Elegie

O wie war mir daheim am nordischen Herde die Freude
Ein willkommener zwar, aber ein seltener Gast!
Denn bald scheuchte der Nebel sie fort, der grau und verdrießlich
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Über das lachende Tal, über die Berge sich zog;
Bald vertrieb sie der lärmende Tag und das Dröhnen des Marktes,
Wo nur jeder sich selbst, keiner den Sänger vernahm.
Auch den störenden Schwarm der wilden Genossen vermied sie,
Und sie entfloh dem Gelag, fand sie die Zither verstimmt.
Manchmal nur, wenn im Arm der Geliebten sinnend ich ruhte,
Und ihr leuchtender Blick tief mir den Himmel erschloß,
Wenn wir in leisem Gespräch der rinnenden Stunden vergaßen,
Aug' in Auge versenkt, weilte die Liebliche gern.
Aber auch dann nur kurz. Bald kamen die schwatzenden Muhmen,
Vor dem geschäftigen Wort floh das verschüchterte Kind.
Wieder verstrichen darauf eintönige Wochen und Monde,
Und nach der Göttlichen Gruß blickte vergebens ich aus.
Glücklicher Süden, wie dank' ich es dir! Du hast die Entwichne
Neu mir vereint und sie ganz mir zur Vertrauten gemacht.
Schreit' ich hinaus ins Gebirg', so find' ich sie unter dem Lorbeer
Mein schon harrend: sie schläft, schön wie ein Mädchen, am Quell.
Aber sie hört des Nahenden Tritt, mit wehenden Locken
Springt sie empor, und zum Kuß hängt an den Lippen sie mir.
An das Gestade des Meers, zu den heiligen Schatten des Ölwalds
Leitet sie mich; sie besteigt mit mir den schwankenden Kahn;
Leis auch führt sie den Hang mich empor zu den Trümmern des Tempels,
Wo noch das Marmorgesims über den Säulen erglänzt;
Und sie deutet mir dort die verwitterten Bilder, ergänzend
Mit lebendigem Wort, was die Barbaren zerstört.
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Faunen erblick' ich im bakchischen Tanz und trunkne Mänaden,
Hoch auf dem Panthergespann folgt mit dem Thyrsus der Gott;
Weiter verliert sich der taumelnde Zug; harmlosere Feste,
Wie sie Demeter gebeut, zeigt der gebildete Stein;
Hirten, mit Blumen bekränzt, und Jungfraun führen den Reigen,
Und im geläuterten Maß hebt sich und senkt sich der Fuß;
Sieh, dort stürmen auch Rosse heran. Die stäubende Rennbahn
Füllt sich mit Wagen, es strebt jeder der Erste zu sein.
Lorbeern winken dem Sieger als Preis, doch schöner als Lorbeern
Lohnt ihm des Dichters Gesang, der ihm Unsterblichkeit schenkt.
Also deutet die Himmlische mir die Gebilde der Künstler,
Und ich erkenne, wie schön einst sie die Völker regiert;
Wie sie mit lächelndem Blick die rohen Gewalten gezügelt,
Wie sie die sprossende Kraft stets auf das Große gelenkt.
O da wird mir die Seele so weit, unendliche Sehnsucht
Faßt mich, mit bebendem Mund sprech' ich ein stilles Gebet:
Weile bei mir, du Schönste von allen den Töchtern des Himmels,
Mit sanft lenkender Hand führe durchs Leben mich hin!
Zeige besänftigend mir die rechten Bahnen und dämpfe
Weise die Glut, und wenn blind einst mich die Leidenschaft faßt,
O da kühle das brennende Haupt und kränz' es mit Rosen,
Bis mich der zögernde Gott still zu den Schatten entführt.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Elegie. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-B840-B