[102] IV. Der zornige Löwe.
Eine Fabel.

Der zornige Löwe. (Albert Ludewig Grimm: Kindermährchen)

Es lebten viele und mancherley Thiere in einer grossen Wildniß beysammen, ruhig und friedlich. Es ließ sich aber auch eben daselbst ein grosser furchtbarer Löwe blicken, der die Ruhe störte. Denn er raubte sich täglich etliche der Thiere zur Speise. Sie lebten daher seinetwegen in beständiger Furcht, und man berathschlagte hin und her, wie man doch wohl den Löwen auf eine gute Art wegschaffen könnte.

Sie dachten her und dachten hin, und dachten hin und dachten her, die Furcht war groß, und die Hoffnung, die Gefahr abzuwenden, war klein. Sie liefen umher, so traurig und verscheucht. Der Esel senkte seine Ohren rückwärts, der Hase ging gar nicht mehr an's Tageslicht, der Hirsch hielt sich verborgen, das Reh floh, kurz, es war [103] [106]eine Verwirrung unter dem ganzen Thiergeschlechte, so, daß keines mehr seine vorige Fröhlichkeit hatte, seit man gemerkt, daß ein Löwe in der Nähe war.

Nur der schlaue Fuchs hatte nicht allen Muth verloren. Heimlich war er schon dem Löwen nachgeschlichen, und hatte seine Nahrung auskundschaftet; Tag und Nacht hatte er berathschlagt mit seinen Freunden, endlich war ihm ein Gedanke gekommen, den er gut ausführen zu können glaubte, und der sie alle von ihrer Furcht erretten konnte.

Er rief daher alle Thiere zusammen, trug ihnen vor, daß er ein Mittel wüßte, wie man den schrecklichen Löwen aus dem Wege schaffen könnte, und machte sich auch verbindlich, selbst den Plan auszuführen, wenn die stärkeren Thiere ihm versprächen, seiner in Zukunft immer zu schonen. Natürlich versprachen ihm alle Sicherheit; der Wolf und Hund versicherten ihn ihrer Freundschaft; und feyerlich versprach er dagegen, [106] sie, ehe zwey Mahl die Sonne sich neige, von ihrer Furcht vor dem Löwen zu befreyen.

Sogleich machte er sich auf den Weg nach der Löwenhöhle. Aber unterwegs nahm er einen grünen Zweig in's Maul, daß der Löwe glauben sollte, er käme als Abgesandter. Am Eingang in die Höhle blieb er stehen, neigte sich zitternd mit dem Kopf auf die Erde und sagte mit bebender Stimme; »Vor allem bitte ich dich, Herr Löwe, du wollest mich wenigstens nur so lange leben lassen, bis ich ausgeredet habe, und bis du meinen Antrag gehört hast. Hernach magst du über mich beschliessen, was dir beliebt, denn ich bin ja schon in deiner Gewalt.«

Eben hatte der Thierkönig sein Mittagsschläfchen gehalten, und lag noch auf seinem Lager von Moos und Erde. Neben hatte er noch eine schöne Hälfte von einem jungen Rehe liegen, das er heute erlegt hatte. Er war gerade bey guter Laune, deswegen wurde er durch des Fuchses Anrede begierig, [107] was er wohl vorzutragen habe, und nickte dem armen Schächer darum ganz gnädig zu, er solle nur reden.

Das machte dem Fuchse wieder Muth, er ging noch einen kleinen Schritt vorwärts und redete ihn schon mit mehr Muth an: »Ich bin von allen Thieren, die hier in der Gegend herum wohnen, zu dir gesandt. Ich soll dir sagen, wie wir alle deine Macht über uns anerkennen, dich zu unserm Könige wählen, und dich bitten, du mögest uns gegen andere mächtige Feinde vertheidigen und schützen. Du sollst unser König seyn. Zur Belohnung für deine Regierung sollst du auch in Zukunft keine Nahrungssorgen mehr haben. Wir wollen täglich einen von uns durch's Loos erwählen, den ich dir dann alle Morgen zur Speise bringen werde.«

Dieser Vorschlag gefiel dem Löwen sehr. Denn er kam jetzt in die Jahre, wo er die Ruhe liebte. Er war alt; auch seine Kraft hatte schon so abgenommen, daß er nicht mehr jagen und kämpfen konnte, wie ehemahls. [108] Er fürchtete auch gar nichts Arges von dem listigen Fuchs, und bezeigte ihm sein Wohlgefallen über seinen Vorschlag.

Gleich am andern Morgen machte sich der Fuchs mit dem Frühesten auf die Beine. In der Nähe der Löwenhöhle hielt' er sich verborgen. Als der Löwe nun aufwachte, und die Sonne schon hoch am Himmel stehen sah, ward er ungeduldig, daß seine Speise so lange ausblieb. Er richtete sich auf und brummte. Wie der Fuchs das hörte, lief er schnell hin, stellte sich, als käme er eben erst weit her gelaufen, und keuchend warf er sich vor dem Löwen nieder, und leckte ihm die Klauen.

»Wo bleibst du so lange?« fuhr ihn dieser zornig an; »Was verziehst du so lange, mir meine Speise zu bringen, die ihr mir doch freywillig zugesagt habt?«

»Ach! mein lieber Herr König,« antwortete der Fuchs, »meine Schuld ist es nicht. Bey guter Zeit ging ich diesen Morgen aus, um dir einen andern recht fetten [109] Fuchs zu bringen, den das Loos getroffen hatte. Aber unterwegs, – ich war noch ein gutes Stück von deiner Wohnung, da kam ein anderer Löwe, und fragte uns, wohin wir gingen. Ich sagte ihm, ich wolle dir, meinem Herrn, seine Speise bringen. Was? sagte er,dem? und ich bin doch euer König, kein andrer ausser mir. Mir gehört diese Speise. Ich will euch schon gegen den schützen! Und so nahm er mir denn deine Speise weg. Ach, es that mir gar leid; es war wohl der fetteste von meinen Brüdern, den ich Niemand gegönnt hätte, als dir.«

Der Löwe war aber ein gar zorniger Löwe, und kaum hatte er sich in seinem Zorne ruhig halten können. Er sprang wild von seinem Lager auf, und brüllte, und fragte hastig, ob er denn wisse, wo der andre Löwe wohne.

»O ja!« antwortete der listige Fuchs, »folge mir nur nach, ich will dich zu seiner Höhle führen.« Er ging voraus, und [110] mit zusammengezogenen Stirnrunzeln folgte ihm der Löwe, der unterwegs schon seine Klauen wetzte, wenn er an einem Steine vorbey kam; und knirschend probirte er seine Zähne.

Endlich blieb der Fuchs zwischen Felsen und Bäumen auf einem ziemlich freyen Platze stehen. Da war ein tiefer, tiefer Brunnen. In den guckte er hinunter und rief dem Löwen: »Komm, komm, da unten steht er, da steht er!«

Da ging der Löwe hin und guckte hinab, der Fuchs aber stellte sich schnell zwischen seine Beine und sagte: »Sieh, sieh, er hat meinen Kameraden noch unversehrt zwischen den Füssen.« Und der Löwe sah sein Bild und des Fuchses Bild abgespiegelt im Wasser, und meynte, das sey der andere Löwe. Er schrie brüllend einen Schimpfnamen hinunter, und hörte denselben Schimpfnamen wieder dumpf herauf hallen; denn das Echo gab seine Stimme zurück.

[111] Und er meynte, der andere Löwe wollt ihn ausspotten. Da konnte er sich nicht mehr halten. Er sprang hinab und – lag im Wasser, und konnte sich nirgens heraus helfen, denn der Brunnen war zu tief. Der Fuchs rief aber noch etliche Thiere aus der Nähe zusammen, und nun warfen sie Holz und Steine, und was sie fanden, auf den betrogenen Löwen, bis er ertrunken war.

Aber jetzt war Freude und Jubel im ganzen Thierreiche, und alles dankte dem Fuchse für die grosse Wohlthat, die er dem Lande erwiesen hatte, und weit und breit rühmte man seine List. Auch bekam er von allen Geschenke, bald ein Huhn, bald eine Gans, bald Eyer, bald Honig, bald Krebse, wie eben jedes so etwas in seiner Haushaltung erübrigen konnte. Und er führte ein herrliches Leben, und pflegte sich in seinem Alter.

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TextGrid Repository (2012). Grimm, Albert Ludewig. Märchen. Kindermärchen. 4. Der zornige Löwe. 4. Der zornige Löwe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-FE4F-4