Vorbemerkung von Herman Grimm

Jacob und Wilhelm Grimm wollten die Deutschen Sagen nicht als »Lesebuch« angesehen wissen. So hat man das Buch bis heute auch nicht betrachtet. Von seinem Erscheinen bis zum Tode der Brüder verflossen beinahe fünfzig Jahre. Der dann, 1865, herauskommende neue Abdruck brauchte wieder ein Vierteljahrhundert, um erschöpft zu werden. Der jetzt erscheinende wendet sich an ein neues Publikum, vielleicht zum ersten Male an dasjenige, welches die Brüder 1816 im stillen erhofften. Mein Wunsch wäre, daß das Buch überall vom deutschen Volke gelesen würde und daß es besonders den amerikanischen Deutschen unsere Sagenwelt erschlösse.

Ich habe, um die Sagen mehr als Lesebuch dem Volke darzubieten, die unter den Titeln der einzelnen Sagen stehenden Quellenverweise (welche in der Ausgabe von 1865 an ihrer Stelle noch festgehalten worden waren) in das Inhaltsverzeichnis gebracht und den größten Teil dessen, was das gemeinschaftliche Handexemplar der Brüder an Zusätzen zu den Quellenangaben enthält, in genauem Anschlusse an das Manuskript, in eckigen Klammern hinzugegeben. Die dem Texte der Sagen zugefügten, meist geringen Einschiebsel sind dagegen wie 1865 ohne weiteres aufgenommen worden. Die durch beide Teile fortlaufende Zählung ist 1865 bereits insofern verändert worden, als die hinzugekommenen sowie die in der ersten Auflage nachträglich gegebenen Stücke in die allgemeine Zahlenfolge hineingezogen wurden.

Die Eintragungen rühren meist von Jacobs Hand her und fallen dem Hauptbestande nach in frühe Zeiten. Die Deutschen Sagen erschienen noch in den Jahren, wo die Brüder durchaus [25] gemeinschaftlich arbeiteten, so daß sich der jedem von beiden zugehörige Anteil ihrer damaligen Publikationen wohl den Gedanken, weniger aber dem Materiale nach erkennen läßt. Hätten sie das Buch später umgearbeitet, was sie wohl kaum ernsthaft beabsichtigten, so würde es vielleicht von Wilhelm allein übernommen worden sein, wie dieser allein denn ja auch die weiteren Ausgaben der Märchen besorgte.

Die Brüder haben sich mit ihren Büchern früh nach Berlin gewandt. Die Märchen erschienen dort in den ersten Auflagen. So auch die Deutschen Sagen von Anfang an bei Nicolai. Der erste Band 1816 (»fertig im Druck Anfang Mai« findet sich von Jacobs Hand auf dem Titel bemerkt), der zweite 1818. Der erste Band trägt auf dem Titel nicht diese Bezeichnung, doch spricht die Vorrede aus, daß die Brüder ihn nur als einen Anfang betrachteten. Jacob war 1815, als Wilhelm in Kassel den Druck des ersten Bandes besorgte, in Paris, wo er Ausgaben des Gregor von Tours und anderer Autoren seiner Art kaufte. Ergriffen von ihrem Inhalte, faßte er sofort den Gedanken ihrer Aufnahme in den neuen Teil der Sagen. Der in der Vorrede zum zweiten Bande aber in Aussicht gestellte dritte Teil, welcher die kritische Verarbeitung des gesamten Stoffes bringen sollte (wie der dritte Teil der Märchen), ist nicht erschienen.

Was dem Buche heute noch eine besondere Stellung gibt, ist die Art der Erzählung. Niemand hat vaterländische Dinge episch zu berichten gewußt wie Jacob und Wilhelm Grimm. Jeder von beiden erzählt in seiner Weise anders. Das Vollkommenste, was Jacob in dieser Richtung geschrieben hat, ist sein Inhaltsbericht des Walthariusliedes, während Wilhelm den Märchen ihren eigentümlichen Ton verlieh. Beider Tonart, so verschieden sie beim engeren Vergleiche erscheinen, ergänzen sich wie das Getön zweier Glocken, die ineinanderklingen. Die Deutschen Sagen werden in die Jahrhunderte hinein fortleben, wie Jacob und Wilhelm Grimm ihnen Sprache gegeben haben.

Ich schließe mit der Wiedergabe der Worte, unter deren Begleitung die Nicolaische Buchhandlung im Mai 1816 das Buch anzeigte:

[26] »Wie das Kind seine ihm eigene Welt der Märchen hat, an die es glaubt und in deren Wunderkreis auch der Erwachsene mit Sehnsucht sich zurückdenkt, so hat das Volk seine eigentümliche Welt der Sagen, die ihm mit dem Zusammenleben in der Heimat gegeben ist und an der es mit inniger Liebe hängt. Diese ehrwürdigen und lieblichen Töne aus einem frühern echt volkstümlichen Leben reden wie freundliche Begleiter zu uns, wohin wir im deutschen Lande unsern Wanderstab setzen. In dieser von den Gebrüdern Grimm veranstalteten Sammlung ist ihre vereinzelte Menge zusammengestellt. Gegen vierhundert Sagen von Zwergen, Riesen, Berggeistern, Kobolden, Nixen, Hexen, Elfen, Prinzen, vom Alp, vom Drachen, vom Werwolf, von versunkenen Schlössern und so weiter sind hier aufs anmutigste erzählt.

Dreierlei zeichnet diese Sammlung vor allen übrigen aus. Erstlich Treue und Wahrheit der Erzählung, wie sie in der Heimat erzählt wird, selbst in Ton und Wort. Zweitens große Mannigfaltigkeit. Drittens genaue Angabe der Quellen, woher sie geflossen, und der Orte, wo sie einheimisch sind. Kein anderes Buch kann so frisch und lebendig die Angst und Warnung vor dem Bösen wie die innigste Freude an dem Guten und Schönen wecken und nähren wie dieses; kein anderes kann zugleich so in das innigste Geheimnis des volkstümlichen Lebens und Webens einführen, und vielen mag dadurch das teure deutsche Land noch lieber werden.«

Diese gleichzeitige Würdigung des Buches zeigt den freudigen Geist der Tage, in welchen es erschien. Die dann folgenden Jahre, mit der Verdächtigung des Gefühls, dem Deutschland doch seine Befreiung verdankte, waren noch nicht angebrochen. Unter dem Eindrucke der in Frankreich erfochtenen Siege ward 1816 an eine beginnende Ära der geistigen und politischen Größe des Vaterlandes geglaubt, deren Erscheinung zu verhindern allerdings die ganze damalige Welt – man kann wohl so sagen – verbündet war.

Die Zeiten des nun folgenden nationalen Niederganges wären unmöglich gewesen, hätten deutsches geschichtliches Dasein und deutsches Gedankenleben damals schon zur Grundlage unserer Volkserziehung gemacht werden können.

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TextGrid Repository (2012). Grimm, Jacob und Wilhelm. Sagen. Deutsche Sagen. Vorbemerkung von Herman Grimm. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-07A8-4