihre Frömmigkeit nannten wir Methodisterei, ihre würdige Matronenkleidung schien uns allen Begriffen des feinen Tons zu widerstreben, und wie wir hörten, daß sie in ihrer stillen Heimath jeden Abend im Gebet mit ihrer treuen Dienstmagd – der sie jetzt auch ihren kleinen Haushalt übergeben[33] hatte – beschloß, nahmen wir uns fest vor, uns der Einführung einer solchen »abergläubischen Sitte«, im Fall sie diese versuchen möchte, zu widersetzen. Doch dazu zeigte sie nicht die geringste Neigung, überhaupt legte sie uns in keiner Hinsicht Zwang auf; es schien, als sey sie von der siegenden Wahrheit ihrer Denkart so überzeugt, daß sie einzig die Wirkung der Zeit auf unsern Verstand, und ihres milden Beispiels auf unsre Gewohnheiten abzuwarten gedachte. Ihr angenehmes Betragen wandelte bald unser Mißbehagen an ihrem Beruf in minder gehässige Empfindungen um; allein weit entfernt, Miß Mortimers Werth schätzen zu können, machten wir sie zum Gegenstand unsrer kindischen Possen. Da wir ihr leicht anzuregendes Mitleid wahrgenommen hatten, erfanden wir Unglücksfälle, durch deren Erzählung sie augenblicklich zu Hülfleistungen aufgefordert, Meilen weit durch den Schnee ging, um [34] den Leidenden Linderung zu bringen; wir versteckten ihre Andachtsbücher, entwendeten ihr Kinderkleidung und Wäsche, welche sie für Arme bereit hielt, und klebten Karikaturen in ihren Kirchstuhl. Ich weiß nicht, ob sie je errieth, daß wir es waren, denen sie diese unwürdigen Scherze zuzuschreiben hätte; nie wenigstens richtete sie einen Vorwurf an uns; sie ertrug sie mit sanfter Würde, ein mitleidiges Lächeln war alles, was sie sich erlaubte; und ward sie einmal durch einen unsrer übermüthigen Streiche in wirkliche Verlegenheit gesetzt, so war sie die Erste, herzlich über ihre eigne Lage zu lachen. Dieser verächtliche Leichtsinn kurzweilte uns lange Zeit, bis ein sehr ernster Vorfall mich so erschütterte, daß ich, ohne Miß Juliens festere Beharrlichkeit, wahrscheinlich meinen unwürdigen Muthwillen auf immer eingestellt hätte.

Wir wurden eines Tages zu einem benachbarten[35] Gutsbesitzer gebeten, einem Wittwer mit ein paar ausgelassnen Söhnen und leichtsinnigen Töchtern, Miß Arnolds vorgezognen Bekannten. Mein Vater war anderweitig versagt und bat Miß Mortimer, uns zu begleiten; das war aber uns nicht gelegen, wir hatten eine lärmende Abendlustbarkeit vor, bei der uns dieser würdigen Frau Gegenwart störte, und versuchten alle Mittel, ihr den Besuch zu verleiden. Wir gossen ihr eine Tasse Thee auf ihr bestes Seidenkleid – sie bemerkte sanftmüthig, daß ein schlechteres ihr dieselben Dienste leisten würde; wir drangen in sie, Confituren zu genießen, in Hoffnung, daß sie ihr ein so heftiges Zahnweh erregen sollten, daß es sie am Mitgehen verhindern müßte – sie versagte sich dieselben. Wir erzählten eine gräßliche Räubergeschichte, die auf dem vorhabenden Wege gestern geschehen seyn sollte; sie meinte: um so weniger würden die Räuber sich heute auf [36] demselben Wege betreten lassen. Nun ergriff ich ein andres Mittel – ich beredete den Kutscher, vorzugeben, daß die Berline einer Ausbesserung bedürfe, allein mein Vater entschied kurz und gut, daß wir mit Miß Mortimer oder gar nicht gehen sollten. – Es ward also beschlossen, ich müßte sie im Curricle fahren, und Miß Arnold nebst einem jungen Herrn von denen, die sich schon um die reiche Miß Percy zu versammeln anfingen, sollten uns zu Pferde begleiten. Jetzt glaubte ich die schönste Gelegenheit zu haben, meinen Muthwillen zu üben. Ich kannte die Furchtsamkeit der wackern Miß Mortimer; sobald wir daher meinem Vater, der uns vom Fenster nachsah, aus den Augen waren, gab ich unsern Begleitern zu Pferd ein Zeichen, und hin ging es in fliegendem Galopp. Schadenfroh sah ich Miß Mortimer erbleichen und ängstlich auf den Weg sehen; wie sie aber mit der sanftesten Anmuth [37] sagte: »Liebe Miß Ellen, wär's nicht besser, etwas vorsichtiger zu seyn?« konnte ich ihr nicht widerstehen, ich wollte die Pferde anhalten; in diesem Augenblick ritt uns aber unser junger Begleiter vor und gab meinen Pferden im Vorbeisprengen einen Peitschenhieb. – Nun trotzten die aufgereizten Thiere meiner Anstrengung sie zu halten, sie sprengten davon, und nach wenigen Secunden rannten sie eine anständig gekleidete Frau, die nicht schnell genug über den Weg eilen konnte, zu Boden. Von der Schuld des Mordes rettete mich ein Fremder, der aus der Nähe herbeieilte und mit starkem Arme die Zügel ergriff. Die Pferde rückten das leichte Fuhrwerk widerstrebend zurück und warfen es um. Erschrocken eilte uns der Fremde zu Hülfe, indeß unsre Begleiter, in tollem Muthe voransprengend, gar nichts von dieser Begebenheit bemerkten. Wir waren beide nicht verletzt, und Miß Mortimer, sobald sie [38] wieder aufrecht stand, eilte mit dem Fremden zu der ohne Besinnung im Wege liegenden Frau. Ich stand bewegungslos, meinen Blick auf ihre Bemühungen, sie zum Leben zu bringen, geheftet – endlich schlug sie die Augen auf – eine Zentnerlast fiel mir vom Herzen. Ich brach in Thränen aus, allein mein Stolz bewog mich, sie zu verbergen und mit dem Schein stolzer Fassung meine Befehle bei dem Aufrichten unsers verunglückten Fahrzeugs zu geben. Nach wenigen Minuten war die mißhandelte Frau im Stande, sich, von Miß Mortimer und dem Fremden unterstützt, in ihre nur funfzig Schritt entfernte Hütte zu begeben. Sie war nicht wesentlich verwundet; die Pferde waren, ohne sie zu berühren, über sie hinweggesetzt; nur der Schrecken und der Fall hatte die Arme des Bewußtseyns beraubt. Wie Miß Mortimer nach einer sehr kleinen Weile zurückkam, schlug sie mir vor, unsre Lustpartie auf [39] zugeben und zurückzukehren. Die Furcht, den Tag mit ihr allein zubringen zu müssen, bewog mich, auf die Fortsetzung unsers Weges zu dringen; indem sie dem Fremden uns zu begleiten erlaubte, willigte sie ein zu Fuße weiter zu gehen. Schmollend ging ich neben ihnen her und hatte alle Muße, unsern Begleiter, den mir Miß Mortimer als ihren alten Bekannten, Herrn Maitland, vorstellte, zu beobachten. Er besaß eine athletisch große Gestalt, wenig Anmuth, ziemlich regelmäßige Züge und das glanzvollste Auge, das ich je sah. Hübsch zu seyn, verhinderte ihn eine gewisse gutgebildete Breitschultrigkeit, die wir Engländer unsern schottischen Nachbarn gern Schuld geben. Sein Lächeln war höchst anmuthig und zeigte die schönsten Zähne, allein der Ernst schien ihm gewöhnlicher; seine Stimme war voll, männlich und sanft; an seiner Sprache – doch er sprach nicht viel – würde ich, wenn [40] sie gleich etwas Fremdes hatte, nicht den Schottländer erkannt haben, und diese Sprache war edel, kräftig, zuweilen zierlich, sie borgte aber von seinen Bewegungen keinen Beistand, denn diese blieben ruhig und kalt. Vielleicht war es aus gewohnter Abneigung, mit Fremden zu sprechen, vielleicht entfernte ihn auch das nachtheilige Licht von mir, in dem ich mich gezeigt hatte; genug, daß er, einzig Miß Mortimer unterhaltend, sich mit mir nicht mehr beschäftigte, als die strengste Höflichkeit ihm gebot, und dadurch mir, die ich darauf rechnete, die Huldigung jedes Mannes zu gewinnen, auf's höchste mißfiel.

Bei unserm Eintritt in Herrn Vancouvers Hause umringten uns die jungen Leute mit lautem Jauchzen, vor allen Miß Julie, die mich triumphirend um den Preis der mit ihr eingegangenen Wette, wer zuerst ankommen würde, erinnerte. Ich warf ihr verdrießlich[41] und mit einem harten Vorwurf über unsern Unfall, den ich ihrem Voraneilen zuschrieb, meinen Geldbeutel hin, sie beschuldigte ihren Begleiter, Beide stritten zusammen über ihren Antheil an dem Vorfall, und der Tag ging in solcher Verstimmung hin, daß ich froh war, die Stunde der Abreise eintreten zu sehen. Mein Herz war viel zu ungebildet, um Unrecht einzugestehen, und die Langmuth, mit der Miß Mortimer mir jeden Vorwurf ersparte, erwärmte es nicht. Doch am Abend, wie ich dem ehrwürdigen Mädchen gute Nacht wünschte, entwischten mir die Worte: »Gott sey Dank, daß der Tag vorüber ist!« – Sie ergriff mit einer Wärme, die sie mir noch nie gezeigt hatte, meine Hand und sagte: »Schenken Sie mir morgen eine Stunde, liebe Ellen, ich will sorgen, daß sie Ihnen angenehmer verfließe.« Ich wußte ihr für ihre Nachsicht keinen Dank, denn ich hatte mirs mit Hülfe der Miß Arnold nun [42] einmal in den Kopf gesetzt, daß sie kein Recht habe, mich zu meistern; allein ihr Wesen war bei dieser Bitte so mild, so einnehmend, daß ich höflich ihrer Einladung zu folgen versprach. Nach dem Frühstück, als Miß Arnold, einige Kaufläden zu besuchen, in die Stadt fuhr, forderte mich Miß Mortimer zu einem Spaziergang auf. Nach der Richtung des Wegs, den sie einschlug, errieth ich sogleich, daß sie mich zu der Hütte der Frau führte, welche meine Thorheit gestern in so augenscheinliche Lebensgefahr gebracht hatte; nur die Schaam hielt mich ab, auf der Stelle umzukehren, und mit einer bittern Empfindung, mich von einer Tugendlehre bedroht zu sehen, trat ich in das Haus. Ich fand es nicht ärmlich noch trostbedürftig; einige Bücher, reinliches Geräth, die größte Sauberkeit zeugten von einem geordneten hinreichenden Hausstand. Meine Begleiterin unterhielt sich mit der Matrone, die am [43] Feuerheerd mit Spinnen beschäftigt war; und um meine Verlegenheit zu verbergen, nahm ich die Liebkosungen eines Windspiels an, das bequem auf einem gepolsterten Stuhl der Hausfrau gegenüber gelegen, bald nach unserm Eintritt herabgesprungen war und sich mir genaht hatte. Anfangs beschnupperte es mich nachdenklich, blickte mich an, wedelte mit dem Schwanz, dann setzte es seine Vorderfüße auf meine Knie und gab seine herzliche Freude zu verstehen. Mir selbst schien das Thier auch nicht unbekannt, ich freute mich seiner Freundlichkeit, die auch von den beiden Frauen bemerkt ward. »Ich habe Ihnen Miß Percy mitgebracht«, sprach jetzt Miß Mortimer, zu der Alten gewendet. Diese rief aber mit freudigem Erstaunen: Miß Percy? O da hat das treue Thier die Tochter seiner Herrin besser wiedererkannt, wie ich! – Guter Fidele, du sahst sie doch auch nicht mehr seit ... Hier verstummte [44] ihre Stimme in Thränen, und bei dem Namen meiner Mutter zu wärmern Gefühlen erwacht, fragte ich nun mit Theilnahme nach der Bewandniß, die es mit diesem Hunde hätte, dessen ich mich von der letzten Lebenszeit meiner Mutter her jetzt wieder entsann. Frau Wells, die Bewohnerin dieser Hütte, war einst von der geliebten Verklärten, die ihre wohlthätigen Handlungen mit reiner evangelischer Demuth der Welt entzog, aus der bittersten Armuth gerettet worden. Sie hatte ihr Arbeit verschafft, sie hatte wöchentlich mehreremale einige Stunden in ihrer Hütte zugebracht, um ihren Töchtern Kleider machen und Tamburstickerei zu lehren; und so hatten diese drei Menschen es ihr zu danken, daß ihnen der Segen des Fleißes ein hinreichendes Auskommen verschaffte. Fidele war von meiner Mutter in ihrem letzten Lebensjahr als ein besonders schönes ganz junges Thierchen angenommen worden; ich erinnerte [45] mich, wie er, vielleicht durch Einwirkung der Stille ihres Krankenzimmers und ihrer steten sanften Gegenwart, schon damals wegen seiner leisen Sprünge und milden Lustigkeit bewundert ward. Dennoch setzte ich mirs in den Kopf, mich vor dem beweglichen Geschöpf zu fürchten, was meinem Vater, dem mein Geschrei bei seinem Anblick verhaßt war, nach meiner Mutter Tod bewog, ihn zu entfernen. In der Ueberzeugung, ihn am besten bei der Frau Wells zu versorgen, deren Anhänglichkeit an die Verewigte ihm bekannt war, ward Fidele ihr übergeben, und die Liebe, mit der sie ihn gepflegt hatte, bewies, wie theuer meiner Mutter Andenken ihr war. Ich hörte mit Beschämung ihrer Erzählung zu. Wie erschien ich dieser Frau neben dem, was meine Mutter für sie gethan hatte! Mir ward das Herz nicht leichter, wie wir bald darauf den Heimweg antraten, sondern mein Gefühl trieb mich, unter [46] dem Vorwand, mein Taschentuch vergessen zu haben, zurückzugehen und Frau Wells, indem ich ihr meinen Geldbeutel anbot, schüchtern um die Rückgabe des Hundes zu bitten. Sie gestand mir ein Recht auf Fidele, als ehemaliges Eigenthum meiner Mutter, zu und versprach ihn mir durch ihre Tochter zu senden, allein mein Geld wies sie zu meiner großen Beschämung zurück.

Wie ich wieder zu Miß Mortimer zurückkam, machte sie einige Bemerkungen über die Verdienste meiner Mutter, die ich fühllos genug gewesen wäre, in einem andern Augenblick als einen stillschweigenden Vorwurf meines Unwerths übelzunehmen, in diesem Moment war aber die schlimme Rinde meines Herzens gespalten, ich hörte sie mit Seufzen an, bat sie aber nach wenigen Minuten, mich heute nicht weiter mit diesen Gegenständen zu unterhalten, weil sie mich schon ganz trübsinnig gemacht [47] hätten. Vielleicht würde der wehmüthig verwundernde Blick meiner würdigen Begleiterin noch länger auf meinem Antlitz geruht haben, hätte nicht Herr Maitland, der eben an dem Gartenhag abstieg, unsre Unterredung unterbrochen. Er wollte sich auch nach dem Befinden der Frau Wells erkundigen; wie er aber hörte, daß ihr Unfall ohne alle Folgen geblieben sey, gab er sein Pferd seinem Reitknecht und begleitete uns, oder vielmehr Miß Mortimer – denn mit mir sprach er nur grade so viel, wie die Höflichkeit aufs strengste fordern kann – nach Hause. Mein Vater stand an der Thüre des Parks; so wie Herr Maitland sich nahte, kam er ihm einige Schritte entgegen, reichte ihm die Hand und bewillkommte ihn mit einer Achtung, die ich ihn noch gegen Niemand bezeigen sah. Noch erstaunter, wie über diese Begrüßung, hörte ich, daß er ihn zum Mittagessen einlud, welches Herr Maitland auch nach [48] einiger Weigerung annahm. Ich kann mich wirklich nicht erinnern, ob ich während der Mahlzeit auf seine Gespräche im geringsten gemerkt habe. Nach Tisch, während er sich mit meinem Vater und Miß Mortimer unterhielt, führte ich am andern Ende des Zimmers, recht wie die ungezogne Jugend es sich herausnimmt, mit Miß Arnold und dem jungen Vancouvers ein Gespräch, das eben so laut wie gehaltlos, mehr wie einmal, obgleich vergebens, meines Vaters Ermahnungen auf sich zog. Miß Mortimer suchte unsern Verein zu stören, indem sie mehrmals die Rede an mich richtete; allein ich antwortete ihr so kurz, theilnahmelos und zerstreut, daß ihre Absicht nicht erreicht ward.

Nachdem sich unsre Gäste entfernt hatten, stellte sich mein Vater mit sehr ernstem Gesicht vor das Caminfeuer und sprach, seinen strengen Blick auf mich, die in einem fernen Fenster [49] stand, gerichtet: »Miß Percy, Ihr heutiges Betragen hat mir mißfallen. Ich habe Ihnen die Wirthin eines reichen Hauses zu machen aufgetragen und wünsche, daß Sie es für Ihre Pflicht halten, meine Gäste gut zu behandeln – alle meine Gäste.« – Eine allgemeine Stille herrschte, und mein Vater verließ das Zimmer. Nun brachen meine Klagen aus. Miß Julie unterstützte mich und wagte es, meines Vaters Forderung lächerlich zu finden. Miß Mortimer sprach in ganz verschiedenem Tone; sie bewies mir alles Ernstes, daß er ein Recht zu ihr habe, besonders aber, wenn es einen Mann von Herrn Maitlands Werth beträfe, sey sie höchst billig. Ich lachte eben so höhnisch wie übermüthig auf. Von Herrn Maitlands Werth? Mein Vater und Miß Mortimer wünschen wohl gar, daß es mir gelingen möchte, des Gliedermannes Eroberung zu machen! rief ich aus. – Miß Julie bewunderte meinen Einfall mit lautem [50] Gelächter. »Herrn Maitlands Eroberung?« wiederholte Miß Mortimer und sah mir mit ruhigem Ernst ins Gesicht; nein, wahrlich, liebes Kind, so weit versteigen sich meine Erwartungen nicht; Herrn Maitland! rief sie nochmals, indem sie, wie im Selbstgespräch, auf ihr Strickzeug sah, nein, das wär' ein abgeschmackter Einfall.

Bei diesen Worten fühlte sich meine Eitelkeit gekränkt. Ich bildete mir ein, Herr Maitland würde doch nicht der erste Hagestolz seyn, der eine siebzehnjährige Erbin unterjochte, und es entstand die Lust in mir, meine Macht zu versuchen. Bei Herrn Maitlands nächstem Besuch bemühte ich mich ihn in ein Gespräch zu ziehen; es gelang mir sehr gut; allein ich nahm nach einer halben Stunde wahr, daß ich in dieser ganzen Zeit weder Unsinn gesagt, noch dessen gehört hatte. Ein zweiter Versuch lief eben so ab; – um seine Aufmerksamkeit zu [51] fesseln, mußte ich vernünftig seyn. – Nach einem dritten, der nicht besser gelang, gab ich meine Bemühungen auf, überzeugt, daß Herr Maitland gar keiner Anerkennung von Liebenswürdigkeit, noch einiges Einflusses derselben auf sein Herz fähig sey. Dessen ungeachtet schritt unsre Bekanntschaft fort; wenn es mir an andern Gesellschaftern gebrach, konnte ich eine halbe Stunde ganz angenehm mit ihm verplaudern. Er war gelehrt, es fehlte ihm nie an Gegenständen seiner stets ernsten Unterhaltung; sein Ausdruck war oft spruchreich und ward durch seine leise, ruhige Stimme noch anziehender. Seine Steifheit, mit der er zu viel Höflichkeit verband, als daß sie wie Stolz hätte aussehen können, und zu viel festes Wesen, um durch sie schüchtern zu scheinen, nahm den Charakter nationeller Zurückhaltung an, und seine Bekannten waren ihr nicht mehr abgeneigt, wenn sie ihn vermocht hatten, sie gegen [52] Einen von ihnen abzulegen. Mich schmeichelte es nicht wenig, da ich bemerkte, daß sie sich gegen mich verlor, indeß er sie gegen Miß Arnold fortsetzte, um so mehr, da sein ganzes Wesen mir den Begriff strenger Redlichkeit, die von keinem äußern Vorzug gebeugt wurde, einflößte. Diese mir ertheilte Auszeichnung ward hingegen von dem Vorzug, den er fortwährend Miß Mortimer erzeigte, völlig aufgewogen, ja mein Bewundrungshunger war so groß, daß ich mich durch diesen Vorzug, obschon Herr Maitland über dreißig Jahr alt schien, zu Zeiten wirklich gequält fand.

Seine Besuche wurden gegen das Ende unsers Aufenthalts in Sedly Park häufiger; allein weder seine Gesellschaft, noch die mehrerer anderer, mir viel wohlgefälligerer Männer, konnte meine Ungeduld, in die Stadt einzuziehen, vermindern. Endlich hörte ich, daß Lady Maria de Burgh schon jetzt als die herrschende[53] Schönheit des Winters anerkannt sey. Ich stand bei Anhörung dieser Nachricht eben vor einem großen Spiegel; mit einem zuversichtlichen Blick auf meine Gestalt gedachte ich der Miniaturreize meiner Nebenbuhlerin und flog zu meinem Vater, ihn um die Beschleunigung seiner Abreise zu bitten. Er hatte sie aber schon auf den vierzehnten Jenner angesetzt, und bis dahin mußte ich meine Ungeduld zähmen.

Ein glänzender Ball bei der Gräfin *** sollte mich endlich in die große Welt einführen. Nach einer lang besprochenen Wahl, ob mein Putz an diesem wichtigen Abend reich oder einfach, leicht oder prächtig seyn sollte, bestimmten mich die kostbaren Diamanten meiner Mutter, die mein Vater, mit manchen neuen vervollständigt, aufs glänzendste hatte fassen lassen, und die günstige Meinung, die ich von der Höhe meines Wuchses besaß, das Letztere zu wählen. Strahlend von Juwelen, Jugend [54] und Erwartung, trat ich zur Stunde des Balls in das Besuchzimmer, wo nebst mehrern Herrn, die sich an mein Gefolg zu reihen gedachten, Herr Maitland mich als mein Begleiter erwartete. Allgemeiner Beifall empfing mich; allein er gnügte mir nicht, bis ich Herrn Maitland, den Miß Julie auf die Schönheit meiner Juwelen aufmerksam machte, sagen hörte: »wer Miß Percy erblickt, wird ihre Juwelen nicht mehr bemerken.« Ich war unfein und keck genug, diese gar nicht an mich gerichteten Worte aufzufassen, und rief: Sehr verbunden, Herr Maitland! Eine Schmeichelei von Ihnen ist etwas so Seltnes, wie ein Königin Annens Pence, der, ohne mehr werth zu seyn, als ein andrer, einzig ist, weil sie nur Einmal prägen ließ. – »Der Pence war nicht zum Umlauf bestimmt, antwortete er trocken, er fiel aber einem Kind in die Hand, das ihn nicht für sich zu behalten verstand.« – Das Wort »Kind« mußte mich[55] heute, wo ich zum ersten Mal als erwachsenes Mädchen in die große Welt zu treten im Begriff war, ganz besonders kränken. Thränen traten mir in die Augen, und mit sehr herabgestimmtem Muth stieg ich mit Miß Arnold und meinem strengen Mahner in den Wagen. Mit dem Ausruf der Bewunderung, der mir beim Eintritt in die gedrängtvollen Säle entgegentönte, kehrte mein Leichtsinn zurück, ich verließ auf das unverbindlichste Herrn Maitlands Arm, um mich von einem meiner gefälligern Bekannten zu einem Stuhle führen zu lassen, und vermied, nach Jenem, der finster und nachdenkend neben mir Platz genommen hatte, mich umzusehen. Nach einigen Minuten, in denen mich der Glanz und die Fröhlichkeit des Schauspiels um mich her völlig zerstreut hatten, theilte sich das Gedränge, und ich erblickte Lady Marie, die mit Sylphen-Leichtigkeit die Reihen durchflog. Nie hatte sich ihre [56] zarte Gestalt so vortheilhaft gezeigt, wie in der leichten, weißen, schön drappirten Hülle, die sie umgab; ihr goldnes Haar, schmucklos in Locken und Flechten geordnet, bildete die schönste Kopfform. – Ich ward zweifelhaft, ob meine Juwelen der vortheilhafteste Putz seyn, den ich hätte wählen können. Nach beendigtem Tanz schritt die Lady auf einen Stuhl zu, den in demselben Augenblick ein sehr schöner junger Mann mit zierlicher Grobheit einnahm und, nachlässig ihre Rede anhörend, sein schönes Bein betrachtete, seine Finger ein paarmal durch sein, mit anmuthiger Nachlässigkeit gelocktes Haar zog und sich dann, in eine bequeme Stellung zurechtgerückt, umhersah. Jetzt fielen seine Augen auf mich; lebhaft sagte er seiner Nachbarin einige Worte, die sie mit einem verächtlichen Aufwerfen des Kopfes beantwortete, er sprang auf, schien in einem augenblicklichen Wortwechsel mit ihr, und sie ließ [57] sich dann, halb wider Willen, von ihm auf mich zuführen. Nach einigen sehr kalten Worten von Wiedererkennen sagte sie, mir ihren Begleiter vorstellend: Mein Bruder, Lord Friedrich de Burgh, und wendete uns, ohne Miß Juliens demüthige Begrüßung mit einem Blick zu beehren, den Rücken. Diese kränkende Vernachlässigung war mir ein Ruf, die Beschützerin zu spielen. Ich faßte sogleich Miß Juliens Arm und ging, von Lord Friedrich begleitet, im Saal umher.

Unter seinen modigen Mitgesellen konnte Lord Friedrich noch für kurzweilig und mußte für einen der hübschesten angesehen werden. Ich nahm an Lady Mariens Blicken wahr, daß seine Aufmerksamkeit auf mich ihr im höchsten Grade mißfiel, und machte mir ein Fest daraus, durch die kleinen Künste, die Eitelkeit uns lehrt, ihn neben mir festzuhalten. Nach einiger Zeit forderte er mich zu einem Walzer [58] auf; dieser Tanz ward dazumal noch für eine kaum gebührliche Dreistigkeit gehalten; ich weigerte mich lange, allein ein höhnisch mißbilligender Blick, den Lady Marie eben auf ihren lebhaft in mich dringenden Bruder warf, bethörte mich, und ohne es eigentlich beschlossen zu haben, stand ich mit ihm mitten im Saale. Alles wich zurück, ich sah Aller Augen auf mich gerichtet, ein lähmendes Gefühl von Schaam ergoß sich durch meine Sinne, allein es war zu spät; in unseeligem Wirbel flog ich dahin, das oft unfein ausgedrückte Lob der Männer betäubte meine schmerzhafte Verwirrung, ich drang mir selbst die Ueberzeugung auf, der Tanz sey für mich schuldlos, und zwang mich, einen freien Blick auf die Umstehenden zu werfen. Da trafen meine Augen auf Herrn Maitland, dessen Blick mit Mißfallen und unendlicher Wehmuth mich betrachtete. O ich sah nie ein Auge, das so stechendes Mißfallen [59] auszudrücken im Stande war! Ich ward bis zur Ohnmacht von ihm getroffen und eilte, mich durch den Haufen drängend, in den fernsten Winkel des Saals. Ein Kreis von Beileidbezeugenden – denn man hielt meine plötzliche Beendigung des Tanzes für eine Unpäßlichkeit – versammelte sich um mich; Herr Maitland nahte sich gesetzt und fragte: ob ich mich nach Haus zu begeben gesonnen sey? – Aufgebracht über die Störung, mit der er meine Thorheit erschreckt, beleidigt über die Gleichgültigkeit, mit welcher er der Umstehenden Sorge gar nicht zu theilen würdigte, antwortete ich nachlässig: daran wär' in den nächsten Paar Stunden gar nicht zu denken, und schlenderte an Lord Friedrichs Arm den Saal hinab. Endlich um fünf Uhr, erschöpft von der Anstrengung, fröhlich zu scheinen, indeß Heiterkeit fern von mir war, von Lärm und von Thorheit übersättigt, verließ ich [60] den Ball. Herr Maitland führte mich bis an den Wagen, wo er ernst und kalt seinen Abschied nahm. Oede in Kopf und Herzen, so müde, daß ich meinem schlaftrunknen Kammermädchen kaum, mich auszukleiden, Zeit ließ, ohne einen Gedanken an den Allwaltenden, dem ich von jedem meiner Tage Rechenschaft zu geben bereit seyn sollte, eilte ich in mein Bett.

Von da an war mein Leben ein fortwährender Kreislauf von Gesellschaft und Putz. Gedankenlos eilte ich von Kaufläden zu Morgenbesuchen, dann zu Ausstellungen, Versteigerungen, Assemblees, Schauspielen und Bällen, ohne daß Herrn Maitlands ernste Winke, seine bangen mitleidsvollen Blicke, oder Miß Mortimers bestimmtere Bemühungen mich störten. Anfangs suchte diese weise Freundin mich durch angenehme Zirkel und geistvolle Gesellschaft, die sie bei sich versammelte, von [61] dem lärmenden Gedränge abzuhalten; allein ich hatte den Becher der Thorheit getrunken, der sanfterer Heiterkeit schien mir schaal. Sie machte mir Vorstellungen, sie redete zu meiner Vernunft, zu meinem Herzen – sie waren beide betäubt. Ich hatte die Keckheit, ihr zu sagen, daß, wenn nach sechs Wochen etwa alle meine Einladungen zu Ende wären, ich einmal an einem regnigen Sonntag ihre Lectionen anzuhören bereit sey. Noch jetzt erstaune ich über ihre Langmuth bei meiner Unverschämtheit – allein sie sah meine Thorheit aus dem Standpunct eines höhern Wesens an – die Aussicht auf die Strafe, die ihr drohte, schmolz allen Zorn in Mitleid dahin. Wie sie einsah, daß sie nichts über mich vermöchte, suchte sie den Beistand meines Vaters zu gewinnen; allein dieser war selbst über meine glanzvolle Erscheinung in der großen Welt etwas geschmeichelt. Er theilte die Menschen in zwei Classen: [62] die eine, welche Reichthum erwirbt, die andere, die ihn genießt. Ich gehörte zu der letztern, und er glaubte nicht, mich darin hindern zu müssen. Es schmeichelte ihn, wenn der Morning Chronicle den Glanz meiner Diamanten auf dem Ball der Gräfin nur dem meiner Augen nachsetzte; er lächelte behaglich, wenn ein andrer Paragraph von der Bewerbung des jungen Herzogs von D. um meine Hand sprach. Wirklich begünstigte er mehrere Bewerber aus den vornehmsten Häusern, bis sie ihm ernstliche Anträge machen ließen; dann schlug er sie, mit der Forderung eines unerschwinglichen Wittwenbedings nieder und wiederholte öfters, daß er gar nicht gesonnen sey, einem Burschen sein Vermögen zuzuwenden, der sich am Ende unterstehen könnte seinen Schwiegervater zu mißachten. Ich blieb bei diesen Verhandlungen ganz ungerührt. Meine Aussichten schienen mir so glänzend, und mein Hang zum Vergnügen [63] war so groß, daß ich an keine Heirath dachte. Fiel es mir hier und da einmal auf, daß mein Vater sehr annehmliche Vorschläge zurückwies, so regte sich wohl der Gedanke in mir, er könne sich Herrn Maitland, den er mit der ausgezeichnetsten Achtung zu behandeln fortfuhr, zu seinem Schwiegersohn ausersehen haben. Leichtsinnig lachte ich dann bei der Vorstellung des Triumphs, diesen unbesiegbaren Starrkopf ausschlagen zu können.

Ohne daß einer meiner Freiwerber mich anzog, oder einer meiner noch viel zahlreicheren Bewundrer mir Neigung einflößte, fand Lord Friedrich Mittel, mich am mehrsten mit sich zu beschäftigen. Er war der modigste Mann, ich strebte darnach, die Schönheit des Tages zu seyn; aber noch mehr freute es mich, Lady Marie durch seine Beflissenheit, allenthalben an meiner Seite zu erscheinen, Galle zu erregen. In erster Rücksicht schmeichelte es meiner [64] Eitelkeit, von manchem eifersüchtigen Gecken, von manchem neidischen Mädchen über meine verabredete Verbindung mit ihm mit heuchlerischer Theilnahme oder bitterm Spott sprechen zu hören, und die früh entkeimte, in jedem Verhältniß angewachsne Feindseligkeit zwischen Lady Marie und mir vermochte mich, keinen Schritt zu thun, um unser Verhältniß zu stören. Dieses war indessen einzig auf Eitelkeit gegründet; er äußerte keine ernstere Absicht, und es wäre mir leid gewesen, hätte er es gethan, denn so sehr er Modeheld war, so wenig hatte er einen Eindruck auf mein Herz gemacht.

Allein mit einer Heirath ists, wie mit der Sünde: wenn man sich oft daran zu denken erlaubt, stumpft sich der Schrecken davor ab. Am mehrsten trug Miß Juliens Bemühung bei, mich nach und nach an den Gedanken, daß es mit Lord Friedrich einst dahin kommen könnte, zu gewöhnen. Da sie nun einmal den Platz [65] meiner Gesellschafterin eingenommen hatte und meinen Charakter sehr richtig beurtheilen mochte, mußte sie es auch für sich für einen günstigen Umstand halten, wenn ich einen glänzenden Rang in der Gesellschaft erhielt. Sie suchte mir in vielfach wiederholten Gesprächen bald die Ernstlichkeit von Lord Friedrichs Neigung zu beweisen, bald durch Aufregung meiner Eitelkeit oder meiner Feindseligkeit gegen Lady Marie mich zu Fortsetzung meiner Koketterie gegen ihn zu bewegen. Miß Mortimer, welche uns selten in Gesellschaft begleitete, in dieser selbst durch die jetzt so übliche Trennung der Jugend von Personen reifen Alters meinen Leichtsinn nicht beobachten konnte, blieb über mein Verhältniß zu Lord Friedrich in völliger Unwissenheit. Wirklich edle Menschen, selbst wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse sie unvermeidlich mit der Gemeinheit zusammenbringen, bleiben von ihr unberührt, denn sie sucht [66] sich selbst, instinctartig, von ihnen zu entfernen. Es gehört ein Grad Dummheit oder eine bestimmte böse Absicht dazu, solche edle Menschen mit bösartigem Geschwätz zu belästigen. Eine solche Dummheit vermochte endlich ein ziemlich untergeordnetes Mitglied meiner glänzenden Cirkel – denn Reichthum, Jugendglanz und die Auszeichnungen meiner vornehmen Anbeter hatten mich in Gesellschaften eingeführt, in die meines Vaters Stand mir in gewöhnlichen Verhältnissen keinen Zutritt gesichert haben würde – eine solche Dummheit vermochte eine ältliche Wittwe, mit aller Heuchelei von Theilnahme und Entschuldigungen, bei einem Besuch, den sie Miß Mortimer machte, diese von Lord Friedrichs geflissentlicher Beschäftigung mit mir und den Vermuthungen, die man darauf gründete, zu unterrichten. Ich überraschte sie am Schluß ihrer Mittheilung und nahm, nach ihrer bald darauf erfolgten Entfernung, die [67] schmerzliche Gemüthsbewegung wahr, in welche ihre Nachricht Miß Mortimer versetzt hatte. Der milde, unendlich theilnehmende Ausdruck ihres Gesichts überraschte mein Gefühl, ich fragte mit Wärme nach der Ursach ihrer Bekümmerniß; allein da ich an ihrer Antwort wahrnahm, daß es sich um eine Ermahnung handle, fand ich Mittel, ihrem Gespräch, unter einem geringfügigen Vorwand, sogleich zu entschlüpfen. Die nächstfolgenden Tage vermied ich sehr geschickt, ihr Gelegenheit zum Wiederaufnehmen des Gegenstandes zu lassen; allein eine kleine Unpäßlichkeit, die mir das Zimmer zu hüten gebot, gab mich bald darauf in ihre Hand.

Ein zufälliger Blick in den Spiegel zeigte mir zu meinem unaussprechlichen Schrecken, wie auffallend drei Tage leichten Fiebers mich entstellt hatten. Ich äußerte meine Empfindungen in leichtsinnig verdrießlichem Ton, und, ehe ich mirs versah, zog Rede und Antwort [68] eine Unterredung herbei, in welcher Miß Mortimer mich eben so weise wie gefühlvoll auf die Gefahr aufmerksam machte, zu der mein Leichtsinn mich hinriß. Ich glaubte sie so wie mich mit der Versicherung, daß ich an gar keine Heirath dächte, zu beruhigen. Sie warnte mich darauf mit dem Beispiel so manchen Mädchens, die durch die Sorglosigkeit, mit der sie eines Mannes Bewerbung gestattete, sich endlich gefesselt gefunden hätte. Mit unwürdiger Gemüthlosigkeit wagte ichs nun, zu behaupten, es sey ja am Ende auch ganz gleichgültig, ob ich Lord Friedrich heirathe oder einen Andern; und da er Geld, ich aber einen Rang brauchte, wäre ja dieser Plan gar nicht so schlimm. Ohne von dem Uebermuth, mit dem ich ihrer sanften Weisheit mein gehaltloses Geschwätz entgegensetzte, entrüstet zu werden, stellte sie mir mit zunehmender Wärme, mit einer Innigkeit, die eine selbst mir auffallende [69] Jugendblüthe über ihre blassen Wangen verbreitete, die Unhaltbarkeit meiner Lebensansichten für spätere Jahre, ihre Gefahr für die einst nachfolgende Ewigkeit vor. Erschüttert von ihrer Rede und jeder ernsten Rührung abgeneigt, eilte ich der vortrefflichen Freundin unbedingt zu versprechen, nie Lord Friedrich meine Hand zu geben. Sie dankte mir und hätte noch mehr gesagt; allein Miß Julie stürmte eben ins Zimmer herein und brachte mir ein Päckchen, das im Vorzimmer gelegen, und dessen Inhalt sie mich mit Neugier entwickeln sah. Was ists? – rief sie dringend. – Ein Billet von Lord Friedrich, und zwar Karten zu Lady St. Edwards Maskenball am fünften Mai. – Miß Arnold sprang voll Freude im Zimmer umher: o das ist herrlich! das ist göttlich! und wir sind diesen Tag noch nicht versagt. – Ich blickte verlegen und mißmuthig auf die Karten, das eben statt gehabte Gespräch dämpfte [70] meine Freude. Miß Mortimer drehte ängstlich ihre Näharbeit in den Händen und fragte mich endlich schüchtern, ob ich die Karten anzunehmen gedächte. – Nun, das versteht sich! rief Miß Julie vorlaut. – Warum sollte ich nicht? fragte ich. – Miß Mortimer, ohne sich je an Miß Arnold zu richten, so ungeziemend diese sich auch in das Gespräch einmischte, suchte nun mit schüchterner Sanftheit und unerschütterlicher Geduld mir begreiflich zu machen, daß die Gattung dieser Lustbarkeit, so wenig wie die Art des Zutritts, den wir dazu erhalten, von vernünftigen Leuten gut geheißen werden könnte. Nachdem ich meine Antworten – denn Gegengründe konnte ich sie nicht nennen – erschöpft, endete ich, wie alle ungezogene Menschen, mit einer Unverschämtheit, indem ich sie trotzig fragte: wer ihr das Recht gäbe, mich zu meistern und zu drängen? – Helle Thränen brachen aus ihren Augen. »Ihre Mutter gab es [71] mir, Ellen«, rief sie mit vom Schmerz erstickter Stimme, »Ihre Mutter, die von unsrer langjährigen, erprobten Freundschaft der heiligen Erfüllung meines ihr gegebenen Versprechens entgegensah. So lange Sie vor meinen Augen leben, Ellen, muß ich Sie vor unwürdigen Thorheiten hüten, oder Ihrer Mutter Andenken würde mich wie ein böses Gewissen verfolgen.«

Ueberwältigt durch diesen Ernst, drangen auch mir Thränen in die Augen, schnell raffte ich die Einladungskarten zusammen, schloß ein entschuldigendes Wort an Lord Friedrich bei und bat Julien, die mir mit der größten Bestürzung zusah, ohne den Muth meiner bestimmten Bewegungen zu hindern, dem Bedienten zu klingeln. »Geben Sie mir den Brief, sagte sie gleichgültig, ich gehe doch die Treppe hinab und kann ihm den Weg ersparen«, nahm mir ihn ab und verließ das Zimmer.

Miß Mortimer, deren Thränen noch flossen, [72] ergriff meine Hand, drückte sie mit ihren beiden und sah mich mit einem Blick an, der die Wildheit selbst menschlich gemacht hätte. Ich fühlte mich erleichtert durch die Entsagung, die ich geübt; aber mein elender Stolz erstarrte mich vor dem Gefühl der Liebe, ich hatte die Härte, meine Hand zurückzuziehen und kalt und hochmüthig das Zimmer zu verlassen.

Doch, was thue ich? Wird mich denn nicht die Welt verachten, der ich diese Geständnisse mache? Werden meine Leser nicht diese Blätter mit Abscheu von sich werfen? Mögen sie! Ich kann dennoch einem von ihnen ein Beispiel zur Besserung seyn – und dann vergesse doch keiner, daß Abscheu vor dem Bösen noch nicht Tugend ist, und gedenke auch, daß ich nur dann ganz verloren gewesen wäre, wenn ich schon eine klare Erkenntniß des Bessern gehabt hätte – mein Verstand war wirklich noch in der Dunkelheit des Irrthums befangen.

[73]

Die Selbstüberwindung eines so lieblosen Herzens war nicht geeignet, den Geist zu bekräftigen. Sobald ich mich mit Miß Arnold allein befand, ward es ihr unschwer, meine Einbildungskraft mit den lebhaftesten Bildern des Vergnügens, dem ich entsagt hatte, anzufüllen. Sie stachelte meinen Stolz, indem sie meine Nachgiebigkeit gegen Miß Mortimer als die schüchterne Unterwerfung eines Schulkindes schilderte, und brachte mich bald dahin, die Zurücksendung der Einladungskarten aufs bitterste zu bereuen. Wenn wir sie nun aber wieder haben könnten? fragte Julie mit schalkhaftem Lächeln. Unmöglich! rief ich, nie würde ich Lord Friedrich darum bitten. – Wenn ich sie aber gar nicht fortgeschickt hätte, theure Ellen, sondern in der Ueberzeugung, daß so ein abgeschmacktes Beginnen Sie gereuen müsse, Ihnen das Päckchen abnahm, um es – sie nahm es aus ihrem Arbeitskästchen – hier zu verwahren? –

[74] Ich war wie vernichtet. Ein achtjähriger Umgang mit Miß Arnold hatte mich noch nicht verleitet, meine gewohnte Wahrhaftigkeit, – die eigentlich nur furchtloser Trotz war, meine Handlungen nicht zu verbergen – abgelegt zu haben. Der Schritt, den Miß Julie gethan hatte, schien meine innre Freiheit unleidlich zu verletzen, ich erstarrte vor der Demüthigung, die mir fremde Schuld zuziehen könnte. Julie bemerkte die Unruhe meiner Gedanken, obschon deren Gegenstand ihr fremd seyn mochte; mit der einnehmendsten Schmeichelei stellte sie mir vor, wie sie nur um meinetwillen gehandelt habe, wie sie gern allen Tadel auf sich nehmen wolle, um mir ein meinen Ansprüchen so angemessenes, so unschuldiges Vergnügen zu verschaffen – allein jetzt ward der zutrauenvolle, dankbar glänzende Blick, mit dem Miß Mortimer für das Hinwegsenden der Einladungskarten meine Hand drückte, mein Schutzgeist, [75] ich konnte ihr Lob meiner Wahrhaftigkeit, das sie mir noch vor so kurzem gegeben, nicht zu Schanden machen und gewann noch einmal den Sieg über mich, die Karten mit eigner Hand dem Bedienten zum Forttragen zu übergeben.

Nun war mein Herz wirklich leicht, wirklich stolz. Ich vergab Miß Mortimer meine Fehlschlagung, dem Maskenball beizuwohnen; mein Abend, obschon einsamer, wie gewöhnlich, weil ich mich noch als Kranke behandeln mußte, verfloß in der heitersten Laune, und mein Schlaf ward von freundlichen Träumen umgaukelt. Mich wandelte wohl im Verlauf des Tags die Lust an, Miß Mortimer meinen zweiten, da er nicht durch Trotz herbeigeführt ward, viel reinern Triumph über eine Maskeradesehnsucht mitzutheilen; allein ich konnte es nicht thun, ohne meine Freundin, die nur um meinetwillen sich dem Tadel ausgesetzt hatte, bloszustellen, und gebot mir Schweigen.

[76] Schon während meines Streites mit Miß Arnold hatte mir der Gedanke an Herrn Maitlands Meinung über diesen Maskenball vorgeschwebt und vielleicht, mir unbewußt, meinen Entschluß befördert. Jetzt wünschte ich, daß er kommen möchte, und befahl dem Bedienten, von allen Besuchen ihm allein Zutritt zu gestatten, – ich machte mir selbst glauben, nur weil mein Krankenanzug und meine Blässe seinem stoischen Muth ohnehin gleichgültig seyn müßten, ingeheim wünschte ich aber seinen Beifall für meine Selbstverleugnung zu ärnten. Doch erwartete ich ihn diesen Abend vergeblich; erst den folgenden stellte er sich ein, und kaum hatte er Platz genommen, so rühmte ihm Miß Mortimer mit der zartesten Vorliebe der Freundschaft meine Entsagung. Ich blickte verstohlen ihn an. – Sobald er, wovon die Rede sey, vernommen, verbreitete sich ein Freudeschimmer über sein Gesicht: »Mir däucht, sagte [77] er, dafür sind wir Miß Percy keinen Dank schuldig, sie hat gewiß mehr Freude empfunden, Ihrer Bitte zu willfahren, als zwanzig Maskenbälle ihr gegeben hätten.« – Nicht eben das! rief ich, mir würde eine Maskerade die größte Freude von der Welt machen. – Sie wollen also durchaus einiges Verdienst bei diesem Opfer haben? fragte Herr Maitland mit leichtem Scherz, setzte sich mit anmuthiger Vertraulichkeit neben mich auf den Sopha und erörterte mit einem Witz, der stets an die Empfindung anstreifte, den Werth meiner Entsagung. Im Verlauf des Gesprächs gebrauchte ich auch den Ausdruck von »geziemendem Stolz.« Er fragte mich darauf, was ich unter dieser schönen Redensart verstehe. Nachdem ich vergeblich versucht hatte sie zu erklären, sagte ich muthwillig: geziemender Stolz sey das Gefühl, welches mich abgeneigt mache, je als eine geduldige Magd mich vor der Herrschsucht [78] des Mannes zu beugen; ein Gefühl, welches mir stets den Muth eines unabhängigen Geistes erhalten solle, ohne welchen das Daseyn mir nichts werth sey. – »Fern sey es von mir, Ihnen diesen zu rauben«, sprach Herr Maitland, anfangs mit Lächeln, das aber, noch während er redete, einer ernsten Theilnahme Platz machte. »Allein, welchen Werth könnte nicht dann dieses Daseyn gewinnen, wenn Miß Percy die reichen Gaben, mit denen die Natur sie überschüttete, und die doch nur ein Darlehn sind, aufs beste anzuwenden bedacht wäre? Was würde sie dann erst seyn? – Alles, was Ihre wärmsten Freunde von Ihnen wünschen könnten. Sie würden vielleicht dann nicht mehr die Bewunderung aller Gecken begehren, sie vielleicht erlangen; allein die innigste Hingabe derer, die weiter blicken, als auf ein schönes Gesicht, – die wär' Ihren gewiß.« Die Wärme, mit der Herr Maitland sprach, war [79] seiner Gewohnheit so entgegen, sein Blick, ohnehin so durchdringend, strahlte mit so außerordentlichem Glanz, daß sich mein Auge vor ihm senkte, und glühende Röthe meine Wange umzog. Gewiß nur diesem Manne konnte es gelingen, meinen Uebermuth zu beugen; allein ich war so befremdet über meine Unterwürfigkeit, daß die Widerrede mir versagte, und der unerwartete Eintritt meines Vaters mir als eine wahre Erleichterung erschien.

Sein Gesicht kündigte mir an, daß ein besondrer Gegenstand ihn mehr lebhaft als wohlthätig beschäftige. Er schritt rasch ein paarmal im Zimmer hin und her, stellte sich dann vor das Camin und rief mir zu: »Endlich werde ich des Ueberlaufs um Ihretwillen müde, Miß Percy.« – Um meinetwillen, lieber Vater? was will man von mir? – »Von Ihnen ziemlich wenig, aber von mir bei dergleichen Gelegenheit mein Geld. – Verzeihen Sie, [80] Herr Maitland, sagte er, sich gegen ihn wendend, daß ich Sie mit Familiensachen unterhalte.« – Wer will gelegentlich meiner mein Geld? fragte ich sorglos. – »Lord Friedrich de Burgh, der zweite Sohn des Herzogs von C. Seine Gnaden waren heute früh bei mir und haben mir die bestimmtesten Vorschläge gemacht.« – Herr Maitland hatte im Ernst seiner letzten Worte meine Hand ergriffen und sie, meinem Vater zuhörend, in einer Art Zerstreuung noch immer gehalten; bei dem Namen Lord Friedrichs ließ er sie mit einem unsanften Druck los, ich blickte auf, um den Ausdruck seines Gesichts zu sehen, allein er hatte sich abgewendet und schien sorglos in einem Buch, das auf dem Nähtisch lag, zu blättern. Mein Vater erzählte nun weitläufig, wie der Herzog bei seiner Bewerbung die Ehre einer Verbindung mit seinem Hause, die Aussicht auf die Herzogskrone, welche die hinfällige Gesundheit [81] seines ältesten Sohns Lord Friedrich verspräche, nicht habe anzudeuten vergessen, wie es aber so ziemlich am Tage läge, daß mein Heirathsgut ein großer Bewegungsgrund bei seiner Einwilligung in seines Sohnes Wünsche gewesen sey. Hier hielt mein Vater inne und blickte mich fragend an, als erwarte er, daß ich doch einige Neugier nach der Entscheidung, die er in der Sache gegeben, bezeigen sollte. Ich spielte aber sorglos mit meinem Armband und ließ mich auf nichts ein. Herr Percy nahm also wieder das Wort und erzählte mit Triumph, wie unbedenklich er den Herzog abgewiesen habe. Zweitausend Pfund Witthum habe er geboten – »eine schöne Herrlichkeit für ein Mädchen, das Hunderttausende Mitgift hat und noch doppelt so viel zu erwarten! Und dafür, schloß er, soll ich einen Schnapphahn in mein Haus aufnehmen, den ich herausfüttern, dem ich alles, bis auf den Rock, mit dem er den Gecken spielt, [82] anschaffen müßte, damit er und seine bankerotte Familie mich und mein Mädchen über die Schulter ansehe? Nein wahrlich, dafür hat kein wackrer Mann in England sein Vermögen gesammelt. Wie, Maitland?« – Wahrlich nein, nicht nach Ihrer noch nach meiner Ansicht, antwortete Herr Maitland gezwungen. – »Aber der große Mann ist auch in einen Zorn gerathen, er schämt sich seiner Vorschläge und wünscht sie geheimgehalten. Gewißlich, ich werde sie nicht verkünden! Alle Welt weiß, daß ich viel vortheilhaftere Vorschläge für meine Tochter verwarf.«

Also er will, die Sache soll verschwiegen bleiben? fragte ich hastig; da könnten sie ja seine Töchter vielleicht nicht einmal erfahren. – »Sie sehen sie demnach als gänzlich beendigt an?« sagte mein Vater zu mir, ohne auf meine Worte zu achten. – Gewiß! rief ich; wüßte ich nur, wie ich machte, daß sie Lady Maria [83] erführe. – Vertrauen Sie sie einer recht innigen Freundin, sagte Herr Maitland sehr trocken; sagen Sie mir aber nur, warum es Ihnen so am Herzen liegt, daß Lady Maria sie erfährt? – »Weil sie sich ganz grenzenlos darüber ärgern wird; die Tochter eines bloßen Kaufmanns, welche dem Enkel des hundert und funfzigsten de Burgh einen Korb gibt! das wird ihr alle Kanten und Schönheitsmittel verleiden!« – Ich war von diesem Gedanken so entzückt, daß ich erst nach einer Weile bemerkte, wie Herr Maitland bis ans Ende des Sophas von mir gewichen war und ganz erblaßt in finsterm Nachdenken den Kopf auf die Hand stützte. Gleich darauf nahm er von Miß Mortimer Abschied, doch in dem Augenblick, wo er zur Thür schritt, kam die Kammerfrau dieser und meldete ihr, Frau Wells wünsche sie einen Augenblick zu sehen. Miß Mortimer bat ihn, seine Schutzbefohlne noch zu begrüßen; [84] er willigte ein, aber mein Vater begab sich mit der Bemerkung hinweg: Wenn die Frau Geld will, Miß Mortimer, so lassen Sie's mir sagen, ich habe den Leuten immer das Ihrige geschickt und bin ihnen nichts schuldig.

Anfangs war die gute Frau bestürzt, ihre Wohlthäterin nicht allein zu finden, sie schien sich nicht zum Reden ermuthigen zu können. Doch Herr Maitland, dem es nun einmal gegeben war, sich alle Herzen zu erschließen, that ihr einige Fragen, die ihre Zuversicht zurückriefen. Geld wollte diese wackre Frau nun eben nicht, aber Etwas, das der Arme eben so oft braucht, aber seltner fordert: guten Rath wünschte sie von Miß Mortimer zu hören wegen einer Liebschaft ihrer Tochter Sally. Sie ward von einem jungen Handwerksmann zur Ehe begehrt; sein Gewerb und Sally's Nadel konnten des jungen Ehepaars täglichen Unterhalt sichern; allein zur Hauseinrichtung war [85] nichts da, sie mußte mit Schulden angefangen werden, und das, meinte Frau Wells, setzte sie auf immer zurück. Nun habe sie den Liebenden gerathen, ein paar Jährchen zu warten, recht fleißig zu seyn und recht zu sparen, bis sie das Nöthige zusammengebracht hätten. »Die jungen Leute denken aber, wenn man sich liebe, brauche man wenig, sagte sie, zu mir gewendet – ach, sie haben das Armseyn vergessen, seit Ihre verehrte Mutter mir zu sicherm Erwerbe verhalf! Das weiß Niemand, was Armseyn ist, als der es erfahren hat, wie ich. Manches Leiden kann man sich auf Augenblicke aus dem Sinne schlagen, aber harte Schuldner, frierende, hungrige Kinder – ach, die lassen uns die Armuth keinen Augenblick vergessen! – Meine Bitte ist nun, daß Miß Mortimer meiner Sally zureden möchte, meinem Rathe zu folgen und nach ein paar Jahren, in denen sie gewiß vierzig oder funfzig [86] Pfund zusammensparen könnten, mit meinem Segen ihre Ehe anzutreten.« – Wie? rief ich, den Schluß ihrer Rede gar nicht anhörend, mit vierzig oder funfzig Pfund ist die Sache abgethan? Die kann ich ihr ja sogleich von meinem Monatsgelde geben, denn gewiß habe ich so viel übrig. – Ellen, was fällt Ihnen ein? rief Miß Arnold, die seit einer Weile ins Zimmer getreten war, Sie wollen doch nicht funfzig Pfund auf einmal hingeben? – Warum nicht? Ich brauche das Geld nicht, und sollte ich, so gibt mir Papa einen Vorschuß. – Anfangs bot ich mein Geld in gutmüthiger Ueberraschung an, erst Miß Arnolds Widerspruch ließ mich ein Verdienst in meiner Handlung entdecken, und dafür den Lohn in Herrn Maitlands Blicken zu finden, suchte ich ihn nun auf. – Aber sein Auge schenkte meiner Freigebigkeit keinen Beifall, die nicht aus Grundsätzen entsprang, die kein Opfer auflegte, keine Entsagung [87] gebot. Mit ruhigem Mitleid blickte er mich an, als wolle er sagen: Du armes Geschöpf, selbst dein Gutes hat keinen moralischen Halt! – Frau Wells grübelte nicht über die Quelle meiner Großmuth, sie dankte mit inniger Rührung, nahm sie aber nicht an, weil Sally und Robert ihres Eheglücks sichrer wären, wenn sie ein paar Jahr gearbeitet und gespart hätten, um es zu erlangen, und weil die Gewohnheit von Geduld und Fleiß ihnen mehr frommen würde, wie mein Gold. – Der belohnende Blick, den ich in Maitlands Auge gesucht hatte, bestrahlte jetzt Frau Wells; er verhieß ihr Segen für diese Denkart, allein drei Jahre, meinte er, sey eine zu lange Prüfung; sie solle die Liebenden ein Jahr lang nach ihrem Ziele hinarbeiten lassen, und was an dessen Schluß noch an der nöthigen Summe fehle, lege er dann hinzu. Frau Wells dankte innig, aber ohne Erniedrigung; ich könnte, sagte sie darauf [88] sich zu mir wendend, Sally am wirksamsten bei ihrer Absicht unterstützen: das junge Mädchen arbeite gut, es fehle ihr nur an neuen Mustern und Kunden unter vornehmen Leuten; wenn ich mich aber herablassen wollte, sie für mich arbeiten zu lassen, so würden bald die elegantesten Damen ihr zu thun geben. – So wie ich der wackern Frau Meinung verstand, gerieth ich in die peinlichste Verlegenheit. Wie konnte ich mich entschließen, ein Kleid anzulegen, das nicht die erste Modeschneiderin der Hauptstadt gemacht hatte? – Aber Frau Wells bat so schüchtern, so ernst! Wie sollt ich's ihr abschlagen? Miß Arnold ließ mir Zeit, mich zu sammeln, denn noch ehe die wackre Frau ganz ausgesprochen, rief sie: »Behüte uns Gott, ehrliche Frau, Miß Percy soll doch kein Ding anziehen, wie Ihre Tochter sie zusammenflickt? Ehe die ein Muster fände, zöge es ja alles Lumpengesindel durch die [89] Hände!« – Ich wollte nicht zudringlich seyn, nahm Frau Wells hocherröthend das Wort; ich meinte, wenn Miß Percy die Güte hätte, Sally anzuweisen. – O liebe Frau Wells, sagte ich besänftigend, dessen wäre ich nicht fähig, ich verstehe nichts davon; aber ich will Sally empfehlen, überall wo ich Arbeit für sie hoffen kann. Liebe Miß Mortimer, Sie geben ihr zuerst welche! – Das kann sie, sagte Herr Maitland trocken, sie kann den Zauber eines modigen Rockschnittes entbehren.

Mistriß Mortimer erfuhr späterhin, daß Herr Maitland in den nächsten Tagen die Summe, welche Sally bei ihrer Hochzeit ausgezahlt werden sollte, gerichtlich niedergelegt hatte. Das junge Mädchen ließ sich von meiner ehrwürdigen Freundin zur freudigen Nachgiebigkeit in der Mutter Rath bewegen, und das Glück dieser Menschen war gesichert. – Ich vergaß schnell meine werthlose Großmuth; [90] sie glich dem unstäten Schimmer des wogenden Meeres, indeß Miß Mortimers und Maitlands Menschenliebe belebend, thätig, allverbreitet, wie der Sonnenstrahl, wirkte.

Sobald meine Unpäßlichkeit vorüber war, begann ich meinen Kreislauf von Lustbarkeiten von neuem. Mein erster Ausgang war ein Konzert und Souper, das Lady G. einem kleinen Freundeskreis von vier und funfzig Personen gab. Gleich bei meinem Eintritt erblickte ich Lord Friedrich, der neben seiner Schwester, Lady Auguste und Lord Glendowr stand. Lady Marie machte ihn mit spöttischem Gelächter meine Anwesenheit bemerken; er wendete den Kopf nicht einmal zu mir; ich durchblickte Lady Mariens Absicht und setzte alle kleine Mittel der Gefallkunst in Thätigkeit, um ihr Lord Friedrich zu entreißen – doch alles umsonst, bis die Frau vom Hause mich zu einer Bravour-Arie aufforderte, zu der ich mich meiner Fähigkeit [91] bewußt war; nach ihren ersten Tönen, welche die Gesellschaft in die tiefste Stille gezaubert hatten, nahte sich Lord Friedrich der Lady G., die bewundernd neben mir stand. – Mein Herz schlug hörbar über meinen Triumph, meine Stimme schien von der Begeisterung getragen – da hörte ich, wie er sich bei der Wirthin, nöthiger Geschäfte wegen, entschuldigte, und sah, wie er aus der Gesellschaft verschwand. Meine Fassung reichte kaum aus, die Arie zu beenden; unter dem Geräusche des Beifalls gewann ich Zeit, meine Lage zu übersehen, und da ich, wie alle eitle Weiber, lieber Anmaßung abwehrte, als Vernachlässigung ertrug, beschloß ich meine Empfindlichkeit zu verbergen. Bald war mein Plan entworfen; durch eine geschickte Wendung bewog ich Lord Glendowr, Lady Maria's erklärten Bewunderer, mir einen Augenblick Aufmerksamkeit zu verleihen, und fesselte ihn dann so vollständig, daß er [92] den ganzen Abend nicht mehr meine Seite verließ. Wahrlich, der armselige Triumph war theuer erkauft; er verdammte mich, drei tödtlich langweilige Stunden mit anscheinender Lebhaftigkeit dem Geschwätz des einfältigsten Sterblichen zuzuhören. Eine Anstrengung, von der ich müde und von innerm Zwiespalte erschöpft endlich nach Haus eilte.

Das nothwendige Geschäft, das Lord Friedrich aus der Gesellschaft gerufen, war eine Spielpartie, in welcher er zweitausend Pfund verloren hatte. Miß Arnold sprach mit dem zärtlichsten Mitleid von ihm und gebrauchte ihren Einfluß über meine Schwäche so wohl, daß sie mich endlich beredete: die Verzweiflung, sein Gesuch bei meinem Vater gänzlich fehlschlagen zu sehen, habe ihn zu dieser Thorheit gebracht. In gewissem Sinne hatte sie recht. Geld mußte er sich verschaffen; wie es ihm durch Eroberung meiner Mitgift nicht gelungen [93] war, versuchte er es mit den Karten – allein diese Entdeckung zu machen, war ich viel zu sehr in Selbstbetruge befangen. Es schmeichelte meiner Eitelkeit, eines Mannes Leidenschaft also aufgeregt zu haben, und mein Zorn über seine Vernachlässigung war, wie ich ihn den folgenden Abend bei Mistriß Clermont fand, beinahe verraucht.

Die Zimmer waren so voll, daß ich mich gleich beim Eintritt von Miß Arnold getrennt sah und erst nach einigen Minuten sie, im ernsten Gespräch mit Lord Friedrich begriffen, wiederfand. Befremdet trat ich ihnen näher und hörte ihn sagen: »Da würde ich eine sehr einfältige Figur machen.« – »Die Sache ist unmöglich, antwortete Miß Arnold, er hat auf der Welt keinen Verwandten, als ...« hier erblickte sie mich, schwieg und erröthete. Doch ich hatte keine Zeit, Bemerkungen zu machen, denn Lord Friedrich ergriff meine Hand und [94] äußerte seinen Unmuth über seine von meinem Vater erlittene Fehlschlagung in einem Ton, dem »mein Selbstgefühl«, welches ich gegen Herrn Maitland als Richtschnur meines Betragens aufgestellt, kalte Verachtung hätte entgegensetzen sollen. Doch Lady Marie, die ihren Bruder bewachte, näherte sich schnell, um ihn zu einem Zeitvertreib abzurufen, den er durch Kartenkünste Lady Auguste zu verschaffen, versprochen hatte; das war genug, mich über meine weibliche Würde zu verblenden, ich setzte mein Gespräch mit Lord Friedrich fort, ließ mich auf einen nebenanstehenden Stuhl nieder, er nahm seinen Platz neben mir und schlug seiner Schwester ab, sie an Lady Augustens Spieltisch zu begleiten. In der Unterhaltung, welche nun folgte, wurden die zurückgesendeten Einladungskarten nicht vergessen. Er scherzte über meine Weigerung und drang darauf, die eigentliche Ursache derselben zu wissen; aus Verlegenheit [95] sagte ich ihm, daß ich Anstand nähme, mich in die Gesellschaft einer Dame zu drängen, der ich nicht vorgestellt sey. Bei diesen Worten sprang er auf, um mir Lady St. Edmond, welche sich auch in der Gesellschaft befand und, wie er sagte, seit langer Zeit mich kennen zu lernen wünsche, zuzuführen. Sogleich kehrte er mit einer Dame zurück, deren glänzende Erscheinung und liebenswürdige Gestalt, wenn sie gleich über die Jugendjahre hinaus war, den angenehmsten Eindruck machte. Ihre gemüthvolle Höflichkeit, ihr ungezwungnes Betragen, ihre Schmeichelreden bezauberten mich, ich blieb den ganzen Abend ihre Gefährtin und nahm das Versprechen ihres Besuchs auf den folgenden Morgen mit der größten Freudigkeit an.

Sie erfüllte dieses Versprechen und war im vertraulichen Geschwätz am Camin noch hinreißender, wie im Geräusch des Salons, obgleich ihre Reize beim Tageslicht weniger [96] vortheilhaft erschienen. Im Verlauf des Gesprächs warf sie mir auf die schmeichelhafteste Weise meine Weigerung vor, ihren Ball – wie sie sich ausdrückte – durch meine Gegenwart glänzender zu machen. Ich war redlich gesonnen bei mei nem Entschluß, nicht dabei zu erscheinen, zu beharren, allein Miß Arnold wußte meine Gründe bald zu entkräften, bald, indem sie meine Nachgiebigkeit gegen Miß Mortimers Wunsch als kindische Folgsamkeit darstellte, meine Eitelkeit zu reizen, so daß ich das Anerbieten der Lady St. Edmond, uns nochmals Karten zu senden, nicht abzulehnen den Muth hatte.

Kaum hatte sie mich mit den einnehmendsten Liebkosungen verlassen, so trat Miß Mortimer ein und mußte den ersten stürmischen Erguß der Freude über meine neue Bekanntschaft vernehmen. Sie that es mit bedächtiger Ruhe und der gleichgültigen Bemerkung: »sie habe [97] gehört, daß Lady St. Edmond sehr liebenswürdig sey.« Noch mehr durch ihre Fassung, die ich für Abneigung gegen meinen neuen Götzen hielt, erhitzt, häufte ich Lobsprüche auf Lobsprüche und fügte den Wunsch, mit so einer Freundin meine Tage zu verleben, hinzu. Miß Mortimer erinnerte mich an die Nothwendigkeit, neue Verbindungen nur allmählig zu knüpfen. – Ich nannte das Kaltherzigkeit. – Sie deutete darauf, daß Lady St. Edmonds Ruf von der Art sey, diese Behutsamkeit einem jungen Mädchen sehr nöthig zu machen. – Nun war mein Stolz empört; ich wollte mich den Regeln allgemeiner Klugheit nicht unterwerfen; übermüthig erklärte ich alles, was die Welt über meine neue Freundin urtheilen möchte, für Verleumdung, und einer solchen Verleumdung Gehör zu geben, für die elendste Schwäche. Mit Engelmilde setzte mir darauf Miß Mortimer den Unterschied auseinander, der darin läge, [98] ein altes Freundes-Verhältniß wegen Beschuldigungen des öffentlichen Rufes aufzulösen, oder neue solche Verhältnisse mit einer Person von beflecktem Rufe zu knüpfen. Das Erstere könnte Ehre und Menschlichkeit in manchen Fällen verbieten, das Andere sey gewagt und für eine Person meines Alters und Geschlechtes völlig zu verwerfen. Diese Ansicht war so einleuchtend, daß ich mit all meinem Uebermuth nicht sogleich eine Widerlegung bereit hatte. Miß Mortimer, viel zu edel, um sich der Bestätigung meiner Niederlage in meinem Stillschweigen zu erfreuen, verließ ungesäumt das Gemach.

Der Gedanke an den verführerischen Maskenball zerstreute mich bald von dem unangenehmen Eindruck, den diese Unterredung zurückließ. Fest entschlossen, ihm zu entsagen, erlaubte ich mir um so unbedachter, mich an der Vorstellung seines Glanzes zu weiden. Ich [99] dachte mir die Pracht meiner türkischen Maske, die Anmuth, die sie meiner Gestalt verleihen müßte, die Bewunderung, die ich erregen, die witzigen Antworten, die ich ertheilen würde – doch vor allem beschäftigte sich meine Einbildungskraft mit dem Vergnügen, den ganzen Abend an Lady St. Edmonds Seite zu seyn. Zu gewohnt, meine Interessen mit Miß Arnold zu theilen, wurden meine eiteln Träume Gegenstand unsers nächsten Gesprächs, und es ward ihr leicht, da durch Lady St. Edmonds persönliche Einladung der Hauptgrund der Weigerung, der in Lord Friedrichs Dazwischenkunft bestanden hatte, gehoben war, mich zu bereden, daß es meinem Vater allein zukomme, über das Annehmen oder Ausschlagen der Einladung zu entscheiden. Der Ausweg war meinem Gewissen willkommen, allein es war noch zu schüchtern; den Vorschlag meinem Vater selbst zu thun, fehlte es mir an Muth. Miß [100] Arnold bot sich ungebeten zu der Unterhandlung an, diese glückte ohne die geringste Schwierigkeit; mein Vater, durch seine Unkunde der feinern Gesetze des weiblichen Anstandes, da meine gute Mutter nie in der großen Welt gelebt hatte, und durch seine Eitelkeit, die an den vornehmen Bekanntschaften seiner Tochter Gefallen fand, irre geleitet, tadelte Miß Mortimers Ansicht und befahl mir ohne weitres Nachdenken, der Einladung Lady St. Edmonds zu folgen. Nun war der Pflicht genug gethan; aber die Umstände erheischten es doch, Miß Mortimer die Veränderung meines Entschlusses mitzutheilen, und das schien mir noch schwieriger, als das Gesuch an meinen Vater. Miß Arnold versuchte mir deutlich zu machen, daß zu Vermeidung aller Unannehmlichkeiten für beide Theile nichts leichter sey, als dem würdigen Mädchen unsern Besuch des Maskenballs gänzlich zu verschweigen. Sie kenne unsre[101] Einladungen nicht, es sey sehr leicht, an dem Ballabend eine andere Gesellschaft zu besuchen, dann später unsern Anzug zu ändern, um noch immer früh genug, bei Lady St. Edmond zu erscheinen. Meine ganze Seele empörte sich gegen diesen furchtsamen Betrug; fast hätte mich dieser Vorschlag über Juliens gefährlichen Einfluß aufmerksam gemacht, allein sie wußte bei der ersten Aeußerung meines Mißfallens mich mit Thränen und Liebkosungen zu überzeugen, daß nur der innige Wunsch, mir den Genuß dieses Ballabends zu verschaffen, sie leite. Sie bot mir an, ihre Karte Miß Mortimer abzutreten, so alle Hindernisse zu heben und mir den sichersten Beweis ihrer uneigennützigen Freundschaft zu geben. Mein schwaches Herz, der Liebe bedürftig und der Schmeichelei gewöhnt, ließ sich leicht beschwichtigen, und als Ersatz für das meiner Freundin gethane Unrecht, gab ich ihr sogar bis dahin [102] nach, daß wir, um Miß Mortimers Mißbilligung so viel wie möglich zu entgehen, sie erst am Ballabend selbst, im Augenblick unsrer Abfahrt, mit meinem veränderten Entschluß bekannt machen wollten.

Miß Mortimers Ermahnungen zum Trotz, setzte ich meine Bekanntschaft mit Lady St. Edmond fort. Ich zog zwar einige Erkundigung über sie ein; ihr Erfolg stellte meinen neuen Liebling als eine Frau dar, die sich mit großem Glück und Vortheil dem Hazardspiel ergäbe und über einen Punct ihres Betragens solcher Fehltritte wegen verdächtig werde, die es besser sey nicht zu erwähnen. Die Heftigkeit, mit der ich Lady St. Edmond unschuldig zu finden wünschte, bewog mich, die öffentliche Meinung als eine Despotin zu betrachten, der zu widerstehen, mich meine Eitelkeit aufreizte; meine Zuneigung für sie gewann durch meine Absicht, ihr dadurch nützlich zu seyn, neue Stärke, so [103] wie auch meine Bewunderung ihrer liebenswürdigen Eigenschaften dadurch anwuchs. Wirklich war aber ihr Betragen gegen mich so anziehend, ja so bezaubernd durch Geist und gemüthvolles Wesen, daß ich noch jetzt, nach Verfluß manches Jahres und mancher gemachten Erfahrung, überzeugt bin, ihr Wohlgefallen an mir war nicht ganz erlogen. Ich habe selten ein so verhärtetes Herz gefunden, daß es nicht, wenigstens vorübergehend, durch die redliche Gefühlswärme der Jugend gerührt worden wäre. Ich vermochte auch gar keine Ursache zu entdecken, die sie, mir zu heucheln bewegen könnte; auch für die Beschuldigung ihrer Liebe zum Spiel fand ich, in ihrem Verhältniß zu mir, keinen Beweis; sie veranlaßte mich nur ein einzigesmal die Karten zu nehmen, und da war ich im Gewinnen. Miß Mortimer fuhr indeß fort mich zu warnen und auf ihrer übeln Meinung von dem Gegenstand meiner Vorliebe [104] zu beharren, so daß ich den Ausdruck meiner Bewunderung aus Widerspruchsgeist noch erhöhte. Ein prophetischer Ausspruch meiner Warnerin prägte sich meinem Gedächtniß besonders ein, weil er mit einer Strenge abgefaßt war, wie ich sie bei keiner andern Gelegenheit aus Miß Mortimers sanftem Munde vernahm. Ich hatte Lady St. Edmond »meine Zauberin« genannt; diesen Ausdruck faßte sie auf und sagte: »Zauberin? ja das ist sie, denn sie zieht Sie in einen Kreis, den nichts Gutes oder Heiliges betritt; wollen Sie ihr dahin folgen, so bieten Sie allen guten Engeln Lebewohl. Die Guten werden Sie einer nach dem andern verlassen, und Ihnen kein Gefährte bleiben als der Ihre Irrthümer benutzen will, oder Ihren Untergang befördern.«

Es ist sehr sonderbar, daß Wesen, die so wie wir, alles von der Zukunft erwarten, sie oft da sorglos übersehen, wo sie uns so sichern [105] Rath gewähren könnte. Wird man es glauben können, daß ich von derselben Unterredung weg, in welcher Miß Mortimer jene ernsten Worte zu mir sprach, in einer Versteigerung, wo die ganze Londner Welt sich einfand, an der Seite Lady St. Edmond erschien? – Man verkaufte den Nachlaß einer höchst modigen Frau, unter dem sich alles kleine Geräth, Zimmer-Aufputz und Luxus-Spielwerke befanden, die das Bedürfniß des Künstlers erfindet, um die Uebersättigung des Reichen zu neuer Besitzes-Begier zu reizen. Jedes Mitglied der Modewelt ward von der Begierde sein Geld und seine Zeit zu vergeuden, oder doch seine Neugierde zu weiden, dahin geführt. Lord Friedrich, seiner schönen Cousine beständiger Begleiter, war uns zur Seite, so wie er überhaupt, seit mein Vater seine Bewerbung zurückgewiesen, mir seine Aufmerksamkeit noch viel eifriger bezeugte wie vorher. Miß Arnold glaubte es aus dem Grund [106] zu erklären, daß er seine Beflissenheit gegen mich, nun sie gar keine Absicht mehr haben könnte, auch gar nicht mehr zu verbergen brauche, indem unser Verhältniß beiderseitig eine unschädliche Koketterie bleiben müßte. Diese Erklärung beruhigte mich nicht, weil sie aber meiner Eitelkeit freies Feld bot, ließ ich sie als hinreichend gelten. Es waren schon eine Menge kostbarer Spielwerke verkauft, während das Gesicht mancher gegenwärtigen Dame, durch Begehrlichkeit, Neid, Fehlschlagung, mehr oder weniger entstellt, mich fast so sehr als der Anblick der glänzenden Geräthschaften beschäftigte. Endlich fiel mir der mißgünstige Ausdruck einer betagten, hagern Frau, die ihre Augen auf eine runde, blühende Gestalt richtete, welche ein eben erstandnes sehr schönes Porzellangefäß wohlgefällig betrachtete, so lebhaft auf, daß ich meinen Bleistift hervorzog, um sie als Karrikatur zu entwerfen. Noch [107] war ich damit beschäftigt, als ein allgemeiner Ausruf der Bewunderung meine Blicke auf ein Toilettenkästchen von Schildpatte mit goldnen Verzierungen zog, das eben zum Verkauf ausgeboten wurde. Dieses Kästchen war ein Meisterstück an Vollendung der Arbeit, an Reichthum und Zierlichkeit der Verzierungen. In einem Moment ward ich vom Zuschauer bei dieser Scene der Thorheit, eine handelnde Person, ich fand in der Versicherung des Ausrufers: daß die funfzig Pfund für die es angeschlagen sey, nicht ein Drittel seines Werthes betrügen, eine Rechtfertigung meiner unwiderstehlichen Lust es zu besitzen, und that ein Gebot. Die Besitzeslust welche mich ergriffen, wirkte auch auf Andere, man steigerte den Preis bis zu siebenzig Pfund. Nun stockte der Wetteifer einen Augenblick; dieser schien mir günstig, ich bot noch einmal – allein ich hatte mich geirrt; jetzt trat eine ältliche, widrige [108] Dame mit mir in Wettstreit, mit spottender, fast geringschätzender Kälte trieb sie mich hinauf, bis für hundert und funfzig Pfund sie mir das Spielwerk überließ. – Ich hielt meinen neuen Besitz in den Händen, ich genoß die Glückwünsche, die neidischen Blicke, die bewundernden Ausrufungen der Umstehenden, als mir die Nothwendigkeit, meinen Kauf zu bezahlen aufs Herz fiel. Den Versteigerungs-Gesetzen gemäß, mußte dieses baar geschehen, und ich hatte aufs höchste zwanzig Guineen in meinem Beutel. Mit einer Verlegenheit, die alles was ich bisher in dieser Art erfuhr, übertraf, wendete ich mich, kaum hörbar an Lady St. Edmond mit der Bitte um ein Darlehn, das ich gewiß war ihr gleich nach meiner Nachhausekunft erstatten zu können. Ich meinte sicher noch einen großen Theil meines Monatgeldes in meinem Schreibtisch zu haben; reichte dieses nicht hin, so rechnete ich auf einen Vorschuß [109] von meinem Vater, und war auch überzeugt bei Miß Arnold Unterstützung zu finden, denn vor kurzer Zeit sah ich, daß sie Gold in Händen hatte, und theilte auch meine letzte monatliche Rente mit ihr. Lady St. Edmond hörte meine Bitte mit der größten Gefälligkeit, bezeigte mir aber das innigste Bedauern, auch nicht einen Schilling in ihrem Beutel zu haben, da sie gar nicht einzukaufen gesonnen gewesen sey. Zugleich rief sie Lord Friedrich herbei, um mir den nöthigen Vorschuß zu machen. So leichtsinnig ich war, so sehr Irrthum und Thorheit mich umfing, schauderte ich doch vor dem Gedanken Lord Friedrichs Schuldnerin zu werden. Ich weigerte mich darüber mit ihm einzugehen und blickte umher, um mich an eine andre Bekannte zu wenden. Ein reiches junges Frauenzimmer, die ich oft sah, schien mir die geschickteste, mich aus meiner Verlegenheit zu reißen; ich stellte sie ihr vor, sie wies mich [110] aber mit der Versicherung zurück, daß ihr nur eine Guinee, sie in Versteigerungen zu verwenden, zu Gebot stehe. – Aber Sie boten ja auch auf das Kästchen, rief ich verwundert. – »O das that ich zum Zeitvertreib. Was sollte ich mit diesem kostbaren Dinge machen? Das kaufen nur Leute, die alle Taschen voll Geld haben.« – Lady St. Edmond verlachte mich ohne Schonung über meine Ziererei gegen Lord Friedrichs Anerbieten; die Nothwendigkeit zu bezahlen drang sich mir auf, und ehe ich mirs versah war Lord Friedrichs Gold in meinen Händen. – Doch stellte er mirs auf so eine bescheidne, anständige Art zu, die es bewies, daß ein Modeheld bei Gelegenheit dennoch höflich zu seyn im Stande ist. Sobald ich seine Banknote angenommen, fragte ich ihn scherzend: welche Sicherheit er von mir für die Rückzahlung verlange? Er faßte meine Hand und zog mir tändelnd einen Ring von wenigem Werth mit [111] den Worten vom Finger: »Das ist mein Pfand. Glauben Sie aber nicht, daß ich es für ein paar armseelige Guineen zurückzugeben gedenke! Sie können es sobald Sie wollen bei einer schicklichen Gelegenheit eintauschen.« – Der Scherz mißfiel mir, aber um ihm keine Wichtigkeit zu geben, und seine Bedeutsamkeit nicht überlegend, ließ ich ihn im Besitze des Rings.

Wie ich mit meinem, durch so bittre Verlegenheit erworbenen, Schatz nach Hause kam, untersuchte ich meinen Geldvorrath, und fand zu meinem Erstaunen, daß neun bis zehn Pfund alles sey, was er enthielt. Mir war es räthselhaft, wohin mein Geld gekommen seyn könnte; aber da ich ein ähnliches Erstaunen bei meinem Vater voraussetzen mußte, wenn ich ihn um Vorschuß ersuchte, wendete ich mich zuvörderst mit meinem Gesuch an meine Freundin Miß Julie. Mit einem Erguß von Bedauerniß und Selbst-Anklage, erklärte sie mir, kaum einige [112] Guineen zu besitzen; sie habe zwar baar Geld in Händen gehabt, allein bei ihrem letzten Besuch bei ihrem Bruder habe sie ihn in einer Verlegenheit gefunden, »und gut, wie ich bin«, waren ihre Worte, »half ich ihm aus, indem ich mir eine Freude daraus machte, ihm diesen Beweis von der Großmuth meiner edlen, hochherzigen Freundin gegen ihre Julie geben zu können. Am Ende des Monats zahlt er mirs zurück, und daß Lord Friedrich so lange warte, ist ja das Gleichgültigste von der Welt.« – Der Meinung war ich nicht; meine nächste Absicht ging ernstlich dahin, mich an meinen Vater zu wenden, allein Miß Arnold machte mich aufmerksam, daß ich dieses nicht könnte, ohne ihm mein gesellschaftliches Verhältniß zu Lord Friedrich zu verrathen, sie stellte mir die Unannehmlichkeiten, die ein Verbot von seiner Seite mir zuziehen könnte, so fühlbar vor, sie bewies mir so klar, daß der Schritt bei der Sicherheit, [113] in wenig Tagen zahlen zu können, so unnöthig sey, ja daß mir meines Vaters Aushülfe im äußersten Fall immer zu Gebot stände – so daß ich, zwar ängstlich und ungewiß, ihm die Sache zu verhehlen, einwilligte. – Möge doch hier jeder meiner Leser, der noch am Eingang seiner Lebensbahn steht, meinen warnenden Zuruf hören: jede seiner Handlungen, die er vor seinem natürlichen Verstand, wer er seyn mag, zu verhehlen sucht, mit scharfem Blick zu untersuchen! Ist diese Handlung wichtig, so verlasse er sich nicht auf sein eignes Urtheil über sie; ist sie geringfügig, so hüte er sich, daß Verhehlen sie nicht zu drückender Wichtigkeit anwachsen mache! Ein schüchternes Gemüth verliert, indem es sich durch diese heimlichen Pfade durchwindet, die sichre Haltung des reinen Bewußtseyns; ein kühnes, stolzes, wie das meinige war, dem die Anerkennung von Irrthum, von Bedürfniß nach Beistand so schwer [114] wird, erfaßt mit einer Eigenmacht, die in ihrer Kraft noch nicht wie etwas Schlechtes aussieht, diesen Ausweg, Vorwurf zu vermeiden, und der frohe Muth der Wahrheit ist für dasselbe dahin.

Für dieses Mal war Miß Arnold mit ihrem Sieg über meinen besten Willen zufrieden. Wie ein guter Feldherr, begnügte sie sich, den eroberten Posten zu sichern. Erst am folgenden Morgen fragte sie mich nachlässig: ob ich an Lord Friedrich einige Worte zur Entschuldigung geschrieben. – Ich verneinte es und setzte hinzu: daß es mir ungeschickt schiene. – Wenn Sie nicht schrieben, meinen Sie? fragte Julie, gewiß wäre das ungeschickt. Außerdem sollten Sie gar keine Gelegenheit zu schreiben aus den Händen lassen; denn es besitzt Niemand in dem Grade, wie Sie, die Grazie des Styls, der Wendung in einem Billet. – Der dunkle Begriff von Unziemlichkeit, ein solches Billet zu [115] schreiben, der mich bis dahin beschäftigt hatte, verschwand vor dieser Schmeichelei; ich schrieb, ich erhielt eine Antwort, die mich in die Nothwendigkeit versetzte, meinem Liebhaber – denn Lord Friedrich als solchen zu betrachten, hatte ich nun stillschweigend eingewilligt – nicht ohne einige Zeilen zu lassen; Briefe, Sonette, Episteln in Versen flogen hin und her und nahmen bald den Gang eines geregelten Briefwechsels an. Miß Mortimer durfte von diesem allen nichts ahnen, und das Unrecht nimmt so schnell von unsrer Seele Besitz, daß mich die Geschicklichkeit, mit der wir unsere geheime Kurzweil verbargen, mir bald zu einem eignen Vergnügen gereichte.

Der Maskenball rückte indessen näher, mein Sultaninnenputz beschäftigte mich so lebhaft, daß ich wenig auf die gewöhnlichen Umgebungen Achtung gab; nur auf Miß Mortimer wendete sich, durch Gewissensunruhe angetrieben, [116] zuweilen mein Blick. Ich bemerkte, daß sie leidend aussah; zwar war ihre Gesundheit immer sehr zart, allein in dieser Zeit fielen mir ihre krankhafte Farbe, ihre tief liegenden Augen und ein schmerzlicher Zug ihrer bleichen Lippen um so ängstlicher auf, als ihr Blick, der oft traurig auf mir ruhte, mein Unrecht zu errathen schien. Sie befreite mich selbst von dieser Sorge, indem sie mir freundlich klagte, daß mein Vater ihr abschlage, eine kleine Gesellschaft für den fünften Mai zu veranstalten, wie sie mir am Abend des Maskenballs erträglicher die Zeit zu verkürzen gewünscht hätte. O Ellen, unterbrach sie sich selbst, wie ähnlich sehen Sie Ihrer guten Mutter, wenn Sie erröthen! – Da möchte ich immer erröthen, antwortete ich, denn ich möchte Niemandem lieber ähnlich sehen, wie ihr. – Nun, liebe Ellen, wenn Sie nicht eitel seyn wollen, so will ich Ihnen sagen, daß Sie eine noch wesentlichere Aehnlichkeit [117] mit ihr haben. Sie sind, gleich ihr, fähig, Ihre liebsten Wünsche Ihren Freunden zum Opfer zu bringen. – Diese Worte überwältigten mich, von meinem bösen Gewissen überrascht rief ich: Sie mir ähnlich! O ein Engel des Lichts könnte eben so gut einem schwarzen, brütenden ... hier fühlte ich, daß ich mich verrieth, und hielt inne. Miß Mortimer blickte mich mit einem so sanften, zutrauenvollen Lächeln an, bei dessen Erinnerung ich jedesmal mich selbst verabscheue; »liebe Ellen, sagte sie dabei, wenn ich Ihr Beichtiger seyn soll, so müssen Sie mir Ihre Sünden auch hübsch vertrauen, sonst besitze ich ja, wie Herr Maitland es nennt, eine Sinecure.« – Ja wahrlich, das sollte ich! erwiederte ich ruhiger, sollte nie wieder etwas Unrechtes thun, ohne es Jemand anzuvertrauen. Aber die Leute haben keine gute Art, mir meine Fehler vorzuhalten, sie machen mich zornig. Miß Julie hält [118] mir oft meine Fehler vor, aber sie macht mich nie bös. – »Nun, liebe Ellen, versuchen Sie es einmal mit mir, ich will Ihnen absichtlich gewiß nichts Verletzendes sagen. An Geschicklichkeit will ich mich zwar nicht rühmen mit Miß Arnold zu wetteifern, aber an herzlicher Zuneigung gewiß. Sie haben ein Recht zu meiner Nachsicht, das kein Irrthum von Ihrer Seite Ihnen raubt, um so mehr, da ich überzeugt bin, daß Sie sich nie zu Hinterlist und Schlechtigkeit herablassen werden.« – Ein Herz, das sich von den Worten gemißbrauchten Vertrauens nicht getroffen fühlte, müßte gänzlich verhärtet seyn. Ich flog zu Miß Arnold, um ihr meinen festen Entschluß anzukündigen, Miß Mortimer sogleich unser Maskeradengeheimniß mitzutheilen; allein der Schneider mit einer Menge Schachteln, Paketen und meinem Maskenanzug erwartete mich in meinem Zimmer, eine Stunde, die über dem Anpassen desselben [119] hinging, kühlte meinen reuigen Eifer dergestalt ab, daß es Miß Julie leicht gelang, mir zu beweisen, wie es in jeder Rücksicht besser sey, bei unsrer ersten Abrede zu bleiben.

Wie oft, ja wie fast immerdar, sind meine schönsten Gefühle, ehe sie noch zu Handlungen wurden, dahin geschwunden! Gefühle müssen ja ihrer Natur nach vergänglich seyn! Nur lange Uebung gibt unsrer Vernunft die Herrschaft, sie nicht als den Beweggrund unsrer Handlungen zuzulassen, sondern nur als den milden Vermittler zwischen der Strenge des allgemeinen Gesetzes und seiner Anwendung auf Andre.

Endlich kam der lang ersehnte fünfte Mai. Die Putzmacherin hatte mir mein Maskenkleid schon am frühen Morgen versprochen, doch sie hielt nicht Wort; meine Ungeduld ward den ganzen Vormittag auf die Probe gestellt, und erst um zwei Uhr erhielt ich diesen Schatz. [120] Voll Begierde, die Wirkung meines Putzes auf meine Gestalt zu beobachten, eilte ich in mein Cabinet; vor Miß Mortimers Ueberfall war ich sicher, sie hatte sich zu einer Berathung mit ihrem Arzt eingeschlossen; aber auch Miß Juliens Gegenwart war mir bei dem Probespiel meiner Eitelkeit zur Last, ich verriegelte meine Thür, und meine glänzende Verwandlung ward ohne alle Zeugen begonnen. Schon stand ich eine lange Weile vor dem Spiegel und versuchte jede Stellung, welche meine Gestalt oder meinen Putz am vortheilhaftesten herausheben konnte, als ich eine Unruhe auf der Treppe vernahm, ein ängstliches Geflüster, dessen Ursach zu erfahren, ich unbesonnen meine Thür öffnete. Mein erster Blick fiel auf Miß Mortimer, die dem Anschein nach leblos von einigen Bedienten die Treppe herauf in ihr Zimmer getragen ward. Ich eilte ihr nach. Meine unzusammenhängenden Fragen belehrten mich, [121] daß meine ehrwürdige Freundin sich nach dem Abschied ihres Arztes plötzlich nicht wohl befunden und in dem Moment, wo sein Wagen fortrollte, leblos zu Boden gesunken war. Ich hatte mich des Gedankens an Andrer Weh, des Anblicks fremder Leiden so entwöhnt, daß ich, von Schrecken erstarrt, gar keines klaren Gedankens, noch weniger der geringsten Hülfleistung fähig war. Eine Dienstbotin, ein Miethling, brachte durch ihre Sorgfalt die Freundin meiner Mutter, meine einzige wahre Freundin, zum Leben zurück. So wie sie ihre Augen öffnete, erinnerte ich mich meiner thörichten, von allem um die Ohnmächtige versammelten Hausgesinde schon lange angestaunten Kleidung. Ich zog mich schnell hinter die breite Gestalt der Haushälterin zurück, und sobald ich der Kranken liebe Stimme gehört hatte, die herzlich dankend für die geleistete Hülfe nun allein zu seyn wünschte, eilte ich in mein Cabinet, mich [122] meines Flitterstaates zu entkleiden. Nachdem ich mich in meinen gewöhnlichen Anzug geworfen hatte, schlich ich leise an Miß Mortimers Thür; ich horchte; alles war still; ein wilder Schrecken ergriff mich, ich fürchtete das Entsetzlichste; aber das menschliche Gefühl obsiegte, ich trat ein – und erblickte die Leidende auf ihren Knien, ihr Antlitz von Thränen benetzt, ihre Hände betend zum Himmel erhoben. Diese Stellung war mir nicht fremd – meine Mutter hatte mich vor Gott die Knie zu beugen gelehrt, ja ich hatte die Gewohnheit, am Abend und Morgen gedankenlos eine Gebetformel zu plappern, beibehalten; allein der Aufflug der Seele zum Thron der Gnade, der aus Miß Mortimers Antlitz sprach, die Erhebung zum Ueberirdischen in der hinfälligen, dem Tod geweihten Erdenform ergriff mich mit unnennbarem Entsetzen, ich zog die Betende in meinen Armen empor und beschwor sie, mir zu [123] sagen, welches Unglück ihr widerfahren sey. – »Kein Unglück, meine Ellen, sprach sie, sanft meine Liebkosung erwiedernd. Ich bin ein armes schwaches Geschöpf, dem es noch nicht gelungen ist, sich Gottes Willen mit Aufopferung seines irdischen Seyns zu unterwerfen. Ich habe mich seiner Vaterhand in mancher großen Angelegenheit gebeugt, und nun empört sich mein schwacher Geist bei der Furcht vor körperlichen Leiden.« – Ich erfuhr nun, daß ein lang empfundnes, lang verschwiegnes Uebel sich endlich so furchtbar entwickelt habe, daß sie nicht hoffen dürfe, ihr Leben anders, als vermöge einer sehr schmerzhaften, gewagten Operation zu erhalten. Die Erwartung des peinigenden Schmerzes erschütterte ihren zarten Körper, sie rang mit Ernst, ihrer Vernunft den Sieg über die widerspenstige Natur zu verschaffen. Anfangs ergriff mich der hohe Flug ihrer frommen Begeisterung, aber bald empfand [124] ich dabei die Unbehaglichkeit, welche uns bei warmen Empfindungen, die wir nicht zu theilen fähig sind, befällt. Unter dem Vorwand, daß sie Ruhe bedürfe, beredete ich sie, sich niederzulegen, und verließ ihr Zimmer.

Noch vor vier Monaten würde ich nicht fähig gewesen seyn, eine Nacht auf dem Ball zuzubringen, in welcher der letzte von meines Vaters Dienern gefährlich krank gewesen wäre, und jetzt stand ich an, mich bei dem bedenklichen Zustand der Freundin meiner Mutter und meiner Freundin einem solchen Zeitvertreibe zu entsagen. Gewohnt, Miß Arnold in jeder Angelegenheit zu meiner Vertrauten zu machen, theilte ich ihr meine Zweifel mit. Sie bewies mir, daß mein Opfer Miß Mortimer von gar keinem Nutzen sey, daß sie gar keines Beistandes bedürfe, und in diesem Fall der meine ihr nicht so nützlich sey, wie die Sorgfalt ihres Dienstmädchens; ja sie machte es sogar zu einer[125] Finanzsache, so eine ungeheure Summe, wie mein Anzug gekostet hatte, nicht vergeblich ausgegeben zu haben. Meine Thorheit war ihre Bundsgenossin, also ward ihr der Sieg leicht, und es blieb nur der drohende Augenblick noch zu überstehen, der Kranken unsre Absicht, rücksichtlich des Maskenballs, bei unserm Weggehen zu erklären. Wir gestanden uns gegenseitig nicht, daß wir hofften, Miß Mortimer würde ihrer Unpäßlichkeit wegen ihr Schlafzimmer gar nicht verlassen, und dann jede Erklärung unnöthig seyn. Wie unser Putz angelegt war, begaben wir uns in das Besuchzimmer, den Wagen zu erwarten. In meiner Seele befand sich keine Spur der Sorglosigkeit, welche ein Fest, wie das, welchem wir entgegengingen, anziehend machen kann. Ich äußerte gegen Miß Arnold noch einmal meinen Wunsch, lieber Miß Mortimer in ihrem Schlafzimmer aufzusuchen, als ohne ihr Wissen das [126] Haus zu verlassen. Wir stritten uns noch über diesen Gegenstand, als meine würdige Freundin unerwartet eintrat. Sie sah blaß und hinfällig aus, kam aber mit ihrem gewöhnlichen leisen, raschen Schritte auf uns zu. Bei ihrem ersten Anblick zog ich mich unwillkürlich hinter Miß Arnold zurück. Die Sünde macht uns jetzt noch so einfältig, wie unser erster Vater im Paradiese, als er schuldig wurde, es war. Auf diese Weise fiel ihr nur Miß Arnold ins Auge, und sie rief freundlich: »Sie sind ja wie zum Siege gerüstet! Nie sah ich etwas so anmuthig Fantastisches, wie diesen Anzug.« – Jetzt erblickte sie aber mich, und die Wahrheit ward ihr plötzlich klar, denn sie fuhr zurück und wechselte die Farbe. – Eine Todtenstille erfolgte; ich blickte stumm zu Boden. Julie fand zuerst die Sprache wieder, sie sagte nachlässig: »Herr Percy hat uns eine Stunde auszugehen erlaubt.« – »Ja, setzte ich zögernd [127] hinzu, der Vater erlaubte es uns, und wir bleiben nur eine kleine Weile.« – Schüchtern blickte ich sie an und fand sie so blaß, wie den Tod. »Miß Mortimer, rief ich, auf sie zueilend, zürnen Sie nicht zu sehr!« – »Miß Percy«, sagte sie mit leiser, mühseeliger Stimme, »ich maßte mir eine Herrschaft über Sie an, diese Gelegenheit nöthigte Sie um so weniger, mich zu ....« Sie hielt das wohlverdiente Wort zurück, aber mein Gewissen ersetzte es. Ich versicherte sie nun, ich rief Miß Arnold zum Zeugen, daß es nie meine Absicht gewesen sey, ohne ihr Wissen auf den Ball zu gehen. Miß Mortimer antwortete sanft, gütig, aber mit unverkennbar tiefem Schmerz: »Am wenigsten heute, an dem letzten Tage« – so sagte sie, und ihre Gemüthsbewegung benahm ihr die Stimme. Ich sah nur diese, der Sinn ihrer Worte entging mir in der Heftigkeit streitender Empfindungen, und wenn gleich [128] die bessern in diesem Augenblick aufgeregt waren, behielt doch der Leichtsinn den Sieg, und wir fuhren zum Ball.

Bei der Stimmung in der ich mich befand, ward ich beim Eintritt in den Saal wirklich betäubt; ich hielt mühselig den Gedanken fest, mich Lady St. Edmond, die als Wirthin keine Maske trug, zu entdecken und nicht mehr von ihrer Seite zu gehen. Doch wie ich mich ihr nahen wollte, trat eine Sultans-Maske auf mich zu und sprach mich als eine Fremde an. Auf den ersten Blick erkannte ich Lord Friedrich; da ich die Wahl seiner Kleidung, in Verbindung mit der meinen, unmöglich für Zufall halten könnte, erschreckte mich der Gedanke, mein Geheimniß, das niemand wie Miß Arnold bekannt gewesen war, verrathen zu sehen. Die Eitelkeit in einem angenommenen Charakter zu sprechen, bewog mich aber doch dem Sultan gleichfalls als Fremde zu antworten. [129] In wenigen Momenten hatten wir uns in ein nichtsbedeutendes Gespräch verwickelt, und wie ich mich umsah, war Lady St. Edmond von ihrem Platze verschwunden. Hastig begann ich sie zu suchen, der Sultan blieb mir zur Seite, hielt meine Schritte auf und lenkte mich durch seine Bemerkungen über manchen meiner Bekannten, den er mich unter der Maske entdecken ließ, wobei er sich wirklich sehr kurzweiliger Wendungen bediente, von meinem Zweck ab. Unser thörichtes Gespräch war bald so ungezwungen geworden, daß wir uns gegenseitig, einander nicht fremd zu seyn, gestanden. Ich fand den Ton, in welchem mir Lord Friedrich dieses Geständniß machte, nicht sehr ehrerbietig; anstatt ihn aber durch Kälte abzuwehren, begegnete ich ihm durch eine witzige Antwort. In dem Augenblick, wo ich sie gesagt, hörte ich nahe bei meinem Ohr eine leise Stimme, die zu mir sprach: »Seyn Sie vorsichtig; Sie bedürfen [130] es.« – Bestürtzt sah ich mich um, erblickte aber nur gleichgültige schwarze Domino's in gleichgültiger Stellung, so daß ich die gehörten Worte für eine Täuschung meiner gereizten Fantasie hielt; doch aber sehr froh war, in diesem Augenblick Lady St. Edmond zu finden. Sie schien meinen Unmuth, sie nicht früher erreicht zu haben, nicht sehr zu theilen, überhäufte mich aber dermaßen mit Schmeicheleien, daß meine gute Laune zurückkehrte, und ich anfing das bunte Gewirre um mich her mit Heiterkeit zu betrachten. Der Raum, wo getanzt ward, war einen Augenblick leer, und sogleich schlug mir Lord Friedrich vor, einen Tanz aufzuführen, der von der Nationalität der Türken nichts wie den Ausdruck sinnlicher Leidenschaft hatte, der ihn der Modewelt auf unsern Theatern empfahl. Ich erinnerte mich an den unseligen Walzer, der mir am Tag meines Eintritts in die große Welt so bittre Empfindungen erregt [131] hatte, lehnte den Vorschlag bestimmt ab, bot mich aber an, ihm zu jedem andern Tanze meine Hand zu geben. Lady St. Edmond machte mir begreiflich, daß es in einer Charaktermaske höchst geschmacklos seyn würde, in einem andern als mit ihr übereinstimmendem Tanz aufzutreten, daß ich also den Tanz des Serails aufführen, oder gar nicht tanzen müßte. – Und ich tanzte so schön! und ich war so gewohnt Beifall für mein Tanzen zu ärnten! Ich hatte vor meinem Spiegel so sicher auf Beifall gerechnet! – Lord Friedrich bestärkte Lady St. Edmonds Schlußbemerkung: wie ich doch nicht glauben könnte, daß sie mich in ihrem Hause, vor ihren Augen, zu etwas Unziemlichem auffordern würde, mit den ausgelassensten Schmeicheleien, und so befand ich mich mit ihm, von einem dichten Kreis von Zuschauern umgeben, ehe ich meinen Entschluß eigentlich geändert hatte, mitten im Saal [132] stehen. Mein Herz zitterte vor der Thorheit, die ich beging. Heil, o Heil des allen Völkern, sobald sie die erste Stufe der Bildung gewonnen haben, allgemeinen Gesetzes, welches unser Geschlecht der Meinung unterwirft! Schamlosigkeit kann sie verachten, höhere Pflichten können uns berechtigen sie zu beseitigen, allein für die Mehrzahl der Weiber, die bei einem wenig umfassenden Beruf gern das Aussergewöhnliche mit Lebhaftigkeit ergreifen, ist die Meinung wie der Vorposten der Tugend; sie gibt dem Nachdenken Zeit, sich gegen den Feind zu bewaffnen. Dieser Vorposten fehlte mir jetzt. Unverlarvt hätte ich es nie gewagt, mich den Blicken der mir unbekannten Menge auszusetzen, in meinem Flitterstaat, meinen schamglühenden Wangen von der Larve bedeckt, härtete ich mich bald gegen das Unziemliche meines Auftretens ab, und die Schüchternheit, die meine Bewegungen dennoch beibehielten, [133] mochte dem Charakter des Tanzes für die Zuschauer einen besondern Reiz geben, bei dessen Namen sich heute mein Bewußtseyn empört.

Nach Beendigung des Tanzes, eilte ich unter dem Beifallsruf der Menge zu Lady St. Edmond zurück; allein sie hatte ihren Platz verlassen; Miß Arnold erwartete mich, im Gespräch mit einem Bekannten begriffen. Sogleich begannen wir die Hausfrau zu suchen. Im Vorbeigehen bei einem Tisch, mit Erfrischungen besetzt, griff ich, vom Tanz, von der Larve und von dem Gedränge erhitzt, nach einem Glas Eis; Lord Friedrich entzog es heftig meiner Hand, erinnerte mich an die Folgen einer so gefährlichen Erquickung und reichte mir einen Becher schäumenden Champagner. »Trink wenig; der Becher enthält Gift«! hörte ich die vorige Stimme mir zuflüstern. Herrn Maitlands Bild gesellte sich zu dem Schrecken, der[134] mich bei diesen Worten überlief. Ich blickte um mich; unter einem Haufen schwarzer Domino's stand mir einer derselben nahe, allein mit der gleichgültigsten Haltung ergriff er eben ein Glas Punsch, und seine kleine, unansehnliche Gestalt ließ auch keinen Gedanken an jenes Mannes hohen kräftigen Wuchs aufkommen. Da es mir gar nicht einfiel, den Worten der Maske eine sinnbildliche Deutung zu geben, hielt ich sie für einen unzeitigen Scherz und leerte mit nächlässigem Lächeln das Glas. Die Wirkung des Weins war bei der schon bestehenden Aufregung meiner Lebensgeister augenblicklich; meine Lustigkeit stieg bis zur Spannung, ich wanderte lachend, schwatzend, Miß Julie und ihren Begleiter ohne Unterschied mit in das Gespräch ziehend, immer in der Absicht, Lady St. Edmond aufzusuchen, von einem Zimmer zu dem andern. Ehe ich mir es versah, gelangten wir ganz am Ende der Gesellschaftszimmer [135] in ein Gemach, das, wie ich mir nachmals zu erinnern glaubte, Lord Friedrich erst öffnete; es war so glänzend wie die übrigen erleuchtet und mit einem wohlbesetzten Trinktisch verziert, doch die wohlthätige Kühle der Luft bewies, daß der Haufen es noch nicht angefüllt hatte. Mein Begleiter führte mich zu einem Sopha, wir setzten unser Gespräch fort; durch die offne Thür sah ich die Bewegung der Gäste, und, obschon getrennt von der Menge, fiel mir die unmittelbare Nothwendigkeit, diesen angenehmen Ort zu verlassen, nicht auf. Lord Friedrichs Gespräch ward zärtlicher und dringender, endlich hatte er die Keckheit, mir mit klaren Worten eine Reise nach Schottland vorzuschlagen. Ich nenne es Keckheit; bedarf die ein Mann gegen ein armes Mädchen, das durch den Leichtsinn, mit dem es alle Schutzwachen des Zartgefühls, eine nach der andern, entließ, dessen Achtung erstickte und [136] ihm die Zuversicht, wagen zu dürfen, aufdrang? – Ich beantwortete seinen thörichten Antrag mit erkünstelter Heiterkeit und blickte auf, um Miß Julie wieder an unserm Gespräche Theil nehmen zu lassen, als ich zu meinem Schrecken wahrnahm, daß sie und ihr Begleiter sich nicht mehr im Zimmer befanden. Bei meinem lebhaften Aufblicken umschlang mich Lord Friedrich mit schmeichelnden Worten, als die, wahrscheinlich von Miß Julie bei ihrem Weggehen angelehnte Thür des Gesellschaftszimmers aufgestoßen ward, und Lady Maria du Burgh mit einer andern Dame, denen mein warnender Domino auf dem Fuße folgte, herein trat. Mit einem Lächeln, in dem Haß und Verachtung wetteiferten, rief Lady Maria: »Wir stören ein Rendezvous« und wendete sich, auf mich deutend, zu den Umstehenden. Ich glaubte die Vernichtung ergiff mich und drückte mich in den Sopha zurück; Lord Friedrich aber [137] sprang auf und sagte mit einem heftigen Fluch zu seiner Schwester: »hätte eine von euch den tausendsten Theil von Miß Percy's Reizen, so könnte sich ein Mann auch bei euch vergessen; aber dafür seyd ihr sicher. – Verzeihen Sie mir, Miß Percy, rief er dann zu mir gewendet, verzeihen Sie mir, oder ich bin der unglücklichste Mensch!« – In diesem Augenblick versöhnte mich keine Schmeichelei, selbst nicht wenn sie auf Lady Maria's Kosten gemacht wurde; ich versuchte es, einige beißende Worte zu erwiedern; aber meine peinliche Empfindungen überwältigten mich dergestalt, daß Thränen sie erstickten. Ich trocknete sie schnell und eilte, von Lord Friedrich wie von meinem Schatten verfolgt, in den Tanzsaal zurück, wo es mir auch gar nicht schwer ward, Lady St. Edmond zu finden. Mit einiger Lebhaftigkeit warf ich ihr vor, meine Hoffnung, den Abend an ihrer Seite hinbringen zu dürfen, durch ihr [138] Verschwinden vereitelt zu haben, und drang darauf, den Ball jetzt zu verlassen. Sie bewies mir mit den anmuthigsten Schmeicheleien, daß ihre Pflicht als Wirthin sie genöthigt hätte ihren Platz mehrmals zu verändern, widersetzte sich aber meinem Begehren, mich nach Hause zu begeben, nicht beharrlich, sondern erlaubte Lord Friedrich nach meinem Wagen zu senden. Ueber das angenehme Gespräch, mit welchem diese geschickte Frau mich nun zu fesseln wußte, bemerkte ich kaum, daß Lord Friedrich eine ganz ungeziemend lange Zeit, um meinen Wagen herbei rufen zu lassen, ausblieb. Ich sah mich endlich nach ihm um, als mein unbekannter Warner sich nochmals zu mir herabbeugte und eindringend sagte: »Verblendetes Mädchen! wohin willst du gehen?« – »Nach Hause, wo ich schon längst gerne wäre.« – »Du wirst nicht nach Hause kommen, der Wagen, den du erwartest, führt dich nach Schottland.« – [139] Ich fuhr erschrocken empor, die Uebereinstimmung dieser Warnung mit Lord Friedrichs verwegner Zumuthung schien mir mehr wie ein Ungefähr, aber in eben diesem Augenblick trat Miß Arnold mit dem Lord herbei, und der Letzte meldete mir auf die ungezwungenste Weise, daß mich mein Wagen erwartete. Ein augenblickliches Nachdenken hatte mir indessen das Abenteuerliche von meines Warners Verdacht deutlich gemacht. Ich sah die Unmöglichkeit ein, von meines Vaters Kutscher und Bedienten nach Schottland geführt zu werden, nahm Lord Friedrichs Arm und eilte aus der Gesellschaft. Schon stand ich mit dem Fuß auf dem Kutschentritt, als ich bemerkte, daß ich nicht meines Vaters Wagen vor mir hatte. Erschrocken trat ich zurück und ließ mich auch von Lord Friedrichs Bedeuten: daß mein Wagen des ungeheuern Gedrängs wegen in einer Stunde noch nicht vorfahren könnte, er deshalb [140] mir den seinen anböte, nicht beruhigen, sondern begab mich wieder in das Vorhaus. Noch einmal stand mein Warner neben mir und erbot sich, mich sicher zu meinem Wagen zu geleiten, oder ihn, wenn ich einen Augenblick verweilen wollte, heranfahren zu lassen. Lord Friedrich versuchte einen hohen Ton anzunehmen; der Domino antwortete sehr kühl, aber auf eine Art, die des Lords böses Gewissen zu seinem Bundsgenossen machte. Ich zog vor, den Wagen zu erwarten, die Maske befahl einem sehr sauber gekleideten Bedienten ohne Livree, ihn zu suchen, dieser hatte ihn auch nach wenig Minuten gefunden; ich stieg mit Miß Arnold ein und erlaubte dem Domino gern mich bis an meines Vaters Haus zu begleiten. Unterwegs versuchte ich zu erfahren, wer mein Beschützer sey; er wies jede Frage zurück, sagte aber mit einfacher Offenheit: er habe von Jemand, dem mein Wohl am Herzen [141] liege, den Auftrag gehabt, mich an diesem Abend vor Schaden zu hüten. Auf keine andre Erklärung ließ er sich ein, sondern beharrte in einem einsylbigen Ernst, der mir von dem Zeugen meiner Thorheit höchst demüthigend war. Unsre Ankunft zu Haus beendete dieses peinliche Beisammenseyn. Der Unbekannte hatte seinen Wagen nachfahren lassen, und sobald mir die Hausthür geöffnet ward, fuhr er davon.

Miß Arnold schien geneigt, sich wortreich über die Vorfälle dieses Abends zu verbreiten; dem widersetzten sich aber meine peinigenden Empfindungen. Ich wollte ihr eben eine gute Nacht wünschen, als der Diener hereintrat, um mir ein, in Briefform zusammengelegtes Papier, welches er auf dem Boden des Wagens gefunden hatte, zu übergeben. Neugierig drängte sich Miß Arnold herbei, sicher in ihm Aufschluß über unsern Unbekannten zu finden; aber [142] ich behielt es gefaltet in der Hand und ging in mein Schlafzimmer.

Das war also das Fest, von dem ich mir das höchste Vergnügen versprochen, dem ich einige der besten Gefühle meines Busens geopfert, für das ich Pflichten verletzt, und das mir, ohne die Dazwischenkunft meines Unbekannten vielleicht die Ruhe meines Lebens gekostet hätte! Tief betrübt hielt ich jenes Blatt in meiner Hand. Daß mich das Verlangen spornte, zu entdecken, wer sich meiner angenommen, war verzeihlich, aber daß dieses nach und nach in eine so leichtsinnige Neugier überging, die mich fähig machte, endlich dieses offenbar nicht mir bestimmte Billet zu lesen, bedeckt noch heute meine Wange mit Scham. – Es war mit Herrn Maitlands Namen unterschrieben und enthielt in sehr einfachen Ausdrücken die Bitte an einen Freund, dem Maskenball der Lady St. Edmond beizuwohnen, und mich [143] auf ihm nicht aus den Augen zu lassen, weil er Verdacht habe, daß meine Unerfahrenheit mich schlechten Menschen in die Hände geben möchte. »Die wichtige Angelegenheit, schrieb er, die am morgenden Tage mich unter die Vertreter unsers Volkes ruft, erfordert diese Nacht mein Nachdenken und meinen Fleiß. Ich zeigte Ihnen Miß Percy in einer Gesellschaft; sollte die Larve sie Ihnen unkenntlich machen, so merken Sie nur auf Stellung und Gang. Niemand hat sie so edel wie sie; oder geben Sie auf ihren Arm Achtung, der mir noch vor wenigen Tagen, da sie ihn um ihres Vaters Schultern legte, von unvergleicher Schönheit schien. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß mich dieses junge Frauenzimmer um Miß Mortimers willen Theilnahme einflößt, doch in wie hohem Grade dieses der Fall ist, beweist der Freundschaftsdienst, den ich von Ihnen fordere.«

[144] Verschwunden war meine Demüthigung, meine Zerknirschung; ich jauchzte innerlich für Freude, diesem kalten, stolzen, überweisen Mann Unruhe gemacht zu haben, ich glaubte mich für alle meine Fehlschlagungen entschädigt, da ich erfuhr, daß er meine Reize anzuerkennen gezwungen sey. Einen Gecken zu unterjochen, welch ein geringer Sieg! – Allein, den Mann, der bisher allein mir Scheu eingeflößt, in meinen Ketten zu sehen, erschien mir als ein unendlicher Triumph! – Ich wollte ihn verfolgen, ich wollte ihn mir sichern und mein thöriges Herz schlug bei dem Gedanken, Herrn Maitland elend in seiner Knechtschaft zu erblicken.

Doch so widersprechende Empfindungen hatten meine Kräfte erschöpft. Die peinliche Mattigkeit, die mich befiel, führte weniger angenehme Bilder vor meine Fantasie zurück, und ich sehnte mich, diesen unwürdigen Tag mit dem [145] gedankenlosen Zustand des Schlafes zu vertauschen.

Wie ich am folgenden Morgen in das Frühstückszimmer trat, war Miß Mortimer, in Reisekleidern, der erste Gegenstand, dem meine Blicke begegneten. Unerachtet unsers letzten so herzlichen Gesprächs, schien mir ihre Abreise in diesem Augenblick doch ein Vorwurf meines Betragens, der meine Eigenliebe beleidigte. Ich that, als wenn ich diesen Umstand gar nicht bemerkte, und setzte mich in mürrischem Stillschweigen an den Theetisch. Keins sprach ein Wort, das Frühstück ward in der widrigsten Stimmung genossen. Ich suchte mich zu überreden, daß Miß Mortimers Empfindlichkeit sehr ungereimt sey; mein Vater zog seine Stirn in immer furchtbarere Falten, Miß Arnold rückte unruhig auf ihrem Sessel und Miß Mortimer beugte sich über ihre unberührte Chocolatentasse, verstohlen die Thränen abtrocknend, die ihren [146] Augen entrollten. – »Es bleibt doch Unrecht, daß Sie darauf bestehen fortzugehen, ehe ich jemand anders für Ellen gefunden habe«, sagte endlich mein Vater mit ausbrechendem Verdruß. Diese Worte, wohl noch mehr die Art, wie er sie vorbrachte, reizten Miß Mortimer zu einer ungewöhnlichen Bestimmtheit in dem Ton ihrer Antwort: »So lange ich Miß Percy nützlich seyn zu können hoffen durfte, zweifelte ich gern an der Nothwendigkeit sie zu verlassen, seit man aber Verheimlichung gegen mich braucht, ist diese Hoffnung dahin. Auch kenne ich nun den Zustand meiner Gesundheit. Außerdem erklärt der Arzt, daß jeder Aufschub die Hoffnung der Heilung vermindert.« – »Nun! ein jeder weiß am besten, was er thut! erwiederte mein Vater; allein um ihrer Gesundheit willen sollten Sie nicht nöthig finden mein Haus zu verlassen. Mein Hauswundarzt würde Sie behandelt, die Cur Ihnen nichts gekostet haben, [147] und Sie hätten doch bei mir mehr Bequemlichkeit als in Ihrer engen Wohnung gefunden.« – »Ich zweifle nicht an Ihrer Großmuth, sagte Miß Mortimer kopfschüttelnd, allein schon der Name: Heimath, wiegt manchen Mangel auf, besonders für den Kranken und Sterbenden.« – Diese Worte und die Ankunft ihres Reisewagens trieb mich an ein Fenster, aus dem ich eifrig hinausschaute, als sey ich mir der Gegenstände vor meinen Augen bewußt. Nachdem Miß Mortimer von meinem Vater Abschied genommen, trat sie zu mir, ergriff meine Hand und sagte mit milder, herzlicher Stimme: »Ellen, sollen wir nicht als Freunde scheiden?« – Ich hätte die Welt hingegeben, wäre es mir in diesem Augenblick möglich gewesen einen gleichgültigen Ton aus meiner Kehle zu bringen! es wollte nicht gelingen, Thränen erstickten mich, aber mein gottloser Stolz trieb mich an sie zu verbergen; ich lehnte [148] mich, ohne zu antworten, aus dem Fenster. – »Vielleicht sehen wir uns noch wieder, Ellen, nahm Miß Mortimer nach einer Pause, noch immer meine Hand haltend, mit gebrochner Stimme von neuem das Wort, jetzt, ich weiß es, nutzt es nichts, wenn ich Ihnen sage, daß Sie sich ›auf ein gebrochnes Rohr stützen‹; doch wenn es Ihnen einst ›das Herz verwundet hat‹ 1, dann, Ellen, vergessen Sie nicht, daß ich stets bereit bin mit Ihnen zu weinen, Sie zu trösten. – Ihrer Mutter Andenken macht es mir ewig zur geliebten Pflicht.« – Ich konnte nicht antworten! – nicht, in meines Vaters, in Miß Arnolds Gegenwart, die bittern Empfindungen, die mich zerrissen, offenbaren. – Ja ich war elend genug, meine Hand aus der ihren loszureißen, und entfloh in ein einsames Zimmer. – Doch welchen Ort hatte ich gewählt! – Es [149] war meiner Mutter Schlafcabinet – bis zu meiner Rückkehr aus der Pension war es in seinem unveränderten Zustand ge blieben, hatte es auf meine dringende Bitte keine Veränderung erfahren, jetzt trieb der Anblick der, ihr Andenken zurückrufenden, Umgebungen meinen Schmerz aufs höchste. Hier stand noch ihr Lehnstuhl, wo ich so oft, vor ihr kniend, ihren Abendsegen empfing, dort ihr Nähkästchen, aus dem ich die farbigen Seiden zum Spiel herausnahm, das Tischchen, auf dem sie mir Blumen malte – der Fußschemel, auf dem ich an ihrem Bett hinaufstieg, wie ich zum letztenmal ihre Leiche umarmte. – – O Mutter, Mutter! rief ich, an diesem Bett auf meine Knie sinkend, du wardst mir entrissen, und die Freundin, die Rathgeberin, die du mir ließest, treibt meine hartherzige Thorheit krank und sterbend aus dem Hause! – Eine Weile schluchzte ich, den Kopf auf die Polster gelehnt, als Fidel leise[150] an mich hinaufsprang und mit seinen Liebkosungen mich zu trösten bemüht schien. Ein plötzlicher Gedanke riß mich auf: ich bin nicht würdig, dachte ich, dieses Thier zu pflegen, dessen Treue die meine zum Erröthen zwingt; Miß Mortimer gebührt sein Besitz, an mir ist ja doch alle Liebe verloren. – Ich nahm den Hund auf den Arm und eilte nach der Thür, ihn zu Miß Mortimer in den Wagen zu bringen, als ich Miß Arnolds nichtssagende Stimme vernahm, welche der Abreisenden, die eben die Treppe herabstieg, eine gleichgültige Abschiedsformel zurief. – Vor dieser konnte ich mich jetzt nicht sehen lassen – ich schellte hastig und befahl dem eintretenden Bedienten, Fidel in Miß Mortimers Wagen zu setzen, mit der Bitte ihn zu verpflegen, da er mir höchst lästig zu werden anfinge. – So konnte ich mich, sogar bei dieser Handlung der Selbstbestrafung, nicht entschließen, meine wahren Empfindungen zu zeigen.

[151] Doch der Schmerz, mit dem ich jetzt kämpfte, war überhaupt nicht »der göttliche Schmerz, der niemand gereut;« er war das peinigende Gefühl über die Folgen meiner Thorheiten, nicht die Einsicht in ihre strafbare Größe. Nicht Entschluß zur Besserung folgte ihm, sondern sehr bald die Bemühung ihn abzuschütteln, mich zu zerstreuen, und zu diesem Zweck forderte ich meinen Wagen, um den gewöhnlichen Kreislauf meiner Morgenbesuche zu beginnen. An Miß Arnolds Begleitung gewohnt, suchte ich sie auch diesesmal, ehe ich in den Wagen stieg, und wunderte mich, sie ohne mein Vorwissen ausgegangen zu finden; weil nun der vornehmste Gegenstand, der in meiner Einbildungskraft arbeitete, die Furcht vor dem Mißbrauch war, den Lady Marie von der Wahrnehmung meiner Thorheit in der vergangenen Nacht machen würde, befahl ich, zur Lady St. Edmond zu fahren, da ich von dieser zuerst [152] Aufklärung und Beruhigung über diesen beängstigenden Gegenstand erwarten konnte. Wie ich zu ihrer Thür kam, schien mich der Bediente am Aussteigen verhindern zu wollen; doch da ich im Anfahren bemerkte, daß eine Miethkutsche, die schon vor der Thür hielt, meinem Wagen hatte Platz machen müssen, war ich überzeugt, sie zu Hause zu finden, und trat in das Haus. Zu meinem Befremden ward ich aber in ein Hinterzimmer geführt, wo mich Lady St. Edmond erst nach einigen Minuten aufsuchte, dann aber mit ganz besondrer Herzlichkeit sich entschuldigte, daß ein Geschäftsmann sie, mich zu vernachlässigen, genöthigt habe. Wir gingen nun in ihr Cabinet, und sie schmeichelte bald jede Sorge über die Vorgänge der gestrigen Nacht aus meinem Gemüth. Bei der Frage, wie nur der unbekannte Domino auf den Verdacht einer Entführung hätte kommen können? rief sie nach einigem [153] Nachdenken mit der Lebhaftigkeit einer Person, die eine erwünschte Auflösung findet: »Ach gewiß ließ Lord Friedrich den Wagen, in welchem er heute früh nach Lincoln abreisen wollte, gleich vor meine Thür kommen, um vom Balle dahin abzufahren. Davon wollen wir uns sogleich Gewißheit verschaffen.« – Mit diesen Worten eilte sie aus dem Zimmer, um einen ihrer Leute abzusenden, daß er sich, ob der Lord wirklich abgegangen sey, erkundige. Ohne an den Gegenstand, den ich in die Hand nahm, zu denken, übersah ich einen Haufen Visitenkarten, die vor mir auf dem Tisch lagen, bis mir eine mit Miß Arnolds Namen auffiel; sehr flüchtig mit Bleistift geschrieben, standen die Worte auf ihr: »Ich bitte nur um fünf Minuten Gehör, ich habe etwas ganz besonderes zu sagen.« Sehr befremdet über den dringenden Ton einer Bitte, deren Wichtigkeit ich mir gar nicht erklären konnte, hielt ich Lady St. [154] Edmond bei ihrer Rückkehr die Karte hin und fragte: was hatte denn Miß Julie für ein wichtiges Geschäft? – Die Dame gerieth in sichtbare Verlegenheit, behauptete aber, sich der Sache gar nicht mehr zu erinnern – es sey wegen eines Huts, eines Federbuschs gewesen. – Halb überzeugte sie mich, halb wußte sie mich von dem Gegenstand zu entfernen, und in der Zwischenzeit kam der Bediente mit der Nachricht zurück: man habe Lord Friedrich diese Nacht gar nicht zu Hause gesehen, indem er von dem Ball nach Lincoln abgereist sey. Nun konnte ich billigerweise keinen Verdacht mehr nähren und nahm ziemlich erheitert von der Lady Abschied. In einer der Straßen, durch welche mich mein weiterer Weg führte, war ein schwerer Kohlenwagen umgefallen, der die mir entgegen kommenden Fuhrwerke, eines nach dem andern, behutsam vorbeizufahren nöthigte, indeß das meine abwarten mußte, bis ein leerer [155] Raum ihm fortzufahren gestatte. Aus derselben Nothwendigkeit hielt jetzt eine Miethkutsche neben mir, die ich sogleich für dieselbe erkannte, welche mir vor Lady St. Edmonds Thür Platz gemacht hatte. Es war ein ehemaliger Herrschaftswagen, an dem man das mir bekannte Wappen noch nicht übermalt hatte. Ich blickte in den Wagen und erkannte Miß Arnold darin, die sich anfangs zu verbergen suchte, dann aber, freundlich winkend, mich sie in mein Fuhrwerk aufzunehmen bat. Ich that das sogleich; allein meine Empfindung war in so hohem Grad aufgeweckt, daß unser Gespräch sich sehr bald in eine Erörterung über meine Anklagpuncte verwandelte. Dergleichen Erklärungen zwischen einem offnen, zutrauenden, und einem kalten, berechnenden Charakter können nicht zur Ergründung der Wahrheit ausschlagen. Miß Arnold gab dem Gespräch bald eine Wendung, die mich gegen sie in Nachtheil setzte, sie bewies [156] mir die Grundlosigkeit meines Verdachts, und einmal von meinem Unrecht gegen sie überzeugt, riß mich mein heftiges Wesen hin, durch den vollen Erguß meines Vertrauens mein Vergehen gegen die Freundschaft zu büßen.

Einen Auftritt heftiger Empfindung, einen Erguß schöner Gefühle hatte ich nun gehabt; aber ach, der ließ keinen Frieden in meiner Seele zurück! Der leere Platz, wo Miß Mortimer beim Mittagessen gesessen, quälte mich mit Vorwürfen, und ich eilte in die Oper, in drei Gesellschaften, um mich von allem Nachdenken zu zerstreuen. Endlich war der Abend vorüber, beim Eintritt in mein Schlafzimmer überbrachte man mir einen Brief von Miß Mortimer, denn sie hatte befohlen mir erst am Abend, wenn ich mich für die Nacht zurückgezogen hätte, ihn zu übergeben. Mit einer höchst schmerzlichen Empfindung nahm ich ihn in die Hand, ich war ermattet von dem freudenlosen[157] Schwindel des Tages und wußte zuverlässig, daß alles, was dieser Brief enthielt, mir den Schluß desselben nur noch peinlicher machen könnte. Ich hatte mich geirrt! Mit aller Milde ihres liebevollen Herzens, aber mit dem Ernst einer Christin, die in der Erfüllung ihrer Pflicht keine Schüchternheit kennt, ging sie mein Betragen durch, legte mir nochmals alle ihre Gründe vor, mich vor Lady St. Edmonds Umgang zu warnen, und gestand mir, daß sie meinem Vater angerathen habe, Miß Arnold nicht weiter um die Verlängerung ihres Aufenthalts zu bitten, weil sie ihre Gegenwart meinem Wohl für sehr nachtheilig halte. Die Beweggründe, die sie mir darlegte, um mich zu einer Veränderung meiner Ansicht des Lebens zu bewegen, erschütterten meinen Leichtsinn; sie zeigte mir, was ich oft, was ich heute so tief fühlte: daß all' mein Flitterstaat, daß alle Befriedigung meiner Eitelkeit mir kein wahres [158] Glück gewähre. Ich weinte laut bei der innigen Bitte meiner beleidigten Freundin: Gott zu suchen, so lang es noch Zeit sey, durch Mäßigkeit, Rechtschaffenheit und ein frommes Gemüth.

Schlaflos verging mir die Nacht; und obschon ich die folgenden Tage meine gewohnte Lebensweise nicht unterbrach, war mein Gemüth doch an jedem Abend – denn keine andere Einsamkeit ließ mir meine zerstreute Lebensweise zu – mit dem Inhalt von Miß Mortimers Briefe beschäftigt. Ich fühlte die Nothwendigkeit, etwas an mir zu bessern, doch womit ich anfangen sollte, wurde mir nicht klar. Rechtschaffenheit schien mir gar keine Tugend meines Standes; sie schien mir nur für arme Leute gemacht. Der, ohne Andern etwas zu entziehen, seine Wünsche zu befriedigen im Stande ist, konnte meiner Meinung nach nicht in den Fall kommen, gegen die [159] Rechtschaffenheit zu fehlen. Einst fromm zu werden, war ich sehr fest entschlossen; doch jetzt hielt ich die Uebungen und Entsagungen, aus welchen ich die Frömmigkeit bestehend glaubte, meinem Alter nicht für angemessen. Mäßigkeit schien mir die Tugend, mit der ich anzufangen beschloß. Ich malte mir die Einschränkungen aus, die ich in meinem Putz zu machen gedachte, ich nahm mir vor, weniger Vergnügungsorte zu besuchen und – außer der Genugthuung, die diese Lebensbesserung Miß Mortimer geben sollte, mußte sie, das wußte ich, auch Herrn Maitland gefallen. Diese Rücksicht schien mir das Verdienst meines Entschlusses gar nicht zu schmälern; denn der enthusiastische Beifall, welchen die ganze Nation seit dieses Mannes öffentlichem Auftreten ihm zollte, hatte meiner Eitelkeit seine Meinung so wichtig gemacht, daß ich mit Entzücken daran dachte, sie zu gewinnen.

[160]

Herr Maitland, der bisher in unbekannter Zurückgezogenheit alle Pflichten eines guten Bürgers erfüllte, hatte auf Wegen, wo sein Gewinn zahlreichen Armen die Wohlthat des reichlichen Erwerbs gab, sein Vermögen vergrößert und dieses Vermögen angewendet, Talente zu unterstützen, arme Schuldner zu befreien, nützliche Unternehmungen zu befördern. – Aber unbekannt, woher die Wohlthaten kamen, konnten die Unterstützten, die Geretteten, nicht einmal in ihrem Dankgebet seinen Namen vor Gott stammeln. Doch jetzt ward die große Frage über die Sklaverei der Neger in dem Parlamente erörtert, und nun brach Maitland die Stille, in der er so manches Jahr lang gewirkt, und obschon selbst ein Theilnehmer an dem westindischen Handel, also bei der Aufrechthaltung des Sklavenhandels betheiligt, stand er dawider auf und sprach mit einer Beredsamkeit gegen dieses Schandmaal christlicher [161] Cultur, welche auch die Kältesten erwärmte, die Gleichgültigsten zur Aufmerksamkeit hinriß. Britannien wünschte sich Glück zu dem Bürger, der die Zierde seines Volkssenats genannt ward, das Ausland beneidete das Volk, in welchem eines einzelnen Mannes Tugend Raum fand so mächtig zu wirken, und seine Bekanntschaft wurde von den Edelsten und Größten der Hauptstadt gesucht. Und diesen Mann gedachte ich durch die kleinen Künste der Eitelkeit unter mein Joch zu beugen, ihn, dessen Ueberlegenheit über alle Männer ich so lebhaft erkannte, wollte ich den mich umflatternden Gecken gleich sehn! – Statt, wie ich bei Miß Mortimers Abreise besorgt hatte, sich aus unserm Hause zurückzuziehen, waren seine Besuche häufiger, als zuvor; er kam gewöhnlich, ehe er ins Parlament fuhr, bei uns zum Frühstück, und wenn die Abendsitzungen der Kammer ausgesetzt wurden, verlebte er diese Stunden [162] mit uns. Ich setzte jetzt alle Mittel, seine günstige Meinung von mir zu erhöhen, in Bewegung, aber sein Betragen blieb sich ohne Abweichung gleich; er beschäftigte sich selten ausschließend mit mir, und wenn es geschah, so war es mit einem Ernst, der an Strenge zu grenzen schien; sein Blick ruhte wohl oft auf mir, aber ich nahm nichts von dem Beifall darin wahr, der mir Gelingen versprochen hätte, im Gegentheil lag eine Wehmuth, eine Trauer in seinen glänzenden Augen, die ein bängliches Gefühl von Selbsttadel in mir aufriefen. Doch da mein Leben keinen würdigen Zweck hatte, konnten dunkle Gefühle seine Anwendung nicht veredeln. Von Miß Arnold in den zahlreichen Stunden unsers müßigen Geschwätzes stets aufs neue angespornt, mein Geschlecht, wie sie es nannte, an diesem stolzen Mann zu rächen, versuchte ich es, seine Empfindung durch dieselben Vorzüge zu rühren, die er in jenem, von [163] mir auf eine so unredliche Weise gelesenen Brief, an mir gerühmt hatte. Ich führte mit der unwürdigen Kunst der Gefallsucht Gelegenheiten herbei, meinen Gang, meine Haltung vor seinen Augen zur Schau zu stellen; ich suchte ihm meinen Arm unter den günstigsten Umständen zu zeigen, ich brachte in jedem Gespräch »meine kunstlose Einfalt, meine kräftige Originalität« an – das waren alles Züge, mit denen er mich gegen meinen unbekannten Warner vom Maskenball geschildert hatte. – Allein das Fremdartige, was diese Absichtlichkeit in mein Betragen brachte, arbeitete meinem Zwecke gänzlich entgegen. Anfangs sah er mir mit Befremden zu, bald aber bezeigte er mir durch den Ueberdruß, mit dem er sich von mir ab zu dem gleichgültigsten Mitglied der Gesellschaft wendete, wie peinlich meine Künste auf ihn wirkten. Miß Arnold, die in alle meine Thorheiten mit gewohnter Theilnahme einzugehen [164] fortfuhr, brachte mich endlich auf den Gedanken, daß nur noch eine Probe, seine Gesinnung zu ergründen, übrig bliebe: – ich müsse versuchen ihn zur Eifersucht zu reizen, und nach mancher Ueberlegung schien uns Lord Friedrich zu dieser Probe am besten geschickt.

Mylord hatte zwar, seit der mißlungenen Unterhandlung seines Vaters seine Besuche bei mir eingestellt und meiner Weigrung, sie wieder zu erlauben, gehorcht; allein ich wußte sehr wohl, daß es nur eines Winkes bedurfte, um ihn zurückzurufen; diesen er hielt er, und es konnte nicht fehlen, daß er zu gleicher Zeit mit Herrn Maitland, wiewohl durch meine Veranstaltung nicht in den Stunden, wo mein Vater gegenwärtig war, bei mir zusammentreffen mußte. Nun begann ich augenblicklich die elendsten Kunstgriffe eitler Quälsucht in Bewegung zu setzen. Ich zeichnete Lord Friedrich durch jede Zuvorkommung aus, flüsterte mit [165] ihm, ohne ihm etwas Geheimes zu sagen, lachte, ohne einen Gegenstand dazu, machte Anspielungen auf nichtswürdige Kleinigkeiten, denen ich nie Werth beigelegt hatte. Obgleich Miß Arnold beauftragt war, die Wirkung dieser unedlen Posse auf Herrn Maitland zu beobachten, unterließ ich nicht einige Seitenblicke auf ihn zu werfen – ich glaubte ihn erblassen zu sehen, allein meinen Triumph zu vergewissern, gönnte er mir keine Zeit, denn ohne meiner Thorheit mit einem Worte Einhalt zu thun, nahm er nach einer Viertelstunde einen sehr frostigen Abschied. Miß Arnold versicherte mich, daß sie bei diesem ganzen Auftritt auch nicht die mindeste Regung von Eifersucht auf seinem Gesicht wahrgenommen hätte, allein daß ein jeder Empfänglichkeit für feinere Gefühle so fähiger Mann, wie er, wahrscheinlich mehr wie einmal dem Feuer dieser peinlichen Leidenschaft ausgesetzt werden müßte, bevor sie ihm [166] ans Herz dränge – und so versäumte ich kein Zusammentreffen der beiden Männer, ohne mein unedles Spiel zu wiederholen. Alle meine Mühe war vergebens; Herrn Maitlands Gleichmuth blieb unerschüttert, nur seine Heiterkeit schien sich zu trüben, und der Ernst seines Auges stand zu meiner Qual wie ein Zauberspiegel vor mir, der mir meine eigne Gestalt als Verzerrung zurückwarf. Mein Vater machte dieser unwürdigen Komödie ein Ende, indem er mir eines Morgens in der Stellung, mit dem Ton, in dem er seine bedeutendsten Ermahnungen zu geben pflegte, den Befehl ertheilte, Lord Friedrichs Besuche fortan nicht mehr zu gestatten. »Herr Maitland«, setzte er hinzu, »versichert mich zwar, daß dein Herz an dieser Bekanntschaft keinen Theil nimmt, – welches ein solcher Geck auch wenig verdiente – ich finde es aber nach dem, was zwischen mir und seinem Vater vorfiel, nicht [167] dem Anstand gemäß, ihn in meinem Hause zu empfangen.«

Also nicht einmal den Verdacht, daß ich Lord Friedrich einen Vorzug gewährte, gelang mir in Herrn Maitland zu erwecken. Nun gab ich meinen Plan und meine Hoffnungen auf, und um den innern Schmerz dabei zu betäuben, machte ich mir selbst weiß, und Miß Arnold bemühte sich mich darin zu bestärken, daß ein gefühlloser Mensch wie Herr Maitland meiner Bemühung nicht werth sey.

Seit ich Miß Mortimers Brief las, hatte ich oftmals den Vorsatz gefaßt, sie in ihrer Einsamkeit zu besuchen. Jeden Tag wurde ich durch eine längst verabredete, oder nicht abzulehnende Einladung daran verhindert. Jetzt fühlte ich eine Leere in meinem Herzen, die mir sogar Trauer und Schmerz wünschenswerth machte. Der nächste Tag nach dem, an welchem ich meines Vaters Zeugniß über Herrn Maitlands [168] scharfen Blick in mein Herz erhalten hatte, war ein Sonntag, und ich beschloß ihn, dem strengsten Gesetze gemäß, zu einem guten Werke – einem Besuch bei Miß Mortimer zu verwenden.

Es war ein schöner sonnenheller Morgen, an dem ich mich auf den Weg machte. Die Natur hatte den ganzen Reichthum des Sommers enthüllt und besaß nur noch die Frische des Frühlings. Der Schatten der Bäume malte sich dunkel auf dem üppigen Rasen, die Fluthen der Themse trugen zahllose Fahrzeuge, die zum Theil vor Anker liegend, sich in ihrem elastischen Elemente wiegten, zum Theil vom sanften Lufthauch getrieben, ihre schneeweißen Segel, von dem blendenden Licht bestrahlt, majestätisch dahinglitten. Miß Mortimers Wohnung lag nur eine kleine Stunde von der Stadt entfernt; in meiner Kindheit hatte ich sie oft mit meiner Mutter besucht, [169] und noch bestand der Eindruck, der durch die pünctliche Ordnung in ihrem Garten, den Ueberfluß der schönsten Blumen, die sorgfältig gepflegten Geländer an ihren Fenstern sich mir damals einprägte. Die Veränderung in den Umgebungen ihres kleinen Häuschens fiel mir jetzt auf. Die Blumenbeete waren verwildert, der ehedem so sorgfältig gereinigte Weg von dem Hag zur Hausthür, bis auf einen schmalen Pfad mit Gras überwachsen, und die Rankengewächse, welche sich ehedem wohlgeordnet über der Pforte und den Fenstern gewölbt, hingen verworren herab, wie Thränenweiden von einem Grabmal. Eine ehrbare Person in reinlicher ländlicher Kleidung öffnete mir die Thür, geleitete mich die Treppe hinauf und trat, mich anzumelden, vor mir in das Zimmer.

O willkommen, tausendmal willkommen! hörte ich Miß Mortimer rufen, und ich eilte [170] dem Dienstmädchen nach. – Ach, ich rechnete wohl, sie verändert zu sehen, aber so, wie ich sie fand, hatte ich mir sie nicht gedacht. – Eine schwache Röthe flog über ihr Gesicht, um dem Ansehen einer verklärten Unkörperlichkeit Platz zu machen. – Ihr Auge, das sonst so mild schimmerte, strahlte in krankem Feuer, ihre Hand, die sie nach der meinigen ausstreckte, glühte und war so weiß und so abgezehrt, daß das Licht wie durch Alabaster sie zu durchströmen schien, indeß jede kleine Ader sich in mattem Blau auf ihr hinschlängelte. Und dennoch drückten diese verstörten Züge nur Heiterkeit und Güte aus, dennoch tönte in dieser matten Stimme der Wohlklang der Liebe. Auf meine Frage nach ihrer Gesundheit sagte sie mit wehmüthigem Lächeln: »Ich glaube, ich werde noch eine Weile der Erde zur Last seyn müssen. Die Aerzte sagen, die augenblickliche Gefahr sey vorüber«, und wie ich dafür innig Gott dankte, [171] setzte sie hinzu: »Gottes Wille geschehe! Ich hoffte eine Zeitlang dem Himmel so nahe zu seyn, vermeinte nicht auf das stürmische Meer zurück geworfen zu werden. Doch wie es Gott gefällt.« – Die Rinde der Eitelkeit und Selbstsucht meines Herzens war durch ihren Anblick, durch ihre Worte gesprengt, ich sprach von meiner Hoffnung, sie bald in meines Vaters Landgut zu Richmont ihre gänzliche Wiederherstellung abwarten zu sehen. Sie wies diese Aussicht nicht ab, sprach aber mit Entzücken von einer andern, einer überirdischen Genesung. Es ist gut, dachte ich, daß die, so keine Freude mehr in diesem Leben haben, sich an der Aussicht auf ein andres erfreuen. Damals dachte ich nicht, wie bald ich selbst erfahren sollte, daß sich uns diese Aussicht beim Verlust aller irdischen Freuden nicht so unfehlbar darbietet, daß unser Blick im Genuß dieser Freuden schon auf sie gerichtet gewesen seyn [172] muß, um nach ihrer Flucht in ihr Ersatz zu finden. Ich hatte zwei Stunden mit meiner würdigen Freundin zugebracht, in denen sie sich zu Zeiten einer liebenswürdigen Munterkeit überließ. In so einem Moment wagte ich es Herrn Maitland zu nennen; ich äußerte meine Verwunderung, daß er nach ihrem Austritt aus unserm Hause dennoch fortführe, es fleißig zu besuchen. So wie mein durch Miß Mortimers Anblick aufgeregtes Gefühl sich beruhigte, nahm meine gewöhnliche Gedankenreihe ihren Gang, und ich hoffte durch Miß Mortimer einige Aufklärung über Herrn Maitlands Gesinnungen zu erhalten. Ihr Lächeln bei meiner Frage schien von Bedeutung, aber Barbara verhinderte sie zu sprechen, indem sie sehr schöne Früchte und feinen Wein auftrug, mit dem, wie meine Freundin mir sagte, sie reichlich versehen würde von einer Hand, die sie wohl errathen könnte, die den Dank aber [173] ablehne. Ein sanftes Klopfen an der Hausthür lenkte Miß Mortimer zu meinem großen Verdruß abermals von der Beantwortung meiner Frage ab. Barbara kam ehrerbietig herein, Herrn Maitland zu melden, der schon zum dritten Mal eingesprochen hatte, ohne Zutritt zu erhalten. Ihre Gnaden sollten ihn doch nicht wieder abweisen, sagte die treue Dienerin, sich tief verneigend, der ehrenwerthe Herr hat sein Pferd schon an den Zaun gebunden und hofft sicher, vorgelassen zu werden. »Gut, weil Sie bei mir sind, meinen guten Ruf zu verbürgen, mag es drum seyn«, sagte Miß Mortimer mit sanftem Lächeln, »führ' ihn herein.« – Sie wollte zu seinem Empfang aufstehen, war aber sichtlich zu schwach, daß ich sie in meinen Armen aufrecht halten mußte. Wie Herr Maitland mich erblickte, leuchtete die freudigste Ueberraschung aus seinen Augen. »Miß Percy«! war alles, was er sagte, aber ich hätte diese [174] Worte und den Blick, mit dem er sie begleitete, nicht gegen die Schmeichelei der ganzen Welt vertauscht. In diesem Augenblick war mein gefallsüchtiger Sinn von der Nähe der einfachen Liebe und Frömmigkeit gefesselt. Miß Mortimer bot ihm von den aufgetragenen Früchten an, wobei sie einen Wink fallen ließ, der ihre Vermuthung, daß er der Geber derselben seyn möchte, andeutete. Eine flüchtige Röthe zeigte, daß er verrathen war; er nahm sie aber mit der Bemerkung an, daß sie nach einem langen Fußweg in der Sonnenhitze eine willkommene Erquickung gewährten. »Sie beharren darauf, an einem Sonntag Ihre Pferde nicht zu gebrauchen?« fragte Miß Mortimer. – »Meine Geschäfte fordern es selten, und das Vergnügen Miß Mortimer zu besuchen, ist mit einem Spaziergang um einen sehr wohlthätigen Preis erkauft«, antwortete er mit einfachem Ernst. In dieser Stimmung verflog eine Stunde, [175] ohne daß von der Welt Thun und Treiben die Rede war. Nur einmal klagte Herr Maitland, daß seine Hoffnung, das Loos der Sklaven zu mildern, vergeblich gewesen sey. »Ich fürchte aber, setzte er hinzu, ich bedurfte dieser Belehrung. Warum lassen wir Menschen uns beikommen, unserm obersten Herrn allein vorschreiben zu wollen, zu welchen Diensten er uns brauchen soll?« – O diese Lehre bedarf Niemand so sehr, wie ich! rief Miß Mortimer; wie oft fühle ich mich zum Murren versucht, bei der Aussicht, vielleicht noch Jahre lang in diesem ganz nutzlosen Zustand hinzuleben! – »Nennen Sie ihn nicht nutzlos«, sagte Maitland, und der Glanz seiner Augen wurde von einer Thräne gedämpft, »nennen Sie einen Zustand nicht nutzlos, in welchem Sie durch Muth und Milde Andern den Weg zum Himmel zeigen, indem Sie ihn gehen! Bedenken Sie, daß Gottes Güte wohl herrlich erscheint, [176] wenn er seine Menschen beglückt; aber ungleich mächtiger noch, wenn sein Geist, indem er ihnen alle Glücksgüter entzogen hat, ihren Geist freudig erhält.« – Wie konnte ich unempfindlich bleiben bei einer Ansicht der Dinge, die Maitlands starke Seele durchdrang, und die schwache Leidende, deren hinwelkende Gestalt ich umfaßte, über Leben und Welt emporhob. Ich fühlte in diesem Augenblick eine unaussprechliche Sehnsucht, ihren Seelen nachzustreben in ihrem erhabnen Flug, und im Gefühl meiner Unfähigkeit sagte ich leise unter Thränen, mein Antlitz an Miß Mortimers Schulter gelehnt: »Beten Sie für mich! beten Sie, daß, wenn ich einst krank und sterbend bin, Ihr Gott mich segnen möge, wie er nun Sie segnet!« – Ich weiß nicht, was meine Freundin mir antwortete, meine ganze Aufmerksamkeit war auf Maitlands Handlung gerichtet. Er legte seine Hand auf mein Haupt, [177] blickte auf mich, dann zum Himmel, mit einem Ausdruck, der alle große, erhabne Empfindungen vereinigend, ihm etwas wahrhaft Ueberirdisches gab – er sprach nicht, aber welche Beredtsamkeit hätte je diese Stille ersetzt? –

Was hätte denn geschehen müssen, um den Eindruck dieser heiligen Stunde in meinem Herzen fruchtbringend zu machen? Ach, so schlecht bereitet war der Boden, daß Miß Mortimer selbst das Gedeihen des zarten Keimes verdarb. Beim Abschied sagte sie mir, gewiß mit der Hoffnung meines künftigen Glücks beschäftigt, in zärtlicher Zuversicht ins Ohr: »Nun weiß ich, warum Herr Maitland so oft nach Bloomsbury square kommt«, und mit diesen Worten war mein eingeschläferter Leichtsinn erweckt! – Die einfachste Höflichkeit forderte mich auf, Herrn Maitland zur Rückkehr in die Stadt meinen Wagen anzubieten; er nahm ihn an, und wie ich mich plötzlich ihm gegenüber sitzen [178] sah, nahm ein thöriges Bild nach dem andern von meinem wankelmüthigen Sinne Besitz. Eine Zeit lang hörte ich meinem freundlichen Gefährten sogar theilnehmend zu, der nur von Miß Mortimer sprach, bald gab ich aber der Unterhaltung eine so herausfordernde Wendung, daß er, um seine Selbstbeherrschung zu behaupten, ganz natürlich dazu kam, mich als weiserer Freund wegen meines Verhältnisses zu Lord Friedrich zu warnen. Ich wies seine Vorstellung mit erkünstelter Heiterkeit zurück; mit gut gelauntem Scherz wollte er tiefer in den Gegenstand eingehen, als mich meine absichtliche und natürliche Lebhaftigkeit hinriß, ihm, meine Hand auf den Mund legend, das Sprechen zu verbieten. Maitland ergriff sie und drückte sie an seine Lippen, ließ sie dann schnell los, und nun saßen wir beide, bestürzt und verwirrt einander gegenüber. Nach einer peinlichen Stille rief Maitland, mehr im Selbstgespräch [179] als an mich gerichtet: »Sie mochte mich trotz meiner selbst dahin bringen, den Gecken zu spielen«, und dann blieb er, den Kopf auf die Hand gestützt aus dem Wagen blickend, in finsterm Stillschweigen vor mir sitzen. Meines Triumphs über Maitlands Gleichgültigkeit war ich nun gewiß, allein daß ich seinen stolzen Geist deshalb nicht unterjocht hatte, war sichtbar. Ohne einen klaren Begriff von der Würde des Mannes zu haben, ahnete ich, daß sie meinem Plane im Wege stehe, und ohne mir erklären zu können, welche Gefahr mich bedrohe, fand ich keinen Muth in mir unser Stillschweigen hinwegzuscherzen.

Sobald wir London erreicht, bat Herr Mattland um Erlaubniß, aussteigen zu dürfen und nahm kalt und kurz seinen Abschied. Die Gewißheit von Maitlands Neigung war mir nun geworden. Mit übermüthigem Stolz trachtete ich jetzt darnach, von diesem Mann, den ich [180] noch keiner Thorheit erliegen sah, das Geständniß seiner Schwäche zu hören und zwischen Hoffnung und Furcht die Qualen leiden zu sehen, wel che ich thöriger Weise für die schmeichelhafteste Huldigung meiner Reize ansah. Miß Arnold reizte meine Beharrlichkeit, meinen stoischen Liebhaber bis dahin zu treiben, durch stets rückkehrende Zweifel: ob seinem Betragen auch wirklich der Sinn, den ich ihm gab, beigelegt werden könnte? und bei der Begier, mit der ich sie überzeugen und meinen Triumph vervollständigen wollte, gelang es ihrer List, meine Einwilligung in alle ihre Vorschläge zu erhalten. Sie beharrte bei der Behauptung, daß nur die drohendste Furcht mich zu verlieren, einen Mann, der so eifersüchtig sey, sich selbst zu beherrschen, wie Herr Maitland, zu einem bestimmten Schritt mich zu gewinnen vermögen könnte. In ihm die Besorgniß zu erregen, daß ich in Gefahr stehe, Lord [181] Friedrichs Vorschlägen Gehör zu geben, schien ihr dazu am besten geschickt. Ich war selbst durch die Fehler meiner Erziehung zur Aufrichtigkeit gewöhnt worden, und so oft ich seit einiger Zeit durch Umwege zu meinen Zwecken zu gelangen suchte, hatte der Gegenstand meiner Begierde mich hingerissen, aber mein Gefühl nie gegen ihre Strafbarkeit verhärtet. Auch jetzt empörte sich dieses Gefühl gegen den Gedanken, Herrn Maitland glauben zu machen, daß Lord Friedrich meine Liebe gewonnen habe, und heftig weigerte ich mich, diesen Plan ins Werk zu stellen. Miß Julie bewies mir sogleich, daß dieses nicht ihre Absicht sey, im Gegentheil würde sie, wenn ich's ihr überließ, Herrn Maitland einen Wink zu geben, das Verhältniß so darstellen, als habe meine Unbefangenheit mich in Verlegenheiten verwickelt, bei denen ich durch edle Aufopferung meiner selbst zu büßen entschlossen sey – und, weit[182] entfernt Sie zu tadeln, schloß Miß Julie, wird er Ihre Denkart bewundern müssen. – Bewundern! Herr Maitland würde mich bewundern müssen! An diesem Gedanken scheiterte der letzte Rest meiner Gewissenhaftigkeit. Doch gestand ich mit Angst zu, daß meine dienstfertige Freundin Herrn Maitland bei seinem nächsten Besuch empfangen und ihre Hinterlist ins Werk setzen sollte.

Herr Maitland ließ mir Zeit, bessere Entschlüsse zu fassen; es verliefen acht Tage, ohne daß er in unserm Hause erschien. Allein Miß Arnold sorgte dafür, daß meine Begierde, diesen stolzen Mann das Bekenntniß seiner Schwäche ablegen zu sehen, nicht erkaltete, und indem sie meinen Sieg ausmalte, schwebten leichte, undeutliche Gestalten einer edlern Art im Hintergrund meiner Fantasie, Gestalten, denen sie, nur an Eitelkeit gewöhnt, keine bestimmte Umrisse zu geben vermochte, ich darf aber hoffen, [183] sie deuteten auf die Sehnsucht, in der Neigung, die ich, sobald ich ihr Geständniß empfangen, zu verhöhnen gesonnen war, eine Zuflucht gegen mich selbst zu finden.

Nachdem dieser Gegenstand täglich unser Gespräch beschäftigt hatte, überraschte uns endlich Herrn Maitlands Besuch, wie wir uns abermals über diesen Gegenstand unterhielten. Miß Arnold sah ihn an der Anfahrt absteigen und bewog mich durch die dringendsten Gründe, ihr seinen Empfang zu überlassen. Mit einer Vorempfindung unendlichen Wehs erwartete ich den Ausgang dieses Gesprächs, mehr wie einmal stellte mir meine Eitelkeit unsern Plan als gelungen, Maitland als gefesselten Sklaven zu meinen Füßen vor, aber schnell wich dieses thörige Gaukelspiel, und eine gestaltlose Furcht ließ mich auf die undeutlichen Töne ängstlich horchen, die von dem Besuchzimmer heraufschallten. Jetzt hörte ich die Thür öffnen und [184] sah Herrn Maitland mit raschen Schritten, ohne einen Blick zurückzuwerfen, über die Anfahrt gehen und zwischen den Hecken verschwinden. Was haben Sie bewirkt? rief ich, athemlos in das Besuchzimmer tretend, wo die Unterredung Statt gefunden hatte. – Miß Arnold fuhr bei meinem Eintritt auf, sie schien in unangenehm zerstreuter Stimmung, doch faßte sie sich sogleich und begann einen weitläuftigen Bericht über ihre Unterhaltung mit Herrn Maitland, aus dem sichtlich hervorging, wie widerwillig er sich mit ihr, gegen die er seine Abneigung nie verhehlt hatte, in ein Gespräch über mich eingelassen hatte, wie heftig er anfangs durch ihre Aeußerung, daß ich meine Freiheit für verwirkt halte, erschüttert gewesen sey, aber bald mit Stolz behauptet habe, wie er eine solche Nachricht von meinen eignen Lippen erwarte und dann meinen Entschluß gut heißen müßte. »Gereizt durch seinen Unglauben, durch [185] seine stolze Zuversicht«, fuhr Miß Arnold fort, »ergriff ich nun das letzte Mittel ihn zu überzeugen: ich entdeckte ihm« – – Was? um Gottes willen, was? rief ich ungeduldig und ängstlich, da ich Miß Julie erröthen und stottern sah. – »Nun ich entdeckte ihm, daß ein kleines Darlehn, welches Sie Lord Friedrich abzutragen hätten, Sie in die Nothwendigkeit setzte, seine Anträge zu begünstigen.« – Ich hörte den Schluß ihrer Rede nicht mehr an. In der schrecklichsten Empörung meiner Gefühle warf ich meiner unvorsichtigen Freundin ein Geständniß vor, das mir nothwendig Maitlands Achtung entreißen mußte. Julie erschrack über meinen heftigen Schmerz, sie entschuldigte sich mit Thränen, im Eifer, mir zu dienen, dieses unselige Geständniß abgelegt zu haben, – »und dennoch bedurfte es dessen um auf seinen Starrsinn zu wirken, sagte sie weiter; hätten Sie ihn gesehen wie er bleich, zitternd, um[186] Athem kämpfend im Zimmer umherschritt, Sie würden eingestanden haben, daß er nur also zu überwältigen sey.« – Ich kannte diesen festen Mann zu gut, um diese Darstellung nicht für übertrieben zu halten, allein daß er peinlich leiden mußte bei dieser Entdeckung meiner Thorheit, dessen war ich gewiß. Und was sagte er? fragte ich endlich vor Angst. – Er wollte sogleich zu Ihnen, wollte Sie sprechen ... Nun? warum ging er denn fort? – Ich mußte diese Frage mehrmals wiederholen, ehe Miß Arnold sie verstand. »Er besann sich, wollte sich erst fassen, und wird in einer Stunde zurückkehren« war endlich ihre Antwort.

Ehe diese Stunde verflossen war, hatte sich mein Unwille über Miß Julie zum Theil durch ihre Liebkosungen, zum Theil von einer neuen mich beschäftigenden Furcht, gelegt. Ich besorgte, Herr Maitland möchte es für Pflicht [187] der Freundschaft halten, meinen Vater mit meiner Schuld an Lord Friedrich bekannt zu machen, ich wünschte ängstlich, dieses zu verhindern; aber Maitland um Verschwiegenheit zu bitten, verbot mir mein Stolz. Wie er zu mir eintrat, war meine Verlegenheit nicht geringer wie die seine, obwohl ein unbefangener Beobachter in mir den Kampf ohnmächtigen Stolzes, in ihm den Streit des tiefsten Schmerzes mit dem festen Sinn des Rechtschaffnen gelesen haben würde.

Bei seinen ersten Worten waren seine Empfindungen noch zu stürmisch, um ihnen gewohnte Deutlichkeit zu geben, doch, in Selbstbeherrschung geübt, ging er nach wenigen Momenten mit Zartheit und Güte in die Erörterung des Gegenstandes ein, der ihn zu mir geführt hatte. Da er meine Abneigung, mich meinem Vater zu entdecken, vernahm, bat er mich auf das ehrerbietigste, mir die Summe, [188] welche ich Lord Friedrich schuldig war, vorstrecken zu dürfen. Auf meine bestimmte Weigerung schlug er Miß Mortimer als Mittelsperson vor; aber auch dieses lehnte ich ab, und durch die innige Rührung in seinem Ausdruck meines Sieges über sein Herz, durch die Ehrerbietung seines Betragens meiner Herrschaft über seinen Willen immer sichrer, gewann mein Leichtsinn immer mehr die Oberhand über die mich bisher folternden peinlichen Gefühle, und mit rücksichtslosen Kunstgriffen war ich bemüht, das Gespräch auf den Punct zu bringen, wo Herr Maitland einer Erklärung nicht würde entgehen können. Der nächste Gegenstand unserer Unterredung machte mir das leicht. Sie betraf Lord Friedrichs Bewerbung; ich äußerte mit empörendem Leichtsinn, daß jede Wahl gleichgültig sey, da bei der meinen die Liebe noch immer ausgeschlossen seyn würde. – Er hoffe, das solle nicht der Fall seyn, bemerkte [189] Herr Maitland mit erzwungener Fassung. – »Er wird es, fuhr ich Leichtsinn nachäffend fort, denn wem kann meine Hand endlich zufallen? Von den Männern die sich um mich drängen, will der eine Theil ein Spielwerk, an das er sein Geld hänge, der andre Theil, mein Geld, um es an seine Spielwerke zu hängen. Wie wäre der eine und der andere im Stand, mein Herz zu schätzen? Ja, hätte ich einen Mann gefunden, fähig der Freund meiner Jugend zu seyn, das wenige Gute in mir zu entwickeln, meine Fehler zu ertragen und zu bessern, einen Mann den ich geliebt hätte, weil er meine Achtung gewonnen, so würde ich ihm vielleicht meine lebhafte, herzliche Freundschaft geschenkt haben.« Diese ganze Rede war eine eingelernte Rolle, allein in ihr lag der Kern meines bessern Sinnes, und gegen das Ende zu nahm die wahrste Rührung in meiner Seele Platz. Maitland saß mir gegenüber, den Arm [190] auf ein zwischen uns stehendes Tischchen gelehnt; während ich sprach, hatte ich nicht den Muth ihn anzusehen, jetzt nahm ich aber wahr, daß der starke Mann zusammenzuckte, und der leichte Tisch von dem Zittern seines Arms bebte. Plötzlich fiel mir die Schilderung ein, die mir Miß Arnold von seinem Zustand, bei ihrer Entdeckung meiner Schuld an Lord Friedrich, gemacht; ich sah mich meines Siegs über Maitlands Herz gewiß, meine guten Regungen verflogen, und ich blickte auf, um seine Fassung zu erspähen.

Sein Auge schien mit seinen scharfen Blicken bis ins Innerste meiner Seele zu forschen; seine Wangen glühten, doch nur einen Moment. – Todtenblässe verdrängte dieses Roth, er faßte zitternd meine Hand, kämpfte einen Augenblick nach der Kraft zu sprechen und sagte endlich, meine Hand gleichsam von sich werfend, im Ton des ernstesten Vorwurfs: »Ellen, wie [191] können Sie, da Sie Ihre Gewalt über mich wahrnehmen, wie können Sie! ... Andere möchten meine Schwäche verachten, ich selbst verachte sie – aber Ihnen, Ihnen hätte sie heilig seyn sollen.«

Wie soll ich mir selbst den Vorgang in meinem Innern erklären? Nun hatte ich also meinen Zweck erreicht, ich hatte Maitland das Geständniß seiner Niederlage entrissen; allein weit entfernt mich meines Sieges zu erfreuen, fühlte ich mich durch den Vorwurf, den seine Worte enthielten, aufs tiefste verwundet. Sein Mißfallen übte die Kraft des bösen Gewissens über mich, und ich war so erschüttert, daß ich, unfähig meine Fassung zu finden, mein Haupt nicht aufzuheben vermochte. Herr Maitland stand einige Augenblicke gedankenvoll und schweigend; dann sagte er mit halb erstickter Stimme: »Nein, nicht jetzt ... schenken Sie mir morgen einige Momente; es werden die letzten seyn.« [192] Und ehe es mir möglich war, ein Wort über die Lippen zu bringen, hatte er sich entfernt.

Wie eine Verbrecherin, schlich ich in mein Zimmer, wo Selbstvorwürfe, Zorn gegen Miß Arnold und eine unklare Furcht vor den Folgen von Herrn Maitlands Unwillen mich peinlich beschäftigten. Mein Triumph über den Sieg meiner Reize gewann nur nach und nach Raum in meinen Betrachtungen, ja ich mußte das Andenken an alle meine Bemühungen, diesen Sieg zu erreichen, zurückrufen, um den Entschluß, mich nie vor einem stolzen Liebhaber zu demüthigen, zu erneuern. »Mag er seine Fesseln brechen, wenn er kann«, rief ich endlich mit neu erwachtem Uebermuth – denn noch war mein Leichtsinn nicht fähig, den Verlust Herrn Maitlands als Freund zu ermessen, er hatte ihn nur als Sklav zu sehen gestrebt.

Herr Maitland ließ sich am folgenden Morgen nicht erwarten, aber seine Fassung war [193] von der des vorigen Abends gänzlich verschieden. Sie drückte Ruhe, Selbstherrschaft, Würde aus. Er begann ohne Verlegenheit, sich für schuldig zu erkennen, indem er sich ein paar Mal von seinem Gefühl hätte hinreißen lassen, und glaubte mir Erklärung darüber geben zu müssen. Gekränkt durch seine Selbstbeherrschung, gab ich ihm einige leichtsinnige Antworten und nahm dann, wie er auf seinem Ernst beharrte, mit nachlässigem Wesen meine Näharbeit in die Hand, als suche ich durch sie das mangelnde Interesse seiner Unterhaltung zu ersetzen. »Flößt es Ihnen gar keine Neugier ein, Ellen«, nahm Herr Maitland das Wort, »zu erfahren, wie Sie ein Herz, das Sie mit treuer Neigung zu umfassen wohl geschickt gewesen wäre, gewonnen, und wie Sie es verloren haben? Ist es auch nicht um meinetwillen, so könnte es Ihnen doch vielleicht einst nützen, wenn von einem Mann, für den auch Sie empfinden, [194] die Rede ist.« – »Ich hoffe, so schlimm wird mir es ja nicht gehen, die Liebeslaune irgend eines Mannes je zu beklagen.« – »Hier war von keiner Liebeslaune die Rede«, nahm Herr Maitland von neuem mit Ernst das Wort. »Sie waren meine erste Liebe, und Ihre Wohlfahrt wird mir zärtlichen, innigen Antheil einflößen, noch lange nachdem meine gegenwärtigen schmerzlichen Empfindungen erloschen sind. Allein ich muß fliehen, ehe ich die Kraft verliere, dem zu entsagen, dessen Besitz mich unendlich elend gemacht hätte.« – »Sicher, mein Herr, dieses Elend würde ich Ihnen ersparen«, sagte ich mit schwellendem Stolz, denn auf diese Sprache hatte ich von Seiten eines Liebhabers nicht gerechnet. – »Ellen, das ist kindisch. Zürnen Sie, weil ich Ihnen die Langeweile vergeblicher Bewerbung erspare? Wenn ich Sie mit Schmerz verlassen sollte, müßten Sie die Vorzüge wieder besitzen, die mich zuerst [195] an Ihnen bezauberten; denn nicht Ihre Schönheit gewann Ihnen mein Herz. Ich hatte Sie oft gesehen und war kalt geblieben. Es war Ihre kindliche Einfalt, Ihre gänzliche Absichtslosigkeit, Ihr völlig durchsichtiges Gemüth, wie ich es nennen muß, um die Leichtigkeit auszudrücken, mit der ich Ihre Empfindungen errieth, die mich gewannen. Wenn ich ermattet von Arbeit war, krank von der Herzlosigkeit der Menschen, so kam ich zu Ihnen und dachte ... Nun ists ja Eins, was.« – Herr Maitland hielt inne; mein beßres Gefühl siegte, ich begriff, daß ich seine Achtung verloren hatte, und Thränen füllten mein Auge. Allein die Furcht, er möchte meinen, daß ich den Verlust seiner stoischen Liebe bedaure, zwangen sie in mein stolzes Herz zurück. Er fuhr fort: »Ich nahm aber bald wahr, daß unsre Wünsche, unsre Bestrebungen nicht übereinstimmten, daß sie das häusliche Glück stören [196] müßten. Nach dem dreißigsten Jahr sieht ein Mann wohl ein, daß nach dem Entzücken des Liebhabers der Gatte eine lange Reihe von Jahren vor sich hat, wo er entweder seine Sorgen und Freuden mit seinem Weibe theilen, oder die Unterwerfung der Abhängigkeit von ihr fordern muß. Das Letztere könnte ich nie. – Ihre Wünsche hätten mich jeden Augenblick verletzt, und – seine Stimmung ward immer feierlicher – wie könnte der, welcher einen Freund sucht, den erwählen, der seine Beschäftigung für lästig hält, seine Freuden für Hirngespinnste, seine Hoffnungen für einen Traum? – Nein, Ellen, die Gattin eines Christen muß mehr seyn, als das Spielwerk seiner müßigen Stunden, sie muß sein Mitgenoß seyn bei der Arbeit, beim Gebet.« – Mein Stolz empörte sich immer mehr. »Genug, mein Herr«, sagte ich, »ich bin hinlänglich von meiner Unfähigkeit, eine Würde, nach der ich nie Verlangen trug, [197] zu bekleiden, überzeugt.« – »Das glaube ich Ihnen, Miß Percy, und das söhnt mich mit meinem Opfer aus. Vermindern Sie es also nicht durch diese Verachtung! Es bedarf ihrer nicht, um mich zu überzeugen, daß Sie nicht ohne eifrige Bewerbung gewonnen werden können – ich versuchte diese, versuchte sie, bis mich meine Schwäche überraschte – und nun ist es gerade noch Zeit, zu entfliehen; deshalb reise ich in vierzehn Tagen nach Westindien ab.« –

Mir war es, als versänke die Erde unter meinen Füßen. – Daß Herr Maitland unsern Familienkreis meiden würde, darauf war ich gefaßt; aber Westindien! – »Nach Westindien?« wiederholte ich kaum hörbar. – »Ja. Ich habe dort Geschäfte. Doch schon zu lange sprach ich von mir selbst. Da der Fall eintritt, wo es recht ist, daß die rechte Hand die linke abhaue, so ists besser, der Streich sey geschehen. Nur, noch eine Bitte liegt mir am Herzen ...« Er zögerte; [198] ich hatte nicht die Kraft, zu fragen, was ich zu vernehmen so begierig war. Maitland faßte meine Hand. »Ellen«, sagte er mit Innigkeit, »ewig theure Ellen, mancher trübe Gedanke wird, wenn wir weit getrennt sind, Sie belasten; ich bitte, vertrauen Sie diese Miß Mortimer und übergeben ihr dann dieses Päckchen!« – Ich begriff, daß es die Mittel enthielt, die Schuld an Lord Friedrich zu tilgen, ich lehnte das Anerbieten ab, versicherte, daß diese Schuld keine Eile habe, daß sie kein Geheimniß sey, daß ich sie wegen eines Spielwerks eingegangen wäre ... doch, meine heftige Bewegung wahrnehmend, beherrschte ich mich schnell und bat ihn mit neu erwachendem Stolz, Miß Mortimer bei ihrer Kränklichkeit nicht mit dieser Kleinigkeit zu belästigen. Er suchte mich zu widerlegen; da er aber meine Beharrlichkeit bemerkte, rief er: »So ists Zeit, zu enden. Leben Sie wohl, Ellen! Aller Segen ...«[199] Hier versagte ihm seine Stimme; er warf einen Blick auf mich. – O nie, nie verschwand dieser Blick vor meinem Gedächtniß, und über den Schmerz, der um seinen Mund zuckte, glitt ein Lächeln, wie ein Sonnenblick über die sturmgeschlagne Flur. Ich wendete mich ab, und er verschwand.

Ich erlebte, wie alle Welt mich verließ, ich wanderte heimlos in fremden Straßen, ich sah mich mit den Unseligsten des Menschengeschlechts in dem Ort des Grausens eingesperrt, aber den Schmerz fühlte ich niemals wieder, der mich ergriff, da ich wieder in das Zimmer hinblickte und Maitland nicht mehr fand. Miß Mortimers Worte tönten in mein Ohr: »Die Guten und Weisen werden Sie verlassen.« – O sie haben mich verlassen, und ich bin freundlos, allein! rief ich zur Erde sinkend und verbarg mein Haupt auf dem Platz, auf dem Maitland gesessen hatte.

[200] Nach diesen Aeußerungen wird man nun glauben, daß mein Herz wirklich einen tiefen Eindruck empfangen hätte. – Das war aber keineswegs der Fall. Herr Maitland hatte meine Eitelkeit gereizt, er hatte meine Neugier erregt, sein Gespräch hatte mich angezogen, ich fand in der Unterhaltung mit ihm den Genuß, geistige Fähigkeiten in mir zu entdecken, die in dem flachen Geschwätz meiner andern Bekannten nicht angeregt wurden, ich besaß eine Art kindlichen Vertrauens in seine Güte, sein Charakter flößte mir eine tiefe Achtung ein – was mich bei seiner Abreise so heftig schmerzte, war die Gewißheit, seine Achtung verloren zu haben, von ihm durchschaut worden zu seyn, es war die Bekümmerniß, des Rückhalts seiner Güte, der Ueberzeugung von seinem Schutz, die unklar aber fest in meiner Seele ruhte, beraubt zu seyn. Leider blieb dieser Eindruck so wenig wirksam, daß ich schon nach einigen Stunden [201] mit gewohntem Leichtsinn mit Lord Friedrich liebäugelte, und nach wenigen Tagen, während der ich das Andenken an Maitlands Abschied als etwas Schmerzliches vermieden hatte, seiner kaum mehr gedachte.

Der Befehl meines Vaters rücksichtlich der Besuche des Lords in seinem Hause, war keineswegs befolgt worden; er stellte sich täglich daselbst ein, ich begegnete ihm in dem größten Theil meiner Gesellschaften, am häufigsten traf ich ihn bei Lady St. Edmond, deren Umgang ich, weil er mir mehr, als jeder andre schmeichelte, noch immer am häufigsten aufsuchte. Meine angenehmsten Stunden brachte ich bei ihr in einem kleinen Zimmerchen zu, in welchem Kunst, Luxus und Geschmack erschöpft waren, um den eigensinnigsten Forderungen eine Genüge zu leisten. Die mildesten und frohesten Farben verschmolzen sich an den Wand- und Fensterbekleidungen, einige üppige Landschaften, [202] von Meisterhand gemalt, die schönsten Vasen, die zierlichsten Divans machten diesen kleinen Raum zu einem Feenaufenthalt, den Abends Alabasterlampen mit Mondlicht erhellten, zu dem aber ein großes Fenster das Tageslicht nur durch die Verzweigung der schönsten, duftenden Blüthenpflanzen zuließ. Ein herrliches Pianoforte, eine eben so vortreffliche Harfe, eine kleine Sammlung Dichter vollendeten den Aufputz dieses Cabinets. Nie ward es von einem Bedienten betreten; der wenige Dienst, den man darin verlangte, ward von einer leichtfüßigen, rosenwangigen Zofe besorgt. Hier war Lord Friedrich meistens der Dritte in unserer Gesellschaft, Lady St. Edmond behandelte mich wie eine vertraute Freundin, ich empfand nicht die mindeste Scheu gegen sie, und so blieb es seiner Klugheit überlassen, diese unbedachten Zusammenkünfte zu benutzen. Ohne daß er meinem Herzen lieber geworden wäre, als im Anfang[203] unserer Bekanntschaft, wußte er sich durch die Sprache der verliebten Schmeichelei meiner Aufmerksamkeit je mehr und mehr zu bemächtigen; ich hatte mich an das eitle Spiel kleiner Gefallkünste, Zwiste, Nachgeben, Gebieten, Beherrschen gewöhnt, und wenn ich hier und da durch irgend einen Zug in Lord Friedrichs Betragen gewarnt, aufmerksam wurde, beruhigte ich mich selbst mit der Ueberzeugung, daß zwischen mir und einem Mann, dessen Bewerbung mein Vater unbedingt abgewiesen, nicht die Rede von einem nähern Verhältnisse seyn könnte. Eines Morgens, den ich, wie so oft geschah, bei Lady St. Edmond in obenerwähntem Cabinette in Gesellschaft Lord Friedrichs zubrachte, ward sie eines Geschäftes wegen abgerufen, und der Lord benutzte unser Alleinseyn, um mit unerwartetem Ernst mir seine Leidenschaft zu erklären. Ich suchte, wie schon früher bei weniger dringendem Geschwätz dieser Art, durch witzige Einfälle abzuwehren; [204] allein er veränderte seinen Angriff und stellte mir sehr ernstlich das Recht vor, welches mein Betragen ihm gegeben hätte, Hoffnungen zu hegen. Dieser Vorwurf erschreckte mich auf eine sonderbare Weise, er gab mir augenblicklich ein Bewußtseyn meiner Schuld, aber zugleich eine entschiedne Abneigung gegen den Mann, der Rechte an mich geltend machen wollte. In der größten Angst, aber mit eben so großer Wahrhaftigkeit gestand ich ihm, daß, seit mein Vater sich bestimmt gegen seine Bewerbung erklärt, ich ihn von allen Männern für den gehalten hätte, mit dem es am gleichgültigsten wäre, sich zu unterhalten, und, in ihm eine ähnliche Ansicht voraussetzend, wäre mir es nie eingefallen, in seinen Reden einen ernsthaften Sinn zu suchen. Mit Heftigkeit klagte er mich jetzt an, ihm in den Augen der Welt Hoffnungen gegeben zu haben, die nun seine Ehre in Gefahr brächten, in unsern nähern [205] Verhältnissen Vorschläge nicht unwiederruflich verworfen zu haben, die nur die Liebe genehmigt. – Diese Vorwürfe riefen mir jenen unseligen Maskenball zurück, wo der Leichtsinn meines Betragens den Lord damals zu dem Vorschlag einer Entführung nach Schottland veranlassen konnte; zugleich hatte mir aber Herrn Maitlands Charakter die Gewohnheit erhalten, dem Wort »Ehre«, in dem Munde eines Mannes einen höhern Werth beizulegen, als der Gebrauch der Modewelt ihm ertheilt. Ich schauderte vor dem Gedanken, Lord Friedrichs Ehre durch meine gefallsüchtige Laune Anfällen ausgesetzt zu haben, und fand deshalb nicht den Muth in mir, seine flehenden Bitten, ihm noch jetzt nach Schottland zu folgen, so wie ich hätte thun sollen, abzuschlagen. Ich ließ mich auf Gründe meiner Weigerung ein: meines Vaters bestimmte Abneigung gegen eine Verbindung mit dem Lord war der erste, und [206] wenn meine Denkart klar und mein Sinn edel gewesen wäre, hätten die abgedroschnen und herzlosen Gründe, mit denen er das väterliche Ansehen zu schwächen suchte, mir den Unwerth des Mannes und die Gefahr, mich ihm anzuvertrauen, ins hellste Licht stellen müssen. Aber er bewies mir, daß meine persönlichen Vorzüge allein mich emancipirten, daß meines Vaters Weigerung meine Rechte schmälerten, daß allgemeine Regeln einen höhern Geist nicht bänden, und mein Vater nach dem ersten Aufbrausen seines Unwillens einer Verbindung, die in jeder Rücksicht angemessen sey, seinen Beifall nicht versagen würde. – Diese Schmeichelreden beschwichtigten meine Unruhe, aber dennoch empfand ich eine große Erleichterung, als Lady St. Edmonds Rückkehr dem Gespräch ein Ende machte.

Ohne eine entschiedene Neigung für den Mann, dem ich die tägliche Gelegenheit, meine [207] Schwäche zu benutzen, zugestanden hatte, ohne einen klaren moralischen Sinn, welcher mir einen deutlichen Begriff von den Bedingungen zu meinem wahren Glück geben konnte, theilte ich Miß Arnold meine Verlegenheit mit und bat Lady Edmond um Rath. Die Erstere schien blos Theilnahme, Mitgefühl zu zeigen, und bewies mir doch, daß, bei dem nachtheiligen Eindruck, den Lady Maria's Darstellung meiner Thorheit am Ballabend gegen mich erregt, eine Heirath mit Lord Friedrich der sicherste und für mich der schmeichelhafteste Weg sey, meine Unruhe zu beendigen. Lady St. Edmond fand Mittel, mir in einer Wolke von Weihrauch über meine Vorzüge, meine Empfindungsart, meinen Geist zu beweisen, daß ich mich in den Fall gesetzt hätte, wo nur meine Heirath mit Lord Friedrich mein Betragen zu rechtfertigen im Stande sey.

Während es mir so von allen Seiten an [208] einer weisen Einwirkung gebrach, da mein thöricht eitles Herz sich vor der einzig rettenden, der meiner verehrten Miß Mortimer, fürchtete, weil es sich bewußt war, dort keine Schmeicheleien, keinen in Lob gehüllten Tadel, sondern strenge Mahnung an die Pflicht zu hören, versäumte Lord Friedrich nicht, bei jeder Gelegenheit die Sprache der Leidenschaft gegen mich zu führen. Eines Tags fand ihn mein Vater zu meinen Füßen, in einer feurigen Rede begriffen. Im Gefühl seines verletzten Hausrechts, da er sich seine Besuche verbeten, mit der Erbitterung, die ihm Einer aus der verhaßten Kaste erregen mußte, der in dem zarten Punct der väterlichen Gewalt seinen Absichten zu widerstreben suchte, verabschiedete er ihn mit mehr Bestimmtheit, wie gutem Ton. Der Auftritt war empörend für mich, weil mein Vater, indeß vier starke Lakaien an der Saalthür standen, sein Hausrecht gegen den einzelnen Mann übertrieb; [209] er war höchst erschütternd, weil ich den ernsten Mann noch nie so von Zorn übermannt gesehen hatte. Wie Lord Friedrich das Zimmer verließ, stieß mein Vater die Thür mit einem gewaltigen Fußtritt zu, nahte sich mir heftig, faßte gewaltsam meine Hand und rief: »Hattet Ihr vergessen, Ellen Percy, daß diesem Glücksjäger mein Haus verschlossen seyn sollte? Fortan geschehe das nicht wieder! Ich kann Euch dreimalhunderttausend Pfund hinterlassen und arbeite an einem Project, die Summe zu verdoppeln; aber Euer ältester Sohn soll John Percy heißen, und eben so seines Sohnes Sohn, und Ihr sollt keinen unverschämten aristokratischen Bettler heirathen, der sich unterstehen möchte, den Mann, dem er sein Daseyn zu verdanken hätte, über die Schultern anzusehen. Gott verdamme mich, wenn ich das je zugebe! Versteht Ihr mich, Ellen Percy?« – Bei diesen Worten schüttelte er meine Hand und schleuderte [210] sie so gewaltsam von sich, daß ich wankend mich an einem Stuhl halten mußte, indeß er zornglühend das Zimmer verließ.

In der Jugendzeit, wo Mangel an erduldeten Leiden uns Muth gibt, und die Einfachheit unsrer Verhältnisse unsre Urtheilskraft noch gar nicht geprüft hat, kann ein besser geordnetes Gemüth, wie das meine, durch Heftigkeit zum Widerstand gereizt werden. Mir erschien meines Vaters Betragen so despotisch, daß es mich aufforderte, alle Rechte der Natur für mich geltend zu machen. Ungewohnt, mein Betragen tadeln, noch weniger, meiner Neigung Verbote auflegen zu sehen, suchte ich zu meines Vaters Widerwillen gegen eine Heirath mit Lord Friedrich nun eine besondre Ursache und fand sie durch die Bedingung erklärt, unter welcher er meine Hand zu vergeben gedachte. Einem Mann ohne Namen wollte er mich geben, einem untergeordneten, nüchternen, anspruchbaren [211] Geschöpf, dem sein Geld erst zu einem Daseyn verhelfen sollte – und in dem Maße, wie ich mir sein Bild ausmalte, befestigte sich der Entschluß, gegen diese Gefahr mich zu schützen. Bis dahin hatte ich die Weise, wie ich dieses thun wollte, nicht beschlossen, ja nicht überlegt; ein nichtsbedeutender Zufall mußte sie bestimmen.

Während der Mahlzeit erwähnte Miß Arnold eines glänzenden Frühstücks, zu dem uns Lady B. auf den folgenden Morgen eingeladen habe. Mein Vater erklärte, daß ich weder bei diesem Frühstück, noch in irgend einer andern Gesellschaft erscheinen solle, bevor ich ihm nicht feierlich angelobt, mit Lord Friedrich keine Art von Verkehr mehr fortzusetzen. »So muß ich zu Hause bleiben«, sagte ich mit trotziger Entschlossenheit, »denn nach dem Frühstück ist ein Ball, und ich habe mit Lord Friedrich zu tanzen versprochen.« – »Nun so genießen Sie Ihr Frühstück zu Haus, Miß Percy; ich hoffe, [212] es soll so gut wie Lady B. ihres seyn.« – Mein Verdruß bei diesem Ausspruch meines Vaters war nicht gering; denn ein gestickter Morgenanzug, um den Lady Maria in Handel gestanden, und den ich durch einen übermäßigen Preis ihr entzogen hatte, sollte heute ihren Neid erregen. Aber mein Widerwille, meinen Vater durch eine Bitte zu besänftigen, war viel größer, wie dieser Verdruß. Miß Arnold half dem Einen und dem Andern ab. Ihr Einfluß bei meinem Vater hatte seit Miß Mortimers Entfernung so zugenommen, daß es ihr auch bei dieser Gelegenheit nicht schwer fiel, seine Erlaubniß rücksichtlich des Frühstücks zu erhalten; allein ein bestimmter Befehl, fortan jedem Verkehr mit Lord Friedrich unbedingt zu entsagen, verhinderte mich, Freude darüber zu empfinden.

Den folgenden Morgen beim Familienfrühstück – denn meine Einladung bei Lady B. [213] verhinderte diese Familienmahlzeit nicht – erhielt mein Vater einen Brief, den er mit sichtlicher Bestürzung las und, seine Theetasse unberührt hinstellend, augenblicklich das Zimmer und gleich darauf das Haus verließ. Sein Benehmen ängstigte mich, auch Miß Arnold schien es mit Unruhe zu bemerken, allein die Stunde des Ankleidens war da, und so überließ ich mich, ohne des Vorgangs wieder zu gedenken, dem Wirbel des Tags. Das Frühstücksfest verlief wie alle solche Feste: mit der Larve der Freude, mit leeren Köpfen, mit Herzen, die oft von Neid und Bitterkeit erfüllt, also schlimmer, wie leer sind. Es war seit jenem Abend des Maskenballs das erste Mal, daß ich Lady Maria begegnete; der Anblick meines, ihrer Eitelkeit entzogenen Kleides konnte nicht dazu beitragen, ihr das Andenken jenes Abends in einem mildern Lichte erscheinen zu lassen, und so war ihr jede Gelegenheit mich zu[214] demüthigen willkommen. Sie fand sie bei Veranlassung eines Tanzes, in welchem sie mich von meinem Platze verdrängte. Lord Friedrich, der mein Partner war, suchte die Sache beizulegen, allein die Umstehenden waren wenig geneigt, ihm behülflich zu seyn, so daß ich tief gekränkt den Reigen verließ. Lord Friedrich führte mich auf meinen Platz zurück, er nahm den Augenblick wahr, mir den Vortheil zu zeigen, den ein einziges Wort mir über Lady Maria geben könnte; und was seine leidenschaftlichen Bitten nicht vermocht hatten, bewirkte der gekränkte Stolz – ich willigte ein, mit Lord Friedrich nach Schottland zu fliehen.

Um allen Verdacht zu vermeiden, ward verabredet, daß wir Lady St. Edmond ins Vertrauen ziehen wollten; sie solle mich am folgenden Morgen in ihrem Wagen bis Barnet führen, wo mich mein künftiger Ehemann in Empfang nehmen würde; Miß Arnold gedachte [215] ich den Plan zu verschweigen, denn sie hatte mich vor wenigen Tagen mit weisem Kopfschütteln gebeten: im Fall ich je in eine Entführung willigte, möchte ich sie mit dem Geheimniß verschonen, da sie es für ihre Pflicht halten könnte, meinen Vater davon zu unterrichten. Von dem Augenblick an, wo ich das unselige Versprechen gegeben hatte, schien mir die Gesellschaft um mich her, der Saal, die Musik wie in einem undeutlichen Nebel zu schwimmen. Mein Gemüth war so erschüttert, daß ich mir wie aus mir selbst herausgetreten vorkam; Lord Friedrichs anscheinendes Entzücken hatte keinen Sinn für mich, ich sah die Dinge sich um mich drehen, ohne ihre Absicht und Bedeutung fassen zu können, so wie im Sonnenschein die Mücken vor unsern Augen schweben, ohne daß wir ihre Gestalten zu unterscheiden vermögen. Vergeblich warf ich mich in das Geräusch der Gesellschaft, suchte Gespräch, versammelte [216] die Männer durch mein Geschwätz, entfernte die Weiber durch Jener Beifall – das gegebne Versprechen stand zwischen mir und der Außenwelt, es trieb mich nach Hause, und vor dem Gedanken schaudernd, daß mir dann erst jenes Schreckbild recht nahe treten würde, war ich doch die Letzte unter denen, die in später Nacht die leer gewordenen Säle verließen.

Nach einer schlaflosen, der peinlichsten Unentschlossenheit dahingegebenen Nacht fand ich erst gegen Morgen einige Augenblicke unruhigen Schlummers; dennoch stand ich sehr früh auf, machte die nöthigsten Vorbereitungen zu meiner vorhabenden Reise und versuchte ein paar Zeilen an meinen Vater zu schreiben. Sie sollten ihn meiner kindlichen Liebe versichern, ohne mein Vorhaben zu verrathen. Aber wie unfähig war ich zu diesem Geschäft! Zehnmal setzte ich einige Zeilen zusammen, die mir nicht genügten, zerriß das Geschriebne und beschloß [217] endlich, diese Absicht erst dann, wenn mein Vorhaben ausgeführt sey, zu erfüllen. Sobald die Frühstücksstunde geschlagen hatte, begab ich mich aus meinem Zimmer, eifrig die letzte Gelegenheit, meinen Vater zu sehen, ergreifend und zitternd, ihm mit diesem Bewußtseyn unter die Augen treten zu sollen. An der Thür des Frühstückszimmers verließ mich fast der Muth; ich horchte auf seine Stimme, und wie alles stille war, fürchtete ich mich vor seinem Schweigen, seinem mir begegnenden Blick. Die Aufmerksamkeit eines Bedienten, den mein Zögern zu befremden schien, bestimmte mich endlich, die Thüre zu öffnen; schüchtern blickte ich nach meines Vaters gewöhnlichem Sitz – er war leer. Eine Last fiel mir vom Herzen. »Wo ist mein Vater?« fragte ich den Diener. – »Er ging aus und hat hinterlassen, daß er nicht zum Frühstück zurückkehren werde«, war die Antwort. Das war mir eine ungewohnte [218] Erscheinung! – Das Frühstück war die Vereinigungsstunde der Familie, die meinen Vater immer herbeigezogen hatte; sollte er sie heute versäumen, so mußte ich ohne einen Blick des Segens hinwegscheiden, heute besonders, nachdem ich bei unserm letzten Zusammenseyn seinen Unwillen erregt hatte. Das konnte ich nicht ertragen, und der Vorsatz, mein Vorhaben aufzugeben, keimte in meinem Herzen. Ehe er aber zu einem festen Entschluß gereift war, hielt Lady St. Edmonds Wagen vor dem Hause. Ich eilte sie zu empfangen, führte sie bei Seite und beschwor sie, wenigstens heute, den einzigen Tag, meine Reise zu verschieben; meines Vaters Abwesenheit mache es mir unmöglich, das Haus zu verlassen. Sie schalt meine Schwäche, sie bewies mir, daß grade diese Abwesenheit mir die Gefahr mich zu verrathen erspare, und wie bald ich ihn, da sie an seiner schnellen Versöhnung gar nicht zweifle, wieder [219] sehen würde; sie stellte mir das Unrecht vor, das ich an Lord Friedrich begehe, die Gefahr, einen so leidenschaftlichen Liebhaber aufs Aeußerste zu treiben. – Durch ihre Beredsamkeit gewonnen, zeigte sich mir mein Vorhaben von einer andern Seite, als die, welche mich bisher beschäftigt hatte, und mein Schwanken benutzend, riß mich Lady St. Edmond mit sich fort. Noch eilte ich vorher zu der Freundin meiner Jugend, um ihr, da sie keinen Theil an meinem Geheimniß nehmen durfte, ein zweideutiges Lebewohl zu sagen. »Julie«! rief ich, ihre Hand drückend, »ich entferne mich auf kurze Zeit. Vermißt mich mein Vater, so ersetzen Sie mich bei ihm. O Julie, wenn Sie mich je geliebt, so bezeigen Sie ihm die kindliche Ehrfurcht, die – ich ihm schuldig gewesen wäre!« – Meine zitternde Stimme, mein bewegtes Gemüth hätten mich Miß Arnold verrathen müssen; allein sie war entschlossen, ein [220] Geheimniß nicht zu entdecken, das ihr zu wissen nachtheilig werden konnte. Nachlässig sagte sie mir Lebewohl, und kein Lächeln des Wohlwollens war im Augenblick des Scheidens von ihrer Jugendfreundin auf ihrem Antlitz sichtbar.

In einer völligen Betäubung aller meiner Gefühle fuhr ich vom Hause ab; wie ich meiner wieder deutlich bewußt ward, befand ich mich schon in ganz fremden Umgebungen, die ich nicht mit meiner Vergangenheit reimen konnte, die mir meine Zukunft nicht errathen ließen. Lady St. Edmond verwendete ihr freundlichstes Geschwätz, um meine Aufmerksamkeit auf angenehme Gegenstände zu lenken; sie drang mir das Versprechen ab, gleich nach erhaltner kirchlicher Einsegnung meiner Ehe in ihrem Hause eine Zuflucht zu suchen, schilderte mir die Annehmlichkeit meiner künftigen Verhältnisse, wenn ich, wie es mir gar nicht fehlen könnte, die verschiednen Glieder der Familie [221] du Burgh für mich gewonnen, und wie die Versöhnung mit meinem Vater, die ebenso wenig Schwierigkeit haben würde, dann meine Beruhigung vollenden müsse. Es gelang ihr, mein Gemüth zu beruhigen, so daß ich bei unsrer Ankunft in Barnet meine gewöhnliche Geistesheiterkeit größtentheils wieder gewonnen hatte. Wie der Wagen anhielt, und ich den Mann, dem ich mein ganzes Lebensheil zu übergeben gesonnen war, zu meinem Empfang bereit zu erblicken erwartete, drückte ich mich mit unwillkürlichem Grausen in den Winkel des Wagens zurück und ließ meine Begleiterin vor mir aussteigen. Da ich nur ihre Stimme hörte, die mich nachzukommen bat, raffte ich mich auf, ich folgte ihr in ein Zimmer, ich hörte, wie sie ihrem Bedienten auftrug, nach Lord Friedrich zu fragen; doch seine Antwort: er sey noch nicht angekommen, veränderte nur meine Lage, sie verbesserte sie nicht. Ich beantwortete [222] Lady St. Edmonds zuversichtliche Bemerkung: daß er unverzüglich, daß er in fünf Minuten eintreffen werde, mit einem spottenden Lachen. Die fünf Minuten gingen hin, auch zehn und längere Zeit. In größter Unruhe saß meine Begleiterin am Fenster, blickte der Straße entlang und hoffte bei jedem Hufschlag, bei jedem Rollen eines Wagens, es müsse der Erwartete seyn; ich schien gleichgültig den großen Ochsen von Durham und Godolphins Araberpferd, deren Abbildungen an der Wand hingen, zu betrachten, indeß meine Begleiterin mit zunehmender Unruhe alles aufbot, um Entschuldigungen wegen ihres Neffen Verweilen zu ersinnen. Eine Stunde mochte in dieser Spannung verflossen seyn, als ich auf eine ihrer Aeußerungen erwiederte: »Suchen Sie doch weiter keine Ursache, Mylady, Mylord hat unsere Verabredung vergessen, und somit verhindert uns nichts, nach der Stadt zurückzukehren, [223] welches ich Sie dringend bitte unverzüglich zu thun.« Sie widerstand mir zwar, bat mich, noch eine kleine Weile zu warten, weil sie gewiß sey, nur die unseligsten Ursachen könnten Lord Friedrich zurückhalten; doch forderte sie einige Erfrischungen und befahl, ihre Pferde zum Einspannen zu bereiten. Ueber diesen Anstalten ging abermals gegen eine Stunde dahin; ich erklärte nun, wenn Mylady nicht sogleich abführe, so würde ich Post nehmen und unverzüglich allein zurückkehren. Dieses bewog sie, anspannen zu lassen, aber ehe es geschehen war, sprengte ein Reiter vor das Haus, ich hörte ihn nach Lady St. Edmond fragen, und bevor diese die Thür des Zimmers erreicht hatte, trat ein Reitknecht Lord Friedrichs herein, gab ihr einen Brief und begab sich schweigend hinweg. »Endlich werden wir erfahren!« rief Mylady, indem sie den Brief erbrach. – Doch bei den ersten Worten fuhr [224] sie betroffen zusammen, und wie ich mit erzwungner Gleichgültigkeit und kalter Verachtung fragte, was die Ursache von meines Liebhabers Abtrünnigkeit sey, stammelte sie unzusammenhängende Entschuldigungen über das unangenehme Geschäft, ein Unglücksbote seyn zu müssen. – Dieses auf Lord Friedrichs Untreue deutend, bat ich sie mit bitterm Gelächter, sich darüber zu trösten, indem diese wohl das geringste Unglück meines Lebens seyn würde ... Nein, Miß Percy, nicht diese, nahm sie etwas beleidigt das Wort, aber Ihr Vater hat ... fassen Sie sich! es ist Ihrem Vater ... Mehr erlaubte ihr meine Bestürzung und Ungeduld nicht zu sagen. Mit dem Ausruf: »was hat mein Vater?« zog ich ihr hastig den Brief aus der Hand und las Folgendes von seinem Inhalt – denn diesen Brief hat der Zufall, gleichsam wie ein Denkmal vom Wendepunct meines Schicksals, mich aufbewahren lassen:

[225] »Theure St. Edmond! Mit dem Percy hat der Teufel sein Spiel gehabt. Er speculirte wie ein Narr und verlor nah an eine Million. Durch den glücklichsten Zufall von der Welt erfuhr ich es in dem Augenblick, wo ich nach Barnet abfahren wollte; ich mußte der Sache erst gewiß seyn, ehe ich Sie benachrichtigte, und so wurde der Bote verspätet. Ich gehe nun unverzüglich darauf aus, die Darnel zu beschwatzen. Das ist ein verdammter Tausch, denn die Percy ist das hübscheste Mädchen in London; aber wie's nun steht, hätte ich mir das Gehirn eingeschossen, wäre ich mit ihr bis Schottland gelangt. Suchen Sie das Mädchen zu beruhigen, wie es gehen will! Gut ist sie mir doch, und wenn ich das häßliche Shäpchen heirathe, habe ich auf Trost zu denken. Ich muß eilen mir die Darnel zu sichern, und sobald das in Richtigkeit ist, soll es Ihnen an den fünftausend Pfunden nicht fehlen.«

[226] Das Erstaunen, mit dem ich diesen Brief las, ward von der Furcht über meines Vaters Unfall zurückgedrängt. Ich hatte nie einen Gedanken an die Möglichkeit des Verlustes unsers Wohlstandes gehegt; bei der Sicherheit, mit der ich meinen Vater seine Geschäfte behandeln sah, schien mir eine unglückliche Speculation ganz unmöglich; seine erst vorgestern geäußerte Zuversicht, sein Vermögen in kurzem verdoppelt zu sehen, galt mir für eine untrügliche Zusage – ich hoffte, daß irgend ein falsches Gerücht Lord Friedrichs Habsucht irre geführt habe. Doch der weitere Inhalt dieses Schreibens empörte mein Innerstes; wohl war das ein glücklicher Zufall, der mich vor dem Elende, einem solchen Verworfnen zu gehören, befreit hat! rief ich laut und verweigerte Lady St. Edmond das Blatt, nach welchem sie ihre Hand ausstreckte. »Nein, dieses Blatt bewahre ich auf als Zeugniß der niedrigsten Verführung, [227] deren sich je ein Mann zum Verderben eines thörichten Mädchens bediente. Jetzt, Mylady, werden Sie doch durch nichts mehr zur Stadt zurückzukehren verhindert?« – Lady St. Edmond schien sehr herabgestimmt, ohne Einwurf folgte sie mir an den Wagen, und stumm traten wir unsern Rückweg an. Der Inhalt des Briefs ward mir immer klarer, ich verstand nun, welchen schändlichen Antheil meine Begleiterin an dem ganzen Vorgang genommen, ich überhäufte sie mit Vorwürfen, ich fühlte tief den Schmerz verrathner Freundschaft, mißbrauchten Vertrauens. Nach und nach wendete sich aber meine Aufmerksamkeit auf meines Vaters Lage; ich erinnerte mich jetzt des Briefs, welchen er, wie ich ihn das letzte Mal sah, mit so offenbarer Bestürzung gelesen, andre Umstände stellten sich mir gleichfalls in einem bedeutenden Lichte dar und vermehrten meine Angst. Sie nahm mit jedem Augenblick zu, [228] der Anblick der Straße, wo sein Haus lag, benahm mir den Athem, und wie der Wagen hielt, vernahm ich kaum Lady St. Edmonds Entschuldigung, mich nicht hinein zu begleiten. Kaum vermochte ich aus dem Wagen zu steigen, und mit zitternden Knieen trat ich in die langsam auf mein Klopfen sich öffnende Thür. »Hat mein Vater nach mir gefragt?« rief ich dem Diener entgegen. – »Nein, Ihre Gnaden.« – »Ist er zu Hause?« – »Er ist – er ist zu Hause, aber ...« Der Mensch schwieg, furchtbares Entsetzen in seinem Gesicht. – Eine ungeheure, gestaltlose Furcht ergriff mich, meine Seele erstarrte vor ihr, mein Verstand vermochte nicht ihr eine Form zu geben, einen Gedanken mit ihr zu verbinden – ich sank besinnungslos zu Boden.

O soll ich denn diese Bilder des Schreckens vor meinem Gedächtniß wieder aufrufen? soll ich die Wunden wieder öffnen, die keine [229] Zeit je geheilt? Muß ich den furchtbaren Weg Schritt vor Schritt verfolgen, der mich endlich bis zur Grenze des Wahnsinns geführt?. – Ich muß; denn mein Schicksal soll Andere vor dergleichen Schicksal behüten. – Zwar wird Wenigen ein so hartes, herbes aufbewahrt seyn, aber wenn ihr Kopf leichtsinnig ist, wie der meine, ihr Herz eigennützig, wie das meine, ihre Fantasie mit Nichtigkeiten angefüllt, wie die meine gewesen ist, so wird ihre Kraft auch einem geringern Unglück nicht widerstehen. – Deshalb fahre ich in meinen furchtbaren Erinnerungen fort.

Eine lange Sinnlosigkeit hielt mich umfangen, nur von einzelnen Schreckbildern meiner Vergangenheit in deutlichen Umrissen unterbrochen. Endlich erwachte ich aus diesem Zustand, ich befand mich allein in meinem Zimmer; meine Flucht, meine demüthigende Rückkehr, der Verrath an meiner Freundschaft, die Aussicht [230] auf gänzliches Verderben stieg plötzlich vor meinem Bewußtseyn auf. Alles, alles hat mich verlassen, rief es in meinem Innern, nur bei ihm, der mich zu lieben nie aufhörte, nur bei meinem Vater werde ich Theilnahme, Verzeihung, Liebe finden – und sey es in Armuth ... weiter ging meine Vorstellungskraft nicht; ich sprang vom Bett herab, ich eilte durch die halb dunkelnden Gänge in meines Vaters Vorzimmer. Wo sonst bei frühem Kerzenschein mehr wie ein Diener mir die Thüren eröffnete, war alles einsam und still; hastig trete ich in sein Cabinet, ein düstrer Abendstrahl leitet meine Blicke zum Sopha – da liegt eine Gestalt, die ich für die meines Vaters erkannte; sein Gesicht verhüllt, – Blut – Blut befleckte seine Kleider. – O das zu erzählen vermag ich nicht! –

Aus einer langen todähnlichen Ohnmacht erwachte ich zu einem Zustand, der von Raserei [231] nicht weit entfernt war. Kein Gedanke ward mir klar, keiner rief mich zu einer Pflicht, zu einer That auf, meine ganze Seelenkraft vermochte sich nur mit dem Bilde meines Elends zu beschäftigen. Wie eine undeutliche Stimme unter Sturmesgeheul in einzelnen Tönen schallt, wiederholten sich einzelne Worte meiner vernachlässigten Freundin, meiner theuren Miß Mortimer, in meinem trüben Gedächtniß, aber das Sturmesgeheul war mir lieber, und mit einer Art Bitterkeit, als habe ihre Prophezeiung mein Schicksal herbeigezogen, ließ ich diese schwachen Töne sich nicht zu einem verständlichen Sinne sammeln. Juliette – die Freundin meiner Kindheit, die Theilnehmerin all meines Glanzes, meiner Freuden, sie, glaubte ich, sey es, die mir jetzt Trost geben könnte, und mit der Ahnung, daß es doch eine Abwechslung im Gefühl meines Elends gäbe, sah ich mich, da mein Bewußtseyn wieder einige Klarheit[232] erhielt, in ihren Armen. Die ersten Thränen erleichterten mein gespanntes Gehirn, ich horchte auf ihre Stimme, die mir freundliche Worte sagte, und litt es endlich, daß sie mich, unter dem Vorwand, für meine Angelegenheiten zu sorgen, um bald wiederzukehren, verließ. Ich verband keinen bestimmten Sinn mit ihren Worten, und ihr lag es nur daran, mir zu verhehlen, daß kalter Eigennutz allein sie zu mir geführt, um noch, so lange es ihr die Umstände gestatteten, ihr Eigenthum, welches sie durch meines Vaters Güte gesammelt, aus seiner jammererfüllten Behausung zu schaffen.

Von neuem meiner trostlosen Einsamkeit überlassen, fühlte ich mich durch Juliens Besuch nur elender, weil er meinen Geisteskräften wieder eine gewisse Thätigkeit gegeben hatte. Ich nahm wahr, wie in den wenigen Stunden, die seit dem Umsturz meines Glücks verflossen, [233] alle Verhältnisse um mich her zerfallen waren. Unsere Dienerschaft ward ohne Rücksicht auf ihren persönlichen Charakter, wegen ihrer Geschicklichkeit, ihrer Gestalt, höchstens auf Empfehlung gewählt; die Bemühung, sie in ihrem Dienst zu bessern Menschen zu machen, fiel uns nie ein, in den Kreis unsrer Obliegenheiten aufzunehmen; von ihrer Herrschaft hatten sie nur das Beispiel unbegrenzter Bedürfnisse, gedankenloser Zerstreuung gehabt. – Was konnte sie an mich binden, da mir die Mittel, ein ungebundnes Leben fortzusetzen, geraubt waren? Zwei Tage hatten sie zu eigenmächtigen Herren ihrer Zeit gemacht, so daß ich nur mühselig die wenigen Dienste von ihnen erhielt, die mein hülfloser Zustand erheischte. Noch war keine Stunde nach Juliens Abschied verflossen, so trat, ohne einen Bedienten im Vorzimmer gefunden zu haben, ein unbekannter Mann ins Zimmer, der mir andeutete, daß es [234] nöthig sey, meine Schränke zu versiegeln, indem man erfahren, daß einige Juwelen von Werth in meinem Besitz seyen; ich möchte aber vorher die mir nöthigen Kleidungs- und Wäschvorräthe herausnehmen. Gewohnt, nur mit der schonendsten Ehrerbietung behandelt zu werden, mein Zimmer nie von Jemand betreten zu sehen, als der den Zutritt wie die schmeichelhafteste Gunst zu erkennen verstand, fühlte ich mich durch den unerwarteten Eintritt dieses Mannes tief verwundet, noch mehr aber durch sein Geschäft, das mir den beleidigendsten Verdacht anzudeuten schien, auf das heftigste empört. Hätten alle Juwelen Indiens zu meinen Füßen gelegen, ich würde sie ihm unberührt, wie alle meine Schlüssel, übergeben haben, und durch diesen traurigen Stolz brachte ich mich um eine Menge kostbarer Kleinigkeiten, die mir eine geringe Hülfe für meine nächste Zukunft gewährt haben könnten. Aber nach diesem [235] Vorgang war mein Entschluß gefaßt, ich sah die Nothwendigkeit ein, meines Vaters Haus zu verlassen, und schrieb Miß Julie einige Zeilen, in denen ich sie bat, mich sogleich zu sich abzuholen, um ihren jetzigen Aufenthalt zu theilen. Sie hatte mir hinreichende Gründe anzugeben gewußt, warum sie, gleich nach der schrecklichen Entscheidung von meines Vaters Schicksal, den Befehlen ihres Bruders, ihres Vormunds, gehorchen und sich in sein Haus begeben müssen. Jetzt schien mir dieses ein glücklicher Umstand, und die einzige Bedingung, die ich ihr machte, war die Freiheit, die ich mir vorbehielt, nur sie allein zu sehen, nie zu irgend einem Umgang, auch nicht dem mit ihres Bruders Familie, gezwungen zu seyn. Kaum hatte ich das Billet abgeschickt, so sehnte ich mich ängstlich nach einer Antwort. Der Bediente kam mit dem. Bescheide zurück: Miß Arnold sey nicht zu Hause. Bisher das verzogne[236] Schooskind des Glücks, war Warten, Aufopfern, Entsagen mir fremd, und diese erste kleine Fehlschlagung fühlte ich als ein Unrecht, einen Mangel an Wärme der Freundin, von der ich nicht vermuthet hatte, daß sie in diesem Augenblick nicht zu Hause sey. Wohin mochte sie gehen, indeß ich dem Elend, der Verzweiflung zum Raube ward? Was konnte sie anziehen, wenn ich sie bedurfte? Würde ich je sie verlassen haben, wenn ungleich geringere Uebel ihr meine Gegenwart wünschenswerth gemacht hätten? –

Mit solchen und viel traurigern Betrachtungen brachte ich die Zeit hin; bei jedem Geräusch hoffte ich eine Botschaft von ihr, nach jeder Viertelstunde hielt ich es für unmöglicher, daß sie die nächste noch ausbleiben könnte. – Aber die nächste ging hin und wieder die nächste und der ganze Abend, ohne daß eine Botschaft kam, und die tiefe Nacht, welche meine Hoffnung [237] abschnitt, vermehrte nur meinen Gram und ward nur durch kurzen ängstlichen Schlummer verkürzt. Der Tag brach an, ich stand früh auf, um bei Juliens Ankunft gleich bereit zu seyn, ihr zu folgen. Aber sie kam noch immer nicht; einsam genoß ich mein Frühstück, ich horchte mit verhülltem Gesicht auf die Ankunft ihres Wagens. – Wohin sollte ich blicken, wo nicht Geister verlornen Glücks mir begegneten? Dort der Platz, wo Maitland zum letzten Male stand, hier das Fenster, aus dem ich, um Miß Mortimers Abschiedsgruß zu entgehen, halsstarrig blickte, und neben mir der Platz, wo stets mein Vater gesessen! – Jetzt hörte ich einen Wagen vor das Haus fahren, ich eilte ihm entgegen, zu sehen. – Es war der Leichenwagen, der meines Vaters Sarg zu Grabe fahren sollte. –

Nachdem der Anfall wilden Schmerzes, den dieser Anblick in mir erregt hatte, vorüber war, [238] kehrte die Erwartung von Miß Arnolds Antwort mit peinigender Ungeduld zurück. Endlich blieb mir nur die Vermuthung, daß der Zettel ihr nicht übergeben worden sey, und ich bereitete mich, einen zweiten zu schreiben, als anstatt ihrer selbst eine schriftliche Antwort anlangte. Betroffen über die Nothwendigkeit, ohne ihren freundlichen Beistand das Haus zu verlassen, gebot ich mir, auch dazu Muth zu behalten, und eilte die Gründe ihres Verfahrens zu lesen. – Sie schrieb sehr wortreich und nicht ohne einigen Ausdruck von Liebe: »wie es ihr sehr weh thäte, mir sagen zu müssen, daß ihr Bruder sich einem nahen Verhältniß zwischen ihr und mir widersetze. Freilich müsse sie ihm recht geben, daß ein Mädchen, dessen einziges Gut, so wie bei ihr der Fall sey, in einem unbescholtnen Ruf bestehe, ihre Freundinnen behutsam wählen solle; leider sey aber meine Entführung bekannt worden – und so müsse [239] sie um ihres Bruders willen meiner Gesellschaft entsagen. Wenn sie nun gleich für die Zukunft alle äußere Beweise von Anhänglichkeit sich verbitten müßte, würde sie nicht weniger meine dankbar ergebne Dienerin bleiben.«

Starr, wie ein Todter, blieb ich, nachdem ich diesen Zettel gelesen, bewegungslos sitzen. – Der Schlag hatte meine Seele gelähmt, er hatte mein Bewußtseyn vertilgt. Ich weiß nicht, was den allmäligen Uebergang dieses Zustandes in grenzenlose Verzweiflung in mir bewirkte – vielleicht nur die Rückkehr physischen Lebens – und Leben mußte bei solchen Umständen Verzweiflung seyn. Ich warf mich an den Boden, forderte mit wildem Geschrei den Tod heraus, mich vor einer Welt zu retten, wo Verrath, fühllose Härte und Eigennutz mich jeder Möglichkeit zu leben beraubt hatte. Wohl erinnerte ich mich, wie ich dies allgemeine Verdammungsurtheil über die Menschen [240] aussprach, daß noch ein Geschöpf in meiner Nähe lebe, welches mir einst sagte: »Wenn ich je Freundestrost brauche ...« – Aber meine Seele war erbittert, ich haßte die Menschheit und die Tugendhaften mit ihr und warf der von aller Welt abgeschiednen, durch Krankheit an ihre Wohnung gefesselten Miß Mortimer vor, mich noch nicht in den Tagen des Jammers aufgesucht zu haben, da ich sie doch in den Tagen des Glanzes hartherzig zurückstieß.

Noch lag ich also in tiefem Schmerz auf den Boden hingestreckt, als derselbe Mann, der gestern meine Schränke versiegelte, abermals eintrat. Ich raffte mich auf; die Stellung, in der er mich fand, der Blick, mit dem ich ihn empfing, mußten ihm Mitleid einflößen, denn er brachte sein Gesuch mit dem Ton schonender Theilnahme, achtungsvoller Behutsamkeit vor. Die Gläubiger meines Vaters wollten zur Aufzeichnung seiner Verlassenschaft [241] schreiten, das Haus sammt allem Geräth und aller Habseligkeit sollte verkauft werden, und man ließ mich bitten, einen andern Aufenthalt zu wählen. – Also ausgetrieben aus dem Hause, wo meine Mutter gelebt, wo meine Kindheit gepflegt, wo ich meinen Vater als Herrn herrschen gesehen, wo er mir der beste, gütigste Vater gewesen war – ausgetrieben, ohne eine Zuflucht auf Erden! und um die Zuflucht jenseits zu suchen, hatte ich ein verhärtetes Herz. Ich stieß einige bittere Worte gegen die Menschen aus, die meinen Vater ins Unglück gerissen, die nun wie Räuber in sein Eigenthum zu theilen sich beeilten. Der Fremde wies mich sanft zurecht, er bat mich, nicht der Feindseligkeit zuzuschreiben, was einfacher Gesetzesgang sey, und legte einige Banknoten vor mich hin, welche die Gläubiger mir einhändigten, um meine nächste Einrichtung zu bestreiten. Zugleich bat er mich, einen Freund herbeizurufen, [242] der meine Sache verträte, der mir Rath gäbe in einer Lage, welche mich der Fassung, für mich selbst zu sorgen, offenbar beraubt hätte. »Einen Freund!« rief ich mit bitterm Hohne, »o meine Freunde habe ich geprüft und habe sie so treu befunden, daß der dürre Buchstabe des Gesetzes, der mir dieses Almosen zutheilt – ich nahm das Päckchen mit Banknoten in die Hand – menschlicher mit mir verfährt, wie sie.« – Der Schmerz erstickte meine Worte, ich warf dem Unbekannten die Banknoten hin. »Da, nehmen Sie dieses zurück, ich werde nicht diese und keine andere Unterstützung gebrauchen.« – Der Mann verließ mich mit Erbarmen im Blick, und so vergiftet war mein Gemüth, daß ich diesen Blick aus meinem Gedächtniß verdrängte – ich bedurfte die ganze Tiefe des Jammers, um darin zu versinken.

Ich befahl, unverzüglich einen Miethwagen herbeizuholen, und ohne weiter ein Wort zu [243] sprechen, ohne einen Auftrag zu hinterlassen, ohne eine andere Regung, als ein convulsivisches Schaudern, wie ich an meines Vaters offnem, verödetem Zimmer vorbeiging, verließ ich das Haus und befahl, in eine enge, schmuzige, abgelegne Straße zu fahren, durch die mich einst mein Kutscher wegen eines aufgerißnen Steinpflasters führen mußte. Die Dunkelheit, das unheimliche Ansehn der Häuser hatte ein Bild in meiner Fantasie zurückgelassen, das sich zu meinem trostlosen Vorhaben eignete. Dort angekommen, befahl ich dem Miethkutscher, an dem ersten Hause, wo Zimmer zu vermiethen angeboten würden, zu halten. Nach mehreren vergeblichen Nachfragen fand sich ein kleiner schmuziger Laden, aus dem mir eine anständig aussehende ältliche Frau entgegentrat, die mir auf meine Frage versicherte, das einzige Zimmer, das sie vermiethen könne, stehe mir zu Dienst. Wie sie mich näher ins Auge faßte, [244] ward sie bei meinem Anblick bestürzt. Freilich konnte sie mein Verlangen, ihr Zimmer zu bewohnen, nicht mit meinem Ansehen reimen. Meine Trauerkleidung war mir von meiner Kammerfrau angelegt worden, sie war so kostbar, wie diese Tracht es zuläßt. Dieser Umstand und die Verzweiflung in meinen Zügen machte die Frau stutzen, sie bot mir einen Stuhl an und ging hinaus, mit dem Kutscher zu sprechen. Ich bemerkte das; es war mir ganz gleichgültig, eben so die Entschuldigungen der Frau, die mich bei ihrer Rückkehr versicherte, keinen nachtheiligen Verdacht gehegt zu haben. Bis zum Tod ermüdet, gab ich ihr meinen Beutel in die Hand, – er enthielt den letzten Rest des Ueberflusses, den ich nie zu berechnen Beruf gefunden hatte; es war eine armselige Summe für den, der im Schoose der Ueppigkeit gelebt, aber überzeugt, daß sie länger wie mein sinkendes Leben dauern würde, [245] gab ich sie sorglos dahin und forderte nur, augenblicklich in das mir versprochne Zimmer geführt zu werden. Mühselig schleppte ich mich eine steile, finstre Treppe hinauf und trat in ein dunkles, enges, dumpfes Gemach; an einer Seite stand in einer Vertiefung hinter einem geflickten, verblichnen Vorhang ein Bett, dessen mich zu bedienen, noch vor vier Tagen der höchste Grad von Müdigkeit mich nicht vermocht hätte; jetzt sehnte ich mich, mein brennendes Haupt auf diese elenden Pfühle zu legen, und hoffte mit Zuversicht, es werde nur kurze Zeit darauf ruhen.

Endlich war ich allein. Ich empfand eine furchtbare Freude, jetzt alle Banden, die mich an die Menschen knüpften, abgelöst zu haben und sicher darauf rechnen zu können, daß dieses verlorne Geschöpf, sobald es aus dem Winkel, in den es sich geflüchtet, auf den Kirchhof getragen wäre, in dem Andenken der Menschen [246] schnell und gänzlich vergessen seyn würde. Ein heftiges, mich völlig betäubendes Fieber überwältigte mich, ich rasete nicht, sondern lag in dumpfer Betäubung, welche die gutmeinende, aber rohe Sorgfalt meiner Wirthin und ihrer Tochter, eines kränklichen, mißgestalteten, widrigen Geschöpfs, oft zu stören versuchte. Ich erwachte dann, wies ihren Trost, ihre dargebotnen Erquickungen und eben so die sich vor meine Erinnerung drängenden Bilder der Vergangenheit von mir und sank in neue Dumpfheit zurück. Meine körperlichen Empfindungen schmeichelten mir mit nahem Tode; die Gluth, die mich verzehrte, lähmte meine Kräfte bis zur äußersten Hülflosigkeit, der bewußtlose Dumpfsinn, in dem es mir gelang, mich zu erhalten, schien mir Vorbote ewigen Schlafs.

Konnte ich denn aber wirklich in dieser Verhärtung des Herzens, dieser Gedankenlosigkeit über das Diesseits und Jenseits aus der [247] Welt gehen wollen? fiel denn kein Strahl der himmlischen Liebe in meine Seele? – Nein! Die, welche schmeckten, wie gütig der Herr ist, wenden sich im Unglück mit doppeltem Eifer zu seiner Güte; ich hatte ihn aber in meinen guten Tagen nie gesucht, darum konnte ich jetzt den Weg zu ihm nicht finden. So lange mir noch Kräfte blieben, schien mir das Loos, das mich getroffen, ein grausames Unrecht, denn ich hatte nie die Forderung an mich gemacht, besser zu seyn, wie ich war, hatte also keinen Begriff davon, weniger Glück zu verdienen, wie bisher das Leben mir geboten. Seit aber die Krankheit meine Kräfte gebrochen hatte, war dieser Trotz dahin – doch die Ruhe, die ihm folgte, glich der lebenverderbenden Erstarrung des todten Meers. Tage und Nächte gingen darüber hin, deren Wechsel mir beim unwillkürlichen Erwachen aus meiner Dumpfheit nur durch das tiefere und mindere Dunkel [248] meines Zimmers merkbar ward. Endlich ließ sich meine Wirthin nicht mehr durch meine strenge Weigerung zu sprechen, zu hören, Nahrung zu nehmen, abweisen; sie sah meinem Tod entgegen und fürchtete die Unannehmlichkeiten, die es ihr zuziehen könnte, eine Unbekannte ohne fremden Beistand gelassen zu haben, noch mehr, die Kosten ihrer Beerdigung tragen zu müssen. Wie sie wieder einmal vergeblich versucht hatte, ihrem Zureden Eingang zu verschaffen, sagte sie mir ohne Umschweife, daß mein ihr bei meiner Ankunft übergebner Geldvorrath erschöpft sey, und ich mir neue Mittel des Unterhalts verschaffen oder mich nach einer andern Wohnung umsehen müsse. Vor acht Tagen noch hätte diese Behandlung meinen Stolz aufs heftigste empört, jetzt empfand ich sie blos wie eine schnellere Beförderung zum Grabe und sagte gleichgültig: sobald ich ihre Mühe nicht mehr bezahlen könnte, wollte ich [249] sie davon freisprechen. Damit war diese Frau aber nicht befriedigt; sie schlug mir, wie sie schon oft gethan hatte, vor, meine Freunde von meinem Zustand zu benachrichtigen. Aber da berührte sie die eiternde Wunde meines Herzens – ich drückte mein Gesicht in das Kissen und antwortete nicht mehr. Nun fragte die Wittwe, ob ich denn gar keinen Gegenstand zum Verkaufen besäße, und deutete auf einen Ring, den ich nie von dem Finger gelegt. Es war das einzige Andenken von meiner Mutter, das ich erhalten. Bis jetzt war mir der Werth desselben nicht deutlich geworden, ich hatte ihn, seit ich hier schmachtete, noch niemals bemerkt, doch nun besann ich mich plötzlich, woher er mir kam, und mit Härte befahl ich der Frau, zu schweigen, mir zu sagen, wenn der letzte Schilling meines Geldes ausgegeben sey, wo ich denn lieber auf der Thürschwelle sterben, als ihr einen Augenblick zur Last fallen wolle. [250] Beleidigt verließ sie mich und unterbrach den ganzen Tag über meine Einsamkeit nicht mehr.

Erst dieser Vorgang erinnerte mich an das, was mir bisher als das geringere Uebel entgangen war, an die gänzliche Armuth, die mich bedrohte. Allein, meine Lebensgeister zu einiger Thätigkeit zu spannen vermochte der Gedanke nicht, im Gegentheil diente er als neuer Beweis, daß ich dem Tode verfallen sey, und davon überzeugte mich die leidenvolle Unruhe in meinem Innern, der nagende Schmerz in allen Gebeinen, der sich meiner bemächtigte, die ich beide für die sichern Vorboten der Auflösung hielt. Kaum nahm ich wahr, daß die Nacht dem qualvollen Tag gefolgt war; glühende Funken kreuzten vor meinen Augen umher, die Dumpfheit meines Jammers ging in gänzliche Vergessenheit über, und die Krisis, die ich für den Tod gehalten, löste sich auf in einen heilbringenden Schlaf. Meine ungeschwächte Jugend [251] hatte gesiegt; die Dumpfheit selbst, welche meine Verzweiflung übertäubte, war vielleicht wohlthätig für meine Nerven gewesen, die gänzliche Entäußerung von Speise hatte den Gang der Natur ohne Störung gelassen – genug, ich erwachte mit hellem Bewußtseyn meines Unglücks, aber auch meiner Rettung vor dem sehnlich gewünschten Tod. Der Gedanke, Gott zu danken, erwachte nicht mit dem rückkehrenden Leben, bittere Angst um die Zukunft nahm von meinem Gemüthe Besitz, und mein noch schwacher Kopf arbeitete angestrengt, einen Weg zu ersinnen, der mich in einer Welt, die ich so feindselig hatte kennen lernen, zu einer Freistätte führte. Bei diesem Nachsinnen hatte ich gar nicht die Augen geöffnet, um zu sehen, wer so leise in meine Thür trat und sich meinem Bett näherte, ein lauter Ausruf schmerzlichen Erstaunens schreckte mich auf. – »Miß Mortimer!« rief ich, und der Anblick dieser [252] gütigen, verkannten Freundin weckte Erinnerungen in mir auf, die mein verstocktes Herz mit Fühllosigkeit umeisten. Sie vermochte nicht zu sprechen, schluchzend hielt sie mich in ihren Armen.

»Miß Mortimer, was wollen Sie hier?« fragte ich kalt und machte mich von ihr los. – »Was ich will, Ellen? das ist sehr ungütig, zu fragen, was ich will! Konnte ich erfahren, daß Sie litten, ohne zu Ihnen zu eilen? Kann ich Sie nicht trösten, oder doch trauern mit Ihnen?« – »Ich traure nicht und bedarf keinen Trost. Lassen Sie mich!« – »Nicht so, mein theures Kind! Es ist Ihnen nicht auferlegt, fühllos zu seyn. Wir wollen weinen über die harte Schule, in die Sie Gott geführt, aber nicht an seiner Barmherzigkeit zweifeln.« – »Barmherzigkeit? die zeigt er mir nicht. Er hat mich ohne Mitleid zur Erde getreten, und ich will liegen bleiben, bis diese Erde mich verschließt.«[253] – Der Schmerz über meine trostlose Seelenstimmung benahm Miß Mortimer lange die Fähigkeit zu sprechen; dann bat sie mich liebevoll, mehr Milde zu zeigen, und bei meinem Starrsinn rief sie mit aufgehobnen Händen gen Himmel: »O du Gott des Friedens, senke doch Sanftheit in dieses Herz, das du gewiß zu deinem Tempel geschaffen hast! Ich vermag hier nichts.« – Sie hatte sich halb abgewandt, wie sie dieses Gebet sprach, aber ich sah ihre weißen, abgezehrten Hände, die sie emporhielt, und hörte ihre Seufzer, ich erinnerte mich des hinfälligen Zustandes, in dem ich sie das letzte Mal getroffen, ich vermuthete, daß sie ihr Krankenzimmer nur verlassen, um mich aufzusuchen, um mir Hülfe zu bringen. Zu solchen Bemühungen konnte nur Wohlwollen antreiben; gänzlich verlassen, dem ganzen Menschengeschlecht unwerth war ich also doch nicht, ich fing an Güte für möglich zu halten, aber, noch ohnmächtig [254] gegen das Gift in meiner Seele kämpfend, wies ich ihr Anerbieten, mich zu sich zu nehmen, oder mich in diesem elenden Schlupfwinkel zu pflegen, halsstarrig zurück. Miß Mortimer ward innig betrübt, allein ihr wahrhaft christliches Gemüth hatte nicht, um Dankbarkeit zu ärnten, sich zum Liebesdienst erboten; meine Härte schreckte sie deshalb nicht ab. Wie ich im Schimmer des Glücks glänzend ihre Liebe abwies, glaubte sie ihr Leben höher schätzen zu müssen, als die Verpflichtung, ohnmächtiger Zeuge meiner Thorheit zu seyn; nun vom Blitz des Unheils mein stolzes Haupt gebeugt war, ertrug sie den Ausbruch meines feindseligen Geistes mit unerschöpflicher Geduld. Da sie sah, daß ihre Bitten, ihr in ihre Wohnung zu folgen, so wie die, ihre Pflege unter meinem traurigen Obdach anzunehmen, vergeblich seyn, ließ sie ab und entfernte sich, ohne mir ein bestimmtes Lebewohl zu sagen. Sie [255] hatte meinen starren Sinn nicht beugen können; allein die Eisrinde meines Herzens war erschüttert, so daß ich ihr, wie sie mit schwankendem Schritte mein Zimmer verließ, sehnsuchtsvoll nachsah.

Indem sie die Thür öffnete, schlüpfte der arme Fidel zu mir herein, er sprang an mein Bett herauf und drückte mir seine Freude, mich wiederzusehen, mit eben der stillen Innigkeit aus, die ihn einst meiner Mutter so lieb gemacht hatte. – Wird es der Seelenforscher begreifen, wird der Moralist mir verzeihen, daß die Liebkosungen dieses treuen Thieres endlich vermochten, was die Stimme der Freundschaft, die Vorstellungen frommer Vernunft nicht bewerkstelligen konnten? – Mein starrer Sinn brach bei den Bildern meiner Kindheit, die Fidel mir herbeirief, die Bitterkeit meines Herzens ward hinweggeschwemmt von den Thränen, die ich über dieses Thier vergoß.

[256] Miß Mortimer blieb nicht lange von mir entfernt, sie brachte mir nach kurzer Abwesenheit einige Erfrischungen, die meinen Gewohnheiten und dem Bedürfniß meiner jetzigen Schwäche angemeßner waren, wie die ekeln Gemengsel, die mir meine wohlwollende Wirthin in den ersten Tagen meiner Krankheit angeboten hatte. Wie sie eintrat, verbarg ich meine Thränen, aber ihrer erneuerten Bitte, sie in ihre friedliche Hütte zu begleiten, konnte ich nicht mehr widerstehen. Mit einem erschütternden Gefühl rückkehrenden Seelenlebens – denn ich glaube, daß der Herzensschmerz, welchen ich fühlte, wirklich daher entstand, daß die Lebensgeister die im Jammer vertrockneten Canäle wieder zu durchströmen begannen – hörte ich ihre sanften Worte an. Sie wolle sich nicht zu meinem Schmerze drängen, sagte sie, sie wolle mich nicht einmal einladen, um der Mahlzeit willen mein kleines Zimmer zu verlassen, es [257] würde ihr genügen, zu wissen, daß ich in ihrer Nähe sey, daß ich sie finden könnte, sobald ich ihrer bedürfe. Das Geständniß meines Unrechts drängte sich auf meine Lippen, allein dieses Geständniß, das in meinen glücklichen Tagen als Selbstüberwindung Werth gehabt hätte, konnte im Munde der Zerschlagnen, Wohlthaten Bedürftigen, wie demüthiges Werben um Versöhnung aussehen – ich versagte mir die Seligkeit der Reue und rief, Miß Mortimers Hände an meine Brust drückend: »Meine einzige, meine beste Freundin!« Und sie, die ganz Liebe, ganz Großmuth war, ließ sich mit diesen Worten genügen.

Nach wenigen Tagen, in denen mich Miß Mortimer mit der zärtlichsten Sorgfalt pflegte, fühlte ich meine Kräfte so weit hergestellt, daß sie es wagte, mich in ihre Wohnung überzuführen. Es war ein eben so schöner Morgen, als an dem Tag, wo ich ihr meinen ersten [258] Besuch gemacht hatte: eben so glänzend strömte das Sonnenlicht über das üppige Grün der Wiesen, eben so schwebten die Schiffe, deren blendend weiße Segel die erquickendsten Lüfte schwellten, auf dem silbernen Strom, nur das dunklere Laub der Bäume und die Färbung ihrer Früchte verrieth die Höhe des Sommers. Meine Freundin versuchte es, mich auf dieses fröhliche, lebendige Schauspiel aufmerksam zu machen, aber es erheiterte mich nicht – kalt wendete ich mein Auge von ihm ab und dachte, wozu einer Welt, wo Unrecht, Gram und Leiden ihre Herrschaft verbreitet hätten, dieser reizende Schmuck gegeben seyn möchte. Von allen Siegen der Ergebung in eine höhere Leitung, eines kräftigen Verstandes über das schwache Gemüth ist keiner lohnender, als wenn wir in jeder Lage fähig sind, das Gute, das uns der Augenblick bietet, zu genießen. Für mich, die ich noch immer mit [259] Gott haderte über den Weg, den es ihm gefiel mich zu führen, prangte die Natur umsonst in ihrer schönsten Pracht, ich stieß die Freude von mir, die sie dem ergebnen Herzen meiner Freundin zu genießen gab. Bei unsrer Ankunft in Miß Mortimers Wohnung begrüßte sie mich mit der innigsten Zärtlichkeit als Mitglied ihres Haushalts, sie führte mich sogleich in das mir bestimmte Gemach, das angenehmste dieses bescheidnen Hauses. Sehr niedliches, wenn gleich höchst einfaches Geräth bot mir jede Bequemlichkeit dar. Grüne Wände, schneeweiße Vorhänge, ausgesuchte Reinlichkeit verbreiteten Heiterkeit, und der Anblick der umliegenden Gärten durch ein großes mit Jasmin umranktes Fenster wiegte die Seele zur Ruhe ein. Ich fand eine kleine Zahl wohlausgewählter Bücher, und in den Schiebfächern eines Schrankes einen großen Theil meiner Wäsche und nützlichsten Kleidungsstücke, welche [260] Miß Mortimers Bemühung, von den mit meines Vaters Verlassenschaft beschäftigten Personen zurückzuerhalten, geglückt war. Wie viel ich ihr zu danken hatte, fühlte ich wohl, aber dadurch ward mir meine Bedürftigkeit nur fühlbarer, und seufzend folgte ich meiner großmüthigen Freundin Ermahnung, der Ruhe zu pflegen. Ich bedurfte ihrer sehr, für meinen geschwächten Zustand war die Ueberfahrt nach der Nähe von Greenwich – und der erste Versuch, dem Leben wieder anzugehören, eine schwere Ermüdung. – Matt sank ich auf das Reinlichkeit duftende Bett, das nach jenem jämmerlichen Lager, auf dem mich mein Siechthum festgehalten, als die größte Wohlthat hätte erscheinen sollen, und überließ mich dem Schlaf.

Der Abend sank, als ich bei den Tönen einer sanften Harmonie erwachte, die anfänglich wie ein Engelchor in der Luft zu verfließen schienen, bis ich, völlig vom Schlaf ermuntert, [261] Miß Mortimers fromme Stimme erkannte, die ihr Abendlied sang. Keine andre Stimme hätte die kindliche Dankbarkeit, die siegreiche Freudigkeit ihrer Seele so ausdrücken können, wie die ihre, und so wenig ich seit dem Umsturz meines Glücks fähig war, Dinge außer mir zu beobachten, zog doch diese Stimme, wie sie, auf der mildesten Abendluft getragen, zu mir herauftönte, meine Aufmerksamkeit an. Welchen Schatz besitzt sie denn, dachte ich bei mir selbst, der sie vor Andern so froh macht? Heute früh hörte ich sie ihren Morgen mit einem Lobgesang beginnen, und nach einem für Andrer Wohl in Mühe verlebten Tag geht sie unter Dankgebet der Nacht entgegen. Gewiß, ihr ist diese glückliche Stimmung angeboren, und außerdem – sie kannte ja nie eine beßre Lage, sie verlor nichts. Wohl ihr, daß Armuth und Beschränkung sie vor dem Betrug und der Härte der Menschen bewahrte! – Der Gesang war beendet, die [262] Stille um mich her überließ mich von neuem meinen quälenden Betrachtungen, und um ihnen zu entgehen, griff ich nach einem Buche, das neben mir auf dem Tische lag. Es war meiner Mutter Bibel. Vornan stand ihr Name, von ihrer eignen Hand geschrieben, dann der Tag meiner Geburt, endlich wurde mein Tauftag mit folgenden Worten erwähnt: »Diesen 11. Jenner 1775 habe ich Gott mein theures Kind gewidmet. Möge er dieses Opfer annehmen und reinigen, wenn es auch mit Feuer seyn müßte!« – Diese Worte erinnerten mich an die nie ganz vergessnen von meiner Mutter letztem Segen, und ich rief mit innigem Schmerz: »O Mutter, hättest du vorausgesehen, wie verzehrend das Feuer seyn sollte, das du zu meiner Reinigung herabbetetest, du hättest nicht so geschrieben, denn dein Herz war mild gegen einen Jeden, es hätte sich ja meiner erbarmt.« – Nun schlug ich eine andre Seite [263] des Buchs auf, welche, wie das Blatt zeigte, oft umgewendet seyn mußte; mein Auge erblickte die unterstrichne Stelle: »Könnte wohl eine Mutter ihren Säugling, den Sohn ihres Schooses vergessen? Ja sie kann es; doch nie vergesse ich deiner.« – Ich erinnerte mich dunkel, diese Worte von meiner Mutter im Gebet oft gehört zu haben; damals verband ich keinen Sinn mit ihnen, jetzt fielen sie mir auf, ich dachte nach, ob denn wohl ein so trostvoller Gedanke, den so viele Tausende der Millionen für wahr annähmen, der meiner Mutter Aufrichtung und Freudigkeit gegeben, ganz ohne Grund seyn könnte. Wenn er aber gegründet wäre, so würde ich ja nicht verlassen seyn; warum denn mußte ich erfahren, was nur den Verlassensten bestimmt seyn konnte? Diese Betrachtungen beschäftigten mich durch die ganze schlaflose Nacht. Nach und nach erzeugten sie aber die Frage in mir: warum, wenn [264] eine väterliche Macht unser Schicksal ordnet, auch wenn es uns mit Unglück niederdrückt, dennoch ordnet, warum habe ich nicht gesucht mich dieser Macht gefällig zu machen? warum gedachte ich ihrer nie, da doch mein ganzes Wohl in ihren Händen ruhte? – Sobald der Tag anbrach, griff ich wieder nach dem Buch, das meine Mutter getröstet, und suchte eine Antwort auf meine Frage und eine Entschuldigung meines Thuns. Die erste fand ich, je mehr ich las. Ich gewahrte, daß mein Leben den Bedingungen, unter welchen Gottes Friede verheißen wird, ganz entgegen gewesen sey; dieses Buch gebot Entsagung für sich und Bemühung für Andre; ich hatte einzig nach Genüssen gestrebt und für Andre nie das Geringste gethan. Mein leichtsinniger Verstand fragte ein paar Mal: was verbürgt dir denn, ob diese Vorschriften wirklich den Frieden Gottes versichern? daß Gott wirklich dein Vater seyn wird, wenn [265] du sein Kind bist? Aber da sprach eine laute Stimme in mir und deutete auf die Schriftstellen, die meine Mutter getröstet, und auf die Freudigkeit, mit der meine fromme Retterin über Armuth, Schmerz und Ansicht des nahen Todes siegte. Sie sagte, daß der jetzige Zustand meiner Seele in seinem unermeßlichen Jammer mir Ahnungen höheren Glückes gewähre, als ich im Rausche meiner ehemaligen Freuden niemals gekannt hatte. Ich las fort und dachte nach und befragte Miß Mortimer, die, ohne mich in dem Gang meiner Seelen-Entwicklung zu stören, nur antwortete, nie den nothwendig erfolgenden Fortschritten meines Nachdenkens vorgriff. Doch Ruhe fand ich noch nicht. Mein Verstand war zu ungeübt, und die Erinnerungen an mein vergangnes Leben zu demüthigend, um mich ohne Kampf zu einer klaren Ansicht meiner selbst kommen zu lassen. Wie ich die Thorheit meines bisherigen [266] Lebens zuerst einsehen lernte, wollte ich meine Selbstvorwürfe durch Scheingründe entkräften; deren Ohnmacht im Innern empfindend, leitete ich oft Gespräche mit Miß Mortimer ein, welche einzelne Puncte meiner Zweifel erhellen sollten; sie hörte mit unbeschränkter Geduld meine seichten und aus Widerstreben gegen eine bessere Ueberzeugung oft wiederholten Einwürfe an und achtete nicht auf die Unvernunft einer trostlosen Behauptung, mit der ich jeden Streit, in dem ich mir den Sieg nicht zu schreiben durfte, beschloß. Mein Dünkel mußte endlich unbedingt eingestehen, daß ich bisher ein unwürdiges, gedankenloses Daseyn geführt hatte, und daß es wohl Gottes Vaterliebe sey, die mir das Leben erhielt, um mir Zeit zu besserer Erkenntniß zu geben, und mir durch meine Freundin Mittel und Beispiel zu ihrer Erlangung zusendete. Dem trotzigen Untersuchen folgte ängstliche Anerkennung – ich wußte, [267] daß ich den Weg des Rechten verfehlt hatte, ich sah das Ziel vor mir, aber die Mittel, mich auf der rechten Bahn dahin zu erhalten, waren mir noch unklar. Kleinliche Gebetsübungen, Bußen, Entsagungen, quälten mich eine Zeit lang, konnten aber im Beisammenleben mit meiner ehrwürdigen Freundin, deren Frömmigkeit diesen Zwangsmitteln so fremd war, nicht lange bestehen.

Miß Mortimer blieb ihrem ersten Versprechen, meinem Aufenthalt bei ihr gar keinen Zwang aufzulegen, getreu; sie forderte mich nie auf, mein Zimmer zu verlassen, aber das Zusammenseyn mit ihr ward mir lieber in dem Maas, wie meine Begriffe über Leben und Bestimmung sich läuterten. Ich fing an ihren Krankenbesuchen und ihren Andachtsübungen beizuwohnen, ich arbeitete mit ihr an Kleidungsstücken für die Armen – aber wie verschieden war noch der Sinn, in dem sie dieses [268] alles that, von dem meinen! Sie erfüllte mit kindlichem Herzen ihren Beruf, so weit es ihre Kräfte erlaubten, das Beste des großen Haushalts ihres himmlischen Vaters zu befördern, ich strebte bänglich den gerechten Unwillen dieses Vaters zu versöhnen; sie sprach Dankgebete aus, ich verehrte den beleidigten Herrn. Die nähere Bekanntschaft, die ich bei den Krankenbesuchen mit den Armen machte, trug nicht dazu bei, meinen Empfindungen Milde zu geben. Ich hatte bisher ihren Zustand nur aus Schauspielen und Romanen gekannt, Almosen gab ich nur von meinem Ueberfluß dem Bettelnden, der mein Auge beleidigt, mein Ohr ermüdet hatte, und mit dessen traurigem Anblick ich keinen Begriff, als den des schnell vergeßnen Ekels, verband. Nun fand ich unter dieser Menschenclasse Laster, Schuld, halsstarriges Unrecht, Undankbarkeit, wie unter dem übrigen Menschengeschlecht. Mein Mitleid verlor den [269] Sinn der Liebe, es bedurfte einer Zeit, um mich zu belehren, daß Almosen nicht gegeben werden, um Tugend zu lohnen, sondern oft um das Laster, welches Folge des äußersten Bedürfnisses ist, zu entfernen; daß wir aber nie vernachlässigen sollen, mit gleichem Eifer einen guten Gedanken in dem Armen zu erwecken, als einem seiner physischen Bedürfnisse zu steuern. Wie sich mir nach und nach die Ueberzeugung aufdrängte, daß so mancher der Unglücklichen, die meine Freundin, indem sie sich manche Bequemlichkeit versagte, dem Untergang entriß, durch den Leichtsinn, die Unbilligkeit Reicher, wie ich noch vor kurzem war, in physisches und moralisches Elend gestürzt wurden, fing ich an mit Schmerz auf die Zeit zu blicken, wo ich Mittel hatte, so vielen zu helfen, und theilnahmelos vor den Hülfsbedürftigen vorüberging.

Eines Tages führte mich Miß Mortimer in [270] ihr Gärtchen hinaus, die warme Herbstsonne zu genießen; da bemerkte sie ein magres, barfüßiges kleines Mädchen, das seine braune Hand durch den Gartenzaun steckte und in echt bergschottischer Sprache ein Almosen erbat. Meine Freundin fragte nach den Umständen des Kindes, dessen Antworten aber durch seine fremde Mundart und große Schüchternheit ganz unverständlich wurden. Miß Mortimer nahm mein Anerbieten, lieber selbst die Wohnung des kleinen Mädchens zu besuchen, um sie in Stand zu setzen, von der Anwendung ihrer Gabe zu urtheilen, dankbar an, und so folgte ich diesem bis zu einem elenden Häuschen, das in einer der entlegensten Straßen von Greenwich lag. Wie mein Auge in der mich empfangenden Finsterniß die Gegenstände zu unterscheiden begann, erblickte ich auf einem elenden Lager eine abgemagerte Gestalt, deren Todtenblässe bei dem Anfall eines furchtbaren Hustens einer [271] dunkeln Röthe wich, wobei sein glänzendes Auge und unruhiger Blick ein verzehrendes Fieber verkündigte. Ganz in den mephitischen Dunstkreis des niedern Zimmers gehüllt, saß eine Frau an dem niedern Heerd und bemühte sich das rauhe, matte Geschrei eines kleinen Kindes zu beschwichtigen. Bei meinem Anblick sprang sie auf, mir ihren Schemel – den einzigen Sitz in dieser Wohnung, anzubieten, und der Kranke versuchte mit schottischer Höflichkeit, sich im Bette zu erheben, um mich zu begrüßen. Unfähig zu dieser Anstrengung, forderte er die Hülfe seiner Frau, die nach dem kleinen Mädchen, meiner Führerin, rief, ihr den Säugling abzunehmen, damit sie freie Hände bekäme, ihren Gatten zu unterstützen. Der Gedanke, dem schwachen Mädchen das Kind anvertraut zu sehen, erschreckte mich; unbedacht bot ich die Arme dar, es selbst zu übernehmen, und freudig überrascht reichte die Mutter mir es hin, als [272] ich voll Entsetzen seinen Zustand erblickte. – Es war von Kinderblattern wie mit einer Eiterkruste überdeckt, seine Augen, seine Nase waren verschwunden, sein Mund nur an den rauhen Klagetönen kenntlich, in denen er stöhnte – ein pestartiger Geruch umgab das elende Wesen – die arme Mutter hatte ihm, den Vorurtheilen ihres Landes gemäß, um, wie sie sagte, das Gift vom Herzen zu treiben, so viele Wärme wie möglich verschafft, sie sich selbst die nothwendigste Nahrung entzogen, um durch geistige Mittel den Ausbruch der Blattern zu befördern. Der Abscheu, den ich gegen das Kind bezeigte, kränkte sie bitter, sie mahnte mich an die flüchtige Dauer der Schönheit, denn auch ihr Knabe sey vor wenigen Tagen noch lieblich gewesen, und zeigte einen so anständigen, vom Elend ungedemüthigten Geist, daß ich beschämt dastand, Kummer in der Hütte verbreitet zu haben, wohin Trost zu bringen, [273] meine Absicht gewesen. Es gelang mir, sie zu begütigen. Nach mancher Verständigung erfuhr ich endlich, daß der wackre Mann ein Schotte sey, der in seinem Vaterlande ganz erträglich als Gärtner gelebt hatte; die Hoffnung, in England sein Glück zu machen, wo schottische Gärtner gesucht werden, lockte ihn an. Da es ihm nicht gleich gelang, Arbeit zu finden, gerieth er in große Bedrängniß, bis er es wagte, einen edeln Landsmann anzusprechen, Herrn Maitland, durch dessen Vorwort Herr Percy ihn auf seinem Gute zu Richmond als Gärtner anstellte. – Bei diesem Namen fuhr ich zusammen; aber schon zur Vorsicht gewöhnt, verrieth ich mich nicht, sondern fragte, ob sie Miß Percy gekannt hätten. Das nicht, sagte die Frau, denn sie wären den Tag in Dienst getreten, als die Herrschaft in die Stadt zog, und wenn Miß Percy zu kurzen Besuchen hinausgekommen sey, habe sie so viele bunte und fröhliche Leute [274] um sich gehabt, daß ihr keine Zeit geblieben sey, auf armes Gesinde zu blicken. Aber an ihrem Unglück sey sie doch schuld, denn gegen das Frühjahr habe sie darauf bestanden, einige schöne ausländische Pflanzen unerläßlich an einem gewissen Tage, zur Zierde bei einem großen Fest, zur Blüthe gebracht zu sehen. Campell, der den Auftrag erhielt, besorgte sie Tag und Nacht in dem stark geheizten Wärmehaus; sie hätte mehr wie einmal gesagt, wenn er schweißtriefend von da in Hemdärmeln durch Schnee und kalten Nebel zum Essen gekommen sey: »das bringt dir den Tod, du stirbst mit den Blumen, die gegen alle Natur getrieben werden.« So war's gekommen. Sein Athem ward ihm schwer und schwerer, seine Kräfte nahmen ab, aber gearbeitet mußte werden; in dem feuchten Frühling stand er und grub an den nassen Morgen und in den kalten Abenden, und wie mein Vater ihn nicht [275] mehr lohnen konnte, ward er abgedankt, und nun lag er auf dem langsamen Todbette, auf dem es seiner selbstsüchtigen Herrschaft jetzt an Mitteln gebrach, ihm Erleichterung zu geben.

Meine Seele litt im furchtbaren Bewußtseyn veranlaßten unwiederruflichen Unglücks. Ich fragte, ob Campell einen Arzt habe. – Kopflose Frage! Einen Arzt, wo es an Mitteln fehlte, sich Nahrung zu verschaffen! »Ach«, rief Campell, »hätte ich nur Mittel, nach Schottland zurückzukehren! dort würde ich bald wieder gesund. Die Luft ist dort so rein, man athmet so leicht!« – Dahin sollt ihr gelangen, rief ich lebhaft und reichte ihm meinen Beutel, ohne zu bedenken, daß es nicht mein Eigenthum sey, was ich gab, daß ich dieses wenige Geld, wie alles, was ich genoß, meiner Freundin verdanke, die es ihrem Bedürfnisse entzog. Meine nächste Sorge war um einen Arzt. In einem nahen Kramladen bezeichnete man mir die Wohnung [276] eines Herrn Sidney, zu der ich eilte; ich fand einen wohlgebildeten, anständigen jungen Mann, der mich höflich, aber mit sichtbarer Befremdung über meine Erscheinung anhörte. Obgleich ich durch die Erzählung von Campells Schicksal schmerzlicher, wie je, an meine vergangne Thorheit erinnert war, entging mir der günstige Eindruck nicht, den meine Gestalt auf ihn machte, ich empfand eine Genugthuung, die ich mir den nächsten Augenblick als eine Sünde vorwarf und, meine Kappe tief ins Gesicht ziehend, ihn auf den Weg zu Campells Wohnung begleitete. Der Arzt untersuchte den Zustand des Kranken, und mit der bittersten Seelenpein hörte ich seine mir mit wenigen leisen Worten gegebne Erklärung, daß für ihn keine Heilung mehr möglich sey. Ich mußte an die offne Thür treten, um nicht niederzusinken unter der Last meines Bewußtseyns. »Wer ist dieser Engel?« hörte ich Herrn Sidney [277] fragen. – Engel! das leichtsinnige Geschöpf, das zur Mörderin ward! – Ich wollte hinzutreten und durch Nennung meines Namens allen den Abscheu auf mich ziehen, den ich verdiente, aber der Muth fehlte mir, und die Worte starben auf meinen Lippen. Der Zustand des Kindes war weniger hoffnungslos; zweckmäßigere Behandlung half der Natur die Heftigkeit des Uebels ertragen, seine Augen öffneten sich wieder dem Lichte, und Leben und Gesundheit wurden ihm wieder geschenkt. Die Tage seines Vaters waren aber gezählt. Wie ich nach kurzer Zeit eines Abends ihm einige Labung darreichte, sank er zurück und hauchte ohne Todeskampf seinen Geist aus. Jetzt machten mir die kleinen Kunstfertigkeiten, mit denen ich ehemals wenige müßige Augenblicke ausgefüllt hatte, wirkliche Freude. Ich verfertigte mancherlei Kleinigkeiten, deren Verkauf mir die Mittel verschafften, die Rückreise von [278] Campells Hinterlaßnen nach Schottland zu bewerkstelligen.

So schmerzvoll dieser Vorfall war, trug er doch dazu bei, mich einen trostvolleren Blick in meine Zukunft werfen zu lassen. Ich hatte die Folgen meines selbstsüchtigen Lebens gesehen, hatte aber auch das Glück genossen, einen kleinen Theil davon wieder gut zu machen. Der Werth meiner Zeit ward mir anschaulicher. Die Entwicklung meiner geringen Geschicklichkeiten wurden mir wichtig, jedes kleine Gelingen gab mir Momente von Freude, die – wie jede reine Freude – je mehr und mehr den Sinn des Dankes zu Gott anzunehmen begann.

Seit mir Herr Sidney an des armen Campells Krankenbett bekannt geworden war, hatte er sich die Erlaubniß verschafft, Miß Mortimer zu besuchen, und sein angenehmes Betragen machte ihn zum willkommnen Gaste. Bei [279] wiederholten Gesprächen zeigte sich eine Denkungsart bei ihm, welche mir bewies, daß seine Grundsätze bei aller ihrer Rechtlichkeit nicht aus den religiösen Begriffen entsproßten, in welchen ich meine Beruhigungen suchte, in denen sie aber noch nicht fest genug begründet waren, um sie ohne Bekehrungseifer behaupten zu können. Ich ließ mich in Streitigkeiten mit ihm ein, bei denen ich nicht immer der siegende, aber nie der nachgebende Theil war; Sidney blieb immer Herr seines Gleichmuths und brachte mich am meisten um den meinen durch die Herzlichkeit, mit der er mich versicherte, es sey ihm an der Form des Denkens wenig gelegen, und er würde immer ruhiger über die Möglichkeit, die seine einst für meine hinzugeben, wenn er Menschen, wie Miß Mortimer und mich von ihr ihre Tugenden ableiten sähe. Ich hielt dieses für sträfliche Gleichgültigkeit gegen religiöse Ansichten und machte Miß [280] Mortimer Vorwürfe, daß sie, welche doch gewiß die gute Sache viel besser zu vertheidigen vermöchte, an unserm Wortwechsel niemals Theil nahm. »Ich fürchte, mein kaltes Blut zu verlieren und ihr dadurch zu schaden«, antwortete sie lächelnd. – »So wünschten Sie, daß ich Ansichten, von deren Falschheit ich überzeugt bin, scheinbar gut heißen soll?« – »Gar nicht, liebe Ellen, aber sie nicht bestreiten. Uns Weibern steht es überhaupt besser an, das Christenthum durch Beispiel, als durch Wortstreit zu lehren, und einem Mann, der wie Herr Sidney als ein Christ lebt, wird Gott gewiß auch die Gnade geben, wie ein Christ zu denken – das Wie und Wenn müssen wir nicht vorwitzig erzwingen wollen.« – Wie ich etwas kühler geworden war, sah ich wohl ein, daß Miß Mortimer recht hatte, und legte mir das Gesetz auf, die Wortkriege mit Herrn Sidney zu vermeiden – und diese[281] Nachgiebigkeit bestimmte vielleicht den wackern Mann, mir ernsthafte Anträge zu machen. Eine kurze Zeit lang ließen sie mich unentschlossen. Es war ein Ausdruck einfacher Wahrheit in ihnen, die sie mir, welche den Unwerth feuriger Versicherung vor kurzem auf eine so traurige Weise erfahren hatte, empfehlen mußte. Seine Persönlichkeit, seine Sitten, sein Ruf litten keine Einwendung; ich konnte mir nicht verhehlen, daß Miß Mortimers hinfällige Gesundheit mich mit dem Verlust meiner einzigen irdischen Stütze bedrohe, und Herrn Sidneys Hand mich dann allen den Leiden entziehen würde, die ich auf mich eindringen sah; aber ich liebte nicht, und wenn diese Heirath mich vor großen Uebeln schützte, so legte sie mir auch Pflichten auf, die es mir, ohne Liebe, sehr schwer schien zu erfüllen. Meine Vernunft schalt mich, eine als flüchtig geschilderte Empfindung zur Bedingung des [282] dauerndsten Lebensverhältnisses zu machen; allein sie trat auf die Seite meines Gefühls, wie sie sich überzeugte, daß dieses nicht eitle Vorzüge, sondern eine Ueberlegenheit des Geistes und des Charakters von einem Gatten fordere, um ihm, ohne Demüthigung meiner eignen Vernunft, gehorchen zu können. So lautete wirklich das Resultat meiner ernstlichen Erwägung von Herrn Sidneys Antrag; allein ich war mir damals bewußt und sage es jetzt ohne Hehl, daß ein Brief Herrn Maitlands, den ich gerade während meiner Ueberlegung empfing, mir das eigentliche Bedürfniß meines Herzens klar machte, zugleich aber auch meine Ueberzeugung, Herrn Maitlands Herz verloren zu haben, aufs neue bestätigte. Sein Brief enthielt kein Wort, welches sein ehemaliges Geständniß berührt hätte, aber wohl männlich herzliche Theilnahme an meinem Unglück, zärtliche Sorge für meine Wohlfahrt. Er suchte mir, mit [283] einem Vertrauen in meine Kraft, das diese Kraft hob, die Pflichten und den Gewinn meiner neuen Lage darzulegen, und erinnerte mich, daß Unabhängigkeit des Einzelnen nur durch den Gebrauch eigner Kräfte auf einem sichern Grund gewonnen werden könnte.

Ich machte Miß Mortimer mit meinem Entschluß, Herrn Sidneys Hand auszuschlagen, bekannt und erhielt erst nach manchem Einwurf ihren Beifall, mit dem Zusatz, daß sie zuversichtlich hoffe, Gott werde mir einen andern Beschützer für die Zeit der Gefahr senden. – »Der muß ich selbst seyn, meine verehrte Freundin«, sagte ich, mich muthiger zeigend, wie ich war. »Herr Maitland deutet mir in seinem Brief an, was die Basis meiner Unabhängigkeit seyn soll.« – »O meine gute Ellen«, rief Miß Mortimer, indem sie mich sorgenvoll anblickte, »die Sicherheit des Lebens-Unterhalts ist es ja nicht allein, die ein weibliches [284] Wesen bedarf! Rath und Zuspruch« ... »Verzeihen Sie mir, theure Freundin«, unterbrach ich sie, »diese kann mir Herr Maitland so gut geben, wie ein Gatte, er bleibt ja nicht ewig jenseit des Meers.« – Miß Mortimer seufzte. »Ja wenn die Frau, die er wählt, Ihre Beschützerin würde!« – »Eine Frau? Liebste Miß Mortimer, warum soll er denn eine Frau wählen? Sie haben einen sonderbaren Geschmack, Heirathen zu stiften!« – »Das ist eine Mühe, die ich mir seit einigen zwanzig Jahren, freilich nur für andre, gegeben habe«, erwiederte sie mit einem gutmüthig spottenden Lächeln und veranlaßte mich dadurch zum ersten Mal, um die Erzählung ihrer frühern Lebensverhältnisse zu bitten. Meiner geliebten Freundin Andenken ist mit dem Gebet derer, denen sie wohl that, von der Erde verschwunden, es lebt nur noch in meinem Herzen, aber ihr anspruchloses Leben ist mit Herrn Maitlands [285] Jugendgeschichte verbunden, und um dieser willen weihe ich ihr dieses Blatt.

Miß Mortimer und meine Mutter hatten die Freundschaft, die sie verband, von ihren Eltern ererbt. Ihre Väter fochten einer an des andern Seite und fanden auf demselben Schlachtfelde ihren Tod. Beide Wittwen zogen sich in die Einsamkeit zurück und widmeten sich ganz den ihnen obliegenden Pflichten. Mistriß Mortimers Loos war das leichtere, denn ein kleines väterliches Erbe sicherte ihre einzige Tochter vor Abhängigkeit; dagegen Mistriß Warburton die schwere Aufgabe geworden war, einen Knaben von hohem Geist und reichen Anlagen mit der Armuth zu versöhnen, und ein zartes, schönes Mädchen durch eine zweckmäßige Erziehung gegen die rohen Ansprüche einer freudelosen Welt zu bewahren. Des jungen Warburtons Fortschritte in den Wissenschaften waren der Stolz seiner Lehrer, die Freude seiner Eltern, [286] als seines Vaters Tod ihn aller Mittel, auf diesem Wege seine Ausbildung fortzusetzen, beraubte. Mit bitterm Schmerz mußte der Jüngling eine Beschäftigung suchen, wo die Arbeit des heutigen Tages den Unterhalt des morgenden sicherte. Tief gebeugt verbarg er dennoch sein Leid, um den Kummer seiner Mutter nicht zu vergrößern; Miß Mortimer, die Gespielin seiner Kindheit, blieb seine einzige Vertraute, sie theilte seinen Schmerz. Er beweinte eine Zukunft, die er mit ihr zu theilen gehofft hatte, und sie verhehlte ihm nicht, daß mit seinem Gelingen auch ihr Glück gesichert gewesen wäre. In dem ostindischen Hause, wo er sein freudloses Tagwerk abspann, fand er jedoch einen Freund, Herrn Maitland, der, obwohl sieben Jahr jünger wie er, anfangs seine Achtung und dann seine Liebe gewann.

Maitland war damals fast noch ein Knabe, aber ein großer, kräftiger, kecker Bergschotte; [287] seine Nerven waren durch harte Leibesübungen und rauhe Witterung gestählt, seine starke Seele hatte Kraft erworben bei einer Erziehung, welche keine andre Erholung, als Wechsel der Beschäftigung zuließ. Er hatte sein Vaterland auf den Befehl seiner Eltern verlassen, um sich dem Eigensinn eines Oheims zu fügen, der ihm nur unter dieser Bedingung ein reiches Erbe versprach. Das Andenken seiner Heimath war ihm unendlich theuer, allein von seinem Vaterhause sprach er selten; schweigend und zurückhaltend, entging er dem gemeinen Spott, der sich so gern über die Anerkennung armer Verwandten ausläßt. Er hatte erfahren, wie wenig der stumpfe Sinn der Menge den Eindruck begreifen kann, den ein Lied voll Einfalt, eine alte Sage von dem Ruhm der Ahnherrn hervorbringt, nicht wie der arme Bergschotte alle Schätze der Kunst gern hingegeben hätte, um nur noch ein Mal [288] in den Abgrund zu blicken, den kein Fuß vor dem seinen zu erklimmen gewagt, noch einmal die Kühle des Thales zu athmen, wo er nach seinem ersten Jagdabenteuer geruht hatte. Genuß und Arbeit hindert die Neugier; niemand aus der geschäftigen Menge, die den Handelslehrling umgab, fragte nach dessen Jugend-Geschichte, Warburton allein wußte, daß er ein Opfer gebracht, dessen Größe gleichgültigen Menschen nicht bekannt gemacht werden durfte. Maitlands Oheim, der eine sorgfältige Erziehung hochschätzte, bestand darauf, daß sein Neffe sich streng wissenschaftlich ausbildete, und war willens, ihn im gehörigen Alter die Universität besuchen zu lassen; bis dahin machte ers ihm aber zur Pflicht, täglich einige Stunden der Erlernung seines künftigen Berufs, des Handels, zu widmen. Trotz Maitlands Jugend fand Warburton doch in ihm den Gefährten, der ihn völlig verstand; in [289] classischen Sprachen war er fast so geschickt, wie jener; besaß er mehr Einbildungskraft, so hatte Maitland mehr Schärfe des Geistes und Auffassungsgabe und ertrug mit stiller Verachtung den Spott seiner Schulgenossen über seine befremdliche Aussprache. Warburton, dessen milde Sitten den seinen ähnlicher waren, gewann seine Zuneigung, ihr Geschmack stimmte zusammen, die wenigen Stunden, die er in dem Zahlamt zubringen mußte, unterbrachen auf eine wohlthätige Weise Warburtons drückend einförmiges Tagewerk, er horchte mit Entzücken auf Maitlands Beschreibungen seines an Naturschönheiten so reichen Vaterlandes – sie wurden Freunde, und Warburton vertraute ihm endlich die Zerstörung seiner Hoffnungen und das harte Loos, seine erworbnen Kenntnisse unvervollkommnet lassen zu müssen. Maitlands stärkere Seele schlug ein Mittel gegen dieses Uebel vor: er wies seinen Freund an, [290] wie er durch anhaltendere Arbeit und strengere Sparsamkeit eine Summe sammeln könnte, die ihm das Besuchen einer Universität möglich machen würde. Von diesem Augenblick an gab er selbst ihm das Beispiel von Arbeitsamkeit und Ersparen, die er ihm anempfohlen hatte. Er brach seinem Schlaf ab, er entsagte seinen Erholungen, um für einen Buchhändler Uebersetzungen zu liefern, er scharrte alles, was er von seinem Taschengelde erübrigen konnte, wie ein Geizhals zusammen, die Einladungen seiner Gefährten lehnte er ab, ihre Anschuldigungen der Knauserei beantwortete er mit nachlässigem Lächeln; allein wie sie ihn näher kannten, waren wenige von ihnen so schlecht, über ihn scherzen, und keiner so kühn, seine Verachtung zu zeigen. – Denn schon damals flößte Maitlands ernstes, rechtliches, offnes Wesen Achtung ein. Nach einer zweijährigen Beharrlichkeit zu gleichem Zwecke stellte [291] er seinem Freund die Frucht seiner Selbstverleugnung zu und fühlte sich mehr wie belohnt, als sich Warburton nun im Stand sah, ihn nach Oxford zu begleiten.

Wenige Monate vor Warburtons Abreise nach der hohen Schule ward Herr Percy, schon damals ein sehr reicher Mann, eines Regenschauers wegen genöthigt, in einer Pfarrkirche, wo eben Morgengottesdienst gehalten wurde, Obdach zu suchen. Francis Warburton war unter den Betenden und zog durch ihre Andacht, Sittsamkeit und zarte Schönheit seine Aufmerksamkeit auf sich; er ließ sich bei ihrer Mutter einführen und machte ohne Zögerung seine Anträge. Francis erschrack vor einem Liebhaber, bei dem die dreißig Jahre, die er mehr zählte, wie sie, nicht den größten Einwurf begründeten; aber er bot die großmüthigsten Bedingungen an; die Mutter befahl nicht, überredete nicht, sie sprach nur einmal von [292] ihres Sohnes Eduard Bedrängniß: »hätte er einen Freund, der ihn unterstützte«, sagte sie, »so würde er noch der Stolz meiner alten Tage!« – »Er soll ihn haben, diesen Freund!« rief Francis mit Thränen und versprach Herrn Percy ihre Hand. – Ihr Opfer sollte vergeblich seyn. – Warburton sollte nicht der Unterstützung bedürfen, die Reichthum zu geben vermag, noch der Beförderung, die Reichthum erkauft: – seine Gesundheit, durch die angestrengte Arbeit in dem Zahlamt geschwächt, war seinem jetzt freiwilligen Streben nicht mehr gewachsen, aber unempfindlich gegen die Gefahr, verfolgte er seinen anlockenden Weg, er verwarf die Warnung der Freundschaft, die ihm die traurigen Folgen voraussagte, und eines Morgens ward er todt an seinem Schreibtisch gefunden. Ein Aufsatz, durch welchen er sich die Bahn literarischen Ruhms, bürgerlichen Glücks zu öffnen gehofft hatte, [293] lag soeben vollendet vor ihm auf dem Tisch. –

Miß Mortimer und ihre Freundin weinten zusammen, meine Mutter fand bald durch meine Geburt einen Gegenstand der Liebe, welcher die Leere, die ihres Bruders Tod in ihrem Herzen gelassen hatte, ausfüllte. Miß Mortimer erhob ihren Blick in eine beßre Welt; sie suchte hier auf Erden nie wieder ihr Glück.

Maitland, durch feste Grundsätze gesichert, brachte seine Zeit, einzig mit dem Zweck seines Aufenthalts beschäftigt, unangefochten von den Thorheiten seiner Gefährten, in Oxford zu. Nachmals besuchte er, um seine Handelskenntnisse zu vervollkommnen, die größten Handelsplätze des festen Landes, machte die persönliche Bekanntschaft der gebildetsten Männer daselbst und umfaßte in seinem Bestreben alle Zweige der Wissenschaft, welche zu dem Handelsverkehr der Völker benutzt werden können. Im [294] fünf und zwanzigsten Jahre kam er zurück, um einen Hauptantheil an einem der größten Handelshäuser in Großbritannien zu nehmen; ehe er dreißig Jahre erreicht hatte, verhalf ihm der Tod seines Oheims zu einer ehrenwerthen Unabhängigkeit, und seine Handelsgeschäfte versprachen ihm ein Vermögen, das jeden Traum von Reichthum überstieg. Aber Reichthum war nicht Maitlands Leidenschaft, der geringste Theil seines Einkommens genügte einem Mann von so einfachem Geschmack, der sich an Mäßigkeit gewöhnt hatte und seine Freuden in der Häuslichkeit suchte. Der größte Theil desselben verlief sich in vielfachen Canälen, gleich unsichtbaren Quellen, deren Daseyn sich nur durch das üppigere Grün des Bodens verräth. Wie er der Negerhandel anzugreifen beschloß, ward er einzig von der Ueberzeugung der Wahrheit und des Rechts angetrieben. Da er selbst große Besitzungen in Westindien hatte, würde ihn [295] Eigennutz zu den Gegnern dieser Unglücklichen gezogen haben. Bei seinem wissenschaftlichen Nachdenken über menschliche und Staaten-Verhältnisse hatte er diesen Menschenhandel als das schmuzigste Schandmaal des Culturzustandes, als den schnödesten Spott des Eigennutzes gegen die Grundwahrheiten des Christenthums erkannt. Wie seine Bemühungen, dem Elend einer ganzen Classe seiner Mitbrüder im Allgemeinen ein Ende zu machen, fehlschlug, begab er sich auf seine westindischen Besitzungen, um den Zustand der geringen Zahl, die er selbst besaß, zu verbessern und sich die Kenntnisse über ihre Verhältnisse zu verschaffen, die ihm, bei erneutem Kampf für ihre Rechte, Waffen in die Hand geben konnten.

So war Maitland. Gern weilte ich bei seinem Bilde; vielleicht nicht ganz ohne weibliche Eitelkeit, gewiß mit schmerzlicher Erinnerung, daß ich einst fähig seyn konnte, das Herz [296] dieses edelsten Mannes zum Spielwerk meines Uebermuths machen zu wollen, und mit noch mehr Schmerz, daß dieser Uebermuth mich seiner Achtung beraubt hatte. Obschon ich ihm auf seinen obenerwähnten Brief antwortete, zeigte er kein Verlangen, den Briefwechsel fortzusetzen, erwähnte meiner gegen Miß Mortimer nur als einer gemeinschaftlichen Freundin und sprach von seiner Rückkehr nach England als von einem noch manches Jahr hinausgeschobnen Entschluß.

Die Erfahrungen, welche meine Thorheiten mich so schnell ärnten ließen, hatten mich so weise gemacht, daß ich meine Pflicht fühlte, Herrn Sidneys Heirathsantrag, da ich ihn nicht annehmen wollte, bald und unumwunden zurückzuweisen, so daß kein Zweifel über seine Zukunft ihm blieb. Ohne einigen Streit in meinem Innern ging es nicht ab. Herr Sidney bot sich mir als ein angenehmer Gesellschafter [297] dar, an dem meine Einsamkeit keinen Ueberfluß besaß. Die Gewohnheit, einen Mann um mich zu haben, den – wohl nicht mehr meine Laune, aber doch meine Wünsche regierten, ward mir schwer. Doch ich fing an, Pflichterfüllung zur ersten Bedingung meines Friedens zu machen, und stand also nicht an, dem wackern Mann meinen Entschluß, jetzt noch nicht zu heirathen, zu erklären. Sidney war ein Mann von gesundem Verstand und festem Sinn; nach einigem Kampf mit seiner Einsicht und seiner Redlichkeit ward er, da ich ihn ernstlich überzeugte, daß er mir nicht mehr seyn könnte, mein Freund, solchergestalt, daß unser Verkehr durch die Beseitigung seiner Ansprüche nicht einmal eine Veränderung erlitt.

Das Gegentheil in Herrn Sidneys Betragen wäre mir doppelt empfindlich gewesen, weil seine ärztlichen Besuche je mehr und mehr [298] durch Miß Mortimers zunehmende Leiden zur Nothwendigkeit wurden. Der Zufall führte mich darauf, ihm einst, in Betreff eines Linderungsmittels, welches er ihr verschrieb, einige die Scheidekunst betreffende Fragen vorzulegen. Er gab mir einen Aufschluß, der meine Wißbegierde reizte; in einem gleichförmig einsamen Leben ergreift man gern jedes Mittel, die Interessen zu vermehren, ohne die Gewohnheit zu stören; und so kam es, daß ich sein Anerbieten, mir etwas Chemie zu lehren, freudig annahm. Miß Mortimer hörte ihm mit Antheil zu, wenn er neben ihrem Krankenstuhl mir die Geheimnisse der Verwandlung der Substanzen, so weit der Mensch sie der Natur abgelauscht hat, erklärte, und lächelte freundlich, wenn ich von meinen kleinen Versuchen mit verbrannten Fingern oder gefärbten Nägeln zurückkam. Mein Lehrmeister konnte mir sehr wenig Zeit widmen, er wies mich mehr an, allein nach [299] Fortschritten zu streben, und so gering deren endlicher Erfolg war, lehrte mich dieses Bestreden doch zum ersten Mal, daß der Erwerb von Kenntnissen noch andern Genuß gewähren kann, als den, damit vor Andern zu glänzen.

Mein äußres Leben verfloß bei Miß Mortimer in solcher einförmigen Ruhe, daß ein Jahr und drüber dahinging, ohne daß ich eine Begebenheit aufzuzeichnen wüßte. Mein innres Leben war nicht ohne Wandel zwischen sträubender und ergebner Trauer, je nachdem ich die Vergangenheit empfand, oder die Zukunft berechnete. Oft überwog das Ermessen von der Größe meines ehemaligen Leichtsinns und den Folgen, die er gehabt, die Hoffnung, durch regen Eifer fürs Gute den versäumten Weg zu dem erhabnen Ziel, das ich nun ins Auge gefaßt, einzuholen. Oft unterdrückte auf eine Zeit lang die Aussicht in die öde, freudlose Zukunft, die vor mir lag, in das lange Leben, [300] an dessen Anfang erst meine frühe Jugend stand, mein Vertrauen zu meinem himmlischen Vater. Wie sich aber auch mein Sinn je zuweilen trübte, so waren es dennoch nur Sommerwolken, die vor der Sonne vorüberschweben und sich endlich in milden Thränenregen auflösen – nie mehr umhüllte mich der lichtlose, lebenlose Dunstkreis der herzlosen Thorheit, noch der furchtbar finstere Sturm, aus dessen Wüthen mich meine fromme Freundin gerettet.

Doch eben von ihr sollte die nächste Fluth des Schmerzens über mich einbrechen. So unerfahren ich in der Krankenpflege war, konnte es mir doch nicht entgehen, daß Miß Mortimers Gesundheitszustand sich verschlimmerte, und zugleich stieg der Verdacht in mir auf, daß sie durch Geldbedürfniß zu einer zunehmenden Sparsamkeit verbunden sey. Ich bemerkte, daß sie sich, unter dem Vorwand, kein Gefallen daran zu finden, manche Erquickung, die der [301] Arzt ihr vorschlug, versagte, und bald überzeugte mich ein Zufall von der Wahrheit meines traurigen Verdachts. An einem Tage, wo sie besonders leidend war, kam ihr Anwalt, um mit ihr zu sprechen; unfähig, seinen Besuch anzunehmen, bat sie mich, ihn zu verabschieden, und er hatte die Unvorsichtigkeit, mir, die er unterrichtet von ihren Angelegenheiten glaubte, einen Auftrag an sie zu geben, der mir verrieth, daß ihr ganzes kleines Vermögen durch meines Vaters Untergang verschlungen worden war. Bei dieser Nachricht glaubte ich vor Schmerz zu erliegen. – In dem Zeitpunct, wo sie sich der Mittel ihres Lebens-Unterhalts durch meinen Vater beraubt sah, hatte sie ihre wenige Baarschaft aufgewendet, um mich in meinem Elende aufzusuchen, hatte meine Zurückweisung ertragen, hatte mich gerettet und nun über ein Jahr vor mir ihre Armuth verborgen, hatte sich das Nöthige entzogen, um [302] mir einen Theil meiner verweichlichten Bedürfnisse zu verschaffen. Für meine Empfindung gibt es keine Worte, so wie damals es keinen Zügel für sie gab. Mit einer verzehrenden Gluth des Schmerzens in meiner Brust – wirklich dem körperlichen Gefühl nach verzehrend – eilte ich zu meiner Freundin; und wie sehr ich die Nothwendigkeit einsah, ihr keine Heftigkeit zu zeigen, so bat ich sie doch mit einem Strom von Thränen, mir einen Weg suchen zu helfen, auf dem mein Unterhalt ihr nicht mehr zur Last fiel. Mit Fassung und Engelmilde verweigerte sie meine Bitte: »Ich kann Sie nicht entbehren, meine gütige Ellen«, sagte sie, »man verbirgt mir nicht, daß ich Ihnen in wenigen Monaten Ihre Freiheit zurückgeben muß, aber bis dahin, Ellen, bis dahin verlassen Sie mich nicht! Lassen Sie mich nicht allein sterben!« Das war das erste Mal, daß der schreckliche Zeitpunct, den ich mir wohl [303] zuweilen als endlich erfolgend gedacht hatte, mir so nahe, so unausweichbar gewiß vor das Auge gerückt wurde. Mit Mühe konnte ich der Verzweiflung widerstehen. In mein Zimmer verschlossen, betete ich nicht, ach, ich bat nur um die Kraft, beten zu können, um die Weisheit, nicht in Aufruhr gegen Gottes Rathschluß zu gerathen; und nur allmählig besänftigte sich mein Gefühl so weit, daß der feste Wille, Gott zu vertrauen, wieder die Oberhand erhielt. Ich fühlte die Nothwendigkeit, durch irgend einen Erwerb Miß Mortimer aller Ausgaben für mich zu entheben, auf das quälendste, aber bei dem besten Willen standen mir überall meine fehlerhaften Gewohnheiten im Wege. Ich hatte mancherlei Modearbeiten gelernt, allein solche Bestrebungen hatten mehr das Vorzeigen im Gesellschaftskreis als ihre Vollendung zum Zweck. Eine Geschicktere, wie ich, ließ sich bezahlen, um mir eine Stickerei, [304] eine Nadelarbeit anderer Art in Gang zu bringen, ich setzte sie mit einem glücklichen, mir angebornen Geschick fort, und nach wenigen Tagen mußte jene, wenn deren Gebrauch eine Bestimmung hatte, sie vollenden, oder sie ward in ein Schubfach gesteckt und nie wieder berührt. Die Mühseligkeit des Anfangs, die Anstrengung der Fortsetzung, die Beharrlichkeit zur Vollendung waren mir sehr ungewohnt; ich arbeitete mit glühendem Gesicht, ich erweckte mich durch den Gedanken an meine leidende Freundin zehnmal aus einer Träumerei, während der meine Nadel ruhte, oder scheuchte mich durch diese Erinnerung vom Fenster zurück, wohin eine Blumenranke, ein Schmetterling mich gelockt und meines Fleißes vergessen gemacht hatte. Und wenn es mir gelungen war, eine kleine Summe zu erwerben, so verschlang sie das, was ich für mein persönliches Bedürfniß hielt. Ach, der in[305] Ueppigkeit Erzogne hat den Maasstab für das Nothwendige verloren! Ich besaß mehr, wie die mehrsten meiner Schwestern, und glaubte, weil ich allem Schmuck, aller Verzierung entsagt hatte, meine Bedürfnisse aufs strengste vereinfacht zu haben. War nun meine Kleidung bestritten, so blieb mir kaum eine Kleinigkeit, um sie für meine geliebte Kranke zu verwenden. Bei dem innigen Wunsche, mehr für sie thun zu können, hielt ich meine Augen mehr wie einmal auf den lieben Ring, das einzige Andenken meiner Mutter, geheftet. Wenn ich diesen verkaufte, dachte ich dabei, könnte ich lange, lange kleine Zuschüsse in Miß Mortimers Haushalt geben, denn ich glaubte ihn von ansehnlichem Werth; allein jedes Mal widersetzte sich mein Herz, ich sagte mir selbst, so ein theures Andenken müßte nur der dringendsten Nothwendigkeit aufgeopfert werden, und diese führte endlich ein nichtsbedeutender [306] Umstand herbei. Eines Tages, wie meine Freundin matt am offnen Fenster saß, trat eine Frau mit einem Korb des schönsten Obstes davor, den sie von der Straße herein darbot. Miß Mortimer, welcher der Arzt dessen Genuß vorgeschrieben hatte, schien mit einiger Sehnsucht nach den einladenden Früchten zu sehen, verweigerte aber davon zu kaufen. Schnell eilte ich zu der Obsthändlerin, suchte die schönsten Früchte aus ihrem Korb, verwendete den ganzen Erwerb daran, der mir für einen gemalten Lichtschirm geworden, und häufte meinen Schatz mit kindischer Freude vor der theuren Freundin auf. Meine Thränen flossen vor Freude, einzeln rollten ein paar Tropfen über Miß Mortimers bleiche Wangen, mit einem unbeschreiblichen, liebevollen, wehmüthigen Lächeln, das mir deutlich verkündete, sie wolle mir nicht meine Freude verderben, nahm sie einen Pfirsich, [307] und wie ihre lieben, schwachen Hände ihn hielten, sagte ihr gen Himmel gerichteter Blick, daß sie Gott danke, der seinen Menschen solche Labsale geschaffen. In diesem Vorfall schien mir die dringende Nothwendigkeit, welche den Verkauf meines Ringes bestimmen sollte, erschienen; ich eilte in der nächsten Stunde nach London, um mein Kleinod einem Juwelenhändler zu überlassen.

[308]

[1] Zweiter Theil

Ungewohnt, in einem öffentlichen Fuhrwerk zu reisen, war ich anfangs, wie ich mich mit ein paar fremden Menschen in dem Wagen eingeschlossen sah, über meine Keckheit erschrocken. Ich zog meinen Hut in's Gesicht, drückte mich, als würde mich das ihrem Blicke entziehen, in die Kutschenecke hinein und wagte kaum zu athmen. Bald gewahrte ich, daß sie mich gar nicht beachteten; der kleine Weg ward ohne Störung fortgesetzt, so daß ich nicht mehr die Ueberfahrt, aber die Ankunft in London fürchtete. [1] Die erstere hatte Miß Mortimers Barbara bei meinem Einsteigen bezahlt, indeß ich, gedankenlos für alles außer dem Zweck meiner Reise, mich so wenig mit Gelde versehen hatte, daß es mir beim Aussteigen an Mitteln fehlte, einen Miethwagen zu nehmen. Die Noth zwang mich, den Laden des Kaufmanns, mit dem ich meinen Handel machen wollte, zu Fuße aufzusuchen; und jetzt in einer der volkreichsten Straßen von London war ich nun wirklich den neugierigen Blicken, den kecken Anreden einiger Männer ausgesetzt und gerieth darüber so außer mir, daß ich, wie ich den Laden erreichte, gar nicht wahrnahm wie ein Wagen mit der du Burgh'schen Livree vor ihm hielt. Er war voll geputzter vornehmer Leute, aber nur Eine Gestalt zog meine Augen an – meine herzlose Freundin. – Ich wollte fliehen, mir war's, als sähe ich eine Schlange, im Begriff, nach meinem Herzen zu schießen, aber meine [2] Kräfte versagten mir, ich ward so sichtlich ergriffen, daß ein Ladenmädchen mir schleunig einen Stuhl bot. Julie erblickte mich gleichfalls, ihr Gesicht glühte, sie wendete es ab – da erwachte mein Stolz, ich gebot meinen zitternden Knieen und trat zu dem Kaufmann, um meinen Handel zu schließen. Zu meinem schmerzlichen Erstaunen erfuhr ich von ihm, wie kindisch ich meinen Ring nach dem Werth, den mein Herz ihm beilegte, geschätzt hatte. Er bot mir fünfundzwanzig Pfund, indeß ich auf die vierfache Summe gerechnet hatte; wohl versuchte ich einige Einwendungen, aber ich wußte aus meinen ehemaligen Besuchen in solchen Läden, daß darin kein Feilschen stattfindet; kummervoll wartete ich auf meine Kaufsumme, als ich auch Lady Marie wahrnahm, die mit Miß Arnold, welche noch immer ihr Gesicht von mir abwendete, gesprochen hatte und sich jetzt, unter dem Vorwand, den Kaufmann [3] zu sprechen, mit kalter Neugier zu mir herandrängte. Ihr Benehmen war so gefühllos, daß es ihr einen Anstrich von Gemeinheit gab, die mir meine sittliche Ueberlegenheit plötzlich fühlbar machte; ich trat zurück und sagte verächtlich zu dem Kaufmann: »Thun Sie die Geschäfte der Dame ab, wenn sie deren wirklich hat, ich will warten.« Lady Maria, die meine scharfe Zunge noch von der Pension her kannte, zog sich mit einem hochmüthigen Kopfaufwerfen zurück, ich erhielt nach langem Warten meine Auszahlung und wollte forteilen, als Miß Arnold die Unverschämtheit hatte, zu mir zu treten. Leider war die Zornesgluth, die mich, nun der Schmerz überwunden war, übermannte, nicht die Gemüthsstimmung, welche mir meine letzte Vergangenheit hätte lehren sollen. In den ruhigen Tagen des Lebens gelingt es uns leicht, unser Selbstbewußtseyn rein zu erhalten, aber nicht weil wir stark, sondern[4] weil die Versuchung schwach ist. Ich erfuhr jetzt, wie viel mir noch fehlte, um das Gebot »segnet eure Feinde« erfüllen zu können. Ich beantwortete Miß Arnolds ungeschickte Entschuldigung, »daß sie mich nicht gleich erkannt habe«, mit kaum erhaltner Fassung, und auf ihre Anerbietung, mich nach Haus zu begleiten, wo sie mir Vielerlei erzählen könne, indeß Lady Maria und Lord Glendower ihren Hochzeitputz einkauften, mit schneidender Kälte, wobei ich ihr andeutete: ich wohne bei Miß Mortimer, wo sie und Lady Marie, wenn es ihrem guten Rufe nicht Schaden brächte, eine Entlaufene zu besuchen, mich auffinden könnten. Hiemit wendete ich ihr den Rücken zu, eilte aus dem Laden und ließ mich von dem ersten Miethwagen, den ich erblickte, nach Hause bringen.

Unzufrieden mit mir selbst und schüchtern über den Werth meiner Fortschritte im Guten [5] brachte ich die nächsten Tage zu. Fast hätte ich gewünscht, den beiden Damen, die eine so beschämende Herrschaft über meinen bessern Willen geübt hatten, recht bald wieder zu begegnen, um mich würdiger zu betragen. Diese Gelegenheit zeigte sich mir nicht, denn von dieser Zeit an blieb mir keine Freiheit mehr, Miß Mortimers Krankenbett zu verlassen. Vier Monate lang kämpfte sie mit der Ergebung einer Heiligen gegen die schmerzlichste Zerstörung. Wie oft, unfähig, ohne fremde Hülfe ihrem Haupt eine andre Lage zu geben, dankte sie Gott mit leuchtenden Augen für das Glück, von mir, von ihrer Ellen, diesen Dienst zu empfangen! Wie oft, wenn ich ihr den Angstschweiß von der Stirn trocknete, flog ein sanftes Lächeln über ihre blassen Lippen, die sie, jeden Laut des Schmerzens sich versagend, krampfhaft verschlossen hielt! Schüchtern und schwach, wie die Natur sie bildete, war diese[6] Standhaftigkeit nicht die Folge von leichtem Ertragen des Uebels, sondern des frommen Zutrauens, daß Gott ihr helfen werde, wo ihr Kraft gebräche; und in diesem Zutrauen bleibt unsre Kraft auch unerschöpflich. Sie sah den Tod als Siegerin, nicht als Besiegte herannahen, und die Heiterkeit, die während ihres Lebens liebenswürdig war, machte sie im Sterben erhaben.

Endlich kam der große Augenblick ihrer Befreiung herbei. Ihre Erziehung für ein höheres Daseyn war vollendet, die Rückkehr in das Haus ihres Vaters ward ihr eröffnet. Eines Morgens, nachdem ich nach mancher ganz durchwachten Nacht einige Stunden geschlafen hatte, eilte ich zu ihr und fand sie von Schmerzen befreit. Unwissend über den Ausgang ihres Uebels, glaubte ich thörichterweise, daß die Krisis ihrer Krankheit nun überstanden sey, blickte vorwärts in Jahre einer heitern Zukunft [7] und theilte ihr meine kindischen Hoffnungen mit. Sie war nicht gegen ihre Lage verblendet: »Theures Kind«, sagte sie, »warum willst Du mir ein Leben wünschen, das mir nur Schmerz bietet? Bete doch vielmehr, daß mein Tod Dir zum Vortheil gereiche! Betest Du nicht jeden Morgen: der heutige Tag möge Dir gesegnet seyn?« – Ich hatte mir wohl die Unvermeidlichkeit der mir jetzt so nahen, unvermeidlichen Trennung gedacht; aber heute, an dem nun eingetretnen Tage, zwischen dem kein Raum, kein Aufschub mehr war! – Der Schmerz überwältigte mich, ich warf mich in unaussprechlichem Jammer an der Sterbenden Lager auf meine Kniee. »Ellen, mein Kind«, nahm sie wieder sanft tröstend das Wort, und ihre matte Hand suchte mein Haupt aus seiner Verhüllung aufzurichten, »halte meinen fesselentbundnen Geist nicht durch Deine Klagen an der Erde zurück! Könnte mein leidenvolles [8] Daseyn Dir helfen, so hätte ich meinen Gott um dessen Verlängerung gebeten; aber Du brauchst mich nicht mehr. Ich habe es wahrgenommen, meine Ellen, Du hast das Eine, das Noth thut, gefunden, nun bedarfst Du meiner gebrechlichen Stütze nicht mehr. Wenn ein ganzer Himmel voll Glanzes Dir aufgeht, willst Du verzweifeln, wenn ein schwacher, dunkler Strahl Dir verschwindet?«

Der Arzt, den ich schnell berufen ließ, kam nur, um ihre Erwartung zu bekräftigen. Sie sollte die Sonne nicht wieder aufgehen sehen. Sie bot Jedem, der mit ihrer Pflege beschäftigt gewesen war, ein heitres, liebevolles Lebewohl, gab Jedem ein Andenken und schickte Alle von sich fort, nur ich und ihre alte Barbara blieben bei ihr. – »Ich habe sie auf meinen Armen gehalten, da sie an's Licht trat«, sagte diese gottergebne Greisin, »ich war Zeuge ihres Lebens vor dem Herrn; es ist hart, daß ich ihr [9] Grab erblicken muß und dann allein sterben – aber Sein Wille geschehe!«

Der Pfarrer des Kirchspiels, wohin ihre Hütte gehörte, kam auf ihre Bitte, mit ihr zu beten. »Sehen Sie, meine Ellen«, sagte sie, wie der würdige Mann sich eine Zeit lang entfernte, »das ist das Göttliche unsrer Religion – sie gibt, wie die Sonne jeder Pflanze die Wärme, die sie ihrer Natur nach gebraucht, so jedem Menschen, der es treu mit ihr meint, die Art Trost, die er nach seiner Eigenthümlichkeit bedarf. Der starke Geist im gesunden Körper betet, wie es ihm Noth thut, und der schwache, wie es ihn tröstet, ich endlich, deren Leben halb schon entflohen ist – ich sammle meine schwindenden Gedanken in den frommen Worten dieses ehrwürdigen Mannes. – Ellen, es ist, wie wenn ich mich eines schönes Liedes leichter erinnerte, wenn Ihre liebe Hand die Melodie auf der Harfe spielte.« – O du [10] Engelmilde, die auch im Tod noch bedacht war, die erhabne Frömmigkeit ihrer Seele, um meiner Schwäche willen, menschlich zu schildern!

Nachdem sie gegen den Abend lange in Mattigkeit gelegen, bat sie mich, ihr Popens Sterbelied eines Christen herzusagen. Ich kniete an ihrem Bett und that es. Sie schien die Worte im Innern nachzusprechen, ich blickte sie noch einmal an, ihr Auge glänzte wie eines Ueberwinders Blick, meine Stimme brach, und wie eine Trostlose schluchzte ich: O Tod, wo ist dein Sieg! und verhüllte mein Gesicht auf ihrem Deckbett. Sie legte ihre Hand auf mein Haupt, die Hand ward schwerer und schwerer, sie sank herab auf meine Schulter, ich blickte auf, und sie lag wie eine Schlafende – denn des Gerechten Tod gleicht dem Schlafe.

Kein Mann, auch der zartfühlendste nicht, kann den Schmerz ermessen, der mich niederdrückte, wie ich meiner einzigen Freundin, meiner [11] einzigen irdischen Stütze den letzten Dienst erwiesen, und ich nun den geliebten Leichnam von Miethlingshänden in den Sarg einsperren sah, wie ich endlich von der Grabstätte zurückkehrte und gezwungen war, die Leute aus dem Zimmer, wo sie lebte, die letzten Spuren ihres Daseyns forträumen, fortputzen, vertilgen zu sehen. Männer mögen unendlich tief den Schmerz fühlen, aber sie verlieren in ihrem Liebsten nie ihre Sicherheit, ihre Stütze – ja sich selbst – sie können hinausstürzen in die öde Welt und im Gedränge des Lebens, der Gefahr ihrem Daseyn einen Werth beilegen – das Weib muß hülflos an dem Platz stehen bleiben, wo ihr Lebensglück von ihr schied, muß in dem Moment, wo sie die Natur den Schrei des Schmerzens auszustoßen treibt, durch die Formen des Anstands sich von einer kalten Außenwelt die Vergünstigung, leise weinen zu dürfen, gewinnen.

[12] Wenige Tage nach Miß Mortimers Hinscheiden langte ihr natürlicher Erbe an und eilte durch Eröffnung ihres letzten Willens den Bestand ihrer Hinterlassenschaft zu erfahren. Sie befriedigte ihn sehr wenig, und diese Fehlschlagung erbitterte ihn vielleicht dergestalt, daß er der Verewigten später eigenhändig hinzugefügtem, aber nicht gerichtlich besiegeltem Befehl: der alten Barbara und mir den Genuß ihrer Wohnung, so lange es uns gut dünkte, zu gewähren, keine Folge leistete. Er erklärte mir ohne Rückhalt, daß er keine Verbindlichkeit hätte, diese Clausel zu achten, weshalb ich ihm einen Miethzins zu entrichten oder mir eine andre Wohnung zu suchen habe. Nach dieser Erklärung brannte mir der Boden unter den Füßen – allein wohin sollte ich gehen? Die Verwandten meines Vaters waren mir stets fremd geblieben, die meiner Mutter waren mir während meines Pensionsaufenthalts fremd geworden, [13] und späterhin hatte ich sie mit leichtsinnigem Hochmuth von mir entfernt; in dem glänzenden Zirkel, in welchem ich mich im Taumel der Eitelkeit bewegt hatte, war Keiner, nicht Einer, der, wie des Unglücks Wogen mich verschlangen, nach mir gefragt hätte, und Keiner, dem ich jetzt zutraute, daß er mir Rath und Beistand schenken würde. Wie ärmlich der Ertrag weiblicher Arbeiten sey, hatte ich schon erfahren; der einzige Weg, mir ein Unterkommen zu schaffen, schien mir eine Stelle als Erzieherin zu seyn. An den Kenntnissen, die ein reiches Mädchen braucht, fehlte es mir nicht: einige Sprachfertigkeit, zierliche Arbeiten des Luxus und der Fantasie, Musik, gründlicher und ausgebildeter, als man sie gewöhnlich antrifft, das waren meine Mittel des Unterrichts; aber welches waren die der Erziehung? – Ich wollte erziehen, die kaum den natürlichen Jahren der Kindheit entwachsen, [14] nur eben Zeit gehabt hatte, zu erfahren, daß es mir selbst an Erziehung gefehlt habe? – Allein diese Erfahrung war ja vielleicht ein Mittel, Andre erziehen zu können, und Gebet und fester Wille sollten das Uebrige ersetzen. Nur nicht in London, nicht auf dem Schauplatz meines schnell verschwundnen Glanzes wollte ich in so verschiedner Gestalt auftreten; mir diese Prüfung ohne die dringendste Noth aufzulegen, schien sogar einer geziemenden Würde im Unglück nicht angemessen, und mein inneres Gefühl hieß diesen Widerwillen gut. Sobald mein Entschluß gefaßt war, eröffnete ich dem Geistlichen, welcher mit meiner sterbenden Freundin gebetet hatte, die Bedrängniß meiner Lage und meinen Wunsch, sie auf dem erwähnten Weg zu verbessern. Er ging mit warmer Theilnahme in meine Verhältnisse ein, erbot sich sogleich, an eine seiner verheiratheten Schwestern im fernen Norden des Reichs zu schreiben, [15] und lud mich ein, bis ich ein anständiges Unterkommen gefunden, in dem Schoos seiner Familie zu verweilen.

Ein sehr unerwarteter Vorfall sicherte mich, bei meiner gänzlichen Verarmung, in diesem Zeitpunct vor völliger Entblösung von Geld. Unter den Papieren meiner verewigten Freundin fand sich ein an mich überschriebner versiegelter Brief, er enthielt eine Banknote von dreihundert Pfund und im Umschlag folgende Worte:

»Meine theure Ellen, brauchen Sie die beiliegende Summe ohne Bedenken und ohne Nachfrage! Sie gehört Ihnen, ich hatte nie Ansprüche darauf, sie kam in einer sehr traurigen Stunde in meine Hand, aber aus Furcht, Sie möchten an die Sterbende nutzlos verschwenden, was der Ueberlebenden einst Noth thun könnte, richtete ich es so ein, daß sie Ihnen erst, wenn alles vorüber ist, übergeben werden kann. Elisabeth Mortimer.«

[16] Ich muthmaßte sogleich, daß diese Summe von Herrn Maitland herkommen müßte, und fast überzeugt, daß er jetzt gar keinen andern Antheil mehr an mir nehme, als den Mitleid mit einer Unglücklichen einflößt, konnte mir diese Gabe nur als eine Wohlthat erscheinen. Es war mir zu schwer, so unweigerlich Almosen zu empfangen, wenn gleich mein beßrer Sinn meinem Stolze sagen wollte, daß solche aus der geehrtesten Hand am wenigsten verwunden sollten. In der Hoffnung, daß sich unter Miß Mortimers Papieren eins finden möchte, das mir über Herrn Maitlands Denkart in Absicht auf mich irgend eine Spur geben könnte, bat ich den Erben der Verewigten, mir diese durchsehen zu lassen. – Er vergönnte es mir gern, aber meine Hoffnung ward betrogen. Eine Menge Briefe von Herrn Maitland erwähnten meiner nie anders, als im Ton gewöhnlicher Höflichkeit, nur in dem [17] Fragment von einem, zur Hälfte abgerißnen, der wahrscheinlich durch ein Versehen von meiner Freundin nicht ganz vertilgt worden war, fand ich folgende Zeilen:

»Ich will mich durch Ihre Beschreibung von Ihrer jungen Freundin Vervollkommnung nicht blenden lassen. Indem Sie ihre vortheilhafte Entwicklung schildern, haben Sie sie vor Augen in den Reizen geistigen Ausdrucks, in den schönsten Gesichtszügen. Ich weiß wohl, wie das kindliche Lächeln ihres Mundes, der helle Blick unter ihren seidnen Wimpern heraus das Herz besticht. Daß ich mich dessen noch erinnre, nachdem meine Vernunft ihre Herrschaft wiedergewann, beweist ja die mächtige Wirkung dieser holdseligen Gestalt. Ellen hat warme Leidenschaften, eine lebhafte Einbildungskraft, ihr Unglück hat sie heftig erschüttern müssen; aber das bringt noch keine Gemüthsveränderung hervor. Was unserm ganzen [18] Leben zur Richtschnur dienen soll, muß nicht auf Kräften beruhen, welche äußre Begebenheiten steigern und mindern können. Ellens guter Verstand muß mit ihrem tiefen Gefühl übereinstimmend erkannt haben, daß ihr ganzes irdisches Daseyn zu einem himmlischen führe, und daher kein Moment desselben bedeutungslos, keine Handlung gleichgültig sey. Nur dann ist sie sicher – nach menschlichen Kräften – im Wirken für Andre ihre Bestimmung und ihr wahres Leben zu finden. – Denn das, verehrte Freundin, ist doch Religion? die Religion, die in jeder äußern Form unsere Wohlfahrt sichert. Doch das darf ich Ihnen nicht erst sagen, und gibt es eine Lage, welche Ihrer jungen Freundin zu dieser wahren Religion zu verhelfen vermag, so ist es das Beisammenseyn mit Ihnen, Ihr Beispiel, das Zeugniß, das Ihr Leben von der Wahrheit Ihrer Frömmigkeit ablegt. Sie sehen wohl, daß ich sehr fest entschlossen [19] bin, weise zu bleiben, da ich mich trotz dem Zauber der Liebenswürdigkeit, der Ihre Freundin umstrahlt, über ihre Mängel selbst durch Ihre Lobreden nicht verblenden lasse.

Die Ausführung meiner gegenwärtigen Plane wird mich noch Jahre lang von Großbritannien fern halten; sonst könnte ich hoffen, ganz von dem Joche befreit, welches Miß Percy fast gelungen wäre mir aufzulegen, für ihr Glück wachen, zu ihrer Entwicklung beitragen zu können – ich hatte einigen Einfluß auf sie. Wäre es einem vernünftigen Wesen geziemend, sich mit Träumen zu beschäftigen, ich könnte träumen ...«

Hier war das Blatt abgerissen, und meine Einbildungskraft konnte sich von der möglichen Vollendung dieses Redesatzes nicht losreißen. – Dieses Bruchstück überzeugte mich nur von dem, was ich zu meiner schmerzlichen Beschämung je länger je mehr einsah: daß ich Maitlands ganze [20] Liebe besessen und durch meine Thorheit beharrlich an ihrer Zerstörung gearbeitet hatte, und daß sie endlich an dem tödtlichsten Gifte – von Schaamröthe glühend, konnte ich es nicht ausdenken – an Verachtung meiner Handlungsweise erstorben war. – Tief betrübt hatte mich dieser Brief wohl gemacht, aber den Muth benahm mir meine Betrübniß nicht. Ein schwacher Strahl des Lichts, welches Maitland allein Religion nennen wollte, war in meiner Seele entglommen, und es gab Augenblicke, wo das Andenken an ihn sich mit dem an meine verklärte Freundin solchergestalt verschmolz, daß mein Schmerz um ihn, aller Thorheit entwunden, nicht mehr ein irdischer Schmerz war.

Woher die Banknote kam, blieb mir also ein Geheimniß, und wie sicher es mir schien, daß ich sie Herrn Maitlands Fürsorge verdankte, verbot mir doch meine weibliche Würde, sie ihm zurückzusenden, da ich, ohne allen [21] Beweis für meine Voraussetzung, hätte aussehen können, als suche ich ein Verhältniß, das er offenbar nicht aufrecht erhalten wollte, wieder anzuknüpfen. Ich sah deshalb diese Summe als mein Eigenthum an, und der erste Gebrauch, den ich von ihr machte, befreite mich von einer Schuld, die, wäre mir auch das günstigste Schicksal zu Theil geworden, zuerst getilgt werden mußte, um mir Seelenruhe zu geben. Jener beschämende Vorschuß, den mir Lord Friedrich in den Tagen meiner Thorheit gemacht, und den zu tilgen, ich bisher kein Mittel vor mir gesehen hatte, wurde unverzüglich zurückgezahlt; was mir übrig blieb, mußte ich mit der treuen alten Barbara theilen, die durch die Härte von Miß Mortimers Erben nach einem Leben, das sie ganz dem Dienst ihrer Herrschaft geweiht, sich ohne Unterstützung befand. Nachdem ich das kleine Denkmal bezahlt hatte, mit dem ich Miß [22] Mortimers Ruhestätte bezeichnen ließ, und mir noch einige nothwendige Kleidungsstücke gekauft, verließ ich mit dreißig Guineen, als einziger Habe, die geliebte Hütte, wo ich aus dem Abgrund der Verzweiflung zum Vertrauen auf einen himmlischen Vater wiedergeboren ward, dessen Leitung auf dem finstern Pfade, den ich vor mir sah, ich mich, wenn nicht mit immer gleicher Heiterkeit, doch mit festem Vertrauen übergab.

Es war ein stürmischer Winterabend, an dem ich meinen stillen Schutzort verließ; ich hatte jeden Platz des Hauses, der mir meiner Freundin Gegenwart zurückrief, noch einmal besucht, hatte den Lehnsessel, wo sie, wenn ihre Krankheit sie in dem Zimmer festhielt, vom Fenster aus die Gegend und die untergehende Sonne betrachtete, gegenüber gesessen und mir die Worte voll frommen Sinns, die sie dann sagte, wiederholt; ich hatte vor ihrem Sterbelager [23] kniend gebetet, und die Fülle der Wehmuth hatte mich zu einer Ergebung gestimmt, die mich bei dem Abschied von der gastfreundlichen Hütte aufrecht erhielt. Bei dem Vorübergehen vor dem Gottesacker kehrte ich daselbst ein, um den einfachen Stein zu besehen, der seit meinem letzten Besuche daselbst auf meiner Verewigten Grabhügel aufgestellt ward. Ich fand ihn, wie ich gewünscht, einzig bestimmt, mir und spätern Verehrern ihres Andenkens nach mir den Rasen anzuzeigen, der sie deckte. Diese letzte Liebespflicht schien mir das Siegel der Unwiederruflichkeit auf ihren Verlust zu drücken, so daß ich, wie sich die Kirchhofsthür hinter mir schloß, noch einmal und bittrer den Schmerz empfand, der bei dem Getöse der ersten Erdschollen, die auf Miß Mortimers Sarg herabrollten, mich zerrissen hatte. Es war schon ziemlich dunkel, wie ich den Pfarrhof erreichte. Mein schüchternes[24] Klopfen ward nicht gleich gehört, dennoch erwartete man mich in dieser Stunde, und der Gedemüthigte ist sich so lebendig bewußt, wie ihm neue Verletzung erspart werden könnte. Mein Entschluß, bei dem Eintritt in meine neue Freistätte den ersten Eindruck nicht über mich entscheiden zu lassen, wurde wankend, und statt mein Klopfen zu wiederholen, lehnte ich meinen Kopf weinend an diese Thür, die einzige auf Erden, die mir Aufnahme versprochen, und an die ich nun vergeblich geklopft hatte. Die Ankunft des Geistlichen endigte dieses schwächliche Hingegebenseyn in die Nebenumstände eines harten Looses, welches ich, im Ganzen, muthig übernommen hatte. Er klopfte heftig an, indem er mich um Verzeihung bat, durch unerläßliche Amtsverrichtungen, mich persönlich in sein Haus abzuholen, verhindert gewesen zu seyn. Auch auf sein Klopfen ward die Thür nicht sogleich geöffnet, doch man sah [25] Lichter durch die Zimmer tragen, hörte Thüren schlagen, Treppen auf- und ablaufen, endlich ging die Thür auf, und eine Magd, athemlos vor Eile, leuchtete uns die Treppe hinauf. »Ich hoffe, liebe Miß«, sagte der Geistliche im Hinaufsteigen, »Sie sollen sich, sobald meine gute Frau ihre Geschäfte alle abgethan hat, einheimisch bei uns fühlen.« – Diese Bedingung schreckte mich auf; »es würde mir sehr leid thun, wenn Frau *** durch meine Gegenwart belästigt würde«, erwiederte ich bestürzt. – »Wenn das nur möglich seyn könnte, dann wäre sie recht in ihrem Element!« rief mein neuer Wirth mit etwas erzwungner Heiterkeit und öffnete die Thür des Vorzimmers. Ich nahm in dem Augenblicke wahr, wie die Hausfrau von einem Stuhl herabstieg, von dem aus sie eine von der Decke herabhängende Lampe angezündet hatte, sie band schnell eine farbige Schürze ab, warf sie in einen Winkel [26] und kam mit einem Schwall von Worten, die mich zu bewillkommnen gemeint waren, auf mich zu. Man hatte einmal in meiner Gegenwart gesagt, die Pfarrerin sey eine gebildete Frau, und diese Eigenschaft hatte vorzüglich meinen Widerwillen, die Wohlthat ihres Gatten anzunehmen, vermindert. Unsre Eitelkeit sucht sich bei der vollständigsten Ergebung doch noch eine Befriedigung vorzubehalten; indem ich willig den Vorzügen entsagte, die mir das Schicksal entrissen, glaubte ich bei einer Frau von Bildung Anklänge gleicher Empfindungen mit den meinen hoffen zu können. Dieser Empfang schien meinen Hoffnungen wenig zu entsprechen. Mich mit lauter Entschuldigungen über die Einfachheit ihrer Bewirthung und Voraussetzung der Fülle, welche ich so eben verlassen habe, demüthigend, geleitete sie mich in das Gesellschaftszimmer und drückte mich durch die Unfeinheit, mit der sie ihren Mann, mir den ersten [27] Platz anzuweisen, erinnerte, zu Boden. Ich hielt es für meine Pflicht, ein Gespräch mit ihr zu beginnen, allein ihre gespannte Aufmerksamkeit auf jedes Geräusch, das aus der nahen Küche zu uns hertönte, machte sie dazu ganz unfähig, sie wendete den Kopf mit dem Ausdruck der größten Ungeduld auf die Seite der Thür, rückte auf ihrem Stuhl hin und her, bis ein Scherbengeklingel von zerbrochnem Porzelan ihr die Fassung entriß, und sie, die Hände über dem Kopf zusammenschlagend, aus dem Zimmer lief. Der Pfarrer war diese Auftritte wahrscheinlich gewohnt, oder wollte durch seine Ruhe das durch seine Frau gestörte Gleichgewicht wieder herstellen; er rückte, ohne sich stören zu lassen, seinen Stuhl näher zu mir und begann von einer neuen Flugschrift zu sprechen. Doch da war's eine Kunst, den Faden des Gesprächs festzuhalten, indeß in der anstoßenden Küche Zank, Scheltworte und Befehle abwechselten; [28] endlich aber griff ein unverkennbarer Ton und das darauf entstehende Geheul des Hundes des guten Pfarrers Herz an seiner empfindlichen Stelle an, er ward feuerroth, sprang auf, machte drei rasche Schritte und kehrte dann mit dem fragmentarischen Selbstgespräch: ein Glück, daß die Kinder alle zu Bett sind! sein Gespräch wieder anzuknüpfen, auf seinen Sessel zurück.

Endlich wurden wir zum Abendessen gerufen. Meine Wirthin suchte mich mit freundlichen Blicken zu empfangen, aber ihre zuckenden Mundmuskeln verriethen ihre innere Stimmung, und diese obsiegte auch, indem sie mich bitterlich beklagte, von alter, zersprungner Fayence essen zu müssen, weil die Dirne da – sie deutete auf das junge Dienstmädchen, das sichtbar verschüchtert uns aufwartete – ihr so eben drei Dutzend feine Porzelanteller auf Einer Tracht zerbrochen hätte. – »Das ist [29] ein großes Glück, mein liebes Weib, bemerkte der Pfarrer, damit hat sie dir drei Dutzend Zorne erspart, und diesen einen wollen wir nun beseitigen.« – Das war aber nicht in der Gewalt dieses geplagten Ehemanns, sondern der Unmuth seiner Frau ergoß sich in bittere Anschuldigungen der ungeschickten Magd und Klagen über die überwältigenden Mühen einer Hausfrau, der es mit ihren Geschäften ein Ernst sey. – »Der Eifer, sie zu besorgen, ist rühmlich, meine Liebe«, bemerkte der Gemahl mit behutsamem Ton, »doch beurtheile selbst, ob du nicht für die wichtigern Erfordernisse mehr Kräfte erübrigtest, wenn Du kleine Verwaltungszweige, wie Fürsten zu thun pflegen, deinen Ministern überließest!« – »Dann möchte es in meinem Hause aussehen wie in jener Staaten, und davor behüte mich der Himmel! Sagen Sie selbst, Miß Percy, haben Sie während Miß Mortimers langer [30] Krankheit nicht die Folgen davon erfahren, wenn die Herrin nicht überall selbst gegenwärtig ist?« – »Verzeihen Sie«, erwiederte ich, unwillig über die gleichgültige Veranlassung, durch die sie sich an meiner Freundin Tod erinnern ließ, »in Miß Mortimers Hause war so viel Ordnung, so wenig Ansprüche, ein so mildes Regiment, daß ich in dieser Rücksicht ihren traurigen Gesundheitszustand nie angesehn habe.« – Sobald ich ausgesprochen hatte, bereute ich den versteckten Tadel, den meine Worte enthielten; allein der war an meiner Wirthin verloren, sie sagte, nur zerstreut von dem Ungeschick, mit welchem das Dienstmädchen eine Schüssel aufhob: »So? also wird Miß Mortimer wohl nicht so gar genau haben haushalten müssen ...« Ich fand einen Sinn in dieser Bemerkung, der mich verletzte, hatte aber Klugheit genug, mir die Antwort zu ersparen und diesem peinlichen Abend durch die[31] Bitte, mir mein Zimmer anzuweisen, ein Ende zu machen.

Ach es war nicht das einfache Gemach eines Familienmitglieds, wohin man mich führte, es war ein Putzzimmer, in dem nichts bequemen Gebrauch versprach, sondern alles nur sorgsames Schonen aufdrang. Doch müde von dem Kummer des Tags und der Disharmonie des Abends, legte ich mich mit der Hoffnung nieder, daß nun die Anstrengung des Empfangs von Seiten meiner Wirthin überstanden sey, die folgenden Tage geräuschlos in einfacher, häuslicher Beschäftigung hingehen würden; denn so befremdlich mir die Art der Theilnahme an den Geschäften war, begriff ich wohl, daß es einer Pfarrfrau sehr zur Ehre gereichen könnte, sie selbstthätig zu besorgen. Allein meine Rechnung war falsch. So sanft mein Schlaf war, so früh und unsanft ward er unterbrochen. Fegen, Scheuern, Keifen, Befehlen, Thürenschlagen, [32] Kindergeschrei, durch hörbare Acte der vollziehenden Gewalt auf kurze Zeit beschwichtigt, bewiesen mir, daß meine arme Hausfrau, bei dem Aufwand aller ihrer Kräfte, keine Ordnung, und bei steter Autokratie, keinen Gehorsam einzuführen vermochte. Die widerstandslose Ergebung des Pfarrers wäre mir verhaßt geworden, hätte ich sie der Fühllosigkeit zuschreiben müssen; allein ich sah bald, daß sie die einzige seiner Individualität mögliche Art war, Aergerniß zu vermeiden. Sein ältestes Kind war in einer Pension; in den Tagen, wo ich sein Gast war, brachte er das zweite aus dem Hause und gab mir zu verstehen, daß er die armen Kleinen auf diese Art dem Einfluß einer traurigen Häuslichkeit zu entziehen gedenke. Um diese Ausgaben bestreiten zu können, arbeitete er angestrengt für Buchhändler. – Ich bedauerte und achtete den Mann, der tägliches Märtyrerthum zu erleiden, [33] die Kraft besaß, die ihm wahrscheinlich im Anfang seiner Ehe gefehlt hatte, um seiner Gattin fehlerhafte Neigungen zu zügeln.

Allein der Aufenthalt in diesem Hause war mir so drückend, daß ich mich überzeugte, die härteste Dienstbarkeit könnte nicht quälender, als die Gastfreundschaft von Mistriß *** seyn. Die Antwort auf den Brief, den der Pfarrer an seine Schwester geschrieben, ward daher mit der größten Ungeduld von mir erwartet und war mir, wie sie eintraf, tausendfach willkommener, da sie meinem Beschützer meldete, daß sie selbst mich in ihrem Hause aufzunehmen wünschte, um die Erziehung ihrer einzigen Tochter zu vollenden. Meine musikalischen Talente hatten mir bei ihr zu besonderer Empfehlung gedient. Mistriß Murray wünschte meine Bedingungen zu erfahren, von denen sie fürchtete, sie möchten ihre Mittel übersteigen, aber sehr geneigt wäre, das Aeußerste zu thun. [34] Der Schwager des Pfarrers war Marineofficier und in diesem Augenblick zur See. Seine Gattin mit ihren Kindern, einem Sohn und einer Tochter, lebte in Edinburg, ein Umstand, der zu meiner Befriedigung beitrug, denn so sehr der wackre Herr Sidney mir zuredete, einen sehr vertheilhaften Platz, den er in London für mich gefunden hatte, anzunehmen, beharrte ich auf meinem Abscheu vor der Gefahr, dort meinen ehemaligen Bekannten zu begegnen. Herr Sidney sowohl wie der Pfarrer redeten mir zu, meine Abreise nicht auf eine so schwankende Aussicht hin bei einer so ungünstigen Jahreszeit zu unternehmen, sie stellten mir vor, daß mein Eintritt bei Mistriß Murray nur gewinnen könnte, wenn meine Verhältnisse in ihrem Hause vorher näher bestimmt würden. – Ueber diesen Umstand war ich ganz gleichgültig. Die Ungeduld, meine jetzige Lage zu verändern, machte mich blind gegen alle Unannehmlichkeiten, [35] die eine andre, ganz unbekannte mir aufdringen könnte, und somit ward meine Abreise beschlossen.

Der Landweg nach Edinburg war für meine Mittel zu kostbar, und wie sehr sich auch meine beiden Rathgeber widersetzten, verdingte ich mich doch auf ein Handelsschiff und ging, nach einem vierzehntägigen Aufenthalte in dem Pfarrhause, zur See. Die gewaltsame Steigerung meiner Geistesstärke, mit der ich meine Abreise betrieben, war in Gefahr, gänzlich zu sinken, wie der Pfarrer und Herr Sidney, nachdem sie mich an Bord begleitet, in ihrer Barke wieder ans Land ruderten. In einem feuchten Winternebel sah ich sie von meinem Schiff abstoßen, zuerst wurden mir ihre Züge, dann ihre Gestalten unkenntlich, bald sah ich nur noch ihre weißen Tücher in grauem Nebel wehen, und endlich war der dunkle Punct, den ihr Nachen auf den Wogen bildete, vor meinen thränentrüben [36] Augen verschwunden. – Nun fühlte ich mich allein! nun wäre ich gern zurückgekehrt in das Haus, das bei aller seiner unheimlichen Sitte mir jetzt eine Freistätte schien. Regen und Wind trieben mich vom Verdeck in ein dumpfes Behältniß, wo vierzig Mitreisende, von der ungestümen Bewegung des segelnden Schiffes mehr oder weniger angegriffen, umher lagen. Auch mich trieb diese unleidliche Beschwerde, mein Lager zu suchen. – Ich hatte kein zierlicheres erwartet, gab also meinem Ekel vor dem, was ich fand, nicht nach, sondern strengte alle meine Kräfte an, die auf mich eindringenden unangenehmen Empfindungen zu ertragen. Die Gesellschaft meiner Gefährten in ihren bedrängten Umständen, das Schwanken des Schiffs, das Geschrei der Seeleute, das Klappern des Tauwerks, das donnernde Anprallen der Wellen an die Schiffswände – und endlich, wie der Wind wirklich zum Sturm anwuchs, das [37] Geschrei und Arbeiten an der Pumpe, die ein entstandenes Loch unaufhörlich in Bewegung zu halten erforderte – das alles waren Umstände, deren Zusammentreffen eine geübtere Reisende wie mich hätte angreifen können. Die Reisenden, mit der Seefahrt unbekannt, hielten das mäßige Unwetter für einen weltzertrümmernden Orkan und drückten ihre Todesfurcht mit mehr oder weniger Heftigkeit aus; ich konnte unsere Gefahr nicht beurtheilen, empfand aber mein körperliches Leiden so schwer, hatte im Leben so wenig Vortheil zu hoffen, daß mir der Tod wahrscheinlich und willkommen schien. Ich suchte nur meinen Geist zu bekräftigen, damit der entscheidende Moment mich gerüstet finden möchte. Doch der Sturm legte sich, an Schiffsuntergang war nicht zu denken, aber unser Fahrzeug war so stark beschädigt, daß wir die holländische Küste, wohin uns der widrige Wind getrieben hatte, willkommen heißen [38] mußten und, des Hafens froh, in Rotterdam ans Land gingen.

Gänzlich unbekannt mit den Mitteln wie mit der Nothwendigkeit hauszuhalten, nahm ich ein Zimmer in einem anständigen Wirthshaus, wo ich sehr eingezogen und mit sehr ernsten Betrachtungen beschäftigt die acht Tage zubrachte, welche unser Fahrzeug zu seiner Ausbesserung bedurfte. Wie es zur Abreise kam, war ich höchlich betroffen, durch die Bezahlung meiner Rechnung die ganze mir übrige Baarschaft bis auf zehn Guineen vermindert zu sehen. Dennoch faßte ich Muth. Meine Reise bis Edinburg forderte wenig Kosten mehr, und dort konnte ich mich in Mistriß Murray's Haus bis zum Ablauf des ersten Quartals aller Ausgaben enthalten. Der erste Theil dieser Aus sicht ging in Erfüllung. Unsre Ueberfahrt von der holländischen Küste nach Edinburg war angenehm und so schnell, daß ich schon nach [39] vierzehn Tagen in dem Hafen einen Miethwagen bestieg, der mich nach Edinburg führte.

Ich war über den nun zunächst mir bevorstehenden Augenblick in einer solchen Spannung, daß ich die romantische Lage der Stadt, die Schönheit ihrer Straßen gar nicht bemerkte, sondern zwischen dem innigsten Gebet zu Gott, den Antritt meines neuen Berufs zu segnen, und den Bildern, welche sich meine Einbildungskraft von meiner bevorstehenden Lage machte, getheilt war. Ich malte mir Mistriß Murray's Bild bis auf ihre Kleidung, ihre erste Verbeugung aus. O möchte sie nur in ferner Aehnlichkeit, nur im letzten Nachklang Miß Mortimer gleichen! seufzte ich aus beklommner Brust. Aber Herr Maitland hatte mir oft seine Landsmänninnen als groß, kräftig, rasch gemalt – das Bild glich Miß Mortimer nicht, und mir schien es recht fürchterlich, eine solche hohe, strenge, knochenstarke Frau zu [40] erblicken. Indeß rollte mein Wagen durch die bei später Tageszeit stillen, menschenleeren Straßen, mir ward immer bänger, bis er endlich an einem schönen, aber ganz unerleuchteten Hause stille hielt. Ich schellte, und athemlos wartete ich, bis die Thüre sich öffnete, so daß ich den Diener kaum verständlich fragte: ob Miß Murray zu Hause sey. – Nein, Ihre Gnaden, sie ist seit vierzehn Tagen verreist. – Großer Gott! verreist? wohin? – Nach Portsmouth. Sobald die Nachricht kam, daß der Capitain verwundet dort ans Land gestiegen sey, reiste Mistriß Murray mit ihrer Tochter dahin ab. – Und ließ sie keine Briefe für mich zurück? – Des Bedienten Antwort überzeugte mich, daß kein Mensch meine Ankunft erwartet hatte, ich übersah nun die Folgen meiner übereilten Abreise und sank halb ohnmächtig vor Schrecken in den Wagen zurück. – Steigen Sie hier aus, Ihre Gnaden? fragte jetzt der Kutscher. [41] Nein, rief ich, ohne zu wissen, was nun weiter zu thun möglich sey. – Wohin soll ich Sie denn führen? fragte Jener wieder. – Ich antwortete mit einem Thränenstrom, denn ich wußte keine Thür, die sich mir öffnen, wo Jugend und Armuth Schutz finden könnte. Der Bediente schien von meiner Betrübniß gerührt; vielleicht, sagte er, hat Mistriß Murray meinem jungen Herrn Aufträge an Sie zurückgelassen. – Ist der Sohn des Capitains zurückgeblieben? – Ja, Ihre Gnaden, er blieb, um seine Collegien auszuhören. Er ist jetzt nicht zu Hause, muß aber sogleich heimkommen. Belieben Sie einzutreten und sich auszuruhen! –

Mir schien es am besten, diese Einladung anzunehmen, ich zahlte den Kutscher aus und folgte dem Diener ins Haus. Er führte mich in einen artigen Salon, wo ein erfreuliches Steinkohlenfeuer Helle genug gab, um den Aufputz [42] des Zimmers zu erkennen. Zierliches Geräth, Bücher auf allen Tischen, eine schöne Harfe, Mappen mit Zeichnungen bewiesen mir das Streben nach Bildung in dessen Bewohnern. Mein zerschlagner Muth hob sich von neuem, ich untersuchte die Bücher – es waren meistens juristische Werke, daneben ein sehr zerlesenes Exemplar der neuen Heloise, ein Tibull – jetzt fiel mir ein großer Stricksack, der am Sopha hing, in die Augen, er mochte wohl ein halbes Dutzend paar Strümpfe enthalten, sie guckten obenheraus, und mit ihnen ein Gebetbuch. Die Mappen verriethen die beginnende Kunstfertigkeit der jungen Miß – ungeheure Blumensträuße in winzigen Körben, Landschaften mit Schweizerhütten – und überm Kamin ihr Gemälde, in der Stellung, den Horopipe zu tanzen. Ich betrachtete das alles mit sehr getheilter Aufmerksamkeit, weil ich von einem Augenblick zum andern den Eintritt [43] Herrn Henry's erwartete. Endlich hörte ich einen raschen Schritt unter den Fenstern vorbeigehen; ein Liedchen ward geträllert, und ein nachdrückliches Pochen verkündigte den Herrn vom Hause. Die Angst schärfte mein Gehör; ich vernahm, oder glaubte zu vernehmen, daß der Bediente meine Ankunft meldete, einige schnell auf einander folgende Fragen schienen mir Neugier ohne Verlegenheit zu beweisen, und darauf eilte der Fragende auf den Salon zu. Bei seinem Eintritt ins Haus war ich aufgesprungen, dann war mirs eingefallen, daß ich linkisch aussehen müßte, ließ ich mich stehend finden, also setzte ich mich wieder, mein Herz schlug hörbar, und es bedurfte der mir erst so spät erworbenen Herrschaft über meine äußern Bewegungen, um bei Herrn Henry's Eintritt mit Fassung zu erscheinen. Wahrscheinlich hatte die Abenteuerlichkeit meiner Ankunft im Hause, welche der Bediente [44] dem jungen Menschen berichtet haben mochte, ihm eine kurzweilige Bekanntschaft versprochen, sein Eintritt hatte wenigstens etwas Unachtsames, das bei meiner Annäherung einem Ausdruck von Erstaunen und ehrerbietiger Höflichkeit Platz machte. Er bestätigte die Aussage des Bedienten: Mistriß Murray hatte gar nicht daran gedacht, daß ich mich, bevor eine nähere Verabredung stattgefunden, auf den Weg machen könnte, und hatte deshalb nicht die geringsten Anstalten zu meinem Empfange getroffen. Der junge Mann, der bei ziemlich regelmäßigen Zügen schöne, große, schwärmerische Augen besaß und keineswegs, wie ich ihn mir vorgestellt, ein tölpischer Schulknabe, sondern ein schlanker, zierlicher Jüngling von achtzehn bis neunzehn Jahren war, suchte mich zu überzeugen, daß nichts natürlicher sey, als seiner Mutter Rückkehr in ihrem Hause ruhig abzuwarten. So ehrerbietig die Art war, [45] mit welcher er mir diesen Vorschlag that, lehnte ich ihn dennoch bestimmt ab, bat um die Adresse seiner Mutter, um ihr meine Ankunft zu melden und um ihre Befehle zu bitten, und forderte einen Miethwagen, um noch heute Abend ein anständiges Unterkommen zu suchen. Rücksichtlich des Erstern sagte er mir, daß die Post in dieser halben Stunde noch abgehe; einen langen Brief zu schreiben, sey daher unmöglich, er wolle dem seinen, der zum Siegeln bereit liege, die Nachricht von meiner Ankunft und meiner Verlegenheit noch hinzusetzen. Was aber meine Absicht, heute Abend noch ein Unterkommen zu suchen, beträfe, so wäre sie grausam gegen mich, gegen seine Mutter und gegen ihn selbst. »Wodurch«, sagte er mit dringend bittendem Ton, »hat meine Mutter verschuldet, daß Sie eine rücksichtslose Unfreundlichkeit in ihr voraussetzen? Wodurch zog ich mir die Weigerung zu, einen Abend nur meine Gesellschaft [46] zu dulden? Und endlich – und vor allem: wie können Sie wagen in später Nacht (es hatte wirklich zehn Uhr geschlagen) in einer unbekannten großen Stadt auf Geradewohl ein Unterkommen zu suchen?« – Wahrlich dieser Erinnerung bedurfte es nicht, um mir meine grausame Lage fühlbar zu machen! Ich hatte mit äußerster Anstrengung bei dieser Erörterung einen gefaßten Ton zu erhalten gesucht; bei Herrn Henry's letzter Frage wollten meine Thränen gewaltsam hervorbrechen, als der Ton seiner Stimme mir ein so bewegtes Gemüth von seiner Seite verrieth, daß ich, aufmerksam auf die Nothwendigkeit, hier meine Selbstherrschaft zu behalten, meinen Schmerz niederkämpfte und durch meine Einwilligung, diese Nacht die mir angebotne Gastfreundschaft anzunehmen, dem Streit ein Ende machte. Herr Henry befahl sogleich und mit einer Freude, die mir deutlich bewies, welchen Werth er auf meine [47] Einwilligung legte, das Schlafcabinet seiner Mutter zu meinem Empfang zu bereiten, und der übrige Abend verging in lebhaftem Gespräch über allgemeine Interessen. Noch nie hatte ich Gott so herzlich für ein sanftes Lager gedankt, wie diesen Abend, an dem ich doch nicht wußte, wo ich am folgenden Morgen einen Schutzort finden würde. Gott hatte mir heute eine Ruhestätte gegeben, alle meine Verstandeskräfte konnten die morgende nicht aussinnen; deshalb empfahl ich mich seiner Obhut und überließ mich der Erholung des Schlafs.

Herrn Henry's Empfang beim Frühstück war voll Ehrerbietung, aber nicht so gleichgültig, wie meine Verhältnisse es nöthig machten. Wie ich seinen Morgengruß mit der Bitte beantwortete, mir sogleich durch seinen Diener eine Person anweisen zu lassen, die mir eine Wohnung verschaffen könnte, antwortete er mit Bekümmerniß: wenn ich hartnäckig [48] die natürlichste Handlungsweise, die nahe Rückkehr seiner Mutter, oder ihre wahrscheinliche Bitte, sie in Portsmouth aufzusuchen, in ihrem Hause abzuwarten verweigerte, so schlüge er mir vor, eine ihrer in Edinburg verheiratheten Schwestern um Rath oder Beistand zu bitten. Das war ein Lichtstrahl in dem Dunkel, das sich vor meine Aussicht gelagert; ich widerlegte alle seine wiederholten Bitten um Abänderung meines Beschlusses und trieb ihn an, gleich nach dem Frühstück diese Tante für mich um ihren Schutz zu ersuchen. Er blieb lange aus; ich hatte Zeit, mich dem ängstlichsten Nachdenken zu überlassen, und wie er zurückkehrte, versicherte er mich, Mistriß St. Claire nicht zu Hause gefunden zu haben. Ich mußte mit seinem Versprechen, gegen den Abend noch einmal zu ihr zu gehen, mich begnügen und suchte meine Unruhe durch Gespräch und Harfenspiel zu zerstreuen. Mein Spiel entzückte [49] den jungen Mann, er äußerte die bitterste Klage über seiner Mutter Vergeßlichkeit, für den möglichen Fall meiner Ankunft keine Befehle gegeben zu haben. »Dann dürften Sie unser Haus nicht verlassen, Miß Percy, dieselben grausamen Ursachen, die Sie jetzt von mir treiben, gäben dem Bruder Ihres Zöglings dann ein Recht, Sie zu schützen.« – Ich wußte nun aus Erfahrung, wie nachtheilig es für unser Geschlecht werden könnte, Dinge als Scherz aufzunehmen, die einer ernsthaften Deutung fähig sind: ohne auf diese durch die Art des Vortrags noch bedeutenderen Worte zu antworten, begab ich mich, um das Gespräch abzubrechen, in mein Zimmer. Wie ich nach einer Weile wieder in den Saal gehen wollte, hörte ich eine fremde Stimme, die nach Herrn Henry fragte; dieser trat aber sogleich aus dem Sprechzimmer heraus und rief lebhaft dem Eintretenden zu: »So eben wollte ich zu Dir [50] schicken. Du mußt mit mir zu Mittag essen, ich will Dir die Bekanntschaft eines Engels verschaffen.« – »Ein Engel? hier im Hause?« – »Hier im Hause, meiner Schwester Erzieherin.« – »Mit der hältst Du indeß Haus? Das wird Deine Mutter ungemein erbaulich finden. Hat die's so bestellt?« – »Gott, nein! sie weiß nichts von ihr ...« Darauf sprach er leise, ihn von der Treppe hinwegführend. Ich wußte nun genug, um meine Unentschlossenheit zu beenden. Gedemüthigt, der Gegenstand der Bewunderung von ein paar Collegienschülern zu seyn, beschloß ich sogleich, ihre Aussicht auf das Mittagsmahl zu hintergehen. Auf meine Bitte und durch das Geschenk einer halben Guinee in mein Interesse gezogen, ging die Hausmagd sogleich, mir bei rechtlichen Leuten eine kleinen Wohnung zu suchen und einen Miethkutscher zu holen, der mich und mein Gepäck augenblicklich dahin abführe. Sobald beides erlangt [51] war, begab ich mich in das Besuchzimmer von Herrn Henry, um Abschied zu nehmen. Er war äußerst bestürzt, aber sein junges Gemüth hatte noch die schätzbare Zartheit, die dem Betragen bei halb bewußter Schuld die Sicherheit raubt. Der Besuch sei nes Freundes, die Einladung an ihn hatte ihm die Zuversicht, mit der er noch heute früh mich in seiner Mutter Hause zurückhalten wollte, vermindert, er bat mich niedergeschlagen, nur so lange zu verziehen, bis er noch einmal Mistriß St. Claire aufgesucht habe. Ich versicherte ihm meine Absicht, ihr selbst meinen Besuch machen zu wollen, ließ mir ihre Adresse geben und fuhr nach meiner neuen Wohnung ab.

Mir war wohl, wie ich von meinem kleinen Zimmer, das Wohn- und Schlafstätte zugleich war, Besitz genommen hatte. Ich fühlte neuen Muth gegen die Außenwelt, nun ich mir in meinem Innern das Zeugniß, recht gethan zu [52] haben, ablegen konnte. Der einsame Abend ward angewendet, um beim Schein meiner einzigen dünnen Kerze an Mistriß Murray zu schreiben. Lange stritt ich mit mir selbst, was die Redlichkeit mir geböte, ihr zu sagen. Die Verlegenheit, in die mich ihre Abwesenheit gesetzt hatte, war meine Schuld, denn sie hatte mich nicht abzureisen eingeladen, ich hatte also gar keine Ansprüche an sie, mußte mich ihr gleichsam von neuem nur anbieten. Dieser Schritt war aber wegen ihres Sohnes schnell gefaßten Wohlgefallens an mir reiflich zu überlegen. Herrn Henry's Vergaffung war unzweifelhaft, daß aber diese bei einem zwanzigjährigen Rechtscandidaten nicht als eine dauernde Leidenschaft zu behandeln sey, sagte mir meine Vernunft, daß aber Vorsicht und Anstand verböten, durch meinen Eintritt in seiner Mutter Haus diese Vergaffung zu unterhalten, ihn von seinen Studien zu zerstreuen, seinen Eltern Unruhe zu [53] bereiten, sagte mir mein Gewissen und mein Zartgefühl. – Was war da zu thun? – Der Mutter selbst zu melden, daß ihr Sohn meine Schönheit bewundre, wäre eine Albernheit; die Aussicht, in ihre Familie aufgenommen zu werden – die einzige, die mir in meiner verlassenen Lage vergönnt war – von mir zu weisen, wäre ein Verrath an mir selbst gewesen und hätte Herrn Henry's Gefühlen zu viel Wichtigkeit beigelegt. Ich half mir mit einem Mittel, das mir jetzt ein bischen jesuitisch scheint, damals aber Entschluß eines reinen Willens war und mir deshalb auch keine Reue gekostet hat. Ich beschloß, mich zu Mistriß St. Claire zu begeben und ihren Rath zu erbitten; gewiß würde sie ihrer Schwester ein Wort über meine Gestalt schreiben, wenn ihr dieses keine Unruhe über die Sicherheit von ihres Sohnes Herzen einflößte. So glaubte ich bei der redlichen Absicht, jedes nähere Verhältniß mit ihm zu meiden, [54] die Freistätte, welche mir Miß Murray's Haus versprechen könnte, annehmen zu dürfen. In diesen Gesinnungen verfaßte ich meinen Brief; ich meldete auch meinem gütigen Pfarrer meine Ankunft in Edinburg und die Unannehmlichkeit, die mich daselbst betroffen; und so war die Stunde herbeigekommen, die mich jetzt ein Bedürfniß trieb im Gebet zu Gott und mit Prüfung meines eignen Herzens zuzubringen. Sie gab mir den Seelenfrieden, in dem man vertrauensvoll sich der Erquickung des Schlafes überläßt.

Früh am folgenden Morgen kam Herr Murray, und drei Stunden verflogen in lebhaftem Gespräch, wodurch mir aber das Unziemliche meiner Verhältnisse gegen diesen Jüngling nur auffallender wurde. Sobald er mich verlassen hatte, suchte ich Mistriß St. Claire auf. Ich fand eine hagere, lange, ältliche Dame in einem ziemlich engen, hochlehnigen [55] Armstuhl mit dem Ausnähen eines großblumigten Musters in Linon beschäftigt. Sie ließ mich ziemlich weit im Zimmer vortreten, stand dann auf, wodurch sie sich nothwendig einen Schritt vorwärts bewegen mußte, und wie sie ihre ganze Höhe erreicht hatte, hörte ich den dicken, steifen Troguet ihres dunkelbraunen Kleides etwas rascheln, woraus ich schloß, daß sie eine Art von Verbeugung gemacht haben müßte – sichtbar war sie mir nicht. »Herr Murray hat, wenn ich recht verstanden habe, die Güte gehabt, mich zu melden«, sagte ich schüchtern. Die Dame blickte nach einem Stuhl, ich hielt das für eine Einladung, mich zu setzen, rückte ihn herbei und nahm Platz. »Es ist sehr unglücklich für mich, Mistriß Murray nicht zu Hause zu finden«, nahm ich, da keine Antwort erfolgte, von neuem das Wort. – »Hum ...« tönte es ganz dumpf, und die Stille blieb ununterbrochen. »Sie verließ[56] Schottland sehr unerwartet.« – »Sehr unerwartet.« – Wieder eine Pause. »Ich hatte meine Herreise unglücklicherweise schon angetreten, ehe ich es erfuhr.« – »Das war schlimm.« – »Sie wird doch nicht lange abwesend bleiben?« – »Davon weiß man nichts.« – »Vielleicht wünscht sie nicht, daß ich ihre Rückkehr erwarte?« – »Das weiß ich nicht.« – Bis diesen Tag hatte ich kalte Abwehr jeder Theilnahme noch nicht kennen lernen. Ich hatte gewaltsame Unglücksfälle erlebt, war in höchst ängstlichen Verlegenheiten gewesen, aber die drückenden Verletzungen des Gemüths in gemein ruhigen Verhältnissen des Lebens waren mir noch unbekannt. Mein Gemüth hatte sich zu Gott gewendet, aber mein Verkehr mit ihm – daß dieser triviale Ausdruck mir vergönnt sey! – war ein Feiertagsdienst; ich hatte seine Hülfe in so wichtigen Momenten erfleht, daß es mir Entweihung [57] seiner Größe schien, diese Hülfe bei den Dingen des gewöhnlichen Verkehrs zu verlangen. Das war Folge der noch mangelhaften Erkenntniß von dem wahren Werth des Lebens in mir, indem jeder Augenblick Fortschritt auf derselben Bahn zur Ewigkeit ist. Jetzt kämpfte in meiner Brust mein über so unerhörte Theilnahmelosigkeit empörtes Gefühl mit dem Urtheil meines Verstandes, ihr nur Gleichgültigkeit entgegensetzen zu sollen. Der Verstand siegte, ich athmete tief und fragte Mistriß St. Claire: ob sie mich nicht, im Fall Mistriß Murray meiner Dienste nicht bedürfe, in eine andere Familie als Erzieherin empfehlen würde. – »Das wird schwer seyn. Die Leute nehmen keine Fremde.« – »Die Empfehlung, welche Mistriß Murray's Wahl lenkte, würde auch hier gelten.« – – – Doch wozu dieses Gespräch wiederholen? Ich schied von dieser Frau ohne die mindeste Hoffnung, durch sie [58] Hülfe zu erlangen. Wie oft, indem ich meinen Weg einsam nach meiner Wohnung zurück nahm, glaubte ich in den Gesichtern, die an mir vorbeigingen, bekannte Züge zu entdecken! Ein paar Mal stockte mein Herz vor Entzücken bei dem raschen Schritt, den eine bekanntere Gestalt auf mich zu zu nehmen schien. Könnte mir denn Gott nicht einen Retter senden wollen? fragte ich mich, wenn meine Vernunft meine thörichte Hoffnung zurechtweisen wollte. – Aber fremd und ohne Theilnahme eilten die Menschen an mir vorüber, und ich kehrte einsam in mein einsames Zimmer zurück. O wer in dem verlassensten Winkel des Erdbodens nur ein Wesen hat, zu dem er sagen kann: die Einsamkeit ist süß! der weiß es nicht, wie freudenlos eine Wohnung ist, in der wir nicht hoffen dürfen, daß auch nur eine einzige theilnehmende Seele anklopfen werde. –

Ich wußte also nun, daß die Beantwortung [59] meines Briefs an Mistriß Murray meine letzte Hoffnung entschied, aber auch daß jede Rücksicht erfordre, den Besuchen ihres Sohnes fortan zu entsagen. Man meine doch nicht, daß es bei dem rationellen Standpunct, wohin ich gelangt zu seyn wähnte, unmöglich ein so großes Opfer hätte seyn können, auf die Besuche eines vergafften Studentchens Verzicht zu thun. Nicht weil er das war, aber weil er das letzte gebildete Wesen war, durch das ich mit einer Welt, für die ich gebildet und erzogen wurde, zusammenhing, kostete es mir ein ernstes Opfer, seine Besuche nicht mehr zu gestatten. Von nun an brachte ich eine lange Woche in völliger Einsamkeit zu. Der Gang in die nahe Kirche war die einzige Gelegenheit, bei welcher ich die Gasse betrat. Meine Hauswirthin stellte mir den Nachtheil dieser Lebensweise für meine Gesundheit vor und bewog mich endlich, meiner Sehnsucht nach Bewegung [60] und Luft nachgebend, sie eines Tags bei einem Ausgang zu begleiten. Es that mir unendlich wohl, die freie Luft zu athmen, in größerm Umfang, wie in den engen Gassen, den Himmel über mir, die erleuchteten Berge um die Stadt her zu erblicken. Wie wir nach Haus zurücklenkten, erblickte meine Hausfrau an der Thür eines Hauses ein scharlachrothes Fähnchen, auf dem mit großen Buchstaben die Worte standen: »Hier wird ausgepfändet.« Sie sagte mir, das verkündige einen Verkauf von Hausgeräth, da könne man oft wunderwohlfeile Sachen bekommen, ich möchte doch ein bischen mit ihr hineintreten. Mir graute vor dem dunkeln Eingang, allein meine Lage erlaubte mir, nicht sehr schwierig zu seyn, deshalb folgte ich ihr nach durch einen finstern, schmuzigen Gang eine hohe, steile Treppe hinauf, auf einen langen Gang, dessen kleine Fenster auf einer Seite schwarze spitze Giebel erblicken ließen, [61] auf der andern Seite aber mehrere Thüren in Zimmer führten, die in eine Menge Wohnungen sehr armer Leute eingetheilt zu seyn schienen. Das erste Zimmer einer dieser Abtheilung war so von Leuten angepfropft, daß sie auch den Gang vor den Thüren besetzt hielten und es mir unmöglich machten, meiner Hausfrau zu folgen. Indem ich wartete, um durch den Haufen dringen zu können, gewahrte ich ein kleines Kind auf den Armen einer höchst ärmlich gekleideten Frau, das mit Wangen, auf denen die schönste Gesundheitsröthe prangte, aus seinen glänzenden Augen einen schüchternen Blick auf mich warf, dann sein Köpfchen von der Mutter Schultern aufhebend, lächelnd auf mich hinsah. Seine Mutter aber lehnte, wie es schien, in Kummer versunken, ihren Kopf an das Fenster. Ich hätte sie gern angeredet, aber ihr Schmerz gebot mir Zurückhaltung, denn ich war ja meiner Mittel, ihr zu helfen, nicht [62] gewiß. Indem kam ein eben so ärmlich gekleidetes Weib, wie sie selbst, schlug sie gutmüthig plump auf die Schulter und sagte: »Seyd doch gefaßt! es ist schon manch einer ausgepfändet worden.« – Meine arme Frau, die bei dem derben Gruß der Nachbarin ihre Thränen getrocknet und sich freundlich aufgerichtet hatte, verhüllte von neuem schluchzend das Gesicht in ihre Schürze. Ich wendete mich nun an die Nachbarin, um mehr von der Weinenden zu erfahren, und hörte, daß Cecile Graham, so hieß die Trauernde, die Frau eines Soldaten sey, der aus der von jeher den Bergschotten fest eingewurzelten Liebe für ihr Stammoberhaupt, sein Heimathsthal verlassen hatte, um der Fahne seines Häuptlings zu folgen. Ungern blieb seine Gattin zurück und nährte sich seitdem in der Hauptstadt hinreichend mit ihrem redlichen Fleiß. Endlich den Tag vor dem Miethsziel, wo sie alle ihre[63] ersparten Pfennige schon zusammengelegt hatte, um sie den nächsten Morgen dem Hausherrn zu bringen, brach ein Dieb ihren Kasten auf und raubte ihr die mühselig gesammelte Summe. Unfähig, sich auf eine andre Weise bezahlt zu machen, gebrauchte der Hausherr sein Recht, ihre Habseligkeiten zu seiner Abzahlung zu verkaufen. »Und will er dieses arme junge Geschöpf freundlos in die Welt hinausstoßen?« rief ich mit inniger Theilnahme. »Gott verzeihe ihm das!« – »Mir mangelts nicht an Freunden, Ihre Gnaden«, sagte die Weinende in echt schottischer Mundart, aber viel weniger rohem Ton, wie ihre Nachbarin, »alles Gewässer des Brearde kann mein Blut nicht von des Lords Verwandtschaft waschen.« – »Welches Lords?« fragte ich, über den emphatischen Ausdruck lächelnd. »Erdines selbst, Lady, sein Großvater und meine Urgroßmutter waren Geschwisterkinder.« – »Thut denn der Lord nichts [64] für seine Verwandten?« – »Das würde er, und er ist nicht der Mann, der den Bittenden ohne Hülfe läßt.« – »Warum wendet Ihr euch denn nicht an ihn?« – »Wahrlich, Lady, ich will den Lord nicht belästigen; er könnte denken, ich meine, er müsse mich füttern, weil Jemmy mit Herrn Kenneth fortgezogen ist – das begreifen Sie.« – »Was wollt Ihr aber thun? wollt Ihr euch alles nehmen lassen?« – »Könnte ich nach den Hochlanden zurück, so würde alles andre schon gehen. Ueberfluß sind wir nicht gewohnt – ich hätte auch alles hergeben wollen, nur nicht das Stückchen Tuch, das ich, uns hinein zu wickeln, mit eignen Händen gesponnen.« – »Wie Euch hinein wickeln? was soll das bedeuten?« fragte ich, weit entfernt, den Sinn ihrer Worte zu fassen. – »Nun ja! Jemmy und mich einwickeln, mit Erlaub, wenn man uns zur Ruhe trägt. Und ein hübscher Stückchen Flächsen konnte man [65] nicht sehen. Ihre Gnaden selbst hätten drin ruhen können, ja Miß Graham in eigner Person.« – Anfangs glaubte ich wirklich, die gute Frau rede irre, aber bald schämte ich mich meiner Unfähigkeit, in das Gefühl eines Armen einzugehen. Wie sich die menschlichen Wünsche auf ein gutes Bahrtuch beschränken könnten, begriff ich nicht gleich, aber das Ansehn der Frau sprach für ihren gesunden Verstand. Ihre klare breite Stirn und nahe über die Augen gezognen Braunen, von blitzend lebhaften Augen begleitet, verriethen kühle Klugheit, ihre festen scharfen Züge, ob sie gleich von der nationalen Backenbreite entstellt wurden, zeichneten sie unter den gemeinen Gesichtern der umstehenden Weiber aus. Ich fragte sie darauf, wie weit ihre Heimath entfernt sey. »Hörten Sie je von einem Ort, der Glen Enradine heißt? Er mag etwa hundert Meilen und ein Eckchen weiter von hier nach Norden und Westen hin [66] liegen.« – »Und so weit wolltet ihr in dieser Jahrszeit reisen?« – »Wenn es Gottes Wille wäre. Hier und da müßte ich, mit Erlaub, wohl guter Menschen Beistand erbitten. Viel mitzunehmen habe ich nicht. Da das Kind an meiner Brust und ein Päckchen Tabak, den ich für meine Mutter gesammelt; mein Knabe ist derb, Gott segne ihn! der liefe denn auch manchmal ein Stückchen neben her.« – Ich ärgerte mich anfangs an dem Almosenbitten, späterhin habe ich's bei diesem Bergvolk ganz anders ansehn lernen. Unter wahrhaft einfachen Menschen ist das Hülfebitten des Reisenden ein letzter schöner Nachhall alter Väter-Sitte, der zufolge des Gastes Einkehr ein Segen des Herrn war. Cecile erkannte es nicht für das, aber sie trat unbedenklich in die einfachen Menschenrechte zurück, da wo einfache menschliche Bedürftigkeit sie überwältigte. »Warum wendet ihr euch nicht an's Kirchspiel?« fragte ich weiter. – [67] »An das Kirchspiel? an die Armenbüchse? Gott wird mich ja davor behüten! Kirchspiel! Nein, nein! wie groß unsre Noth ist, dahin wird sie uns nicht treiben.« – Thränen drangen aus ihren Augen, sie herzte ihr Kind und rief: »Du gutes liebes Thierchen 2! eher soll es dir und deiner Mutter an Dach und Fach fehlen, ehe sie dir diese Schmach bereite, indeß dein Vater so weit weg ist.« – Es kostete mir Mühe, die gute Frau zu überzeugen, daß ich sie nicht beleidigen gewollt, da nach den englischen Sitten die Unterstützung des Kirchspiels gar nichts Entehrendes hat. Jetzt kam aber eine Nachbarin und meldete ihr, daß so eben ihr Stückchen Tuch in Aufstrich gebracht werden sollte. – »Nun in Gottes Namen!« rief sie und brach auf's neue in Thränen aus, »so mögen sie mich denn in die blose Erde [68] legen! – Die Pfund-Note will ich nicht anbrechen.« – »Ihr habt also noch Geld?« fragte die Nachbarin. – »Ein Pfund, das Jemmy seiner Mutter bestimmte, und das ich ihr noch nicht habe schicken können.« – Ich war zu lang an Reichthum gewöhnt gewesen, um Almosen weise zu verwenden, allein die heldenmüthige Entsagung, mit der diese Frau fremdes Eigenthum ehrte, riß mich hin, ich drängte mich in die Versteigerungsstube, kaufte das Stückchen Leinwand, brachte es Cecilen zurück und erinnerte mich erst jetzt, daß ich, ohne ihr einen wesentlichen Dienst geleistet zu haben, ein für mich höchst empfindliches Opfer gebracht hatte. Die Zeit, wo ich Beifall gab, wenn eine schöne Empfindung meine Seele erhoben hatte, war vorüber, daher legte ich meinem Eifer, Cecilens Wunsch zu befriedigen, keinen Werth bei; ich hätte mit eben dem Gelde ihre Lage wirklich erleichtern können; – und [69] sollte ich das nun versäumen? Diese Mutter mit ihrem Säugling auf den Armen, so fern von ihrer Heimath, schien mir so viel ärmer, als ich, daß es mir grausam bedünkt hätte, ihr nicht zu helfen. – Ich kaufte ihr nothwendigstes Hausgeräth für sie zurück, verschaffte ihr ein Unterkommen, in dem sie eine mildere Jahreszeit abwarten konnte, und kam nun so arm nach Hause, daß mir nur kärglich noch für eine Woche Lebensunterhalt übrig blieb.

Ich habe bemerkt, daß es nicht die Erinnerung an gute Handlungen ist, die uns in trüben Tagen Muth gibt. Denn wenn wir in ruhigen Stunden unsre besten Handlungen genau überlegen, so bleibt wohl keine übrig, die aus völlig reinen Beweggründen geschehen wäre, wenn auch im Augenblick selbst ein schöner Enthusiasmus uns erhoben hätte. Wenn unsre Weisheit, oder was einerlei ist, unsre Kraft wankt, so ist ein bedingungsloses Vertrauen in [70] das höchste Wesen, mit dem Bewußtseyn, das Gute gewollt, wenn auch nicht erreicht zu haben, unsre sicherste Stütze. Das erfuhr ich jetzt in den Tagen, die noch bis zur Ankunft von Mistriß Murray's Antwort auf meinen Brief vergingen, und noch mehr, wie diese mir sagte, daß sie, durch des Capitains wankende Gesundheit gezwungen, ihm mit ihrer Tochter in ein wärmeres Klima zu folgen, meiner Dienste gar nicht mehr bedürfe. Sie beklagte meine vergebliche Reise und verwies mich zu weiterer Beförderung an ihre Schwester, Mistriß St. Claire. Anfangs verwarf ich diese Schutzempfehlung auf das unwilligste; das Andenken des herzlosen Empfangs dieser Frau war mir noch zu neu; aber was sollte ich thun? Freund- und geldlos, wie ich war, mußte ich meinen Widerwillen bekämpfen und sie nochmals aufsuchen. Wahrlich, sie hatte sich nicht geändert, und der äußerste Grad der Hülflosigkeit[71] hatte mich wohl zu größerer Nachgiebigkeit entschlossen, aber nicht fühllos gemacht. Mit eben der unerschütterlichen Theilnahmlosigkeit, wie das vorige Mal, erklärte sie mir ihre Abneigung, sich meiner anzunehmen, eben so die Unwahrscheinlichkeit, daß es mir gelingen könnte, ein Unterkommen zu finden, und schloß damit, daß, zu meinen Freunden zurückzukehren, für mich wohl das Beste seyn würde. – »Wenn das möglich wäre«, sagte ich, indem mir die Thränen in die Augen stiegen, »so würde ich Sie wohl nie mit meinem Besuche beschwert haben.« – »Hm! so fehlt es Ihnen wohl an Reisegeld?« – Gern hätte ich diese übermüthige Frage mit aufwallendem Stolze beantwortet, aber ich war von der Heftigkeit meiner Empfindungen der Stimme beraubt. – »Ich mag fremden Leuten zwar nichts vorschießen, da aber meine Schwester in die Sache verwickelt ist, so gebe ich Ihnen hier fünf Pfund, [72] mit denen Sie Ihre Reise bis London bestreiten können.«

So lange über ein Jahr hatte ich nun gearbeitet, meinen Stolz zu beherrschen, und jedes Mal, daß er angegriffen ward, hatte er noch meiner Vernunft die Herrschaft erschwert. So wie sonst die Zuversicht auf meine eingebildeten Vorzüge mich in meinem thörichten Wahn auf eine höhere Wesenstufe gestellt hatte, so fühlte ich jetzt dieser fühllosen Frau gegenüber mich in der Würde meines Unglücks gekränkt; der Sturm meiner Empfindung brachte mein Blut in so eine heftige Wallung, daß ein heftiges Nasebluten mir vielleicht ein gefährlicheres Uebel ersparte. Unfähig zu jeder Ueberlegung, eilte ich aus Mistriß St. Clairens Zimmer und kam erst in der freien Luft wieder zur Besinnung zurück. Die gutmüthige Neugier des Edinburger Volks setzte mich in eine neue Verwirrung: Männer und Weiber versammelten sich [73] zahlreich um mich, boten mir Hülfe an und thaten Fragen über die vermuthliche Ursache meines Zufalls. Ich flüchtete in den einzigen sich in der Nähe befindlichen Laden und eilte, sobald sich die Menge verlaufen hatte, nach Hause. Es bedurfte nur des gleichern Schlags meines geängsteten Herzens, um mir die Unziemlichkeit, ja das Unrecht meines Betragens einsehen zu lassen. Ich behandelte mich selbst wie ein krankes Kind, dem man die Veranlassung, sich zu schaden, ganz aus dem Weg räumt; ich drängte alle meine persönlichen Empfindungen jetzt zurück und fragte mich ganz einfach, ob, die Widrigkeit ihrer äußern Erscheinung abgerechnet, Mistriß St. Claire meine Vorwürfe denn wirklich verdiene. Sie, die ich für eine fühllose Frau hielt, hatte die gemeine Pflicht der Menschlichkeit gegen mich erfüllt, ich aber, die nach einer höhern Bildung strebte, hatte das Beispiel unsers erhabensten Lehrers [74] sehr schlecht gegen sie beobachtet. Gedemüthigt in meinen Augen durch meine Schuld, nicht durch Mistriß St. Clairens Mißhandlung, eilte ich den Schritt zu thun, den Menschenliebe und Klugheit gebot; ich entschuldigte in einigen Zeilen an Mistriß Murray's Schwester mein störrisches Betragen, begründete aber die verweigerte Annahme ihres Geschenks auf eine Art, die nicht ganz von dem Gefühl frei war, das meinen Busen in ihrer Gegenwart geschwellt hatte – doch das rachsüchtig bittre Gefühl, das mich in jenem Augenblick empörte, war aus meiner Seele gewichen. Ist nun einer und der andre unter meinen Lesern, der in diesem Wechsel der Empfindung noch keine Selbstherrschaft in meinem Urtheil über Mistriß St. Claire, keine evangelische Milde erkennen will, den warne ich, daß er durch überlegnere Siege über sein individuelles Gefühl nicht in geistigen Hochmuth, durch vorgebliche Feindesliebe nicht [75] zu heuchlerischer Bemäntelung seiner innern Gehässigkeit hingerissen werde.

Da es nun durchaus nothwendig geworden war, Mittel zu meinem Lebensunterhalt zu suchen, so beschäftigte ich mich mit der Verfertigung einiger artigen Kleinigkeiten, wie ich sie während meines Aufenthalts bei Miß Mortimer, zwar mit wenig Vortheil, aber doch mit einigem Erwerb verkauft hatte; allein leider war damals in Edinburg noch keine Verkaufsanstalt für weibliche Betriebsamkeit eröffnet. Jetzt verließ mich mein froher Muth. Ich zweifelte keinen Augenblick an Gottes Fürsorge, ich rief mir die Gelegenheiten zurück, wo sie mich aus drohenden Uebeln errettet hatte, aber mein Kopf schmerzte mir von vergeblichem Sinnen, auf welchem Wege Auskunft aus meinem Elend zu finden sey, bis Thränenströme seine Spannung erleichterten. In einem solchen Augenblick hörte ich eines Morgens Herrn Murray bei [76] meinen Hausleuten nach mir fragen. Es waren nun Wochen vergangen, ohne daß der Anblick eines theilnehmenden Wesens mich erinnert hatte, mein Wohl oder Wehe könne noch irgend Jemandes Aufmerksamkeit erregen; eben so lange hatte ich den Austausch vernünftiger Gedanken, ja den Laut gebildeter Stimmen entbehrt. Mit klopfendem Herzen zwang ich mich demnach, das meiner Hausfrau gegebne Gebot, diesen jungen Mann abzuweisen, erfüllen zu lassen; aber freilich empfand ich dabei einen Kummer, den der Gegenstand an und für sich selbst nicht hervorrief und nicht verdiente. Indem ich, meine Gedanken zu zerstreuen, trostlos in meinem kleinen Zimmer umherschaute, erblickte ich mein eignes Bild in dem kleinen Glase, das über meiner einzigen Wäschcommode hing: es zeigte mir eine so zerschlagne Geistergestalt, daß ich froh war, nicht so vor meines Bewunderers Augen erschienen zu seyn. Jedes [77] junge Geschöpf, das, einst blühend und bewundert, durch frühes Unglück sich vor der Zeit verblühen sah, kann wohl nicht dem bittersten Schmerz entgehen; aber mir, die ehemals in dieser Bewundrung ihr ganzes Glück gefunden, mir, deren Gefühle, so lange in eiteln Bestrebungen unangeregt geblieben, jetzt erst sich zur edlern Thätigkeit entwickelten, mir war's vielleicht zu verzeihen, wenn ich meine erloschnen Augen, meine erblaßten Wangen für einen grausamen Raub ansah, den das Schicksal an mir beging.

Das einzige menschliche Wesen, das ich jetzt zuweilen aufsuchte, war Cecile Graham mit ihren blühenden Kindern. Wie ich den Ekel vor der Unordnung und dem Schmuz ihrer Wohnung überwunden hatte, fand ich bei ihr so viel Zeitvertreib, wie in den meisten zierlichen Gesellschaften. Ich studirte den Menschen in ihr. Sie war ein Gemisch von gesunder Vernunft [78] und Aberglauben, augenblicklichem Geize und herzlicher Freigebigkeit, scharfsinnigem Beobachtungsgeist und romantischer Fantasie. Alles, was sie sah und hörte, erinnerte sie an eine alte Begebenheit irgend eines tapfern Grahams, oder an die Einwirkung eines Gespenstes oder einer Elfe. Das Andenken an Maitland, dem mancher meiner Augenblicke geweiht war, brachte mich auf den Gedanken, von Cecile die Gaelische Mundart zu erlernen. Mich selbst verspottend, dachte ich mir seine Ueberraschung, wenn ich ihn einst wiedersähe und ihn in seiner Landessprache – von der ich freilich nicht wußte, ob er sie noch verstehe – begrüßen könnte. Indeß Cecile an ihrem Spinnrade saß, ließ ich mir alle möglichen Gegenstände von ihr benennen und schrieb mit einem ungeheuern Aufwand von Selbstlautern die Aussprache auf. Cecile, welche keinen Begriff hatte, daß eine Arbeit ihren Lohn in sich selbst haben könnte, war [79] sehr neugierig, meine Absicht bei dieser Anstrengung zu erfahren; doch fragte sie mich nicht unmittelbar darum, sondern suchte mich durch Umschweife auszufragen. »Sie wollen wohl selbst in's Hochland gehen?« fragte sie mich einst mit ihrem hellen durch dringenden Blick. Ich versicherte sie, das falle mir nicht ein. »Sie könnten einen braven Mann nehmen, der Sie dahin brächte«, sagte Cecile weiter und setzte mit einer Andacht, als habe sie mir die höchste irdische Glückseligkeit gewünscht, hinzu: »und das gebe Gott!« – »Ich danke, Cecile, ich habe aber keine Aussicht dazu.« – »Das können Sie nicht sagen. War doch Lady Eredine selbst – mit Erlaub – nichts Bessers, als eine Südländerin.« – Ich mußte lachen, denn Cecile sagte ihr »Erlaub« nur, wenn sie etwas Unanständiges zu entschuldigen zu haben glaubte. – »Wie kam der Lord zu so einer Frau?« fragte ich. – »Es war des Himmels Wille: er konnte, [80] sie nicht lassen, und Herrn Kenneth ist's, wenn er leben bleibt, wie's Gott gefallen möge! auch vorbehalten, eine Landsmännin von Ihnen zu freien.« – »Habt Ihr Ahnungen, Cecile, daß Ihr wißt, was Herrn Kenneth bevorsteht?« – »Nein, Lady, ich sah nie etwas Ungewöhnliches; aber wir haben in unsrer Gegend einen Spruch, der sagt: ›Eine Rehkuh, die aus der Fremde kam, das beste Lager in Glen Eredine nahm‹, und der weiseste Mann in Killifoildich, und das ist Donald Macjan, sagte mir, die schönste Sachsen-Blume würde in der Halle von Castell Eredine grünen und blühen.« – »Das ist eine hübsche Weissagung. Da sollte ich lieber gleich nach Eredine gehen, mein Glück zu versuchen.« – »Darüber ist gar nicht zu lachen«, fuhr Cecile ernsthaft fort. »Niemand weiß, wo ihm sein Glück blühen wird. Herr Henry selbst könnte Sie wählen, wenn er wüßte, welche gute Dame Sie sind.« – Dieser Herr Heinrich aber [81] war Cecilens Held; sie räumte zwar Herrn Kenneth, als dem ältesten Sohn, die erste Stelle in ihrer Ehrerbietung ein, allein ihre herzliche Liebe war Heinrich geweiht. Sie hatte mir so viel von ihm, seiner fröhlichen Kindheit, seinem Muth, seiner Abhärtung auf Jagd, bei Seestürmen und allen Gefahren erzählt, daß er mir wie ein alter Bekannter vorkam, und ich, auf Cecilens Wort, alles Gute und Große von ihm erwartete. Allein dieser ihr Abgott besuchte seine Heimath nur zufällig und verstohlen. Die Ursache, warum ein Bergschotte, dem das Feuer seines eignen Heerdes flammte, dem ein betagter Vater jedesmal mit Sehnsucht entgegen sah, in der Fremde lebte, wollte mir Cecile anfangs nicht deutlich erzählen; wie sie aber meine Theilnahme an ihrem jungen Laird gehörig erprobt zu haben glaubte, gab sie mir folgenden Bericht.

»In der Michaelsmesse mag es gegen zwanzig [82] Jahr seyn«, erzählte sie, »als Leute vom Clan Alpine, der, mit Erlaub, nicht viel taugte, die Kühe von Glen Eredine hinwegtrieben, alle, sogar Lady Eredines eigne Kuh, die nach der Lady selbst Lady Eredine hieß. Sie können denken, ob die Erediner das ruhig mit ansahen. Herr Kenneth hielt sich des Studirens wegen in der Stadt auf, deshalb war's nicht seine Schuld, daß er nicht für uns focht, aber Herr Henry, er sollte eben auch dahin abgehen, der bat so lange und so dringend, daß ihm der Lord endlich seinen Willen ließ. Donald Macjan stand beim Abschied zunächst an des Lairds Lehnstuhl: ›Knabe‹, sagte er und legte seine Hand auf Henry's Kopf, ›du wirst Glen Eredine keine Schande machen und nicht mit leeren Händen heimkehren.‹ Dabei wandte er Donald einen Blick zu, als wollte er sagen: ›Du bleibst ihm zur Seite‹; und Donald sagte mir, ihm habe sein Herz hoch geschlagen, und er habe [83] gedacht: zu kleinen Stückchen sollen sie mich hacken, ehe ich einen Zoll von ihm weiche. – Da zogen sie aus: Donald und noch drei, weil Herr Henry sagte, er wolle nur, was er brauche, denn so klug war er, wenn gleich fast noch ein Kind. Er zog nun der Spur des Viehes nach, durch Moor und Haide, wie ein gemachter Mann nur gekonnt hätte. Augen hatte er, wie ein Adler, und machte den ganzen Tag keine Rast, auch nur, um einen Bissen Brod in den Mund zu stecken, obschon seine Zähne damals länger waren, wie sein Bart; Nachts wickelte er sich in seinen Plaid und legte sich mit den Andern auf den Boden, wie es mancher wackre Laird that, als die Gasthöfe und Kutschen und dergleichen Hätscheleien noch nicht Sitte waren.

Gut; früh war er vor den Rehen schon wach, und wie er beim Morgendämmern von Bouoghrin herab steigt, sind die Erediner Kühe, [84] Lady Eredine an ihrer Spitze, das Erste, was er sieht. Neil Roy, Calum Dubh und ein paar Andre, die, mit Erlaub, eben so wenig nutz waren, hüteten sie, und mancher Andre mochte etwa in den Büschen versteckt seyn. Damals waren's üble Zeiten. Die rothen Soldaten waren kurz vorher eingebrochen und hatten unsern Männern ihre Wehren genommen, so daß der, welcher geboren war, Schwerter, Schilde und Dolche zu besitzen, genug, um den ganzen Glen Eredine zu bewaffnen, keine Waffe in seiner Hand hielt, als den Haselstock, den er von seiner Hecke geschnitten. Aber ein Graham, Lady, packt seinen Feind, wenn ihm der Tod auch schon die Finger lähmt. Herr Heinrich stand, wie's ihm zukam, vornan und gebot Neil Roy, das Vieh friedlich wieder herauszugeben. Aber dieser Schelm, mit Erlaub, war so frech, des Lairds Sohn zu antworten, ›was er genommen hätte, wolle er [85] behalten.‹ – ›Wenn Du's im Stande bist!‹ sagte Herr Heinrich, und Neil schlug vor, es sollten die fünf Erediner sich fünf seiner Leute aussuchen und mit ihnen kämpfen. ›Topp!‹ rief Herr Heinrich, ›ich wähle Dich, und Schmach dem Erediner, der nicht den stärksten Feind wählt!‹ – O Lady, wenn Sie hörten, was Donald von diesem Kampf sagt, das Blut würde in Ihren Adern erstarren! Herr Heinrich hielt sich so tapfer, daß Neil, ungeduldig, dem Ding gar kein Ende zu sehen, seinen Dolch zog, um ihn in unsers lieben Lammes gutes Herz zu stoßen; doch er fuhr ihm nur ganz leicht in den Arm. Wie aber Donald ihn bluten sah, ließ er seinen Gegner, sprang dem Neil an die Kehle und würgte ihn mit beiden Händen, bis er den Dolch fallen ließ, wobei Calum Dubh immer auf ihn losschlug, wie auf eine Korngarbe; allein daran kehrte Donald sich nicht, bis Herr Heinrich aus Edelmuth [86] ihm befahl, ihn loszulassen, wobei er ihm mit eigner Hand vom Boden aufhalf und den Dolch so weit fort in die Haide hineinwarf, daß ihn niemand mehr fand. Die beiden andern Alpiner lagen am Boden, die Erediner hatten also gewonnen und eilten zu dem Vieh. Der eine rief: Lady Eredine! der andre: Duh Voiach (schwarze Schöne), und die guten Thiere erkannten ihre Stimmen und sprangen ihnen nach. Aber Herr Henry suchte zuerst Janet Donalachs Kuh heraus, weil sie einer Wittwe gehörte und vier Kinderchen von ihr ernährt wurden, aber alle andre kamen auch nach Haus, Huf und Horn, wie Herr Heinrich zugesagt hatte, und keiner der Alpiner durfte sich rühren, denn Neil hatte versprochen, nur fünf gegen fünf sollten kämpfen.«

»Aber, Cecile, was hat denn das mit Herrn Heinrichs Verbannung aus der Heimath zu thun?« – »Das? ei nun! die Südlands-[87] Sherifs, die sich in alles mischen zu müssen glauben, so daß sie den Distelflocken nachspüren, wohin sie der Wind trägt, meinten, daß es auch zu ihrem Amt gehöre, zu fragen, warum die Alpiner mit Glen Eredine gefochten. Da mußten die rothen Soldaten Neil Roy und Calum Dubh beim Kopf nehmen, und die wurden auf Stirling Castle gebracht, und nun hieß es, man würde Herrn Heinrich auch abholen. Lady Eredine hatte aber immer gewünscht, dieser solle fremde Länder bereisen; da lag sie dem Lord so lange an, bis er es erlaubte. Um nun nicht schwören zu müssen und damit Menschenleben zu wagen, verließ Herr Heinrich lieber Freunde und Mitgeborne und Alle, die gern den Boden geküßt hätten, wo sein Fuß geschritten. O wehe mir! entweder erinnre ich mich noch des Tags, oder ich habe mir's so lange erzählen lassen, bis mir zu Sinn geworden ist, als hätte ich's gesehen: [88] denn mir ist's, als wüßte ich's noch, wie meine Mutter mich auf ihre Arme nahm und das Thal hinab ihn begleitete; Jung und Alt ging mit ihm, und der Pfeifer voraus spielte das Klaglied. Keiner konnte sprechen, meine Mutter konnte ihm kein Lebewohl sagen, sie ging und ging, bis sie nicht mehr fortkonnte, und dann sah sie ihm nach und segnete ihn und weinte. Und die Säuglinge, die diesen Tag auf den Armen getragen wurden, waren, wie er das erste Mal wieder nach Glen Eredine zurückkehrte, schon auf den Beinen und liefen ihm auf eben dem Wege mit Freuderuf entgegen.« – »Was ward denn mit den beiden Gefangenen?« – »Loslassen mußten sie die. Meinen Sie, ein echter Schotte würde schwören, damit ein Südländer-Sherif sein Müthchen kühlen möge? Zwei Erediner versteckten sich lange, um dem Zeugniß zu entgehen, Donald und Duncan Bane antworteten so listig, daß der [89] Südländer nichts daraus machen konnte. Da ward Neil frei, und in derselben Nacht – was aber, wie Donald sagte, kein wackrer Erediner gutheißen konnte, – trieb er vier von des Sherifs eignen Kühen in Glen Eredines Triften, um Herrn Heinrich damit zu ehren, aber der alte Laird schickte sie zurück, als haben sie sich allein dahin verlaufen.«

Diese Erzählung und zwanzig andre, in welchen Herr Henry immer als Held auftrat, vermehrten meine Theilnahme an einem Volksstamm, dessen Charakter durch zwanzigjährige Unterdrückung seine Hauptzüge noch beibehalten hatte. Man entriß ihm seine Volkstracht, man nahm ihm seine Waffen, die ihm als Schmuck und Wehr gleich theuer waren, – ist es zu verwundern, wenn diese beeinträchtigten Menschen ihre Sicherheit in der Flucht, ihre Stärke im Betrug suchten?

Doch der sorgenvolle Arme ist selten sehr [90] neugierig, und wie theilnehmend ich auch Cecilens Geschichte anhörte, war mein Geist doch noch lebhafter mit der mir drohenden Noth beschäftigt. Ich hatte schon eine, für meine gänzlich erschöpfte Baarschaft, sehr ansehnliche Summe daran gewendet, in öffentlichen Blättern meine Dienste als Lehrerin der Jugend anzubieten. Wahrscheinlich schenkten die Edinburger einer unbekannten Fremden kein Vertrauen. Mein Versuch blieb ohne Erfolg; nun entschloß ich mich zu dem schwersten Schritt, zu dem bis jetzt die Noth mich genöthigt, ich sammelte mir aus den Zeitungen die Anzeige der verschiednen weiblichen Lehranstalten der Stadt und ging eines Morgens im kalten Winterfroste aus, von Haus zu Haus meine Dienste anzubieten. In dem einen waren die Lehrerinnen schon überzählig, in einem andern bestellte man mich auf ein ander Mal, in einem dritten nahm man keine so jungen Lehrerinnen [91] an, und so kam ich nach einer langen Wanderung hungrig und erfroren in mein ödes Zimmer zurück, wo ich bei der Gluth meiner letzten Kohlen und einem ärmlichen Mahl Gott anflehte, mir den Dank für die Wohlthat zu lehren, daß ich heute noch nicht ohne Feuerung, nicht ohne Nahrung sey. O das ist ein gewaltsamer Zustand, der von wahrer Ergebung noch fern ist! – Aber das junge Leben, das noch auf tausend Wegen zum Glück gelangen zu können sich bewußt ist, kämpft mit allen Kräften gegen den Gedanken, nur zur Entsagung bestimmt zu seyn. Im Alter ist das leichter, da verlieren sich die Wege einer nach dem andern, und der einzige letzte, den wir noch wallen müssen, führt sicher zum Ziele. Schon hatte ich durch Cecilens Beihülfe in der größten Heimlichkeit einige meiner aus London mitgebrachten Kleidungsstücke verkaufen lassen, um meiner Hausfrau ihre Miethe zu [92] bezahlen, und berechnete ängstlich die Zeit der abnehmenden Winterkälte, um dann irgendwo in einem Landstädtchen bei einer ehrbaren Familie die häuslichen Dienste zu übernehmen; eine Aufgabe, zu der ich in der rauhen Jahreszeit bei meinen bisherigen Gewohnheiten die physische Möglichkeit nicht einsah. Unter diesen Umständen kam eines Morgens meine Hausfrau zu mir herein, setzte sich ohne Rücksichten, denn zu diesen hielt sie sich gegen ihre arme Hausgenossin nicht verpflichtet, recht breit auf einen Sessel und erklärte mir, »sie habe gehört, daß ich eigentlich in der Absicht ins Land gekommen sey, in einem reichen Hause Erzieherin zu werden; nun habe sie eine Schwester, die als Stubenmädchen bei Mistriß Boswell diene, einer so reichen Dame, wie nur eine; der habe sie meine artige Person und sittsames Wesen gerühmt und die saubern Arbeiten, die sie mich machen gesehen, und die habe mich ihrer Herrschaft [93] vorgeschlagen, um Miß Jessy, ihr elfjähriges Töchterchen, zu erziehen. Mistriß Boswell sey auch nicht ganz abgeneigt, und so sollte ich doch ja unverzüglich nach George Square gehen, mein Glück zu versuchen.« Also einer solchen Empfehlung sollte ich meine Versorgung endlich zu verdanken haben? dachte ich mit schmerzlichem Lächeln. Das ist der Lohn des stolzen Sinnes, der sich lieber in die unfreundliche Fremde begab, als Gefahr laufen wollte, in seiner Heimath vor den Augen seiner Bekannten dienstbar zu werden! Doch diesen Betrachtungen nachzuhängen, hatte ich nicht Zeit; ich sah die Nothwendigkeit, die sich mir darbietende Aussicht zu verfolgen, und machte mich unverzüglich nach George Square auf den Weg.

Es war noch bei guter Zeit, ich hatte mein ärmliches Frühstück eben erst genossen, meine eigne Einsicht hätte mich belehren sollen, daß die reiche Frau noch im Bette seyn würde. [94] Dennoch kehrte ich bei dem Bescheid, um ein Uhr wiederzukommen, mit gesunknem Muth nach Hause zurück. Um ein Uhr erhielt ich denn wirklich Zutritt. Man führte mich in ein artig aufgeputztes Zimmer, wo mich Mistriß Boswell, halb sitzend halb liegend, auf einem zierlichen Sopha empfing. Ein mageres, eckiges Gesicht, mit einer aufgestülpten Nase und schwarzen Augen, machte, daß sie auf den ersten Blick gescheidt aussah, allein ihr gerade eingeschnittner Mund, ihre borstigen Augenbraunen, ihre niedrige, gedrückte Stirn zeigten beim zweiten den Irrthum. Sie vertrieb sich mit ihrer Tochter, einem schönen lockigen Kinde, die Zeit vor einem großen Schmuckkästchen, aus dem sie Armbänder, Halsketten, Ringe hervornahm und sich und die Kleine so damit behing, daß sie wie Südseeinsel- Prinzessinnen aussahen. An der Wohlgefälligkeit, mit der sie sich in dem seitwärts hängenden Spiegel [95] beschaute, war es sichtbar, daß diese Beschäftigung zu ihrer sowohl wie zu Jessy's Kurzweil gereichte. Ich stellte mich ihr bescheiden als die Person vor, welche ihr als Erzieherin ihrer Tochter empfohlen sey. Sie stand nicht auf, beantwortete auch meine Rede nur mit einer Verziehung des Mundes, die sie für ein Lächeln hielt, wovon jene aber auch nicht die fernste Aehnlichkeit hatte: es war eine Verlängerung der Mundwinkel, von welcher Herz und Auge keine Notiz nahmen. Nach einer ziemlichen Pause sagte sie zu dem Kinde: »Jessy, meine Liebe, geh zur Campel und sage ihr, sie soll mir mein Riechfläschchen suchen, und hilf ihr dabei.« – »Nein, nicht ich«, rief die Kleine in heulendem Ton, »ich weiß wohl, daß Du dein Riechfläschchen nicht brauchst, Du willst mich nur fortschicken, um wegen der garstigen Hofmeisterin zu sprechen.« – »Nicht doch, Herzchen! geh nur! ich nehme Dich auch [96] mit mir in der Kutsche spazieren, und wir kaufen eine neue Puppe, eine große große mit blauen Augen.« – »Du hast mir schon einmal eine versprochen, wenn ich das O schriebe und hast sie mir doch nicht gegeben. Jetzt wirst Du's eben so wenig thun.« – Da ist mir gut in die Hände gearbeitet, dachte ich. Mutter und Kind stritten sich fort, bis Letzteres seinen Willen behielt und die Mutter mir, nun in Jessy's Gegenwart, meine Geschicklichkeit abfragte. Das Pianoforte, Singen, alle Wissenschaften zusammen sollten gelehrt werden; mir ward aber, ehe der Katalog zu Ende war, die Antwort erspart, denn Jessy, die mich von allen Seiten betrachtet hatte, fragte: »Sie sind doch nicht selbst die Hofmeisterin? oder ja?« – »Ich hoffe es zu werden, liebes Kind.« – »Ich dachte, Sie wären ein häßliches, grämliches, altes Ding. Sind Sie grämlich? Sie?« – »Nein, ich hoffe nicht.« – [97] »Ei, ich glaube, Sie sind lustig und freundlich.« – Mistriß Boswell warf mir einen listigen Blick zu, der ihre Zufriedenheit ausdrücken sollte. »Nun, Liebchen, von der hübschen Lady möchtest Du doch Musik und allerhand Dinge lernen?« sagte sie zur Tochter. – »Ich will nichts lernen, gar nichts; aber spielen soll sie mit mir und mich mit dem garstigen Buchstabirbuch nicht quälen.« – »Nun, sie soll Dich nicht quälen. Miß Percy, wie viel Jahrgeld erwarten Sie?« – »Das bleibe Ihnen und Herrn Boswell überlassen! Achtungswürdiger Schutz ist für mich die erste Rücksicht.« – »Gewiß, Schutz ist eine wichtige Sache«, bemerkte die Dame und schien sich dann lange von dieser Verstandesanstrengung erholen zu müssen. – Ich hatte während dem das Glück, Jessy's Gunst durch meine Unterhaltung so sehr zu gewinnen, daß sie bei ihrer Mutter nächster Frage: wenn ich mei nen [98] neuen Beruf antreten würde, durchaus von keinem Aufschub hören wollte, sondern so lange weinte und trotzte, bis ich denselben Abend noch wiederzukommen versprach.

Durch ein unglückliches Schicksal nehmen meistens gerade diejenigen Ehemänner die Zügel des Hausregiments, welche am wenigsten sie zu führen geschickt sind. Eine Frau von Grundsätzen weist dieses Vorrecht von sich, eine vernünftige Frau sucht sich die Nothwendigkeit, das Regiment zu führen, selbst zu verhehlen. Die innige Liebe des Weibes ist viel beglückter durch Unterwürfigkeit, als durch Herrschaft; und gegen den überlegnen Geist der Frauen ist die männliche Eifersucht schon hinlänglich bewaffnet. Mistriß Boswell ward durch keine dieser Ursachen verhindert, ihren Mann am Leitseil zu halten. Das wunderte mich nicht weiter, aber ich konnte lange nicht begreifen, warum sich's der Gatte gefallen ließ, denn er [99] war kein einfältiger Mann. Ich erklärte mir's endlich als die Folge seines langen Aufenthalts in den Kolonien, wo er, von aller gebildeten Gesellschaft entfernt, bei wenigen Geschäften, gar keinen literarischen Hülfsquellen, einzig auf den Umgang seiner Frau beschränkt gewesen war. Sie hatte dagegen ein Herrschermittel, das im häuslichen Leben, obgleich ganz negativ, so mächtig ist, daß ihm, meines Bedünkens, noch kein Ehemann widerstanden hat. Er flieht, oder unterwirft sich. – Sie schmollte mit einer von mir bis dahin nicht für möglich gehaltnen Hartnäckigkeit, die allen Bitten, allem Nachgeben widerstand. Außerdem war sie in ihrer ersten Jugend wahrscheinlich hübsch gewesen – das ist freilich ein vorübergehendes Mittel der Gewalt, allein ein sehr wenig rühriger Mann macht sich aus der einmal gefaßten Bewunderung seiner Frau eine Gewohnheit, die es ihm bequem ist nicht zu [100] ändern. Wo aber die Herrschaft fehlschlagen konnte, bediente sich Mistriß Boswell der List: ihr war jedes Mittel willkommen, Kind, Gesinde, ein Jeder, der sich wollte brauchen lassen, ward gebraucht. Dagegen wendete Kind, Gesinde und wer sich diese Mühe geben wollte, gegen sie die einzigen Waffen, an denen sie zugänglich war: Verleumdung und Schmeichelei, und hatte sie nicht eben die Laune, Festigkeit zeigen zu wollen, so widerstand sie diesen selten. Schon am ersten Abend, den ich in ihrem Hause verlebte, lernte ich ihre Eigenheiten kennen. »Wollen Sie morgen Jessy ihre erste französische Stunde geben?« fragte sie mich mit dem verbindlichsten Lächeln, das sie aufbringen konnte. »Ich sollte denken, meine Theure«, sagte Herr Boswell, nicht im Ton eines Oberherrn, »wenn es Dir gefällig wäre, möchte es vielleicht besser seyn, das Kind lernte erst seine Muttersprache.« – »Die kann sie [101] immer noch lernen« antwortete die Dame, indem ihr Lächeln verschwand. – »Meinst Du aber nicht, sie sollte lieber mit dem beginnen, was am nothwendigsten ist?« – »Wir können Miß Percy ihre Zeit nicht mit Englisch lehren verlieren lassen«, sagte sie, ohne den Gatten eines Blickes zu würdigen. Dieser bedurfte einige Secunden, seinen Muth zu sammeln, dann fing er mit sanftem Ton an: »Ich glaube, Miß Percy wird nie ihre Zeit für verloren halten, wenn sie unserm Kinde irgend etwas, das Du ihm nützlich glaubst, lehrt.« Mistriß Boswell drehte alle Ringe an ihren Fingern herum und sagte nach einer langen Pause, ohne eine Muskel ihres Gesichts zu bewegen: »Man braucht das Kind nur lesen zu hören.« – »Doch Miß Percy's Sprache und Ausdrücke sind so unvergleichlich gebildet ...« Hier unterbrach er sich, von Anzeichen, die mir noch unbekannt waren, in Zaum gehalten, und die [102] Dame sprach kein Wort mehr, hob ihre Augen nicht mehr auf. Endlich, wie ich mich zur Schlafenszeit hinwegbegeben wollte, sagte ich, im innern Gefühl, daß es dem Vater zustehe, über den Unterricht seines Kindes zu entscheiden, zu Herrn Boswell: »Soll ich morgen mit Miß Jessy die englische Sprachlehre anfangen?« – »Wie Sie's für's Beste halten ... wie es Ihnen gefällt«, antwortete er zögernd und warf seiner Frau einen schüchternen, fragenden Blick zu, auf den sie aber keineswegs zu achten würdigte. Nun begleitete ich sie bis an ihr Schlafzimmer, wo sie mich zu mei ner Befremdung hineinzog und schnell hinter sich zuschloß, so daß Herr Boswell auf dem Vorplatz zurückblieb. Sie setzte sich bequem nieder und erzählte mir von Negersclaven, Goldstaub und Elephantenzähnen. Nach einer Weile bat der Gemahl sehr freundlich um Einlaß; sie that gar nicht, als wenn sie ihn hörte.[103] Bei einem zweiten Gesuch von seiner Seite sagte ich, ihr gute Nacht wünschend: »Ich fürchte, Herrn Boswell im Wege zu seyn.« – »O seyn Sie ruhig!« rief sie, den Kopf schüttelnd mit einem listig seyn sollenden Blick. Da sie den Thürschlüssel in ihre Tasche gesteckt hatte, hing ich von ihrer Willkür ab, und sie schwatzte unbefangen fort, bis der arme Herr Boswell, seiner vergeblichen Bitten müde, von seinem eignen Schlafzimmer fortging, um in irgend einem andern Gemach eine Schlafstätte zu suchen. Sobald sie seines endlichen Rückzuges gewiß war, schloß sie mir die Thür auf und wünschte mir eine gute Nacht. Während vier Tagen gelang es Herrn Boswell auf keine Weise, weder Blick noch Wort von ihr zu erlangen. Er willigte in ihren Unterrichtsplan für das Kind – ihr Sinn war nicht zu wenden. Endlich am fünften Morgen gab sie ihm die erste noch sehr mürrische Antwort auf eine [104] seiner Fragen, und ehe ich mich's versah, war die Versöhnung vollendet, deren Beweggrund von ihrer Seite, wie ich später erfuhr, Geldbedürfniß war. – Sie machte mich sehr bald bekannt mit vielen ihrer kleinen Künste, den Fehlern ihres Gatten, den Familienzwistigkeiten, den Mitteln, Miß Jessy zu gängeln, ihren Mann zu hintergehen, das Gesinde zu belauschen. Ich konnte die Nothwendigkeit dieser elenden Listen nie begreifen; allein es liegt in jeder Verstandesübung eine Art von Genuß, diese Kniffe aber waren die einzige Art, wie Mistriß Boswell den ihrigen zu üben vermochte. Dieser Charakter flößte mir peinlichen Ekel ein, in einem Grade, den ich kaum zu unterdrücken im Stande war. Ich glaube, es ist leichter, Beleidigungen zu vergeben, als fortwährend Milde gegen einen Menschen zu üben, der unsern Verstand so wie unser moralisches Gefühl verletzt, und diese Milde ist dennoch [105] nicht weniger eine heilige Pflicht der besonnenen Menschlichkeit, wie jene. Am wehesten that mir Mistriß Boswells Bösartigkeit dann, wenn sie auf meinen Zögling Einfluß üben mußte. Aus Eifersucht über des Kindes Neigung zu mir, oder vielleicht aus bloser Gewohnheit, krumme Wege zu gehen, führte sie die Kleine zu Heimlichkeiten an, die der Mutter Thorheit oder des Kindes Einfalt mir immer verriethen. Bald waren es Vergünstigungen irgend einer Art, die ihr streng verboten wurden, der Hofmeisterin wissen zu lassen, oder sie ließ eine vernachlässigte Aufgabe heimlich von Jemand anders an des Kindesstelle verrichten; war die Kleine über einen von mir erhaltnen Verweis betrübt, so gab sie ihr Zuckerbrod und befahl, ehe sie mir nahe käme, den Mund wohl auszuspülen, damit ich es nicht wahrnähme. Nur die harte Nothwendigkeit, unter der ich seufzte, konnte mich vermögen, [106] in diesem Hause zu bleiben. Mein Gefühl empörte sich um so heftiger gegen diese elenden Kunstgriffe, weil mir mein Zögling sehr lieb ward. Die Tochter so einer Mutter mußte müßig, verschlagen, selbstwillig seyn, allein dabei war Jessy anmuthig, gescheidt und von einer kindlichen Innigkeit, die allen Verkehrtheiten ihrer Erziehung widerstanden hatte. Dieser letzten Eigenschaft ist nie zu widerstehen, am wenigsten konnte ich's, die außer diesem Kinde keinen Menschen hatte, der mir Liebe erwies. Ohne Jessy wäre dieses Haus eine Einöde für mich gewesen. Mit Mistriß Boswell war kein Gespräch zu führen, sie las nicht, sie beschäftigte sich nicht, also fand keine gemeinschaftliche Zeitanwendung zwischen uns statt; sie dachte nicht, also konnten wir keine Ideen auswechseln; sie war einzig mit sich beschäftigt, es fand also keine Sympathie zwischen uns statt. Ihre Unart und Laune hatte Freunde und Bekannte [107] von ihrem Tische gescheucht, nur ein paar arme alte Verwandtinnen, die für ihre Unterthänigkeit zum Essen bleiben durften, kamen in's Haus. Herrn Boswells Aufmerksamkeit auch nur im geringsten Maaße auf sich zu ziehen, war, wie ich bald erfuhr, eine unverzeihliche Unthat – auf diese Weise blieb ich in diesem Hause so fremd, wie ich den Tag meines Eintritts gewesen war. Welche strenge Schule mußte ich durchwandern! Das einzige Geschöpf, an das ich ein vernünftiges Wort richten konnte, das einzige, für das ich Liebe empfinden konnte, war ein Kind, das man nicht meiner Einwirkung überließ; mein Unterhalt hing von einem völlig verächtlichen Wesen ab – aber ich war jetzt so weit zur Selbsterkenntniß gekommen, daß ich fühlte, wie ich gerade durch diese schweren Obliegenheiten am besten zur Beherrschung meines noch immer aufstrebenden Stolzes gelangen könnte, und ich [108] wiederholte mir täglich das Versprechen, geduldig abzuwarten, bis die Vorsehung mir eine tröstlichere Aussicht eröffnete.

Der einzige Genuß, den ich in meiner ärmlichen Einsamkeit gehabt hatte, meine Besuche bei Cecile Graham, waren mir in meiner neuen Lage unmöglich. Jessy konnte ich nicht mit dahin nehmen, und so lange allein auszugehen, war mir nicht vergönnt; so ward denn auch mein Erlernen der Gaelischen Sprache aufgegeben, und ich mußte, mit niedergeschlagenem Herzen, dennoch lächeln, daß mir darum die Möglichkeit, Herrn Maitland wiederzusehen, entfernter schien, weil ich dieses Band zwischen ihm und mir zerreißen mußte. Endlich einmal an einem Tag, wo Mistriß Boswell Jessy mit sich genommen hatte, um ihr Spielzeug zu kaufen, nahm ich die Zeit wahr, zu Cecilen zu gehen. Ich fand sie beschäftigt, auf dem einzigen hölzernen Stuhl, den sie besaß, Haferkuchen zu [109] kneten, denn ihr Tisch lag so voll von den verschiedensten Dingen, daß sie darauf keinen Platz hatte. Bei meinem Eintritt warf sie den Teig bei Seite, zog einen zerrißnen Strumpf von einem quer über die Stube gezognen Strick, stäubte damit den Stuhl ab und bat mich, zu sitzen. Ich entschuldigte mich, daß ich sie störte. »O das thut gar nichts!« rief sie, »ich bin gewiß, Sie bringen immer Glück, und ich dachte schon, ich würde Sie nie wiedersehen.« – »Warum besuchtet Ihr mich nicht?« fragte ich. – »Ja, Lady, ich war an Ihrer Thür eines Tags, wo man sagte, Sie wären ausgegangen; ich kam dann zwei oder dreimal wieder hin und setzte mich mit den Kindern auf die Stufen und meinte immer, Sie sollten aus der Thür treten – aber es ward mir nicht so gut.« – »Warum ließt Ihr mich nicht rufen?« – »Liebe Lady«, sagte Cecile mit einem Lächeln stolzer Demuth, »die Leute hätten [110] Wunder denken können, warum ich Sie sprechen wollte. Aber viel habe ich an Sie gedacht. Man sagt: ›des Fremdlings Odem ist kalt‹; aber gewiß, Sie können mir glauben, mein Herz ist für Sie warm gewesen, seit ich Sie zuerst sah.« – »Ich glaube es, Cecile; es gibt nicht viele Herzen, wie das Eure.« – »Das letzte Mal, wie ich Euch sah, Lady, wart Ihr bleich wie ein Schneeglöckchen, so daß ich meinte, es könne Euch ein böser Blick getroffen haben.« – »Verdirbt ein böser Blick andrer Haut, als dessen, der ihn haben mag?« fragte ich ungläubig. – »Ein böser Blick kann einen Stein spalten, sagt man in Glen Eredine«, antwortete mit ernstem Kopfschütteln Cecile. »Wenn Sie es aber annehmen wollten, so hätte ich wohl etwas, das Sie gegen alles Unheil schützen könnte.« Sie suchte nun lange in ihrem Bettstroh und fand endlich etwas, das ungefähr wie ein Feuerstein aussah. »Wenn Sie dieses [111] in Ihren Unterrocksbund nähen wollen«, sagte sie mir ihn darreichend, »kann Niemand Ihnen mehr schaden.« – »Dank, liebe Cecile! aber wenn ich Euch den Schatz nehme, kann er Euch ja fehlen.« – »O mein Herzblättchen!« (Kalb meines Herzens, ist der Gaelische Ausdruck) rief Cecile innig, »es ist meine Pflicht, alles für Euch zu thun, und gewährt mir Gott erst, wieder nach Glen Eredine zu kommen, so werde ich vielleicht mehr können.« Ich mußte innerlich lachen über den Stellvertreter der Vorsehung, mit dem mich diese gute Seele beschenkt hatte, dachte aber doch, daß er immer so wirksam, wie jede andre menschliche Weisheit, zu wirken vermöchte; da aber ein Versuch, Cecilens Aberglauben zu bestreiten, ihr Vertrauen zu mir hätte erschüttern können, nahm ich ihren »Elfen-Pfeil«, wie sie den Stein nannte, dankbar auf, und fragte sie dagegen, wenn sie nach ihrer Heimath [112] abzureisen gedächte. – »Ich weiß nicht«, antwortete sie seufzend, »das Wetter ist klar und schön, und ich sehne mich nach Haus; aber ... sehen Sie ... ich fürchte, es möchte Jemmy nicht lieb seyn, wenn er mich in Eredine wüßte.« – »Wie wäre das möglich?« – »Ich weiß nicht«, antwortete sie halb lächelnd und blickte vor sich hin, dann tief seufzend und an ihrem Schürzenband drehend, »sehen Sie, Lady, ich habe einen Freund in Glen Eredine, ich ... ich ...« – »Um so besser, Cecile, das kann Euch nicht vom Nachhausegehen abhalten.« – »Ja, ich will sagen ... einen Junggesellen, ... den ich hätte freien sollen, wenn es also beschlossen gewesen wäre.« Nun seufzte sie wieder. – »Sollte Euch Euer Mann nicht trauen, Cecile?« – Augenblicklich war ihre Verlegenheit verschwunden, sie sah mir fest in's Gesicht und sagte: »Nein, Lady, so schlecht werde ich nimmermehr von ihm denken, so verkehrt ist er [113] nicht. Aber er könnte meinen, dort würde mir das Herz schwer seyn, so lange er so weit weg ist – denn leider ist der arme Junge nie mehr recht bei sich, seitdem der Vater mich dem Jemmy zur Frau gab – ach er will sich nicht abwehren lassen, immer nach mir zu sehen und mit dem kleinen Kenneth da (ihrem Knaben) zu spielen und unsre Kühe Abends nach Hause zu treiben, und seit der Vater starb, läßt er sich nicht hindern, meiner Mutter den Torf zu stechen, ob gleich ich nie mehr ein Wort zu ihm sprach, weder Gutes noch Böses, seit dem Tag ...« – Hier fuhr sie mit ihrem Aermel über ihre Augen und setzte dann leise hinzu: »Nun, es war Gottes Wille, und der führt alles zum Besten.« – »Aber wart Ihr denn nicht ein bischen hartherzig, daß Ihr so einen treuen Liebhaber verließt?« – »O Gott, Lady, was konnte ich thun? Ich sah wohl, daß er nicht für mich passe. Seine Eltern sind [114] nur Fremde, mit Erlaub, und ich, wenn ich's gleich selbst sage, bin mit den besten Familien im Lande verwandt. Da begreifen Sie ja, daß es mein Vater nie zugeben konnte.« – »Und Ihr gehorchtet Euerm Vater, gute Cecile?« sagte ich, tief beschämt über das pflichtgemäße Betragen dieser ungebildeten Frau, in Vergleich mit meinem eignen Benehmen. – »Ach, Lady, ich war ja sein Kind«, antwortete Cecile, »außerdem wußte ich, Robert war mir nicht bestimmt; das wußte ich – wohl wußte ich das.« – Sie wiederholte diesen Satz auf alle Weise, indeß ich über meinen unseligen Ungehorsam nachsann, denn Cecile hätte lieber zehnmal dasselbe gesagt, als dann, wenn sie die Unterhaltung übernommen, eine Lücke im Gespräch entstehen zu lassen. »Wie erfuhrt Ihr denn, daß Robert Euch nicht zum Gatten bestimmt sey?« – »Das will ich Ihnen sagen«, antwortete Cecile mit leiserer Stimme, »wir haben in Glen [115] Eredine einen Seher, der war sehr bestürtzt, wie er mich im Geiste ganz deut lich an Jemmy's linker Seite stehen sah. Zuerst früh, dann immer weiter im Tag hinein – da hatte er keine Ruhe, bis er es mir gesagt hatte. Wie ich's aber erfuhr, fiel ich vor Schrecken nieder, als träfe mich ein Blitzstrahl, denn ich verstand wohl, was das bedeute. Aber wir können keiner unserm Loose entgehen. Nicht daß ich klagen wollte, denn Jemmy ist ein guter Gatte, und ich habe es gut bei ihm gehabt.« – »Das verdientet Ihr, Cecile. Eine gehorsame Tochter wird stets ein wackres Weib.« – »Grade das sagte Miß Graham, wie sie mir das erste Mal das Tuch um den Kopf band (das Abzeichen der Ehefrauen, welches sie den Morgen nach dem Hochzeittag anlegen). Sie that es mit eigner Hand; ja wirklich! und wie sie mich schluchzen sah, als stieße es mir das Herz ab, legte sie mir ihren Arm um den Hals und [116] sagte, als sey ich ihres Gleichen gewesen: Liebe Cecile! sagte sie. Ach diese zwei Worte waren mir lieber, als aller Hausrath, den sie mir so reichlich schenkte. Aber anfangs ging's mir doch hart, und es mochte nie eine betrübtere Hochzeit in Glen Eredine gefeiert worden seyn, obschon Herr Heinrich selbst Brautführer war; denn, sehen Sie, er ist Jemmy's Milchbruder.« – Sie erzählte mir nun weiter: Herr Heinrich, den Robert unendlich gedauert, habe ihm, sobald Jemmy's Werbung genehmigt worden, auf ein entferntes Gut geschickt und durch Aufträge dort festgehalten; allein in der Unruhe seines Gemüths verließ der arme Bursche seinen angewiesnen Aufenthalt, irrte im Lande umher und kam gerade an Cecilens Hochzeittag nach Glen Eredine zurück. Cecile war so bewegt bei dieser Erinnrung, daß ich nur durch viele Fragen den Gang der Begebenheit erfuhr. An jenem Hochzeitmorgen bewirthete [117] die Braut ihre Verwandten mit einem Frühstück, bei welchem der Laird selbst gegenwärtig war. Das Mahl war reichlich und, nach meiner guten Bergschottin Meinung, sehr ausgesucht schmackhaft; auf ihn folgte der Tanz, und Cecile sagte: »ich tanzte mit den Uebrigen, wenn mir gleich, mit Erlaub, das Herz sehr weh that, und ich manchmal dachte: o gälte der Tanz doch meinem Leichenfest« 3! Darauf kamen die Freunde des Bräutigams, ein Haufe fröhlicher Bursche und Mädchen; Cecile begrüßte sie, bot ihnen Erfrischungen und wendete sich dann jammervoll ab, »wie ein Gefangner, der mit Festigkeit sein Todesurtheil empfangen hat.« Endlich verkündigten Flintenschüsse die Ankunft des Bräutigams, und [118] die Braut mußte ihm entgegen gehen. »Der Wind hätte mich fortwehen können wie dürres Laub«, sagte Cecile, »ich war so kraftlos; – aber Miß Graham unterstützte mich mit ihrem eignen Arm, Jemmy und ich könnten doch glücklich seyn, sagte sie mit tiefem Seufzer, – aber gewiß, der Ort, wo wir zusammenkamen, war ein Unglücksort. Gerade wo der Weg nach Dorchthalla hinabführt, da wo Kenneth Roy, des Lairds Großvater, etwas sah, dem er zu seinem Unglück nachging; denn es führte ihn über Felsen hin zu einem furchtbaren Abgrund, wo er zerschmettert werden mußte, und wäre er von Eisen gewesen. Nie scheint die Sonne dahin, wo er niederstürzte, und das Wasser ist schwarz. – Nun da, an der Stelle bekam uns Jemmy zu Gesicht; da eilte er nun, wie es unsre Sitte mit sich bringt, auf uns zu, mich zu begrüßen. – – O den Gruß vergesse ich nie!« – Cecile schauderte mit Entsetzen im [119] Blick, dann sprach sie weiter: »Er nahm seine Mütze ab, um, mit Erlaub, von meinem Munde zu nehmen, was ihm vorher noch nie gestattet ward, als, – o, ich werde es nie vergessen! – eine Stimme, ganz wie wenn es keines Menschen Stimme wär', aus der Höhe herabschallte: Cecile, Cecile! Und wie ich aufblickte, stand Robert da, wo der Adler sein Nest baut, und setzte den Fuß fest, als wolle er eben herabspringen.« – »Rettetet Ihr ihn?« rief ich ergriffen. – »O Lady, ich hätte ihn nicht retten können, und wär' er vor meine Füße niedergesprungen. Ich konnte nur meine Augen bedecken, und meine Hände falteten sich so fest, daß die Nägel mich blutig rissen.« – »Gott im Himmel«! rief ich, »hätte ihn keiner retten können?« – »Keiner hatte Macht, etwas zu thun, außer Herr Heinrich, der stets bereit ist, das Gute zu thun. Der rief mit einer Stimme, vor der die Felsen erzitterten, [120] und die ihn ansahen, bemerkten, wie aus seinen Augen, mit denen er nach Robert aufblickte, das wirkliche Feuer strahlte und er Robert zurückwinkte. – Und der arme Bursche war nicht so fühllos, daß er seinen Befehl mißkannt hätte, denn der ist noch nicht geboren, der ihm widersteht. Und da flog Herr Heinrich um den Berg hinum und kletterte den Fels hinauf wie ein Reh und beredete Robert, mit ihm in das Schloß zu kommen, und da behielt er ihn, weil er zur Arbeit nicht mehr zu brauchen war. Nicht daß er widerspänstig wäre, außer wenn es ihn gerade befällt. – Da ist ein Thälchen, wo wir als Kinder Blumenkränze zu binden pflegten; in dem darf kein Kind keine Blumen mehr brechen, und seit der Wetterstrahl dort die große Eiche zersplitterte, sitzt er manchmal an Sommertagen darunter und nennt sie den armen Robert.«

Cecilens Erzählung hatte mich so lange [121] aufgehalten, daß ich von meiner Wanderung etwas später, wie Mistriß Boswell von ihrer Ausfahrt zurückkam, weshalb diese mich mit einer Menge verfänglicher Fragen wegen meines langen Außenbleibens heimsuchte. Ich machte sie sehr unbefangen damit bekannt, fand aber bei ihr keinen rechten Glauben, wie denn Personen, die selbst immer mit kleinen Mitteln zu ihren kleinen Zwecken umgehen, nicht begreifen können, daß Andre weder Vertraute noch Geheimniß bedürfen. Wie ich an ihrem bedeutenden Lächeln wahrnahm, daß sie meinen einfachen Worten nicht traute, brach ich mit Unmuth ab und erregte schon damit einigermaßen ihre üble Laune – doch hätten sich diese Wolken vielleicht noch verzogen, aber eine ernstere Veranlassung zum Unwillen führte Jessy durch eine kindische Spielerei herbei. Indem sie in Gegenwart ihrer beiden Eltern mich liebkoste und mit mir spielte, fiel es ihr ein, meinen [122] breiten Haarkamm herauszuziehen, wodurch mein damals recht schönes Haar in reichen Locken und Flechten herabrollte. Vielleicht nur, um die Unart des kleinen Mädchens zu entschuldigen, drückte Herr Boswell durch einen lauten Ausruf seine Bewunderung über diese Lockenfülle aus und beging damit wirklich eine Unfeinheit, da seine Frau gerade in diesem Stück von der Natur besonders vernachlässigt war. Mistriß Boswell erbleichte vor Zorn und rächte sich durch die Bemerkung, daß es mir auch Mühe genug kosten möchte, sie so schön zu erhalten. Leider gelang es ihr einigermaßen; denn dieser Vorwurf, an meinem Haar zu künsteln, brachte mich so weit auf, daß ich lachend versicherte: das sey etwa das einzig Hübsche an meinem Haar, daß es mir gar keine Arbeit koste. Wie ich das Wort ausgesprochen, fiel mir erst ein, daß sie jeden Abend ihrer armen Kammerfrau über das Haarwickeln [123] eine böse Stunde machte, und ich wunderte mich nicht, wie sie, in drohendem Stillschweigen eine ganze Stunde vor sich hinblickend, ihr Taschentuch zusammendrehte. Zu meiner Befremdung ging aber dieser Anfall vorüber, und sie war den Abend über gesprächig und freundlich. Am folgenden Morgen, wie ich nach den Lectionen Jessy um mich her spielen ließ, bemächtigte sich die Kleine einer Scheere und fuhr damit, indem sie meine in's Gesicht hängenden Locken abschneiden zu wollen schien, so nahe an meinen Augen hin, daß ich sie in meinem gewöhnlichen herzlichen Ton bat, dieses gefährliche Spiel zu unterlassen. Sie sah mich eine Weile mit sonderbarem Ausdruck an, legte dann ihre Arme um meinen Nacken und fragte leise: »würde es Ihnen denn wirklich leid thun, wenn ich Ihnen die niedlichen Löckchen abschnitte?« – »Das denke ich!« sagte ich lächelnd und setzte in halber Selbstbetrachtung [124] hinzu, »vielleicht mehr, wie die Sache verdient.« – »Nun so will ich's auch nicht thun, und würde mir's zehnmal geheißen.« – »Jessy, um Gottes willen, wer könnte Ihnen das heißen?« rief ich, überrascht von der Möglichkeit, die ich im Hintergrunde erblickte. – »Das sage ich nicht, wenn Sie mir nicht versprechen ...« »Nein, liebe Jessy«, unterbrach ich sie, »sagen Sie's mir nicht, wenn Sie Ihr Wort gaben, zu schweigen, allein versprechen Sie mir, nie wieder so hinterlistig Schaden zu thun.« Ich war von der Gottlosigkeit dieser Behandlung von einer Mutter gegen ihr eignes Kind so erschüttert, daß ich mit Thränen und inniger Herzlichkeit, ohne mich bei diesem Anlaß aufzuhalten, die Kleine über die Strafbarkeit der Schadenfreude unterrichtete. Da mein Zögling mich noch niemals in diesem Grade bewegt gesehen hatte, wirkte Mistriß Boswells Anschlag ihrer Absicht ganz entgegen. Statt [125] das Kind von mir abzuwenden, faßte ein lebhaftes Gefühl von Reue in ihr Platz, und es liebte mich von der Stunde an mit doppelter Herzlichkeit. Ohne den moralischen Abscheu, der mich antrieb, zuerst die Gefahr des Unrechts von meinem Zögling zu entfernen, hätte mich vielleicht meine Heftigkeit hingerissen, so daß ich unverzüglich zu Mistriß Boswell geeilt wäre, ihr das gefährliche Beispiel, das sie ihrem Kinde gäbe, vorzuwerfen und meinen Abschied zu fordern; allein die guten Lehren, die ich Jessy gab, verhalfen mir zu der gehörigen Ruhe, um meinen nächsten Schritt zu bedenken. Ich sah wohl ein, daß mich nicht die Hoffnung, diese Frau zu bessern, ihr Vorwürfe zu machen, antreiben könnte; einzig das Gefühl von Rechtlichkeit in meinen Obliegenheiten gegen ihr Kind verband mich, ihr zu sagen: »Euer Thun führt euer Kind zum Bösen.« Andrerseits war ich mir mit Betrübniß [126] bewußt, daß ich nicht in der Lage sey, ohne die äußerste Nothwendigkeit meine Verhältnisse aufzugeben. Ich hatte keine andre Zuflucht, als dieses unfreundliche Haus. Mistriß Boswell sah keine Gesellschaft, ich hatte keine Bekanntschaft gemacht, jenseits ihrer Hausthür war ich heute so verlassen, wie am Tage meiner Ankunft im Lande. Diese Betrachtungen gaben mir die Fassung, meine Vorstellungen an Mistriß Boswell sehr höflich, wenn gleich sehr ernst einzukleiden. Ihre Wirkung war, wie ich sie vermuthet hatte. Die moralische Seite der Sache entging ihr ganz, und wie ich ihr bemerklich machte, daß Jessy die Hinterlisten, die sie ihr lehrte, einst gegen sie selbst gebrauchen könnte, sagte sie sorglos: »An meinen Haaren wäre mir wenig gelegen; sind ja ohnehin jetzt Perücken in der Mode.« Sobald sich Eigensinn mit Dummheit paart, muß Bosheit daraus hervorgehen, und, diese Ursach und Wirkung[127] übersehend, suchte ich das Gespräch zu beenden, entschlossen, Jessy, so viel es mein vereinzelter Einfluß erlaubte, sorgfältig zu bilden und ihre Mutter ihrer eignen Verkehrtheit zu überlassen.

Vielleicht wäre es mir nicht gelungen, diese unangenehme Unterredung so bald zu beendigen, hätte nicht Herrn Boswells Eintritt der Leidenschaftlichkeit der Dame eine andre Wendung gegeben. Er schien von einem ungewöhnlich lebhaften Interesse bewegt, setzte sich neben seine Gattin auf den Sopha, überhäufte sie mit Schmeicheleien und, wie er glaubte einen günstigen Eingang gefunden zu haben, erzählte er, daß er heute einen alten Schulkameraden, den er seit zwanzig Jahren nicht gesehen, wiedergefunden und rechte Lust hätte, mit ihm zu Mittag zu essen. Mistriß Boswell sagte nichts, sah aber verneinend aus; ihr Mann schwieg eine Weile, dann fing er seine Kriegslisten [128] wieder an, und dieses Mal glückte es ihm besser, denn er fiel darauf, ihr Morgenhäubchen, in dem sie sehr hübsch zu seyn glaubte, zu bewundern. Sie beglückte ihn mit einem beifälligen Lächeln. Nun hielt er den Zeitpunct für günstig und sagte: »Ich möchte recht gern mit dem armen Tom Hamilton zu Mittag essen!« – »Lirum, larum. Das stünde mir an!« antwortete sie im Ton einer schnippischen Magd. »Wozu braucht es doch wohl das?« – »Nun, Liebe! Wir haben uns ja in zwanzig Jahren nicht gesehen und möchten gern von vergangnen Zeiten sprechen – – ich hab's ihm halb und halb schon zugesagt.« – »Thorheit!« rief die Lady mit gebietendem Ton. Der arme Eheherr rückte seufzend seinen Stuhl an's Camin und zeichnete nachdenkend Figuren in die Asche. Ob diese Beschäftigung seinen Muth stärkte, weiß ich nicht, genug, er sagte nach einer Weile halb leise zu mir: »Wenn Sie meiner [129] Frau Gesellschaft leisten wollen, habe ich rechte Lust mit meinem Freund zu speisen.« – »Das thun Sie doch ja! der Herr führt ja den Hausschlüssel, wie das alte Sprichwort sagt« – und dabei verfuhr ich freilich nicht mit der Vorsicht, die ich dem Hausfrieden und meinen Verhältnissen schuldig war; der Unwille über die unwürdige Unterwürfigkeit des Eheherrn riß mich hin. Herr Boswell schien den Muth des Augenblicks benutzen zu wollen, er eilte zum Zimmer hinaus, doch schon draußen steckte. er den Kopf noch einmal in die Thür und rief mit erkünstelter Heiterkeit: »Auf Wiedersehen, Liebste! ich speise mit Hamilton.« – »Herr Boswell!« rief die Dame mit erblassenden Lippen; aber er war fort, und sie verfiel in ihr Schmollen, das einige Stunden lang und während des Mittagsessens durch nichts unterbrochen werden konnte. Anfangs hatte ich mich mehrmals bemüht, sie durch Gespräch zu zerstreuen, da ich [130] aber weder Antwort noch Gegenrede von ihr erhielt, fand ich es bald für angemeßner, sie sich selbst zu überlassen und setzte meine Beschäftigungen allein und mit dem Kinde, gerade als sey sie nicht gegenwärtig, fort. Sie glaubte mich durch allerlei Störung ärgern zu können, stieß mir das Tintefaß um, trat dem armen Fidel auf die Pfote, klapperte, während ich den Flügel spielte, mit Schubladen und Schlüsseln. – Statt mich empfindlich zu zeigen, bewies ich ihr, mit aufbringend guter Laune, daß mir dieses Alles keinen Abbruch thue, und brachte es vielleicht durch diesen Muthwillen dahin, daß sie ihren Racheplan änderte, oder für's erste ihren Gatten allein zu dessen Gegenstand ersah. Der arme Mann kam ziemlich spät, und offenbar, durch andre Mittel noch, als des Schulkameraden Gesellschaft, aufgeregten Lebensgeistern, nach Hause. Er sagte seiner Frau einen treuherzigen guten[131] Abend; wie sie ihn aber mit einer sehr unanständigen, auf sein Aussehen gegründeten Bemerkung zurück wies, setzte er sich neben mich, meine Freundlichkeit auf eine Weise preisend, die Mistriß Boswell nothwendig erbittern mußte. Ich sah das voraus und eilte aus dem Zimmer. Aus der wüthenden Heftigkeit, mit welcher ich sie aber beim Herausgehen ihre Schelle anziehen und gleich darauf Herrn Boswell fluchend von seinem Bedienten in sein Zimmer führen hörte, mußte ich vermuthen, daß der Auftritt zwischen den beiden Eheleuten ein sehr unangenehmens Ende genommen hatte.

Mehrere Tage setzte Mistriß Boswell ihr Schmollen nun ganz systematisch fort. Sie blickte nicht auf, nahm an keinem Gespräch Antheil und fügte noch ein paar andre ungewöhnlichere Kunstgriffe hinzu: Sie hielt ihr Taschentuch fleißig vor die Augen, als suche sie Thränen zu stillen, und verweigerte jede [132] Speise mit einem Ausdruck von Ekel, der uns armen gesunden Leuten unsre Eßlust, als die roheste Befriedigung eines schlechten Bedürfnisses, vorwarf. Was an ihren Thränen sey, erfuhr ich sehr bald; denn da sie bald wahrnahm, daß mich ihr Spiel nicht täuschte, ersparte sie sich die Mühe, es in meiner Gegenwart fortzusetzen und nahm es nur bei Herrn Boswells Eintritt wie der vor. Ob aber der Zorn nicht wirklich ihre Eßlust verdorben, blieb mir eine Zeitlang zweifelhaft. Nach einigen Tagen, in denen der beängstigte Ehemann jedes Mittel, ihr Rede abzugewinnen und durch die niedlichsten, ihr heimlich zubereiteten Leckerbissen ihre Eßlust zu reizen vergeblich versucht hatte, kam er auf den Einfall, bei einem Zuckerbäcker in eigner Person eine Auswahl der zierlichsten Waaren zu kaufen. Er kannte seiner Gattin Vorliebe für solche Näschereien, suchte sie deshalb, schwer bepackt, mit einigem Selbstvertrauen in [133] ihrem Ankleidezimmer auf, und neben ihm schlüpfte Fidel, weil er mich darin witterte, herein. Mit der schmeichelhaftesten Einladung häufte der gutmüthige Gatte überzuckerte Pomeranzenschalen, Quittenschnitze und Zuckerbrötchen vor seiner Herrin aus. Ich war auf dem Punct, über die großen Kinder, die sich durch Bonbon versöhnen wollten, zu lachen, als Fidel unter einem Tischumhang ein tüchtiges Stück Rinderbraten hervorzog, den die Dame wahrscheinlich bei meinem Eintritt dahin geflüchtet gehabt hatte. Nun vermochte ich nicht mehr das Lachen zu unterdrücken. Doch die Bosheit des einen, die Schwäche des andern Theils war mir zu verächtlich, um meinen Zögling davon Zeuge seyn zu lassen; ich nahm Jessy bei der Hand, um sie aus dem Zimmer zu führen, als ich Mistriß Boswell den Feuerhaken ergreifen sah, um den armen Fidel, der seine Beute auf meinen Befehl [134] sogleich hatte fahren lassen, damit zu verfolgen. Hier verließ mich meine Fassung. Ich ergriff ihren Arm und sagte strenge: Mistriß Boswell, erniedrigen Sie sich nicht selbst! – So wüthend sie war, wirkte doch meine entschlossene Bewegung; sie senkte den Arm und ließ den Hund unverletzt mit mir das Zimmer verlassen. Von diesem Augenblick an war aber das arme Thier der Gegenstand ihrer Verfolgung; sie verjagte ihn, wo er ihr begegnen mochte, und gab mir durch die Herzlosigkeit, mit der sie ihn aus dem Zimmer stieß, manchen Stich ins Herz. In meinen Verhältnissen ward mir die Nothwendigkeit klar, diesen Gegenstand des Aergernisses zu entfernen; aber mein Stolz widersetzte sich so gut wie mein Gefühl, ich fand eine knechtische Nachgiebigkeit darin, meinen treuen Kindheitsgefährten einer unbilligen Leidenschaft zu opfern. – Doch bald zog der arme Fidel selbst sein Schicksal herbei [135] Eines Tags unterstand er sich, vor der Thür des Eßzimmers zu liegen und seine ehrlichen Vorderpfoten der daher schreitenden Mistriß Boswell recht eigentlich zum Opfer zu bieten. Sie benutzte seine Stellung, trat ihm unbarmherzig auf dieselben, und Fidel biß sie sehr unsanft ins Bein. Ihr Geschrei übertraf ihren Schmerz und die Wichtigkeit der Wunde; aber von nun an war ihr Ansuchen, den Hund aus dem Hause zu schaffen, gerecht, und ich dachte mit widerspenstig schwerem Herzen darauf, mich darein zu fügen. Ich wußte keine Zuflucht für ihn, wie Cecilens arme Behausung; von ihr allein konnte ich einige Güte für meinen alten Gespielen hoffen, wenigstens bis zu ihrer Abreise ins Hochland war er bei ihr versorgt, und weiter, wie auf die nächste Zukunft, wagte ich nicht mehr zu denken. Wollte meine jugendliche Fantasie ihren Flug weiter wagen, so stieg die Erinnerung aller meiner zertrümmerten [136] Aussichten vor mir auf, und statt zu Planen und Hoffnungen, schwang sich mein Geist auf ihren Fittigen im Gebet zu dem einzigen Beschützer, von dem ich Hülfe zu erwarten hatte, empor. Ich schickte mich den nächsten Morgen an, meinen armen Liebling zu Cecile Graham zu führen. Jessy, welche meine Absicht auszugehen bemerkte, bat, mich begleiten zu dürfen, und da ihr wiederholtes Verlangen nicht bei mir fruchtete, gerieth sie, was ihr jetzt selten und gegen mich seit langer Zeit gar nicht mehr geschehen war, in einen der Anfälle von lautem Weinen, das ihr die Gewährung ihrer Bitten, von Seiten ihrer Mutter, zu verschaffen pflegte. Auch dieses Mal erreichte sie ihren Zweck; denn obgleich ich Mistriß Boswell einige Gegenvorstellungen machte, ertheilte ihr diese doch die Erlaubniß, mit mir zu gehen. Der Mutter stand es zu, über ihr Kind zu verfügen, ich war daher im Begriff, [137] mich mit Jessy auf den Weg zu machen, als mir Fidel, die Veranlassung dieser ganzen Begebenheit, fehlte. Seine Abwesenheit war so etwas seltnes, daß Bediente und Köchin mit mir suchten und riefen; um aber Jessy's Ungeduld zu vermeiden, beschloß ich für's erste Cecilen ihren neuen Kostgänger anzukündigen, worauf sie ihn selbst abholen konnte, und ließ ihn zurück. Bei meiner Ankunft an der Thür meiner guten Hochländerin ward ich schmerzlich überrascht, diese offen und die ganze ärmliche Wohnung leer und verödet zu finden. Mir schien es unbegreiflich, wie sie hatte, ohne Abschied von mir zu nehmen, die Stadt verlassen können; es mußte mir als einen Beweis ihrer geringen Anhänglichkeit an mich gelten, weshalb ich mit thränenden Augen in den beräucherten engen Mauern umhersah, von denen ich mir, wie ich nun glaubte, fälschlich eingebildet hatte, daß sie ein, mir ergebnes Wesen bewohnt hätte. [138] Um doch einige Nachricht von Cecilens Schicksal zu erhalten, klopfte ich an die nächste, auf demselben Gange gelegne Thür. Man antwortete mir nicht; ich öffnete sie, ward aber von einem so furchtbaren Qualm unreiner Dünste angefallen, daß ich Jessy befahl, auf dem Gange zu warten, bis ich meine Nachfrage gemacht. Ich trat darauf ins Zimmer; das wenige Licht, welches das mit Lumpen verhangne Fenster gewährte, ließ mich erst spät ein Bett in einem Winkel erblicken, an dessen Inhaber, ein junges Weib, ich meine Frage um die Zeit von ihrer Nachbarin Abreise richtete. Da ich nur ein undeutliches Stöhnen zur Antwort erhielt, bewog mich ein unbedachtes Mitleid näher zu treten, und mit Schrecken bemerkte ich in der Kranken die irren Blicke, die ängstliche Gesichtsröthe des heftigsten Fiebers. Ich erinnerte mich, Herrn Boswells Hausarzt von ansteckenden Nervenfiebern, die unter der ärmern Classe häufig [139] wären, sprechen gehört zu haben, wendete mich also schnell ab – doch jetzt erblickte ich Jessy, die, meinem Gebot ungehorsam, mir ins Zimmer nachgefolgt war und mit kindischer Neugier sich neben mich hindrängte, um die Kranke recht genau ins Auge zu fassen. Ich zog sie schnell hinweg und rief eine jetzt eintretende Verwandte oder Wärterin auf den Gang hinaus, um mir über Cecile Grahams Abreise einige Nachweisung zu geben. Eigne Noth, wenn sie recht dringend ist, stumpft ungebildete Menschen für fremdes Interesse ab. Die Frau wußte mir gar nichts von ihrer Nachbarin zu sagen, als daß sie, kurz ehe ihre Base das Fieber bekommen, abgereist sey. Mit inniger Wehmuth über Cecilens leichtsinnige Trennung von mir und bange Sorgen über die Folgen, welche dieser unvorsichtige Krankenbesuch auf meinen Zögling haben könnte, eilte ich nach Hause und eröffnete sogleich Mistriß Boswell den [140] Vorfall mit der dringenden Bitte, ihren Hausarzt um Vorkehrungsmittel für die Kleine zu ersuchen. Ich dachte so wenig an meine eigne Gefahr, daß ich bereit war, den Unwillen der Mutter über die Gefahr ihres Kindes unbedingt über mich ergehen zu lassen; allein zu meinem erstaunen beschäftigte diese sie gar nicht, sondern, nur für ihre persönliche Sicherheit sorgend, sprang sie, sobald sie meine Erzählung vernommen hatte, mich abwehrend zurück, rief ihrer Kammerfrau, um ihr Essig zum Waschen und Räuchern zu bringen und bat mich um Gotteswillen, nebst Jessy ihr doch ja nicht zu nahe zu kommen. Eine so heidnische Aengstlichkeit empörte mein Gefühl; ich verhieß ihr, den Rest des Tags mit ihrer Tochter nicht mehr von meinem Zimmer zu kommen und eilte dahin. Vor meiner Tühr lag Fidele lang ausgestreckt, in sonderbar starrer Stellung. Verwundert, ihn nicht bei meiner Ankunft frohlocken zu [141] sehen, rief ich seinen Namen. Er suchte den Kopf aufzuheben, öffnete noch einmal seine geschwollnen Augen, wedelte mit dem Schwanz und verschied. Seine Stellung, seine vor dem Tod erstarrten Glieder, die Umstände, unter denen dieser Vorfall statt fand verriethen mir dessen Ursach und Urheber. Dennoch suchte ich meine Fassung zu behalten; ich rief den Kutscher herbei, der beim ersten Anblick des Leichnams ihm das Vergiftetseyn ansah; ich befragte ihn und die übrigen Dienstleute auf ihr Gewissen, ob ihnen etwas von Fideles Schicksal bekannt sey? Sie versicherten alle mißbilligend, daß der Hund Keinem im Wege gewesen und sein Tod wohl mehr gemeint sey, mich zu kränken, als das arme Thier bei Seite zu schaffen. Diese allgemeine Meinung vermehrte meine Ueberzeugung von Mistriß Boswells rachsüchtiger That. Mit der moralischen Ueberzeugung, daß es ein Verrath am Guten sey, eine solche [142] feige Grausamkeit stillschweigend zu dulden, und daß die Abhängigkeit von einer Frau, die verächtlich genug dächte, ihrer Rache ein unschuldiges Thier zu opfern, schwerer sey wie jedes Loos, das mich treffen könnte, begab ich mich in Mistriß Boswells Zimmer, um ihr meine Denkart über diese Handelsweise zu erklären. Es ist eine peinliche Aufgabe, den Seelenzustand eines schlechten Menschen zu beobachten. – Mich dauerte diese Frau wegen des Schreckens, der sie bei meiner unbestimmten Anklage über die Todesart meines Hundes ergriff. Die Furcht vor der Rüge des Unrechts, selbst wenn sie mit gar keiner Strafe verbunden werden kann, ist wohl die letzte Stimme des Rechts in des Schuldigen Busen. Ihr Erbleichen, ihre Versicherung, daß es niemanden einfallen könnte, ein unschädliches Thier, das eines Andern Eigenthum sey, zu tödten, hätte mich fast in die Nothwendigkeit gesetzt, [143] meine Sache unausgemacht zu lassen, als ich beobachtete, daß Mistriß Boswell mit einer gewissen Vorsätzlichkeit ihr Taschentuch auf ein vor ihr am Boden liegendes Papier fallen ließ und dann es aufzuheben bemüht war. Ich kam ihr zuvor, griff aber zugleich nach dem Papier und las auf den ersten Blick die nach Apothekerart geschriebne Ueberschrift, »Arsenik.« – Dieser Beweis einer That, für die mirs bisher ganz an materiellen Beweisen gefehlt hatte, benahm mir alle Klugheit, ich warf ihr mit dem Ausdruck der tiefsten Verachtung den elenden Tod meines Hundes vor und setzte hinzu, daß ich, überzeugt durch mein angestrengtestes Bemühen, ihrem schlechten Beispiel bei ihrer Tochter nicht entgegen wirken zu können, sie bäte, dieselbe wieder aus meinen Händen zu nehmen und mich zu entlassen. Mit diesen Worten eilte ich von ihr hinweg.

Es bedurfte nur weniger Minuten, um [144] mir den Umfang des Opfers, das ich meinem Gefühl für Recht gebracht hatte, zu ermessen. Ich besaß weder Geld, noch Freunde, noch die Tüchtigkeit harte Dienstarbeit zu verrichten, und das schwere Loos, was mich erwartete, war nicht Gottes heilige Führung, es war die Folge meines leidenschaftlichen Willens. Meine Ungeduld, Andrer Unart zu tragen, schloß mich jetzt aus dem letzten Verkehr, das mir noch mit Menschen übrig geblieben war, aus; und indem ich selbst so wenig Duldsamkeit erwiesen hatte, konnte mein Vertrauen in die meiner Brüder nicht groß seyn. So demüthigend meine Selbsterkenntniß und so trostlos meine Aussicht war, hielt mich mein stolzer Sinn dennoch auf recht. Meine einzige Unterstützung war das erste Quartal meines Jahrgehalts von Seiten Mistriß Boswell; es war jetzt völlig verflossen und ich konnte an dessen Auszahlung, so gering die Summe auch seyn mochte, nicht zweifeln. [145] Seit ich es bei meinem ersten Besuch in diesem Hause Mistriß Boswell überlassen hatte, den Lohn meiner Bemühungen zu bestimmen, war dieser Punct nie mehr erwähnt worden; Schüchternheit, Stolz, Nachlässigkeit und Ekel, durch einen Handlohn meine Knechtschaft zu beurkunden, hatten mich eines um das andre einen Schritt zu thun verhindert. Jetzt drang die Noth, und ich bat Mistriß Boswell noch an demselben Tag, mit mir zu rechnen. Sie antwortete mit anscheinendem Befremden: daß sie dieses nie für nöthig gehalten, daß sie bei meinem Eintritt in ihr Haus verstanden habe, es sey mir nur um einen anständigen Schutz zu thun, und keineswegs gesonnen sey von dieser Ansicht zu weichen. Meine Fehlschlagung bei dieser Aeußerung war so schmerzlich, mein Unwille so bitter, daß ich das Gespräch fallen ließ und den Entschluß faßte, Herrn Boswell als Vater und Hausherr mit meinen Ansprüchen [146] bekannt zu machen. Sobald ich ihn zu Hause wußte, begab ich mich in sein Zimmer. Sein Schrecken bei meiner Eröffnung war unbeschreiblich; er sprach von meiner Absicht, seiner Tochter Erziehung aufzugeben, wie von dem bittersten Unglück, das ihn treffen könnte, und wendete die dringendsten Bitten an, meinen Entschluß zu ändern. Mit einer Schonung, die aus seiner angewohnten Furcht vor seiner Gattin entstand, gestand er die Nothwendigkeit für Jessy's künftiges Wohl ein, ihr andre Lehren, ein andres Beispiel, wie das seiner Mutter, vor Augen zu stellen, und, sagte er, nachdem mich neben meinem übrigen harten Loos die Sorge um das Wohl meines Kindes nicht mehr drückte, athmete ich seit ihrer Geburt zum erstenmal leichter auf, weil ich sie in Händen sah, die alle meine Wünsche übertrafen. Ich kann daher um keinen Preis in Ihr Begehren willigen; ich kann es für Sie selbst nicht recht heißen, darauf [147] zu bestehen.« Ich bestand aber doch darauf. Die zahme Anerkennung seiner elenden Schwäche gegen ein böses Weib empörte mich und bewies mir, wie ich, auf väterliches Ansehen mich berufen könnend, in keinem Falle hoffen dürfte, durch meine Sorgfalt allein Jessy gegen ihrer Mutter Einfluß zu bewahren. Mit großer Betrübniß stand er endlich von seinen Bitten um mein Bleiben ab und versprach meiner anerkannt gerechten Geldforderung, sobald es ihm möglich sey, über eine solche Summe, ohne Zwiespalt mit seiner Frau, zu verfügen, aufs vollständigste zu genügen. Doch zu diesem Zweck beschwor er mich, noch einige Tage in seinem Hause zu verweilen, wobei ich zugleich Mittel finden würde, selbst mit mehr Besonnenheit über meine Zukunft zu verfügen.

Ach zu diesem so dringenden Geschäft blieb mir keine Zeit! nachdem ich die ersten vier und zwanzig Stunden nach jenem unglücklichen Besuch [148] in Cecilens verlaßner Wohnung in erfolglosem Nachsinnen über meine Lage zugebracht hatte, klagte Jessy über Kopfweh und Schmerz in allen Gliedern; gegen den Abend brannte ihr Köpfchen in trockner Gluth, und noch einmal vier und zwanzig Stunden, so hatte sich das gefährlichste Nervenfieber, als Folge der Ansteckung an dem Bette des armen Weibes erklärt. Mistriß Boswell gerieth in eine Angst, die an Verrücktheit grenzte. Sie berief alles, was sie von Aerzten erfragen konnte, ließ Wahrsagerinnen kommen, um den Ausgang der Krankheit zu erspähen, Segensprecherinnen, um ihr Zimmer, die Treppe, die Wege im Haus, welche sie täglich gehen mußte, zu besprechen, allein ihr Kind sah sie nicht wieder; dieses wurde mit mir und seiner Wärterin in das entlegenste Zimmer gebannt, niemand, der mit uns verkehrte, durfte ihr nahen, und ihr Gatte erhielt das strengste Verbot unser Zimmer [149] je zu betreten. Doch das Vatergefühl war in ihm zu mächtig, um sich solcher herzlosen Vorsicht zu fügen; da es ihm Tags über nicht vergönnt war, sich unbemerkt fortzustehlen, brachte er die Hälfte der Nacht an dem Krankenbett seines Kindes zu und theilte meine Sorgfalt für sie mit einer Beharrlichkeit, der ich diesen charakterlosen Mann nicht fähig gehalten hätte. Doch meine kleine Kranke war gleich fühllos gegen seine Zärtlichkeit, wie gegen seine Sorge; ihre Liebe für mich schien ihr einzig noch übriges Gefühl; auch für sie war ihr kein willkürlicher Ausdruck geblieben, doch meine Nähe war es, die sie ruhig erhielt, meine Stimme, die den dichten Nebel, der ihr Bewußtseyn umfangen hielt, hinlänglich zerstreute, um dann und wann auf ihren Ruf ihr trübes Auge zu öffnen und ausdruckslos auf mich hinzustarren. Unter diesen Umständen war es nicht mehr möglich dieses Haus zu verlassen. [150] Ich kam nicht mehr von ihrer Seite, und wenn ich, vom Wachen erschöpft, einen Augenblick der Ermattung erlag, ruhte mein Haupt auf demselben Kissen, wie das der halb entseelten Kranken. Meine Sorgfalt gewann Herrn Boswells Dankbarkeit in einem Grade, den der traurige Vergleich zwischen der Hingabe einer Fremden und der selbstsüchtigen Vorsicht einer Mutter wohl erhöhen mußte. In einer der Nächte, wo das Uebel auf dem höchsten Punct schwebte, bewog ich ihn, sich gegen den Morgen zur Ruh zu begeben; wie er vor der Thür des Zimmers, bis wohin ich unter der Versicherung, ihm am Morgen sogleich Nachricht von der Kranken zu geben, ihn begleitet hatte, Abschied nahm, ergriff den sonst schwerfälligen Mann das Gefühl der Verpflichtung, die er mir zu haben glaubte, er faßte meine beiden Hände und, sie festhaltend, drückte er mit dem Ausruf: »Gott lohne Dir frommen [151] Mädchen deine Liebe!« seine Lippen auf meine Stirn. In demselben Augenblick gewahrte ich Mistriß Boswell, die ihres Gatten nächtliche Abwesenheit aus seinem Schlafzimmer mußte wahrgenommen haben und jetzt im nachlässigsten Nachtkleide an der Thür des Vorzimmers uns belauschte. Erstarrt von Schrecken und Erwartung der kommenden Dinge, blieb ich stehen; sie aber fuhr wie eine Furie auf uns zu und rief mit bebenden Lippen: »Schön! o schön! nun habe ich genug gesehen! aber ich werde nicht so thörig seyn dergleichen zu leiden. Nein, das werde ich nicht.« – Bei diesen schimpflichen Worten sah ich mich um Schutz nach Herrn Boswell um, allein sein unmännlich furchtsamer Ausdruck ergrimmte mich so, daß meine Fassung zurückkehrte. Mit Stolz und Verachtung rief ich ihr zu: »Was wollen Sie nicht dulden, gnädige Frau? Ihre eignen thörigen Träume? Das würde ich Ihnen [152] rathen.« – Feig und ungeschickt wie sie war, erlosch ihre Heftigkeit vor meiner festen Rede, allein ihr Gift strömte fort, mit wankender Stimme sagte sie: »Ich gedenke mit Ihnen keine Worte zu wechseln, allein ich bitte Sie, Miß Percy, mein Haus friedlich zu verlassen und nicht durch Ihr Bleiben andrer Leute Ehemänner ...« Hier verließ mich selbst der Wunsch, gefaßt zu erscheinen, ich rief mit erstickter Stimme: »Wenn ich nicht fürchtete mehr zu sagen, wie einer Christin geziemt, so würde ich Ihnen antworten« – und mit diesen Worten eilte ich in das Krankenzimmer zurück, wohin sie, wie ich wußte, mir nicht folgen würde.

Hier blieb ich in das schmerzlichste Nachdenken vertieft. Mein Gefühl weigerte sich, eine Stunde länger in diesem Hause zu bleiben, alles was mich jenseits desselben erwarten konnte, war mir in Vergleich des Unrechts, [153] was mich hier getroffen hatte, erträglich; ich trotzte jedem fernern Geschick, Gott vertrauend, aber nicht als meinem leitenden Vater, sondern als Bundsgenossen meines Zorns. Die Gegenwart der Krankenwärterin, die mit höhnischem Spott die Wuth der leidenschaftlichen Frau belachte, traf wie Pfeile mein Herz, denn ich begriff, daß eine Andre ihres Gleichen eben so über meine Rolle bei diesem Vorfall zu lachen sich erfrechen könnte. Die Stelle brannte unter meinen Füßen – aber sollte ich die bleiche Kranke, die vor mir da lag, ein Bild des nahen Todes, verlassen? Ihr erloschnes Auge fesselte mich, ihr kurzes Athmen hielt mich zurück. – Ich drängte alle meine persönlichen Empfindungen in mein schwellendes Herz zurück und beschloß, bis zur Entscheidung von Jessys Schicksal meinen Platz in ihrem Krankenzimmer nicht zu verlassen. – War es denn reine Liebe zu Jessy, die mich bewog? – [154] Nein! – diese Liebe war da, und rein, und mehr wie sie: Liebe für meine bei ihr übernommene Pflicht. Allein der Trieb, durch meine heldenmüthige Aufopferung Mistriß Boswell noch mehr ins Unrecht zu setzen, wirkte auch, und so hat das Evangelium recht, wenn es zu beten lehrt: Ich bin ein unnützer Knecht und mangle des Ruhms, den ich haben sollte.

Der Arzt verkündigte mir noch denselben Tag, daß mein Beruf an dem Krankenbett bald entschieden werden würde. Er verhieß nach den vorhandnen Anzeichen eine sicher eintretende Krisis, die über Tod und Leben entscheidend seyn mußte. Ich bat ihn, den Eltern der Kranken diese ängstliche Erwartung zu ersparen, und versprach ihm, bis diese wichtige Stunde vorüber sey, mich keinen Augenblick von dem Bette des Kindes zu entfernen. Der Tag verging in banger Stille. Mistriß Boswell ließ nichts von sich hören, sie mußte [155] Mittel gefunden haben ihren Gatten zu entfernen, denn auch er ließ sich nicht im Krankenzimmer sehen. Ich war froh, auf diese Weise alles Widerspruchs und aller Heftigkeit überhoben zu seyn; die verdorbne Luft, welche ich nun so lange Zeit athmete, hatte mein Blut entzündet, meine Glieder waren matt und schwer, meine Augen wurden vom Licht schmerzlich angegriffen, ich war unruhig und hatte doch mich zu bewegen keine Kraft. Stündlich nahm mein Uebelbefinden zu. Der Arzt, wie er seinen Abendbesuch machte, erschrak über meine wilden Blicke und rieth mir augenblicklich zur Ruhe zu gehen, allein ich hatte beschlossen erst Jessy's Schicksal entschieden zu sehen, was dann geschehen würde, schwebte vor meiner glühenden Stirn wie ein Bild des ruhigen Grabes.

Endlich stellte sich die schicksalsvolle Stunde ein. Ein tiefer Schlaf sank auf die Kranke [156] herab, allmählig erschlafften die gespannten Züge in zwanglose Schlaffheit, die Haut, welche die Hitze gedörrt hatte, schien sich auszufüllen, ihre Schmutzfarbe wandelte sich in krankes Weiß das aber wieder Leben verrieth, denn große Schweißtropfen sammelten sich auf dem Antlitz, das keiner Todtenlarve mehr glich. Kaum athmend, saß ich neben dem Bett und starrte betend dieses Wunder an. – Betend ohne Sinn, denn mein Kopf, schon von der Krankheit eingenommen, hatte nur für die eine Vorstellung: Jessy's Genesung, noch Raum. Jetzt schlug sie die Augen auf. Matt aber mit liebevollem Ausdruck richtete sich ihr Blick auf mich, und mein Name, leise gelispelt, war das Pfand ihres zurückgekehrten Bewußtseyns. Kaum nahm ich mir die Zeit, das Kind zu beruhigen, die Wärterin an ihr Bett zu setzen, dann flog ich zu Herrn Boswell, ihm die beglückende Nachricht zu bringen. Er war in [157] seinem Ankleidezimmer, ich trat ein und erzählte – ich weiß nicht wie. – Gott sey Dank! rief er, und vermochte nicht mehr, sondern brach in Thränen aus; dann segnete er mich dafür, daß ich sein Kind gerettet, wie er meinte, und dann eilte er mit mir aus dem Zimmer, die Genesende zu sehen. Bei unserm Austritt aus seiner Thür begegneten wir Mistriß Boswell, die, bleich vor Wuth, sich nicht entblödete, meinen Besuch in ihres Gatten Zimmer auf das pöbelhafteste zu erklären. Ich rief, nicht zornig, aber erstarrt vor dem Mißton zwischen des Vaters Dankgebet und der Mutter Lästerung: »Weib, ich meldete Deinem Gatten, daß Gott Euer Kind errettet hat.« – Was sie aber antwortete, vernahm ich nicht, ich verstand nur, daß sie mir augenblicklich ihr Haus zu verlassen gebot. Hier verließ Herrn Boswell die angewohnte Schlaffheit seines Betragens, um einem Anfall von unwürdiger Heftigkeit[158] Platz zu machen; er faßte seiner Gattin Arm, rief einige donnernde Worte, die ich mir nicht erinnre, warf sie zur Seite und eilte in der Kranken Gemach. – Die Frau erregte mein inniges Mitleid, aber meine Kräfte sanken so schnell, daß ich nicht, was ich gern wollte, ihr zu sagen im Stande war. Ich gehe, ich gehe, gleich gehe ich, sprach ich stammelnd, wankte nach meinem Zimmer und sank ohne Besinnung zu Boden.

Eine sonderbare Betäubung bemächtigte sich nun meiner. Schwarze Schatten, von blutrothen Lichtstreifen durchkreuzt, schwammen vor meinem Blick, abscheuliche Gespenster wimmelten um mich her, und eines von ihnen, das scheußlichste, legte seine glühende Hand an meine Stirn. Dann folgte eine dunkle Hoffnung, daß alles nur ein schrecklicher Traum sey, aus dem ich bald erwachen würde, ich strebte mich aufzurichten, diesen Traum abzuschütteln[159] – doch plötzlich sah ich mich am Rand eines Abgrunds liegen und mußte froh seyn, mich fest an die glühenden Felsen schmiegen, jede Bewegung, bei deren geringster ich nothwendig herabstürzen mußte, zu vermeiden. Doch noch einmal war ich mir bewußt, daß diese Schrecken nur in Täuschung beständen. Ich glaubte mein Zimmer zu erkennen, ich war mir bewußt, daß es bestimmte Gegenstände gäbe, an die ich denken sollte; doch, anstatt sie zu finden, drängten Larven und Töne sich um mich, und der Gedanke, den Verstand verloren zu haben, schnitt furchtbar durch mein Gehirn. Nach einer Zeit, die ich nicht ermessen konnte, glaubte ich eine Gestalt sich mir nahen zu sehen, die ich für meine Mutter oder Miß Mortimer hielt. Ich rief sie, sie nahte sich mir, ergriff mich aber unsanft, hüllte mich in ein rauhes dunkles Gewand, das ich für mein Leichentuch hielt, und übergab mich zwei finstern [160] Gespenstern, die mich auf ein Rad legten, das sich im Wirbel umherdrehte, bis ich alles Gefühl und Bewußtseyn des Schmerzes selbst verlierend, dem Elend dahingegeben war.

Der erste Eindruck, von dem ich mir wieder Rechenschaft zu geben vermochte, war der Ton rauher, mißklingender Stimmen, die mich aus einem tiefen, schweren Schlummer zu wecken schienen. Ich öffnete meine Augen und befand mich in dichter Finsterniß. Mühselig hob ich mein Haupt empor und empfand eine scharfe Nachtluft, die in ein kleines Fenster zu meinen Füßen, doch hoch an der Wand, hereinströmte. Die Nacht war dunkel, doch unterschied ich endlich, daß es mit eisernen Gittern verwahrt sey. »Bin ich denn in einem Gefängniß?« fragte ich mich bestürzt? aber Schwäche senkte mein Haupt wieder nieder und ich dachte: »mag es auch ein Gefängniß seyn! für die wenigen Momente, die ich noch zu leben habe, ist das [161] einerlei. »Ich schloß meine Augen und meine noch immer trüben Gedanken erhoben sich sehnsuchtsvoll zu der Welt, die mir in glücklichen Tagen so fremd war und mit der mich auch die Prüfung des Unglücks noch wenig vertraut gemacht hatte. Nicht lange so vernahm ich eine weibliche Stimme, die im Ton der sanftesten Klage zu singen begann; dann lebhafter fortfahrend, unglückliche Liebe besang, bis sie von einer ersterbenden Cadenz zum Gesprächston übergehend, in unzusammenhängenden Reden die Verwirrung ihrer Begriffe offenbarte, und sich selbst in die wildeste Heftigkeit hinein schwatzend, in die stille Nacht hinein rief. Endlich schien der Ton einer fernen Glocke ihre wandernden Gedanken in einen bestimmten Jammer zusammen zu fassen; denn sie rief ängstlich: sie läuten, sie läuten! und verstummte in herzbrechendem Schluchzen. – In einem Tollhaus! sagte ich mit selbst und mein Blut erstarrte [162] vor Schrecken; aber er dauerte nur einen Moment. Und wenn auch? jenseits der Pforte an der ich stehe, ist der Verrückte und der tiefste Philosoph seiner Fesseln entledigt. – O wär ich ihr wirklich so nahe gewesen dieser Pforte, welche beschämende Rechenschaft hätte ich dem Hausherrn von dem Geschäft, das er mir übertragen, geben müssen! Heil, daß seine Welt so groß ist, um jedem Schüler Hoffnung zu geben, daß er in ihr irgendwo Raum zur Belehrung, zur Besserung finden werde! Doch in diesem Augenblick wurden mir diese Betrachtungen nicht klar; mein Geist war mit meinem Körper so geschwächt, daß meine Todeserwartung sehr bald in tiefen, aber dieses Mal in einen natürlichen Schlaf überging.

Bei meinem auf ihn folgenden Erwachen, war es heller Tag. Ich konnte nun meinen Aufenthalt übersehen. Ich befand mich in einer Art von Zelle, eben nur lang genug für mein [163] niedriges Bett, die nackten Wände waren mit zahllosen albernen Sprüchen beschrieben, aber durch sie hin hatte eine meiner unglücklichen Vorgängerinnen einen Namen, der vielleicht die Veranlassung ihres Elendes war, in jeder Richtung mit den zärtlichsten Beinamen geschrieben. Nie kann ich diesen Namen vergessen, so unbekannt mir der blieb, der ihn trug, der ihn schrieb; denn wenn ich in der erdrückenden Unthätigkeit meiner Einkerkerung alle diese Sprüche hundert Mal gelesen hatte, kehrte meine Aufmerksamkeit auf ihn zurück. Indem ich noch meine Umgebungen betrachtete, hörte ich einen festen Schritt meiner Thür nahen, den Schlüssel im Schloß sich umwenden, und ein Mann mit einem strengen dunkelgefärbten Gesicht trat herein. Er bot mir einige Speise der ärmlichsten Art. Mein krankhafter Ekel bewog mich, sie schnell von mir zu wehren; darauf reichte er mir einen Trank von Milch [164] und Wasser, den ich mit Begierde verschluckte und soweit es meine Schwäche gestattete, dafür dankte. Des Mannes strenger Blick milderte sich ein wenig. »Ihr seyd heute früh etwas besser?« fragte er. – »Ich werde es bald seyn«, erwiederte ich mit schwachem Lächeln. Er wendete sich um fortzugehen, als mich der Gedanke ergriff, daß ich nach meiner Auflösung, die ich für unfehlbar sich nahend ansah, diesem Manne, vielleicht seinen noch roheren Gehülfen, überlassen seyn könnte; ich bot alle meine Kräfte auf, rief ihn zurück und bat: »wenn es mit mir aus ist, so bittet doch – aus Barmherzigkeit! bittet irgend ein frmmes Frauenzimmer, daß sie für meinen Leichnam sorge! Ich war von gutem Stande und bin keiner Unanständigkeit gewohnt.« – Der Mann versprach ohne Schwierigkeit mir zu genügen und ermunterte mich dadurch noch mehr zu bitten. »Ich habe einen Freund, dem möchtet Ihr [165] doch auch schreiben!« – »Warum nicht, wie heißt er?« fragte er eifrig. – Herr Maitland, der reiche indische Kaufmann. Schreibt ihm Ellen Percy sey hier gestorben und habe seiner mit Achtung und Dankbarkeit gedacht.« – Der Wärter sah mich einen Augenblick mit Erstaunen an, dann lächelte er ungläubig und ging mit den sorglos ausgesprochnen Worten: »ja, ja, ich werde es besorgen« aus der Zelle.

Meine zitternde Hoffnung, meine freudige Zuversicht eines heran nahenden Todes, ward diesen ganzen Tag von nichts als dem Eintritt des Wärters, der mir zu bestimmten Stunden Nahrung brachte, unterbrochen. Eine ruhige Nacht stärkte meine Kräfte so merklich, daß den folgenden Tag, mit der Möglichkeit zu leben, auch die Freude am Leben zurückkehrte. Mit dieser Freude ward aber auch das schreckliche Bewußtseyn meiner Lage in mir klar. [166] Ich begriff, daß Irrthum oder Bosheit die Bewußtlosigkeit meines, von Jessy geerbten Fiebers für einen Zustand angesehen hatte, der mich in die Classe der Unglücklichen, welche diese Anstalt bewohnten, beigesellen mußte. Welche helfende Hand würde sich aber, wenn Bosheit mich hier festhielt, meiner erbarmen? Kein lebendes Wesen entbehrte mich von allen, die mich jemals gekannt; Niemand fand eine Lücke, da wo ich meinen Platz in der Gesellschaft besessen; wer sollte nach mir forschen? wer an mir, an der aus den Lebenden ausgestrichnen, Barmherzigkeit üben wollen? – Meine Unerfahrenheit gab mir keine Möglichkeit an, mir einen Ausgang aus diesem furchtbaren Aufenthalt zu verschaffen. Monate lang hier zu bleiben, Jahre lang vielleicht, war ein Gedanke, vor dem ich meinen schwachen Kopf hüten mußte, denn er drohte mich den Unglücklichen gleich zu stellen, deren herzzerreißende Stimmen [167] die Stille der Nacht mir hie und da zutrug. Sobald mein Wärter am zweiten Tage zu mir eintrat, empfing ich ihn mit der Frage: warum ich mich in dieser Anstalt, zu der mein Zustand mich keineswegs eigne, befinde? »Herr und Mistriß Boswell«, sagte ich, »wissen beide, daß mich das Fieber bei der Krankenpflege ihrer Tochter befiel.« – »Ja, ja, das wissen sie,« antwortete er besänftigend. – »Warum haben sie mich denn hierher geschickt?« – »Ja, für was halten Sie denn dieses Haus«? sagte der Mann nach einigem Nachsinnen. »Denken Sie denn es sey ein Irrenhaus? Es ist eine Krankenanstalt für Kranke Ihrer Art.« – Jetzt nahm ich wahr, daß er mich glaubte als eine Verrückte beruhigen zu müssen. Ich bat ihn dringend, er solle sich auf alle Weise von den sehr gesunden Zustand meines Gehirns überzeugen und mich aus dem Hause entlassen. Er versprach mir, daß dieses, sobald es mein [168] Zustand erlaubte, geschehen sollte. Um meine Kräfte bald herzustellen, sey es aber nothwendig, mich ruhig zu halten, und mir die unnützen Gedanken aus dem Sinn zu schlagen. So schaudervoll dieser unbestimmte Aufschub meiner Wünsche war, mußte ich dem Mann doch rücksichtlich der Nothwendigkeit durch Ruhe Genesung zu erstreben, recht geben. Ich erbat sie innig von Gott, und wendete mein Gemüth mit unendlicher Anstrengung von der Hoffnung der Befreiung aus diesem fürchterlichen Aufenthalt, die meine nächste Zukunft beglücken sollte, zu der Vergangenheit hin, die durch Thorheit, Eigensinn und Unglück mich in diese schreckliche Lage gebracht hatte. Das Nachdenken während der nun folgenden Tage reifte meinen Geist mehr, wie Jahre des Glückes hätten thun können. Mein letztes Unglück hatte meinen stolzen Sinn völlig gebrochen; ich hatte die Vergänglichkeit jedes Erdengutes erfahren, mein letzter Götze [169] war der Vorzug, den mir mein Verstand über Mistriß Boswell gegeben und der Uebergang weniger Minuten von Gesundheit zu Krankheit, hatte diesen Verstand in eine Verfassung gesetzt, die mich den Bewohnern eines Irrenhauses gleichstellte. Wenn ich, statt des Unwillens, mit dem ich der dummen Leidenschaftlichkeit dieser Frau trotzte, mit wahrer Ueberlegenheit des Geistes und Milde des Gemüths sie behandelt hätte, würde der ganze Gang der Begebenheit verschieden gewesen, Jessy's Krankheit viel leicht vermieden, und ich nie in dieses fürchterliche Gewahrsam gekommen seyn. Mit allen diesen Betrachtungen kehrte wirkliche Ergebung in mein Gemüth zurück und durch sie stärkten sich meine Kräfte. Ich war wieder fähig das Bett zu verlassen und den engen Raum meines Kämmerchens zu durchschreiten und lag meinem Wärter täglich dringender an, mir meine Freiheit zu geben. Er verwies [170] mich immer kaltblütig auf das unleugbare Bewußtseyn meiner Schwäche, berief sich aber endlich auf den nächsten Besuch des Arztes dieser Anstalt, der über meinen Aufenthalt entscheiden würde. Von nun an sah ich täglich diesem Besuch, als meiner Rettungsstunde, entgegen. Während die Zeit mit bleiernem Schritte dahin schlich, hatte ich einen Gegenstand ausfindig gemacht, der mir einen Wechsel der Beobachtung, in dem Fortschritt seines Zustandes, darbot. Dieses war ein Schwalbennest, welches seine Bewohner in dem Mauerwinkel meines Zellenfensters erbaut hatten. Ich ward mit dem Thun und Lassen derselben aufs innigste vertraut, sah sie aus- und einfliegen, ihren Jungen Futter bringen, und fröhlich im Sonnenschein die Mauern umkreisen. Während die Alten, Nahrung zu suchen außen waren, kamen die Jungen einer nach dem andern an die Oeffnung des Nestes und riefen in [171] mein Gefängniß hinein, ich sprach zu ihnen hinauf und sie antworteten mir wieder. Ich sah sie wachsen und gedeihen und mir schien es oft, als wär unser Schicksal verwandt, und die Vögelchen würden von ihren Eltern zu ihrem ersten Fluge zu eben der Zeit geführt werden, wenn mein Kerker sich öffnen würde. Eines Morgens verkündigte mir mein Wärter den lang ersehnten Besuch des Arztes, und beantwortete meine zuversichtliche Hoffnung, auf sein unfehlbares Zeugniß sogleich in Freiheit gesetzt zu werden, mit gefälligem Zustimmen. Meine schwachen Nerven geriethen bei dieser Aussicht in ungeregelte Spannung. Mit Mühe hielt ich mich zurück dem Mann freudetrunken die Hände zu küssen, aber auf meine Knie sank ich und strömte, noch in seinem Beiseyn, mein Dankgefühl zu Gott aus. Der Mann sah mich aufmerksam an und verließ kopfschüttelnd das Gemach. Ich ahnte, daß meine Heftigkeit [172] seiner Meinung von der Gesundheit meines Kopfes nicht sehr günstig gewesen war, und suchte mich durch die Beobachtung meiner kleinen gefiederten Freunde zu zerstreuen. Jetzt bemerkte ich, daß ein heftiges Sturmwetter heranzog. Bald sauste der Wind an den Mauern her und der Regen schlug an das Fenster. Die Eltern der jungen Brut steckten die Köpfchen aus dem Nest, gleichsam um das Wetter zu beobachten; ein paar Mal schlüpften sie heraus, versuchten die Flügel zu lüften, aber der Luftstrom trieb sie zurück; sie setzten sich mit gesträubtem Gefieder aufs Gitter, schüttelten den Regen von den Fittichen und krochen wieder in ihr Nest. Um die gewöhnliche Zeit trat der Wächter wieder bei mir ein. »Wenn kommt der Arzt?« fragte ich ängstlich. – »Bei dem Sturm doch nicht?« erwiederte jener verdrießlich, »er reißt ja die Ziegel vom Dach.« – In diesem Augenblick rollten wirklich [173] Ziegel herab; ich blickte zum Fenster und rief: »Ach! das Nest reißt los! o helft, helft mir es retten!« mit diesen Worten deutete ich an das Fenster hin, und auf mein Bett steigend, bemühte ich mich mit meiner Hand an das Fenster zu reichen, um den leichten Anbau zu sichern. Es war zu spät; ein neuer Windstoß ergriff ihn und schleuderte ihn herab, indem die Alten, dem unsichern Schlupfwinkel entfliehend, vom Sturm niedergetrieben, mit ängstlichem Geschrei gegen den Boden flatterten. Meine Schwäche verrieth sich freilich durch den Eindruck, den dieser nichtsbedeutende Zufall auf mich machte. Ach, dem Unglücklichen, der von der Theilnahme seiner Mitgeschöpfe keinen Trost erhält, wird die theilnahmlose Natur zum Propheten und Wahrsager. Dieser Sturm an dem Tage meines ersehntesten Glückes hatte mich schon gequält, das Verderben dieser kleinen Geschöpfe, deren ersten Flug meine, jedes [174] fremden Gegenstandes beraubte Einbildungskraft, so lange als Symbol meiner Befreiung angesehen hatte, brachte mich zur Verzweiflung. Ich rang die Hände und brach in ein convulsivisches Weinen aus. »Nun, da seht Ihr, daß Ihr nicht fähig seyd das Haus zu verlassen«, sagte mein Wärter, der mir bedenklich zugesehen hatte, mit rechthaberischem Ton, »wie würde es Euch gehen wenn Ihr Euch bei andern Leuten auch so thöricht wolltet anstellen«, und hiermit verließ er das Zimmer. – Die Einsicht der furchtbaren Folgen schnell übersehend, welche dieses Mannes Bericht an den Arzt, über meinen Mangel an Fassung, hervorbringen könnte, gab mir Selbstbeherrschung zurück; ich warf mir die Verirrung meiner Fantasie vor, die mit einer Art von Aberglauben in den unzusammenhängendsten Dingen, Beweisgründe für die Leitung meines Schicksals aufgesucht, da es mein besserer Sinn [175] so oft schon gläubig in die Hände eines gütigen Vaters im Himmel gelegt hatte. Mit vielem Kampfe gelang es mir, bei dem Eintritt des Arztes in einer ruhigen Stimmung zu seyn. Er befragte mich sehr sorgfältig um meine Gesundheit, dann sagte er zu dem Wärter: »Herr Schmid, ich wiederhole Ihnen was ich bei dem Eintritt dieses Frauenzimmers gesagt: ihr Uebel eignet sich keineswegs für die Behandlung dieses Hauses.« – »O was das anbetrifft«, antwortete der Wärter mit zuversichtlichem Wesen, »so hätten Sie noch heute Morgen sehen sollen, welchen Auftritt ich wegen eines albernen Schwalbennestes mit ihr hatte.« – »Den will ich dem Herrn erzählen«, nahm ich das Wort, »bitte Sie aber um Entschuldigung, Sie mit meiner kränklichen Empfindlichkeit belästigt zu haben.« Statt der Geschichte des zertrümmerten Nestes erzählte ich aber dem Arzt mit so bündigem Zusammenhang, wie [176] mir immer möglich war, die Veranlassung meiner Krankheit und die Umstände, denen ich mein Einsperren zuschrieb. Der Arzt hörte mich aufmerksam an, that dann viele Fragen, um sich des Zusammenhangs meiner Begriffe zu versichern, und fragte endlich: ob ich ihm gestattete, bei Herrn Boswell meinetwegen Erkundigungen anzustellen. – »Von Herzen gern, wenn Sie keinen andern Weg kennen, sich von meinen gerechten Ansprüchen an meine Freilassung zu überzeugen. Außerdem wünschte ich Herrn Boswells häusliches Unglück nicht durch die Kenntniß von seiner Frau Verbrechen zu vermehren.« – Der wackre Mann blieb noch lange bei mir, unterhielt mich von mancherlei Gegenständen, um meine Geistesfassung zu beobachten, widerlegte durch die Bemerkungen, welche ich selbst über des Wärters Anschuldigung von Ueberspannung machte, die falschen Ansichten, die der Mann von meinem [177] Zustand hatte, und am Schluß der Unterredung – – o Entzücken, das keine Ausdrücke beschreiben! – unterzeichnete er das Zeugniß meiner Entlassung aus dem Institute. –

Ich wußte nicht, wo ich nun ein Obdach finden sollte, ich mußte fürchten, daß meine wiedergeschenkte Freiheit mich der Dienstbarkeit, dem Hunger, dem Elend entgegenführen würde – aber ich war frei! – und so wie der Gedanke an Gottes Schutz in meinem Kerker mein einziger Trost gewesen war, so dünkte mir, draußen in der Freiheit sey mir sein Schutz noch gewisser. Ach, ist es dem, der nach langem Sehnen den Gegenstand seiner innigen Wünsche erhält, wohl zu verdenken, wenn er ihn mit der höchsten Schöne herausschmückt? Seine Brüder, seine Mitgenossen des wandelbaren Erdenlooses, dürfen ihn darum wenigstens nicht verwerfen.

Die Ordnung des Hauses wollte, daß [178] Mistriß Boswell, auf deren Antrag ich eingesperrt worden war, von meiner Freilassung, von meiner Wiederherstellung unterrichtet seyn sollte. Der Arzt nahm das Mißtrauen wahr, mit dem ich diese Nachricht empfing, sendete daher sogleich einen Boten zu ihr ab und erwartete seine Rückkehr in meiner Zelle. Dieser brachte die Nachricht, daß Herrn Boswells Haus unbewohnt und verschlossen sey, indem die ganze Familie sich aufs Land begeben habe. »Gut«, sagte der menschenfreundliche Mann, »das hält Sie nicht auf. Mistriß Boswell empfange die Anzeige nach ihrer Rückkehr. Die Furcht, ihre Unthat bekannt machen zu sehen, wird sie den Mangel an Förmlichkeit wohl übersehen machen.« Ich nahm daraus ab, daß diese Frau durch die Furcht einer Entdeckung aus der Stadt getrieben worden; ihre Abneigung gegen das Landleben war mir bekannt, sie hatte, um unter keinem Vorwand [179] dazu beredet werden zu können, Herrn Boswells Vorschläge zu Verbesserungen seines Landhauses stets abgelehnt. – Doch meines Schweigens über ihren an mir begangnen unmenschlichen Verrath konnte sie gewiß seyn. Ich traute meinem eignen Gefühl noch zu wenig, um entscheiden zu können, ob Gerechtigkeit oder Rache mich leiten würde, indem ich mich über jenen beklagte, nahm deshalb den Entschluß, fürs erste die Begebenheit dieser letzten Wochen gegen niemand zu erwähnen. Man händigte mir bei meinem Austritt aus dem Hause einige Bündel mit allem dem Wäsch- und Kleidervorrath aus, die ich in Mistriß Boswells Hause besessen hatte, sie waren bei meiner Ueberkunft in das Irrenhaus abgegeben und mir treulich aufbewahrt worden. Es war so wenig, was dieser Vorrath enthielt, aber der Erbe der reichsten Verlassenschaft kann nicht froher auf seine Schätze blicken, als ich auf [180] diese geringen Habseligkeiten, die mir für die nächste Zeit Reinlichkeit und ehrbaren Anstand zusicherten.

Wie ich endlich das Haus verließ und dessen Thore hinter mir zufielen, wie der Träger, der mein kleines Gepäck trug, mich fragte, wohin ich zu gehen gedächte, schien mir das alles ein Traum. Diese Frage, die mir meinen verlaßnen Zustand aufdringen mußte, wie er sie zum ersten Mal that, füllte mich mit Entzücken; im nächsten Augenblick machte sie mich stutzig; wie der Mann sie aber wiederholte, hatte ich meinen Entschluß gefaßt und wies ihn wohlgemuth an, mich zu meiner ehemaligen Hauswirthin, Frau Millner, zu führen. Sie empfing mich sehr kalt, sie antwortete kaum auf meine Frage: ob mein ehemaliges Zimmer offen sey, und auf meine Bitte, wenn sie mir dieses nicht geben könnte, doch eine andre anständige Wohnung für mich aufzufinden, brach ihre [181] Beredtsamkeit los. Ich mußte hören, wie sie ihre Schwester, indem sie mich an Mistriß Boswell empfohlen, in die Gefahr, verabschiedet zu werden, gebracht, und daß es kein Mensch Mistriß Boswell hätte verdenken können, mich aus dem Hause zu schaffen, nachdem ich so ein Unglück, wie Mistriß Jessys und ihres Vaters Krankheit, in die Familie gebracht hätte. »Also ward Herr Boswell auch angesteckt?« rief ich bestürzt. »Gewiß! und das ganze Haus wäre krank geworden, hätte man Sie nicht entfernt.« Bei dem Anblick meiner aufrichtigen Theilnahme milderte sich meiner Hausfrau Betragen. Ich war zu glücklich gestimmt, um mich durch die erste Unannehmlichkeit niederschlagen zu lassen; und da es ihr auch ganz angenehm war, ihr Zimmer wieder zu vermiethen, so ward unser Vertrag bald erneut, und ich befand mich wieder im Besitz meiner ehemaligen Wohnung.

[182] Wie ich sie das erste Mal bezog, schien sie mir so dürftig, so klein; und jetzt mußte ich mir doch eingestehen, daß die wenigen Schillinge, die ich in meinem Gepäck, als letzten Rest meiner kleinen Baarschaft, gefunden, nicht hinreichten, diese Wohnung lange zu bezahlen. Mein rechtlicher Anspruch an den mir von Herrn Boswell versprochnen Quartal-Gehalt war die einzige mir offenstehende Aussicht, eine kleine Summe zur Deckung meiner nächsten Bedürfnisse zu erhalten. Der Schritt ward mir unendlich schwer, aber ich lernte je mehr und mehr mich der Nothwendigkeit beugen und schrieb Jessys Vater, ohne der letzten Vergangenheit zu erwähnen, mein Gesuch, wobei ich ihn von dem Ort, wohin er das Geld zu senden habe, unterrichtete. Ich hoffte wenig, und doch waren die Tage, die ohne Antwort verflossen, sehr lang, und die allmälig eintretende Ueberzeugung, [183] daß man meinen Brief verhindert hatte, in Herrn Boswells Hände zu kommen, sehr bitter. Indessen machte ich jeden Versuch, mir Arbeit und Erwerb zu verschaffen. Ich erkundigte mich nach Mistriß Murray – sie war noch immer im Auslande, und ihr Sohn war ihr dahin gefolgt; ihre unliebenswürdige Schwester befand sich, so wie der größte Theil der wohlhabenden Bewohner Edinburgs, auf dem Lande; denn in der schönen Jahrszeit ist das, was von London nur als Redensart gilt, in Edinburg im eigentlichen Sinne wahr: die Stadt ist dann leer. Dieser Umstand mochte meinem Nachsuchen ebenso ungünstig seyn, wie mein gänzlicher Mangel an Bekanntschaft und Empfehlung. In vornehmern Häusern fehlte mir diese, und in Bürgerhäusern mochte meine wieder aufblühende Jugend und mein Ansehen, das mich auch in meiner bescheidnen Kleidung vor der Volksclasse auszeichnete. Mißtrauen erregen.

[184] Eines Tags sah ich hinter dem Fenster eines Kaufladens einige kleine Handarbeiten, wie ich sie in meinen bessern Tagen verfertigt. Ich trat hinein und bot dem Kaufmann an, ihm ähnliche zu liefern. Er schien sehr wenig Vertrauen in meine Geschicklichkeit zu setzen, versprach mir aber doch, wenn ich selbst das Material dazu hergeben wollte und sie ihm gefielen, dieselben zu kaufen. So gering diese Gefälligkeit war, konnte ich doch meine erste Hoffnung an sie knüpfen und ging freudig nach Hause. Meine Lage forderte dringend eine günstigere Wendung; ich hatte nur eine Woche von meinen wenigen Schillingen gelebt, und bei der strengsten Sparsamkeit gingen sie zu Ende. Meine Miethe sollte heute auch bezahlt werden, und es blieb mir kein Mittel, als ein Stück meines kleinen Kleidervorraths zu verkaufen. Lange sann ich nach, wie ich dieses schwere Opfer zu meinem größten Vortheil bringen [185] könnte. Wenn ich für den Erlöß meiner Habseligkeit Material zu den Arbeiten anschaffte, die mir der Kaufmann abzunehmen versprochen hatte, so konnte ich mich in den Stand setzen, nicht allein Frau Millner zu bezahlen, sondern auch für meinen künftigen Unterhalt zu sorgen. Allein hatte ich, so lange ich ihr meinen Miethzins schuldig war, das Recht, über einen Theil meines Besitzes auf eine andre Weise zu verfügen? Sollte ich die Nachsicht einer Person in Anspruch nehmen, die ich nur mit Mühe nöthigte, mich mit Achtung zu behandeln? Nach langem schmerzlichen Bedenken überwand ich meinen aufgährenden Stolz, bat Frau Millner, in mein Zimmer zu kommen, und legte ihr meine Lage vor. »Ich kann Ihnen den Miethzins noch diese Woche bezahlen, aber dann nicht mehr, wenn Sie mir nicht auf einige Tage Credit geben«, schloß ich meinen Vortrag. Sie sah mich verwundert an, denn nie vorher[186] hatte ich mit ihr von meiner Lage oder meinen Verhältnissen gesprochen. Nach einigen Fragen, durch die sie sich über meine Plane noch mehr verständigen wollte, und die ich nicht zurückweisen durfte, sagte sie: »Nein, ich will Ihnen nicht weh thun. Bezahlen Sie mir die Hälfte der Miethe und versuchen Sie mit der andern Ihr Glück.« – Dieser Punct war also gewonnen; jetzt kam es darauf an, das Geld herbeizuschaffen, und zu diesem Ende nahm ich mein kleines Päckchen, um es dahin zu tragen, wohin die Noth mir schon früher den Weg gezeigt hatte. Der elende Winkel, in welchem der Trödler und Pfandverleiher seinen Laden aufgeschlagen hatte, erfüllte mich mit Ekel. Es war ein trüber, regniger Tag; vielleicht war dieser Umstand daran schuld, daß mir dieser Ort heute so schauerlich vorkam; vielleicht hatte mein Fieber mich reizbarer gemacht, meine dürftige Nahrung mich geschwächt, genug, daß [187] ich mit Zittern und Zagen mein Geschäft begann. Einige schmuzige, zerlumpte Weiber, anscheinend aus der niedrigsten Volksclasse, standen vor dem Zahltisch, der mit Kleidungsstücken und Wäsche von sehr schlechtem Ansehen bedeckt war; in rauhen, rohen Tönen feilschten sie, schrieen, bettelten, und Noth, Ungeduld oder Arglist verzog ihre garstigen Gesichter. Ich schloß schleunig meinen Handel und wollte wieder hinwegeilen, als ich beim Heraustreten eine Stimme vernahm, die, weniger mißtönend wie die andern, traurig und halb leise dem Trödler ein dringendes Gesuch vorzutragen schien. Sie sprach meine Landessprache, und dieser Ton traf wie Freundes Stimme mein Ohr. Das Gesicht der Sprechenden war von mir abgewendet, auch zum Theil mit einem Mantel verhüllt, an dem noch einige Fetzen eines ehemaligen Besatzes zu sehen waren; mit dem einen Arm, der so abgezehrt [188] war, daß die farblose Haut jeden Knochen bezeichnete, hielt oder schleppte sie vielmehr ein kränkliches Kind. Sie begann noch einmal zu bitten: »O Herr, wenn es nur einige Schillinge seyn könnten!« – »Nicht einen. Ihr habt schon viel mehr erhalten, wie das Kleid werth ist,« sagte der Mann mit unbarmherzigem Ton. – »Nun so helfe mir Gott! so muß ich verhungern!« rief die Frau und schritt neben mir aus der Thür. Jetzt konnte ich ihre Züge unterscheiden, und wie verändert sie auch waren, erkannte ich Julie Arnold. Ich rief ihren Namen, und mit ihm trat ihre ehemalige Lieblosigkeit vor mein Gedächtniß. Starr vor Entsetzen sah ich sie einige Augenblicke an – ein Bild des Jammers! Krankheit, Mangel, Gram war in ihre Züge eingegraben! – Ich erinnerte mich ihrer Blüthe, unsrer Kinderjahre und schlang meine Arme um ihren Hals. Lange konnten wir beide nicht sprechen; sie [189] vermochte es zuerst: »Ellen,« sagte sie mit hohler, tonloser Stimme, »Sie sind schrecklich gerächt!« – Jetzt erinnerte ich mich der Verwünschung, die ich damals, wie sie mich verleugnete, in der Tiefe meiner Noth gegen sie ausgestoßen, und nun ich sie so viel elender sah, als ich jemals gewesen, schien ich mir durch ihren Zustand gestraft. Wie ich meine Augen zu ihr aufhob, blickte sie mit Schaamröthe auf mich hin und sagte: »Nicht wahr, mit mir ist, seit Sie mich nicht sahen, eine traurige Veränderung vorgegangen?« – »Lassen Sie uns nur hier fortgehen, liebe Julie, dort sollen Sie mir erzählen, was Ihnen widerfuhr«, antwortete ich, indem ich ihr meinen Arm bot. Sie nahm ihn mit einem Blick der Verwunderung; »gewiß, Ellen«, sagte sie, »Sie müssen sich schämen, mit mir in meinem gegenwärtigen Aufzug durch die Straße zu gehen.« – »O Julie, kann ich in diesem Moment an Ihren [190] Aufzug denken?« rief ich, im Herzen gekränkt über ihre kleinliche Bemerkung, und führte sie schweigend mit mir fort. Meine Wohnung war weit weg, ihre Kräfte reichten kaum zu dem Weg hin, sie blieb mehrmals stehen, um Athem zu schöpfen. Da mir jetzt beifiel, daß ich ihr das Kind abnehmen müßte, streckte ich meine Arme nach ihm aus, konnte mich aber von dem Verdacht, der mich in diesem Augenblick ergriff, nicht einer Bewegung erwehren, die ihr nicht entging. Eine noch tiefere Röthe überzog ihre schwindsüchtig gefärbte Wange, und sie sagte mit einem festen Blick in mein Auge: »Nein, Miß Percy, nein! es ist kein Kind der Sünde.« – Mein Herz war nun um vieles erleichtert, ich umfaßte das Kind, und wir setzten unsern Weg fort. Endlich erreichten wir das Haus. Meine Wirthsleute warfen übelwollende Blicke auf den Gast, den ich zu mir einführte. Ich beachtete sie nicht, brachte Miß [191] Arnold in mein Zimmer und theilte alles mit ihr, was sich von Nahrungsmitteln vorfand. Sie aß wie eine Hungrige, aber kaum gesättigt, begann sie ihrem Gespräch die kleinliche Wendung zu geben, die es mir in alten Zeiten so gefährlich gemacht hatte. Sie bemerkte, daß die Zeit, in welcher sie mich nicht gesehen – wenn sie mich verändert – meiner Schönheit nur Zuwachs gegeben, besonders durch die zartere Farbe, welche mein Fieber mir zurückgelassen hatte. – »Doch, Julie, werden Sie mich in einem Punct verändert finden. Ich habe alle Freude an Schmeicheleien verloren – aber von denen soll auch gar nicht mehr die Rede seyn. Jetzt erzählen Sie mir, warum ich Sie so weit von der Heimath entfernt finde, so ... erzählen Sie mir alles, was Sie drückt!« –

Julie schien dazu gar nicht abgeneigt. Sie sagte: ihre vertraute Bekanntschaft mit Lady [192] St. Edmond hätte sie nothwendig Lady Maria de Burgh nähern müssen, »denn diese Dame«, sagte die Arme, indem ein wohlgefälliges Lächeln um ihren blassen Mund spielte, »verlor, nachdem wir kaum ein paar Mal zusammen gekommen waren, ihr Vorurtheil gegen mich. Dazu gehört nun wenig, denn sie ist eine solche Thörin, daß sie nie recht weiß, was sie will.« – Ich erinnerte mich mit Schaamröthe der Zeit, wo Julie mit einer solchen Bemerkung mir Wohlgefallen erregen konnte, schwieg aber und ließ sie forterzählen, wie Lady Marie sich dergestalt an ihren Umgang gewöhnt habe, daß sie in sie gedrungen, als Gesellschafterin bei ihr zu leben. »Damals bewarb sich Lord Glendower um Lady Maria oder vielmehr«, sagte Miß Arnold, »die Dame hoffte ängstlich, daß er sich bewerben würde. Ich sah aber bald sehr deutlich, daß er, bei gleichen Umständen, mich bei weitem vorgezogen hätte«. [193] Hier hielt sie inne, als habe sie einen Einwurf von mir erwartet; wie ich schwieg, fuhr sie fort: »Sie wissen wohl, Ellen, daß ich nicht in der Lage war, eine glänzende Versorgung von mir weisen zu können, ich hatte auch keine Art von Verbindlichkeit gegen Lady Marie, die mich, ihr mein Glück aufzuopfern, hätte vermögen können.« – »Glück?« rief ich, mich des unwürdigen Charakters dieses Mannes erinnernd. – »Nun, nennen Sie es, wie Sie wollen«, erwiederte Miß Arnold, »in Vergleich der Abhängigkeit, in der ich leben mußte, sey es von meinem Bruder, sey es von Fremden, war es ein Glück; und ... nach mancherlei Vorgängen, die mir klar bewiesen, daß mir gar nichts Beßres zu thun übrig blieb, entfloh ich mit Lord Glendower nach Schottland.« – »O Julie! Lord Glendower war ja sein eigner Herr, er konnte ja heirathen, wen er wollte.« – »Je nun, er wünschte es also.[194] Und Sie wissen wohl, Ellen, wenn man liebt ...« – »Nein, Julie, das weiß ich nicht; allein ich habe durch meine eigne Thorheit das Recht verloren, Ihnen über diesen Gegenstand Bemerkungen zu machen. Fahren Sie fort!« – »Wie wir hierher kamen, nahm ich leider wahr, daß er mich in der Gesellschaft nicht einführen wollte, und daß ich vor ihren Augen straffällig erschien. Ich durchschaute bald Mylords abscheulichen Plan. Zeugen konnte ich nicht gegen ihn aufstellen, aber ich hatte mich nach den schottischen Gesetzen über die Ehe erkundigt, und da weigerte ich mich, mit Lord Glendower die geringste Gemeinschaft zu haben, bis er nicht wenigstens die Leute, in deren Hause wir wohnten, beredet hätte, daß ich seine rechtmäßige Frau sey; nachher brachte ich es auch dahin, daß er mir ein Billet sendete, an Lady Glendower überschrieben; dessen Inhalt hatte gar keinen Werth, mir reichte aber die Ueberschrift [195] aus. Ich war nun bemüht, die Leute um uns her aufmersam zu machen, daß er mich wie seine Gattin behandelte, und in Schottland ist das mehr werth, als zehn Trauscheine. Ein solcher will ja auch gar nichts sagen: was ein Paar unzertrennlich verbindet, ist eine Ehe vor Gott und Menschen. Nicht wahr, Ellen?« – »Wohl, arme Julie!« sagte ich, zwischen Mitleid und Widerwillen getheilt, »dazu gehört aber, daß beide Theile fest entschlossen sind, sich unwiderruflich zu verbinden.« – Miß Arnold schlug einen Augenblick die Augen nieder, dann fuhr sie mit Zuversicht fort: »Nun ich diesen Punct gewonnen hatte, weigerte ich mich nicht, ihm nach einem Landhaus, das er in den Hochlanden gemiethet hatte, zu folgen. Dort verweilten wir einige Monate und langweilten uns von ganzem Herzen. Im Winter kamen wir wieder hierher, und Glendower sprach davon, nach London zu gehen. Ich konnte ihn nicht [196] begleiten und mochte es auch wirklich nicht. Der Mensch hatte sich dem Trunk in hohem Grade er geben. Er ließ mich also zurück, mit dem Versprechen, nach meiner Entbindung wiederzukommen. Aber er war nicht zwei Monate fort, so las ich in den Zeitungen, daß er sich mit Lady Maria vermählt habe. Die Nachricht traf mich wie ein Donnerschlag. Aus Schrecken kam ich zu früh nieder und war gefährlich krank. Dennoch dictirte ich Briefe an Glendower und Lady Maria, in denen ich mein Recht darthat und erklärte, im Fall man es nicht beachtete, die Gesetze zu Hülfe rufen zu wollen. Ich schrieb oft, ehe ich eine Antwort erlangen konnte; endlich hatte Glendower die Frechheit, alle meine Ansprüche an ihn abzuleugnen; er war sogar so grausam, zu behaupten: die Zeit, wo mein armer kleiner Knabe geboren ward, widerlege zum Theil meine Anklage.« Bis dahin hatte Julie mit einem empörend gleichgültigen [197] Ton erzählt, jetzt brach sie aber in Thränen aus, drückte das Kind an ihre Brust und rief recht innig: »Und so wahr mir Gott helfe, der Knabe ist Glendowers Sohn und, wie ich ernstlich glaube, sein einziger rechtmäßiger Erbe. Könnte ich ihn in seine Rechte eingesetzt sehen, so forderte ich weiter nichts.« Sie bemeisterte bald ihre Rührung und erzählte weiter. Lord Glendower, über die Mißhelligkeiten aufgebracht, die ihre Forderung zwischen ihm und seiner Gemahlin erregt hatte, versagte ihr Unterstützung; sie wendete sich an ihren Bruder, der ihr sehr zornig antwortete: daß er genug für sie gethan habe, da er ihr eine Erziehung geben ließ, die sie in Stand gesetzt hatte, sich mit Ehren durchzuhelfen, nun aber weiter keine Verbindlichkeiten gegen sie zu haben glaubte. Zugleich schickte er ihr dreißig Pfund, die sie zu irgend einem kleinen Handel anlegen sollte. Dieses Geld reichte eben nur hin, sie aus dem [198] Schuldgefängniß zu befreien. Sie behielt nichts übrig, verkaufte ihre Habseligkeiten, eine nach der andern, und war nun zu der gänzlichsten Entblößung herunter gebracht. Dazu kam noch ihre wankende Gesundheit – »dieser erschöpfende Husten«, sagte sie, »und diese Schwäche, obgleich ich weiß, daß sie von gar keiner Bedeutung sind.« – Bei diesen Worten konnte ich mich eines Schauders nicht enthalten. Abzehrung blickte aus ihren tief liegenden Augen, sprach aus der dunklen, abgeschnittenen Röthe ihrer hohlen Wangen. – »Warum sehen Sie mich so erschrocken an, Ellen?« rief sie unwillig, »ich bin nicht so krank, wie ich aussehe.« – »Gewiß nicht, gute Julie!« sagte ich und versuchte zu lächeln.

Es war jetzt fast dunkel geworden; der Ort, wo Julie in der letzten Zeit Unterkunft gefunden hatte, war weit entlegen, ich dachte darauf, sie diese Nacht bei mir zu behalten, als [199] Frau Millner den Kopf in die Thüre steckte und mich ziemlich unverbindlich aus dem Zimmer rief, um mit mir zu sprechen. Da es mir ahnte, wovon die Rede seyn würde, suchte ich die Unterhandlung vor dem Ohr meines unglücklichen Gastes zu verbergen. Meine Hausfrau warf mir mit pöbelhaftem Unwillen vor, eine Landstreicherin in ihr Haus eingeführt zu haben, die sie nicht darin zu dulden gedächte. Ich stellte ihr mit Fassung vor, daß diese Wohnung, so lange ich sie gemiethet habe, mein sey, und es von mir abhinge, ein unglückliches Frauenzimmer, die keineswegs von niedrigem Stande sey, bei mir zu beherbergen. Mit diesen Worten wendete ich ihr den Rücken und kehrte in mein Zimmer zurück. Zornig eilte die Frau hinter mir drein; »wenn das Ihre Zuversicht ist«, rief sie übermüthig, »so ist die Sache bald geendigt: Sie zahlen mir sogleich den rückständigen Zins, oder räumen das Haus [200] augenblicklich, ohne durch dergleichen Gesindel dessen guten Ruf zu beflecken.« Da ich, unfähig, meine Fassung aufrecht zu erhalten, nicht sogleich antwortete, wendete sich Frau Millner an Miß Arnold und befahl ihr, das Haus zu verlassen. Diese mochte wohl leider schon oft der Härte solcher Menschen nur Flehen entgegen zu setzen gehabt haben, denn sie bat wimmernd: »Erbarmt euch doch! ich habe ja nicht Kräfte, um nach Hause zu gehen.« Mir schnitt diese Erniedrigung ins Herz; ich rief ihr zu, sich nicht wegzuwerfen, sondern in meiner Begleitung sich sogleich auf den Weg nach ihrer Wohnung zu machen. Bei diesen Worten zog ich meinen Beutel heraus, zählte noch mals die kleine Summe, welche ich aus meinem Kleide gelöst hatte, und warf Frau Millner ihren Miethzins auf den Tisch. Zu meinem Erstaunen fuhr Miß Arnold während dessen fort, mit Frau Millner um die Erlaubniß, bei mir bleiben zu [201] dürfen, mit einer Beharrlichkeit zu bitten, die mich empörte und mir erst im Verfolg erklärlich ward. Ohne auf die Hausfrau zu hören, die bei dem Anblick meines Geldes sehr besänftigt ward und mir versicherte, ihre Wohnung sey mir nicht verweigert, wenn die Hausordnung ihr gleich auferlegte, sie Fremden zu verschließen, ergriff ich Miß Arnolds Arm und zog sie mit mir fort. Sie folgte mir widerwillig und erschwerte sich selbst den Weg durch vergebliche Klagen über ihre Unfähigkeit, dessen Ziel zu erreichen. Es war Abend, ich zitterte vor der Aussicht, diesen langen Weg im Dunkeln allein zurückkehren zu müssen, ich zitterte, in der Gesellschaft meiner unglücklichen Gefährtin der Rohheit der Vorübergehenden ausgesetzt zu seyn. Jedes Mal, daß sie, nach Athem ringend, stehen blieb, war mir bang, die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf uns zu ziehen; ich sprach ihr Muth ein und erlag fast[202] selbst beim Fortschreiten unter ihrer Last, da sie sich kraftlos auf mich lehnte, und der des armen Kindes, das wimmernd auf meiner Schulter lag.

Endlich hatten wir Miß Arnolds Wohnung erreicht. Sie befand sich in den Mansarden eines Hauses, dessen verschiedne Stockwerke jedes für zwei Familien eingerichtet schien, also insofern viel besser, als Cecilens Wohnung, gewesen war, die mit einer ganzen Kolonie auf demselben Boden gewohnt hatte. Julie klopfte zögernd, ein schmuziges, armseliges Weib öffnete behutsam, und ihr stellte mich Miß Arnold vor als ein Frauenzimmer, das ... Ich verstand, daß sie mich ihr als Miethsfrau vorschlagen wollte; allein das Weib hörte sie gar nicht an, sondern überschüttete sie mit Schimpfreden, aus denen mir klar ward, daß die Unglückliche schon lange bei ihr Schulden gemacht, und dann schloß sie die Thür mit erschütterndem[203] Lärm vor uns zu. Starr von Schrecken, wendete ich mich zu meiner Begleiterin, die von Jammer überwältigt, auf die Stufen der Treppe gesunken war und kaum vernehmlich mir zurief: »O Ellen, bitten Sie für mich, bitten Sie! denn ich kann mich nicht weiter fortschleppen.« – Ich klopfte von neuem an die Thür, entschlossen, mich der ganzen Härte der Hausfrau auszusetzen, um nur ein Obdach für meine unglückliche Gefährtin zu erhalten; allein es war vergeblich, sie öffnete sich nicht.

Es blieb mir nun nichts mehr übrig, als Julie zu ermuthigen, daß sie noch einmal den Weg zu Frau Millner zurück machen möchte, überzeugt, daß diese Frau, nun sie bezahlt war, mir nicht versagen würde, diese eine Nacht eine Unglückliche zu beherbergen; allein die Erschöpfung des Körpers hatte sich auch der Seele mitgetheilt, Julie war keines Entschlusses fähig, sondern wimmerte hülflos: »ich kann [204] nicht weiter; gehen Sie, verlassen Sie mich! ich verließ Sie ja, wie das Unglück über Sie einbrach, thun Sie, was ich an Ihnen verdient habe!« – Diese schrecklichen Worte gaben mir einen übernatürlichen Muth. – Uebernatürlich; denn Gott senkte ihn in der Gestalt des Glaubens in mein Herz. Ich wußte keinen Ausweg aus dem Abgrund der Hülflosigkeit, in dem ich mich versunken sah, weder für das zerschlagne Geschöpf, das sich vor mir am Boden krümmte, noch für das weinende Kind, das vor Hunger oder Furcht auf meinen Armen bebte. Aber mit einer Zuversicht, als hörte ich den Fuß des Retters sich nahen, rief ich: »Nein, Julie, ich verlasse Sie nicht, und hülflos, wie wir sind, wollen wir nicht verzweifeln, sondern zu Gott beten, daß er sich unser erbarme.« – Die Arme war dieses Aufflugs des Geistes nicht fähig, sie antwortete mir nur durch dumpfe Klagtöne, aber das Kind fester [205] in meine Arme schließend, wendete ich mich ab und bat Gott mit unaussprechlicher Inbrunst, uns eine Hülfe zu senden.

Der Schall eines die Treppe heraufsteigenden schwerfälligen Schrittes schreckte mich jetzt auf. Ich beschwor Miß Arnold mit leiser Stimme, ihren Jammer zu mäßigen, damit man uns nicht des letzten Obdachs, welches dieser Treppengang uns vielleicht für diese Nacht gewähren könnte, beraubte. Doch umsonst, sie fuhr fort zu stöhnen; doch ward ich, über die herannahende Person ruhiger, da ich unerachtet der Dunkelheit, sie für ein Frauenzimmer erkannte. Sie ging über den Vorplatz und klopfte an die jener, von wo man Miß Arnold so unbarmherzig abgewiesen hatte, anstoßende Thür, dann kehrte sie zu meiner Gefährtin zurück und fragte, was ihr fehle. – »Sie ist fremd, sie ist krank«, sagte ich, mich ihr nähernd, »und der einzige Ort, wo sie [206] diese Nacht Obdach finden könnte, ist zu weit, als daß sie ihn zu erreichen im Stande wäre.« – Jetzt öffnete sich die Thür, ein junges Mädchen trat mit einer Lampe heraus, mehrere freundliche Gesichter begrüßten die heimkehrende Mutter, ich erblickte durch die offne Thür die gewöhnliche Helle eines Caminfeuers in einer reinlichen, wenn gleich sehr beschränkten Wohnung. – Ach, wie beneidenswerth kam mir diese Frau vor! Ich betrachtete sie, die Lamve beleuchtete sie, ihre Züge schienen mir bekannt – sie war die Wittwe des armen Gärtners, der in Greenwich in meinem Beiseyn starb. – Sie sprach mitleidig mit Miß Arnold, da zog sie das kleine Mädchen beim Aermel und sagte leise: »Mutter, die sieht der guten englischen Dame ähnlich.« Die Frau richtete ihre Blicke auf mich, konnte ihren Augen nicht trauen und rief: »Nein, das ist gar nicht möglich.« – »Es ist nur zu möglich, liebe Frau Campell«, [207] sagte ich, »das wandelbare Schicksal hat mich nun zum Fremdling im Lande gemacht.« – »So sind Sie es wirklich?« rief die Wittwe mit fröhlichem Lächeln. »Gott segne Sie! Sie werden mir nie ein Fremdling seyn; treten Sie ein und ruhen Sie aus! und wenn Sie für die arme kranke Person kein Unterkommen wissen, so sagen Sie ihr, daß sie auch herein komme!« –

Nur der einsame Wandrer, der, in Feindes Land gerathen, unerwartet eine gastfreie Hütte sich eröffnen sieht, kann begreifen, mit welcher Freude ich diese Einladung annahm. Ich hob Julien vom Boden auf, führte sie in Frau Campells Zimmer und dankte Gott für die Zuflucht, die er uns so unverhofft bereitet hatte. Wir befanden uns in einem Gemach, das zugleich als Küche und Wohnzimmer diente; unsre Wirthin rückte einen großen gepolsterten Armstuhl an das Feuer und lud mich ein, darin [208] Platz zu nehmen. Julie, die vor Mattigkeit ganz zusammensinkend neben mir stand, zog zuerst meine Aufmerksamkeit auf sich. »Der Platz gebührt meiner kranken Freundin, liebe Frau Campell« 4, sagte ich, die Arme zu ihm leitend, Lady Glendower ist vielleicht einstens im Stand, Ihre Gastfreundschaft zu erkennen.« – Ich wollte meiner armen Gefährtin durch diese Anerkennung ihrer Verhältnisse wohlthun, wollte aber auch meine eigne Lage, die mich in einer so traurigen Gesellschaft auf geführt hatte, in ein beßres Licht setzen. Mein Verstand hatte recht, meine Jugend und Vereinzelung bedurfte Beweggründe, um so ein [209] Verhältniß begreiflich zu machen, allein meine Eitelkeit mochte doch dabei nicht ohne alle Theilnahme seyn. Sobald ich Julie unter diesem Namen eingeführt hatte, ward es mir leichter, bei Frau Campell anzufragen, ob sie dieselbe nicht aufnehmen könnte. Die gute Frau war sehr froh, mir dienen zu können, und das kleine Mädchen, dessen Schüchternheit allen meinen Versuchen, die Bekanntschaft mit ihr zu erneuern, widerstanden hatte, bot nun ihrer Mutter leise an, ihr Bett der Fremden zu überlassen. Das war aber gar nicht nöthig. Seit Frau Campell durch meine Beihülfe in ihre Heimath zurückgekehrt war, hatte es ihr, da sie eine geschickte Wäscherin war, nie an Erwerb gefehlt. Seit kurzem hatte ihr Bruder, ein wandernder Krämer, der Wittwer geworden war, sie gebeten, jetzt ihm hauszuhalten, und da dieser, auf mehrere Wochen abwesend war, bot sie Julien den Gebrauch seines Zimmers an.

[210] Nun für meine Gefährtin gesorgt war, fing ich an wegen meines eignen Unterkommens bange zu werden. Mitternacht war beinahe herangekommen; ich war fast eine Stunde von Frau Millners Wohnung entfernt; und ob ich gleich diese rohe Frau jetzt bezahlt hatte, so konnte ich doch nicht ganz sicher rechnen, von ihr aufgenommen zu werden. Doch mir blieb keine Wahl. Die Bitte, auch bei meiner guten Wittwe zu übernachten, schien mir zu anmaßend; ich fürchtete damit ihre Gutwilligkeit gegen die arme Julie zu schwächen. Doch mich in dieser Nachtzeit allein auf die Straße zu wagen, schien mir unmöglich, und so bat ich Frau Campell, mich bis zu meiner Wohnung zu begleiten. Sobald Julie meine Absicht fortzugehen wahrnahm, überfiel sie der unbillige Gedanke, daß ich sie möchte verlassen und nicht wiederkehren wollen. Anfangs suchte sie durch die ängstlichsten Bitten, wie ich diesen aber [211] vernünftige Vorstellungen entgegensetzte, durch das ungestümste Flehen mich davon zurückzuhalten. Die Nacht rückte unter diesem Streite fort, ich fürchtete, daß die Heftigkeit der Unglücklichen in meiner Abwesenheit ihre neue Hausfrau ermüden könnte, und erbot mich endlich, den Rest der Nacht an ihrem Bette zu wachen. Unsre gute Wirthin überließ alles meiner Willkür und führte uns sogleich unter den wiederholtesten Entschuldigungen, uns nicht besser bedienen zu können, in das uns bestimmte Zimmer ein. Ach sie wußte nicht, daß es bei weitem das zierlichste war, welches ich mir aus eignen Mitteln zu verschaffen je fähig gewesen! Es war freilich niedrig, mit dunkeln, wollnen Tapeten behangen, aber mit gutem Hausrath und einem Bette versehen, dessen reine Wäsche dem ekelsten Geschmack genügt hätte. Julie ließ mich ohne Widerstand für ihr armes Kind sorgen, das vielleicht seit [212] mehrern Tagen nicht so vollständig, wie heute, gesättigt, reinlich gewaschen, und in einen reinen Bettüberzug, den ich von Frau Campell entlehnt, warm eingewickelt, zu den Füßen seiner Mutter ruhig fortschlief.

Während sich meine arme Gefährtin einem unruhigen, doch dem Anscheine nach tiefen Schlaf ununterbrochen überließ, überdachte ich meine Lage. Sie war durch die Verhältnisse, in welche ich nun mit Julie gerathen war, furchtbar verschlimmert worden; doch die Verbindlichkeit, diese Unglückliche der Verwilderung und dem Elende zu entreißen, war mir so heilig, daß mir kein Gedanke aufstieg, so lange sie so hülflos sey, mich von ihr zu trennen. Ich war gesund, ich hatte Thätigkeit und ein unbeflecktes Gewissen. Mit demuthvoller Dankbarkeit zu Gott erkannte ich diese Vorzüge als Aufforderung und Mittel, für meine hülflose Kranke zu sorgen. Dieser Mittel waren [213] sehr wenig: fürs Erste zeigte sich der Erwerb, über welchen ich mich gestern mit dem Kaufmann verabredet hatte, und diesen wollte ich Julien vorschlagen mit mir zu theilen. Ich erinnerte mich, daß ihre bewegliche Fantasie ehemals eine besondre Leichtigkeit gehabt hatte, zierliche Spielwerke zu erfinden, und hoffte sogar, daß diese Gattung von Arbeit, indem sie ihrem Geschmack angemessen wäre, zu ihrer Ermunterung beitragen sollte. Die Gegenwart des armen Kindes, das sie mir zubrachte, bekümmerte mich nicht sehr; die herzliche Freundlichkeit, mit der Frau Campells Bruderskinder mit ihm gespielt hatten, und die Hoffnung, welche mir sein gesunder Schlaf gab, es bei hinreichender Nahrung und Pflege bald erstarken zu sehen, halfen mir ein ganz leidliches Bild von unserm Leben entwerfen, wenn ich Frau Campell, mich gleichfalls in ihr Zimmer aufzunehmen, bewegen könnte. Eine andre [214] Weise, Julien zu unterstützen, konnte ich nicht ersinnen. Was ich ihr allmälig von meinem Erwerb mittheilen konnte, würde nicht hingereicht haben, sie zu unterhalten, und meinen ernsten Zweck, ihr Kind wohl verpflegt zu sehen, konnte ich damit gar nicht erreichen; denn nach allem, was ich von der Unglücklichen vernahm, ward es mir klar, daß ihre Mutterliebe nicht von der Art war, ihre Thätigkeit, selbst da, wo ihre Kräfte hinreichten, für ihr Kind zu verwenden.

Sobald ich es in der Küche meiner guten Wittwe laut werden hörte, begab ich mich zu ihr und trug ihr mein Anliegen vor. Da sie den lebhaften Wunsch hatte, mich zu verbinden, und ihr Bruder noch geraume Zeit abwesend bleiben sollte, wurden wir sehr bald des Handels einig. Meine nächste Sorge war nun, meine wenigen Habseligkeiten von Frau Millner abzuholen. Julie hatte nichts dagegen, doch entging mir eine [215] gewisse Unruhe nicht, die sie bei meinem Weg gehen befiel, und wie ich schon das Zimmer verlassen hatte, rief sie mich zurück und reichte mir ihr Kind, mit der Bitte, es mitzunehmen, weil sie heute nicht im Stande sey es in die freie Luft zu bringen. Ich durchschaute sie sogleich. Sie wollte mir das arme Geschöpf als ein unvermeidliches Hinderniß, von ihr entfernt zu bleiben, aufdringen. Dieses Mißtrauen nach dem, was ich gestern für sie gethan, in dem Augenblick, wo sie Zeugin meiner Abrede für alles, was zu ihrem Besten gethan werden konnte, gewesen war, erfüllte mich mit Abneigung. Ich war im Begriff, sie lebhaft zurückzuweisen, aber ein Blick auf ihr entstelltes Gesicht, ihre hinfällige Gestalt entwaffnete mich: ich stellte ihr die Unbilligkeit ihres Verdachts vor, suchte sie von dem Bedürfniß zu überzeugen, das mich antrieb, Gottes Gebot gemäß gegen sie meine Pflichten zu erfüllen, [216] und eilte meinem Geschäfte nach. Sobald ich mein kleines Gepäck von Frau Millner fortgeschafft hatte, kaufte ich von dem wenigen mir übrigen Gelde zuerst die unentbehrlichen Bedürfnisse für den gegenwärtigen Tag und dann Stoffe zur Verfertigung der Kästchen, Beutelchen und Nadelkistchen, die ich bei dem Kaufmann anzubringen hoffte. Sobald mein kleiner Haushalt besorgt war, machte ich mich an die Arbeit. Ach es ist unendlich peinlich, mit recht schwerem Herzen eine Beschäftigung zu treiben, die uns wohl einstens zum Spiel der Fantasie, zur Ausfüllung müßiger Augenblicke gedient hat! Indem ich die bunten Fleckchen zusammensetzte, die fantastischen Figürchen malte, beneidete ich manchmal Frau Campells kleine Marthe, die an ein paar groben Soldaten-Socken strickte, und noch mehr den Kohlenträger, der, seines täglichen Gewinnes sicher, unter seiner Last schweigen, oder ein lustiges [217] Stückchen pfeifen konnte, je nachdem es ihm gefiel. Allein die Noth mußte hier der begeisternde Genius seyn, und das fromme Bewußtseyn, unter Gottes Segen zu arbeiten, machte es mir alle Tage leichter. Juliens Hülfe war sehr nichtsbedeutend bei meinem Geschäft. Das Unglück hatte in ihr keine Kräfte entwickelt, und körperliche Schwäche würde ihr jetzt die Ausführung mit festem Willen sehr erschwert haben. Sie fing manche Arbeit an, unterbrach sie hundertmal und warf sie endlich mit Ekel bei Seite. Ich mußte froh seyn, wenn ich Mittel fand, eine und die andre Unternehmung zu beenden; oft sah ich mit Bekümmerniß die eingekauften Stoffe vergeudet, ohne irgend einen Vortheil daraus ziehen zu können. Da ich vor meinem Gewissen die Pflicht übernommen hatte, für diese Unglückliche zu sorgen, erlaubte ich mir nicht die kleinste Ermahnung, ihre üblen Gewohnheiten zu überwinden; [218] allein die Unzufriedenheit, welche Müßiggang und Beschränkung nach sich ziehen, blieb bei ihr nicht aus und ward durch die ihrer Krankheit eigenthümliche böse Laune vermehrt. Gegen mich ließ sie dieselbe nicht aus, aber das war ein bittrer Zwang, den sie sich auflegte; denn so zart ich sie behandelte, hielt sie sich doch oft für verletzt und konnte sich der Ueberzeugung dann nie erwehren, daß ich sie für ihr früheres Verfahren gegen mich büßen lassen wolle. Bald gesellte sich zu dieser übeln Laune eine traurige Unzufriedenheit mit der einfachen Kost, welche mein geringer Verdienst anzuschaffen hinreichte. Ihre kranke Eßlust sehnte sich täglich nach einer andern Nahrung, von der sie jedes Mal Erleichterung, wenn nicht gar Heilung hoffte. Ich entzog mir das Nothwendige, um ihr das Mögliche von diesen erträumten Leckerbissen zu verschaffen, allein ihr bloßer Anblick flößte ihr meistens schon wieder Ekel ein.

[219] Ich hatte sie oft an die Nothwendigkeit erinnert, die Rechte ihres kleinen Knabens durch eine gesetzliche Aussage vor einem Advocaten zu sichern. Da sie dieser Schritt an die Feierlichkeit eines Testaments erinnerte, weigerte sie sich beständig ihn zu thun, versichernd, daß es, sobald sie ganz hergestellt wäre, ihr erstes Geschäft seyn sollte. Nun war sie schon seit einer geraumen Zeit nicht mehr fähig, das Zimmer zu verlassen. Ich nahm wohl wahr, daß sie sehr gern einen Miethwagen zu einer Spazierfahrt hätte haben mögen, allein meine Mittel litten das nicht; und so weh es mir that, beharrte ich ihre Winke nicht zu verstehen. List und Langeweile gaben ihr endlich ein, die Schritte, die sie zum Besten ihres Kindes thun sollte, zur Befriedigung ihrer Sehnsucht nach einer Spazierfahrt zu benutzen. Sie kündigte mir an, daß sie einen Wagen haben müsse, um endlich ihre Geschäfte bei einem Advocaten zu besorgen. [220] Es war ein naßkühler Tag nach einem heftigen Gewitter; ich stellte ihr die übeln Folgen vor, die es für ihre Gesundheit haben könnte, wenn sie, die der Luft jetzt entwöhnt sey, grade heute sich ihr aussetzte. Ihre Antwort legte mir durch die dienstbare Demuth, mit der sie oft, um meinen Widerspruch zu entkräften, »meiner Wohlthaten« erwähnte, Stillschweigen auf; ich wendete also den Erwerb zweier eifrig in Arbeit hingebrachten Abende darauf, ihr einen Miethwagen herbeizuschaffen, und war doch herzlich froh, wie sie mit der schriftlichen Begutachtung des Rechtsgelehrten zurückkam, daß ihre Beweisgründe sie sehr wohl in Stand setzten, eine Klage gegen Lord Glendower zum Besten ihres Sohnes zu führen. Doch diese Ausfahrt zog alle die Uebel nach sich, welche ich für die arme Kranke gefürchtet hatte. Ihr Husten und ihr Fieber nahmen in einem furchtbaren Grade zu, und zugleich ihre fantastisch [221] umherschweifende Eßlust, die bei ihrem zunehmenden Leiden in der Befriedigung eines jeden neuen Einfalls ein Labsal erwartete. Zu allen diesen Bedrängnissen gesellte sich jetzt noch die Erklärung des Kaufmanns, der mir bisher meine Arbeiten bezahlt hatte: daß ich sie wohlfeiler geben müsse, als bisher, weil sich zu wenige Käufer dafür fänden. – Wohlfeiler, wie bisher, wo ihr Lohn kaum meine dringendsten Bedürfnisse gedeckt hatte! – Das war, ohne zum Hungerleiden gebracht zu werden, nicht möglich. Wie unmöglich es sey, einen andern Erwerb zu finden, hatte ich aus eigner Erfahrung gelernt; wenn dieser mir gebrach, war ich dem Verderben dahingegeben. Bei den Obliegenheiten, die ich gegen Julie übernommen, war es mir sogar unmöglich geworden, einen Dienst als Stubenmagd zu suchen; denn wer sollte sie pflegen? wer ihren armen Knaben, an den das innigste Wohlwollen mich band? [222] Unentschlossen und trostlos wandelte ich nach Hause. Der Abend brach ein, ich fand Julie eingeschlafen und blieb, ihren kleinen Sohn durch leisen Gesang still erhaltend, an dem Fenster sitzen. Der Mond spiegelte sich mit mattem Strahl in den großen blauen Augen des blassen, sanften Kindes, es sah so vertrauend und doch so wehmüthig zu diesem Nachtgestirn auf, das so oft meine Thränen beleuchtet hatte. Auch jetzt flossen sie langsam und einzeln über meine angstglühenden Wangen. Ach in solchen Stunden »gehen die Geister unsrer Sünden vor uns vorüber!« Ich hatte nun zu viel gelernt, um mich gegen meinen himmlischen Vater zu empören, und die Erinnerung meiner frühern Thorheiten verwies mich auf das dringende Bedürfniß der strengen Schicksalsschule, in der ich mich befunden. Das war ein trauriger, muthloser Abend! Doch er ging vorüber und die Stunde kam, wo es dem mit Gott befreundeten [223] Gemüth täglich durch den Gang der Natur, so nahe, so überzeugend nahe gelegt wird, daß sein Schicksal in einer höhern Hand ruht. Sollten wir ohne diesen Gedanken uns je der süßen Hülflosigkeit des Schlafes hingeben dürfen? Erneut er uns nicht jeden Abend den Beweis, daß wir durch die Natur unsers Daseyns genöthigt sind, einen so großen Theil unsers Daseyns hindurch ihm widerstandslos zu vertrauen, und sollte nicht jeden Morgen mit unserm Bewußtseyn der Gedanke erwachen, daß eine höhere Hand uns geschützt hat? – Hülflos und rathlos warf ich mich diesen Abend mit unbedingter Zuversicht an Gottes Vaterherz und erwachte am Morgen mit gestärktem Muth und dem heiligen Vorsatz, heute jeden, auch den bittersten Schritt zu thun, um mich aus meiner Noth zu erheben.

Das einzige Mittel, das ich zum vortheilhaftern Verkauf meiner Arbeiten und vielleicht [224] zu sicheren Bestellungen hatte ersinnen können, war, die Gefälligkeit unsrer Hausfrau anzusprechen, daß sie solche in den Häusern, wo sie ihr Beruf hinführte, anbieten möchte. Dieser Entschluß kostete mir unaussprechlich viel. Frau Campell war bisher keineswegs von meiner Lage unterrichtet; nicht daß ich mich schämte, arm zu seyn, oder um des Unterhalts willen zu arbeiten – ich hätte mich für glücklich gehalten, hätte ich, so wie diese wackre Frau, auf Wochen hinaus gewußt, wer mir meine redliche Anstrengung bezahlen wollte; aber dieses Anbieten bunten Spielwerks, das der vernünftige Tagelöhner ohnehin mit Geringschätzung als ein Bedürfniß des müßigen Reichen ansehen muß, schien mir dem Betteln so ähnlich zu seyn, daß ich fürchtete, Frau Campells Meinung von mir würde dadurch leiden. Schwer ließ sich mein widerspenstiges Herz beschwichtigen, und mit einem Herzklopfen, das [225] mir den Athem benahm, bat ich meine gütige Wittwe, den Auftrag zu übernehmen. Sie war herzlich geneigt dazu, that mir eine Menge Fragen über den Gebrauch, den Preis der Waare, die mehr ihren guten Willen, als ihre Fassungskraft bewiesen und mich an Cecile Graham erinnerten, deren natürlicher Scharfsinn mir gewiß diese peinlichen Einzelnheiten erspart hätte. Schließlich band ich ihr aufs dringendste ein, in ihrem Ausbieten der Waaren nicht zudringlich zu seyn und meinen Namen streng zu verschweigen.

Den ersten Tag brachte sie meine armen Künsteleien, ohne ein Stück verkauft zu haben, zurück, und ich mußte sie, um für den heutigen Tag leben zu können, um einen sehr herabgesetzten Preis meinem ehemaligen Kaufmann überlassen. Den zweiten Tag glückte es besser: sie verkaufte ein kleines gemaltes Körbchen theurer, als ich es angeschlagen hatte, ja sie [226] überbrachte mir zugleich von Seiten der Käuferin die Bestellung, ein ganzes Dutzend Caminfächer zu verfertigen. Man wünschte sie so niedlich wie möglich, ohne mir einen Preis vorzuschreiben; die Dame machte mir nur die einzige Bedingung, daß ich selbst zu ihr kommen möchte, um die Arbeit mit ihr zu verabreden. Diese war mir sehr peinlich; in der Lage, wo ich mich befand, konnte ich sie aber nicht abschlagen. Die arme Julie war über unser gutes Glück kindisch entzückt. »O nun bekomme ich das Glas Burgunder, um das ich Sie schon zwei Tage lang vergeblich gebeten!« – Seit zwei Tagen weigerte sie sich hartnäckig, unsre einfache, doch leichte Nahrung zu genießen, und klagte Tag und Nacht, daß sie vergeblich nach dem einzigen Labsal lechze, welches ihrem kranken Körper Kräfte zu geben vermöchte. Bei dem Fieber, das sie verzehrte, bei dem Husten, der ihr ganzes Wesen erschütterte, [227] konnte Burgunder kein angemeßner Genuß für sie seyn; mein weniges Geld reichte auch nicht hin, ihn zu kaufen, und wenn ich diese Ausgabe erzwungen hätte, war ich gewohnt, daß kranker Ekel ihr jede noch so ersehnte Befriedigung, sobald sie ihr gewährt wurde, widrig machte. Nothgedrungen und aus Ueberlegung hatte ich ihrem Verlangen nach diesem Glas Burgunder widerstanden und sagte auch jetzt: »Liebe Julie, wir müssen auf etwas Anderes zu Ihrer Labung denken. Alles Geld, das wir besitzen, reicht, wenn wir die morgen an Frau Campell zu bezahlende Miethe abziehen, nicht hin, Burgunder zu kaufen.« – »Frau Campell kann warten; die braucht das Geld nicht so dringend.« – »Liebe Freundin, wenn man jeden Tag nur für den Tag erwirbt, kann man nicht Schulden machen; man hat kein Recht dazu, weil der Tag, wo man bezahlen könnte, vielleicht nie herbeikommt.« – »O so eine kleine [228] Schuld! aber ich weiß wohl, ich habe nicht das Recht, solche Opfer von Ihnen zu verlangen. Ich habe es nicht um Sie verdient; aber um meines armen Kindes willen, das ohnehin bald eine Waise werden muß ...« Hier unterbrach sie sich selbst und weinte fort. Mir zersprang fast das Herz vor Wehmuth und Unwillen. Der letzte, weil ich aus hundertfacher Beobachtung wußte, daß sie nie an den Tod dachte, und der traurige Schluß ihrer Rede nur mich erweichen sollte. Fest entschlossen, auf meiner wohlbegründeten Weigerung zu bestehen, begab ich mich, ohne ihr zu antworten, hinweg. Nachdem ich ein paar Stunden, an Frau Campells Küchenfenster sitzend, gearbeitet hatte, kehrte ich in mein Zimmer zurück, wo ich zu meinem Befremden Julie an der Thür begegnete, die mir entgegen rief: »Ach, ich dachte, Sie kämen nie wieder! Wo ist der Wein?« – »Liebe Julie«, antwortete [229] ich, untröstlich über ihre Beharrlichkeit, »ich kann Ihrer Forderung nicht genügen.«

Sie hatte sich eingebildet, mich überredet zu haben; die Fehlschlagung brachte sie jetzt dergestalt auf, daß sie durch das Weinen in einen Anfall von Husten gerieth, der endlich einen Brustkrampf erregte, wodurch ihr Leben augenscheinlich zu erlöschen bedroht war. Frau Campell, die glücklicher Weise zu Hause war, holte einen Apothekergesellen herbei, dem es gelang, durch einige Opiate den Krampf zu stillen; eine tödtliche Schwäche folgte ihm, die nach kurzer Zeit jedoch in einen ruhigen Schlaf überging. Während ich die Nacht an ihrem Bette verwachte, dachte ich mit Schauder an die Vorwürfe, die ich mir würde gemacht haben, wenn Julie in diesem durch meine Schuld veranlaßten Anfall den Tod gefunden hätte. Mein Verfahren konnte ich nicht tadeln, es war die Frucht eines schweren Siegs [230] der Vernunft über meine Weichheit; allein die schnelle Hülfe, welche »des Doctors«, wie ihn meine Wittwe nannte, einfache Arznei gewährt hatte, machte mir die Nothwendigkeit einleuchtend, ärztliche Hülfe für die arme Kranke zu suchen. Bisher hatte ich geglaubt, meine geringe Einsicht in ihr Uebel könne mich hinlänglich bei dessen Behandlung leiten; allein jetzt war mir die Möglichkeit ihres Todes, bevor sie ihre Gefahr eingestehe, bevor sie ihre Gedanken zu der großen Verwandlung gesammelt, nahe getreten, und ich dankte Gott für die Aussicht, durch die mir aufgetragne Arbeit einen hinlänglichen Erwerb hoffen zu dürfen, um sogleich einen Arzt für Julie zu bestellen. Diese Betrachtungen hatten meine Abneigung gegen den mir bevorstehenden Besuch gänzlich vertilgt, so daß ich mich, zwar sehr schüchtern, aber freudiges Muthes auf den Weg gemacht hätte, wäre mir nicht eine neue quälende Nothwendigkeit [231] klar geworden. Die aufgetragne Arbeit sollte mir einen reichern Gewinn geben, allein sie erforderte auch längere Zeit, und mein Bedürfniß verlangte einen täglichen Zuschuß; ich sah mich also nothgedrungen, von meiner neuen Wohlthäterin einen Theil der Bezahlung imvoraus zu erbitten, um so mehr, da ich Stoff zu dieser Arbeit einkaufen mußte – eine unerschwingliche Ausgabe in meinem Verhältniß. Doch da mir meine Vernunft sagte, daß ein großer Theil Arbeiterinnen in diesem Fall seyn dürften, und eine solche Forderung mit Almosenheischen nichts gemein hätte, überwand ich meine Scheu und trat ziemlich gefaßt in das Haus. Man wies mich zu einer ältlichen Frau von sehr angenehmem Aeußern; der angemeßne Ernst in ihrer Kleidung, ihre Haltung forderten die ihrem Alter gebührende Ehrerbietung, wobei doch die Güte und Heiterkeit ihres Wesens die Jugend anziehen mußte. Sie empfing [232] mich mehr wie höflich und begann sogleich ein Gespräch mit mir, dem sie eine so leichte Wendung zu geben wußte, daß ich alle Verlegenheit ablegte. Bald nahm ich wahr, daß der günstige Eindruck gegenseitig sey, was mich nicht weiter wunderte, da die Dame mir einen Wink gab, daß die gute Wittwe Campell ihr in der Dankbarkeit ihres redlichen Herzens von mir erzählt hatte. Erst nach einem langen Gespräch kam sie auf die schonendste Weise auf meine Arbeit zu sprechen, verabredete die Darstellungen, welche ich auf den Fächern anbringen sollte, mit so viel Geist wie Geschmack, und gab mir sehr verbindlich zu verstehen, daß ich den Preis ganz nach meiner Mühe ansetzen sollte. Jetzt war nun der Augenblick gekommen, wo ich mein Gesuch anbringen sollte; aber eben darum, weil mich diese Frau nach so langer, langer Zeit wieder auf den Platz gesetzt hatte, für den meine ehemalige Bildung [233] mich bestimmte, fand ichs um so schwerer, auch sogleich wieder zu der Rolle der Geldbedürftigen herabzusinken. Der Muth verließ mich, ich ward stumm und zerstreut, meine Zunge versagte mir ihren Dienst – aber dann fiel mir Juliens elender Zustand ein, die Nothwendigkeit, mir selbst Mittel zur Arbeit zu verschaffen, und ich stammelte: »ich hätte wohl um eine Gunst zu bitten ...« aber mehr hervorzubringen, war mir unmöglich. Die edle Frau sah mir fragend ins Gesicht, faßte meine Hand und sagte: »Ich wünschte, Sie sähen mich als eine alte Bekannte an; mir ists wirklich zu Sinn, als habe ich Sie schon in der Wiege gekannt.« – Vor so viel Güte schwand meine Widerspenstigkeit; »ja«, rief ich mit hervordringenden Thränen, »Sie sind gütig, ich sehe, Sie sind es; und ich sollte nicht diese Zurückhaltung fühlen ... ich sollte gestehen, daß mich die äußerste Nothwendigkeit [234] antreibt ...« Hier schwieg ich wieder; aber die Dame hatte ihren Geldbeutel schon in der Hand: »Ich sollte Ihnen schmälen«, rief sie freundlich, »denn Sie flößen mir den Verdacht ein, zu denen zu gehören, die Gottes Güte nur dann erkennen wollen, wenn er sie unmittelbar in ihre eignen Hände legt.« – Der Vorwurf that mir weh. Ich fand die Sprache wieder und sagte ihr, worin eigentlich meine Forderung bestanden hätte; aber im Sprechen erkannte ich, daß ihr Vorwurf doch einigen Grund hätte, und setzte hinzu: »Doch schmälen Sie nur, ich habe es einigermaßen verdient, denn mir fehlt immer noch die Demuth, mit der jede Gabe Gottes von einem armen Geschöpf, das sie so oft nicht verdient hat, angenommen werden sollte.« Die Dame schien meine Art und Weise ganz zu verstehen: sie gab mir nun so viel und auf die Bedingungen, wie ich es wollte, ohne mir mehr aufzudringen.[235] Bei meinem Abschied fragte sie nach meinem Namen, den ihr Frau Campell, meinem Verbot zufolge, nicht genannt hatte. Ich erröthete über meine immer wieder auftauchende Eitelkeit und sagte: »Es war wieder eine Schwäche von mir, ihn zu verschweigen. Ich weiß, Ellen Percy ist dadurch nicht beschimpft, daß sie durch ihre Arbeit ihren Unterhalt erwirbt.« – »Percy!« rief die Dame, als wenn sie sich plötzlich an etwas erinnerte. »Aber Frau Campell sagte, Sie hätten in Schottland gar keine Bekanntschaften. – Kaum die allerentfernteste.« – »So können Sie es doch nicht seyn, von der sie sprachen« – sagte sie wie im Selbstgespräch, indem sie sich zu ihrem Schreibtisch wendete, wo offne Briefe lagen, gleichsam als deute sie auf den Inhalt. Gern hätte ich um eine Erklärung gebeten; allein da die Dame nichts hinzusetzte, war ich zu schüchtern und begab mich, sehr neugierig, hinweg. Hätte [236] ich Zeit gehabt, so möchte ich mich wohl mit Errathen und Luftschlössern beschäftigt haben; von diesem Zeitvertreib hatte mich aber die ernste Wirklichkeit ziemlich geheilt, und jetzt forderte mich Juliens Zustand auf, mich mit ganz andern Dingen zu beschäftigen. Da ich einen Arzt für sie zu Rathe zu ziehen gedachte, fiel mir der Mann ein, der in meinem fürchterlichen Verwahrsam sich meiner so thätig angenommen, und, durch sein Betragen gegen mich von seiner Menschlichkeit überzeugt, ließ ich ihn um einen Besuch bitten. Er kam ungesäumt, freute sich ohne viele Worte über meine blühende Gesundheit und ging sogleich auf den Zweck seiner Einladung los. Während er Julie befragte, beobachtete ich ihn wohl und nahm wahr, daß er ihren Zustand für hoffnungslos hielt; indeß sie mit dem traurigsten Selbstbetrug ihm die Beobachtungen, die er selbst machte, abstritt. Er verließ sie, ohne eine [237] Verordnung zu machen. Ich folgte ihm aus der Thür und fragte, ihn aufhaltend: »Haben Sie mir gar keine Anweisung für die Kranke zu geben?« – »Gar keine, als sie treiben zu lassen, was sie noch freut. In weniger wie einer Woche ist es mit ihr vorüber.« – Kaum hatte er diese fürchterlichen Worte ausgesprochen, so hörte ich einen schweren Fall, und wie ich in das Zimmer zurückflog, lag Julie besinnungslos am Boden. Sie hatte aus des Doctors Betragen und meinem Eifer, ihn zu begleiten, Verdacht geschöpft, hatte die Thür leise geöffnet und unser Gespräch leise behorcht. Das über ihr Leben ausgesprochne Urtheil hatte sie der Besinnung beraubt; mühselig brachten wir sie ins Leben zurück. Ach, sie begrüßte es mit dem wehklagenden Geschrei: ich soll sterben, ich soll sterben! und alles Zureden, allen Trost von sich weisend, wiederholte sie, deren armer Kopf nun weiter keinen Gedanken zu fassen fähig war, [238] unaufhörlich diese Worte, bis die erliegende Natur ihr in einem unruhigen Schlummer Stillschweigen gebot.

Auch mir war heute der Schlaf eine willkommene Wohlthat, so daß mein letzter Gedanke, ehe er mich in süße Vergessenheit hüllte, ein herzlicher Dank war, daß der kleine Knabe heute nicht, wie es wohl oft der Fall war, durch sein Weinen meine wenigen Ruhestunden verkürzte. Bei meinem Erwachen fand ich Julie so still, und sie lag so unbeweglich, daß ich mich mit Aengstlichkeit ihrer Athemzüge versicherte. Zu meinem Erstaunen schien sie, ohne mich zu rufen, schon eine Weile gewacht zu haben. Sobald sie mich aber erblickte, fragte sie mit einer Art Gleichgültigkeit: »Hat denn der Doctor *** den Ruf eines geschickten Mannes? Er schien von meiner Krankheit gar nichts wahrzunehmen, als was ich ihm selbst sagte, und das mißverstand er [239] dennoch ganz und gar.« – Die Beharrlichkeit, mit der sie auf ihrer Selbsttäuschung bestand, war mir unendlich schmerzlich; ich wiederholte meine gute Meinung von des Arztes Geschicklichkeit und setzte hinzu, daß sein Urtheil eigentlich aber gar nichts bestimme. Wenn sie das, was ihr vor ihrem Ende zu thun übrig bliebe, gewissenhaft vollbringe, sey es ja ziemlich gleichgültig, ob er dieses fern oder nahe hielt. Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie mit einem tiefen Seufzer: »Sie haben recht. Kommen Sie neben mein Bett, ich will Ihnen einen Brief an meinen Bruder dictiren.« Ich willfahrte ihr, sobald es mein kleiner Haushalt vergönnte, und darauf sagte sie mir einen Brief in die Feder, über dessen Klarheit und Zweckmäßigkeit ich erstaunte. Sie nannte und bezeichnete die Personen, welche in ihrer Sache zu ihren Gunsten Zeugniß geben konnten, und nahm Herrn Arnolds herrschende Leidenschaft [240] höchst geschickt in Anspruch, indem sie ihm begreiflich machte, daß er, sobald die Legitimität von seinem Neffen erwiesen sey, als Oheim und natürlicher Vormund, nach Lord Glendowers Tode mit der Verwaltung des gänzlichen Vermögens von fünfundzwanzig tausend Pfund Einkünften beauftragt werden müsse. Mit unruhigem Rückblick auf mich selbst sah ich hier ein neues Beispiel, wie klar wir Andrer Fehler einsehen, indeß wir über die unsern in steter Täuschung verbleiben. Ich hoffte, daß sie die Kräfte, welche ihr ein erquickender Schlaf schien gegeben zu haben, nun auch zu einem noch viel ernstern Geschäft, als die zeitliche Wohlfahrt ihres Kindes zu begründen, anwenden würde; ich hoffte, sie würde ihrem Bruder über dessen Erziehung etwas sagen, würde einen kräftigern Zuspruch, wie den meinen, über ihre nächste große Zukunft verlangen; – aber die flüchtige Helle ihres Geistes [241] war schon vorüber; ehe der Brief noch geschlossen ward, schweiften ihre Gedanken ab, und ein halb träumender Zustand machte sie zu jedem Nachdenken unfähig.

Meine nächste Beschäftigung war nun, die Zeichnungen zu meiner mir aufgetragnen Arbeit zu entwerfen. Leider war Frau Campells Töchterchen heute durch Hausarbeit verhindert, mit dem kleinen Glendower zu spielen, es blieb mir daher nichts übrig, als ihn mit der einen Hand auf meinen Knien zu halten, ein Körbchen mit den bunten Abschnitzeln meiner Arbeit vor ihm, in welcher er unruhig umherwühlte, indeß ich mit der andern Hand den ersten Entwurf zu meinen Zeichnungen versuchte. In diesem Augenblick öffnete sich leise die Thür, und die Dame, bei der ich mich gestern vorgestellt hatte, trat mit einer jüngern ein, die auf den ersten Anblick meine Aufmerksamkeit fesselte. Sie hatte eine majestätische, [242] im schönsten Ebenmaß gebildete Gestalt; ihre Haut, wenn gleich von der Farbe, die sich zu braunem Haar paart, war durchsichtig, und wenn gleich für die kränkelnde Zartheit einer londner Schönen zu hoch gefärbt, gewann sie durch das Roth der Gesundheit ihrer Wangen. Ihre schwarzen, etwas grade gezeichneten Augenbraunen lagen nahe über so dunkeln, leuchtenden Augen, daß ihre eigentliche Farbe nicht zu unterscheiden war, und für die Weiße ihrer Zähne war das alte poetische Bild orientalischer Perlen zu matt. Die Lieblichkeit ihres Lächelns wäre eben so schwer zu schildern. Wahr ist es, sie konnte neben einer zartgebauten Nymphe etwas zu breitschultrig aussehen, aber ihre Formen waren höchst weiblich, ihre Bewegungen mild und behende. Sobald sie ihre Begleiterin als Charlotte Graham eingeführt hatte, erinnerten mich ihre Züge an meine gute Cecile; sie glichen sich, wie der rohe Entwurf einer Büste [243] zu ihrer ausgeführten Vollendung; auch im Ausdruck fand dieser auffallende Unterschied statt. Cecilens ihrer war ernst, durchdringend und, für eine so junge Frau, fast streng; Miß Grahams Gesicht war heiter, offen, lebendig, beide aber drückten die Art Scharfsinn aus, welche die Worte dessen, der da redet, bis zu ihrer Quelle verfolgt.

Miß Grahams tiefe Trauerkleider und eine trübe Wolke, die zuweilen über ihr fröhliches Gesicht zog, bedeuteten mich, daß irgend ein Todesfall die Familie betroffen haben mußte. Ihr Betragen benahm aber auch den Schüchternsten alle Verlegenheit. Es war gebildet, aber nicht modig; höflich, doch nicht gekünstelt; gütig, ohne den mindesten Anschein von Herablassung; allein in ihrer Haltung, ihren Bewegungen, vor allem in ihrem Gang drückte sich eine Hoheit aus, die es bewieß, daß sie sich nie von der Gegenwart eines Obern gedrückt [244] fühlte und wohl zu gewähren, aber nicht zu bitten gewohnt war. Diese Eindrücke machte mir die erste Viertelstunde von Miß Grahams Bekanntschaft. Was mir Cecile von ihr gesagt hatte, war ganz geeignet gewesen, ihr meine Bewunderung zu erwerben; allein die unaussprechliche Melodie ihrer Stimme erwarb ihr mit den ersten Worten, die sie mit einer etwas fremden, ihr Vaterland höchst angenehm bezeichnenden Aussprache zu mir sagte, mein Herz. »Wenn Sie uns entschuldigen, im Fall wir Ihnen lästig sind«, sprach sie, »so ist mein Gewissen beruhigt; denn ich bin überzeugt, Sie sind es mit der ich mein Geschäft abthun soll; denn zwei Personen können meiner Beschreibung nicht ähnlich sehen.« – »Sie werden sich erinnern«, sagte ihre Begleiterin, indem sie über meine erstaunten, fragenden Blicke lächelte, »daß ich gestern einer Freundin gegen Sie erwähnte, die ein Frauenzimmer Ihres Namens aufgesucht [245] hätte. Wir dürfen nun hoffen, solches in Ihnen gefunden zu haben, und damit muß manche zudringliche Frage entschuldigt werden.« – »Ich bedarf nur eine beantwortet zu erhalten«, sagte Miß Graham. »Sagen Sie mir nur, wer Ihre Eltern waren?« – Dieses sagte ich ohne den geringsten Rückhalt. »Gut«, nahm Miß Graham wieder das Wort, »in diesem Fall habe ich die Freude, Ihnen eine angenehme kleine Nachricht zu bringen. Mein Bruder war so glücklich, eine Ihrem Vater schuldige Summe einzutreiben; der Schuldner zahlte sie nur unter der Bedingung aus, daß die Hälfte davon in Ihre Hände gegeben, und nur die Hälfte der Masse zugewendet werden sollte. Die Sache ist nun gerichtlich abgethan, und Sir William Sorbes wird Ihnen funfzehn hundert Pfund auszahlen.« – Kaum wird man mir glauben, daß diese Nachricht mir anfangs keine große Freude machte. Ach, das kommt [246] nun zu spät! dachte ich, meine Blicke auf die arme Julie heftend, die aus dem Hintergrund des Zimmers diesen Vorgang mit dumpfer Gleichgültigkeit zusah. Doch mein zweiter Gedanke belehrte mich, daß ich undankbar gegen Gott und meine Wohlthäter sey, und ich drückte Miß Graham meine Erkenntlichkeit aus. Sie versicherte mich dagegen auf die liebenswürdigste Weise, daß meine Bekanntschaft sie schon weit über den Werth des kleinen geleisteten Dienstes belohnt habe, und kam meinen weitern Danksagungen durch die Fortsetzung ihres Gesprächs zuvor. »Mein Bruder«, sagte sie, »konnte Ihre Spur nur bis zu Miß Mortimer und von da nach Edinburg verfolgen, hier verlor er sie, und da er zu entfernt war, Nachforschungen anzustellen, trug er sie mir auf, und mir war in meinem Geschäft eine Ihrer und meiner sehr dankbaren Schützlinge, die gute Cecile Graham, behülflich. Sie wies mich an die Boswells; [247] die wollten aber nichts von Ihnen wissen. Mittlerweile kam ich vor wenigen Tagen in die Stadt, ohne zu wissen, welche Wege ich einschlagen sollte, aber fest entschlossen, nicht, ehe ich Sie gefunden, Glen Eredine wiederzusehen« – »Wäre es möglich, daß ich solch eine großmüthige Theilnahme bei Fremden erregt haben sollte?« – »Nennen Sie mich Fremde, wenn Sie wollen, wenn mir der Name nur einen freundlichen Empfang bei Ihnen verschafft. Doch mein Bruder muß Sie persönlich gekannt haben, wenigstens mit Ihrem Vater in sehr genauen Verhältnissen gewesen seyn, denn er beschrieb mir Ihre Person.« – »Ja, ja«, nahm die ältere Dame mit gutmüthigem Scherze das Wort, »die schwarzen Wimpern und das Grübchen in den Wangen.« – – – »Das Lächeln hätte Sie mir doch noch leichter verrathen«, unterbrach sie Miß Graham. – »Wenn ich die Ehre haben sollte, Herrn Kenneth, [248] den ich jedoch nur aus Cecilens Erzählung gekannt zu haben glaube, wiederzusehen, kann er Ihnen selbst sagen, ob ich seinem Gemälde gleiche«, antwortete ich, ebenso verlegen wie geschmeichelt. Miß Grahams Heiterkeit erlosch, und eine Thräne füllte ihr Auge. Ich suchte mir diese sonderbare Erscheinung zu erklären und dachte, daß Herr Kenneth selbst der Schuldner gewesen und seitdem verstorben sey, weshalb meine Hoffnung, ihn wiederzusehen, der liebenden Schwester so weh thue. Diese faßte sich aber bald wieder und fragte: »Sie erinnern sich also nicht, einen Bruder von mir zu Ihres Vaters Lebzeiten gesehen zu haben?« – Ich war beschämt. War Herr Kenneth ein Geschäftsmann gewesen, der meiner Eitelkeit nicht besonders gehuldigt, so konnte er sich sehr wohl unter den vielen Gästen meines Vaters befunden haben, ohne daß ich ihn je bemerkt hatte. »Gut«, rief Miß Graham, da sie meine Verlegenheit [249] bemerkte, »ich will dafür sorgen, daß Sie mich nicht also vergessen«; – und jetzt wendete sie das Gespräch auf Cecile, ihre Landsleute und den Unterschied zwischen den Hochländern und den Einwohnern der Ebene. Wenn gleich ihre Unterhaltung über diesen, wie über jeden andern Gegenstand, keine besondere Geistesbildung bewies, so verrieth sie doch einen natürlichen Scharfsinn, eine so schnelle und scharfe Beobachtungsgabe, wie ich sie sehr selten angetroffen habe. Ihr Besuch nahm ein Ende, ohne daß ich begreifen konnte, wie er zwei Stunden gedauert habe. Die langentbehrte Wohlthat eines freundschaftlichen Austausches von Gedanken und Gefühlen hatte mich so entzückt, daß das unerwartete Glück, welches sie mir verkündet, mich, so lange sie gegenwärtig war, wenig beschäftigte.

Doch die Gelegenheit, es anzuerkennen, stand mir nahe genug. Juliens Zustand war jetzt so [250] hülflos geworden, daß ihre Pflege und die Aufsicht auf ihr armes Kind, obgleich ich nun in. der ältesten Campell eine Art Wärterin für dasselbe bezahlte, mir sehr wenige Zeit zu arbeiten ließ. Die Kranke war so abgemagert, daß Bewegung und Stilleliegen ihr gleich schmerzhaft bedünkten; meine ängstliche Unruhe war das einzige Gefühl, das der Tod noch nicht in ihr vertilgt hatte; so wie ein kindisches Bewußtseyn ihrer Abhängigkeit von mir die letzte ihrer menschlichen Empfindungen zu seyn schien. Die Furcht vor dem Tode war in stumpfer Unterwürfigkeit unter die Nothwendigkeit untergegangen, und so sah ich sie gleich unbedürftig und unfähig, die große Stunde, der sie entgegen ging, würdig zu bestehen, vor meinen Augen verschmachten. Mit tiefer Wehmuth und unaussprechlichem Danke zu Gott saß ich Tage und Nächte an diesem jammervollen Todbette. Ich war mit dieser Sterbenden jung und thöricht [251] gewesen, mich hatte eine Vaterhand aus dem Strom des Verderbens gerettet, auf den Wogen des Unglücks getragen, und ich fühlte tief in meinem Herzen: weinen konnte ich noch viel, fehlen noch oft, aber so sterben, so trost- und hoffnungleer sterben würde ich nie. Dann sann ich nach, was denn mein Verdienst sey, daß ich nicht von jenem Tage an, wo mich meine Verkehrtheit in Lord Friedrichs Hände übergab, gesunken und zu Grunde gegangen sey, wie meine unglückliche Gespielin, und gedachte der Demüthigung, die mich damals traf, und des Jammers, der ihr folgte, mit tiefem, innigem Dank. – Denn wahrscheinlich hatten sie mich gerettet. Diese Tage lehrten mich, welchen Schatz ich an Charlotte Graham gewonnen hatte. Durch mein Schicksal verschüchtert, wehrte ich mich anfangs vor der Anziehungskraft ihres Wesens und sagte mir oft: um eine wahre Freundin zu seyn, bedarf es [252] mehr, wie dieses liebenswürdige Aeußere. Aber nun, da sie täglich Gesellschaften, in denen Beifall und Freude sie erwarteten, hintansetzte, um die Abende in meiner ärmlichen Wohnung die Pflege einer Sterbenden zu theilen, ward mir ihre Milde, ihre Geduld, ihre Frömmigkeit klar, und wir knüpften eine Freundschaft, die gewiß nur der Tod zu scheiden vermag. Sie fühlte viel zu zart, um mich, so lange Julie meiner bedurfte, zu einer Veränderung meiner Lage zu bewegen; allein mein Besuch in Glen Eredine ward als eine so ausgemachte Sache angenommen, daß sie mich schon wie eine Bewohnerin von ihres Vaters Hause ansah. Sie machte die Eintheilung unsrer Zeit für jede Stunde des Tags; unsre wissenschaftlichen Uebungen, unsre Lustwanderungen wurden verabredet; alles, was sie beschäftigte, führte sie auf Glen Eredine zurück; sie beschrieb mir die Naturscenen, die ich zeichnen sollte, den Felsen, [253] wo der Widerhall meiner Harfe sollte antworten; und wenn sie selbst sich auf ihren unabläßlichen Träumereien über ihr Heimathsthal überraschte, rief sie mit einem glänzenden Blick zum Himmel: »ach, es ist ja auch nirgend so schön«! und legte die gefalteten Hände auf die Brust.

Bei diesem nur ihren edeln Landsleuten eigenen Enthusiasmus für ihr Land, bei der innigen Ehrfurcht, mit der Miß Graham von ihrem Vater sprach, der, wie sie gestand, durch ihre Abwesenheit eine peinliche Leere empfände, konnte ich nicht begreifen, was sie in Edinburg festhielt. Geschäfte schienen es nicht zu seyn, denn nie hörte ich solche von ihr erwähnen, und Lustbarkeiten fesselten sie nicht, denn sie brachte ihre meiste Zeit in meiner kummervollen Wohnung zu. Endlich aber war unsre traurige Aufgabe gelöst. Mit kaum merklicher Stufenfolge sank Julie aus einem matten [254] Schlummer in die Arme des Todes. Ich fühlte ihren unterbrochnen Puls, bewachte ihre seltneren Athemzüge; allein ihr Leben schwand so leise, daß mir der Augenblick seiner Flucht nicht bemerklich ward. Ich erfüllte die letzte Pflicht der Freundschaft an ihr, ich bereitete sie mit frommen Händen und mancher Thräne der Wehmuth zu ihrem Uebergang ins Grab, ins unbeweinte Grab – denn meine Thränen galten ihrem Leben, nicht ihrem Tode – und ihr armer Knabe sah neugierig zu, wie die Männer den ungeschmückten Sarg aus dem Zimmer entfernten.

Zwei Tage nach ihrem Tode empfing ich von ihrem Bruder die Versicherung, die Rechte von Lord Glendowers Erben vertheidigen zu wollen, zugleich auch die Anweisung, das Kind nach dem Tode seiner Mutter zu ihm nach London zu senden. Die Trennung von ihm ward mir unendlich schwer, ja ohne Miß [255] Grahams klare Ansicht der Dinge, hätte ich mich vielleicht von meinem weichen Herzen bewegen lassen, ihn seinem natürlichen Beschützer zu entziehen. Sie bewies mir aber, daß des Knaben Wohl und meine weibliche Würde mir nicht erlaube, ihn in meinen Händen zu behalten, daß sein Oheim eben das für ihn thun würde, was mir zu thun möglich sey: er würde ihn in eine gute Pension thun. Sie hatte recht, aber mir schien meine Liebe ein Gewicht, das kein Vernunftgrund aufwiegen könnte. Dennoch erkannte ich die ihrigen an, ich beredete meine gute Frau Campell, gegen eine angemessene Belohnung meinen armen kleinen Liebling selbst nach London zu bringen. Seine Rechte wurden anerkannt; und da Lord Glendower von Lady Maria nie Kinder erhielt, wurden Juliens Sohn alle die Vortheile des Glücks eingeräumt, die seine arme Mutter vergeblich um den Preis ihres Lebens hatte zu erlangen gestrebt.

[256] Nun mich keine unerläßliche Obliegenheit mehr fesselte, gab ich Miß Grahams Bitten nach und ward ihre tägliche Gefährtin. Edinburg mit seinen historischen Merkwürdigkeiten und seinen Umgebungen, voll der erhabensten Schönheiten der Natur, beschäftigte mich nun auf die anziehendste Weise, unsre Morgen waren den mannichfaltigsten Wanderungen geweiht, und die Abende in Gesellschaften zugebracht, in denen ich, ohne außerordentliche Vorzüge, alle Annehmlichkeiten vereint fand. Viel feine Sitten, also keine Sonderbarkeiten; allgemeine Bildung, also keine Pedanterei; viel guten Geschmack, also keine auffallenden Einzelnheiten. Von Miß Graham eingeführt, fand ich überall den schmeichelhaftesten Empfang, und die arme Fremde, der es nicht gelingen wollte, Arbeit zu ihrem täglichen Unterhalt zu finden, ward nun, da sie ihren Beitrag zur Kurzweil müßiger Stunden gab, von allen Seiten aufgesucht und [257] bewundert. Nun sah ich mich wieder in der Lage, meinen alten Fehlern Raum zu vergönnen. Wohl nirgends hat weibliche Schönheit so große Geltung wie in der Hauptstadt von Schottland. Miß Grahams hohe Gestalt und meine Schlankheit, traten als neue Erscheinungen auf und fanden warme Bewunderer, doch mein Geschmack an diesen Huldigungen war vorüber; mir war bei dieser meiner Rückkehr in die Gesellschaft eine Schüchternheit vor meiner eignen Schwäche geblieben, die mir Wachsamkeit gegen mich selbst gebot. Ein genugthuenderes Vergnügen, wie der Beifall der Männer, gab mir Charlottens edle Uneigennützigkeit in der getheilten Bewunderung der Menge; sie erfreute sich des kleinen Gewichtes, das meine Waagschaale niederdrückte – es entstand aus den sieben Jahren frischerer Jugend, die ich vor ihr voraus hatte. – Es gingen andre sieben Jahre vorüber, und dann gebührte ihr der [258] Kranz der Schönheit, denn ihre Züge, von dem Zauber nie alternden Geistes beseelt, trotzten dem Einfluß der Zeit.

Seit Juliens Tod war es zwischen uns ausgemacht worden, daß ich Miß Charlotte nach Glen Eredine begleiten würde; mein Aufenthalt in Edinburg gefiel mir aber so wohl, daß ich nicht sehr ungeduldig auf unsere Abreise drang, um so weniger, da meine Freundin, so sehnsuchtsvoll ihre Blicke nach ihren Bergen gerichtet waren, sie doch täglich verschob. Eines Abends, wie wir die Sonne von einer der romantischen Felshöhen um Edinburg untergehen sahen, blickte sie begeistert nach Westen und rief: »Ach, sie sinkt hinter Benarde hinab!« – »Man sollte glauben, Charlotte«, sagte ich lächelnd, »Sie hätten nicht weit von Benarde Jemand bestellt, der mit Ihnen diese letzten Strahlen zugleich begrüßen sollte.« – »Das ist ein empfindsamer Einfall«, rief sie [259] lachend, »den könnten Sie gar nicht haben, hätten Sie nicht selbst schon solche fantastische Rendezvous gehabt. Gestehen Sie, Ellen, Sie haben geliebt!« – »Ich? nein, ich habe nicht.« – »Kind, sehen Sie nicht so unschuldig aus! Warten Sie nur, bis Sie Bruder Heinrich kennen lernen! Dann wollen wir sehen, wie es um die Unverletzbarkeit Ihres Herzens aussehen wird.« – »Grade wie jetzt. Hätte die gefährdet werden können, so wäre es schon vorlängst geschehen.« – »Das wäre? Was, liebe Ellen, hat Sie denn so unverletzbar gemacht?« – »Die Neigung eines der edelsten und weisesten der Menschen, meine Freundin. Ich hatte einst das Schicksal, die Aufmerksamkeit Ihres Landsmanns, des großmüthigen, beredten Maitland auf mich zu ziehen.« – Miß Graham schreckte auf, antwortete aber nicht. »Kannten Sie ihn?« fragte ich, sie ansehend. – Hohe Röthe deckte ihr Gesicht; »ja, ja, ich [260] kannte ihn«, sagte sie zögernd und schien in tiefe Gedanken zu sinken. Wir schwiegen eine Weile. Charlottens Fassung schien mir ein Geheimniß zu verrathen, in das mein Schicksal verflochten war. Es konnte mich nicht befremden, daß Maitland mit Miß Graham zusammengetroffen, und daß er in ihr alle die Vorzüge gefunden, die sein männlicher Geist suchte und einst gütevoll sich bemühen wollte, in mir zu entwickeln. Es kostete mir einen schweren, aber nur kurzen Kampf, meinen unausgebildeten, aber im lebendigen Keim stets noch in meinem Busen schlummernden Hoffnungen zu entsagen. Aber die Vernunft gebot es; die Entsagung gelang, doch dem Schmerz um sie gebot ich nur augenblickliches Schweigen; er sollte mir jetzt die Selbstherrschaft nicht rauben. Jetzt bedurfte ich es, den freimüthigen Verkehr zwischen mir und Charlotten wiederherzustellen; es war mir unleidlich peinigend, neben der [261] Freundin, die mich mit beispielloser Großmuth behandelt hatte, in diesem Augenblick so abgeschieden zu stehen. Den Uebergang zu finden, ward mir schwer, denn trotz der Freimüthigkeit in Charlottens Betragen, hatte meine Vertraulichkeit mit ihr Grenzen; wenn sie einmal einen Punct angedeutet hatte, den sie nicht berührt haben wollte, so getraute ich mich nie mehr ihm zu nahen. Wir wanderten noch stumm neben einander, als sie sagte: »Ellen, Sie sind beleidigt, denn ich that Ihnen eine Frage, die sich selbst die vertrauteste Freundin versagen soll.« – »Nicht doch, liebste Charlotte, Sie dürfen alles fragen; ich will Ihnen gern ...« – »Nein, nein! solche Fragen sollen nicht gethan und nicht beantwortet werden. Ist eine Liebe glücklich, so gesteht sie der Liebende gern; ist sie unglücklich, so ist ihr Geständniß eine Herabwürdigung, die kein Mensch von dem andern fordern darf.« – Gott! sollte das dein Loos [262] seyn, dachte ich, so soll dein edles Herz wenigstens durch mich nicht leiden, du sollst wissen, daß ich dir nicht im Wege bin. Mit glühenden Wangen und klopfendem Herzen nahm ich wieder das Wort: »Charlotte«, sagte ich, »Sie müssen meine Beichte anhören, sie ist sehr demüthigend, wenn gleich nicht in der Art, die Sie bezeichnen. Ich muß Herrn Maitland die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er mich nie in den Fall setzte, ihn ausschlagen zu können. Er sah ein, daß ich zu seiner Gattin nicht geschickt war, und in demselben Augenblick, wo er seine Schwachheit eingestand, entsagte er ihr auf immer. Sehen Sie nicht ungläubig aus, Charlotte! Weder ein hübsches Gesicht, noch ein großes Vermögen, wie ich damals besaß, konnten Herrn Maitland verleiten, seine Hand einem herz- und gedankenlosen ... Doch seitdem habe ich mich verändert, sehr verändert. Aber wahrlich, Charlotte, [263] ich stehe Niemandem im Wege, der Maitland so glücklich machen möge, wie ich ....« – Ich mußte innehalten, und Miß Graham ersparte mir das Ende meiner Rede, indem sie meine Hand liebevoll drückte und sich dann mit einem eben vorbeigehenden Bekannten unterhielt.

Von dieser Zeit an sprach sie, so offen sie sich über alle Gegenstände ausließ, nie mehr von Maitland, und sie gewann dadurch an Achtung bei mir; denn sie bewies damit, nach meiner Ansicht, sowohl ihre Herrschaft über ihre eigne Empfindung, als ihre Schonung für Andere. Jedesmal, wenn ich Charlotte beobachtete, ward es mir räthselhafter, wie Maitland nicht mit ihr sympathetisch empfinden mußte. Alle Anlagen, die sich in ihm zu dem Mann ausgebildet hatten, den sein Vaterland ehrte, der seine Freunde beglückte, hatten sich in Charlotten als weibliche Tugenden entwickelt, die sie zur Führung des Hauswesens, zum erfreuenden [264] Mittelpunct des gesellschaftlichen Kreises geschickt machten. Ein Gegenstand, der ihr Gespräch um so häufiger betraf, war ihr Bruder Heinrich, der mit ihr in dem innigsten Verhältniß zu stehen schien. Da mir aus Cecilens abenteuerlicher Erzählung ein Zweifel aufgestiegen war, ob die Veranlassung seiner frühern Auswanderung nicht nachtheiliger für ihn und seine Angehörigen gewesen seyn möchte, wie der Familienstolz der Hochländerin eingestehen konnte, war ich zu schüchtern, über seinen Aufenthalt im Auslande, seine Schicksale, nachzufragen; da ich in Glen Eredine alle diese Umstände zu erfahren hoffte, begnügte ich mich auch immer mit dem, was mir Charlotte zu sagen für gut fand; und wenn ich Herrn Heinrich hätte schildern sollen, so wäre er als funfzehnjähriger Knabe dagestanden, wie er in Plaid gewickelt und den Knotenstock in der Hand, von Bouoghrin herabsteigend, die Kühe [265] von Glen Eredine wiedergewann. Daß dieses Bild nicht mehr zu dem Heinrich, aus dessen Briefen mir Charlotte oft vorlas, paßte, bekümmerte mich wenig. Er schrieb ihr wie ein Freund dem Freunde, und doch mit der Zartheit, welche die Verschiedenheit des Geschlechts dem Mann von Gefühl zur Pflicht macht. Sie war seine Almosenpflegerin, und so wenig er seit langen Jahren in seinem Thale gelebt hatte, kannte er jeden Clansmann und bestimmte ihm die Gabe, die ihm nützen konnte. Das Ansehen, der Ton, in dem er sie behandelte, hatten etwas Patriarchalisches, und oft, das gestehe ich, konnte ich seine Befehle nicht mit den englischen Begriffen von persönlicher Unabhängigkeit vereinigen. Was er gebot, athmete Uneigennützigkeit und gerechtes Urtheil, er sprach, wie ein unumschränkter Fürst, und handelte, wie ein gütiger Vater. Da Charlotte durch seine Aufträge in den Angelegenheiten des[266] Clans in die verschiedensten Verhältnisse verwickelt ward, und dabei das Schloß ihres Vaters durch die herzlichste Gastfreundlichkeit einer Menge Besucher stets offen stand, schien mir der Aufenthalt daselbst die entgegengesetztesten Beschäftigungen zu vereinigen, und sehr begierig, dieses alles mit eignen Augen zu sehen, hörte ich es sehr gern, wie mir Charlotte endlich den Tag unserer Abreise verkündete.

An einem schönen Septembermorgen machten wir uns auf den Weg. Obgleich ich mich an der Seite des Wesens befand, das mir auf Erden das geliebteste war, konnte ich Edinburg doch nicht ohne eine dankbare Thräne verlassen. Ich hatte dort die furchtbarsten Bedrängnisse erlebt, mein Geist war dort gereift, mein Herz gereinigt, und in der letzten Zeit hatte ich dort zum ersten Mal die Freuden der guten Gesellschaft, ohne den thörichten Flitter der großen Welt, genossen.

[267] Während dem ersten Tag unsrer Reise kamen wir durch ein so reiches, ebnes Land, daß ich, hätte nicht ein dunkel gefärbter Streif den westlichen Horizont bezeichnet, würde geglaubt haben, in England zu seyn. Ich bewunderte diese Gegend nach meinem englischen Maßstab von einem schönen Lande. »O wenn Sie erst mein Thal werden sehen und meine felsigen Hügel!« rief Charlotte und sah auf den dunkelnden Wolkenstreif hin, der alle die Herrlichkeit deckte. Gegen den Abend fing sich dieser Streif an in Hügelformen zu vertheilen, wo graue Felsen die Höhen, und tiefe Schatten die Thäler ahnen ließen. Am folgenden Morgen waren alle Umgebungen verändert; Kornfelder und Laubbäume hatten einförmigen Haiden Platz gemacht, hier und da von Schaaftriften unterbrochen, oder da, wo ein Bach durch sie hinfloß, durch das Grün, welches an seinen Ufern entsproß. Nur selten erblickte [268] man kleine Birkenhäufchen, gewöhnlich drei und drei, deren bebendes Laub in der stillen Oede flüsterte. Wenn wir langsam die steilen Höhen hinangefahren waren, bot uns die Aussicht eben so eine Haide, wie wir sie unten verlassen hatten, und stiegen wir in eine kleine Senkung hinab, so war es, um sogleich noch viel höher zu klimmen. Endlich in einem engen Thal, das uns reich und einladend empfing, zeigten sich menschliche Wohnungen; die Kleidung der Einwohner bedeutete uns, daß wir die Hochlande erreicht hatten. »Mein nie erobertes Land«! nannte es Charlotte. »Wie der Römer die kleinen Menschen in Staub getreten hatte, trieb ihn die Tapferkeit unsrer Väter hinter seine Mauern zurück. Willkommen, meine Ellen, in dem Hochland, wo nie ein Freund einen Verräther, und nie ein Feind einen Feigling fand!« – setzte sie, meine Hand schüttelnd, hinzu, indeß ich, noch ungewöhnt an [269] diese rauhe Natur, etwas verwundert ihr hochherziges Entzücken mit den uns umgebenden Naturschönheiten zusammenstellte.

Allein noch waren wir fast eine Tagereise von Charlottens Heimathsthal entfernt. Die Berge wurden steiler, die Thäler bekleideten sich mit reicherem Grün, als Charlotte auf einige Gebäude zeigte, den Ort, wo wir sollten zu Mittag speisen und unsern Reisewagen mit einem andern Fuhrwerk vertauschen, weil jener auf den uns nun bevorstehenden Wegen nicht weiter fortzukommen vermochte. Dieser Gasthof war noch einer der besten; die aus Steinen und Rasen zusammengefügten Mauern waren so niedrig, daß ich von dem auf ihnen ruhenden Dach ohne Mühe die schönsten Glockenblumen pflückte; überhaupt bot dieses, mit Moos und Schlingpflanzen bedeckt, von Herbstblumen einzeln durchwebt, einen höchst malerischen Anblick dar. Der Schornstein bestand aus einem [270] alten Faß, dessen abgesprungene Reifen mit dicken, aus Haidegras gedrehten Bändern ersetzt waren. Dennoch zeichnete sich dieser Gasthof vor den ihn umgebenden Hütten durch ein Glasfenster an der einen Seite der Thür und ein Schild an der andern aus. Auf diesem war eine Flasche nebst einem Glas gemalt, und mit großen, erst kürzlich erneuten gelben Buchstaben auf schwarzem Grunde, las man:


Jeder Pilger ist willkommen,
Mag er kommen oder gehn.
Will er in dies Wirthshaus gehn,
Wird er freundlich aufgenommen.

Kaum hatten wir die Hausthür erreicht, so fuhr ein solcher Schwarm von Kindern heraus, daß es mir räthselhaft war, wie sie darin hatten herbergen können. Daß sie alle barfuß waren, wunderte mich, da ich von dieser Landessitte schon unterrichtet war, nicht mehr besonders, und ihr übriger Anzug war mehr abgeschmackt, [271] als ärmlich. Selbst der kleinste Knabe trug schon die kriegerische Mütze der Bergschotten, ihr Tartan oder kurzer Rock war an einem scharlachrothen oder blauen Kittel befestigt und auf dem Rücken zugeschnürt, als wollte man diesen Naturkindern die Versuchung ersparen, sich dessen eigenmächtig zu entledigen; den Mädchen zeigte die Sitte in diesem Stück mehr Vertrauen, denn ihr Oberkleid, das in einer weiten Jacke, oder einem Stück farbigen, um die Schulter geworfenen Tuch bestand, war unter dem Kinn, vermittelst einer großen metallnen Nadel oder hölzernem Pflock zugehalten. Dieser abgeschmackte Anblick ward durch den unpassenden Ernst ihres Benehmens noch erhöht. Sie sahen vielmehr ehrbaren alten Familiengemälden, wie lebend jugendlichen Geschöpfen ähnlich. Schweigend und sich neigend sahen uns die Mädchen vorübergehen, und die Knaben, ihre Mütze in der Hand haltend, [272] blickten uns ehrenvest nach. Die Hütte war in zwei Theile geschieden, deren einer, wie ich bald durch den Rauch unterschied, mit Bauern, die um einen Haufen glühender Kohlen, auf dem Fußboden gelagert, angefüllt war; Miß Graham und ich begaben uns in den andern, als Staatszimmer geachteten, Theil. Man mochte, um ihn uns einzuräumen, erst so eben die Gäste herausgeschickt haben, denn auf dem gestampften Lehmboden und auf dem eichnen Tische lagen noch die Käserinden, Gerstenkuchen und angeschnittnen Zwiebeln, um kleine Landseen von Whisky gestreut. Die gute Wirthin hob aber diesen kleinen Uebelstand zu ihrer völligen Beruhigung, indem sie mit dem Zipfel ihrer Schürze über den Tisch hinfuhr und mit sichtbarer Freude wahrnahm, wie sogleich der Haushund und ein paar Hühner den Boden von den nahrhaften Resten säuberten. Während dem begann sie mit Miß Graham [273] ein Gespräch, in welchem sie alle mögliche Fragen anbrachte, nur nicht die, welche ich bei meinem Eintritt in jeden Gasthof von jeher zuerst gehört hatte: was wir zum Mittagsessen verlangten. Allein das wäre auch eine zwecklose Frage gewesen, denn auf unser Nachforschen erfuhren wir, daß alle Möglichkeiten auf eine alte Henne beschränkt waren. Alsobald erschien eine rüstige Bäuerin mit rothen, bis an die Knie nackten Beinen und bloßem Kopf, dessen Haar nur mit einem blauen Zwirnband aufgeknüpft war; sie legte Reisig in den Camin – denn mit diesem war das Gemach versehen – kniete am Boden, faßte ihr kurzes Röckchen mit beiden Händen und fachte aufs geschickteste die Flamme an. Jetzt trat auch unser Wirth in seiner eigenthümlichen Landestracht ein. Zu meinem Erstaunen reichte er Miß Graham seine Hand zum freundschaftlichen Gruß, setzte sich ohne Umstände zwischen uns [274] nieder und begann ein politisches Gespräch Eben so empört über seine Unverschämtheit als über die Höflichkeit, mit welcher Miß Graham sie duldete, suchte ich jener durch meine Bitte um ein Glas Wasser ein Ende zu machen. Ohne sich zu rühren, trug er der Magd mein Verlangen auf und setzte seine Unterredung fort. Sobald ich dazu kommen konnte, warf ich Charlotten ihre nachsichtige Gutmüthigkeit vor; sie sah mich aber verwundert an und sagte: »Nun? was sollte ich denn thun? Es ist ein vernünftiger Mann und ein Gentleman dazu.« – »Gentleman!« rief ich spottend. – »Und warum das nicht? Er ist meines Vaters Vetter im dritten Glied und mit der besten Familie in Perthshire verwandt.« – Es war offenbar, daß Miß Graham und ich mit dem Worte Gentleman einen verschiedenen Sinn verbanden. Vermöge seiner Vorfahren mußte ich aber dennoch diesem Gentleman Platz an unserm [275] Eßtisch gestatten. Unsre unglückliche Henne hatte ein großes Stück frischen Lachs zur Begleitung, von welchem Miß Graham mich bat, um unsrer Wirthin willen zu kosten. Gegen das Ende der Mahlzeit schob die Wirthin eine große hölzerne Bettstatt von der Wand, öffnete einen Mauerschrank und nahm einen großen Käse nebst einem Topf gesalzner Butter heraus, welches beides sie vor uns auf den Tisch stellte; dazu brachte sie uns frische Haferkuchen, die auf der wollnen Decke des besagten Betts zum Abkühlen ausgebreitet gewesen waren. Ich mochte meinen Ekel nicht sorgfältig genug verbergen, denn die junge Bäuerin sagte sogleich: »Es ist einzig, um sie reinlich zu erhalten; denn man ist nirgend sicher, daß nicht Rußtropfen herabfallen, als unter dem Betthimmel – das Bett hatte oben eine Bretterdecke, die vor Alters Betthimmel hieß.

[276] Unerachtet dieser Entschuldigung hatte mich ein solcher Widerwille ergriffen, daß ich sehr froh war, unsre Pferde ankommen zu hören, und mit Verlangen an die Thür lief, um die uns vom Schloß Eredine entgegengeschickte Begleitung zu sehen. Sie bestand in drei kleinen Pferden, zwei für Miß Graham und mich, und das dritte zum Fortbringen unsers Gepäcks. Das letzte war, ungefähr wie ein Zigeuneresel, auf jeder Seite mit einem Korbe versehen, die beide mittels ein paar Stricken über seinen Rücken gehängt waren. Ein Packknecht stopfte Miß Grahams Mantelsack in den einen, und wie er wahrnahm, daß der meine für den gegenüberhängenden zu leicht sey, füllte er den übrigen Raum mit einigen Torfklösen aus, um das Gleichgewicht zu erzwecken. Außer diesem Packknecht waren wir eine jede mit einer Art Laufer versehen, der neben den Pferden herlief und die Obliegenheit hatte, sie bei beschwerlichen [277] Stellen zu führen; endlich erblickte ich noch ein halbes Dutzend derbe Hochländer, die ohne eine andre Verbindlichkeit, als die Liebe zu ihrem Häuptling, diese vierzehn Meilen zu Fuß hergekommen waren, seine Tochter ins Vaterhaus zurück zu geleiten.

Also gerüstet, zogen wir aus. Unsre Begleiter schienen ohne alle Anstrengung Schritt mit den Pferden zu halten, und mit ihnen allen unterhielt sich gelegentlich Miß Graham in ihrer Landessprache, sie antworteten ihr bereitwillig und ohne alle Scheu, doch keiner sprach sie unaufgefordert an, noch willigte je einer von ihnen ein, so lange sie mit ihm sprach, sein Haupt zu bedecken. Heinrichs Name ward so oft in allen diesen Gesprächen genannt, daß ich sehr neugierig wurde, deren Gegenstand zu erfahren. Obschon ich mit Charlottens Hülfe mein Erlernen des Gaelischen fortgesetzt hatte, war es mir doch zu [278] wenig geläufig, um diese Landleute zu verstehen, und Charlotte fing an über meine Fragen um ihren Bruder so listig zu lachen, daß ich sie um einen Aufschluß zu bitten Bedenken trug. Endlich konnte ichs aber doch nicht lassen; ich sah so unbefangen wie möglich aus und fragte: »Charlotte, von was spricht der Knecht mit solchem Eifer?« – »Mein Freund Kenneth«, antwortete sie mit Nachdruck, »erinnert mich daran, wie Heinrich einst seiner Amme Schaafe aus dem Schnee rettete. Fragen Sie ihn selbst, er spricht englisch. Kenneth! die arme Miß Percy kann kein Gaelisch; erzählt ihr die Geschichte auf Englisch! Für euern Freund Heinrich sprecht ihr ja gern ein gutes Wort.« – Der Mann grüßte ehrerbietig, doch ohne den Rücken zu beugen, und sagte: »wenn er hier wäre, bedürfte er keines Andern, um einer jungen Dame ein gut Wort für sich zu sagen.« Darauf erzählte er sehr umständlich, wie Heinrich [279] und er die felsige Seite des Benarde hinangestiegen seyen, um beim tiefsten Schnee von einem Felsen, mitten in einem rundum eingeschloßnen Abgrund, die Schaafe eines Hüttenbewohners nach Hause zu holen. – »Ist euch denn in den Hochlanden das Leben um einige wenige Schaafe feil?« fragte ich. – »Meint Ihr nicht, Lady, daß ich das Recht hatte, für meiner Mutter kleine Heerde das Leben zu wagen? Und das wißt Ihr wohl, daß es mir nicht zukam, dem jungen Herrn es zu verbieten. Sein Leben! Alle Schaafe in Argyll wären nicht kostbar genug, um ein Haar seines Hauptes zu erkaufen. – Darauf wendete er sich zu meinem eigentlichen Begleiter und sagte mit großem Ausdruck eine gaelische Phrase, die ich ihn bat mir zu übersetzen, sie besagte: »Ein Mann kann seinen Freund lieben, aber sein Pflegbruder ist ein Theil seines Herzens.« »Meine Mutter«, nahm Kenneth wieder das [280] Wort, »würde an jenem Tage, hätte Herr Heinrich mich nicht begleitet, das liebste Lamm ihrer Heerde verloren haben. Die Kälte packte mich, ich wollte mit Gewalt einen Augenblick schlummern, das litt er nicht; aber fürder zu gehen, war ich zu betäubt; da zog er mich, er trug, er schleppte mich – ich weiß nicht, wie er mich großen Kerl die Felsen hinan mit sich fortbrachte; wie ich aber meine Augen wieder öffnete, sah ich meine Mutter vor mir, die rief: »»Er hat mir die Stütze meines Alters gerettet.«« – Nun, Gott segne es ihm um ihretwillen! ohne seine Hülfe hätte eine fremde Hand ihr Grab mit Rasen bedeckt.« Kenneth hatte seiner Lady Befehl erfüllt, jetzt zog er sich wieder bescheiden zurück, als gebühre es ihm nicht, die Aufmerksamkeit zu fesseln.

Wahrlich, Charlotte, rief ich bewegt, Sie sind die glücklichste Schwester in der Welt! Wie innig wird dieser Ihr Bruder geliebt! [281] Aber wie glücklich ist auch eine Lebensweise, bei welcher der Mensch noch dem Menschen so nahe steht! So eine treue Anhänglichkeit hatte ich bisher nur in Romanen gekannt.« – Charlotte sah mich mit ausdrucksvollem Erstaunen an; sie mochte eben so wenig mich beschuldigen wollen, daß ich nie verstanden hätte, wahre Anhänglichkeit aufzuspüren, noch meine Landsleute, daß sie nicht fähig seyen, dergleichen für einander zu empfinden. »Wie sollten denn Heinrich und seine Freunde einander vergessen können?« sagte sie nach einer Pause, in der ihr Blick einen nachsinnenden Ausdruck annahm, als suche sie sich meine Unwissenheit in der Sache der bessern Menschheit zu erklären. »Unsre herzliche Lebensweise mag wohl dazu beitragen, diese Gefühle zu erhalten, und in Heinrichs Seele, wo alles Schöne doppelt kräftig ist, glühten sie auch wohl vorzüglich lebendig. Ich erinnre mich unter andern, daß [282] er in einem Zeitpunct seines Lebens, wo Fehlschlagung und Arbeit ihn sehr schwer belasteten, mir auftrug, seiner alten Amme ein neues Bett verfertigen zu lassen. – Er mochte in seinen schlaflosen Nächten sich erinnert haben, daß das Lager der Alten nicht zum beßten seyn möge.« – Das Letzte setzte sie, seine Wohlthätigkeit sich selbst erklärend, lächelnd hinzu. – »Wie konnte aber Ihr Bruder, wie konnten Ihre Eltern zugeben, daß ein bloses Vorurtheil ihn vom Vaterland entfernte? Er konnte doch unmöglich im Ernste sich ein Gewissen daraus machen, gegen einen wirklichen Räuber, einen Taugenichts, der sein Leben sogar angriff, zu zeugen.« – »Doch wohl! Neil Roy war ein Gentleman und in mancher Rücksicht ein wackrer Mann. Außerdem, wenn die Bestrafung mit dem Vergehen in gar keinem Verhältniß steht, ist es widrig, zu ihr beizutragen. Dennoch ist es nicht diese Begebenheit allein, die [283] Heinrich in die Fremde trieb. Cecile hat Sie nicht ganz gut unterrichtet. Sie wissen, meine Mutter war eine Fremde, und obschon eine der allerwürdigsten Frauen, war es doch natürlich, daß sie ein günstiges Vorurtheil für ihr Vaterland behielt; mein Vater wollte Heinrich eine Pachtung geben. oder ihn zum Geistlichen machen, welches meiner Mutter aber ebenso schrecklich vorkam, als wolle man ihn lebendig begraben. Allein ohne die Geschichte mit Neil Roy würde sie es doch haben über sich ergehen lassen müssen; diese gab ihr aber Mittel, den Vater zu bereden, daß er ihn fortschickte. Heinrich ward demnach ein Friedensopfer für meiner Mutter Verwandten, die seit ihrer Heirath mit einem hochländer Rebellen, wie sie meinen edeln Vater zu nennen beliebten, keinen Verkehr mehr mit ihr hatten gestatten wollen. O Ellen, oft drückt es mir schwer das Herz, daß Heinrich diesen Menschen, die meinen Vater [284] von oben herab anzusehen wagten, die geringste Verbindlichkeit gehabt haben soll! Doch was auch geschehen mag, Heinrich kann nimmer seinen Gehorsam gegen seine Eltern bereuen.«

Miß Graham sprach so unbesorgt, als säßen wir im verschloßnen Zimmer; denn sobald unser Gefolge wahrnahm, daß wir, unsre Pferde nebeneinander haltend, ein Gespräch begonnen hatten, hielt es sich in einer so ehrerbietigen Entfernung, daß keiner uns vernehmen konnte. Jetzt nahten sich aber unsre Stallmeister, faßten unsre Pferde am Zügel, und, indem die andern Männer, vor uns hergehend, die großen Steine aus dem Wege räumten, führten sie uns um den Vorsprung eines sehr steilen Hügels herum. Unwillkürlich hefteten sich meine Augen auf die tiefe Schlucht im Grunde des Thales neben dem Wege. Ich sah, daß ein falscher Schritt meines Pferdes mich einige Hundert Fuß in sie hinabschleudern mußte. [285] Die goldnen Wolken, die im Westen schwammen, erhellten unsern Pfad, die Schlucht aber lag in tiefes Dunkel gehüllt. Die Hochlandswege waren mir noch fremd, und dieser ängstigte mich so sehr, daß ich gegen meinen Führer den Wunsch abzusteigen äußerte. In diesem Augenblick rief Charlotte mit einer Stimme des Entzückens, als habe sie eine längst ersehnte Erscheinung begrüßt: »Benarde!« Ich blickte erschrocken auf und sah zwischen mir und dem glühenden Sonnenuntergang sich ein hohes Felsenhaupt erheben, indeß bläuliche Dünste von seinen Abhängen in das Thal herabflossen.

Jetzt wand sich unser Weg rund um den Berg abwärts. Reich in allen Farben des Herbstes, von dem Abendschimmer gemildert, zeigte sich Glen Eredine unserm Blick. Charlotte sprach kein Wort, wie eine Betende – und sie mochte wohl beten – kreuzte sie ihre Hände über die Brust und blickte begeistert [286] zum Himmel. Ergriffen von dem Schauspiel um mich her, mochte ich nicht diese Stille unterbrechen. Zu unsern Füßen lag ein See, unbeweglich, als hätte nie ein Lüftchen seine Gewässer gekräuselt, alles war still, wie die Erde, bevor Lebendiges sie bewohnte, nur ein großer Adler schwebte majestätisch in gleichem Fluge entlang dem Thal; der Osten war noch immer vom Abendwiederschein erhellt, aber der Benarde zeichnete dunkel seiner Felsen Gipfel auf dem ruhigen See; an dessen einer Seite schimmerten die weißlichen Mauern des alten Castells, und hinter ihnen in einem geschützten Thal schwebte der bläuliche Rauch aus den Hütten des Dorfs, deren bewachsne Dächer in der allgemeinen Schattirung der Landschaft versanken.

Unser Weg ging bergab, und der Wald entzog uns die Aussicht. Anfangs erstanden Birken zwischen den dürren Felsenritzen, dann [287] streckten Krüppeleichen ihre starken Wurzeln aus dem jugendlich grünen Moos, allmälig ließ sich der Ahorn und die Buche erblicken, die, sich endlich in schattige Gänge ordnend, den Weg zum Schloß, aber auch in Nebenalleen zu niederern Wohnungen zeigten. Zu beiden Seiten kamen wir an mehreren derselben vorbei; ihre Bewohner eilten heraus, Charlotten zu bewillkommnen. Kein Geschrei, kein zudringliches Grüßen störte die Stille der Umgebung; selbst die Kinder bückten ihre glühenden Gesichtchen nieder und blickten nur seitwärts, ob ihre Lady sie nicht übersähe. Eine Art natürliche Brücke, eine Landzunge vielmehr, führte endlich zu dem Felsen, auf welchem das Schloß Eredine lag. Ich gestehe, daß Cecilens Erzählungen und das Entzücken, mit dem Charlotte von diesem Sitz ihrer Vorfahren sprach, mir ein andres Bild von diesem Ort hatte auffassen lassen, als ich in der Wirklichkeit fand. [288] Ein viereckiger Thurm mit einem gewölbten Eingang war alles, was von der ehemaligen Veste noch vorhanden war; ihm schlossen sich eine Reihe neuerer Gebäude an mit steilen Dächern und Fenstern, die durch die Beleuchtung im Innern ihre gemeinen Formen sichtbar machten und von der Einrichtung der Wohnung kein günstiges Vorurtheil erweckten. Raum mußte aber darin seyn, denn wie wir anlangten, strömten wenigstens dreißig Menschen, verschiedenen Alters und Geschlechts, uns entgegen. Der ihnen allen voranschritt, hätte meine Aufmerksamkeit erregt, hätte ich ihn auch nicht an Charlottens Freudenruf für ihren Vater erkannt. Das Alter hatte weder auf seinen festen Schritt noch die erhabne Haltung seines kräftigen Körpers gewirkt, sein Auge glänzte noch, seine Wangen glühten von Leben, nur die Silberlocken, welche unter seiner Mütze herabhingen, verriethen, daß er weit über die [289] Jahre der Jugend hinausgerückt sey. Seine Kleidung zeichnete sich nur durch die Länge und Schönheit der Federn seiner Kopfbedeckung aus, übrigens trug er den scharlachrothen und blauen Tartan seines Clans. Er begrüßte mich mit einem Kuß, erst auf die eine, dann auf die andre Wange, zum Willkommen in Eredine, eben so ungezwungen und fast so herzlich, wie er seinen Liebling Charlotte begrüßt hatte; dann gab er einer jeden von uns einen Arm und führte uns in seine Behausung ein. Das Zimmer, wo wir eintraten, war ein großes getäfeltes Gemach, mit tiefen Fensterplätzen und mit Wandschränken versehen; ein Camin, so groß, daß er ein kleines Zimmerchen hätte vorstellen können, verbreitete jedoch durch sein flammendes Holzfeuer in diesen dunkeln Wänden eine fröhliche Helle; noch mehr aber, wie dieses, luden die heitern, wohlwollenden Gesichter aller seiner Bewohner zu dem vertraulichsten[290] Wohlbehagen ein. Meine Gegenwart legte so wenigen Zwang auf, ich war in Eredine so willkommen, Charlotte und alle Hausgenossen weihten mich so schnell in die freundlichen Sitten dieses Hauses ein, daß ich, bevor acht Tage vergingen, so heimisch daselbst war, als wäre ich von Kindheit an gar nichts anders gewohnt.

Charlotte, die beständig bemüht war, das Gefühl, schwesterliche Rechte mit ihr gemeinsam zu haben, in mir zu erregen, bat mich, ihr Gemach, unter dem Vorwand, daß es das modigste sey, mit ihr zu theilen. »Da ich Sie in unsre Berge entführte, ists wohl billig«, sagte sie, »daß ich Sie vor Ihnen schütze; Heinrich hat mir aber meine Zimmer so veranglisirt, daß kein wahrhaft hochländisches Gespenst den Fuß hineinsetzen mag«. Es war wirklich eine höchst angenehme Wohnung; sie enthielt alles Geräth, zu dem uns damals der Luxus gewöhnt hatte, [291] was aber noch besser war, eine Sammlung vortrefflicher Bücher, einen vollständigen Apparat zum Zeichnen und Malen, und einen reichen Vorrath der schönsten Wollen- und Seiden-Garne zu Stickarbeiten jeder Art. Neben unserm gemeinschaftlichen Wohn- und Schlafzimmer befand sich ein drittes kleineres Gemach, wo eigentlich die Bücher aufgestellt waren, mit einem Schreibtisch an einem Fenster, dessen Aussicht über den See reichte – dieses wies mir meine gütige Freundin als mein besondres Eigenthum an.

Wie wir uns zur Nachtruhe auf unser Zimmer begaben, umfaßte mich Charlotte und sagte: »Liebe Ellen, ich muß Sie um eine Vorsicht bitten, ja um eine Gunst, die mir vielen Werth hat.« – Ich antwortete, wie mein von Dankbarkeit fast zu überfülltes Herz mir gebot. – »Nun, liebe Ellen, vermeiden Sie sorgfältig, in meines Vaters Gegenwart je [292] den Namen eines Mannes zu nennen ... eines Mannes, den wir beide kennen ...« »Herrn Maitlands Name?« half ich ihr ein. – »Ihn; nennen Sie ihn nie vor meinem Vater!« – »Gewiß, nie. Meine Charlotte muß triftige Gründe haben, um gegen ihren Vater solche Vorsicht zu gebrauchen.« – »Ja sie sind triftig«, antwortete Charlotte nachdenkend. »Vielleicht werden Sie selbst sie einst dafür erkennen. Ich möchte gern kein Geheimniß vor Ihnen haben, meine Ellen, von diesem hängt aber jetzt mein ganzes Lebensglück ab.« – »Genug, Charlotte! Ich brauche weiter nichts zu wissen. Nur das lassen Sie mich nochmals wiederholen: Herr Maitland ist mir gar nichts, gar nichts, als der beste der Menschen, der uneigennützigste Freund, ein Freund, der von aller meiner Unwürdigkeit sich nicht abschrecken ließ ... O Charlotte, wenn Ihr Vater seinen Werth kennte ...« Ich hielt inne, denn [293] ich fühlte, wie die Lebhaftigkeit meiner Gefühle mich hinriß. Ein sanftes Lächeln spielte um Charlottens schönen Mund, als wenn eine schmeichelhafte Hoffnung sich in ihr Herz stähle; allein meine Hand drückend, wendete sie sich, ohne die Unterredung fortzusetzen, von mir ab.

In den Tagen des Elends, wenn mein Nachsinnen für den Unterhalt des folgenden Tags keine Auskunft hatte finden können, neben dem beklommnen Aechzen von Juliens Krankenbett, von dem Weinen ihres unruhigen Knabens unterbrochen, hatte der Schlaf mein Auge geschlossen, sobald mein Haupt ein, oft recht hartes, Kissen gefunden. Jetzt ruhte ich nun unter dem Dache des Frommen, in dem Schutz der Freundschaft, morgen einen fröhlichen Tag, heitre Umgebungen erwartend, und der Schlummer wollte sich lange mir nicht nahen. Es war der Hoffnungslosen leichter geworden, bei dem dichtesten Dunkel ihres [294] Schicksals, sich am Abend eines ermüdenden, sorgenvollen Tages blindlings in ihres Vaters Arme zu verbergen, als der jetzt dem Sturm Entronnenen, die neuen Bilder, die dämmernden Aussichten, die möglichen Glücksfälle zu ordnen, die ihre Einbildungskraft ihr vorgaukelte. Endlich verflossen die sich kreuzenden Gedanken in dem einzig klaren Bewußtseyn von Dank gegen Gott und der flehenden Bitte, mir den rechten Pfad zu zeigen in Glen Eredinens gastfreiem Thale, wie er mich ihn in dem freundlosen Edinburg, wohl auf verwundend rauhem Wege, geführt hatte.

Das Frühstück des nächsten Tages verwirklichte mir das Bild dieses Mahls, wie es Reisende in Schottland oft beschrieben haben. Eine Menge nahrhafter Speisen, mit Sauberkeit und Ordnung aufgestellt, deckten den Tisch. Eredine, so ward hier, wie ich wahrnahm, Charlottens Vater genannt, wies mir meinen [295] Platz neben sich in einem großen, mit hoher Rücklehne versehenen Armsessel an und belud meinen Teller mit den verschiedensten Speisen. Meine beschämte Bitte, meiner Unfähigkeit zu schonen, schien ihm doch endlich zu Herzen zu gehen, er blickte auf mich herab, als auf das wahre Bild von »den Söhnen kleiner Menschen«, und sagte lächelnd: »wenn Ihnen das ein Ueberfluß scheint, was hätten Sie dann zu einem Frühstück zu der Zeit meiner Jugend gedacht!« – Sobald das Mahl beendigt war, übernahm Charlotte wieder die Führung des Haushalts, mit dem in ihrer Abwesenheit eine von ihren zahlreichen Cousinen beauftragt gewesen war. Um mir das Gefühl des Daheimseyns recht einzuprägen, übertrug sie mir einen bestimmten Antheil an ihrem Geschäft, und obschon die Zahl der eigentlichen Hausgenossen seit Menschen-Gedenken nicht kleiner gewesen war, wie jetzt, hatten wir dennoch genug zu thun. [296] Die alten Lehnsgebräuche, wo ein großer Theil der Verwandten unter den Augen ihres Stammhauptes lebte, waren abgeschafft; Eredine hatte drei ältere Schwestern überlebt, die fast ein Jahrhundert lang das Haus, wo sie geboren wurden, bewohnt hatten; nachdem zwei seiner jüngern Brüder durch eine dreißigjährige Landesverweisung ihre Anhänglichkeit an ihren erblichen Fürsten gebüßt hatten, kamen sie zurück, um ihren Staub zu dem Staub ihrer Väter zu fügen; sein ältester Sohn war vor wenigen Monaten, ein Raub des ungesunden Himmelsstrichs, in Westindien gestorben, und der jüngste lebte, wie ich gesagt habe, seit vielen Jahren im Bann. Jetzt bestand nun die Familie einzig aus Eredine, seiner Tochter und mir, vier männlichen und sieben weiblichen Bedienten, Charlottens Amme, einem blinden Weibe, das, weil es sonst nichts zu arbeiten vermochte, die Strumpfstrickerin für das ganze Haus war [297] und daneben durch ihr seltnes Gedächtniß und pathetisches Er zählen alter Familiengeschichten noch die Stelle des ehemaligen Barden ersetzte. Außerdem waren noch zwei kleine Mädchen, eine gebrechliche und eine kränkliche, und drei Knaben, von denen zwei, weil sie Waisen waren, der dritte als Enkel von des Lairds ältestem Diener, unterhalten wurden. Endlich muß ich noch Robert Goraich, Cecilens armen wahnsinnigen Liebhaber, erwähnen; dieser zäumte, wenn es seine Laune gerade mit sich brachte, Herrn Heinrichs alten Schimmel auf, wanderte in allen Kirchen der Grafschaft umher, oder saß stumm betrachtend unter der vom Blitzstrahl zerschmetterten Eiche.

Doch das waren nicht die einzigen Gäste an Eredines wirthlichem Tisch: mehrere greise Alten beiderlei Geschlechts, denen er in dieser Absicht in der nächsten Umgebung des Schlosses hatte Hütten bauen lassen, Laufbuben, Schaaf-, [298] Kuh-, Gänse- Hirten, Bettler und Wanderer, alles fand Aufnahme und Nahrung und zahlte mit Ehrerbietung und Segen. – Und das alles bestritt der Laird mit einem Einkommen von nicht viel mehr als tausend Pfunden des Jahrs.

In der ersten Zeit nach unserer Ankunft kamen zahlreiche Bekannte und Nachbarinnen, Miß Graham zu besuchen, und eine der ersten war die wackre Cecile, die, mich mit Freudenthränen begrüßend, ausrief: »Ich sagte Euch wohl, daß Ihr nicht wüßtet, wo Euch ein Stern aufgehen könnte; und nun sehet, nun seyd Ihr nach Schloß Eredine gekommen. Ich habe es prophezeit und ich prophezeie noch mehr; aber nicht eher, bevor es Zeit ist.« – Auf meine Frage nach ihrem Gatten erzählte sie mir, daß er krank und dienstunfähig verabschiedet worden sey; doch ängstige sie das nicht, sie habe ihm einen Krug Wasser aus der heiligen Quelle von Breadalbane geholt, das ihm gewiß helfen [299] werde. Nur das thue ihm weh, daß er nicht im Stande sey des Lairds Sichelfest beizuwohnen, wovon sie jedoch Miß Graham nichts sagen möchte; denn, sehet Ihr, er verlor seine Gesundheit, indem er Herrn Kenneth auch in seiner Krankheit nicht verließ.«

In den nächsten Tagen fand das Herbstfest, dessen Cecile erwähnt hatte, statt. Bei Tages Anbruch weckte mich ein gellender Dudelsack unter unserm Fenster, und wie ich aus dem Bett sprang, um seine Absicht zu erforschen, sah ich einen Haufen von mehr wie hundert Männern und Weibern vor dem Hause versammelt. Es waren die Pächter von Eredine, die zur Frohnde heute des Lairds Korn schneiden sollten. – Doch nie sah ich bei einem Freudenfest so viel wahre Fröhlichkeit, wie bei dieser lohnlosen Arbeit. Das Mähen dauerte den ganzen Tag, nach dem Tact der sich ablösenden Dudelsackpfeifer, aber weder die Arbeit [300] noch die Pfeife that dem Scherzen der Jüngern, dem Erzählen der Alten einigen Eintrag; Eredine kam oft, um sich unter die Arbeiter zu mischen, mit den Alten zu schwatzen, mit den Jungen zu scherzen, und wo er erschien, fügte sich Ehrerbietung in die freudenvolle Aufnahme des Lairds. Alles, was Kräfte hatte, war zur Arbeit geschickt; Charlotte und ich, von der alten Amme und der blinden Strickerin unterstützt, mußten die Küche für alle diese Gäste besorgen – und das war keine kleine Arbeit, so einfach die Kost auch seyn mochte, die ihre gesunde Eßlust befriedigte.

Da es, wie mir Charlotte gesagt hatte, Sitte war, solche Feste mit Tanz zu beschließen, begab ich mich in der Zeit, wo die Tänzer versammelt seyn konnten, an den Platz, der, wie ich glaubte, zu der Lustbarkeit bestimmt war. Ein mit großen Bäumen umgebner Rasenplatz im Hintergrund des Küchengartens war [301] mir als solcher genannt; allein zu meiner Verwunderung war er ganz einsam, nur ein kränklicher, abgezehrter Mann, der über seinem Tartan einen verblichnen Soldatenrock trug, stand traurig, an den Stamm eines Baumes gelehnt. Da ich glaubte, mich in dem Orte geirrt zu haben, fragte ich diesen Mann, wo heute getanzt würde. »Glaubt Ihr denn, Lady«, antwortete er halb unwillig, »daß heute hier getanzt werden soll? Ich hoffe, so roh ist kein Erediner, daß er hier tanzen wolle, so lange Eredines bestes Blut noch nicht im Grabe erkaltet ist.« – Er deutete, wie mir klar war, auf Herrn Kenneths vor kurzem erfolgten Tod, und ich bewunderte dieses zarte Anstandsgefühl, diese innige Anhänglichkeit in Leuten, die wir für Wilde zu halten so geneigt sind. Schon wollte ich mich mit dem Mann in ein Gespräch einlassen, als Charlotte sich nahte. Theilnehmend erzählte ich ihr, was [302] mir eben begegnet sey. Sie war nicht verwundert, aber gerührt; »das erwartete ich«, sagte sie, »armer Jamie! es hätte ihm das Herz gebrochen, hätte man heute auf diesem Rasen getanzt. Hier war vor fünfundzwanzig Jahren sein und meiner Brüder Spielplatz; und er schleicht alle Abende, wenn die Sonne ihn bescheint, hierher und lebt eine Stunde in seiner frohesten Erinnerung. O, der Mann hat viel für meinen Bruder gethan! Wie er hörte, daß Kenneth ins Ausland beordert sey, verließ er Weib und Kind und wanderte zu Fuß quer durch Irland bis zum Hafen, wo sein Regiment sich einschiffte. Er ließ sich anwerben und folgte ihm nach Westindien nach, und wie meinen Bruder die schreckliche Krankheit befiel, bei welcher kein Wärter ausdauern mag, verließ er sein Bett weder bei Tag noch bei Nacht; schon selbst von ihr ergriffen, folgte er ihm zur Gruft, und wie die Grabbegleiter von der [303] gifthauchenden Stelle forteilten, blieb er dort liegen und weinte auf dem Hügel, der das Haupt des Edelsten barg. Ach es ruht in fremder Erde und unsre Thränen netzten sie nie!« –

So oft ich mit Charlotten von ihrem Bruder gesprochen hatte, war dieses die erste Klage, die ich von ihr hörte. Ihr erschien das Andenken an ihre Todten vielmehr wie ein heiteres Bild. Sie sprach mit persönlicher Theilnahme von Lady Eredines Freude beim Empfang ihres Sohnes und beschäftigte sich mit ihnen, ganz wie mit lebenden Personen, deren Empfindung man in der weitesten Entfernung dennoch mit Innigkeit theilt.

In kurzer Zeit war ich in Eredine so eingewohnt, als gehörte ich schon längst zu der Familie. Meine gütige Charlotte fand bald Mittel, es mich als meinen gegenwärtigen Wohnort ansehen zu machen; sie fühlte in meiner [304] Seele, daß ich mich nützlich mache, sey zu meiner Befriedigung durchaus nothwendig; wahrscheinlich vielmehr in der Absicht, mir dieses zu gewähren, als weil es ihr sehr darum zu thun war, Musik zu lernen, verwendete sie sich alles Ernstes auf die Erlernung der Harfe. Bisher hatte sie es in der Tonkunst nicht weiter gebracht, als einige schottische Liederchen auf einem alten Clavier, das sich im Schlosse vorfand, zu klimpern; jetzt langte aber eine herrliche Harfe an, die Herrn Heinrichs unermüdete Theilnahme an seiner Schwester Wünschen, sobald er ihre neue Kunstanstrengung erfahren, in London hatte kaufen lassen. Nun ward recht ernstlich gelernt, und Charlotte lohnte meinen Unterricht mit der beharrlichsten Mühe, mich in Besitz der gaelischen Sprache zu setzen. Es glückte mir so sehr, daß ich den Beifall aller Schloßbewohner ärntete, und die Landleute mich bald eben so freundlich begrüßten, [305] als gehörte ich in ihr Thal. Am mehrsten freute sich aber der alte Laird meiner sprachkundigen Fortschritte; besonders wenn ich gaelische Liederchen sang, rief er entzückt: »sie singt fast so gut, wie meine liebe selige Mutter. »»Möge es weiß um ihre Seele her seyn!«« 5 »Nur sollte sie statt des ungeschickten großen Dinges (der Harfe), die leichte, weiblich niedliche Clarsaeh (eine Art Mandoline) im Arm halten, aber die verdammten Hannoveraner haben sie, wie sie Glen Eredine plünderten, verbrannt!« –

Die Musik, so lieb sie mir war, nahm aber doch jetzt einen ganz andern Platz in der Anwendung meiner Zeit ein, als ehemals, wo sie die einzige Beschäftigung war, die mir Putz und Gesellschaft ersetzte. Es hatte sich jetzt in meiner Seele die Ueberzeugung entwickelt, daß jeder Moment unsers Lebens in Arbeit und [306] Lust, ein vernünftiges, wohlthätiges oder frommes Andenken zurücklassen müsse. Bald nahm ich wahr, daß diese Ansicht, welche ich anfangs mit etwas Aengstlichkeit befolgte, keine heitere Benutzung der Lebenszeit störte; denn Heiterkeit entsproßte nur auf dem Wege der Pflicht, und diese führte mich Hand in Hand mit dem Glück derer, die neben mir schritten. Ich begriff immer mehr, daß die Blüthen des geistigen Lebens jedem Genuß entsprießen, der unsrer Menschennatur zugetheilt ist, wenn wir ihn als geistige Wesen, nicht nur mit der rohern Hälfte unsrer Kräfte genießen. Kaum kann es je einen glücklichern, vielleicht keinen fröhlichern Kreis gegeben haben, als der das Caminfeuer von Eredine umgab.

Ich hatte manche Woche in diesem glücklichen Kreis verlebt, als Charlotte eines Tags athemlos vor Entzücken zu mir hereinstürzte und mir zurief: »Er kommt, theure Ellen, [307] er kommt! Er will alles aufgeben, seine Gewohnheiten, seine Plane, er gibt ihnen ihren Tand zurück und kehrt zu seinen Vätern heim – heim zu uns allen!« – »Wer? Heinrich? Heinrich kommt zurück? Wenn?« – »Jetzt, bald, in einer Woche. Ach, wenn diese Woche vorüber wäre!« – Sie konnte nicht an einem Orte bleiben, die Freude trieb sie fort, und ich eilte ihr nach zu ihrem Vater. Der Greis schloß uns beide in seine Arme: »Gott lasse mich«, rief er, »nur noch diese Woche überleben, und dann, dann ...!« – Er zögerte, halb beschämt über seine Rührung. »Ich sorge zuweilen«, fing er wieder an, als spräche er nun von etwas anderm, »ich sorge, meine Augen sind angegriffen, ich will sie in der Luft stärken.« – Und damit ging er auf den Weg nach Edinburg aus, als könne er schon heute hoffen, seinem Sohn zu begegnen, und von heut an kehrte er unzählige Mal auf [308] diesen Weg zurück. Zunächst bemühte er sich nun jeden Ruhepunct seiner Reise zu berechnen, er glaubte die Stunde seiner Ankunft bestimmen zu können, und machte eine endlose Menge Zubereitungen zu seinem Empfang. Hatte er sich dann recht müde gewirthschaftet, so setzte er sich auf seinen großen eichnen Armsessel, kreuzte die Arme, sann nach, und ein seliges Lächeln spielte über sein Gesicht. »Er hat doch von jeher die Südleute nicht gehaßt«, rief er einst im Selbstgespräch aus, »obschon in ihm selbst kein südländischer Blutstropfen war. Hat er den krauspfotigen Hund seiner Mutter doch auch immer gern gehabt, und ich selbst mochte doch die Sachsen nicht leiden.« – Ich war im Begriff, an meinem Stickrahmen laut aufzulachen, als mir eine Ahnung über die Bedeutung seines Ideengangs einfiel, die mich mit Beschämung zurückhielt.

Heinrichs Ankunft konnte mir in keiner [309] Rücksicht gleichgültig seyn. Seit ich erfahren hatte, daß ich ihm, nicht Kenneth, die Rückzahlung der meinem verewigten Vater gehörigen Summe schuldig war, hatte ich ein Gefühl persönlicher Dankbarkeit gegen den Mann, in dem ich den Mittelpunct der Liebe und Achtung dieses ganzen Thales kennen lernen sollte. Aber seit Cecilens prophetischer Wink von dem Glück, was meiner in Glen Eredine warten könnte, so schön in Erfüllung gegangen war, daß ich mich auf das unerwartetste als Tochter eines Hauses aufgenommen sah, dessen Name mir vor einem Jahre noch ganz fremd war – seitdem machte Heinrichs Name einen tiefen Eindruck auf mich. Ich mochte mir ihn nicht erklären und rechtfertigte ihn doch mit meinem traurigen Schicksal. Arm und freundlos, wie ich war, konnte ich das Wohl meiner Zukunft einzig durch Gottes mir unbekannte Fügung erwarten. Da nun Liebe, Glück [310] durch Liebe, ein Bündniß aus Liebe dieser versagt schien, war es mein ängstlicher Wunsch, einem Mann vertraut zu werden, gegen den Achtung und Gehorsam jede zärtlichere Neigung meines Herzens ersetzte. Lieben sollte dieses Herz nie. Nachdem es Maitlands Neigung verscherzt hatte, waren Ergebenheit und Pflicht die fortan ihm geziemenden Schranken.

Schüchtern, aber von Herzen, theilte ich die allgemeine Freude und half bei der allgemeinen Thätigkeit, die Heinrichs Ankunft im Schlosse verbreitete. Jede Hausmagd wollte sein Zimmer putzen, die Spinnerinnen besangen bei dem Schnurren ihrer Spindeln in selbst erfundnen Liedern seine Rückkehr. Die Knechte schossen Rehböcke, Rothwild und Auerhähne genug, um eine hungrige Einquartierung zu speisen. Charlottens Amme erzählte mir zahllose Züge aus Heinrichs Kindheit, die blinde Strickerin rühmte mit Salbung, wie er sie die Wiese entlang zu [311] dem Tanzplatz geführt – nur Robert Goraich, Cecile's unglücklicher Liebhaber, war der Einzige, dessen Freude sich nicht in fröhlichem Taumel verkündigte. Bei einer einsamen Wanderung, wie ich sie so gern in der Nähe des Hauses machte, setzte ich mich einst auf einen meiner Lieblingsplätze, einen Felsen, der über dem See hing, und träumte von einem fantastischen Freundschaftsbund, der noch einst zwischen Charlotte, Maitland, Heinrich und mir bestehen könnte; da sah ich den armen Robert daherkommen, dem Heinrichs alter Klepper so vertraulich wie ein Hund folgte. Er blieb mir gegenüber stehen, sah mir mit ernster Freundlichkeit ins Gesicht und sagte leise: »Sie sagen, Ihr wäret ihm bestimmt; so möge Gott Euer Antlitz erfreuen! nehmt ihn in Frieden!« – Robert war nicht der Erste in Glen Eredine, der mir diese Zukunft prophezeite. Aber heute traf mich diese Rede so tief, daß ich, besonders [312] gegen diesen armen Mann, mein Gefühl unter einem Scherz zu verbergen suchte. »Wohl gut, lieber Robert«; rief ich, »aber um des Anstandes willen kann ich mich doch nicht so schnell dazu entschließen.« – »O doch! entschließet Euch schnell, denn der Mensch weiß nicht, was morgen geschieht!« sagte er ernst und legte seine Hand bittend auf meinen Arm. »Wie würde es ihm seyn, wenn er Euch müßte die Wiese entlang und durch den Wald hin gehen sehen, eines andern Mannes Sohn auf dem Arm!« – Dabei zeigte er auf den Weg hin zu Cecile's Hütte. Dann fuhr er, sich ganz vergessend, in seiner Landessprache fort: »Da würde ihm alles gleichgültig werden, seine schöne goldne Uhr und die Parks und die Städte von Eredine. – Alles wäre ihm nichts mehr gegen die bloße Luft, die ihm von ihr herüber weht.« – »Doch, Robert«, unterbrach ich sein jammervolles Selbstgespräch, »würdet Ihrs [313] denn leiden mögen, wenn eine sächsische Lady auf dem Schlosse hauste?« – »Wenn es also beschlossen wäre, wie könnte man da murren? Und es könnte ja sehr gut seyn. Vergeßt Ihr nur, daß Ihr eine Stiefmutter seyd, wir wollen gewiß nicht daran denken.«

Wie ich nach Hause kam, sagte man mir, daß Cecile im Schlosse gewesen, um Arznei für ihren sterbenskranken Gatten zu erbitten. Sobald sie hörte, welche frohe Veranlassung den Schloßbewohnern Arbeit gäbe, hatte sie sich enthalten, Miß Graham zu sprechen, um ihre Freude durch ihr trauriges Anliegen nicht zu trüben, und war unverrichteter Sache wieder fortgegangen. Sobald aber Charlotte von ihrem Besuche hörte, willigte sie in meinen Vorschlag, ihr am Abend, was sie bedürfen könnte, selbst zu überbringen.

Cecile empfing uns an der Hausthür und führte uns unter tausend Glückwünschen in ihr [314] Prunkzimmer – denn in Glen Eredine konnte es dafür gelten. Es hatte Fenster und Sessel und einen Tisch, ein Wandbret mit buntgemalten Steinkrügen und Tellern, auf denen fromme und lose Sprüchelchen zu lesen waren; wir verlangten aber Jemmy in seiner Krankenstube zu sehen, worin uns sein gutes Weib nach den höflichsten Entschuldigungen willfahrte. Dieses bescheidnere Gemach war von dem vorigen durch eine Breterwand getrennt, das Bett stand in einer Art von Verschlag, der übrige Raum hatte das Dach zur Decke, ein Loch in diesem zum Rauchfang und ein Fenster von vier kleinen Scheiben, um es zu erhellen. Der Feuerplatz in der Mitte des Gemachs unter der Oeffnung des Daches war allein gepflastert, der Zimmerboden selbst bestand aus gestampfter Erde. Auf ihm lag Torf, Küchengeräth und Wasserzober umher. Cecile's ältester Knabe, ein vierjähriger, mit Tartane und [315] Helmmütze bekleideter Caledonier, wenn es je einen gab, saß neben einem jungen Hammel, mit dem er friedlich einen Haferkuchen theilte, der jüngste, viel sorgloser bekleidet, stritt sich mit dem Hahn um die Reste eines Mehlbreis in einem schwarzen eisernen Topf. Cecile riß sie beide vom Boden auf und befahl ihnen, die feinen Frauen zu grüßen, und schalt sie aus, daß sie sitzen blieben, wenn die »Edeln im Lande sie besuchten.« Diesen Grundsatz lehrte sie durch Beispiel, denn nichts konnte sie bewegen, sich in unsrer Gegenwart zu setzen. Miß Graham fragte den blassen, stillen Kranken freundlich, wie es ihm ginge. – »O Sie sind gut, also zu fragen«, antwortete Cecile statt seiner; »er kann nicht besser werden, und kaum schlechter, als er schon ist.« – Die Fassung, mit welcher diese Frau in des Kranken Gegenwart über seinen hoffnungslosen Zustand sprach, empörte mich. Ich zitterte vor dem Eindruck, den diese [316] Herzlosigkeit auf den armen Kranken machen müßte. Dieser sagte aber mit heitrer Stimme: »Das Uebel will seine Zeit haben; aber wir dürfen hoffen, daß es nicht mehr lange dauern kann.« – Dieser fromme Muth nöthigte mich, den tröstenden Zuspruch, zu dem ich mich gerüstet hatte, in Beifall zu verändern. »Ja ich hoffe, ich bin bereit zu scheiden«, antwortete Jemmy; »zuweilen habe ich mich wohl davor gefürchtet, zu andern Zeiten bin ich aber auch recht gefaßt.« – Jetzt überströmten seiner Gattin Augen. »Wahrlich, Lady«, rief sie, »er braucht sich auch nicht zu fürchten; denn er war lebelang ein guter Christ, wie nur einer, und ein guter Ehemann war er auch; und er braucht nicht zu sorgen, daß ihm nicht so eine feierliche Leichenbestattung werden sollte, wie irgend einem, für den man ein Grab grub – und das haben wir größtentheils Ihnen zu danken, Miß Percy, und dafür segne Sie [317] Gott und gebe Ihnen einst ebenfalls einen friedenvollen Tod! Ja, Jemmy, und wir müssen Gott danken, daß du nicht nackt eingescharrt wirst, unter Fremden und Heiden und allem Abschaum der Erde.« – »Nein, James«, nahm jetzt Miß Graham das Wort, »unter Fremden sollt Ihr nicht liegen. Ihr sollt den Platz haben, der Euerm Pflegbruder bestimmt war, und Euer Grabstein soll sein Denkmal seyn und dessen, was Ihr für ihn gethan.« – Ein Freudenstrahl leuchtete über des Sterbenden Gesicht. Er wollte ihr danken, aber von Schwäche und Wehmuth verstummt, bewegte er nur seine Lippen; Cecile aber weinte laut und lächelte auch und verneigte sich für diese tröstliche Zusage. Charlotte aber fuhr fort: »Und wenn Ihr meinen Bruder wiederseht, James, so grüßt ihn und sagt, daß es mein einziger Kummer ist, seinem Staube gar keine Ehre zu erweisen, ihn so weit, weit entfernt begraben zu sehen!« –

[318] In diesem Augenblick ließ eine zufällige Veränderung meiner Stellung mich durch das Fenster einen Menschen erblicken, der sich halb hinter eine alte Esche ganz nah an dem Fenster verbarg. Jetzt kam er einen Schritt näher, und ich erkannte, daß es Robert Goraich war; er lehnte sich an den Baumstamm und blickte aufmerksam auf das Fenster, seine Arme hingen leblos herab, seine ganze Gestalt bewies die gänzliche Abwesenheit seiner Gedanken. Ich war im Begriff, Charlotte auf diese Erscheinung aufmerksam zu machen, als ein lauter Schrei des jüngsten Kindes, das Cecile so eben auf die Arme genommen hatte, unser sonderbares Gespräch unterbrach. Cecile entschuldigte seine Unart und suchte, ihn auf den Armen wiegend, durch den summenden Gesang zu beschwichtigen, mit dem Wärterinnen die Kinder einzuschläfern pflegen. Dazwischen tröstete sie das Kind gaelisch und entschuldigte sich bei uns [319] auf englisch; zugleich bemerkte ich, daß sie in ihrem Gesang und ihrer Zusprache oft die Worte: »geh, geh zur Ruh«! aussprach, wobei sie das Kind weit von sich weghielt, als wollte sie es von sich legen. Nach und nach ging ihr Gesumm und ihr Gesang in wirkliche Worte über, die bald so deutlich wurden, daß ich sie, trotz meiner wenigen Kenntniß des Gaelischen, völlig verstand. Dieser Gesang hatte etwas unaussprechlich Ergreifendes, – es war eine Leidensklage, wenn es je eine gab. Da ich sogleich nach meiner Nachhausekunft den Sinn der Worte aufschrieb, setze ich sie hier her.


Geh zur Ruh, gehe nun!
Schmerzlich sind mir deine Klagen,
Und des Vaters Zorn, Geliebter, weckest du;
Geh zur Ruh!
Meine Liebe schenkt' ich dir,
Doch nun nehm' ich dich vom Busen –
Daß mein Leiden ende, geh in Frieden du;
Geh zur Ruh!
[320]
Klage nicht mehr, laß mir Frieden!
Bis nach langer Nacht am Morgen
Freudig wir uns wiedersehn, geh du,
Geh zur Ruh!

Mir konnte der doppelte Sinn dieses Gesanges, da ich Robert Goraich vor Augen hatte, nicht entgehen, und weder der arme James, noch Miß Graham konnten Verdacht daraus schöpfen; allein die Kunst in dieser Frau Benehmen erregten einen so lebhaften Unwillen in mir, daß ich, sobald wir die Hütte verlassen hatten, ihn meiner Freundin zu verstehen gab. Anstatt ihn zu theilen, antwortete sie sehr ruhig: »Ich weiß, daß Cecile sehr viel Klugheit und Geistesgegenwart besitzt.« – Ich behauptete, die Geschicklichkeit, durch welche es dieser Frau gelungen sey, vor unsern und ihres sterbenden Ehemanns Augen mit ihrem Liebhaber zu verkehren, verdiene den Namen von Ränkeschmiederei. Charlotte sah mich erschrocken [321] und höchst mißbilligend an. Der Verdacht, daß eine Gattin fähig seyn könnte, unter diesen Umständen aus pflichtwidrigen Bewegungsgründen zu handeln, erfüllte sie mit Abscheu. »Wie?« rief sie, »Sie könnten muthmaßen? Sie könnten voraussetzen, daß ein Weib alle Schaam also zu vergessen vermöchte, daß sie ihre Kinder könnte zu Landstreichern machen wollen? ihren Namen mit der Schmach bedecken wollen, die Erste in Glen Eredine zu seyn, die ihren Stamm je befleckt? O nein, nein! lieber würde Cecile sich unterm Benarde begraben! O nein! eher stiege Robert, so verrückt er ist, selbst in die Gruft! Nein, Miß Percy, was Ihnen auch die übrige Welt für Beispiele aufgestellt hat, in Glen Eredine werden Sie solche Abscheulichkeit nicht finden.« – Ich schwieg beschämt – denn selbst wenn sich Charlotte über die Tugenden der Erediner geirrt hätte, so wäre so ein Irrthum schon der Hochachtung werth.

[322] Jetzt schlich Robert eine Weile schweigend hinter uns her, endlich sagte er bittend zu Miß Graham: »Wollt Ihr nicht so gut seyn, ihr zu sagen: sie soll mich nur drei Garben für sie dreschen lassen? Ich verspreche, so wahr ich lebe, ihrer Hüttenthür nicht zu nahen; ich will in der Scheune bleiben und sie keineswegs plagen.« – »Es wäre ja thöricht, Robert, Euch also für eine Frau zu mühen, die Euch gar nicht ansieht.« – »Ich weiß wohl, daß ich thöricht bin«, antwortete der arme Mensch mit einem wehmüthigen Lächeln. Nach einigem Stillschweigen, indem er ehrerbietig hinter uns herging, wiederholte er seine Bitte, und noch einmal, und noch einmal, weil er die Abwehr immer vergessen zu haben schien. Nur andre Ursachen setzte er zu seiner Dienstleistung hinzu: »damit die Frau kann ihren Kleinen pflegen«, sagte er einmal, »und damit sie nicht in der Nacht zu dreschen braucht – [323] ach, Schlafen thut so gut!« – »Nun, so schlaft Ihr, guter Robert«! entgegnete Charlotte. Er blickte mit irrem Lächeln vor sich hin: »Ich schlafe nicht mehr,« rief er leise und geduldig. »O Charlotte«, sagte ich und ergriff bittend meiner Freundin Hand, »ich habe Robert und Ihr Thal beurtheilt, wie die elende Welt, in der ich aufwuchs. Verzeiht ihr beide! nur ein tugendhaftes Weib kann so eine bescheidne Liebe einflößen.« – »So ist's, meine Ellen. Schlaffe Moral und ungeordnete Sinne sind nie der Boden, aus dem eine ernste, dauernde Leidenschaft erwächst.« – Schweigend und ernst ging sie nun neben mir her.

Endlich erschien der Tag, der so sehnsuchtsvolle Hoffnungen erfüllen sollte. Alle Stunden waren gezählt worden; den Abend, wo Heinrich das erste Nachtlager auf schottischem Boden halten sollte, ging sein greiser Vater mit einer Art Feierlichkeit in sein Schlafzimmer – sein [324] Sohn betrat diesen Boden heute auch; und endlich sprach er, Charlotten und mich beim Schlafengehn umarmend: »morgen um diese Zeit!« – und sein Blick suchte den Himmel, als das Einzige, was er noch Höheres, wie Heinrich, erkenne. Außerdem aber war seine Freude seit ihrem ersten Ausbruch still; doch sah man, daß er mit keinem andern Gegenstand beschäftigt war; auch an alles, was er aus der Vergangenheit erwähnte, hing er eine Bemerkung, die ihn betraf: »damals war Heinrich noch ein Kind«, oder: »Heinrich hatte eben sein erstes Hochwild geschossen«; und so waren Heinrichs Lebensstufen sein Kalender. Dazwischen drückte er von Zeit zu Zeit Charlottens und meine Hände mit glänzend glückwünschendem Blick. Bis Aberfoyl ihm entgegen zu reiten, war sein herzlicher Wunsch, er hatte nur einigen Zweifel, ob sich das mit seiner väterlichen Würde vertrage; doch »Heinrich ist ja nie ein [325] verzogner Knabe gewesen«, bemerkte er, und sonach entschloß er sich zu dem Ritt.

An dem großen Tage war die ganze Familie schon beim Morgengrauen munter. Wen ich zuerst erblickte, war Eredine, in voller National-Kleidung, mit jugendlichem Schritt im Hof umherschreitend. »Charlotte, heute gilt's ein derbes Frühstück«, rief er, an den Tisch sich setzend, der geschäftigen Tochter zu, »wer zehn Stunden reiten will, darf nicht nüchtern bleiben«; und mit diesen Worten langte er fröhlich zum Glase. Der Laird hatte beschlossen, ohne andre Begleitung mit seinem Hausgesinde allein fortzureiten, allein der alte Sackpfeifer wußte sich auf andre Weise zu entschädigen. Er zog, den »Grahams Aufruf« pfeifend, durch das ganze Thal, aus allen Hütten schlossen sich alle männliche Bewohner ihm an, und mit diesem zahlreichen Zug rückten sie gegen Aberfoyl vor. Die Weiber des ganzen Clans blieben [326] in der Bezeigung ihrer Theilnahme nicht zurück: von früh an kamen die Hausmütter, still und ehrbar brachten sie, was ihr Vorrath an Schinken, Eiern, Geflügel ihnen darbot, »zum freundlichen Gruß« und kehrten ruhig in ihre Wohnung zurück. Der Tag schien uns von endloser Länge. Charlotte war stumm und ruhelos; sie wollte nähen – es gelang nicht; sie nahm ein Buch – es war vergebens; sie ging wieder und immer wieder in ihres Bruders Zimmer um sich zu überzeugen, daß dort nichts fehle – aber eigentlich nur, um von dort aus dem Fenster zu schauen, da der äußerste Punct der Aberfoyl-Straße dort zu sehen war. Endlich fing sie an zu sorgen, ob er auch heute ankommen möge, und zürnte mir fast, wie ich die Möglichkeit des Gegentheils zugeben mußte. Gegen den Abend stellte sie sich an das Fenster und blickte, zuweilen ihre Augen trocknend, bewegungslos in die [327] dunkelnde Ferne. Der Abend sank und verkündete eine frostige Nacht. Charlotte zog mich mit sich vor das Schloßthor; alles war still; endlich bellte fern im Thale ein Hund; »ich höre die Pfeife!« rief Charlotte und faßte meinen Arm. Ich horchte; leise schwirrte der Ton, erstarb und tönte wieder, nach und nach ward er bis zur Deutlichkeit stark. Grahams Kriegslied, der Hufschlag der Rosse, der Fußtritt der Menge, die Stimmen der Menschen wurden deutlich. – – Charlotte flog den Weg hinab, kehrte um und rief: »Nein, vor dieser Menge kann ich ihn nicht empfangen!« und eilte zurück in das Haus.

Ich erblickte durch das Dunkel die zwei stattlichen Gestalten der Häuptlinge, die am Thor von ihren Pferden gestiegen waren und sich jetzt zu Fuß dem Schlosse näherten, und begab mich in das Zimmer, besorgt, dieses erste Wiedersehen zu stören; aber bald eilten [328] die Schritte herbei, ich hörte meinen Namen, die Thür flog auf, und Maitland stand vor mir – – –

Wie ich am Schluß eines glücklichen, von dem Vater und Charlotten in stillem Rausch der Freude, die zum Gebet wird, hingebrachten Abends endlich mit meiner Freundin allein war, machte ich ihr Vorwürfe, meinen Irrthum über Heinrich und Maitland vorsätzlich genährt und mich dadurch zu Geständnissen verleitet zu haben, die mich jetzt in ihre Hand gäben. Wohl erkannte ich das Glück an, von diesem verehrten Mann im Schoose seiner Familie, als dem Liebling seiner Geliebtesten, wiedergefunden zu werden, nachdem er mich einst im Wirbel der Thorheit zurückließ. Ich war deshalb weit entfernt, mir mädchenhafte Ziererei zu erlauben; aber ich suchte meiner Freundin zu beweisen, daß sie mein Vertrauen durch die falsche Rolle, die sie dem vorgeblichen [329] Maissand aufgetragen hatte, gemißbraucht zu haben schien. Anfangs lachte die in ihr Glück verlorne Charlotte, bald legte sie mir aber die Gründe, durch die sie ihr Betragen gerechtfertigt hielt, vor Augen. »Nach dem, was ich von Ihnen wußte«, sagte sie, »konnte ich nicht hoffen, daß sie sich würden von meinem Bruder Ihr Geld zurückzahlen lassen; sobald ich Sie aber gesehen und liebgewonnen hatte, begriff ich meines Bruders Schicksal und verstand seine Theilnahme an Ihnen. Auch daß Sie Maitlands Schwester nie Ihr Vertrauen würden geschenkt haben, wurde mir klar; und Sie zu mir zu ziehen und an mich zu fesseln, war doch mein Wunsch – es war mein Wunsch, Sie unter meines Vaters Augen zu bringen, und es ist alles gelungen, wie ich gewollt habe, und nun werde ich für meinen Bruder keinen Schritt weiter thun.« – Es war so viel Edelmuth in den Bewegungsgründen ihrer Handlungsweise, [330] es war eine so kühne Offenheit in diesem Bekenntniß lang fortgesetzter Heimlichkeit, daß mein Unwille verstummte; mein natürlicher Abscheu vor Hinterlist und Larve hielt mich aber von einer gänzlichen Versöhnung zurück. Ich sprach von der Unvorsichtigkeit einer Intrigue, die einzig durch den Umstand gesichert war, daß Maitlands Name nicht im Schlosse genannt wurde. »O nein!« rief Charlotte; »dieser gemeine Krämername ist im Schlosse kaum bekannt. Mein südländer Oheim machte es den Graham zur Bedingung, ihn zu tragen – und wahrlich! Eredine konnte den Namen seines Schwagers nicht verachten; aber nie ward Heinrich so genannt, mein Vater überschrieb nie seine Briefe mit ihm – und Gott sey Dank! er hat ihn nicht in sein Vaterland zurückgebracht, er ist Heinrich Graham, wie seine Mutter ihn geboren. Nicht, Ellen, als wenn ich den Handelsstand verachtete – [331] davor bewahrt mich mein Bruder, der zwanzig Jahr ihn durch seine Betriebsamkeit ehrte – jeder Erwerb verdient Achtung, aber mir däucht, ein Edelmann sollte ihn denen überlassen, die Geld bedürfen, um sich Auszeichnung zu verschaffen.« – Nun mußte ich lächeln über die hochgeborne Schottin, die dem handelführenden Südländer Hohn sprach und eines handelführenden Südländers Tochter aus dem Abgrund der Armuth gerettet hatte, um sie in die Heimath der Grahams zu verpflanzen. Und während meines Lächelns und Nachdenkens hatte sich der Schlaf auf Charlottens Augen gesenkt.

Ich stand früh auf, und es war mir lieb, daß Charlotte noch früher an ihre Geschäfte gegangen war. Mein Gemüth war sehr bewegt. Meine alte Schwachheit war aber nicht gänzlich unterjocht, denn, mit den ernstesten Betrachtungen im Kopf, mit überwältigenden [332] Gefühlen im Herzen, blickte ich mehr wie einmal in den Spiegel und war mir bewußt, daß Ellen Percy in der schmucklosen Hauskleidung Maitlands Augen nicht minder gefallen dürfe, wie Ellen in der ersten Jugendblüthe und im Flitterstaate des Luxus und der Mode. Wie ich in das Zimmer trat, war die Familie schon beim Frühstück versammelt. Maitland führte mich an einen Stuhl und setzte sich mit den Worten: »ich muß zwischen meinen beiden Schwestern sitzen,« zwischen mir und Charlotte. Die Güte seines Betragens färbte meine Wangen bei der Erinnerung, wie unverzeihlich ich ihn bei unsrer ehemaligen Trennung behandelt, mit hoher Schaamröthe; aber er behandelte mich so achtungsvoll, der Kreis dieser Menschen war so einfach und liebend, daß ich in ihrer Freundschaft das Pfand meiner Veredlung las und mich bald so unbefangen in Maitlands Gegenwart bewegte, als [333] hätte er mir nichts zu verzeihen. Der Tag verfloß, ohne daß ein bittres Andenken ihn verdunkelte; dieser und mancher andre nach ihm. Fortschreitende Arbeiten war ihr Beruf, vereintes Lesen und Gespräche ihre Erholung, vollendete Arbeiten ihre Feste. Eredine brachte trotz seines hohen Alters, wie ein wahrer Nordlandsheld, mit seinem edeln Sohn die Vormittage auf der Jagd hin. Charlotte und ich hatten genug zu thun, um nach unsrer Hausarbeit in allen Familien von Glen Eredine unsern Beruf als Kinderlehrerinnen, Rathgeberinnen und Krankenpflegerinnen zu erfüllen. Welche zahl- und endlose Familiengeschichten mußte ich anhören! Da war keine Hütte im Thal, deren Ahnherrn und gegenwärtiger Mitglieder Schicksal mir nicht mit den geringsten Umständen anvertraut, und in vielen Fällen noch ein prophetischer Blick in ihre Zukunft vergönnt wurde. Unsre Abende waren entzückend. Wenn der [334] alte Vater sich aus sei nem beeisten Plaid gewickelt, Maitland die Windspiele in ihre Hütte geschmeichelt hatte, und wir alle um das Caminfeuer saßen – der rüstige Jäger wind nun der feine Gesellschafter der dankbaren Schwestern, er las, erzählte, ließ sich abstreiten, belehrte, und der verehrte Alte hörte zu oder nickte bei dem Glück seiner Kinder mit seligem Lächeln ein und wachte unter ihrem lebendigen Geschwätz mit noch seligerm wieder auf. Wie oft, in dieser glücklichen Zeit, war ich erstaunt, Maitland je für kalt und förmlich gehalten zu haben! Sein ernster und nach Wirksamkeit strebender Geist fühlte sich freilich bei zweckmäßiger Zeitanwendung am wohlsten, aber in einem geläuterten Herzen, wie das seine, wird die Freude zum Gottesdienst, und also versagt es sich derselben nie. Wir scherzten, wie glückliche Kinder, und im Kreis jugendlicher Nachbarn konnte der reife Mann oft noch wie ein fröhlicher Jüngling erscheinen.

[335] Der Frühling brach an, und nie, seit der Frühling Edens erglühte, konnte diese Jahrszeit zauberischer seyn. Seine Farben waren so mild, seine Lüfte so balsamisch, so rein, sein Mondlicht so friedlich! Nie werde ich die köstliche Kühlung vergessen, die eines Tags in einem leichten Regenschauer herabthaute und den ruhigen See mit zitternden Lichtpuncten bedeckte. – Ich stand mit Graham – denn mit diesem Namen, den sein Land segnet und die Freunde des Rechts und der Wahrheit verehren, muß ich doch endlich den unlieben Namen Maitland vertauschen; ich stand mit Charlotte und Graham schutzsuchend unter einer Fichte, kein Laut ward gehört, als das Rieseln der Tropfen im See und dann und wann der Ruf eines fernen Wasservogels. »Wie oft, wachend und schlafend, habe ich hiervon geträumt«! sagte Graham leise, als wollte er die Stille nicht stören, »und noch jetzt ist mir, was mich umgibt, wie ein Traum. Diese [336] tiefe Ruhe! Jeder Schatten liegt noch auf eben der Bucht, auf eben dem Abhange, wie damals, wenn ich so oft dastand und erstaunte, wie die unermeßliche Tiefe des Wassers die grenzenlose Höhe des Himmels also abbilden könne. Und nun nach meiner langen Verbannung so vereint zu seyn mit allem, was mir am theuersten ist, seine Nähe zu empfinden – –« Ich fühlte mich plötzlich unendlich beklommen. Ich glaubte seit einiger Zeit hoffen zu dürfen, das Schicksal habe meine Erziehung durch Unglück beendigt und wolle sie nun durch friedliches Glück, so weit es Menschen vergönnt ist, vollenden. Daß ich mir nur in Vereinigung mit den Geliebten, die jetzt mich umgaben, Glück denken konnte, leugnete ich mir nicht; aber dieses Glück von Gott zu erbitten, hatte ich mir in jungfräulicher Zucht und kindlicher Ergebung immer versagt. Heinrichs Worte sagten deutlicher, wie je, was mich nicht mehr überraschen konnte; denn das freudenreiche Beisammenseyn [337] eines ganzen Winters hatte mir bewiesen, was ich jetzt in einem bestimmtern Sinn, mit der Ueberraschung der ersten Liebe vernahm. Unwillkürlich trat ich einen Schritt von Graham zurück, und sein ernst auf mich gehefteter Blick konnte mir meine Unbefangenheit nicht wiedergeben.

Den folgenden Tag kam ich von einem Gang in das Dorf zurück und wollte eben in das gemeinschaftliche Zimmer treten, als ich durch die angelehnte Thür Grahams Stimme in dem festen, bestimmten Ton hörte, wie er ihn nur bei Dingen, die seinem Herzen sehr nahe waren, zu gebrauchen pflegte. »Ist es so«, verstand ich jetzt deutlich, »so geh' ich morgen fort, und hier muß sich alles verändern.« – Fort? morgen fort? und ohne einen Gedanken an mich? oder dieses »verändern« drückte den vernichtendsten Gedanken aus. Halb entseelt wankte ich auf mein Zimmer zu; Charlotte begegnete mir auf [338] der Treppe – »heil'ger Gott, was ist Ihnen geschehen?« rief sie bei meinem Anblick. Ich eilte neben ihr vorbei und verschloß mich in mein Zimmer. Ich war nicht mehr das ungestüme, seine Wünsche ertrotzende Geschöpf, ich wollte aufrichtig, was Gott wolle, ertragen; aber in diesem Augenblick vermochte ich nichts, als mir zu gebieten: »ruhig, armes Herz!« – und nichts zu beschließen, so lange es das nicht war. Doch Charlotten, die so flehend um Einlaß bat, mußte ich die Thür öffnen, ich mußte zum Thee herabgehen, und wie sie alle so zutraulich mir anriethen, zur Erleichterung des von mir vorgeschützten Kopfschmerzens ins Freie zu gehen, mußte ich Graham und Charlotte an das Seeufer begleiten. Heinrich bot mir seinen Arm, ich mußte ihn wohl annehmen, aber fern von ihm ging ich und stützte mich nicht. Er fragte so theilnehmend nach meinem Befinden, er sprach so zärtlich, achtungsvoll mit mir, daß meine – Angst mehr, als [339] meine Zurückhaltung – wich, und ich zwar mit Herzklopfen, aber ohne thörichte Heftigkeit vernahm, daß Charlotte uns anwies, unsern Weg allein fortzusetzen, weil sie in einer benachbarten Hütte einen Krankenbesuch abzulegen gedenke. Er führte mich auf ein kleines schattiges Thal zu; ich versuchte anfangs mit Lebhaftigkeit zu schwatzen, aber es gelang mir nicht; halb beschämt, daß ich versucht hatte unwahr zu seyn, versank ich in ein Stillschweigen, das Graham nicht störte; nur hie und da theilten wir uns eine Bemerkung mit, die gleichgültige Vorgänge betraf. In einem Augenblick, wo ich mich zufällig umsah, fiel mir die Schönheit der Aussicht auf, die uns jetzt am Ausgang des kleinen Thals durch ein paar Felsabhänge den See im Sonnenglanz zeigte. »O, weilen wir hier und blicken zurück!« rief ich, meinen Begleiter aufhaltend. »Ja«, antwortete Graham mit einem leichten Lächeln, »weilen wir hier und [340] blicken einen Augenblick rückwärts! vielleicht für lange, lange Zeit zum letzten Mal! Kommen Sie, Miß Percy, lassen Sie mir den lieben Arm! lehnen Sie sich auf mich, wie sonst! lassen Sie mich glücklich seyn, so lange ich darf!« – Er schwieg, aber mein Mund war verstummt; ich hätte kein Wort über meine Lippen bringen können. – Graham begann von neuem: »Dieser Abend, diese Stunde vielleicht kann diese reiche, herrliche Natur für mich in ewige Trauer kleiden, oder ihre Schönheit über allen Wechsel erheben. Ehe wir heute scheiden, Ellen, muß ich endlich erfahren, ob es meinem Leben nie verliehen seyn soll, Pflicht und Glückseligkeit zu verbinden. Sie wissen, Ellen, wie lange – Sie begreifen aber nicht, wie zärtlich ich Sie geliebt habe. Der Mann wird Herr seiner Gefühle, aber diese Herrschaft kostet ihm dennoch sein Glück. Wenn ich Sie nun so innig liebte, wie Irrthum Sie entstellte, wie Gleichgültigkeit [341] und Uebermuth mich von Ihnen zurückwies, was muß ich jetzt empfinden, da Sie alles in sich vereinen, was den Mann im Weibe entzücken muß! Mich jetzt von Ihnen trennen – jetzt, Ellen, da hier jeder Gegenstand Sie mir zurückruft! – O Ellen, dazu verurtheilen Sie mich nicht! Kann meine Liebe dich gewinnen, kann meine Beständigkeit dir Zutrauen geben, kann dein unschuldiges Herz sich mit dem Glück befriedigen, das ich dir hier biete, kann eines greisen Vaters Segen – Der starke Mann wollte vor der Geliebten nicht in Thränen ausbrechen, darum schwieg er mit zitternden Lippen. – Ich fand aber jetzt Kraft, wahr zu seyn, und Worte, es zu äußern; »Heinrich«, sprach ich, »sagen Sie mir, was Sie wünschen! deuten Sie mir an, was Sie glücklich macht! ich darf es Ihnen versprechen.« – Das sprach ich, glaub' ich, wenigstens verstand er mich recht. Er verstand, daß ich nicht mehr das thöricht herzlose Geschöpf war, das der Beifall [342] eines Gecken über die Verdienste eines edeln Mannes verblendete, nicht das gedankenlose Wesen, dessen Wünsche und Bestrebungen sich um die flüchtigsten Täuschungen des Augenblicks drängten. Er erkannte das kindlich dankbare Herz, das vom Schicksal erzogen, ertragen, lieben und genießen gelernt hatte. Ellen war nun würdig, an seiner Hand in ein beßres Daseyn zu pilgern, war fähig, die Blumen des Weges zu pflücken, dessen Stürme zu bestehen.

Ich bin nun schon manches Jahr ein glückliches Weib; und nie seit dieser Zeit habe ich Schloß Eredine verlassen, noch es zu verlassen gewünscht. Graham ist noch immer gewissermaßen mein Liebhaber, und wenn mir gleich von Ellen Percys Muthwillen immer noch ein kleiner Anstrich blieb, gestehe ich doch mit stolzklopfendem Herzen, daß er mir theurer ist, wie je, und ich stolzer, wie je, auf den Mann blicke, den Alle verehren, und der mich als die geliebte Mutter seiner Kinder begrüßt.

[343] Noch immer leben wir unter den Augen unsers ehrwürdigen Vaters, noch immer theilt unsre Charlotte seine Liebe und unser Glück Wir sehen Wechsel in diesem seligen Leben voraus, allein wir kennen ein noch seligeres – und diesem gehen wir mit der Zuversicht entgegen, wie wir im Schimmer der Abendröthe, der Sonne nachblickend, freudig denken: bis morgen! – und ihres schöneren Aufgehens gewiß sind.

Fußnoten

1 Aus Youngs Nachtgedanken.

2 Der Gaelische Ausdruck heißt: Du lieber Hund.

3 Noch vor wenigen Jahren wurden die Begräbnißfeierlichkeiten in den Hochlanden mit Tänzen beschlossen.

4 Ellen Percy hatte für Juliens Lage eine Ansicht, die wir, unsrer Ansicht der Ehe gemäß, nicht theilen können. Sie hielt Julie für Glendowers gesetzliche Gattin und das Kind für seinen rechtmäßigen Erben, wie späterhin die Gesetze dasselbe auch zu seyn erklärten.

5 Schottische Redensart.

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TextGrid Repository (2012). Huber, Therese. Romane. Ellen Percy. Ellen Percy. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-84E0-6