[168] VII. Kleinere Märchen, Fabeln und Parabeln.

[169] [171]1. Die Elefanten und die Hasen.

Es war einmahl eine große Dürrung im Lande, daß schier alle Brunnen austrockneten und alle Quellen versiegten. Da litten alle Thiere Mangel, besonders die Elefanten. Und sie sagten zu ihrem Könige, sie wollten andre Weide und Wasser suchen. Das war der König zufrieden; und sie wählten ein Paar von sich aus, daß sie Wasser und gute Weide suchen sollten. Und sie gingen aus, und fanden einen Ort, da war ein Brunnen, der hieß Brunnen des Monds, darum, weil er von allen Thieren für einen Lieblingsort des Mondes gehalten ward, [171] und weil der Mond sich besonders klar und schön darin spiegelte.

Als nun die Kundschafter heim kamen, sagten sie zu dem Könige und den übrigen Elefanten: »Kommt, folget uns, wir haben einen Ort funden, da ist ein Brunnen, der heißt Brunnen des Monds, und sein Wasser ist besonders frisch und wohlschmeckend.«

Und der Elefantenkönig folgte ihnen, und sie zogen alle zu dem Brunnen des Mondes. Als sie aber dahin kamen, wohnten da die Hasen mit ihrem König; und wo die Elefanten gingen, traten sie mit ihren schweren Füssen die Höhlen der Hasen zusammen, und traten auch viel Hasen todt. Da liefen die Hasen zu ihrem Könige, und klagtens ihm, und begehrten von ihm, er solle das Unglück abwenden.

Und der Hasenkönig berief alle seine Räthe zusammen, und sprach: »Ich gestehe, daß ich nicht die Weisheit habe, mein Reich zu schützen gegen diese großen Feinde. Rathet ihr mir, so gut ihr könnt. Sollen wir [172] weg ziehen, aus diesem schönen Lande? Das wäre doch auch Schade! Sollen wir förmlich Krieg anfangen mit den starken Elefanten? Was vermögen wir gegen sie?«

Da sprach einer der Räthe, des Hasenkönigs: »Nicht also, mein König, laß uns nicht verzagen. Freylich vermögen wir nichts gegen sie im Kriege; aber laß uns List brauchen, vielleicht bringen wir sie dann wieder aus dem Lande. Herr, wenn du mich zum Elefantenkönig schickest, so will ich das Unheil wenden. Damit du aber erfährst, was ich dort verhandle, so schicke einen von deinen getreuesten Dienern mit.«

Da antwortet' ihm der König: »Ich habe keinen Argwohn auf dich, darum gehe hin zum König der Elefanten, und sage ihm, was dir gut dünkt.« Und er machte sich auf in einer Nacht, da der Mond in vollem Schein stand, und ging hin zum Brunnen des Monds, und rief dem König der Elefanten, und stellte sich auf einen Hügel, und Sprach zu ihm: »Der Mond schickt mich zu [173] dir. Rechne mirs nicht zu, was ich dir sagen werde. Denn ich muß thun, was mir mein Herr gebeut.«

Da sprach der König der Elefanten: »Wie die Sonne die Königinn des Tages und aller Könige Königinn ist, so ist der Mond, der König der Nacht und aller Könige König. Darum sprich, was mir der Mond gebeut?« Und der Hase sagte: »Der Mond läßt dir sagen, du begnügest dich nicht damit, zu seyn der König der Elefanten, du seyst auch gekommen zum Brunnen des Mondes, wo die Hasen wohnen, und habest ihrer viele zertreten, ihre Wohnungen zerstört, und ihr Futter gefressen; ja, du habest sogar gewagt, das Wasser in dem Brunnen des Mondes mit euern Rüsseln trübe zu machen. Nun gebeut er dir, daß du solches nicht mehr thuest, sonst will er euch die Augen trübe machen und euch verjagen. Darum hat mich der Mond zu dir geschickt, daß ich dir dieses sage. Und wenn du nicht glaubst, so gehe jetzt mit mir zum Brunnen [174] des Monds, da wirst du selbst seinen Unwillen merken.«

Als der Elefantenkönig das hörte, erschrack er, und ging mit dem Hasen. Und als er in das Wasser sah, so sah er darin das Bild des Mondes abgespiegelt. Da sagte der Hase: »Strecke einmahl deinen Rüssel hinein, so wirst du merken den Unwillen des Mondes.« Und der Elefantenkönig streckte den Rüssel hinein, und wie er das Wasser berührte, so erzitterte es und des Mondes Bild zitterte zugleich auf den bewegten Wellen. Darüber erschrack er und fragte: »Warum zürnet der Mond? Weil ich mit meinem Rüssel das Wasser berührte?«

»Du sagst wahr!« antwortete der Hase. Da bekam der Elefantenkönig noch größern Schrecken, und sprach: »Herr Mond, ich will nicht mehr gegen dich sündigen, und will mit den Meinigen von hinnen ziehen.« Und so räumte er das Land der Hasen.

[175] Aber die Hasen freuten sich darüber, und rühmten den König; denn er hatte doch auf klugen Rath geachtet, wenn er gleich selbst sie nicht retten konnte.

[176] 2. Der Affe.

Ein Mann war hinaus gegangen in den Wald, und spaltete da einen ungeheuer langen Baum der Länge nach in Scheiter. Da bekam er Durst und ging weg an eine Quelle des Waldes, zu trinken, und die Axt ließ er zurück bey dem Baume.

Aber ein Affe hatte ihm zugesehen von einem Baume herab; und als der Mann weg war, stieg er herunter, und wollt es ihm nachmachen. Und er setzte sich auf den Baum, und führte etliche Streiche darauf, daß das Holz einen großen Spalt bekam. Aber sein Schwanz gerieth ihm in den Spalt, und als er die Axt heraus zog, klemmte [177] sich das Holz wieder zusammen, und hielt ihn so an seinem Schwanze gefangen.

Da schrie er laut vor großen Schmerzen, und der Mann sah ihn, und rief seine Freunde, daß sie kamen, und ihn gefangen nahmen.

So kam der Affe durch seinen Vorwitz um seine Freyheit.

[178] 3. Sokrates.

Sokrates, der Weise Griechenlands, hatte muthig gekämpft gegen die Feinde, und seine Landsleute freuten sich deß, und wollten ihm die Krone der Tapferkeit aufsetzen. Er wich aber aus, und weigerte sich, dieselbe anzunehmen. »Gebt diese Krone dem jungen Alkibiades,« sprach er, »der auch unter den Tapfersten gestritten.« Und man gab dem jungen Alkibiades die Krone.


»Warum nahmst du aber die Ehrenkrone nicht an?« (warfen ihm seine Freunde vor) »da du sie doch verdientest?«

[179] Sokrates aber setzte sich in die Mitte seiner Freunde und Kriegsgenossen, und belehrte sie durch ein Gleichniß:

Am Tage der Schöpfung wurde von dem schaffenden Geiste ein alter stämmiger Eichbaum gepflanzt und ein zärterer junger; und der Gott versprach, am Abende den von beyden zu tränken, der den Tag über am frischesten grüne. Und die Bäume standen in den Gluthen der neugeschaffenen Sonne, und freuten sich ihres Pflanzenlebens, und grünten die Zeit des Tages über mit glänzendem Laube, der alte Eichbaum, wie die junge Eiche. Aber gegen den Abend war die junge Eiche beynahe ermattet, denn ihre Wurzeln waren noch nicht so tief gedrungen, und die Oberfläche der Erde war ausgetrocknet von dem Sonnenschein, daß sie fürder nicht mehr Nahrung daraus saugen konnte.

Aber die Sonne tauchte hinter die blauen Berge, und es ward Abend; und der Gott sandte den Pflanzenengel mit einer krystallenen [180] Urne, voll erfrischenden Thaues. Und der Engel goß ihn über den stämmigen Eichbaum aus, denn in seinem Grün war ein kräftigeres Leben den Tag über. Darum tränkte ihn der Engel.

Aber der Eichbaum schüttelte sein Haupt und goß den Thau auf die nachbarliche junge Eiche hin, und erfrischte sie, daß sie den folgenden Tag wieder von neuem frisch grünte, wie den ersten Tag. Aber auch der alte Eichbaum stand da im vollen kräftigen Blätterschmucke, am zweyten Tag, wie am ersten Tag.

Er hatte der Erfrischung nicht bedürft, denn seine Wurzeln waren schon tief gedrungen in den Schoos der Erde; die junge Eiche aber hatte der Erfrischung bedürft, um den Grund zu fassen. Darum hatte der alte Eichbaum gerne seinen Thau auf die junge Eiche herabgeschüttelt.

[181] 4. Das Wasserhuhn.

Das Wasserhuhn. (Albert Ludewig Grimm: Kindermährchen)

Eine Taube hatte ihr Nest auf einen hohen Baum gemacht, und brütete daselbst ihre Eyer aus. Sobald die Jungen aber flügge waren, kam immer ein Fuchs und drohte ihr, er werde hinauf kommen und sie mit den Jungen aufzehren, wenn sie ihm dieselben nicht gutwillig gäbe. So brachte er sie immer dahin, daß sie ihm ihre Jungen selbst herab warf, damit nur sie selbst sicher seyn könnte.

Einst saß sie auf ihrem Neste, und brütete traurig auf ihren Eyern. Da kam ein Wasserhuhn, welches im nahen Schilfe sein Nest hatte, und sich von dem Samen der [182] Wasserpflanzen und allerley Gewürm nährte. Dieses fragte die Taube, warum sie so traurig wäre, da sie doch ihre Jungen bey sich habe.

»Ach!« antwortete die Taube, »was können mich meine Jungen freuen? Sobald ich sie ausgebrütet habe, kommt ja immer der Fuchs, und droht mir, bis ich sie ihm hinabwerfe.«

Da sprach das Wasserhuhn: »Kennst du den betrügerischen Fuchs noch nicht? Laß ihn nur drohen so viel er will, und behalte deine Jungen. Denn er kann doch sicher nicht auf deinen hohen Baum zu deinem Neste. Laß dich nur nicht von ihm schrecken.«

Das merkte sich die Taube, und als der Fuchs kam, und ihr wieder ihre Jungen abdrohen wollte, sagte sie ganz gelassen: »Ja ja, wenn du Lust hast, mich mit meinen Jungen zu fressen, so komm' nur herauf!« Und so höhnte sie ihn lange. Endlich fragte er sie, wer ihr gerathen habe, es so zu machen. Die Taube sagte es ihm, und zeigte ihm [183] auch die Wohnung des Wasserhuhns, das er gleich aufsuchte, und ein Gespräch mit ihm begann. »Ey!« fragte er, »du bist hier ja dem Winde und Wetter ausgesetzt. Wie machst du es denn, wenn der Wind geht?«

»Wenn der Wind geht?« sagte das Wasserhuhn. »Ey kommt er von der rechten Seite, so wende ich mein Haupt gegen die linke, kommt er von der linken, so wende ich es gegen die rechte Seite.«

»Das ist wohl gut,« sagte der Fuchs, »aber wie machst du's, wenn es von allen Seiten her stürmt?«

»O, auch dann hat's keine Noth,« antwortete das Wasserhuhn, »dann stecke ich meinen Kopf unter den Flügel.«

Da hob der Fuchs an: »O selig seyd ihr Vögel vor allen andern Geschöpfen! ihr flieget zwischen Himmel und Erde, und das so schnell, wie andre Geschöpfe unmöglich laufen können. Und dazu habt ihr noch die Gnade, daß ihr euere Häupter zur Zeit des Sturmes unter den Fittigen verbergen könnt. [184] Das dünkt mir aber beynahe unmöglich. Wie kannst du denn deinen Hals so herum beugen? Wie machst du das wohl? Zeige mir das doch einmahl.«

Das Wasserhuhn wollte es jetzt dem Fuchse zeigen, und steckte seinen Kopf unter den Flügel. Diesen Augenblick hatte der Fuchs erwartet. Er erhaschte jetzt den unvorsichtigen Vogel, und verzehrte ihn, indem er sagte: »Andern hast du rathen können, dir selbst aber nicht!«

[185] 5. Der Fuchs und der Hahn.

In einer kalten Winternacht war ein hungeriger Fuchs nach Speise ausgegangen, und hörte einen Hahn krähen auf einem Baume bey einem Mayerhofe. Da dachte er den mit List zu fahen, denn auf den Baum getrauete er sich nicht zu steigen. Und er stellte sich unter den Baum und fragte: »Ey Hahn, wie magst du so schön singen in dieser kalten Winternacht?«

»Ich verkünde den Tag,« antwortete der Hahn.

»Was, den Tag?« fragte der Fuchs verwundert, »es ist ja noch ganz finstre Nacht!«

[186] »Ey,« erwiederte der Hahn, »weißt du denn nicht, daß wir Hahnen eine ganz besondere Natur haben. Wir fühlen es schon zum voraus, wenn der Tag nahe ist, und verkünden seine Nähe dann.«

»Das ist gar etwas Göttliches,« rief der Fuchs, »das können nur Propheten! O Hahn, wie muß ich dich bewundern und deinen Gesang.«

Nun krähete der Hahn zum andernmahl. Da fing der Fuchs an zu tanzen.

Und der Hahn fragte ihn: »Warum tanzest du denn?«

Der Fuchs antwortete: »Du singst ein fröhliches Lied, und ich tanze vor Freude; man soll sich ja freuen mit den Fröhlichen. O Hahn du bist der Fürst der Vögel! du fliegst durch die Lüfte; du singst so schön, wie kein Vogel ausser dir; du sagst gar künftige Dinge voraus; und ich sollte mich nicht freuen, daß ich einen so weisen Propheten habe kennen lernen? Wär' ich nur würdig immer um dich zu seyn. [187] Du königlicher Vogel, du weiser Prophet! Komm doch herunter, daß ich dich nur einmahl küsse; daß ich mich bey meinen Freunden rühmen kann, ich habe das Haupt eines Propheten geküßt!«

Und dem Hahne gefiel dieß Lob so wohl, daß er sogleich vom Baum herab flog, und dem Schmeichler, dem Fuchse, sein Haupt darbot.

Aber der Fuchs faßte ihn mit seinen Pfoten, und rief spottend: »Nein, nein, du bist kein weiser Prophet. Ich sehe, daß du nicht voraus sehen kanst, sonst hättest du auch gemerkt, daß ich dich nicht küssen wollte. Aber ich habe dich dennoch gar lieb.«

Und damit biß er ihm den Kopf vom Rumpfe und speißte ihn.

[188] 6. Die Goldfischlein.

Es wohnten drey Goldfischlein mit ihrer Mutter in einem steinigen Wasser; die Sträucher beugten sich drüber her und das Plätzchen war immer düster und kühl. Aber weiter unten glänzte die Sonne golden auf die Spiegelfläche des Baches. Und eines Tages sprachen die Fischlein zu ihrer Mutter: »Ey Mutter! warum bleiben wir denn immer hier und gehen nie dort hinunter, wo die Sonne so schön abglänzt auf dem Wasser? Vielleicht ist dort unten schöner sandiger Boden. Warum müssen wir uns immer hier unter den Steinen verborgen halten, wo die Sonne nie her scheint? Dort unten muß ja so schön seyn!«

[189] Da antwortete die Mutter der Goldfischlein: »Es ist nicht alles, wie es scheint. Jener Platz dort unten scheint lustig und gut; man kann sich hübsch sonnen auf den kleinen Wellen, und auf dem Grunde findet sich manches gute Würmlein. Aber unter dem ausgehöhleten Uferrande wohnt ein grosser gefrässiger Fisch, vor dem kein kleinerer Fisch sicher ist. Darum gehen wir nicht hinunter an den schönen sonnigen Platz.«

Eines Tages ging aber die Mutter der Fischlein aus, um Speise zu suchen. Aber beym Fortgehen warnte sie noch die Fischlein, und sprach: »Gehe mir ja keines hervor aus unsern Steinen, ehe ich wieder bey euch bin, daß ihr nicht Schaden nehmet.«

Und die Fischlein versprachens, recht folgsam zu seyn, und gar nicht hervor zu gucken.

Da die Mutter aber fort war, und eine Weile ausblieb, sprach das älteste der Fischlein: »Mütterchen bleibt so gar lange, und wir sollen immer da unten sitzen, hinter den schlammigen Steinen. Was thuts denn, [190] wenn wir ein bißchen höher in's Wasser steigen? bey uns ist ja kein gefrässiger Fisch, vor dem wir uns zu fürchten hätten.«

Aber die andern wollten nicht, und sprachen: »Was würde die Mutter sagen, wenn sie käme und uns oben anträfe?« »Ey,« sprach das Fischlein dagegen, »Mutter ist weg. Mütterchen sieht's nicht; und wenn sie kommt, so stecken wir uns wieder hinter unsre Steine, ehe sie es gewahr wird, daß wir oben waren.« Und mit diesen Worten tauchte es hervor und schwamm auf der Fläche; und es war ihm wohl, und rief seinem jüngern Bruder und seinem Schwesterchen. Da stieg das Brüderchen auch aufwärts auf die Oberfläche des Wassers; und sie spielten munter auf den krausen Wellchen. Das Schwesterchen der Goldfischlein aber war folgsam, und blieb unten hinter den Steinen versteckt.

Wie aber die beyden Brüderchen so spielten, sahe das jüngste hinab, auf dem Strome, wo die Sonne sich spiegelte in dem Wasser; [191] und sagte zu seinem ältern Brüderchen: »Sieh wie sich dort unten die Sonne so schön spiegelt!« Und das ältere Goldfischlein sprach: »Jetzt ist's doch eins; wir haben jetzt doch der Mutter Gebot übertreten, und sind hervor gegangen aus unsrer Wohnung, laß uns lieber auch noch dort hinab gehen, nur einen Augenblick! Der grosse Fisch wird uns nicht gerade sehen.«

Aber das jüngere Fischlein wollte nicht, und das andere schwamm allein hinab und spielte auf den goldschimmernden Wellen. Da schoß der grosse gefrässige Fisch, ein Hecht, hervor, und verschluckte es.

Als nun die Mutter nach Hause kam und ihr grösseres Söhnlein nicht antraf, ward sie betrübt und weinte um es, und gebot nochmahls den beyden andern Goldfischchen, ja nicht hervor zu gehen aus ihrer Steinhöhle.

Da sie aber einst wieder ausging, dachte das Goldfischlein, welches schon einmahl mit dem andern auf der Oberfläche des Wassers war, es wolle sich wieder das Vergnügen [192] machen, und auf den Wellen herum spielen. Da sprach es zu seinem Schwesterchen: »Komm', steig' mit mir auf die Höhe des Wassers, und laß uns da herum schwimmen und spielen.«

Aber das Schwesterchen sagte: »Denkst du nicht mehr daran, wie der Hecht unser anderes Brüderchen gefressen hat, daß es nicht mehr heim kam?« Das Brüderchen antwortete: »Ey wir gehen nicht gerade hinunter wo der gräßliche Fresser wohnt; wir bleiben hier oben:« »Nein,« versetzte das andere Goldfischlein, »ich gehe nicht. Wenn auch der gefrässige Fisch nicht da wohnt, so hat es doch unsere Mutter verboten.«

Das Brüderchen aber hörte nicht, und stieg hinauf auf die Fläche des Wassers und spielte herum; und indem es spielte, ward es ein gutes Würmlein gewahr, das im Wasser schwebte; und es schnappte darnach und verschluckte es zusamt der Angel, an die es der listige Fischer gesteckt hatte. Und es wollte sich wieder los machen, aber der [193] Fischer, der in dem Gebüsche stand, merkt' es, daß er etwas gefangen habe, zog seine Angel heraus und nahm das Goldfischlein zu den andern, die er gefangen hatte.

Als aber die Mutter wieder nach Hause kam, sah sie von ferne schon den Fischer und fürchtete gleich, er möchte eines ihrer Kleinen gefangen haben, und tauchte unter und vernahm mit Trauern von dem übrig gebliebenen Goldfischlein, wie das Brüderchen hinauf geschwommen sey auf die Oberfläche des Wassers.

Aber ihr einziges Kindlein liebte sie nun dreyfach so sehr, als sie es vorher geliebt hatte. Und sie zog mit ihm das Bächlein weiter hinauf, wo auch die Sonne hinein strahlte, und pflegte es mit doppelter Sorgfalt, weil sie wußte, daß es folgsam war, und die Sorge und Pflege schon in der Jugend durch Achtsamkeit und Gehorsam gegen seine Mutter belohnte.

[194] 7. Der Affe und die Schildkröte.

Die Affen hatten einst einen König. Weil er aber alt und schwach wurde, jagten sie ihn aus ihrem Lande, und wählten sich einen andern. Der vertriebene König lief dahin und dorthin, bis er endlich an das Gestade des Meeres kam, wo viele Feigenbäume und andre gute Fruchtbäume standen. Er sah sich um in der Gegend, und beschloß da zu wohnen, denn es waren keine wilden Thiere da, und was er brauchte, wuchs im Überflusse. Darum stieg er gleich auf einen Feigenbaum, und fraß von den Früchten desselben. Wie er aber so darauf herumkletterte, [195] fiel ihm einmahl eine Feige hinab, und eine Schildkröte schwamm herzu, und fraß sie. Da warf er noch etliche hinab, und die Schildkröte fraß sie alle auf, und rief ihm zu, und dankte ihm, und er sprach mit ihr, und so machten sie Freundschaft mit einander.

Der Affe warf der Schildkröte immer von seinen Früchten zu, und der Schildkröte gefiel das gute Leben so wohl, daß sie gar nicht mehr an ihr Haus und ihr klein Töchterchen dachte, das sie zu Hause gelassen hatte. Das Schildkrötentöchterchen aber ward ganz traurig, daß seine Mutter nicht mehr nach Hause kam, und klagte seine Noth einer andern Schildkröte, die in der Nähe wohnte.

»Sey nur ruhig,« sagte die Nachbarinn; »ich habe deine Mutter noch heute gesehen. Ich war von unserer Insel hinüber geschwommen an's feste Land, dort allerley Gewürm zu suchen, da sah ich sie freundlich reden mit einem Affen. Der Affe ist Schuld dran, daß sie dich so vergißt. Freylich, der Affe [196] könnte sie am Ende bereden, daß sie dich gar verließ, darum mußt du machen, daß er aus dem Wege geschafft wird?«

»Ja, wie kann ich das?« fragte die junge Schildkröte. Aber die Nachbarinn sagte: »Da laß mich nur machen,« und rieth ihr, sie solle nur eine Zeitlang wenig essen, und recht in der Sonnenhitze sich aufhalten, daß sie recht elend und abgezehrt aussehe, und solle sich nur recht krank stellen, wenn ihre Mutter käme; für's andre wolle sie dann schon sorgen. Das that die junge Schildkröte auch, und wie sie endlich ein Paar Tage darauf ihre Mutter auf dem Wasser herschwimmen sah, rief sie schnell der Nachbarinn, und legte sich in ihr Bette, das vom Schlamme des Meeres gemacht war, und stellte sich gar krank und matt.

Wie nun ihre Mutter herein kam, und ihr Töchterchen so elend und abgezehrt da liegen sah, erschrack sie nicht wenig. »Liebes Kind, was fehlt dir? was machst du?« so fragte sie, und weinte.

[197] »Ja« sagte die Nachbarinn, »eure Tochter ist sehr krank; es steht sehr gefahrlich mit ihr. Und das Schlimmste bey der Sache ist, daß nur ein Mittel ihr helfen kann, und das kann man nicht kriegen in unsrer Gegend.«

»Ach was ist das für ein Mittel?« fragte die Mutter, »Ich will ja gern alles anwenden es zu kriegen, und sollt ich selbst hundert Meilen darum reisen. Sagt doch, was ist das für ein Mittel?«

»Ja,« sagte die Nachbarinn wieder, »das könnt ihr nicht kriegen. Eure Tochter kann nur wieder gesund werden, wenn sie das Herz eines Affen frißt, sonst ist alle Hilfe vergeblich.«

Da lief die Schildkrötenmutter hinaus, einen Affen zu suchen, und ihn mit List zu besiegen. Aber sie suchte den ganzen Tag, und fand keinen. Da es nun gegen Abend ging, kam sie eine grosse Furcht an, sie möchte ihr liebes Töchterlein verlieren, und sie beschloß, lieber ihren guten Freund umzubringen. [198] Wie aber? Sie fühlte sich zu schwach. Darum besann sie sich auf eine List, und schwamm hin zu ihm.

»Ey, Freundinn wo bleibst du denn so lange?« rief ihr der Affenkönig entgegen.

»Die Wahrheit zu gestehen,« sagte sie, »ich schämte mich. Du hast mir schon so viele Freundschaft erwiesen, und ich dir gar nichts. Ich war deßhalb zu Hause, dort auf der Insel, und habe meiner Tochter aufgetragen, uns auf den Abend ein klein Gastmahl zuzurichten. Jetzt bin ich da, dich abzuhohlen.«

Der Affenkönig wollte im Anfange nicht mitgehen, wie ihm aber die Schildkröte von Melonen und solchen Früchten erzählte, die es auf ihrer Insel gebe, ließ er sich doch überreden. »Wie komme ich aber hinüber?« fragte er. »Ey« antwortete die Schildkröte? »du setzest dich auf meinen Rücken, und so bringe ich dich hinüber. Ich kann gut schwimmen, und auf meinem breiten Rücken ist Platz genug für dich.«

[199] Das gefiel ihm, er setzte sich auf den breiten hörnernen Rücken seiner Freundinn, und zog seine Füsse recht an sich, um nicht naß zu werden, und die Schildkröte segelte ab.

Wie sie aber unterwegs war, da bedachte sie erst recht, was sie thun wollte, und da fiel ihr erst ein, wie gottlos es sey, daß sie ihren treuen Freund, den Affen, so treuloser Weise ums Leben bringen wollte. Und wie sie so dachte, hielt sie im Schwimmen still.

Das gefiel dem Affenkönig nicht recht, und er fragte ganz ängstlich: »Was ist das? Warum hältst du inne? du wirst doch nichts Unrechtes im Sinn haben? Du bist mir schon den ganzen Abend so vorgekommen?« Aber die Schildkröte konnte es jetzt nicht länger über's Herz bringen, und gestand ihm ihre Arglist, und daß ihre Tochter krank wäre, und nur durch ein Affenherz wieder hergestellt werden könnte.

»Das ist eine fatale Arzney für dich!« dachte der Affenkönig. Was wollte er aber jetzt machen? Er war einmahl in ihrer Gewalt, [200] und fürchtete, sie möchte ihm doch ihre Tochter vorziehen. Da bedacht er sich schnell auf eine List, und sagte: »Was? ist es weiter nichts, als ein Affenherz? O, warum hast du mir das auch nicht früher gesagt? Dann hätte ich doch mein Herz mit mir nehmen können, um deiner Tochter zu helfen.«

»Ey« sagte die Schildkröte verwundert, »hast du denn dein Herz nicht bey dir?«

»Gott bewahre! nein!« antwortete der Affenkönig. »Das liegt wohlverwahrt dort am Lande in einem hohlen Feigenbaum.«

»Warum trägst du aber dein Herz nicht bey dir?« fragte die Schildkröte.

»Ja,« sagte der Affenkönig »weißt du denn das nicht? Siehe, wir Affen haben ein gar zänkisches und unverträgliches Herz. Darum ist es uns von Natur vergönnt, daß wir es heraus nehmen können, wenn wir mit guten Freunden zusammen seyn wollen. Darum habe ich es auch heute zu Hause gelassen, um in deinem Hause keinen Streit [201] anzufangen. – Aber höre, wenn dir daran gelegen ist, so komm, so hohlen wir's.«

Die thörigte Schildkröte glaubte alles, was er sagte, und erwiederte: »Ja, ja, das wollen wir!« und kehrte um, und setzte ihn wieder an's Land.

Der Affenkönig aber war froh, daß er der Gefahr entronnen war, und schwang sich fröhlich auf seinen Baum. Da er aber nicht mehr herunter kommen wollte, rief ihm die Schildkröte zu: »Nun, wo bleibst du so lange?«

Da lachte er sie aber brav aus, weil sie so dumm war, und ihm geglaubt hatte; und die Schildkröte schwamm traurig heim, und blieb wieder zu Hause. Da ward auch ihr Töchterchen wieder gesund ohne das Affenherz.

[202] 8. Luftschlösser.

In dem Lustwäldchen eines Königs wohnte ein armer gottesfürchtiger Mann, wie ein Einsiedler. Und der König schickte ihm alle Tage ein Brot und ein Fläschlein mit Honig: Das Brot aß er, aber den Honig sammelte er sich in einem irdenen Topfe, den er über seiner Bettstätte hängen hatte.

Nun kam grosse Theurung in den Honig. Und als er eines Morgens sein Bette aufschüttelte, und den Honigtopf hängen sah, da fiel ihm ein, daß der Honig so theuer sey, und er beschloß bey sich, seinen kleinen Vorrath zu verkaufen. »Ich löse dafür,« sprach er zu sich, wenigstens fünfzehn Gulden. Dafür kauf' ich mir etliche junge Schafe. »Die werfen mir des Jahrs etliche junge Lämmer, und in zehn Jahren [203] bekomme ich mehr, denn tausend Stücke Schafe. Davon verkaufe ich einen Theil, und kaufe mir etliche Kühe, kaufe mir dann Ochsen, und Äcker. Von den Kühen nehme ich Milch, von den Schafen Wolle. Die Ochsen nehme ich zum Feldbau, und ehe fünfzehn Jahre vorbey sind, hab' ich grosses Gut und Reichthum. Dann nehm' ich mir ein tugendsam Weib; Gott beschert mir dann einen schönen, gottesfürchtigen Sohn, der wird wachsen in Lehre und Weisheit. – Wird er aber nicht folgen und auf meine Vermahnung nicht hören, – – o! ich wollt' ihm über die Lenden schlagen mit meinem Stecken!« Indem nahm er seinen Stock, der neben seinem Bette stand, und wollte sich selber zeigen, wie er ihn schlagen würde, und schlug – und schlug – und traf seinen Honigtopf, daß er in Scherben herunterfuhr, und der Honig auf sein Bette träufelte.

So hatte er nichts mehr von seinen Anschlägen, als die Mühe, sein Bette wieder zu reinigen.

[204] 9. Der Schutzengel.

Im Gebirge lebte eine arme Wittwe, die von mancher Sorge für sich und ihren Knaben, Wilhelm, bedrängt ward. Aber der Knabe war ein guter fröhlicher Knabe, sah fröhlich in den Tag hinein, und wußte wenig von der Noth seiner Mutter, denn die Mutter trug ihr Leiden stille und mit Geduld.

Und als der Knabe eines Abends heim kam, lag seine Mutter krank auf dem Bette. Da ward sein heitres Auge trübe von Thränen, und er setzte sich zu ihr an ihr Bette, und faßte ihre Hand, und drückte sie an sein Herz, und weinte. Und er blieb [205] an ihrem Bette sitzen die ganze Nacht, und legte ihr oft ihr Kopfkissen zurecht, und hohlte ihr auch manchmahl einen Trunk frisch Wasser, daß sie sich ihre lechzenden Lippen labe.

Aber die Nacht verging, und als der Morgen kam, war die Mutter noch nicht gesund, und fing an bitterlich zu weinen. Und der Knabe fragte: »Mutter, warum weinst du?«

Da sprach die Mutter: »Sonst, als ich noch gesund war, konnte ich dir doch Morgens eine Suppe kochen; ich wollte gern die Schmerzen leiden und sterben, aber daß du darunter leiden mußt, das schmerzt mich am meisten.«

Da konnt' er sich nicht mehr halten, und lief hinaus, und kniete sich unter die Linde, die vor der Hausthüre stand, und die Thränen stürzten ihm aus den Augen, und er weinte sehr und rief: »Ach, wenn Mutter stirbt, dann bin ich ganz verlassen! Will ja gern sterben, wenn nur Mutter leben [206] bleibt und nicht mehr weint, denn Mutter ist so lieb und gut. Ach, Gott! Mutterchen ist krank, mach' doch Mutterchen wieder gesund.«

So betete das Kind. Da trat ihm ein feiner Knab' entgegen, mit blauen Augen und krausen Locken und goldglänzenden Flügeln. Und der fremde Knabe trug ein silbernes Körbchen, und rief ihm mit holdseliger Stimm' und sprach: »Komm, laß uns Beeren pflücken für deine kranke Mutter, sie wachsen gleich dort am Wäldchen.«

Und Wilhelm ging mit dem fremden Knaben hin zum nahen Wäldchen, und sie pflückten in kurzer Zeit das Körbchen ganz voll der schönsten reifen Erdbeeren, ob es schon noch nicht um die Erdbeerenzeit war; und der fremde Knabe ließ ihm das Körbchen mit allen Erdbeeren, und sprach: »Bringe diese Beeren deiner Mutter,« und verschwand.

Aber Wilhelm nahm das Körbchen und brachte es hinein, und seine Mutter verwunderte [207] sich über die schönen frühgereiften Beeren, und aß davon und genaß zur selben Stunde von ihrer Krankheit, und herzte ihren Knaben.

Aber der Knabe war fröhlich, daß seine Mutter genesen war, und hüpfte hinaus unter die Linde, und rief dem schönen Knaben, und dankete ihm mit Freudethränen. Und der feine Knabe kam, und ward Wilhelms Schutzengel, weil er sein gutes Herz erkannt hatte, und leitete ihm sein Schicksal.

Und als Wilhelm heranwuchs, ward er ein fleissiger Jüngling, und sein Fleiß wurde gesegnet, und er unterstützete seine Mutter in ihrem Alter, und dankete Gott, daß er's konnte.


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TextGrid Repository (2012). Grimm, Albert Ludewig. 7. Kleinere Märchen, Fabeln und Parabeln. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-FE67-E