Ludwig Ganghofer
Lebenslauf eines Optimisten

Buch der Kindheit

1.
I.

Ein entsetzlicher Spektakel mit Geklirr und Gerassel – grelles Licht – dann finstere Nacht, in der ich schreien mußte vor Angst.

Das ist die älteste unter den Erinnerungen an meine Kinderzeit in Kaufbeuren. Als ich vor vielen Jahren meiner Mutter einmal sagte, daß diese Erinnerung in mir wäre, mußte sie sich lange besinnen, bevor sie das Rätsel lösen konnte. Sie hatte mich, ein anderthalbjähriges Bübchen, an einem Winterabend auf den Boden der Wohnstube gesetzt und war in die Küche gegangen; da hörte sie diesen klirrenden Spektakel; und als sie dem Lärm erschrocken nachlief fand sie eine finstere Stube, in der ich schrie, als wär' ich an einen Spieß gebohrt; sie machte Licht, und da saß ich zeternd auf dem Tisch, während die Stehlampe in Scherben auf dem Boden lag.

[11] Diese Lampe bekam neue Gläser, und ihr eiserner Fuß wurde fest auf einen großen, mit Blei ausgegossenen Holzteller geschraubt. Nun konnte man sie mit dem besten Kinderwillen nicht mehr umwerfen. Und so hat diese Lampe in der Wohnstube meiner Eltern noch hellen Dienst getan, als ich nach 25 Jahren der dunklen Beschäftigung oblag: Philosophie zu studieren.

Eine zweite Erinnerung: ich friere schrecklich, obwohl die Sonne scheint; viele Menschen sind um mich her; ich laufe schnell und habe Schmerzen an den Sohlen; und die vielen Menschen laufen mir nach und lachen immer.

Da hatte meine Mutter mich als dreijährigen Jungen an einem Märzmorgen ins Bad gehoben. Sie wurde abgerufen, kam zurück – und fand die Badewanne leer. In der Wohnung war der nasse Ausreißer nicht zu finden. Meine Mutter rannte über die Treppe hinunter, guckte durch die Haustür auf den Kirchplatz hinaus – und da rief ihr eine Nachbarsfrau mit Lachen zu: »Frau Aktewar, uier Ludwigle isch buzelnacket über'n Marktplatz gloffe!« Die Mutter jagte hinter mir her, vergnügte Leute wiesen ihr den Weg, und schließlich erwischte sie mich draußen vor der Stadt im Forstamte, in dessen Kanzlei mein Vater als Aktuar unter dem Forstmeister [12] Thoma diente. – Aus dieser unsittlichen Begebenheit machte ein Kaufbeurer Gelegenheitsdichter eine Ballade, die mit den Versen begann:


»Frau Aktuar,

Ja isch denn wahr?«


Dieses Lied wurde nach der Melodie einer landläufigen Moritat gesungen.

Meine dritte Kindheitserinnerung: ich freue mich sehr über ein schönes, neues, weißes Kleidchen; immer höre ich schmetternde Musik; ich bin in einem großen Walde, und da sind noch tausend Menschen; zwischen anderen Kindern steh' ich vor einem dicken, langen Balken; ich schiebe diesen Balken; er bewegt sich, immer schneller – viel schneller, als ich mit meinen vierjährigen Beinchen laufen kann; ich hänge mit beiden Armen an dieses rasende Ungeheuer geklammert, und meine Füße fliegen in der Luft; ein grauenvoller Schreck überfällt mich; ich lasse den brausenden Drachen aus, schlage Purzelbäume durch eine linde Sache und sinke in eine schwarze fürchterliche Tiefe.

Damals wurde in Kaufbeuren das jährlich wiederkehrende ›Tänzelfest‹ gefeiert, ein Kindervergnügen, an dem sich auch alle Erwachsenen der Stadt zu beteiligen pflegten. Die schulpflichtigen Knaben [13] waren soldatisch uniformiert, hatten Musik, Offiziere und Fahnenjunker. Ich erinnere mich noch deutlich an solch einen Junker, der auf dem Kirchplatz, inmitten eines schwarzen Ringes von Menschen, seine Kunststücke als Fahnenschwinger produzierte. In festlichem Zuge marschierte jung und alt nach einem kleinen, vor der Stadt gelegenen Wäldchen – nach dem ›Tänzelholzle‹. Unter den mancherlei Belustigungen, die es hier für die Kinder gab, befand sich auch ein etwas primitiv konstruiertes Karussell. Ein Stern von langen Balken, an deren Enden die kleinen Kutschen und Pferdchen angeschmiedet waren, drehte sich horizontal um seine Achse. Ein paar Dutzend Jungen stellten sich vor die Balken hin und brachten diesen Göppel in Lauf. Die lustige Arbeit gefiel mir; ich wollte da mitmachen, lief meiner Mutter davon und half an einem Balken schieben. Es hatte am Morgen geregnet, und der Boden unter dem Balkensterne war in klebrigen Morast verwandelt. Erst glaubte ich zu schieben, dann wurde ich geschleift, verlor den Boden unter den Füßen, ließ den Balken aus, kollerte in meinem schönen, neuen weißen Kleidchen durch den schwarzen Schlamm – und viele Schuhe trampelten über mich weg, bis ich bewußtlos davongetragen wurde.

[14] Noch eine andere Erinnerung reicht in mein viertes Lebensjahr zurück. Ich glaube, daß ich sie nicht übergehen darf. Denn sie hilft die Frage beantworten, in welchem Lebensalter die unbewußten Ahnungen des Blutes beginnen und die Kinderseele zum ersten Male berührt werden kann von jenem Ewigkeitsgeheimnis, das zwischen Männchen und Weibchen seine unsichtbaren, aber sicher bindenden Fäden spinnt.

Meine Eltern waren mit einer Familie befreundet, in der zwei Töchter von achtzehn und neunzehn Jahren das Haus mit Frohsinn und Lachen füllten. Diese Mädchen waren meine zwei anderen Mütterchen. Namentlich die Jüngere von den beiden, das Theresle, verhätschelte mich über Gebühr. Ich war viel in diesem Hause. Und einmal blieb ich da über Nacht – ich weiß nicht, weshalb – vielleicht, weil sich daheim bei den Eltern etwas ereignete, wobei man die zweijährigen Augen meines Schwesterchens noch nicht scheute, aber schon meine vierjährigen, immer in Neugier spähenden Gucker. Ich vermute das, weil mir aus jener Zeit ein Wort im Gedächtnis blieb, das irgendjemand über mich sprach: »Das Lausbüeble spitzt überall hin, wo's vorbeischaue sollt!« Und damals wurde ja auch mein Brüderchen geboren, das Fritzele, das nach wenigen Monaten [15] die Augen wieder schließen mußte, mit denen es die Welt noch gar nicht recht gesehen hatte.

Da sprechen nun die beiden Kontraste durcheinander: der Tod, der das Leben endet – und das Geheimnis, aus dem alles Leben quillt. Und zwischen diesen beiden Gegensätzen zittert ein erschrockenes Kinderseelchen.

Das Theresle behielt mich damals über Nacht und bescherte mir ein lindes Winkelchen in seinem Bett. Ich wurde wohl schon mit Anbruch des Abends in dieses große Nest gesteckt. Und als dann das Theresle schlafen ging, wurde ich wieder munter, tollte nach meiner Art, trieb allerlei Ungezogenheiten und warf die Kissen so unmanierlich durcheinander, daß meine achtzehnjährige Schlafkameradin unser Lager wieder in Ordnung bringen mußte. Sie legte das Federbett und die Kissen auf den Boden heraus, und während ich mir's auf dieser linden Unterlage gemütlich machte, strich das Theresle mit flinken Händen das Leintuch glatt. Und wollte beim Tisch, auf dem die Lampe brannte, etwas holen. Und stieg im Hemde über mich weg – und wie ein ahnungsloser Schläfer von Alpdrücken befallen wird, nur weil er auf dem Rücken liegt, so wurde ich da plötzlich von einem atembeklemmenden Schreck überfallen, so tief und wunderlich, daß er sich für [16] Lebenszeit in meinem Erinnerungsvermögen festnistete.

Als mich das Mädel in das frischgemachte Bett hineinhob, blieb ich still und zitterte. Und niemals wieder ließ ich mich vom Theresle küssen oder hätscheln. Ich fing zu schreien an, wenn sie mich in die Arme nahm. Und seit damals blieb in mir durch ein Dutzend Jahre ein grober Widerwille gegen alles, was Mädchen hieß.

Warum dauerte gerade diese Erinnerung so fest und deutlich? Und vieles andere, das sich meinem Gedächtnis hätte einprägen müssen, ist erloschen in mir. Ich weiß nicht mehr, wie das auf mich wirkte, daß ich plötzlich ein Brüderchen hatte. Und weiß nicht, was ich empfand und dachte, als dieses Brüderchen über Nacht verschwunden war und nicht mehr kam. Ich erinnere mich nur dunkel an eine Zeit, in der die Mutter immer weinte und der Vater immer ein blasses Gesicht hatte. Und weiß noch, daß im Schlafzimmer meiner Eltern ein Gemälde hing, das ein bleiches, ruhig schlummerndes Kind auf weißen Kissen zeigte – und daß ich eines Tages fragte: »Warum kommt das Fritzele nicht herunter und spielt mit mir?« Nach Jahren erfuhr ich, daß dieses Bild ein verstorbenes Brüderchen meiner Mutter darstellte, das auf dem Totenbett gemalt worden war.

[17] Wie Vater und Mutter damals in Kaufbeuren aussahen, weiß ich nicht mehr zu sagen. Wenn ich mich an die Züge der Mutter in jener Zeit zu erinnern suche, seh' ich kein Gesicht, sondern höre ein leises Weinen und dann wieder ein helles Lachen, eine heiter singende Stimme, die durch alle Zimmer klingt, Trepp' auf und nieder. Und forsche ich in meinem Gedächtnis nach meiner kleinen Schwester Berta, die anderthalb Jahre nach mir geboren wurde, so seh' ich immer ein schwarzes Mohrengesicht mit einem roten Mäulchen, das fürchterlich schreit. Ich hatte das Kind, das in seinem Bettchen schlief – und dazu noch die Kissen, die Stühle, den Tisch und die Wände – reichlich und dick mit frisch eingesottener Heidelbeermarmelade bestrichen, die zum Auskühlen am offenen Fenster stand.

Noch manches andere, was außerhalb der Mauern meiner elterlichen Heimat spielte, ist mir in Erinnerung geblieben. Ich sehe den Fröbel'schen Kindergarten, sehe die vielen kleinen Gesichter und die jungen Bäume, die in regelmäßigen Reihen frisch gepflanzt waren und nicht berührt werden durften. Ich sehe den hohen Treppenschacht in einem alten Kaufmannshause – und in der Dämmerung kommt da von der Höhe etwas Schönes, Freudenreiches und wundersam Leuchtendes herunter: ein [18] Körbchen, das mit Süßigkeiten angefüllt und von brennenden Wachslichtern umgeben ist. Ich sehe den Hohlweg, der zum Hause des Forstmeisters Franz Thoma hinausführt, sehe den Hausflur, die Kanzlei zur Rechten, eine gute Stube zur Linken, und den gepflasterten Hof mit dem alten Brunnen. Ich sehe den Marktplatz; das Bild der Häuser ist verschwommen; aber scharf und deutlich ist da ein langer, mit grauen Bohlen zugedeckter Bachlauf; auf diesen Brettern ging ich mit Vorliebe spazieren und lag da noch lieber auf dem Bauche, um durch eine kleine vergitterte Öffnung hinunterzugucken in das dunkel vorüberschießende Wasser. Ich sehe die Honoratiorenstube im Gasthaus zum Hirschen, wo meine Eltern als Freunde der Wirtin viel verkehrten – sehe die zwei langen Tische mit den Fidibusbechern, den großen Kachelofen und das kleine, zur Küche führende Schubfenster, durch das die Hirschwirtin mit lachendem Gesicht hereinguckt, wenn sie mir ein Stück Kuchen oder sonst was Gutes zwischen die gestreckten Hände gibt – und da draußen in dem lärmvollen Raume ist immer ein duftender Qualm, und überall funkelt es von Kupfer und Messing.

Ich sehe das Schneegeglitzer und höre das Schellengerassel einer Schlittenpartie – und erinnere [19] mich, daß mir auf der Heimfahrt grausam übel wurde. Ich sehe den großen Garten, das reiche Zimmer, den grünen Papagei und die alten freundlichen Gesichter der Schrader'schen Eheleute, die zehn Jahre später aus rätselhafter Ursache und auf schauerliche Weise ermordet wurden, ohne daß man den Täter entdecken konnte. Und deutlich ist mir der ausregungsvolle Tag im Gedächtnis geblieben, an dem ich mit meinem Schwesterchen photographiert wurde. Der Mann, der dieses Werk vollführte, hatte einen langen Knebelbart; er tauchte zwanzig Jahre später plötzlich aus meiner Erinnerung herauf, als ich in Wien eine allegorische Statue des Inn zu sehen bekam; ganz den gleichen Bart, wie dieser Tiroler Flußgott, hatte der Kaufbeurer Photograph, der neben einem schwarzverhüllten Kasten stand und immer sagte: »Passet auf, Kinderle, passet auf, da springt jetzt gleich e Füchsle raus, mit em rote Schwänzle!« Mein Schwesterl bekam ein bißchen Angst, ich guckte mit gespannter Aufmerksamkeit in das Glasauge des geheimnisvollen Kastens, aber es kam kein Fuchs heraus. Manch ein Jährchen später erzählte mir meine Mutter, ich wäre nach dieser Enttäuschung auf den Photographen zugegangen und hätte in Zorn zu ihm gesagt: »Du bischt ein Lugeschüppel!« [20] Von einer Reise, die meine Mutter mit mir in ihre fränkische Heimat machte, nach Aschaffenburg, Frankfurt, Mainz und Wiesbaden, ist mir nur die unklare Erinnerung an zwei Abenteuer geblieben. In Wiesbaden brannte ich dem Kindermädchen durch, lief einem Bärentreiber nach und konnte erst spät am Abend mit Hilfe der Polizei wieder gefunden werden. Und auf der Rückreise saß mir im Eisenbahnwagen ein prachtvoll uniformierter Herr mit großem Barte gegenüber. Der machte Eindruck auf mich und weckte meine Neugier. Und weil ich wußte, daß der Bruder meiner Mutter Offizier war, fragte ich den Herrlichen: »Bischt du mein Onkel Wilhelm?«

»Nein.«

»Bischt du der Kaiser Napoleon?«

»Nein.«

»Dann bischt du ein Hanswurscht.«

Aber auch diese Hypothese war falsch. Denn der prachtvolle Mensch war ein Hotelportier.

Auch von einer Reise, die ich zu meinem Großvater Anton Ganghofer machen durfte, der als Forstmeister zu Ottobeuren lebte, ist mir kein Bild der Fahrt im Gedächtnis geblieben. Aber ich sehe noch das Forsthaus mit der Gaisblattlaube und der steinernen Freitreppe vor der Haustür, sehe die breiten, [21] überwölbten Korridore, die großen Zimmer, und am deutlichsten den Fischweiher, in dem es Karpfen und Schleien gab, und aus dem in der Abendstille die schlangenförmigen Nebel herauskrochen in die Dämmerung. Ich sehe das lachende Faltengesicht des Großvaters mit den lustig zwinkernden Augen. Er steht in der Sonne unter der Haustür, hat die Hände in den Hosentaschen, sieht mich herzlich an und fragt:

»Ludwigle, magst ein Kreuzer?«

Ich zweifle: »Hascht du denn einen?« Denn ich wußte, daß die Großmutter immer alles einsperrte und die Schlüssel abzog.

Der Großvater schüttelt mit den Händen die Hosensäcke, in denen ein lautes Klingen und Klirren ist. »Schau, so viel Geld hab ich!«

Dann darf ich mich strecken, darf dem Großvater in die Taschen greifen und finde in jeder einen einsamen Kreuzer. Was da so geklingelt hatte, das waren die Schlüssel der Aktenschränke.

Auch die Großmutter seh' ich, die wenig Zeit für mich hat und immer in dem großen Hause einer Arbeit nachläuft, nie beim Mittagessen sitzen bleibt, sondern zwischen Suppe und Fleisch, zwischen Fleisch und Mehlspeise immer was zu rennen und etwas Unaufschiebbares zu tun hat. Sie ist gut. Aber[22] ihre Augen gucken immer ein bißchen mißtrauisch. Und am Abend, wenn ich in der Ecke des großen Zimmers in dem großen Fremdenbette liege und noch nicht schlafen mag, dann droht sie mir ungeduldig: »Gleich tu schlafe! Oder das Sandmännle kommt zum Fenster herein und blast dir die Augen aus!« Weil sie mir niemals sagt, wie das Sandmännle aussieht, macht sie mich nicht ängstlich, nur neugierig. Und drum sitze ich lange Stunden wach und blinzle erwartungsvoll in das Zwielicht des Fensters, ob denn das Sandmännle nicht endlich einmal erscheinen will. Es ist nie gekommen. Deshalb sagte ich zur Großmutter einmal was Ähnliches wie zu dem Photographen, der mir ein Füchsle mit rotem Schwänzle versprochen hatte. Aber die Großmutter lachte nicht freundlich wie der Photograph, sondern gab mir eine feste Tachtel – den ersten schmerzen, den Schlag, den mein junges Leben empfing. Dafür mußte ich die Großmutter noch um Verzeihung bitten. Es fiel mir schwer, diese Notwendigkeit zu begreifen.

Am Abend, wenn im Hause keine Arbeit mehr zu tun war und das Licht noch ein bißchen gespart werden konnte, weil der Großvater auf der Rehpirsche war, saß die Großmutter in der grauen Fensternische, sah wie eine Negerin aus und erzählte [23] mir allerlei Geschichten. Ich erinnere mich an keine mehr. Ich höre nur die ruhige, kluge, ein wenig trockene Stimme, ohne zu verstehen, was sie spricht.

Aber gut besinne ich mich noch auf einen höchst bedeutungsvollen Lebensrat, den mir die Großmutter einmal gab, als ich mit ihr im Walde spazieren ging. Da war ein langer, gerader Sandweg zwischen grünen Wänden. Und neben diesem Wege hatte sich ein junges Bauernmädchen zu einer Stellung niedergehuschelt, die jeden Zweifel über ihre menschliche Notwendigkeit ausschloß. Und da sagte die Großmutter: »Ludwigle, druck d' Auge zu! Sonst wirscht du blind!« Ich zwickte die Lider fest zusammen, bis mir die Großmutter erlaubte: »So, jetzt kannst wieder schaue!«

Vor dem Blindwerden hatte ich seit dieser Waldstunde eine große Angst. Und noch manch ein Jährchen später – in dem Dorfe, wo der Vater Revierförster wurde – hab' ich immer gleich die Augen zugedrückt, wenn ich in die Gefahr kam, blind zu werden.

In dem strengen Winter, der um die Weihnachtszeit des Jahres 1859 das bayerische Hochland in ein Klein-Sibirien verwandelte, erhielt mein Vater seine Beförderung vom Forstamtsaktuar zum Revierförster und wurde aus dem freundlichen Städtchen [24] Kaufbeuren nach dem Dorfe Welden im schwäbischen Holzwinkel versetzt.

Die letzte Erinnerung, die ich aus meiner Vaterstadt mitfortnahm, war der unfreundliche Anblick der ausgeräumten und kalten Zimmer. Überrall an den Wänden, wo ein Bild gehangen hatte, war ein heller Fleck.

Durch 45 Jahre hab' ich meine Vaterstadt nicht mehr betreten. Ich sah sie nur manchmal vor dem Eisenbahnfenster vorüber gleiten, wenn ich auf einer Ferienfahrt und später auf einer Studienreise in die Allgäuer Berge an Kaufbeuren vorüberkam. Immer nahm ich mir vor: »Das nächstemal steigst du aus und gehst die Wege wieder, die du als Kind gegangen!« Es kam aber nie dazu. Fuhr ich den Bergen entgegen, so hatte ich Sehnsucht nach meinem blauen Ziel; war ich auf der Heimreise, so hatte ich Sehnsucht nach den Meinen. Und so blieb mir keine Zeit, die Erinnerungen meiner ersten Kindheit in mir aufzufrischen.

Als ich den fünfzigsten Geburtstag zu ertragen bekam, sandte mir die Stadt Kaufbeuren einen Glückwunsch, den die Mitteilung begleitete, daß eine Gedenktafel an mein Geburtshaus käme. Ein Jahr später wurde diese Tafel enthüllt, und die Stadt lud mich zu einer herzlichen Feier ein. Meine Frau, [25] meine Kinder und liebe Freunde begleiteten mich. Wir standen in milder Herbstsonne vor dem alten Hause, an dessen brüchiger Mauer eine große Kupfertafel mein Bild und meinen Namen zeigte. Das war Ehre und Freude für mich. Aber die tiefe, schwere Erschütterung, die mein fünfzigjähriges Leben durchzitterte, ging von dieser alten hochgegiebelten Mauer aus, von diesen acht schmalen, in zwei Stockwerken dicht aneinander gereihten Fenstern. Die Glasscheiben waren grau und hatten keine Vorhänge. Etwas Kaltes und Ödes guckte da droben durch acht müde, leblose Augen heraus. Die Wohnung stand gerade leer – so kalt und ausgeräumt wie in jener Stunde, in der ich sie als Kind an der Hand der Mutter verlassen hatte. Ich stieg die enge, steile Treppe hinauf – jeder Schritt wie ein Schmerz und doch wie eine frohe, zärtliche Erwartung. Nun das Zimmer, das die Wohnstube meiner Eltern war! Der Raum sollte gerade tapeziert werden, und die leeren Wände waren frisch mit Zeitungspapier überklebt. Aber jäh, mit einem Schlage, war nicht nur für mein Herz, auch für meine Augen das unzerstörte Bild der vergangenen Zeit wieder da. Ich sah jedes Möbelstück, wußte genau die Stelle, wo es gestanden. Alles Kleine meines kleinen Lebens von damals erwachte. Und [26] hier, diese abgetretene Schwelle – da trippelte ich an jedem Morgen in die Schlafstube meiner Eltern hinein, um der Mutter und dem Vater guten Morgen zu wünschen. Mir war's, als stünden die zwei Betten noch da; weil der Raum so schmal war, mußten sie der Länge nach an der gleichen Mauer stehen. Nach rechts hin, gegen das Fenster, schlief der Vater; nach links hin, in der geschützten Ecke, schlief die Mutter. Hier, zwei Spannen von dieser kahlen Mauer entfernt, erweckte die Liebe meiner Eltern den Keim meines Lebens, hier tat ich meinen ersten Schrei, mei nen ersten Blick in das Licht.

Aus aller Erschütterung, die mir dieser Gedanke brachte, glomm die Erinnerung an ein Nebensächliches auf: »Hier muß irgendwo ein kleines Wandkästchen sein!« Richtig, es war noch da – das kleine Türchen noch so mit weißer Ölfarbe gestrichen wie damals. In diesem Kästchen war immer was Gutes. Und daneben hing vor fünfzig Jahren ein kleines verglastes Bild – eine Daguerreotype meiner Urgroßmutter, der neunzigjährigen Landrichterin Ganghofer von Trostberg. Wenn ich als Kind auf einen Sessel stieg, um das Bildchen von vorne zu betrachten, sah ich nichts als einen silberigen Schimmer. Man mußte zwischen Bild und Fenster den [27] Kopf gegen die Mauer halten; dann sah man ein dunkles steifes Kleid und ein Runzelgesicht mit weißem Haar und schwarzem Häubchen drüber.

Und draußen, in der winzigen Küche, da stand noch immer der Herd in der gleichen Ecke. Doch eine wundersame Sache meiner Kinderjahre war verschwunden. Damals war da irgendwo ein steinerner Ausguß. Der war so hoch an der Mauer, daß ich als vierjähriger Junge gerade das Kinn auf den glattgescheuerten Steinrand legen konnte. Und statt einer Ausflußröhre ging nur ein rundes Loch in die Luft hinaus; im Winter war es mit einer hölzernen Klappe verschlossen, doch in warmen Zeiten stand es immer offen. Hier, vor diesem Steintrog, konnte ich unermüdlich aushalten und träumend das kleine, schöne Bild betrachten, das durch die runde Lücke zu sehen war: spitze, steile Dächer, auf denen die Katzen spazieren gingen und die Tauben saßen; Mansardenfenster, aus denen bald ein altes Frauengesicht und bald ein Schornsteinfeger herausguckte; über den Dächern ein hoher Kirchturm mit läutender Glocke, von Schwalben umflogen; und hinter allem der helle Himmel mit den weidenden Silberschäfchen auf der blauen Wiese.

Dieses liebe schöne Bild war nimmer da; der [28] Steintrog war verschwunden, das Loch vermauert. Solche Wandlungen pflegt man fortschreitende Kultur zu nennen.

Aber verschwunden war ja in diesen fünfzig Jahren auch noch vieles andere: Leben, das mich liebte, Leben, an dem ich in Zärtlichkeit gehangen. Und dennoch war's erloschen. Ich empfand es wie Kummer und Vorwurf, daß ich an jenem Tage, der meinen Namen feierte, aus den leeren stillen Stuben heraustreten mußte, ohne daß die Gesichter von Vater und Mutter, wie sie damals in Kaufbeuren waren, in mir erwachten. Ich sah nur das Bild, das mir aus späteren Jahren von ihnen geblieben.

Von der Jugend ihres Glückes weiß ich manches zu sagen, was die Mutter mir erzählte. Ihr junges Zusammenleben war ein frohes Lachen, das entzwei gerissen wurde durch einen einzigen Schmerz – durch den Verlust ihres dritten Kindes.

Mein Vater August – im Frühling 1827 zu Baierdiessen am Ammersee geboren – stammte aus einem altbayrischen Geschlechte. Ein Ahn unseres Namens war der Maurermeister Jörg Ganghofer, der die Münchener Frauenkirche baute. Die Familie kam zu Besitz und zu einem adeligen Wappen. Aber im dreißigjährigen Kriege ging wieder flöten, [29] was Gut und Geld hieß. Zwei Brüder Ganghofer, die dann in Niederbayern als kleine Bauern saßen, legten den Adel ab, weil sie der vernünftigen Meinung waren, daß sich ein Wappen nicht gut mit dem Mistkarren vertrüge. Ihre Kindeskinder wurden Richter und Forstleute.

Das ist so ziemlich alles, was wir Nachkommen von der Vergangenheit unseres Namens noch zu berichten wissen. In den drei Generationen, die ich als Enkel und Urenkel noch zu überschauen vermag, ging alles Leben so still und gerade, so aufregungslos und ordnungsmäßig seine ruhigen Wege, daß von diesen Heimgegangenen nur drei Worte zu erzählen sind: sie wurden geboren, taten in einem bescheidenen Leben ihre Pflicht und legten sich zur verläßlichen Ruhe nieder.

Die Frauen in dieser Familie wurden alt, manche bis an hundert Jahre. Die Männer starben früher – mein Großvater Mitte der Sechzig. Er war gesund bis aus Ende und hatte den letzten Abend noch im Gasthaus zur Post am heiteren Stammtisch mit Apotheker, Revierförster, Landrichter, Posthalter und Dekan verbracht. Ein paar Minuten vor zwölf Uhr kam er heim.

Die Großmutter erwachte. »Hascht dich gut unterhalte?«

[30] »Großartig! 's isch lang nimmer so luschtig gwese wie heut!« Der Großvater, schon in Hemdärmeln, ging zum Waschtisch und füllte ein Glas mit Wasser. »Gelacht habe mer, daß mer schier Kröpf kriegt habe. Und der Apotheker hat wieder so ein Geschichtle erzählt ... da wirscht vor Luschtigkeit drüber schreie!« Er trank, stellte das leere Glas auf den Tisch und sagte lachend: »Paß auf!« Dann fiel er um und war tot. –

Von seinen sieben Kindern, unter denen mein Vater der Erstgeborene war, starben zwei Brüder in jungen Jahren: Ludwig bekam als Student in München den Typhus, und Joseph verlor aus unglücklicher Liebe den Verstand und erlosch in der Einsamkeit einer gepolsterten Zelle. Bevor man ihn einschließen mußte in diesen linden Kasten, wohnte er kurze Zeit im Hause meiner Eltern; man hatte mich und meine Schwester aus der Kinderstube genommen, um sie dem, kranken Onkel Joseph' einzuräumen. Wir schliefen während dieser Zeit herunten in der Wohnstube. Und da konnte ich in den Nächten lange Stunden keinen Schlummer finden, weil ich über der Stubendecke immer diese ruhelosen Schritte hörte, mit denen ein zerdrücktes Leben seinen Gram und Wahnsinn hin und her trug, wie ein Wolf seinen Hunger. Noch zwanzig [31] Jahre später ging ein kaltes Grauen durch meine Seele, als mir eines Tages der Vater ein dickes Heft zeigte: »Das sind Gedichte, die der arme Joseph gemacht hat.« Ich wollte diese Lieder nicht lesen.

Ein Bruder meines Vaters – Onkel Franz – wurde Forstmann; Onkel Max wurde Techniker; die beiden Schwestern Irma und Berta verheirateten sich an Forstleute. Diese Tante Berta – als sie noch in der Wiege lag – hatte immer ein Dutzend langer Falten auf der kleinen Stirne. Ihrem Brüderchen, dem Franzele, gefiel dieses Runzelige nicht; drum griff das kunstsinnige Bübchen in einer unbewachten Stunde nach dem heißen Bügeleisen der Großmutter und bügelte dem zeternden Kinde so lange die Stirne aus, bis diese unschönen Runzeln verwandelt waren in eine schöne, glatte Brandblase. Das hat dem Kinde weiter nicht viel geschadet, denn es wurde aus ihm eine feste, tapfere Frau, die sich nach schweren Schicksalsschlägen mutig durchs Leben kämpfte.

Wie dieser künstlerischveranlagte Bruder Franz, so hatte auch mein Vater für seinen Lebensweg die grüne Farbe gewählt, die ihm gut bekam. Und auf der Forstschule in Aschaffenburg lernte er sein ›Lottchen‹ kennen, das er nach siebenjährigem Brautstande zur Frau nahm. Seine Art, das war gerader, [32] fester und gesunder Schlag, ohne jede Spur von psychologischer Komplikation. Einfach, in jedem Zug seines Wesens leicht erkenntlich, ruhig und klar, pflichttreu und gewissenhaft als Mensch und Beamter, heiter ohne Neigung zum Übermaß, das über die Schnur geht, ernst ohne jeden Zug von Pedanterie, herzenswarm und aufrichtig – so war mein Vater von Jugend auf, und so blieb er sein ganzes Leben.

Im quecksilbernen, temperamentvollen und lebensfrohen Naturell meiner Mutter mischte sich fränkisches und französisches Blut. Sie war eine geborene Louis. Und in ihrer Familie geht die Sage, daß ein Ahnherr Louis als Hugenottischer Emigrant nach Deutschland gekommen und Jägermeister bei einem rheinischen Fürsten geworden wäre. Der Großvater meiner Mutter, Friedrich Louis, saß als gräflich Erbach'scher Forstrat im Odenwald. Das war ein tolles, von übermütiger Laune sprudelndes Mannsbild, dem noch heute in der Gegend des Odenwaldes allerlei Geschichten nacherzählt werden, die an mittelalterliche Schwänke erinnern.

An der Waldstraße zwischen Erbach und Eulbach stand ein Sühnestein. Da hatte man einen Mörder, den Haugschmied, an der Stätte der verübten Mordtat hin gerichtet. Natürlich geisterte die [33] Seele des Haugschmiedes an diesem gruseligen Platze. Davon sprachen in einer Mondnacht zwei Handwerksburschen, die nach Eulbach wanderten. Und einer von den beiden, um seinen Mut zu erweisen, schrie beim Henkersteine dreimal: »Haugschmied, erscheine!« Brüllend fuhr das Gespenst aus dem Straßengraben heraus, sprang dem Handwerksburschen auf den Rücken und ließ sich von dem Erschrockenen, der ein keuchendes Rennen begann, bis zum Jagdschlosse des Grafen Erbach tragen. Nach dieser dunklen Geschichte lag ein fieberkranker Handwerksbursch vier Wochen lang im Eulbacher Forsthaus, wurde gut gepflegt und nach seiner Genesung vom schmunzelnden Hausherrn mit reichlichem Viatikum und mit der Lehre entlassen: »Em Menschenskind soll wedder den Herrgott noch en Deibel versuche!« Aber die Rolle eines Gespenstes hat dieser Hausherr niemals wieder gespielt. Denn der Spaß war ihm teuer zu stehen gekommen.

Als junger Jägermeister half mein Urgroßvater seinem Grafen, der damals noch reichsunmittelbarer Herr und dazu ein fanatischer Antiquitätensammler war, den sagenhaften Helm des Hannibal zu Rom aus dem Vatikan entführen. Aus diesem lecken, zwischen Tod und groteskem Humor balancierenden Abenteuer hat Otto Müller, dem der greise Forstrat [34] Louis die Geschichte im Odenwald erzählte, einen spannenden Roman gemacht: ›Der Helm von Cannä‹. Aber in diesem Buche mag wohl ein gut Teil gefabelt sein. Viel besser und lebendiger als mein Urgroßvater mir aus den Kapiteln dieses Romans entgegentrat, guckte sein übermütiges und verschmitztes Bild aus den heiteren Erzählungen meiner Mutter heraus. Wenn sie aus ihren Erinnerungen an den Alten ein Stücklein ums andere hervorkramte, so war das für alle, die zuhören durften, der Brunnen eines unerschöpflichen Jubels.

Als der ›Alte im Odenwald‹ schon weiße Haare hatte, bekam er eines schönen Tages zu Eulbach den Besuch eines katholischen Wanderpriesters, der den gemütlichen Ketzer im Angesichte des nahen Todes bekehren und zur Ablegung einer Beichte bewegen wollte.

»Ach wo! Laß er mich doch in Ruh! Ich habb nix zu beichte.«

Aber der Apostel läßt nicht locker und meint: daß alle Menschen schwache Sünder wären, und daß auch der Redlichste sich mancher Schuld seines Lebens mit frommer Reue zu besinnen hätte.

Der Alte schmunzelte. Und der Schelm seiner Jugend erwachte in ihm. »Herr jo! Da hat er recht. Un daß ich ihm die Wahrheit sach ... eenmal im [35] Lewe, da habb ich was verbroche ... Herr jo, dees reut mich! Und dees will ich ihm jetzt beichte!«

Da wären um die Zeit, bevor Napoleon französischer Kaiser wurde, viele hochfürstliche Gäste im Erbacher Schlosse zu Besuch gewesen. Und er, als blutjunger Pikör, hätte vor dem Schlafzimmer einer schönen fürstlichen Dame die Ehrenwache halten müssen, in einer Dezembernacht, bei grimmiger Kälte, in einem Korridor mit Steinfließen und Marmorwänden. Um ein bißchen warm zu bekommen, hätte er immerzu die Hände um die Schultern geschlagen. Und plötzlich hätte die Tür sich ausgetan, und die schöne Dame wäre auf der Schwelle gestanden, weiß wie ein Engel, und hätte freundlich zu ihm gesagt: »Er scheint hier außen sehr kalt zu haben?«

»Ich sach: ›Herr jo, gnädigste Hoheit!‹ ... Und die Hoheit sacht: ›Da scheint er wohl sehr zu frieren?‹ ... Ich sach: ›Herr jo, dees weeß der liewe Gott, es fallen mir fast alle Glidder ussem Leib‹! ... Und da sacht die Hoheit: ›So komm er in Gottes Namen herein zu mir, in meinem Bett ist's warm.‹ Sacht's. Un geht in hochdero Stübbche zurück. Un wie en Klotz bin ich stehengeblibbe un habb da fromm und tugendhaft weitergefrore. Un seh' er nu, Hochwürdiger, dees hat mich bis heutigentags [36] noch e jeddsmal gereut, so oft ich mich druff habb besinne müsse.«

Diese Geschichte erzählte uns die Mutter freilich nicht, als wir noch Kinder waren. Aber was sie uns damals vom Urgroßvater erzählte, das war nicht minder lustig. Am liebsten hörten wir immer die Geschichte von der Gräfin Erbach, deren Leibspeise jene knusperigen Pfannkuchen waren, wie sie in den Bauernhöfen des Odenwaldes gebacken wurden. Da stiftete eines Tages Urgroßvater Louis ein altes Bäuerlein an, der Gräfin solch einen Pfannkuchen zu überbringen und die fette Köstlichkeit, damit sie schön warm bliebe, unter dem Hemde auf der nackten Brust zu transportieren. Das gab dann im goldfunkelnden Audienzzimmer des gräflichen Schlosses einen netten Spektakel, als der Odenwäldler die gelbe Weste aufknöpfte und mit dem rauchenden Pfannkuchen herausrückte.

Eine zärtliche Sympathie empfanden wir Kinder auch für den jungen Eulbacher Schweinehirten Hannäter, der ein Dichter war und eines Mittags nach erledigter Mahlzeit am Gesindetisch des Forsthauses dieses selbstverfaßte Dankgebet zum Himmel sprach:


»Jetzt haw ich gfresse,

Bin noch nit satt,

[37]

Hätt gern noch was gesse,

Ha' nix mehr ghatt.

Der Magen ist weitgedehnt,

Das Maul ans Fresse gwehnt,

Drum hungert's mich jedderzeit

Jetz un in Ewichkeit ...«


Bevor er das Amen herausbrachte, bekam er vom Urgroßvater Louis eine fürchterliche Maulschelle. Aber trotz dieser Bitternis seiner lyrischen Laufbahn gewöhnte er sich das Dichten nicht ab. Alles besang er, Himmel und Erde, Engel und Schweine, doch am liebsten sich selbst. Drum war er ein echter Lyriker. Auf seine zahlreichen guten Eigenschaften hatte er ein langes Loblied verfaßt, das mit den Versen begann:


»Hannäter, Hannäter,

Du lustiger Bue ...«


Und als er eines Sommertages am Saum des Eulbacher Hirschparkes neben seiner weidenden Schweineherde in der Sonne saß und wieder einmal das Lied seiner guten Eigenschaften zu singen anfing: »Hannäter, Hannäter, du lustiger Bue ...« da kam aus dem Schatten des Eichenwaldes ein zwitscherndes Echo heraus:


»Hannäter, Hannäter,

Du Saubue ...«


[38] Dieses Echo war die Stimme des zwölfjährigen Lottche Louis, das von Aschaffenburg gekommen war, um beim Großvater im Odenwald die Sommerfrische zu verbringen.

Während der letzten Lebensjahre des ›Alten im Walde‹ fanden sich für die Sommerferien manchmal an die dreißig Söhne, Töchter, Enkel, Neffen und Nichten im Eulbacher Forsthause zusammen, vom vierzigjährigen Staatsrat herunter bis zum vierjährigen Hosenprinzen, der zum erstenmal das Klettern auf die Birnbäume versuchte. Das muß in der grünen Waldstille ein heiteres Leben gewesen sein! Wenn die Mutter davon erzählte, hätte jedes von uns Kindern einen Finger seiner Hand dafür gegeben, wenn wir diese herrlichen Zeiten im Odenwalde noch hätten mitmachen dürfen.

Im großen Jägersaal des Forsthauses waren die Grasmatratzen in langen Reihen nebeneinandergelegt, um das junge Volk zu beherbergen. Und wenn Urgroßvater Louis des Nachts aus seiner lustigen Weinstube kam, dann ging er im Mondschein, der durch die hohen Fenster des Jägersaales hereinfiel, zwischen den Reihen der jungen Schläfer auf und nieder, deckte sorglich die Kleinen zu, die sich bloßgestrampelt hatten – und bei den Lagerstätten der älteren Kinder hielt er den heißen Meerschaumkopf [39] seiner langen Tabakspfeife überall hin, wo unter einer Decke was Nacktes herausguckte.

»Kinderle, das hat fest gebrannt!« versicherte die Mutter. »Und weil ich so ein quecksilbernes Dingelche war, drum hab ich gar oft am Morge so ein Brandbläsle aufm Quartierle gehabt. Aber beim Großvater in Eulbach hat man das bald gelernt: in der Nacht schön ruhig liege! Am Tag hat man zapple dürfe, so viel man möge hat!«

Sie haben sich alle in ein frohes Leben hineingezappelt, jene Kinder von damals – keines zappelte sich zu Tode wie jener Hirsch von sechsundzwanzig Enden, der im Eulbacher Parke mit seinem mächtigen Geweih im Sprunge zwischen den Ästen einer Eiche unlösbar hängen geblieben war und vor den Augen der erschrockenen Kinder an diesem natürlichen Galgen erschossen werden mußte. Sein Geweih hängt noch heute im Hirschsaal des Erbacher Schlosses.

Stiller als die zappelseligen Sommerwochen im Odenwalde waren wohl die Wintermonate im Professorhause auf dem Katzenmarkte zu Aschaffenburg. Aber das quecksilberne Wesen des ›Schimmelche‹ – unter welchem Spitznamen die Lotte Louis in der ganzen Stadt bekannt war – bekam auch hier keinen allzustrengen Zügel zu fühlen. Es waren [40] da nicht immer frohe Zeiten. Vier Geschwister starben in jungen Jahren; und die Mutter Louis wurde taub und krank; sie atmete fern vom Leben in einer Stube, die sie nur verließ, um nach jahrelangem Leiden zur erlösenden Ruhe getragen zu werden. Aber Karl Ludwig, der Vater, hatte doch neben allem Ernste, den sein Beruf und die herben Dinge seines Lebens in ihm erzogen, so viel vom heiteren, lebensfrohen Erbacher Blute mitbekommen, um sich nach allen Schicksalsschlägen wieder aufzurichten und seiner Tochter in drückender Stunde mit dem alten Verse raten zu können:


»Kind, das Lachen ist das Best'

Schon zu Adams Zeiten gwest.«


Er war Mathematiker, Physiker, Zoologe und Architekt, ein Jugendfreund und Studiengenosse von Klenze, Gärtner und Cornelius. Der Gelehrte, der Künstler und der Jäger mischten sich in seinem Charakter zu einem vielfarbigen Bilde. Er publizierte ein weidmännisches Werk: ›Der fährtengerechte Jäger‹; unsere Familie besitzt von seiner Hand noch Aquarelle von einer Reise, die er mit Klenze nach Italien unternahm; in München war er beim Bau des Kriegsministeriums beteiligt, in Aschaffenburg beim Bau des Pompejanums, unter dessen Wandgemälden [41] das ›Schimmelche‹ als fliegende Genie verewigt ist; und König Ludwig I. berief ihn als Professor an die Forstschule.

Wenn der Hof in Aschaffenburg residierte, wurde Professors Lottchen zu den Tanzabenden ins Schloß befohlen – vom Prinzen Adalbert erzählte die Mutter: »Der war ein bisselche hart vom Fleck zu kriege!« – und bei den Herrenabenden des Königs konnte Großvater Louis die Tafelrunde mit mancherlei unzensurierten Heiterkeiten amüsieren. An solch einem Abend produzierte er sich als Zauberkünstler und verwandelte unter dem Hut des Königs einen lebendigen Singvogel in eine kleine, leblose, täuschend nachgemachte Sache, die keine Pflanze ist und doch unter die stacheligen Gewächse mit bekanntem lateinischen Namen gerechnet wird. Der König, der einen Spaß verstand, lachte dazu: »Louis, das muß die Königin sehen!« Am folgenden Tage wurde das überraschende Kunststück vor Ihrer Majestät wiederholt. Und der König hatte sein Vergnügen an dem Schreck und Lachen seiner hohen Gemahlin.

Wir Kinder jubelten immer, wenn die Mutter das erzählte. Aber was in solchen Geschichten vorging, war nie das Beste an ihnen. Die heiterste Wirkung ging von der Art und Weise aus, wie [42] die Mutter so etwas erzählte. Ihr Wort und ihr Lachen hatten hundert Farben. Und für Dinge, die sich schwierig sagen lassen, fand sie immer ein lustiges Bild, einen reinlichen und unverfänglichen Ausdruck. Da wurde auch das Derbste zu einer harmlosen und liebenswürdigen Sache. Das war durch ihr ganzes Dasein ein Hauptzug ihres Wesens: gesunde Natürlichkeit, die zwischen den Dingen des Lebens keine großen Unterschiede machte und alles von einer unbedenklichen Seite nahm.

Aus ihren Aschaffenburger Mädchenjahren besitzen wir ein zartgemaltes Pastell, das eine schlanke, hübsche Blondine zeigt, mit lichtem Haar, mit leis verstecktem Lächeln und heiter träumenden Blauaugen. Ein Bild, das gefallen muß! Und das Professorhaus, in dem das ›Schimmelche‹ zwitscherte, wimmelte auch stets von Forsteleven, die im Dutzend aufeinander eifersüchtig waren. Zu diesem Schwarm von Verehrern, unter denen keiner dem vergnügten, zwanzigjährigen Lottchen mehr oder weniger als der andere galt, gesellte sich im Winter 1847 auf 48 mein Vater als 21 jähriger Forsteleve.

Ein blühender Apfelzweig entschied das Glück und Leben dieser beiden jungen Menschen. Wie das zuging, hab' ich in meinem Roman ›Der Hohe Schein‹ geschildert. Der Forstmeister Ehrenreich, [43] den ich allen innerlichen Lebenszügen meines Vaters ähnlich machte, erzählt da: »Auf einem Balle, den die Studenten der Forstschule gaben, fiel mir ein Mädel auf, weil es einen blühenden Apfelzweig im Haar hatte. Wie ein wirklicher Zweig mit echten Blüten sah er aus. Und mußte doch falsch sein, jetzt im Februar! Und als ich ihr vorgestellt wurde, war es mein erstes Wort: ›Meiner Seel', der Zweig ist echt!‹ Mit ihren hellen Augen sah sie mich an und lächelte: ›Sie sind der einzige, der das bemerkte!‹ Und dann erzählte sie mir die Geschichte dieses Zweiges. Vor ihrem Stübchen, dicht bei den Fenstern, stand im Garten ihres Vaters ein Apfelbaum. Und als man die Winterfenster anbrachte, wurde aus Versehen ein junger Trieb des Baumes in den Fensterrahmen eingeklemmt, daß er in die Stube hereinragte. Wie ein Wunder war's, daß der Zweig nicht abstarb. Und mitten im Winter begann er in der Zimmerwärme zu blühen. Und jetzt, dieser Zweig in ihrem Haar, um ihre Stirne ... wie schön das war!« –

Dann gab's in Aschaffenburg ein paar kleine Stürme, bis die anderen, die sich um das ›Schimmelche‹ bewarben, verdrängt waren. Ein Hartnäckiger machte vor dem Professorhause auf dem Katzenmarkte seine Mondscheinpromenaden unverdrossen [44] weiter, bis ihn mein Vater, der sich als regungslose Bildsäule auf den Brunnen gestellt hatte, in solch einer Schwärmerstunde beim romantischen Radmantel erwischte. Die Folge war eine Mensur, bei der meinem Vater die Nasenspitze abgeschlagen wurde. Sie heilte ganz gut wieder an; und die kleine Schnürung, die dann rings um die Nase herumlief tat dem festen und freundlichen Mannsgesichte keinen Eintrag.

In das erste Blühen dieses jungen Glückes fiel der Beginn der Revolution. Blieben die zwei verbundenen Herzen unberührt von allem Lebenswetter jener Zeit? Ich weiß mich nicht zu erinnern, daß Vater oder Mutter mir jemals von jenem Sturmjahr erzählt hätten. Aber ich besitze noch einen grünen Gürtel mit seidegesticktem Eichenlaub und Hirschzähnen als Eichelfrüchten. Das war die Säbelkuppel, die mein Großvater Louis als Hauptmann des aus den Forsteleven gebildeten Freikorps getragen hatte.

Dunkel erinnere ich mich, daß mein Vater von einem, Hessischen Feldzug' erzählte, bei dem nur ein einziger Schuß gefallen wäre. Und diesen Schuß hatte mein Vater gehört.

Aus dem undurchlöcherten Soldatenmantel schlüpfte er in die Uniform eines Forstamtsaktuars [45] in Kaufbeuren. Die trug er aber nur am Königstag und beim Fronleichnamsfeste. Für gewöhnliche Zeiten tat's die graue Joppe: für die Kanzlei, für die Waldbegänge und für den Abendtarok bei der Hirschwirtin. Neben dem Glück in der Liebe hatte der Vater auch noch Glück im Spiel. Er gewann so reichlich, daß er als Junggeselle davon leben und seinen Aktuarsgehalt zusammensparen konnte, um ein Jahr früher zu heiraten. Kein Wunder, daß er pünktlich zu jedem Tarok erschien. Und eines Abends wurde der Scherz gemacht: »Am Hochzeitstag, da wird er wohl ausbleiben!«

Der Vater lachte: »Wetten wir, daß ich komme?«

Eine Wette von 20 Kronentalern wurde geboten und gehalten.

Die Hochzeit kam früher, als das Brautpaar nach seinen bescheidenen Mitteln sie geplant hatte. Großvater Louis in Aschaffenburg hatte die Augen geschlossen. Und das ›Schlimmelche‹, das schon sieben Jahre auf sein Glück gewartet hatte, blieb einsam in dem leergewordenen Hause zu Aschaffenburg zurück. Ihr Bruder Wilhelm, der einzig Überlebende von allen Geschwistern, garnisonierte als Offizier der Genietruppe zu Ingolstadt.

In den Trauerkleidern, die sie um den Vater [46] trug, trat Lotte mit ihrem Gustl vor den Altar. In Ottobeuren, bei den Eltern des Bräutigams, wurden sie getraut – am 24. August 1854 – und die Postwagenfahrt nach Kaufbeuren war ihre Hochzeitsreise. Spät am Abend kamen sie in der Wohnung an, in der die ungeordneten Möbel und die verschlossenen Koffer umherstanden. Und die Mutter sagte: »So, Gustl, jetzt geh du hinauf zum Hirschewirt und gewinn deine Wett! Inzwische pack ich aus und mach unser Schlafstübbche schön gemütlich!« –

Als ich elf Monate später ins Leben hereinschlüpfte – am 7. Juli 1855 – war der Vater im Tarok noch immer so vom Glück begünstigt, daß er ein halbes Jahr lang seinen Gehalt nicht vom Rentamt abzuholen brauchte.

Etwas Ruhiges und wohlig Stilles überkommt mich, wenn ich das Bild jener versunkenen Zeit zu schauen versuche, in der eine Beamtenfamilie mit Mann und Frau und Kind und Magd noch alle Lebensbedürfnisse aus dem Gewinn eines harmlosen ›Schüsselchen-Taroks‹ befriedigen konnte, bei dem ein Umsatz von zwei Gulden als Ereignis galt. In einem Haushaltungsbüchelchen der Mutter aus dem Jahre 1856 stehen märchenhaft winzige Ziffern. Da ging der Verbrauch eines Tages nur selten [47] über den Gulden hinaus. Und dennoch wurde man satt und lebte fröhlich und ohne Sorgen!

Welch' ein friedliches und aufregungsfernes Leben muß das gewesen sein, in dem der Vater während einer Reise einen mit ›sechs Neugroschen id est einundzwanzig Kreuzern‹ markierten Eilbrief nötig hatte, um der Mutter dieses Wichtige mitzuteilen: »Frage Schneller, ob das Buchenholz für Rechtsrat Kneußl schon hereingeführt sei, nämlich das aus Schiffgerbers Holz. Sollte es noch nicht geschehen sein, so soll er sogleich es durch einen andren Fuhrmann tun lassen. Das Holz soll an die rechte Seite der Schießstätte an der Hirschzeller Straße kommen, wie ich ihm damals sagte. – Er soll nachsehen, wie die heurigen Saaten sind, die wir machten, und dir es sagen, damit du mir es schreiben kannst. – Die Kartoffeln sollen nicht vergessen werden; Schneller soll sorgen, daß sie zur rechten Zeit angehäufelt werden. – Käs kann die Streu mähen, aber er dürfe ja nur die Wege und ganz öde Plätze mähen; im vorigen Jahre habe er viele Pflanzen abgemäht; er solle also die Plätze vorher wohl untersuchen!«

Mein Vater hatte damals, 1857, von der Regierung ein Reisestipendium bekommen, um die forstwirtschaftlichen Verhältnisse in Mittel- und [48] Norddeutschland zu studieren. Von dieser Reise, die drei Monate dauerte, blieb ein Päckchen zärtlicher Briefe erhalten. Diese vergilbten Blätter! Ich kann sie nicht berühren, ohne daß mir Herz und Hände zittern.

Was da geschrieben steht, das zeigt eine Zeit, ein Glück und einen Menschen.

Die Eisenbahnfahrt von Augsburg nach Frankfurt ist eine ›sechzehnstündige Folter‹, die alle Glieder so durcheinander rüttelt, daß ein fester und gesunder Mann ein paar Tage braucht, um sich zu erholen.

»Bad Soden gefiel mir, was Lage und Gegend anbelangt, denn diese und das Klima sind wirklich italienisch zu nennen; lauter hübsche, geschmackvolle Häuser, von Gärten rings umzogen, mit Eppich und wilden Weinreben bewachsen; von herrlichen Anlagen das hübsche Kurhaus umgeben; die Gegend hügelig, die Felder mit Obstbäumen, an den Hängen Kastanienhaine; das zusammen gibt ein liebliches Bild. Weniger zog mich an das Badeleben daselbst, da die geputzten Herren und Damen, diese mit enormen Krinolinen und Volants, mit dem lieblichen Bilde der dortigen Natur sonderbar kontrastierten.«

Die Herrlichkeiten von Darmstadt, Mannheim, Heidelberg, Tharand, Potsdam, Berlin und Dresden[49] werden mit einer Begeisterung und mit Farben geschildert, wie sie das globetrottende Volk von heute nur noch für Afrika und Indien übrig hat. Aber dieser Reisende, der in der Ferne wandert und mit hellen Augen genießt, ist mit dem Herzen doch immer daheim. Alles Schöne der Fremde wird ihm zu einer Mahnung an die Heimat, zu einem sehnsüchtigen Gedanken an die Seinen.

»Wenn die Natur mein sonst zum Enthusiasmus nicht eben geneigtes Gemüt begeistert; wenn sie mein Gefühl aus seiner etwas rauhen Schale hervorzwingt und mich so wunderlich weich macht, so geschieht das nur, weil ich stets bei allem Schönen euer gedenken muß. Wenn ich mich freue, daß die Schöpfung so groß und herrlich ist, wie sollte ich denn nicht auch zugleich mich freuen, daß ihr, meine theuersten, theil an dieser Schöpfung habt, in der ja auch das kleinste, so weise erdacht, seinen Zweck erfüllt. Erquickt eine liebliche Gegend die Seele, macht ein romantisches Felsthal uns staunend schauen, giebt uns der brausende Bergstrom das warnende Bild eines wildbewegten Lebens, – so dürfen wir doch auch im kleinsten nicht der Schöpfung kluge Freundlichkeit übersehen. Betrachte einen grünen Baum! Als Forstmann erwäge ich, wie so manchen Zwecken nützlicher Verwendung er dient; als [50] dein Liebster denke ich, daß er Ruhe in dein Auge geben würde, dich rasten ließe in seinem kühlenden Schatten. Betrachte einen toten Stein! Für uns Menschen ist er lebendiger Vortheil, vom größten Block, der mich werdende Häuser, Schulen und Brücken sehen läßt, bis zum kleinsten farbigen Kiesel, bei dem ich denke, er könnte ein lieb Spielzeug für unsere Kinder sein. Sie ist schön, diese große Welt. Aber in unserer kleinen daheim ist's halt doch am schönsten.«

»Daß du so viel von Ludwigs drolligen Streichen mir schreibst, dafür danke ich dir herzlichst. Du weißt ja, wie ich den guten Kerl so lieb habe, und daß derlei pfiffige Possen mich von ihm ergötzen. Ich habe sie Bäschen Emma und Vetter Anton vorgelesen. Denen kamen die Thränen vor Lachen. Anton konnte ein bisgen Heiterkeit auch brauchen. Der Krankheitszustand seiner Frau (Epilepsie) ist noch schlimmer fast als früher. Zwei Kinder kamen – wohl zu deren Glück – zu früh und tot auf die Welt, und bei dem nächsten wird es wohl auch nicht besser gehen. Dem letzten Kinde machte Anton selbst den Sarg, und verzierte ihn, schmückte ihn mit Engeln und Lichtern und saß bitterlich weinend die ganze Nacht davor. Der arme Kerl dauert mich sehr, und seinem Kummer gegenüber bedrückt mich [51] Sorge um euch, aber ich denke auch mit doppelter Süßigkeit daran, wie sehr ich unserer Kinder Geburt ersehnte, welche Freude ich bei ihrem ersten Laut empfand, wie viel Freude ich an ihnen noch zu erleben hoffe.«

»Ob du wohlseiest und die Kindergen gesund, das ist die Hauptfrage mit der ich erwache, mit der ich mich schlafen lege, von der ich träume.«

»Dich muß ich manchmal beneiden: du hast die beiden Kleinen, kannst sie herzen und küssen, kannst an Ludwigs kecken Streichen dich erheitern, über Bertas freundliches Lächeln dich freuen, in solcher Freude dich trösten. Mir mangelt meine ganze Welt, die ihr seid. – Wie ich fort von dir ging, war Ludwig vor dem Hause, und ich ging rückwärts durch den Hof; der liebe Schlingel hörte mich und rief aus voller Brust: ›Papa!‹ Aber ich kehrte nicht mehr um, da der Abschied mir ohnehin so schwer geworden. Ich überwand es. Wie oft mir aber dieses ›Papa‹ in Gedanken wiedertönt, kann ich dir nicht sagen; wo ich stehe und gehe, höre ich es; wo der Laut eines fremden Kindes mir klingt, glaube ich die Stimme des meinen zu vernehmen. Oft schon stieg mir Reue auf, daß ich nicht damals zurückkehrte und ihm noch einen herzhaften Kuß auf sein schelmisch Gesichtchen drückte. [52] Die Thränen stehen mir in den Augen, während ich dies schreibe, und die Buchstaben schwimmen vor meinem Blick. – Denke ich zurück an die Zeit, wo wir uns kennen lernten, wo unsere Herzen sich fanden, unbeirrt durch so viele Schwierigkeiten – denke ich daran, daß wir uns in diesen drei Jahren unserer glücklichen Ehe ebenso innig liebten wie vorher – so fühle ich, daß dies alles früher mir noch weniger klar denn jetzt war, wo ich zum erstenmal und so lange von euch getrennt bin. Jetzt erst in vollem Maße erkenne ich, wie theuer ihr mir seid, wie glücklich und zufrieden ich bin. Dieses frohe Gefühl erschwert mir wohl die Trennung, läßt sie aber doch anderseits auch leichter tragen. Ich muß es halt machen, wie Freund Eulenspiegel, der immer gerne den Berg hinaufstieg, in der Hoffnung, daß es dann flink und fröhlich hinuntergienge ins schöne Thal. Und du, lieb Lollichen, mache es ebenso in deiner Sehnsucht! Du kannst doch leichter auch die noch übrige Zeit der Trennung überstehen; du hast ja unsere Kindergen, hast treue, liebende Seelen um dich, hast so viele liebe, freundliche Frauen, die gerne dich erheitern möchten. Und ich in Gedanken bin immer bei euch, vergesse dich nie und niergends!«

Die Liebe, die aus diesen vergilbten Blättern [53] redet, umgab mit beseelter Wärme meine Kindheit. Sie sprach zu mir aus jedem ruhigen Blick des Vaters, aus jedem heiteren Lachen der Mutter. Wie hätt' ich meiner Kindheit nicht froh werden, wie hätt' ich nicht an das Leben glauben, das schöne Leben nicht lieben sollen?

In jenen Briefen meines Vaters kehrt das ein paarmal wieder: treue Seelen, liebe freundliche Frauen.

Und wenn ich, in meiner Erinnerung wühlend, die Augen schließe, höre ich aus jener Zeit ein Lachen von herzlichen Stimmen, sehe einen weißgedeckten Tisch mit goldgeränderten Kaffeeschalen und großem Guglhupf, sehe sechs oder sieben junge und bejahrte Frauen in hochgebauschten, weit auseinanderfließenden Röcken. Über die Schläfen der heiteren und flinkbeweglichen Gesichter legen sich die lichten oder dunklen Haare in Glockenform heraus, so daß von den Ohren nur die kleinen Läppchen noch hervorgucken, an denen etwas Feines und Glitzeriges baumelt. Und wenn der Abend dämmert, ist plötzlich die ganze Stube mit plaudernden Menschen angefüllt – ich höre tiefes, kräftiges Sprechen und sehe zwischen den Frauen die bärtigen Mannsgesichter, sehe, wie sich die Rauchwölkchen aus den gelben Meerschaumpfeifen kräuseln. [54] Und wenn in diesem Zwielicht ein Fidibus sein wachsendes Sternchen aufbrennen läßt, dann werden die fröhlichen Gesichter zur Hälfte rot, es glänzen alle Dinge auf dem weißen Tisch, und an den Möbeln funkeln die polierten Leisten.

Einer von diesen ruhigen Männern ist mein Vater, eine von diesen lachenden Frauen ist meine Mutter. Welcher? Und welche? Das kann ich nimmer sagen. Aber ich weiß noch, wie ein paar von den anderen hießen: Herr und Frau Schrader; der Bürgermeister Heinzelmann und die Bürgermeisterin, die um ihres guten Herzens willen den Spitznamen ›das Liebhaberle‹ bekam; die Hirschwirtin, Frau Apotheker Roth und Magistratsrat Hafner; die Brüder Probst und ihre Mutter, in deren altem Kaufmannshause wir wohnten – ein Haus, in dem es immer so köstlich nach frischgebranntem Kaffee, nach Johannisbrot und Feigen duftete.

Ein Vierteljahrhundert später, als Vater und Mutter in München noch beisammen waren, plauderten sie noch immer gerne von Kaufbeuren, sprachen von den Freunden, die noch lebten oder schon gestorben waren, gaben jedem Namen, den sie nannten, das Eigenschaftswörtchen ›lieb‹ oder ›gut‹ – und wenn sie nachdenklich schwiegen, pflegte [55] die Mutter nach einer Weile mit leisem Seufzer zu sagen: »Ach Gottele! Die schöne Zeit! Die kommt halt nimmer wieder!«

Auf solch ein Wort sagte der Vater gerne: »No, schau, Lotte, jetzt hast du's doch auch nicht schlecht!«

»Ei freilich, ja! Gott sei gepriesen und gebimmelt!« Da hatte die Mutter nach Tränen ihren Humor wieder gefunden. »Wenn's nur aushält, bis man himmelt!« –

Vom letzten Tage, an dem wir Kaufbeuren bei tiefem Schnee verließen, blieb mir noch die Erinnerung an viele, viele Hände, die rings um den Schlitten waren und wirr durcheinandergriffen, immer über mich hinweg. Ich atmete schwer und hatte das Gefühl einer großen Hitze – so dick war ich eingemummt zum Schutze gegen den grimmigen Frost.

Von den Etappen dieser Winterreise ist mir nichts im Gedächtnis geblieben als ihr frierendes Ende. In einer Kälte, die jeden Hauch zu Eis gerinnen machte, fahren wir durch den tiefverschneiten Adelsrieder Forst, mit dem die endlosen Wäldermassen des ›schwäbischen Holzwinkels‹ begannen. Verendete Rehe lagen neben der Straße im Schnee. Und ausgehungerte Hafen hoppelten eine lange [56] Strecke hinter dem Schlitten her, um jeden Faden des davonwehenden Heues aufzulesen, mit dem die Schlittenkufe neben den Pelzen und Fußsäcken angefüllt war. – Das erzählte mir in späteren Jahren die Mutter. – Ich selbst bewahre nur die Erinnerung an etwas schrecklich Weißes, an einen quälenden Schmerz in den Augen, an ein Gefühl, daß ich keine Hände und Füße mehr hätte, nur noch einen schnatternden Kopf – und besinne mich noch auf eine traumartige Furcht, in der ich glaubte, daß wir einer grauenvollen Sache immer näher kämen.

Und die Schellen der Schlittengäule klingelten mich doch an jenem weißen, frierenden Tage langsam hinein in eine wunderschöne, sonnenreiche, jubelnde Knabenzeit!

[57]
2.
II.

Kommt man auf der schwäbischen Poststraße von Augsburg her, und fuhr man an den alten Schlössern von Hamel und Aystetten vorüber, so versinkt die Straße in dunklen Fichtenwäldern, die fast kein Ende mehr nehmen wollen. Das ist der Adelsrieder Forst. In der Mitte des Waldes stand ein Kreuz; da wurde vor hundert Jahren eine Bäuerin mit ihrer Tochter von Wölfen zerrissen. Dann wieder Wald und Wald, bis die dunkelgrünen Schatten sich endlich öffnen zu einem hellen, hügeligen Wiesengelände.

An diesem Tor des Waldes sagte wohl mein Vater damals bei jener Winterreise zu der Mutter: »Schau, Lottchen, da fängt mein Revier an! Und vier Stunden braucht man bis zur anderen Grenze.«

Man fährt an dem Dorfe Kruichen, an dem Mühlweiler Ehgarten vorüber; und nach einem [58] Stündchen, das nur vierzig Minuten hat, kommst du im schmalen Tal der Laugna nach Welden im Holzwinkel.

Das ist zu Winterszeiten keine gemütliche Landschaft. Aber der Frühling schüttet liebliche Schönheit über dieses stille Bachtal, das sich zu einem stundenweiten Rund von sanftgewellten Hügeln auseinanderdehnt. Ein dichtgeschlossener Kranz von Wäldern, in denen das strenge Nadelholz nur kleine Laubparzellen duldet, schließt sich als ein blaudunkler Wall um diesen Kessel dörflicher Kultur. Getreidefelder und Wiesen sind noch zahlreich von kleinen Gehölzen durchsetzt, die in der Nähe der Häuser zusammenfließen mit den Weißdornhecken und den blühenden Obstbäumen der Gärten.

Heute ist Welden eine stattliche Ortschaft mit Eisenbahn und Telegraph. Damals in meiner Kindheit, vor 48 Jahren, war's ein Dorf mit 800 Seelen wie der Pfarrer zu sagen pflegte; und der Postbote mußte täglich drei Stunden weit nach Zusmarshausen laufen, um die vier Zeitungen und die sieben Briefe zu holen. Einmal in der Woche fuhr ein Bote, der Stanger, mit seinem langen Blachenwagen nach Augsburg hinein und brachte, was man im ›Botebüechle‹ bei ihm bestellte. Das war die Verbindung des Holzwinkels mit der großen Welt.

[59] Seit einem halben Jahrhundert sind die Häuser nach dem Dutzend gewachsen, und das Dorf hat sich durch die vielen Neubauten anders gestaltet. Früher glich es in seiner Anlage einem lateinischen H, das sich auf die lange Seite legte: zwei gestreckte Gassen, die durch Wiesen und den Bachlauf voneinander getrennt, durch eine häuserlose Pappelallee miteinander verbunden waren.

Die obere Gasse hieß die Kirchgasse; hier stand die große, schöne, mit hübschen Fresken ausgemalte Zopfkirche, die ein prachtvolles Geläute hatte; daneben die Schule, das Bräuhaus und der Pfarrhof; nicht weit davon das verwahrloste Benefiziatenhaus mit gutgepflegtem Garten, der Kirchgasseleskramer, der Kirchgasselesschmied, der Schuster und Schneider – und ganz am anderen Ende der langen Gasse noch ein Handwerker, dessen Schild aus der Kultur unserer Zeit verschwunden ist: der Doser, der die Schnupftabaksdosen aus gepreßter Birkenrinde fabrizierte und als Nebenverdienst die Laubsägen feilte, deren Stahlstaub, wenn er in ein brennendes Kerzenlicht gestreut wurde, sich in blitzende, wundersam schöne Sternchen verwandelte. Zwischen dem Doser und der Kirche lagen die Höfe wohlsituierter Bauern Zaun an Zaun. In der langen Reihe dieser mächtigen Strohdächer stand noch ein [60] schmuckes, mit Ziegeln gedecktes Gebäude, von dem durch einige Jahre eine ruhelose Plage für meinen Vater ausging: das Haus des pensionierten Revierförsters Bauer, der seinem jungen Nachfolger so lange das Leben mit allerlei Hetzereien sauer machte, bis eine Haussuchung bei dem würdig aussehenden alten Herrn zwei gewilderte Rehgeißen im Keller fand. Dann war Ruhe.

Dieser Staatsbeamte hatte in seinem eigenen Besitz gewohnt, und so war kein Forsthaus da, als mein Vater kam. Die Regierung mietete das zweistöckige Anwesen eines Maurermeisters und wies es nach einem notdürftigen Umbau meinem Vater als Dienstwohnung an.

Dieses Haus lag in der unteren Gasse, die man die Bachgasse nannte, weil sie sich am Ufer der stillfließenden Laugna entlangstreckte. In dieser Gasse residierten nur ein paar von den schweren Bauern des Dorfes; dazu der Wirt zum Fäßler, der große Rollewirt und der allmächtige Nagelschmied, welcher Bürgermeister war und wegen seiner frommen und segensvollen Redensarten den Spitznamen ›der heilige Vater‹ bekam. Was in der Bachgasse sonst noch an Bauern hauste, das waren die vielen ›Kloinzuigler‹, die mäßig begüterten Söldner mit zwei oder drei Kühen. Im übrigen [61] war die Bachgasse der Sitz der Staatsgewalt, der freien Wissenschaft und der Industrie. Denn hier hauste neben dem neuen Revierförster noch der Malz-Aufschläger und der Doktor. Hier saß als unser Wiesennachbar der Bachgasseleskramer, der den wunderlich schönen Namen ›Millimattler‹ führte; man denkt bei diesem Namen doch gleich an einen Schmetterling oder sonst an etwas Leichtes und Flatterndes; aber der Millimattler war ein kleiner Mann mit dickem Bauch, und als er starb, erschien zu seiner Nachfolge in der Krämerei ein großer Mann mit dickem Bauch und mit dem zutreffenden Namen Schweinberger.

Rings um unser Haus her, das mit seinem ziegelroten Anstrich von überall zu sehen war, saß ein Handwerker neben dem anderen – Dächer, unter denen ich genau so heimisch war, wie unter dem Dache meiner Eltern. Unser nächster Nachbar bachaufwärts, nur zehn Schritte über die Straße hinüber, war der Wagnermeister – in Welden sagten sie: der Wanger – dessen Hausmauer kaum zu sehen war unter dieser Menge von spiralförmig entrindeten Birkenstangen, die da zum Trocknen in der Sonne standen und der Bestimmung entgegenharrten: lange Wagendeichseln zu werden, auf denen man sich prächtig schaukeln konnte, bis [62] sie plötzlich entzweibrachen. In der Werkstatt des lieben, guten Wangers lernte ich das Schnitzeln, Hämmern und Sägen; und an seinem Tisch bekam ich alle kulinarischen Herrlichkeiten des Dorfes zu kosten: die Gruiben im Sauerkraut, die Dampfnudeln in der Schleifersbrüh, die gschupften Baunzen, die Äpfelküchle und das Huzelbrot. Wie beim Wanger, so war ich Tischgast in der ganzen Nachbarschaft; und weil da schon um elf Uhr immer Mittag gehalten wurde, kam ich um zwölf Uhr satt an den Tisch der Mutter und wollte nichts mehr essen; aber eine Stunde vor der Kaffeezeit bekam ich wieder Appetit und wenn ich dann zur Mutter lief und klagte: »Mammi, hungere tuet mich!«, so pflegte die Mutter zu sagen: »Schleck e Salz, so tut dich dürschte.«

Neben dem Wanger hatte der Bachgasselesschmied ein großes Haus auf dem Marktplatze; aber dieser ›Schmied‹ war eine lange, magere Wittib, die drei Söhne hatte, zwei riesenstarke Schmiedbuben und einen stummen, verkrüppelten Trottel, der auf den Händen im Hof herumrutschte und die kurzen Beinstumpen in zwei abgewetzten Ledertöpfen stecken hatte. Ich weiß nicht, wie er hieß; man nannte ihn nur ›das Männdele‹; und als die Schmiedin das Zeitliche segnete, starb zwei [63] Tage später auch das Männdele, ohne daß es vorher krank gewesen wäre.

Ein paar Häuser bachaufwärts ratterten die Lohstampfen des Gerbers, der immer nach Eichenlohe roch, die C-Trompete blies, einer von den sieben Liberalen des Dorfes war und im Bürgermeisteramte der Nachfolger des Heiligen Vaters wurde. Vor dem Hause des Gerbers hatte die Laugna den tiefsten Gumpen – und da könnt ihr euch denken, wie oft ich mit der verbotenen Angel zum Haus des Gerbers lief.

Hinter dem Gerber hauste der Schreiner, der sieben Kinder und vom vielen Hobeln ein krummes Schienbein hatte. Dann kam der Schlosser, der mir das beibrachte, wie man ein Zündloch in die alten Kirchtorschlüssel bohrt, um sie in ›Schlüsselbüchsen‹ zu verwandeln, die beim Schießen in der Hand zerspringen – will man dabei seine zehn Finger behalten, so muß man so was ähnliches sein wie ein Sonntagskind.

Schräg über der Straße drüben stand das Haus des Zimmermeisters Kriechbaum, der immer ein spöttisches Lächeln um den rasierten Mund und nur ein einziges Auge hatte, weshalb er der ›Enägl‹ hieß. Nach Verkündigung des Infallibilitätsdogmas spielte dieser Enägl eine sehr [64] dunkle Rolle in der schauerlichen Tragödie des Pfarrhofes.

Fünfzig Schritte weiter bachaufwärts wohnte der Drechsler, bei dem ich das ›Draxeln‹ studierte und jene rote Spinnräderbeize kennen lernte, die man vierzehn Tage nicht mehr von den Fingern wegbrachte.

Gegenüber hauste der Jäger-Uerle, dem das Fischrecht in der Laugna gehörte, ein Umstand, der ihn zu meinem erbitterten Feinde machte, bis wir durch eine merkwürdige Begebenheit – die ich in meiner Skizzensammlung ›Die Jäger‹ erzählte – die besten Freunde wurden.

Und ganz am Ende der Gasse, noch hinter der Nagelschmiede des Heiligen Vaters, klapperte und klopfte im letzten Häuschen des Dorfes der magere und wortkarge Spengler. Der hatte zwei Töchter, die so mollig und hübsch waren, daß sie allen Burschen im Dorf gefielen. Die Gegend um dieses Haus herum war ein gefährlicher Platz. Hier wurde am meisten gerauft und geprügelt. Und nicht weit von dieser Stätte des Unfriedens war der große Sandbruch, wo man immer den Hals riskierte und die Hosen kaputt machte, wenn man über die steilen Sandsteinflächen sitzlings herunterschlitterte.

Nach der westlichen Seite unseres Hauses, bachabwärts, [65] kam zuerst der Maurermeister, der sich vergnügt ein neues Haus gebaut hatte, weil ihm die Regierung das alte, in dem wir wohnten, so gut bezahlte. Sein Nachbar war der Bäck, bei dem ich stundenlang im Teig herumzwalgte und träumend in das Spiel der langen, seingezüngelten Flammen guckte, die aus den Luftlöchern des Backofens herausschlugen, wenn er geheizt wurde. Nicht weit vom Bäck war das Färberhaus, in dessen säuerlich riechender Werkstatt ich bei jedem Besuche blaue Hände bekam, ein blaues Gesicht und blaue Kleider – und das war ein Blau, das noch dauerhafter war als die rote Spinnräderbeize des Drechslers.

Drüben über dem Bache stand das Haus des Buchbinders, der in einem großmächtigen Topfe den vielverwendbaren Kleister kochte, und dessen kränklicher Sohn die Ursache der fürchterlichsten Hiebe wurde, die ich in meiner Kindheit zu verschmerzen hatte.

Dann kam das liebe Haus, in dem mein guter ›Maler-Papi‹ seine herrlichen Künste trieb: der Malermeister, Vergolder und Lackierer Georg Vogel. Über dem Bache drüben knetete der Sattler mit seinem dicken Daumen das Leder, aus dessen Abfällen ich meine Schleudern fabrizierte. Und am westlichen Ende der Bachgasse war der Gürtler, [66] der immer alles wieder löten mußte, was ich an Kupferzeug und messingenen Dingen kaputt gemacht hatte. Und das allerletzte große Haus, das war die Mühle, dieses klappernde, mehlstaubende Reich aller Kinderherrlichkeiten.

Die obere Gasse des Dorfes, die Kirchgasse, blieb für mich zwei Jahre lang eine ferne und fremde Welt, die ich erst kennen lernte, als ich in die Schule kam. Und auch in späteren Jahren behielt sie für meine Kinderaugen noch immer etwas Dunkles und Unerkanntes. Meine klare und sichere Heimat, die ich bis ins kleinste kannte, das war und blieb die Bachgasse, in deren Mitte das Haus meiner Eltern stand.

Mit der Morgenseite sah dieser rötlich getünchte Fensterkasten gegen die Straße hin, dem Haus des Wangers gegenüber. Die Südseite war durch ein winziges Gärtchen vom Ufer des Baches getrennt und blickte nach der schönen Pappelallee und nach der großen Holzbrücke, die man die ›Mucklsbruck‹ nannte, weil sich auf ihrem Geländer ein heiliger Nepomuk in schwarzem Talar und weißem Chorhemd erhob, der ein hölzernes Gebetbuch zärtlich an seine Brust drückte; unter seiner linken Achselhöhle war immer ein Spatzennest.

Gegen Westen guckte die Scheunenwand des [67] Hauses dem Lauf der Laugna nach und war durch eine Wiese, die mein Vater gleich im ersten Jahr in einen Pflanzgarten für Ziergewächse verwandelte, vom neuen Haus des Maurermeisters geschieden; und hier, an der Scheunenwand, lag der stubengroße, mit hohen Staketen umzäunte Hundezwinger; die Hundehütte hatte zwei Schlupflöcher – die rechte Abteilung gehörte dem braunen Hühnerhund Unkas und mir, die linke dem gelben Teckel Kastor und meiner Schwester; das Besitzrecht wurde eifersüchtig behütet, und bei gelegentlichen Übergriffen gab es scharfe Raufereien zwischen Unkas und Kastor, zwischen meiner Schwester und mir; die Hunde bissen, wir Kinder kratzten. Diese Hundehütte, an deren Giebelwand ich meine ersten Schreibkünste versuchte, steht noch heute im Hof des neuen Forsthauses zu Welden.

Gegen Norden, vor der Haustüre, die eine hübsche Holzveranda bekam, lag ein geräumiger Kiesplatz, mit Johannis- und Stachelbeerstauden am Zaun entlang und mit einem einsamen Apfelbaum; er trug jene Gattung frühzeitiger Äpfel, von denen behauptet wird, daß sie schon um Jakobi reifen; aber das erlebten sie nie; sie waren immer schon vier Wochen früher gefressen. Über dem Zaun drüben lag der große Wiesgarten des Millimattlers; [68] man sah das Krämerhaus, das Gehöfte der Bachgasselesschmiedin, sah den bergansteigenden Marktplatz mit dem ›Fäßlerwirt‹, mit dem hohen, engbrüstigen Doktorhause und mit dem riesigen, das ganze Dorf beherrschenden Dache des Rollewirtes. Auf der Höhe des Marktplatzes standen noch ein paar kleine Häuser, deren nach Süden schauende Fenster in der Sonne immer wie grellblitzende Feuerchen waren. Und hinter diesen Häusern erhob sich der hohe, von Buschwerk überwucherte, mit kleinen Wäldchen gesprenkelte und einen mächtigen Sandbruch bildende Theklaberg.

Hoch droben auf diesem Berge lag eines von den Märchengefilden meiner Kindheit. Hier stand vor Zeiten einmal das Jagdschloß eines Grafen Fugger. Der wurde auf einer Parforcejagd vom Blutsturz befallen, und während ihm der rote Quell des Lebens aus der Kehle sprudelte, tat er das Gelübde, der heiligen Thekla eine Kirche zu bauen. Als die Kirche in schönem Glanze fertig stand, war die Familie des Grafen verarmt und zog von Welden fort. Das Jagdschloß wurde auf Abbruch verkauft und niedergerissen. Und von der gräflichen Herrlichkeit blieb neben der prächtigen Kirche nur ein verwahrlostes Kaplanhaus stehen, das zur unheimlichen Gespensterstätte wurde, als wir Buben [69] eines Tages in dem verödeten Haus ein Skelett unter der verfaulten Diele fanden. Noch ein zweites kleines Gebäude stand in der Nähe, unter riesigen Linden: das Häuschen des Gemeindedieners, des ›Berg-Verele‹, der ein Dutzend wunderlicher Spitznamen führte, eine vertrottelte Tochter und zwei pfiffige Söhne hatte und nach einem friedfertigen Leben eines jämmerlichen Todes sterben mußte; er wurde das Opfer einer Explosion; weil er hundertvierzig Zwetschgen mitsamt den Kernen verschluckt hatte, zersprang ihm der Magen.

Hinter der Theklakirche war ein lehmiges Gelände mit einem Dutzend großer und kleiner Weiher. Die größeren hatte der Doktor mit einem Zaun umgeben, um hier eine Fischzucht für Karpfen und Hechte anzulegen. Aber dieser Zaun, trotz Dorngestrüpp und Stacheldrähten, war leicht zu überklettern, und dann konnte man die Karpfen mit der Fischgabel herausstechen und die Hechte mit der Drahtschlinge fangen – wobei man sich freilich vom Doktor nicht erwischen lassen durfte. Und in den kleineren Weihern und Pfützen gab es Frösche dem Tausend nach. Da brauchte man nur ein rotes Tuchzüngelchen an die Angel zu spießen, und dann sprangen die dummen Frösche wie verrückt nach diesem leuchtenden Käferchen in die Höhe.

[70] Wie war das schön, wenn die Sonne über diesen gelben Wasserflächen glitzerte und lachte! Aber seltsam gruselig wurde es am Abend, wenn diese tausend Frösche zu unten begannen – das wurde ein mächtiges Lied, das man weit hinaushörte über das stille, dämmernde Tal.

Um zu den Herrlichkeiten des Theklaberges emporzugelangen, hatte man einen steilen, schweißtreibenden Weg hinaufzuklettern. Herunter ging es um so flinker. Da setzte man sich hoch droben am Rande des Sandbruches auf einen dicken Fichtenast, nahm das Zweigholz als Lenkstange zwischen die Beine – und so fahr man los. Ein Saus, daß einem Hören und Sehen verging, und dann war man schon drunten auf dem Marktplatz, schlug im linden Sand ein paar unfreiwillige Purzelbäume, stand lachend und mit leidlich gefunden Gliedern wieder auf – aber wenn man heimkam, schlug die Mutter die Hände über dem Kopf zusammen und jammerte: »Ach, Gottele, Bub, wie siehst du denn wieder aus!«

So oft ich an unsere Haustür in Welden denke, spür' ich immer die Finger der Mutter um mein Handgelenk herum, habe das Gefühl, daß ich nicht gehe, sondern flink gezogen werde, und höre eine liebe Stimme, die schelten möchte, aber lachen [71] muß. Und dann klingt wohl auch eine andere Stimme dazu, die den Versuch macht, streng zu sein: »Natürlich, jetzt kann ich wieder eine von meinen guten Hosen zerschneiden lassen! Hau doch dem Lausbuben eine hinter die Luser! Er muß doch einmal merken, daß man die Hosen nicht geschenkt bekommt.« Aber die Mutter schlug mich nie; sie ›pritschte‹ mich nur manchmal ein bißchen; das tat nicht weh. Und auch, wenn die Mutter zornig wurde, behielt ihr Schelten im Dialekt noch etwas Heiteres. Der Vater sprach fast immer Hochdeutsch mit uns Kindern; im Dialekte sprach er nur mit den Bauern, die in seine Kanzlei kamen oder im Wald und auf der Straße mit ihm schwatzten; seine Art zu sprechen, blieb seit meiner Kindheit bis zu seinem Tode immer die gleiche; der Sprachklang der Mutter wechselte von Ort zu Ort; überall nahm sie gleich was an; und in ihren späteren Jahren zwitscherten Fränkisch, Kaufbeurisch, das Staudenschwäbische und das Oberbayerische mit dem Hochdeutsch drollig durcheinander.

Von der Haustür führte ein schmaler Flur nach der Küche. Zur Linken lagen die Wohnstube und das Schlafzimmer der Eltern. Zur Rechten, unter der steilen Holztreppe, mußte man durch ein dunkles Gängelchen tappen, um in Papas Kanzlei [72] zu kommen, die früher der Stall war; wie oft man da auch mauerte und weißte – es blieben immer große, feuchte Flecken an den Wänden und an der Decke. Solche Flecken gab es auch in allen anderen ebenerdigen Räumen des Hauses; im Keller stand immer das Druckwasser der Laugna; und die Mutter jammerte stets um die ›teuren Tapeten‹ und klagte, daß all ihre ›schönen Sächelgen‹ schimmelig würden und kaputt gingen. Ich erinnere mich an ein Wort, das sie hundertmal sagte: »Wenn d' Regierung da net bald emal Füeß macht, gehe mer noch alle drauf!«

Über die steile Treppe, deren Geländerstange durch mein vieles Herunterrutschen eine glänzende Politur bekam, ging es hinauf in unser ›Salönle‹, das schneeweiße Spitzenvorhänge und ›Pariser Möbel‹ mit grünen Ripsbezügen hatte. Hier wurden die ›Besuche‹ empfangen. Und wenn ich im Sonntagskittelchen dabei sein mußte, war das immer eine qualvolle Viertelstunde; ich bettelte mit den Augen, ruschte und zappelte, bis die Mutter endlich sagte: »In Gottesname, so spring halt davon, du Wanzele du ewigs!«

Hinter dem Salon war das Fremdenzimmer, das auch als stetsverschlossene Aufbewahrungsstätte für die Äpfel und das Eingemachte benützt wurde.

[73] Und gleich bei der Treppe lag die große Kinderstube. Hier stand in der linken Ecke das Bettchen meiner Schwester, in der rechten das meine. Dazwischen waren die beiden Fenster, durch die man die Laugna sah, den heiligen Nepomuk, die Pappelallee und die ferne, fremde, unerforschbare Kirchgasse. Die große Kostbarkeit unserer Kinderstube war die alte, hohe Standuhr aus Urgroßvaters Zeiten. Als Kind glaubte ich immer, daß der Name Urgroßvater von dieser Uhr herkäme. In ihrem Kasten konnte man sich so schön verstecken! Aber wenn man dabei eine unvorsichtige Bewegung machte, stach man sich den Dorn des Perpendikels in den Nacken oder bekam von den schweren Uhrgewichten eine Beule am Hinterkopf. Und dann mußte die Mutter immer den Doktor und den Uhrmacher holen lassen.

Vom Söller vor der Kinderstube ging eine Stiege zum großen, dämmerigen Bodenraum hinauf, zu diesem Seligkeitsreiche unter dem elterlichen Dache. Hier konnte man nach Fledermäusen jagen, konnte durch die Dachluken mit dem Blasrohr Erbsen und Lehmkügelchen auf die steifen Bauernhüte hinunterschießen. Hier hingen die Rehfelle zum Trocknen, die Fuchs- und Marderpelze, mit denen wir uns als ›Wilde‹ maskierten. Hier stand [74] der Korb mit den ›Wäschkluppen‹, die man dem Schwesterchen an die Ohrlappen, ins Haar und an die Nase klemmen konnte – und in einer Kiste wurde hier der kostbarste von unseren Kinderschätzen verwahrt: das große ›Figurentheater‹, das wir vom Onkel Wilhelm zu Weihnachten bekommen hatten. Die tischgroße Bühne wurde mit kleinen Lämpchen beleuchtet, hatte ein griechisches Portal mit rotem Vorhang, Pappfiguren an Drähten und Klappkulissen mit vier Dekorationen: Grafenzimmer und Bauernstube, Schloßhof und Wald. Auf diesem Theater konnte man zwei Märchen spielen: Dornröschen und Rotkäppchen. Aber wir spielten auch alle anderen Märchen, die uns die Mutter erzählte – und es machte keinen Riß durch unsere Phantasie, wenn wir die Figur des Königs den Höllenfürsten mimen, oder Rotkäppchens Großmutter das ›Käschperle‹ spielen ließen. Ich war der Schauspieldirektor, der alle Figuren reden ließ, und meine Schwester und Doktors Elsbethle waren das unersättliche Publikum. Manchmal durften auch ein paar von meinen Gasseleskameraden diese Herrlichkeiten mitgenießen. Nur erwachsene Leute mochte ich nicht als Zuschauer haben – weil sie, wenn ich meine Figuren ernst und zärtlich reden ließ, immer so fürchterlich lachten. –

[75] Doktors Elsbethle!

Bei diesem Namen steigt etwas Süßes und Schreckliches aus der Vergangenheit herauf.

Ich sehe ein flinkes, zartes Mädelchen von fünf Jahren, mit schmalem Vogelgesichtchen und großen Augen. Dunkle Haare liegen glatt und glänzend um die Wangen her und sammeln sich im Nacken zu einem straffen Schwänzchen mit grasgrüner Masche. Das stille Mädchen hatte immer einen traurigen Blick und ein flehendes Lächeln um den Mund herum; es trug ganz kurze Röcklein, nur bis zum Knie; aber die mit Spitzen besetzten Unterhöschen reichten hinunter bis zu den Fußknöcheln.

Zuerst konnte ich das Elsbethle gar nicht leiden – weil es ein Mädel war. Unter dieser zähen Aversion gegen alles, was nicht Bub hieß, hatte ja auch meine eigene Schwester zu leiden. Und wenn mir im Dorf ein Mädel in die Nähe kam, schrie ich immer gleich: »Gehscht weg, du!« ... und dachte bewußt oder unbewußt an die dunkle Geschichte, die ich zu Kaufbeuren mit dem Theresle erlebt hatte. Die Bachgasselesmädchen im Dorfe ließen sich meinen männlichen Zorn nicht gefallen, schimpften energisch zurück und erfanden allerlei böse Namen, die mit der Hose in unliebsamer Beziehung standen. Aber das Elsbethle, wenn ich nicht [76] mit ihm spielen wollte, weinte so wunderlich lautlos. Diese Tränen, dieses flehende Lächeln um den kleinen Mund herum und diese traurigen Augen bezwangen meinen Widerwillen.

Ich selber merkte nicht, wie das zuging – wußte nur plötzlich, daß ich dem Elsbethle sehr gut war, und daß ich mir keine liebere Freude mehr wünschte, als mit ihm zu spielen. Wenn das Mädelchen zu uns ins Forsthaus kam, wurde ich heiß und rot; und wenn ich vor dem Doktorhaus die Glocke zog, dann schlug mir das sechsjährige Herzl wie ein Hammer.

Im Leben dieses Hauses war eine merkwürdige Sache, die auch meinen Kinderaugen auffiel. Die drei Menschen, die da lebten – Vater, Mutter und Kind – waren immer für sich allein. Der schlanke, schweigsame Mann war fast immer auf dem Wege zu seinen Kranken, die in sieben Dörfern auf ihn warteten. Hatte er freie Zeit, so saß er droben auf dem Theklaberge bei seinen Karpfenteichen oder herunten in seinem Hause unter den Bäumchen seiner Vogelstube. Er hatte eine Leidenschaft für alles Zwitschernde und hatte das größte Zimmer seines Hauses in einen kleinen Wald verwandelt, in welchem an die hundert Singvögel frei umherflatterten. Diese vielen Vögel singen und [77] trillern zu hören, das war entzückend. Aber den Unrat, den sie machten, roch man im ganzen Hause.

Die Doktorin war eine stattliche, fast dicke Dame mit einer sehr lauten Stimme. Sie war gerne in Herrengesellschaft, fuhr mit ihrem Kugelstutzen zu jedem Scheibenschießen, das in der Gegend gehalten wurde, und bekam eine rote Nasenspitze.

Ich fand das Elsbethle, wenn ich das Doktorhaus betrat, fast nie in Gesellschaft der Mutter, immer bei der Magd in der Küche, oder einsam in der Waldstube bei den Vögeln, oder auf dem Dachboden, wo das Kind in Erwartung meines Besuches schon all sein winziges Kochgeschirr aus den Weihnachtsschachteln herausgekramt hatte. Ich kochte nicht gerne – das war ja ›Mädelesarwet‹ – aber dem Elsbethle tat ich alles zuliebe, auch was mir zuwider war. Und was die kleine stille Köchin fertig brachte, verschluckte ich ohne Widerrede. Doch froh war ich immer, wenn die Kocherei ein Ende hatte, und wenn wir uns an das Dachfenster setzten oder in einen dämmerigen Winkel unter dem wirren Gebälk. In diesen düsteren Ecken lernte ich eine zärtliche Freude kennen, von der ich nicht wußte, daß sie eine Grausamkeit war. Das Elsbethle war leicht zum Fürchten zu bringen. Und drum erzählte ich dem Kind alle Gespenstergeschichten, [78] die ich in den Spinnstuben unserer Nachbarschaft zu hören bekam. Ich selber hatte niemals Furcht vor Gespenstern, weil Vater und Mutter über diese Geschichten lustig lachten und mir immer sagten: »Das ist närrisches Zeug, an so was glauben nur die dummen Leut, und es gibt nur gute Geister, keine bösen!« Und was Vater und Mutter sagen, muß doch wahr sein! Aber das Elsbethle – wenn ich das Wörtchen ›Geischt‹ nur leise aussprach – zitterte immer gleich über das ganze seine Körperchen, klammerte die Ärmchen um meinen Hals und schmiegte sich so fest an mich an, als wären wir beide ein einziges Stücklein Leben. Und ich hatte das gerne: dieses zitternde, seine Körperchen so fest an mir zu fühlen. Und wenn ich nach einem gruseligen Weilchen sagte: »Geh, du Närrle, 's isch doch alles nit wahr, ich tu dich bloß fürchte mache!« ... dann sah mich das Elsbethle lächelnd an und küßte mich dankbar auf den Mund. Und dann erzählte ich gleich wieder eine Geistergeschichte.

All meine anderen Spielkameraden des Dorfes ließ ich im Stiche, um nur immer beim Elsbethle sein zu können. Diese kindliche Herzensgeschichte ging ein halbes Jährlein in Friede und Freude so hin – bis jene schreckliche Sache passierte, die [79] mir die Liebe zum Elsbethle mit allen Wurzeln aus dem Herzen riß.

Diese Begebenheit verlangt zu ihrem Verständnis eine kleine physiologische Randbemerkung.

Unter jener hartnäckigen Abneigung, die mir seit dem Abenteuer mit dem Theresle gegen alles geblieben war, was ›Mädele‹ genannt wurde, hatte auch das Elsbethle, wie ich schon erwähnte, im Anfang unserer Bekanntschaft viel zu leiden. Aber das wurde plötzlich anders. An einem heißen Sommertage spielten wir am Ufer des Baches, und da kam ich auf den Einfall, mich abzukühlen und ein Bad zu nehmen. Das Elsbethle machte das natürlich gleich mit. Und da konnte ich zu meiner Überraschung bemerken, daß an dem Elsbethle nicht die geringste Übereinstimmung mit den dunklen Unerklärlichkeiten des Theresle zu entdecken war. Lag's in meiner Natur, oder war's ein Resultat der reinlichen Erziehung, die ich als Kind empfing, oder war's eine Nachwirkung der großmütterlichen Warnung vor dem Blindwerden – ich hatte immer einen heftigen Abscheu vor allem, was mit den unsauberen Notwendigkeiten des menschlichen Körpers zusammenhing. Und nun denkt euch, wie hoch ich das Elsbethle über den durchschnittlichen Bubenwert zu stellen begann, als ich [80] gewahren konnte, daß dieses seine Dingelchen nicht nur jeder Ähnlichkeit mit dem schauerlichen Theresle entbehrte, sondern auch vom lieben Gott noch viel appetitlicher gebildet war, als ich und die anderen Buben. Ich fing da wahr haftig zu glauben an, daß das Elsbethle eine Art von Idealgeschöpf wäre, dem jede Veranlassung fehlte, sich mit niederen Lebenssanktionen zu befassen.

Ganz deutlich erinnere ich mich noch, daß damals während jener plätschernden Badestunde etwas unsagbar Schönes und Freudiges in meinem sechsjährigen Gehirnchen war. Und als wir in der Sonne heimwanderten, ließ ich die seinen Fingerchen meines Ideals für keine Sekunde aus meiner Hand. Ich glaube, daß an jenem Tage meine zärtliche, von allerlei seltsamen Süßigkeiten durchzitterte Liebe für das Elsbethle begann, in dem ich das Herrlichste und Beste des Lebens zu sehen vermeinte.

Um so schrecklicher wirkte dann aber auch die Tragödie der Enttäuschung auf mich, die jähe Zernichtung meines reinlichen Ideals.

Es kam in jenem Sommer eine wandernde Komödiantentruppe nach Welden, schlug im großen Saal des Bräuhauses eine blaue Bühne auf und spielte Theater. Das ganze Dorf war in Aufruhr [81] und drängte sich zu diesen Vorstellungen. Zuerst führten die Künstler, die mehrmals in der Küche meiner Mutter zu Mittag aßen, die Leidensgeschichte Christi auf. Es ist in mir keine klare Erinnerung an den Eindruck geblieben, den dieses fromme Spiel in meinem christlichen Kindergemüte hervorrief. Ich besinne mich nur noch darauf, daß ich glückselig jubelte, als sich der Verräter Judas in komischer Verzweiflung an einen Baum hängte. Und besinne mich noch, daß um die gleiche Zeit durch viele Nächte ein großer Komet am Himmel stand, und daß ich in der Dunkelheit vom Fenster nicht wegzubringen war, immer zu dieser feurigen Rute hinausblickte und Nacht für Nacht auf die Ankunft der heiligen drei Könige wartete. Aber der Komet verschwand, ohne daß die Könige kamen. Und eines Tages erschien der Theaterdirektor bei meinen Eltern, um anzufragen, ob sie nicht erlauben möchten, daß ich in einem Stücke mitspiele.

Dieses Stück hieß ›Der Prinzenraub‹. Den König und die Räuber konnten die Schauspieler aus ihrer Truppe stellen. Es fehlte nur der Prinz – und diese Rolle gedachten sie mir zuzuweisen, weil ich jene blonden Locken hatte, die man ›Kreuzerschneckerln‹ zu nennen pflegt, und weil ich einen schwarzbraunen Samtanzug besaß. Die Mutter [82] hätte wohl eingewilligt, aber der Vater schüttelte den Kopf. Doch ganz erfolglos zog der Schauspieldirektor damals nicht ab. Er nahm meinen Samtanzug und mein Barettchen mit, das eine weiße Reiherfeder hatte. Und dann erfuhr ich, daß das Elsbethle in meinem Samtkittelchen und in meinem schönen, tadellosen Samthöschen den geraubten Prinzen darstellen würde.

Ich konnte eine Woche lang vor Aufregung kaum mehr schlafen und war zappelneugierig darauf das Elsbethle theaterspielen zu sehen. In meinem Anzug! Und was bei dieser Aufregung in mir am stärksten pipperte, war die Sehnsucht, diesen geheiligten Anzug wieder auf meinem eigenen Leibe tragen zu dürfen.

Die Mutter hat mir später erzählt, daß ich sie am Tage der Aufführung fast zur Verzweiflung brachte durch die hundertmal wiederholte Frage: »Mammeli, gehen wir noch net bald in die Komödi?«

Wir saßen in der ersten Bank. Hundert lärmende Menschen hinter uns. Von dem Anfang des schönen Schauspiels hörte ich nichts, weil ich immer in die Kulissen guckte und auf das Elsbethle wartete. Endlich erschien der seine Prinz in meinem schwarzbraunen Samt. »Ach Mammi, wie schön ist das Elsbethle! Ach, wie schön!«

[83] Der bedrohte Prinz hatte in der Szene, in der die Räuber ihn singen, ein paar flehende Worte zu sprechen, die ich lange schon auswendig wußte – so oft hatte mir das Elsbethle während der letzten Tage, wenn wir unter den Dachbalken miteinander kochten, diese schönen Worte vorgeplappert. An eine von diesen Reden, die das Prinzlein den Räubern zu halten hatte, weiß ich mich heute noch zu erinnern. Sie lautete ungefähr: »Seid ihr nicht Menschen, die der liebe Gott erschuf? Habt ihr nicht ein fühlendes Herz, das sich eines unschuldigen Kindes erbarmt?« Diese Worte blieben mir wohl auch deshalb im Gedächtnis, weil im Haus meiner Eltern durch viele Jahre noch oft von dieser schrecklichen Theatergeschichte gesprochen wurde.

Die Szene des Prinzen kam. Und das Elsbethle, das vermutlich auf den Proben nur glattrasierte, gutmütige Schauspielergesichter gesehen hatte, bekam vor den schwarzbärtigen Räubern einen solchen Schreck, daß es in der Rolle stecken blieb. Das Mädele in meinem schwarzbraunen Bubensammet zitterte heftig und sagte nur immer: »Seid ihr ... seid ihr ... seid ihr ...« Das Publikum fing zu kichern an – und späterhin erklärte mir die Mutter, daß die Holzwinkler Schwaben bei dem ängstlichen Gestotter des Kindes immer [84] verstanden hätten: »Säutier', Säutier', Säutier'!« Dieses erste Lachen brachte den verdatterten Prinzen noch völlig aus dem Konzept. Das Elsbethle wurde stumm, und aus dem seinen Kehlchen, das über die weiße Spitzenkrause hervorguckte, wollte kein Laut mehr heraus. Ich erschrak, daß es auch mir den Hals zuschnürte. Und neben mir sagte die Mutter leis: »Ach, Gottele, das arme Kind!« Nun plötzlich ein fideles Gebrüll auf allen Bänken. Und der Räuberhauptmann, statt den geraubten Prinzen auf die Schulter zu heben und davonzuschleppen, führte das zitternde Elsbethle sehr vorsichtig hinter die Kulissen hinaus. Und wo der kleine, schöne, süße Prinz gestanden hatte, blieb auf den Brettern, welche die Welt bedeuten, ein großer nasser Fleck zurück. Jetzt begriff ich, warum die Leute lachten. Ich spürte etwas wie schmerzendes Feuer in meinem Gesicht – und dann gähnt ein dunkles, grauenvolles Loch in der Erinnerung an meine Seelenzustände von damals.

Ich weiß nur noch, daß ich mich am anderen Morgen in die Hundehütte versteckte, als die dicke Doktorin mit der lauten Stimme zu meiner Mutter kam, um das prinzliche Kostüm zurückzubringen.

Und das Elsbethle hab' ich nimmer angesehen; wenn es irgendwo auftauchte, rannte ich gleich [85] davon. Und weder durch gute Worte, noch durch Strenge war ich zu bewegen, dieses Höschen nochmal anzuziehen, dessen schwarzbrauner Samt eine Stelle hatte, die nicht mehr schwarzbraun war. Ich wehrte mich und schrie und strampelte, bis die Mutter mir den Gefallen tat und das entsetzliche Kleidungsstück verschwinden ließ.

Einige Monate später verließ der Doktor mit Frau und Kind den Holzwinkel, um als Arzt in eine Stadt zu übersiedeln. Das stand gewiß mit der Geschichte vom Samthöschen in keinem Zusammenhang. Aber ich fühlte in meinem unversöhnlichen Knabenzorne doch so etwas wie das Walten eines Schicksals, das in strenger Gerechtigkeit auch ein Stücklein Hosensamt nicht ungestraft um seine reinliche Farbe betrügen läßt.

Während die Doktorsleute mit dem Elsbethle ihren Abschiedsbesuch im Forsthause machten, hockte ich atemlos im Holzkasten der alten Standuhr und rührte mich nicht, obwohl ich die Mutter ein dutzendmal rufen hörte: »Ludwigl, Ludwigl!« Und am andern Tage guckte ich durch den Spitzenvorhang unserer Kinderstube mit Herzklopfen zu, wie eine hochbepackte Kutsche durch die Pappelallee davonfuhr. Was ich tat, als sie verschwunden war – ob ich weinte oder lachte – das weiß ich [86] nimmer. Es wird wohl das eine oder das andere geschehen sein. Oder beides.

Das Elsbethle war fort. Doch es blieb nicht aus meinem Leben verschwunden. Zehn Jahre später sollte ich noch etwas wunderlich Trauriges mit ihm erleben.

Damals, nach der Abreise der Doktorsleute, kam dann gleich der Winter. Man warf mit Schneeballen, ›schlieferte‹ über das Eis in den Straßengräben hin, immer ein Dutzend lachender Buben hintereinander, schlitterte über den Marktplatz herunter, schlug mit Lachen die schmerzlosen Purzelbäume durch das linde Weiß – und alle Süßigkeit, die das Elsbethle mir gegeben, aller Schmerz und Zorn, den es mir verursacht hatte, war versunken und vergessen, bevor der Frühling wieder kam. Vielleicht wäre das Vergessen noch schneller gekommen, wenn nicht die Mutter das als eine lustige, doch sicher wirkende Drohung noch eine Zeitlang beibehalten hätte: »Du, ich sag dir's, wenn du nicht brav bist auf der Stell, so mußt du 's Prinzehösle wieder anziehe!«

Um jene Zeit begann mir auch die fremde, ferne Kirchgasse ein näheres Land zu werden. Denn ich kam in die Schule. Von dem Entwicklungsgang der Weisheit, die da vor hundert Kindern verzapft wurde, ist mir wenig in Erinnerung geblieben. [87] Ich weiß nicht mehr, welche Seelenwandlungen die Kunst des Lesens und Schreibens in mir hervorrief. Die Kunst des Rechnens darf ich ohnehin aus den Wandlungsfaktoren meines Lebens völlig ausscheiden; denn das Rechnen hab' ich nie gelernt – auch später nicht.

Denke ich an die ersten Schuljahre zurück, so höre ich keinen Klang der Weisheit, sondern sehe nur das Bild von vielen Kindern, die, mit Strohtaschen in den Händen oder mit kleinen Ränzlein auf dem Rücken, sehr langsam durch die Pappelallee hinausgehen – oder das Bild eines ungeduldigen Kinderschwarmes, der sich mit Geschrei durch eine enge Türe hinausdrängt, um gleich ein wildes Schneeballengefecht oder ein grimmiges Raufen anzufangen. Ich sehe zerbrochene Schiefertafeln mit baumelnden Schwämmchen, sehe schmutzige Bücher mit Eselsohren, sehe die naiven Holzschnitte des biblischen Geschichtenbuches – am deutlichsten die drei Jünglinge im Feuerofen, den Knaben Isaak auf dem Holzstoße und den Walfisch des Jonas – höre das schrillende Kratzen eines steilgehaltenen Griffels und fühle den Klatsch eines mit Schnee umhüllten Kiesels hinter den Ohren oder den dumpfen, atemraubenden Schlag eines Schulranzens in der Magengegend.

[88] Deutlich kann ich noch die Schulstube mit den vielen zerschnittenen und tintenfleckigen Bänken sehen – immer sechs Buben in einer Bank und sechs Mädchen in der nächsten, von den Siebenjährigen bis zu den Vierzehnjährigen. Und gut erinnere ich mich noch an das geheimnisvolle Leben, das unter diesen Bänken herrschte. In dieser grauen Dämmerung, hinter dem Schutzwall der Mädchenröcke wurde immer Markt gehalten und Schacher getrieben. Alles Erdenkliche wurde da gehandelt und vertauscht: Klucker und Stahlfedern, Griffel und Bleistifte, Siegellack, Drachenschnüre, Gerstenschleim und Bärendreck, Kandiszucker und Dörrzwetschgen, Angelhaken, Nägel und Schrauben, Bindfaden und Kluven, Pinsel, Farben, Fuchszähne, Zinnsoldaten, Bilderbogen, Messer, alte Haustürschlüssel, Pulver und Blei. Wer nicht nur Tauschware besaß, sondern ein paar Kreuzer oder gar einen Sechser im Hosensack hatte, war Großkaufmann auf diesem Markte, von dessen Besuch alles Weibliche streng ausgeschlossen war. Wehe dem Mädel, das den Versuch wagte, sich in diesen Handelsbetrieb der höher organisierten Männlichkeit ein zumischen. Da gab es Püffe, Schläge, Kratzwunden und ausgerissene Haare. Und jene Buben, die auf so niedriger Geistesstufe standen [89] und so charakterlos waren, daß es ihnen ein scheues Vergnügen bereitete, mit den Mädchen zu ›häuseln‹, im Dunkel unter den Schulbänken mit den ›Föhlen‹ zu wispern, sie in die Waden zu kneifen, an den Kniekehlen zu kitzeln, u.s.w. – solche Schandkerle wurden mit Schimpf und Schmach aus der Kameradschaft ausgestoßen und bekamen den fürchterlichen Namen: ›Mädlefußeler‹. Nur die Schwachen und Feigen ließen sich das gefallen. Ein richtiger Bub, wenn er bei einem Raufhandel dieses Schimpfwort zu hören bekam, nahm's für die tödlichste aller Beleidigungen und wetzte das wieder aus in einer erbitterten Prügelei.

Die Schulstube, mit dem schmalen Stiegensöller, nahm den ganzen Oberstock des Lehrerhauses ein und hatte Fenster ringsherum – ich glaube, es waren acht oder neun. Da zog es im Winter herein, daß an den Büchern die Blätter wehten. Immer husteten sechzig Kinder. Und wer in der Nähe des riesigen Ofens saß, mußte schwitzen und wurde halb gebraten.

An den Wänden, zwischen und über den Fenstern, hingen drei Landkarten (Bayern, Europa und die ganze Welt), eine Papptafel mit Insekten, eine mit, afrikanischen Viechern', eine mit Giftpflanzen, Giftschlangen und Giftbeeren; dieser Karton [90] mit dem ›gif tigen Zuig‹ wurde in jedem Frühling erklärt; aber wir behielten nur das warnende Bild der roten, weißgetupften Fliegenschwämme im Kopf; alles andere, was wir draußen im Walde finden konnten, verschluckten wir – manchmal mit bösen Folgen. Während meiner vier Schuljahre in Welden starben drei Kinder an den Tollkirschen.

Neben der großen ›Leitertafel‹, die für uns alle ein schwarzer Schrecken war, stand die Kanzel des Lehrers; sie war anzusehen wie eine assyrische Sache, die man nach vielen tausend Jahren aus der Erde herausgegraben; alle Farben waren da vertreten; mit allem, was sich schmieren ließ, war das Pult bestrichen – mit Ton-Nüancen, die bei keiner Wäsche mehr völlig herausgingen; da half weder Seife noch Lauge; und Schimpfnamen waren draufgeschrieben und mit dem Messer halb wieder ausgekratzt; allerlei Bezeichnungen von Haustieren, deren Verstandeskräfte man niedrig einschätzt, waren tief ins Holz geschnitten und durch den Hobel wieder undeutlich gemacht.

Auf diesem Pulte, das wie die Chronik einer hundertjährigen Lausbüberei erschien, pflegte der ›Herr Lehrer Gsell‹ zu sitzen, wenn er nicht in dem Gang zwischen den Bänken auf und ab wanderte und die roten Hände rückwärts unter der Joppe [91] wärmte. Von seinen Lehrmethoden weiß ich nichts mehr zu sagen. Ich weiß nur noch, daß er kein allzustrenger Magister war, sondern ein geduldiger, gutmütiger Mann mit freundlichem Vollmondgesicht, das gerne lachte. Nur wenn man ihm mit kreidebestrichenen Tuchflecken die Bilder von Eselsköpfen und Schweinshäuptern auf dem Rücken abklatschte, oder wenn man seinen Pultsessel mit Stahlfederspitzen spickte – das hatte er nicht gerne. Da wurde er ungemütlich, verlegte sich nicht lange darauf den Schuldigen auszuforschen, sondern ließ die ganze ›Bande‹ von elf bis zwei Uhr in der Schule fasten, oder applizierte mit dem Haselnußstecken durch sämtliche Bänke hin ein halb Dutzend ›Tatzen‹ auf jede linke Hand. Aber solche Massenjustifizierungen schienen für ihn selber schmerzlicher zu sein, als sie es für unsere Hände waren. Er war dann immer viele Wochen lang doppelt geduldig und nachsichtig.

In der Schule trug er immer dicke ›Fleckelespantoffel‹, auch im Sommer, hatte keine Weste an, knöpfte nie die Joppe zu, und an seinem grauen, etwas zu kurzen Beinkleid guckte unten und oben die farbig karierte Barchentunterhose heraus.

Wenn ich mich an eine persönliche Lebensäußerung des Lehrers Gsell zu erinnern suche, dann [92] seh' ich ihn nicht in der Schule, sondern auf der Kegelbahn beim Rollewirt, wie er nach einem mißglückten Schub das rechte Bein in die Luft hebt, den ganzen wohlgenährten Korpus auf komische Art verdreht und der hoppelnden Kugel nachschreit: »Du Deifelskügele, geahscht hüschtaher! ... Verrecke sollscht!« Oder ich sehe den Herrn Lehrer bei den heiteren Kneipabenden im Forsthause zwischen meinen Eltern und den Forstgehilfen vergnügt im Winkel des hölzernen Sofas sitzen, wie er die Gitarre, das ›Dudelschächtele‹, vor dem runden Bäuchlein hat und jenes Schnadehüpfl singt, das immer wieder von ihm verlangt wurde:


»Unser Katz hat Kätzle ghabt,

Siebne, achte, neune,

Oins, dees hat koi Schwänzle ghabt,

Schieb mer's wieder eine!«


Dieses wunderliche Kapitel aus der Naturgeschichte gab mir in meiner Kindheit viel zu denken. Seine logischen Zusammenhänge wurden mir niemals völlig klar, obwohl ich oft darüber nachgrübelte. Und als ich die Mutter einmal bat, mir dieses dunkle Volkslied zu erklären, sagte sie lachend: »Du mußt net alles wisse. Viel Wisse macht Kopfweh!« Das merkte ich mir für die Schule.

Ich erinnere mich auch, daß es einmal an solch[93] einem Kneipabend im Forsthause rings um den Lehrer Gsell ein schreiendes Gelächter gab. Warum? Das erzählte mir in späteren Jahren einer von den Forstgehilfen. Da hatte die Frau Lehrer wieder ein Kinderl bekommen, das achte oder neunte. Und am Abend in der Kneipgesellschaft jammerte Vater Gsell über diesen verschwenderischen Storchensegen und klagte: »Ich weiß nimmer, was das ischt! Kaum häng ich 's Unterhösle an der Frau ihr Bettstättle hin, so kriegt se schon wieder e Kindle.«

Meine Mutter sagte: »Da tät ich halt's Unnerhösle emal wo annersch hinhänge.«

Und Vater Gsell antwortete hochdeutsch: »Frau Revierförster! Hab ich auch schon probiert. Der Effekt war der gleiche.«

[94]
3.
III.

Im Lehrerhause wimmelte die Wohnstube von diesem reichlichen Nachwuchs. Mit mir im gleichen Alter stand der Muckl, Vater Gsells Liebling unter der vielköpfigen Kinderschar. Muckl saß durch vier Jahre mit mir auf der Schulbank und war mein Herz- und Blutbruder, mein Begleiter auf allen Waldstreifereien, mein Komplize bei allen Streichen, mein Kamerad beim Fischwildern, mein Generalskollege bei allen Kriegen, die unter der Dorfjugend ausgefochten wurden. Und daß der Muckl so feste Freundschaft mit mir hielt, das trug ihm manchmal doppelte Prügel ein. Denn zwischen den Kirchgasselern und den Bachgasselesbuben war immer eine Eifersucht, immer eine Fehde, immer ein Faustkampf um die Behauptung: ›Wir sind die stärkeren!‹ Und weil der Muckl zu mir und den Bachgasselesbuben hielt, drum galt er in der[95] Kirchgasse, wo seine Heimat stand, als Renegat und Verräter. Und wenn ihn die Kirchgasseler gelegentlich einmal allein erwischten, ging es ihm schlecht, obwohl er sich aus Vorsicht das Kopfhaar immer so kurz abscheren ließ, daß es nimmer zu fassen war. Aber die Ohren mußte er doch wohl wachsen lassen, so lang wie sie wollten. Und an diesen leicht greifbaren Henkeln bekamen ihn die Feinde immer wieder zu fassen. Doch war er mit uns Bachgasselesbuben im verläßlichen Heer beisammen, dann waren wir wirklich die stärkeren, und da wurde grobe Vergeltung geübt.

Unter den zwanzig Buben, die zur siegreichen Rotte der Bachgasse gehörten, sind die meisten mit Gesichtern und Augen für meine Erinnerung erloschen. Doch neben dem Lehrermuckt stehen noch zwei vor mir, so deutlich und lebendig, als wären die 45 Jahre seit damals nicht gewesen: Nagelschmieds Domini und der Maleralphons.

Von der Heimat dieser beiden – von dem Hause, in dem der Malermeister, Vergolder und Lackierer Georg Vogel seine anziehungsreichen Künste übte, und von dem durch Hammerschlag und Taubengurren kontrastvoll belebten Vatikan des ›Heiligen Vaters‹ – hab ich ja schon kurz gesprochen. Aber da ist noch ein Weiteres zu sagen.

[96] Denn in diesen beiden Häusern, in denen ich Tag um Tag der Stunden mehr verbrachte als in der Stube meiner Eltern, bekam meine Lebensentwicklung eine dauerhafte Farbe. Die frohen und freundlichen Leute, die unter diesen zwei Dächern hausten, an den beiden entgegengesetzten Enden des Dorfes, lehrten mich von Kind auf, gut und hell von den Menschen zu denken, und gaben mir einen unzerbrechlichen Maßstab für die Beurteilung alles Lebens, das ich späterhin auf zwei Beinen über die Erde zappeln sah.

Aber nicht nur das Dutzend gut gearteter Menschen, das unter diesen zwei Dächern wohnte, hat das in mir geweckt. Auch das ganze liebe, lachende Dorf hat beigesteuert zu dieser hellen Mitgift meines Lebens. Aus zehn Jahren meiner Kinderzeit in Welden weiß ich mich unter den Dorfleuten keines schlechten Kerls zu erinnern, keiner gemeinen Sache, keines Menschenschrecks, der mir einen üblen Schatten in die kindliche Seele hätte werfen können. Freilich, auch die ›Weldener Staudenschwaben‹ hatten reizbares Blut und wurden ›saumäße grob‹, wenn einer sie ärgerte; und an den Feiertagen gab's Räusche und manchmal Schlägereien; und die jungen Burschen rauften, prügelten und griffen an der Kirchweih wohl auch [97] nach dem Messer; und zuweilen ließ sich von ihnen ein junges dummes Mädel ›balwiere‹, worüber die Hälfte des Dorfes zeterte und die andere Hälfte nachsichtig lachte. Aber selten hörte man was von einem Diebstahl, von einer groben Gaunerei, von einer richtigen Niedertracht. Und wenn mein Vater mit einem Wildschützen oder mit einem ›Streuschnipfer‹ Verdruß hatte und zornig aus der Kanzlei kam, pflegte die Mutter zu sagen: »Geh, Gustl, schau, im Kern sind's gute Leut; macht einer Dummheite, so bürscht ihm halt 's Köpfl ein bissele; wirst sehen, es hilft!« Und nicht nur gute, auch schmucke Leute waren es! Ein fester und unverdorbener Schlag! Die erwachsenen Bauern meist hager, mit harten und klugen Gesichtern; die Handwerksleute behäbiger; die jungen Burschen sehnig, stramm und flink; die jungen Weibsleute hübsch, mit reichlichem Haarwuchs, mollig gepolstert, heiter und schwatzlustig. Die Art, wie sie lebten und liebten, hatte immer das Gesicht einer reinlichen Gesundheit.

Der Schwabe – das ist ja an sich schon freundliche und gutmütige Menschenart. Und in dem stillen, aus dem Lärm der Welt hinausgeschobenen ›Holzwinkel‹ hatte sich dieser gute Schlag seit Urväterszeiten ungefährdet erhalten. Mit dem liebenswürdigen [98] Temperament des Schwaben paart sich noch das heiter Nivellierende seiner Sprache. Alles Grobe bekommt da eine drollige Milderung. Besonders schön klang das Staudenschwäbisch da draußen im Holzwinkel freilich nicht. Aber ungefährlich klang es. Und wenn ich in einem Nachbarsgarten auf den Birnbaum kletterte, jagte mir's keinen sonderlichen Schreck ein, wenn der Bauer vom Scheunentor herüberdrohte: »Geahscht raa, odr i kei di naa!«

Diese Staudenschwaben machten sich selber gern über ihre Sprache lustig und zitierten mit näselnden Lauten den alten Vers:


»Gau(n), stau(n), bleiwe lau(n),

Wer de drui Wertle nit ka(n)

Därf it ins Schwaweland gau(n)!«


Oder sie parodierten ihren Dialekt mit dem Holzwinkler Wallfahrtsgespräch:

»Z'Veilau hinderm Aldaur haun i mein Bauder verloara. – Wie isch'r denn? – Blau. – So isch dr mei an!« – Das heißt: »Zu Violau, hinter dem Altar, hab ich meinen Rosenkranz verloren,« und so weiter.

Aus den Eigennamen machte dieser Dialekt zuweilen schwere Unerklärlichkeiten. Wenn einer [99] erzählen wollte, daß er im Weiler Ehgarten gewesen wäre, so sagte er: »Zeagede bin i gwee.« Und in der Nähe von Welden liegt ein Dorf – das heißt auf der Landkarte: ›Abfaltern‹. Im Holzwinkel sagte man: ›Apfeldrach‹.

Wenn zwei alte Weiber aufeinander zornig wurden und in solcher Sprache über den Zaun hinüber- und herüberschimpften, sammelte sich immer auf der Straße ein Häuflein vergnügter Zuhörer an, die sich vor Lachen bogen, obwohl's ihre eigene Sprache war, die sie da hörten. Doch solche Schimpfereien kamen nicht allzu häufig vor. Die Leute waren verträglich und hielten gute Nachbarschaft. Und das ganze Leben und Treiben des Dorfes war gemütlicher Friede. Aber auch die besten Töpfe kann man zerschlagen – so gut auch der Lehm war, aus dem sie gedreht wurden. Der Friede eines Dorfes – wie brave Leute auch drin wohnen – ist immer eine Pfarrhoffrage. Durch ein Jahrzehnt meiner Kinderzeit regierte in Welden, als verläßlicher Schützer des dörflichen Friedens, der prächtige und verständige Pfarrer Hartmann mit seiner dicken, braven Köchin Luis. Zu Beginn des Döllingerstreites, unmittelbar vor Ausbruch des deutsch-französischen Krieges, wurde er nach Oberschwaben versetzt. Und er mußte wohl wissen, [100] welcher Art der geistliche Nachfolger war, den Welden bekam. Denn bei der Abschiedsfeier, die bei uns im blühenden Garten des neuen Forsthauses gehalten wurde, sah Pfarrer Hartmann in der Abendstille auf das vom blauen Schornsteinrauch umschleierte Dorf hinunter, hatte Tränen in den Augen, klammerte die Hände ineinander und sagte: »Ach, du mei arms Dörfle du!« Am anderen Morgen zog er von Welden fort. Und Tags darauf hielt der neue Pfarrer seinen Einzug – dieser ›hochwürdige Herr Andra‹. Der brachte eine merkwürdige, mit Luftlöchern versehene Kiste und drei ›Nichten‹ mit: das 13 jährige Hannerl, die 16 jährige Berta und das 25 jährige ›Fräule Kreszenz‹, das eine Furie in seidenen Kleidern war. Diesem schauerlichen Frauenzimmer und diesem Unglücksmenschen von Pfarrer gelang es in wenigen Monaten, den schönen Frieden des Dorfes in exzessiven Hader zu verwandeln, bei dem alle gesunde Natur sich umdrehte und das Weib gegen den Mann, die Schwester gegen den Bruder, das Kind gegen den Vater stand.

Doch diesem Schauerspiel des Pfarrhofes und die ser Dorfgroteske bin ich in der Geschichte meiner Kindheit noch um ein friedlich frohes, lachendes Jahrzehnt voraus und bin noch nicht der unglückliche[101] Verehrer der Pfarrhofberta, bin noch der kleine ›Ränzelesbub‹, der den Schulschluß nie erwarten konnte, um daheim die Schiefertafel und den Katechismus in einen Winkel zu feuern und zu meinem lieben Maler-Papi hinunter, oder zu meiner guten Nagelschmieds-Mammi hinaufzulaufen.

Es war ein stattliches Gehöfte: dieser Vatikan des Heiligen Vaters von Welden. Ein schöner Staketenzaun lief an der Straße hin. Und im Hofe stand der Pumpbrunnen, mit der Eisenkugel am Schwengel, der immer so komisch gluckste und dotterte, daß ich das Pumpen nicht satt bekam. Und in der Mitte des Hofes thronte auf hohem, unerkletterbarem Pfahl das große Taubenhaus, auf dem die hundert ›Kröpfles- und Schöpflestäuble‹ ruhelos ihre gurrenden Choräle sangen, in rauschenden Wolken aufflogen und sich in flatternden Wolken niederließen auf das Dach. Und dazu noch viele Hennen und krähende Hähne, denen man die blauschillernden Räuberhauptmannsfedern ausreißen konnte. Von diesen Hähnen mußte immer einer vor hohem Festtag sein Leben für die Bratschüssel des Heiligen Vaters opfern. Wenn dieses Opfer zu erledigen war, kam einer von den Nagelschmiedsgesellen mit verschmitztem Gesicht und mit dem ›Greel‹, einem messerartigen Beil, aus dem Hause[102] heraus, pirschte in vorsichtigen Kreisen um den verurteilten Hahn herum und schlug dem ahnungslosen Gockel mit flinkem Streiche den Kopf herunter. Mir gruselte immer ein bißchen, wenn ich aus dem Halse des Geköpften dieses seine Blutbrünnlein aufspritzen sah – aber dann mußte ich gleich wieder lachen, weil der geköpfte Vogel so sinnlos komisch umhersprang, bis ihn der Nagelschmiedsgesell erwischte und in die Küche trug. Und wenn ich neugierig den kleinen abgeschlagenen Kopf mit dem weißgewordenen Kamm und den blauverschleierten Augen aus dem Sande hob, dann kamen mir nach dem Lachen die Tränen – und in meinem siebenjährigen Gehirnchen mögen dunkel die Fragen gezittert haben: »Was ist das Leben? Was ist der Tod?« Damals fand ich wohl nur die einzige Antwort: daß der Tod ein Ereignis ist, bei dem man sich von den vielen Federn, die das Leben hinterläßt, die schönsten aussuchen muß, bevor sie in das Kehrichtfaß geworfen werden.

Ein großes zweistöckiges Haus mit weißen Mauern und grünen Fensterläden. Über der Türe das Schild: ›Xaver Weiß, Nagelschmied‹. Und an die Feuermauer des Hauses war der lange Stall angebaut, in dem die Rinderketten immer so prachtvoll rasselten. Und hinter dem Stall erhob sich die [103] ungeheure Scheune, auf deren Heuboden man sich unfindbar verstecken konnte – und vor deren großem Tor sich der Dreschgöppel befand, das billigste Karussell der Welt. Wenn gedroschen wurde, fahr ich da immer so lang im Kreis herum, bis ich ein kreideweißes Gesicht bekam. Aber das war von den Herrlichkeiten des Vatikans noch lange nicht die herrlichste. Ganz versteckt in diesem Hause lag eine Zauberstätte, deren Geister mich immer riefen mit klingenden Hammerschlägen: ›Tickerlitakta, tickerlitakta!‹ In der Küche, in der die Nagelschmieds-Mammi über der offenen Herdflamme all die namenlos guten Sachen kochte, war eine schmale und niedrige Türe. Wer sie auftat, dem hauchte etwas Schwüles entgegen, und in einem dunstigen Zwielicht sah er sechs rotglühende Augen brennen: die kleinen Kohlenfeuer der Nagelschmiedsessen. Dünne Eisenstäbe, mit blendender Weißglut an den Enden, gaukelten hin und her – unter den Hammerschlägen sprühten unerschöpflich die blitzenden Sternchen auf die mir ins Gesicht und an die Hände flogen, ohne daß sie brannten – aus den Kopfstanzen sprangen lustig die fertigen Nägel empor, fielen zischend in den Wasserbottich, und ein weißes Dampfwölkchen pfurrte aus der schwarzen Tiefe heraus. Wißt ihr, wie lange man da zusehen [104] kann? So lange, bis die Mutter schickt, um ihren verlorenen Buben suchen und holen zu lassen.

An der rußgeschwärzten Wand der Nagelschmiede ist ein kleines Schubfenster. Man kann durch dieses Fenster nicht durchgucken, weil es immer mit Wasserdampf beschlagen und schwärzlich angeflogen ist. Aber manchmal wird dieses Fensterchen aufgetan, und von draußen blickt mit ruhigen Augen ein breites, glattrasiertes Gesicht in die Schmiede herein – das Gesicht des Heiligen Vaters, der sich vom Fleiß der Gesellen überzeugen will.

Immer sitzt er in der Stube auf dem Ledersofa oder auf der Ofenbank – der Heilige Vater – in Hemdärmeln, mit großen Silberknöpfen an der offenen Weste, ein Tuchkäppchen auf dem spärlichen Weißhaar. Während der Hälfte eines jeden Jahres hatte er die Füße in unförmlichen Filztöpfen stecken, weil er an der Gicht oder sonst an einer Krankheit litt, bei der man das Schuhleder nicht gerne an den Zehen spürt. Aber dieser leidende Mann, der immer so sanft und fromm und segensvoll und ruhig redete, führte in seinem Hof ein strenges Regiment. Seine Gesellen, Dienstboten und Kinder parierten wie brave Soldaten. Der Domini war sein Jüngster; zwei Schwestern waren [105] ein paar Jährchen älter: die hübsche, runde, flinke Karlin und die schlanke, stille Mathild. Dann kam der Leopold, der schon die Feiertagsschule hinter sich hatte und das schönste junge Mannsbild des Dorfes war, ruhig wie der Vater, dabei aber doch mit einem freien, künstlerischen Zug: er spielte Gitarre, hatte eine herrliche Baritonstimme und sang an jedem Sonntag in der Kirchenmusik ein Solo: ›Behenedihictus ...‹, bei dessen zärtlichem Klang alle Mädchen das Beten vergaßen. Noch eine dritte Schwester war da, die stattliche Anna, die bald heiratete und Gendarmeriewachtmeisterin wurde. So viele Kinder, Gesellen und Dienstboten machen ein Haus lebendig. Aber wenn sie alle in der Stube waren, und noch ein paar Bauern und Gemeinderäte dabei, dann wurde es immer mäuschenstill, sobald der Heilige Vater den Mund öffnete, um eine seiner sanften Weisheiten von sich zu geben. Wenn er sprach, durfte nur ein einziges Menschenkind dazwischen reden: meine Nagelschmieds-Mammi. Das war eine ruhig heitere Frau von bezwingender Herzensgüte. Und wie nett sie immer gekleidet war! Das runde, hübsche, freundliche Gesicht hatte immer ein geduldiges und nachsichtiges Lächeln. Ein seines Spiel von Zucken und Schmunzeln ging um den Mund herum. Und die stillen braunen Augen [106] konnten so ehrlich schauen und so herzlich glänzen, daß man sich immer wohlfühlte in der Nähe dieser Frau. Jede Narretei und Tollheit, die ich in ihrem Hause anstiftete, verzieh sie mir schnell und lachend. Nur ein einziges Mal wurde sie ernstlich böse. Da war ich eines Mittags mit der Karlin in den Keller gegangen, um Erdäpfel zu holen. Ich bombardierte das Mädel mit den Kartoffeln, die Karlin wollte sich das nicht gefallen lassen, und als ich vor ihrem Angriff retirierte, stieß ich eine Bank um, auf der zwei große Töpfe mit frisch ausgesottenem Schmalz zum Verkühlen standen. Die Töpfe gingen in Scherben, und ein rauchender Schmalzbach plätscherte zum Gußloch des Kellers hinaus. Die Karlin wurde kreidebleich vor Schreck – und da kam auch schon die Nagelschmieds-Mammi über die Kellerstiege heruntergesprungen, sah die Bescherung und jammerte: »Jöises Maaarja!« Im ersten Zorn packte sie einen Besen und hätte auf mich losgeschlagen – wenn ich nicht flinker gewesen wäre als die zitternde Frau. Drei Tage fand ich nicht den Mut, mich in der Nagelschmiede blicken zu lassen. Und immer hatte ich Angst, daß Vater und Mutter etwas von der Schmalzgeschichte erfahren könnten. Aber sie erfuhren nichts. Und eines Nachmittags, in der Schule, sagte der [107] Domini: »Du, da schickt dr d'Mueder ebbes!« – und zog aus dem Schulranzen zwei von den guten, knusprigen Rohrnudeln der Nagelschmieds-Mammi heraus. Nach der Schule ging ich mit dem Domini und bat seine Mutter um Verzeihung. Sie streichelte mir das Haar, tat einen Seufzer und sagte: »Vierevierzg Pfund Schmalz! Büeble, Büeble! Awer en anderschmal, da muescht bald besser owachtgeawe! Gell, du Schliffele?« Solche Worte hängen sich fest in einer Kinderseele – und wirken und werden alt.

Und jenes andere liebe Dach, unter dem ich mancherlei für mein Leben lernte? Das war ein kleines Haus an der Laugna, mit nur zwei Stuben, einer kleinen Dachkammer und einer großen Werkstätte. Schon wenn man zum Zaungatterchen hereinging, roch man den ›Ferneiß‹ und die Ölfarben. Es stand da unter freiem Himmel auch immer was zum Trocknen: ein grün gestrichener Tisch, buntbemalte Bauernstühle, eine lackierte Kommode, blaue Kästen mit roten Herzen, ein schmiedeisernes Grabkreuz mit vergoldeten Rosetten und vielfarbigen Schnörkeln, eine Kinderwiege mit Engelsköpfen oder auch ein schwarzer Sarg mit weißem Totenkopf und gekreuzten Knochen.

Außer meinem Kameraden, dem Alfons, waren [108] da noch zwei ältere Schwestern; die Maler-Nanni, die als bildsauberes Mädel in die Stadt ging und die Frau eines Künstlers wurde, der ihr nach einem wahnsinnigen Ende ein schweres Schicksal hinterließ – und die Maler-Rosa, die nach der Mutter Tod bei ihrem Vater die halbe Jugend verpaßte. Und durch zwei Jahre war in diesem Hause auch der lungenkranke ›Onkel Xaveri‹, der ein witziges Dorfgenie war und mein Lehrmeister im Fischen wurde, im Pfeilschnitzen und Ballesterschießen, im Drachenbau und Vogelsang. In meiner Skizzensammlung ›Die Jäger‹ hab ich von ihm eine kleine merkwürdige Geschichte erzählt, bei der ich lernte, daß Dinge, die man häßlich nennt, sehr schön sein können – eine Erfahrung, aus welcher der Xaveri für mich die Lebensregel prägte: »Vor nix mueß ma si ferchte!«

Trat man in die große Werkstätte, so glaubte man in einer Vorstube des Himmels zu sein; denn an den Wänden hingen dutzendweis die geflügelten Engelsköpfchen, und zwischen reparaturbedürftigen Altarsäulen drängte sich eine Volksversammlung von hölzernen Heiligen, deren steif drapierte Mäntel nach neuer Farbe und frischer Vergoldung verlangten; deren Gesichter neue Nasen nötig hatten; und deren Heiligenscheine dringend [109] der Politur bedurften. An den zwei Fensterwänden standen die Schnitzbank, der Malertisch und die Hobelbank; zwischen den Fenstern waren die vielen Werkzeugkästen, die Regale mit den Farbentöpfen und der geheimnisvolle Wandschrank, der alle zur Vergoldung nötigen Dinge barg. Und durch ein halbdutzend Fenster fiel eine Flut von Licht herein, in dem die Farben leuchteten, der Lack und Firnis glänzte, und das alte und neue Gold seine traumhafte Schimmersprache redete.

Zwischen diesen Herrlichkeiten stand der Maler-Papi an der Schnitzbank oder saß auf einem niederen Schemel – ein langer, magerer Mann, hemdärmelig, mit grüner Latzschürze, überall mit Farbenflecken gesprenkelt. Eine große Hornbrille saß ihm ganz vorne auf der schmalen, blassen Nasenspitze. Was seine Hand erreichen konnte, sah er über die Gläser an; was darüber hinaus lag, betrachtete er durch die Brille; drum ging das Gesicht immer so ruhelos auf und nieder. Dieses hagere Faltengesicht bekam durch einen graublonden Napoleonsbart eine komische Länge, hatte einen strengen Mund mit versteinertem Lächeln und zwei graue Augen, die ernst und dennoch freundlich schauten. Wenn er schwieg, hatte ich immer ein bißchen Angst vor ihm; aber gleich wurde ich zutraulich, [110] wenn er nur ein paar Wörtchen sprach; denn seine Stimme war wie eine liebe, gute, leise Glocke. Und wenn ich manchmal Unheil in seiner Werkstätte anrichtete, wurde er nicht ärgerlich, sondern schob die Brille auf die Stirn hinauf und sagte in seiner milden Art: »Ludwigle, tu mer da nix versaue! Schau, dees muescht sooo mache!« Und dann ließ er seine Arbeit liegen und zeigte mir, wie man Farben reibt, wie man sie reinlich in die Töpfe spachtelt, wie man streicht und malt, wie man die zarten Goldhäutchen auf dem Lederpolster schneidet und auf die Mäntel der Heiligen legt, und wie man das matte Gold poliert mit dem Achat. Beim Schneiden des Goldes mußte man fest den Mund schließen. Ein leiser Hauch nur, und das seine, glitzernde Häutchen flog in die Luft, bildete wundersame Formen im Flug, schimmerte und funkelte – aber wenn es niederflatterte, war es verkrüppelt, zerrissen und unbrauchbar. Und der Maler-Papi sagte: »Gell, hascht wieder e Schnauferle gmacht!«

Diesem ruhigen Manne hab' ich viel zu danken – nicht nur das eine, daß ich geschickte Hände bekam.

Ein seltsames Zittern fiel mir immer ins Kinderherz, wenn er plötzlich das Goldmesser oder den[111] Achat fortlegte, eine kleine grüne Tür öffnete und mit seiner kummervollen Herzlichkeit, die noch immer ein Lächeln war, in die stille Stube hineinfragte: »Muederle, tuescht ebbes brauche?«

Dann antwortete eine seine, müde Frauenstimme: »Noi(n), Männdle, Vergealsgod, 's isch älles guet!«

Es war aber nicht alles gut. Schon seit langer Zeit bewegte sich das Leben der kleinen, lieben, zierlichen Maler-Mammi zwischen Bett und Lehnstuhl. Ich weiß nicht, was ihr fehlte. Sie konnte nimmer gehen, nimmer stehen. Jede Bewegung war ein Schmerz für sie, und immer mußte sie so sitzen, in dem braunen Lederstuhl, mit den weißen Händen im Schoß. Aber sie klagte nie, behielt ihr stilles Lächeln und diesen herzlichen Blick – und wenn ich neben ihrem Sessel auf dem Schemel sitzen durfte, wenn sie mit mir plauderte und was Heiteres erzählte, während das Leiden in ihrem guten Gesichte zuckte und wühlte – das waren Stunden, die ich unter die zärtlichsten meiner Kinderzeit zu zählen habe. Und diese Stunden waren froh, auch wenn ich Tränen in den Augen hatte.

Saß ich bei dieser Frau, so blieb ich immer sitzen, bis es Nacht wurde. Und daheim, wenn die Mutter schelten wollte, brauchte ich nur zu sagen, [112] daß ich bei der Maler-Mammi war – und die Mutter nickte: »No ja, in Gottsname, da bist gut aufghobe gwese!«

Als die Maler-Mammi gestorben war, sah ich zum erstenmal den ›Gottsacker‹ von Welden. Der lag eine halbe Stunde weit vor dem Dorfe draußen, auf einem Hügel zwischen Weizenfeldern. Eine weiße Mauer umschloß ihn, und eine kleine Kirche mit schrill tönender Glocke stand zwischen den vielen schiefen und aufrechten Kreuzen, unter denen manch ein neues war, dessen Rosetten ich in der Werkstätte des Maler-Papi vergoldet hatte.

Ich erinnere mich, daß ich nicht weinen konnte, als der Sarg dieser lieben Frau da drunten in dem schwarzen Ding verschwand. Aber seltsam übel war mir, in allen Sinnen zitterte mir eine namenlose Angst, und um mein verstörtes Kinderherz war etwas Drückendes her, wie eine eiserne Faust.

In dem kleinen Malerhause war dann alles anders als früher. Ich fühlte mich da nimmer wohl, konnte nicht mehr lärmen, konnte den leeren Sessel nicht sehen. Der stille Meister war stiller als sonst, achtete nicht drauf wenn ich die Goldhäutchen in die Luft hauchte, und immer hatte er an der Stirn einen sonderbar gesträubten Haarschopf. [113] Gelang ihm etwas an seinen Heiligen nicht recht, so strich er mit der Hand nach aufwärts über das Gesicht und drehte diesen grauen Haarschopf ein paarmal um den Finger. Und manchmal ging er auf die kleine grüne Tür zu, kehrte aber auf halbem Wege wieder um. Und der Alfons hockte hinter den Heiligen in einem Winkel und tat, was er sonst noch nie getan hatte: er lernte im Katechismus – und wollte mit mir, mit dem Muckl und mit dem Domini nicht mehr in den Wald laufen, nicht mehr fischen und pfeilschießen, nicht mehr sandfahren und Birnen stehlen. Aber das dauerte nicht lange. Dann kam er wieder und war der Unsrige wie einst – und war doch ein anderer geworden.

Wir Viere! Man mag da draußen im Holzwinkel wohl oft gesagt haben: daß uns die Tauben nicht besser hätten zusammentragen können. Was dem einen fehlte, das hatte der andere; und wenn den drei anderen was nicht einfiel, kam immer der vierte drauf. So ergänzten wir uns und hielten bei allen Streichen wie Eisen zueinander. Der Muckl, derb und knallgesund, war ein kleiner, fester und grober Bub, der sich nie den Kopf zerbrach, bei allem ohne Überlegung mittat, durch dick und dünn marschierte, nie vom Gewissen geplagt wurde, [114] leck und selbstbewußt ins Leben guckte, sich von nichts rühren und durch nichts erschrecken ließ. Ich weiß mich einer einzigen Geschichte zu erinnern, die dem Muckl einen jähen Schreck durchs dicke Leder jagte. Da hatte ich daheim vom Vater was gehört von der Gewitterbildung, von der Elektrizität der Wetterwolken und von den Blitzableitern. Und da kam ich auf den Einfall: Himmelsfeuer zu fangen. Was ich damit machen wollte, wußte ich nicht. Nur haben wollt' ich es. Und der Muckl war gleich dabei. Unten am Blitzableiter des Kirchturmes feilten wir ein spannenlanges Stück aus dem Draht heraus. Und als ein Gewitter aufzog, hockten wir vor diesem Drahtloch neugierig auf der Lauer. Es fing zu blitzen und zu donnern an, ein Platzregen durchweichte uns bis auf die Haut, und der Muckl wurde schon ungeduldig, weil sich mit dem Himmelsfeuer nichts rühren wollte. Ich erinnere mich noch, daß er sagte: »Narret, es kommt ja koins!« Im selben Augenblick fahr unter krachendem Geprassel etwas Fürchterliches und Blendendes im Bogen um das Drahtloch herum. Damals erschrak der Muckl. Ich aber auch. Und mit weißen Gesichtern rannten wir durch den Regen davon. Und hielten schön vorsichtig den Schnabel. Nur dem Alfons sagten wir's. Aber vor dem [115] Domini trauten wir uns mit dieser Himmelsfeuergeschichte nicht heraus, weil er doch der Sohn des Heiligen Vaters und Bürgermeisters war, und weil die Leute, als man den Schaden am Blitzableiter entdeckte, einen bösen Spektakel erhoben.

Erst in späteren Jahren hab' ich begriffen, in welcher Gefahr wir zwei Buben vor jenem Drahtloch waren. Aber an Gefahr dachten wir damals nicht, nur an etwas Schönes. Uns konnte doch auch nichts passieren! Wir hatten ja unser ›Sprüchle‹ und waren ›fest‹. Ohne schwimmen zu können, bin ich ein paarmal in die Laugna gefallen, wo sie am tiefsten war, und bin nur naß geworden. Als wir das Nest eines Turmfalken ausnehmen wollten, glitschte ich über das Kirchendach, blieb an einem Fensterflügel hängen und konnte mit der Leiter heruntergeholt werden. Wenn ich von einem Baum oder von einem Heufuder purzelte, war's immer mit einigen Beulen abgetan. Mit dem Kapfer-Uerle stocherte ich ein Hornissennest aus dem Heu heraus; den armen Uerle richteten die gelben Bestien zu, daß er fast gestorben wäre und viele Wochen krank lag – mich hatte keine einzige gestochen. Als ich eines Tages dem Vater ein Pulverhorn stibitzte und das Pulver in unser ›Wachtfeuer‹ schütten wollte, explodierte mir das Pulverhorn in [116] der Hand, ohne mir auch nur die Haut zu ritzen. So glücklich sind mir auch alle bedrohlichen Sekunden meines späteren Lebens immer ausgegangen, obwohl ich das ›festmachende‹ Sprüchlein schon längst vergessen hatte. Ich möchte mich noch gerne darauf besinnen. Aber es fällt mir nimmer ein. Nur das eine weiß ich noch, daß man zum Schlusse dieser Zauberformel die Daumen einziehen, die Fäuste nach rückwärts strecken und dabei mit geschlossenen Augen gegen die Sonne rufen mußte:


»Fescht! Fescht! Fescht!«


Mit geschlossenen Augen! Ich glaube, das war das wichtigste an diesem Zauber.

Und diesen festmachenden Spruch hatten wir vom Maler-Alfons gelernt, der alles wußte. Er hatte Ohren wie ein Wiesel und schnappte alles auf Aber die meisten seiner Weisheiten kitzelte er wohl aus sich selber heraus, wie die Grillen aus ihren Schlupfen. In unserem Quadrumvirate war er der kluge, erfinderische Ulysses, der Geisteserbe seines künstereichen Onkels Xaveri. Und war ein schlanker, geschmeidiger Bub, flink wie eine Wassernatter, immer etwas spähend Erwartungsvolles in den hurtigen Augen, als Sohn seines Vaters geschickt in allen Dingen, als Kind seiner Mutter [117] stets geneigt, das Schmerzende heiter zu nehmen und auch nach groben Hieben und unter Nasenbluten noch unverdrossen zu lachen. Doch er verstand sich auch auf die Vorsicht, stürmte nicht drauf los, wie der Muckl, sondern machte schlaue Seitensprünge und kannte nützliche Finten. Er war ein Meister im Beinstellen und im Bauchtritt; viel mehr, als den berserkerischen Muckl und den mit Gemütsruhe dreschenden Domini, fürchteten die Feinde aus der Kirchgasse diesen flinken, lustigen Akrobaten. Er war aller Wandlung fähig und doch verläßlich, war plauderlustig und doch verschwiegen. In der Krankenstube seiner Mutter hatte er's gelernt, die Stimme zu dämpfen; und weil er so heimlich sprach und dabei so flink, bekam alles, was er sagte, einen geheimnisvollen, anreizenden und verführerischen Klang. Und immer fiel ihm was ein, immer hatte er was Schlaues zu raten, immer wußte er uns auf einen neuen Streich zu hetzen. Der mußte lustig sein! Das war für den Alfons die Grundfrage bei allen Dingen. Denn er machte sehr genaue Unterschiede zwischen langweilig und fidel; aber sein Differenzierungsvermögen zwischen gut und böse war etwas mangelhaft entwickelt; nach dem Sprachgebrauch von heute müßte man sagen: er war eine allzu starke Persönlichkeit, [118] um seinen Wunsch, sich auszuleben, durch engherzige Rücksicht auf den Nutzen oder Schaden von anderen Leuten beirren zu lassen. Und der Muckl und ich, wir waren immer bereit, in der Schule des Alfons zu profitieren.

Aber da wirkte der bedächtige Domini als bremsendes Element in unserem Viererzug. Nagelschmieds Jüngster war körperlich der gleiche feste Bub wie der Muckl. Doch sein Blick war klug und ruhig; und sein Lächeln, so gutmütig es war, hatte immer ein bißchen was Spöttisches und Überlegenes. Nie tat er etwas, ohne vorher die Sache gründlich und nach allen Seiten hin zu überdenken. Die Erinnerung läßt mich nicht entscheiden, ob der Hang zum Guten und Vernünftigen als absolutes Ding im Domini steckte, oder ob das nur ein Resultat seiner Erziehung war, fügsame Rücksicht auf die frommen und zivilen Lebensanschauungen seines Heiligen Vaters, auf die bürgermeisterliche Amtswürde des Papa Nagelschmied, und stetes Denken an die klaren und hellen Augen seiner Mutter. Es wirkte wohl in ihm das eine mit dem anderen zusammen. Und das gab ihm eine Art, die ihn fast immer das Rechte treffen ließ. Planten wir einen Streich, der etwas Bedenkliches hatte, so sagte der Domini: »Dees därfe mer it toa(n)!« [119] Manchmal hakten wir drei anderen nach solchem Wort wie zornige Gockel auf den Domini los. Doch wenn er ruhig erklärte: »Noi(n), da maag i nit mitmache!« – dann war die Sache in der Regel auch für uns erledigt.

Zwischen den dreien, die ich da geschildert habe, stand ich als vierter, ihr Schützling und doch ihr Führer: minder robust als der Muckl und Domini, minder schlau, doch ebenso flink und geschickt wie der Alfons; und erfüllt von einem trotzigen Knabenmut, der immer stärker war als meine Kraft; immer durchzappelt von einer ruhelosen Aufregung; unersättlich in der tollenden Freude; leichtgläubig und vertrauensselig; immer mit einem surrenden Traum im heißen Bubenköpfl, immer durchzittert vom brennenden Erwarten einer schönen Sache.

So waren wir Viere, so vertrugen wir uns ohne Mißverständnis, so hielten wir zusammen, und so eroberten wir uns den Wald und das Feld, den Bach, die Gasse und eine kreuzfidele märchenselige Knabenzeit. Unser Spielplatz maß zwei Stunden in die Länge und in die Breite und hatte Sächelchen, wie sie in keinem Nürnberger Baukasten zu finden sind. Alles war da ein Lebendiges, ein lachendes Stück Natur. Und alles, auch das Ernste und Gefährliche, zeigte uns ein harmlos [120] vergnügtes Gesicht. Denke ich zurück an jene Zeit, so steigt eine Herrlichkeit um die andere aus der Erinnerung herauf: rauschend fliegende Drachen mit den bunten Flatterschwänzen; weiße, sein geglättete Flitschpfeile, die so hoch emporstiegen ins Blau, daß sie auch dem schärfsten Auge verschwanden; zischende Ballesterbolzen, mit denen man das Schießen fleißig üben mußte, bevor man mit Sicherheit die Nasenspitze des heiligen Nepomuk, den Wetterhahn auf dem Kirchendach, die Enten des Wangers oder die Hennen der Schmiedin traf; zappelnde Fische an der Angel und zappelnde Fische im Tunkerkorb; und unter der Brücke der Kroppenfang und die Grundeljagd; Eidechsen und Ringelnattern, die man mit den Händen haschte, und Kreuzottern, die man mit gegabelten Haselnußzweigen hinter den Ohren erwischte; das Grillenkitzeln in der Sonne, und an Regentagen das Anmäuerln und das Kluckerspiel unter den triefenden Scheunendächern; das Eierstehlen auf den riesigen Heuböden des Rollewirtes, die Kartoffelbraterei auf dem Felde und das Feuermachen im Walde; bei Tag das Sonnengucken durch berußte Gläser, und bei Nacht das Sternschnuppenzählen; die Böller und Schlüsselbüchsen, die Speiteufel und Pulverfrösche; das Barfußlaufen, Staudenschlupfen [121] und Baumklettern; das grillende Geschrei der Mägde, wenn wir in den Spinnstuben den Flachs an den Kunkeln in Feuer steckten; das Geisterspiel in weißen Leintüchern und mit den Teufelsfratzen der ausgehöhlten Kürbisse, die durch eine brennende Kerze zwei glühende Augen und ein Feuermaul bekamen; das Holleklopferslaufen und Dreikönigsreiten, von dem man schwere Säcklein voller Nüsse, Äpfel, Birnen, Dörrzwetschgen und Hutzelbrot mit heimbrachte; die Fasnachtsgaudi und das Marktgedudel; der Kriegspfad mit den Indianertänzen und Marterpfählen; der Schmetterlingskasten und die Käferschachtel; die Leimruten für die schönen Stieglitze und die Schlaghäuschen für die Finken; die Falkennester auf dem Kirchturm und die Rabenhorste in den Tannenwipfeln; zahme Elstern, zahme Dohlen, zahme Nußhäher, zahme Eichkatzerln und zahme Rehe; nur die Füchse blieben immer wild, bissen und stanken.

Aber wenn man eins von diesen roten Satansbiestern um seiner Unerträglichkeiten willen totschlagen mußten, singen wir gleich wieder ein paar neue und waren des festen Glaubens, daß wir sie diesmal zahmkriegen würden. Und es gab im Revier meines Vaters keinen Fuchsbau, dessen Röhre so eng gewesen wäre, daß wir den mageren [122] Alfons mit einigem Nachschub nicht hineingebracht hätten. Wenn wir ihn an den Beinen wieder herauszerrten, war er von den Fußknöcheln bis zum Halse gelb von Sand, hatte ein blutendes Gesicht, blutende Hände, und streckte uns lachend in den zerbissenen Fäusten zwei rote, zappelnde Wollknödel entgegen, die sich als junge Füchse entpuppten.

Und weil wir gerade bei einer roten Sache halten – wißt ihr, was ›Lausbüewelesziegel‹ sind? Das sind rote Ziegelsteine, die vom Maurermeister wegen ihrer formstörenden Merkzeichen nicht gerne gekauft wurden; doch er mußte sie im Hundert mit dreinnehmen. Hinter den Karpfenweihern des Theklaberges lag inmitten einer großen Waldrodung die Ziegelei; nach Tausenden wurden da die gelben, schönen, frischgeformten Ziegel zum Trocknen in die Sonne gelegt; sie dunsteten in der Mittagshitze, waren so prachtvoll warm, und da sprangen wir, zu Vieren hintereinander, mit nackten Füßen über dieses linde, eingeheizte Trottoir. Mit den Siegelzeichen unserer Fersen und Zehen wurden die Steine im Feuer gebrannt. Und es steht in der Gegend von Welden manch ein Haus, in das die Spur unseres Erdenwallens eingemauert ist für einige Jahrhunderte. Auch eine Gattung von Unsterblichkeit!

[123] Bei solchen Versuchen, sich ein bißchen Ewigkeit zu sichern, geriet man freilich mit dem schimpfenden Ziegler manchmal in Konflikt und bekam am Hinterkopf einen sichergezielten Lehmpatzen schmerzlich zu spüren, der sich schwer aus den Kreuzerschneckerln herauskratzen ließ. Dann hetzte uns der erfinderische Alfons gleich wieder zu einer neuen, schönen Sache. Und hatte man sich müdgelaufen, heißgetollt und heisergeschrien, so wühlte man sich zu süßer Rast in einen duftenden Heuschober, oder warf sich zwischen schattigen Stauden ins linde Gras, oder kugelte sich in einem Kornfeld zwischen den wogenden Ähren herum, verschnarchte ein Stündchen oder guckte träumend ins leuchtende Blau hinauf und in den Silberglanz der schwimmenden Glockenwolken.

Und der Wald!

Du rauschende grüne Seligkeit! Du redendes Buch des Werdens und Vergehens! Du unerforschliches Geheimnis, du lachende Klarheit! Brunnen aller Dinge, die gesund sind! Heimat aller schönen und zufriedenen Träume! Und jeder Tod in dir ist neues Leben!

Ich habe mich als Kind im Walde nie gefürchtet. Er war mir ein Vertrautes, bevor ich ihn noch kennen lernte. Denn eh' ich zum erstenmal [124] in seinen stillen Schauer trat und lachend nach seinen Farben und Früchten griff, hatte ich schon zu hundertmalen das schwärmerische Wort der Mutter gehört: »Mein Wald!« Und der Vater, der nicht leicht zu Zärtlichkeiten neigte, hatte immer etwas Frohes und Mildes in der Stimme, wenn er von ›seinem‹ Walde sprach.

Wo ich zu einem Fenster unseres Hauses auch hinausguckte, gegen Norden oder Süden, gegen Osten oder Westen, überall sah ich diese blaugrünen Wogen locken und gewahrte hinter Wiesen und Feldern diese zierlichen Gipfelsägen, die schattendunkel oder sonnenhell hineinschnitten in das Blau des Himmels.

Es mag wohl bald im ersten Sommer zu Welden geschehen sein, daß ich sehnsüchtig diesem winkenden Grün entgegenzappelte. Des Tages, der mir den Wald gegeben, weiß ich mich nicht mehr zu entsinnen. Aber ich glaube, daß dieser Tag mir den ersten Seelenrausch, das erste klingende Gefühl meines Lebens gab. Denn so weit ich mit klarem Erinnern zurückschaue in die Kindheit: immer steht mir zwischen schönen Dingen der Wald als das Schönste, und immer war mir da ein frohes Zittern im Blute, ein Jubelschrei in der Kehle, ein Staunen in den Augen, ein Gefühl der Erlösung [125] in allen Sinnen, ein geflügelter Traum in all meinem Leben. Und das ist seit meiner Kindheit so in mir geblieben bis zum heutigen Tage – durch ein halbes Jahrhundert. Wenn ich nach müden, kranken Stadtmonaten hinaufreise zu meinem lieben, einsamen Waldhause da droben im Wettersteingebirge – ich kann euch nicht sagen, was da in mir lebendig wird! Immer wieder ist das wie ein heilendes Wunder, wie frische Kraft, wie neuer Glaube an alles, was Leben heißt. Schon auf halbem Wege, noch sieben Stunden weit von meinem Wald, da fangen meine Augen schon zu suchen an. Und tauchen meine Berge hinter fremden Steinen heraus, und seh' ich an einer blaufernen Höhe ein Stücklein meines Waldes hängen wie ein Schwalbennest, dann beginnt in mir ein Sehnen, Brennen, Zittern und Dürsten, bei dem mir eine Stunde zu einem unüberstehbaren Zeitraum wird. Aber rollt der Wagen hinein in meine stillen wundersamen Bergwaldshallen, so werde ich ruhig und fange zu schauen an. Da steht mein Haus, das liebe, das weiße im dunklen Wald! Das einemal grüßt es mich in Sonnenhelle, das anderemal mit Lichterglanz in der Dämmerung. Ein Lachen, und aus dem Wagen heraus! Und das Stadtgewand herunter und meinen grauen [126] Waldkittel an den Leib! Und bevor ich noch einen Bissen esse, und ob es Tag oder Nacht ist – ich springe hinüber zu den nächsten Bäumen, die nur zwanzig Schritte vom Haus entfernt sind – und stehe lange und atme tief – das ist wie Stillung aller Wünsche, die in einem Herzen schreien konnten – und in meinem Walde bin ich wieder ein Gesunder, bin froh und zufrieden.

Mein Wald! Dieses Possessivum will nur sagen: ein Wald, den ich kenne. Neue Wälder sind mir immer wie fremde Menschen, deren Inneres wir erst entdecken müssen – wie ungelesene Bücher, die noch nicht reden zu uns. Um einen Wald so kennen zu lernen, daß ich ihn mein nennen kann, dazu brauche ich lange. Es geht mir da, wie es Thorwaldsen mit Rom erging. Als ihn eine Dame fragte, was in Rom denn alles zu sehen wäre, gab er zur Antwort: »Das weiß ich noch nicht; da müssen Sie jemand fragen, der Rom kennt; ich bin erst sieben Jahre hier.« Oft sagen mir Leute: »Die Natur, die du schilderst in deinen Büchern, ist lebendig und spricht.« Wenn das so ist, dann hat es nichts zu schaffen mit irgend einem Können in mir. Es ist eine dankbare Folge der vertrauenden Geduld, die ich mit dem langsam sprechenden Walde habe. Durch viele Jahre bleib' [127] ich immer an der gleichen Stelle – Frühling, Sommer, Herbst und den halben Winter – und schaue mir immer wieder, wieder und wieder das gleiche Stück Natur an. Im vierten oder fünften Jahre wird es mein – das heißt, es beginnt für mich lebendig zu werden. Dann kann ich von ihm erzählen – wie ein Kind von dem Bache, der ihm rauschte, von der Sonne, die ihm leuchtete, von den Schatten, die ihm blau erschienen. Seit zwölf Jahren hause ich dort oben im Waldgrün hinter dem Wettersteine, kenne da jeden Weg und Steg, das Nahe und das Ferne, jede Farbe und jeden Klang, jeden hellen Platz und jede dunkle Stätte – und weiß doch, daß ich diesen meinen Wald nicht besser kenne, als ein Kind sein Leben kennt – und weiß auch, daß ich mit jedem neu erblühenden Jahre noch tausendmal mehr zu sehen bekomme, als ich schon gesehen habe.

Was gäb' ich drum, wenn mein Erinnern heute noch klar überschauen könnte: wie das in meiner Kindheit für mich begann? Dieses Hängen am Walde? Und was mein erster Tag in dieser grünen Lebenskirche an staunenden Freuden in meinem Kinderherzen weckte, an fragenden Gedanken in meinem Knabengehirn? Aber ich sehe da kein Zusammenhängendes mehr, sehe nur getrennte Bilder. [128] Unter ihnen das älteste, das ist der stille prachtvolle Hochwald, der zwischen Welden und Hegnenbach grünte. Der ist wohl lange schon niedergeschlagen. In mir aber grünt er noch. Ganz klein bin ich; und diese zweihundertjährigen Bäume sind so riesengroß! Das Gehen zwischen ihnen ist eine linde, lautlose Sache; und kein Baum ist da, den ein Mensch mit den Armen umfassen könnte; und die Stämme haben keinen Ast bis hoch hinauf; und hoch da droben, unerreichbar, hängt das grüne Dach, an dem die vielen kleinen Sonnenlichter funkeln wie tausend Tagsterne. So oft ich in späteren Jahren Märchen las und von Zwergen hörte, ist mir immer dieser Hegnenbacher Hochwald eingefallen.

Dann seh' ich die sonnige Erdbeerlehne im Mühlgehau. Da lag man mit schlenkernden Beinchen auf dem Bauche und hatte eine Stunde lang an der roten Süßigkeit zu schmausen, die man mit kurzen Ärmchen erreichen konnte, ohne sich vom Fleck zu rühren. Und wollte man leckere Arbeit für eine weitere Stunde haben, so brauchte man sich, ohne aufzustehen, nur ein paarmal herumzukugeln. Einmal blieb ich da so liegen und schluckte, bis es dunkel wurde. Auf dem Heimweg kam ich zu einem tiefen Wassergraben, sah ein weißes [129] Brett als sicheren Steg, wollte drübertappen und plumpste bis übers Haar ins Wasser hinunter. Das ›weiße Brett‹ war ein Spiegelbild des Mondlichtes. Und ich erinnere mich noch, wie prachtvoll kühl mir in der schwülen Sommernacht der weitere Heimweg wurde.

Dann seh' ich das dicke, endlose Jungholz neben dem Hochwald des Schwarzbrunnenberges. Auf Spannenweite wuchs da ein junges Fichtenstämmchen dicht am anderen. Die Äste waren wie ein festes undurchdringliches grünes Netz. Blieb man aufrecht auf den Beinen, so war da kein Durchkommen. Man mußte sich auf allen Vieren vorwärtszwängen, sich mühsam zwischen dicken Zäunen durch die schmalen Gäßchen winden, die das Wild gefunden und ausgetrippelt hatte. Und manchmal sprang ein erschrockenes Häschen aus dem Lager, manchmal huschte ein roter Fuchs davon, manchmal schreckte ein Reh mit schallenden Lauten. Und so kroch man und krabbelte, kam zu keinem Ende, kam nicht mehr an den hellen Tag, blieb mit Kittel und Höschen hängen und fing vor Zorn zu schreien an, vor Wut zu heulen – und lachte wieder, wenn man zerkratzt und zerrissen endlich doch einen Ausweg fand.

Neben dieser Qual meiner Waldliebe zeigt mir [130] die Erinnerung gleich ein wundersames Erlebnis. Damals verwandelte sich der Hochwald des Schwarzbrunnenberges für fünf Minuten in einen Wald von brennenden Christbäumen. Ich glaube, das war zwischen Frühling und Sommer. Und tagsüber muß wohl ein Gewitter, das sich nicht entlud, am Himmel gehangen haben; denn der Abend hatte etwas Dunkles, Schweres und Trauriges. In der Dämmerung kam ich mit Vater und Mutter irgendwoher und wir gingen über die Wiesen bei der Laugna nach Hause. Plötzlich stammelte die Mutter: »Jesus, Gustl, so schau doch!« Auch der Vater erschrak, weil er zuerst an einen Waldbrand dachte. Aber dann verstand er's gleich. Doch was er sagte, weiß ich nimmer. Ich staunte sprachlos immer da hinaus zu der dunklen Waldhöhe, die von rötlichem Schein umglastet war. Und jeder Wipfel glänzte wie von hundert strahlenden Wachskerzen. Dieses Himmelschöne dauerte so lange, daß man drei Vaterunser hätte beten können. Dann erlosch es langsam. Eine elektrische Entladung war's, ein Elmsfeuer. Aber das verstand ich damals nicht. Ich hielt es für ein Wirklichkeit gewordenes Märchen. In den folgenden Jahren spähte ich wohl an viel hundert Abenden zum hohen Schwarzbrunn hinaus. Doch dieses Leuchtende [131] kam nicht wieder. Ist aber doch immer noch da! Und glänzt! – Gibt es im Leben ein Verlieren? Nur die Schmerzen wird man los. Das Schöne behält man.

Zu den ältesten Waldszenen, die in meiner Erinnerung husten blieben, gehört auch das Bild einer heimlichen, geheimnisreichen und aufregungsvollen Frühlingsjagd. Und da seh' ich den dunklen Zieglerwald und die lange, schmale, viereckige Zieglerwiese zwischen schwarzen Fichten. Und im Dorfe war ein alter Bauernjäger, der ›Lumpeschuster‹. Mein Vater sah es nicht gerne, daß ich mit diesem Alten Freundschaft hielt. Aber wenn der Schnee zerfloß und die Veilchen blühen wollten, und wenn mir um diese Zeit der Lumpeschuster begegnete und mit den schlauen Augen zwinkerte, wußte ich gleich, daß wir vor Anbruch des Abends auf dem Theklaberge sein mußten, der Muckl, der Domini, der Alfons und ich. Da gab's kein Halten, pünktlich war ich droben bei der Ziegelstätte. Und wenn die Sonne über den fernen Gottsackerberg hinunterging, kam der Lumpeschuster über den Theklaberg herauf einen schweren Sack auf dem Rücken schleppend. Erst mußten wir Buben Stillschweigen geloben, mit dem Schwur: »Auf Ehr und Seligkeit!« Dann ging es zur Zieglerwiese.

[132] Und der Lumpeschuster holte aus dem Sack ein großmächtiges, spinnefein geflochtenes Netz heraus. Wir Buben mußten links und rechts von der schmalen Wiesenmitte auf zwei hohe Bäume klettern, die Rollen an den Wipfeln festbinden und die Schnüre durchziehen. Bevor es dämmerte, war das seine Netz turmhoch durch die Luft gespannt, quer über die Wiese hin. Neben dem Lumpeschuster, der am Waldsaum hockte und die Fallschnüre festhielt, huschelten wir Viere uns lautlos zusammen, guckten in die Luft und lauerten. Es dämmerte mehr und mehr. Die letzten Amselrufe schwiegen, die kleinen Meisen wurden still, manchmal brummte unsichtbar ein großer Käfer an uns vorüber – alles in der Dämmerung Verschwimmende wurde zu einem rätselhaften Ding, das man mit erregter Neugier betrachten mußte – und wenn das Netz schon nimmer zu sehen war und ein großer Stern am blaßgelben Himmel aufbrannte, pflegte der Lumpeschuster unter leisem Kichern zu flüstern: »Jetz bald! Jetz bald!« Wir Buben zitterten im Fieber der Aufregung. Drunten im fernen Dorf ein sanftes Glockenläuten, bei dem wir zu beten vergaßen. Und nun in der bleigrauen Luft ein merkwürdiges Räuspern, immer näher, ein hohes Gezwitscher, doppelstimmig – über den Waldsaum [133] huschen zwei schwarze, schwebende Kugeln herüber, jede so groß wie eine Faust, und senken sich gegen die nebelnde Wiese, steigen wieder und fallen, scheinen miteinander zu spielen, verwandeln sich in runde, fette Vögel mit hurtig schlagenden Flügeln – mitten im kosenden Fluge scheinen sie plötzlich stillzustehen – ein leises Rauschen, ein sachter Klatsch – das Netz ist gefallen, hat die zwei Schnepfen unter seinen Maschen begraben, und wir Buben stürmen mit dem Siegesgeheul von Indianern auf die Beute los. Die kam natürlich in den großen Sack des Lumpeschusters.

Weshalb man bei solch einer herrlichen Sache Stillschweigen ›auf Ehr und Seligkeit‹ geloben mußte, das hab ich erst späterhin begriffen. Der Lumpeschuster war ein Wilderer und stahl die Schnepfen in meines Vaters Revier – und da nahm er mich mit, um sich für den Fall der Entdeckung einen Blitzableiter zu sichern. Das darf ich ihm nicht übel nehmen. Weil ich selber ein schlechtes Gewissen habe. Acht Jahre später wurde ich in meines Vaters Gehege zum Wilddieb, ohne daß mich der Lumpeschuster dazu verführte.

Mein Vater wollte mich von der Jagd so lange wie möglich ferne halten. Während der ersten Jahre im Holzwinkel nahm er mich niemals mit, [134] wenn er die Büchse trug. Und den Forstgehilfen verbot er's, auf mein Gebettel zu hören. Aber da gab's für mich keinen Zügel. Im Hause sprach man immer von der Jagd, die Hunde waren da, die Flinten hingen am Nagelbrett und man konnte ihre Schäfte streicheln, das erlegte Wild wurde heimgebracht – und ich war doch mit der Jagdlust erblich von zwei Geschlechtern her beschenkt. So rannte ich eben allein oder mit einem von meinen vier Getreuen in den Wald hinaus, schnellte meine Flitschpfeile in die Buchenkronen und verschoß meine Ballesterbolzen auf Nimmerwiederfinden. Und dann kam eines schönen Sommers der große Tag, an dem mich der erfinderische Alfons auf den Einfall brachte, daß man beim Forstgehilfen Stubenrauch zum ebenerdigen Fenster ins Zimmer hineinsteigen und eine Flinte herausholen könnte. So geschah's. Was ich erwischte, war ein nagelneuer, doppelläufiger Lefaucheux. Und vier Patronen krabbste ich aus der Schublade. Die Flinte war so lang und schwer, daß ich sie nicht an der Wange festhalten konnte. Aber der Schlosser war ja doch mein Freund. Und als ich zu ihm kam und bettelte: »Du, schneid mir das lange Gwehrle vorn und hint ein bissele ab!« ... da lachte er und tat, was ich haben wollte. Nun [135] gingen wir pirschen, der Alfons und ich. Furchtbar stolz! Doch wir hatten noch keine zwanzig Schritte in den Wald gemacht, da ging das Gewehr schon los, ohne daß ich schießen wollte. Und dem Alfons fahr das Feuer und der Schuß so dicht am Bauch vorbei, daß er ein Brandloch ins Kittele bekam, und daß an seinem ›Schilehweschteleible‹ ein Tuchfetzen und zwei Knöpfe fehlten. »Noi(n), du!« sagte der vorsichtige Freund, machte einen seiner berühmten Seitensprünge und ließ sich an diesem Tage nicht mehr in meiner Nähe blicken.

Mir war ein bißchen absonderlich zu Mut. Und weil sich nur der Alfons aufs Laden verstanden hatte, wußte ich für mich allein nimmer, was ich tun sollte. Ging also heim. An dem roten Hause sah das verstörte Gesicht meiner Mutter zum Fenster heraus. Und noch bevor ich – um ein klassisches Wort zu gebrauchen – den Hof erreichte, tauchte der Vater mit zornheißer Stirne in der Haustür auf Mit der Linken faßte er mich am Handgelenk, und die Rechte hielt er hinter seinem Rücken versteckt – drum konnte ich nicht sehen, daß er in dieser Hand die Hundspeitsche hatte. Und dann bekam ich in meines Vaters Kanzlei die ersten schweren Hiebe meines Lebens. Mit dieser[136] Hundspeitsche! Und dem Forstgehilfen Stubenrauch mußte Papa einen neuen Lefaucheux kaufen.

Diese Hiebe hab' ich noch eine Woche später rings um die Beine herum gespürt. Die Sorge, daß solch eine schmerzende Prozedur sich wiederholen könnte, führte mich bald darauf einem Abenteuer unter Blitz und Donner zu.

Da war der Vater in Augsburg. Und bei uns in Welden saß eine alte bucklige Base zu Besuch, die mir schrecklich war – nicht nur deshalb, weil sie die Manie hatte, mich täglich aus allen Schulbüchern zu verhören. Ganz besonderen Eifer gab sie sich mit dem Einmaleins, das trotz aller Mühe und Geduld der Base in meinem zerstreuten Köpfl nicht haften wollte. Um ihr die Antwort nicht immer schuldig zu bleiben, spickte ich aus dem Blatt, das ich unter dem Tisch verborgen hielt. Die Base konfiszierte meinen Nothelfer. Und da kam ich über Nacht auf einen Einfall, der mir rasendes Vergnügen machte. Ich nahm einen Gulden aus meiner Sparbüchse und lauste dafür beim Kirchgasseleskrämer sechzig gedruckte Einmaleins. Die brachte ich in meinen neun Taschen unter. Da konnte nun die Base am Nachmittage fragen und konfiszieren, so viel sie wollte – ich hatte immer wieder einen neuen Nothelfer in der Hand, [137] unter dem Tisch oder auf dem Knie. Die bucklige Dame bekam vor Zorn ihre Nervenzustände, und schließlich weinte sie hilflos: »Das sag ich deinem Papa, wenn er kommt.« Ich weiß nicht, ob der Vater in diesem Augenblicke wirklich heimkam, oder ob nur meine Phantasie beim Gedanken an die Hundspeitsche eine Kutsche rollen hörte. Sicher weiß ich nur das eine, daß ich erschrocken in den dunklen Kanzleigang flüchtete, zum Scheunenfenster hinaussprang und die Bachgasse hinunterjagte, um mich in den Hegnenbacher Hochwald zu retten. Aber ich kam in einen andern Wald, wo es Himbeeren in roter Menge gab. Während ich da speiste, merkte ich gar nicht, wie dunkel der Himmel wurde. Ein Platzregen machte mich springen – ich sah einen alten, hohlen Baum – und da kroch ich unter. Gefiel mir's in diesem trockenen Versteck, oder traute ich mich nimmer heraus, oder schlief ich vor Müdigkeit ein? Ich erinnere mich nur, daß plötzlich die Nacht im Walde lag; daß rauschender Regen mit prasselndem Hagel wechselte; daß der ruhelose Donner alles zittern machte; daß bei jedem Blitz der Wald in Feuer zu schwimmen schien, und daß in diesem blendenden Licht die Luft vor meinem Baumloch wie mit tausend weißen, ruhigen Punkten getüpfelt war. Und zwischen dem [138] Rollen der Donnerschläge hörte ich schreiende Stimmen, bald ferner, bald wieder näher. Sie riefen meinen Namen: »Luuuudwigle!« Aber ich rührte mich nicht. Und als es wieder einmal blitzte, war der stammende Nachtschreck verwandelt in ein Waldmärchen. Zwischen den gleißenden Bäumen sah ich graue, gebeugte Zwerge huschen. Wieder die Nacht. Und ein rotes, gaukelndes Sternchen ganz am Boden. Und wieder ein Blitz, daß alles waberte. Jetzt waren zwei von den Zwergen ganz in meiner Nähe, ein großer und ein kleiner. Und in der Finsternis, die der blendenden Helle folgte, klang eine schrillende Bubenstimme: »Luuuudwigle!« Diese Stimme hätte ich unter hundert anderen herausgekannt. So grillen konnte nur der Maleralfons. Da sprang ich natürlich gleich aus meinem trockenen Baumstübchen in den Regen heraus – und sah beim roten Schein einer Laterne die triefenden Gesichter des Alfons und des Maler-Papi, die zum Schutze gegen den Regen dicke Hafersäcke über Kopf und Schultern gezogen hatten.

Meister Vogel schrie ein paar Worte, die ich nicht verstand, und leuchtete mir mit der Laterne ins Gesicht, während der Alfons in Freude grillte: »Herr Revierferschtner! Herr Revierferschtner!«

[139] Von irgendwo eine gellende Stimme, die mich zittern machte: »Habt ihr ihn?«

Die beiden hielten mich an den Händen fest und fingen mit mir zu laufen an. Schwimmendes Feuer, in dem wir taumelten. Und im gleichen Augenblick ein Gerassel, als wäre ein Haufen Blechgeschirr vom Himmel heruntergefallen.

Der Blitz hatte zwanzig Schritte hinter uns in den hohlen Baum geschlagen.

Ich war wie betäubt und kam erst wieder halb zu mir, als wir draußen auf den Wiesen waren und das Gewitter schwächer wurde. An die zwanzig Menschen gesellten sich nach und nach zu uns. Aber sie redeten nicht viel, sondern machten flinke Beine unter den triefenden Säcken. Der Vater, den ich im Walde hatte schreien hören, kam nicht zu uns. Und ich hatte nicht den Mut, nach ihm zu fragen.

Als diese zwanzig Sackläufer mich heimbrachten in der nassen Nacht, empfing mich vor der Haustür die bucklige Base und tat furchtbar zärtlich mit mir. Im Hausflur saß die Mutter auf der Stiege; sie konnte nicht aufstehen und nicht reden, streckte nur die Arme nach mir; und als ich ihren Kummer sah, als ich fühlte, daß die Mutter zitterte, kam die Reue wie etwas Betäubendes über mich. [140] So schob mich die bucklige Base ins Zimmer. Hier saß der Vater, schon trocken umgekleidet, neben der Lampe am Tisch und las seine Augsburger Abendzeitung. Bevor ich ein Wort herausbrachte, sah Papa über die Schulter und sagte: »Du Kamel! Du weißt wohl gar nicht, was dir heute hätte passieren können? Marsch, weiter! Laß dir die nassen Kleider herunterziehen und geh in dein Bett!« Das hatte strengen Klang. Aber ich hörte aus seiner Stimme doch auch die Freude heraus. Und als ich dann trocken in den Federn lag und duselte, war mir unbeschreiblich wohl.

Am andern Morgen guckte ich vergnügt zu der Hundspeitsche hinauf die ruhig und ungefährlich am Zapfenbrette hing. Aber was mir der Schreck der Eltern bei dieser Gelegenheit erspart hatte, kam mir bei der nächsten doppelt herein. Und da hab' ich eine dunkle, mir selbst ganz unbegreifliche Geschichte zu erzählen. Sie fällt mir immer ein, wenn ich davon reden höre, wie Menschen zu Verbrechern werden, ohne daß sie es wollen oder wissen – und wie plötzlich in uns Menschen etwas erwachen und handeln kann, wider alle Vernunft und wider jeden Willen, etwas Fremdes und Unerklärliches, über das wir keine Macht besitzen, und das nur Macht hat über uns.

[141] Wißt ihr, was ein ›Bachkätzelespfeifle‹ ist? Am Bache wachsen die Weiden, die im Frühling mit grauen Sammetkätzchen blühen. In dieser Blütezeit, wenn in den Stauden die ersten Säfte treiben, kann man aus den Rinden der Weidenzweige prachtvoll trillernde Pfeifen schneiden. Auf dem Schenkel wird der Zweig eine Weile sacht mit dem Messerhefte geklopft. Dann geht die Rinde glatt vom Holz herunter. Man schneidet die Schallkerbe und die Fingerlöcher hinein, schnitzelt ein genau passendes Mundstück, und dann bläst man lustig drauf los. Wir vier Getreuen verstanden uns gut auf das Schneiden dieser ›Bachkätzelespfeifen‹. Aber Buchbinders Alysi, ein scheuer und schwächlicher Bub, verstand die Sache noch besser als wir. Oder hatte ihm nur das zufällige Glück in jenem Frühling einmal geholfen, unter allen Pfeifen die am schönsten klingende fertig zu bringen? Wenn zwanzig Buben am Bache dudelten, hörte man den seinen, zärtlichen Klang des Alysi gleich heraus. Und diese seltene Wunderpfeife hätte ich ums Leben gerne gehabt! Ich wollte sie dem Alysi abhandeln. Der gab sie aber nicht her. Ich bot ihm Schätze, die ich gar nicht besaß. Doch der Alysi schüttelte stumm den Kopf ging mir aus dem Wege und blies nur noch auf seiner Pfeife, wenn er ganz [142] allein war. Der halbe Sommer ging darüber hin. Und die Pfeife, je älter sie wurde, klang immer schöner, von irgendwo aus einem Weidenversteck.

Eines Mittags kam ich vom Maler-Papi herauf Vor dem Buchbinderhause saß der Alysi zwischen den Weidenbüschen, ließ die nackten Füße ins Wasser hängen und zwitscherte auf seinem unverkäuflichen Märchenrohr. Und da begann dieses Fremde in mir. Der Anfang war noch eine verständliche Sache: daß ich auf den Alysi zuspringen und die Pfeife packen mußte. Dabei bekam der schwächliche Bub einen Schreck und Stoß, daß er ins Wasser purzelte. Wäre die Laugna an dieser Stelle tief gewesen, so hätte der Alysi ertrinken müssen. Aber das Wasser ging ihm nur bis unter die Arme, und während er sich schreiend herauszappelte, rannte ich mit meinem Raub davon. Daheim verbarg ich die Pfeife im dunklen Kasten von Urgroßvaters Uhr und stellte mich aus Fenster und lauerte, ob die Buchbinderin nicht käme. Richtig kam sie. Wie eine Verrückte surrte sie über die Brücke her. Ich blieb in der Dämmerung des Abends am Fenster stehen, und das Herz schlug mir bis zum Hals herauf Kein Gedanke war in mir; ich horchte nur. Es dauerte auch nicht lange, [143] so hörte ich draußen auf der Stiege den schnellen Schritt des Vaters; und ich erinnere mich, daß mir kalt wurde bis in die Zehen hinunter, und daß sich plötzlich etwas wie ein Eisenreif um meinen Kopf legte. Als der Vater in die Stube trat, hatte er wieder die rechte Hand hinter dem Rücken – so, wie ich es später noch öfters bei den Zahnärzten gesehen habe, aber niemals wieder beim Vater.

»Ludwig! Gib die Pfeife her!«

Bis zu dieser Stunde hatte ich dem Vater und der Mutter noch nie eine Lüge gesagt; ich hatte nur manchmal etwas verschwiegen, um was ich nicht gefragt wurde. Jetzt blieb ich am Fenster stehen und sah den Vater an, als hätte ich nicht verstanden, was er sagte.

Papa wurde ungeduldig: »Die Pfeife gib her!«

Ganz ruhig war ich; aber ich konnte keine Hand rühren, keinen Finger bewegen. »Was für ein Pfeifle?«

»Das von Buchbinders Alysi.«

»Ich weiß nix von em Pfeifle.«

»Bub!« Der Vater bekam die rote Stirne. »Die Buchbinderin war da und sagt, du hättest dem Alysi die Pfeife genommen und hättest den Buben ins Wasser geworfen.«

[144] »Net war isch!«

Papa wurde blaß. »Kind! Lüg mich nicht an! Wenn du's getan hast, sag mir's!«

»Net wahr isch! Ich hab kein Pfeifle. Ich hab den Alysi gar net gsehe, verlogen isch alles!«

»Du!« Der Vater wollte nach mir greifen. Im gleichen Augenblick schob Mama das bleiche Gesicht zur Türe herein: »Aber Gustl, wenn's der Bub doch sagt! Er hat uns doch nie noch angelogen!«

Mir lief als ich die Mutter sah, etwas Brennheißes über die Brust herauf und über das Gesicht. Und da hatte mich der Vater schon beim Genick, hob mich mit seiner starken Faust in die Luft und schlug auf mich los. Dabei schrie er immer: »Die Pfeife gib her! Die Pfeife gib her!« Und ich, zwischen Heulen und Schlucken, hatte immer nur den einen gleichen Schrei: »Ich weiß nix von em Pfeifle ... ich weiß nix ... ich weiß nix ...«

Hielt der Vater von selber im Schlagen inne? Oder hatte die Mutter seinen Arm gefangen? Daran erinnere ich mich nimmer, weiß nur noch, daß mir etwas Erstickendes die Kehle zuschnürte, als Papa, ein heftiges Zittern in den Händen, stumm aus der Stube ging, in der es schon dunkel wurde.

[145] Auch die Mutter schwieg; sie entkleidete mich, wusch mir den Körper und schob mich ins Bett. Dann nahm sie meine Hände. »Kindele! Sag mir's! Schau, deiner Mammi! 's Lügen ist das Allerabscheulichste. Wirst doch dein Mutterle net anlüge! Gelt, nein? ... Sag mir's! Hast du das Pfeifle?«

Ich biß die Zähne übereinander und schüttelte den Kopf.

Die Mutter atmete auf. »So bleib in deinem Bettle liege! Ich geh zum Papa hinunter und sag ihm, daß dir unrecht geschehen ist, und daß der Alysi gelogen hat.«

Sie ging.

Und da soll mir nun ein Psycholog erklären, was jetzt geschah. Ich selber verstehe das nicht, obwohl es in meinem eigenen Leben war.

Ich stieg aus dem Bett, holte das Bachkätzelespfeifle des Alysi aus Urgroßvaters Uhr heraus, stellte mich mitten in die dämmerige Stube und fing wie von Sinnen zu pfeifen an, immer zu, und immer in den schrillsten Tönen. Und so blies ich noch immer weiter, als Papa mit der Hundspeitsche schon wie ein Irrsinniger zur Türe hereinstürmte.

Er schlug auf mich los, daß ich zu Boden stürzte. Und ich weiß noch, daß die Mutter unter [146] diesen klatschenden Hieben immer schrie: »Jesus, Gustl, schlag ihn nicht tot! Jesus, Gustl, du schlagst den Buben ja tot!« Dann fiel ich in Ohnmacht.

Als ich erwachte, war es finster in der Stube. Und auf dem Fenstergesimse brannte das kleine Nachtlicht. Ich drehte mich um, hatte Schmerzen und schlief wieder ein. Und wurde wieder wach – sah, daß der Vater und die Mutter schwarz vor meinem Bette standen, und hörte, daß sie leis miteinander sprachen. Unter Schmerzen hatte ich ein Gefühl, das wie Freude war. Und so schloß ich die Augen wieder und schlief –

Zwanzig Jahre später, als ich Vater meines ersten Kindes geworden war, kam meine Mutter zu uns nach Königssee. Und Abend war's. Mama saß neben mir vor dem Schlummerkörbchen meiner kleinen Lolo. Wir kamen auf Kindererziehung zu sprechen. Dabei erinnerte mich die Mutter an die Geschichte vom Bachkätzelespfeifle. Und sagte: »Ach, Gottele, Bub, was hab ich damals durchgemacht, mit dem Papa und mit dir! Hundertmal hab ich dich gefragt, wie du nur so was tun hascht könne. Und du allweil wieder: Mutterle, ich weiß net! Und mit Papa hab ich die halben Nächt verschwätzt. Und hab einmal gesagt: Schau, Gustl, ich glaub jetzt wirklich, daß der Bub da nichts[147] dafür hat könne! Und da sagt der Papa: ›Ja, ja, vielleicht hast du recht; es gibt schon solche Sachen im Menschen; aber ich kann dann auch nichts dafür, daß ich den Lausfratzen halb tot geschlagen hab‹.« Die Mutter lachte. »Bub, da hab ich nacher zum Papa nie mehr ein Wörtle gesagt vom Unverantwortliche im Mensche.« Sie schwieg und streichelte zärtlich das Lockenköpfchen des kleinen blonden Weibleins im Schlummerkorb. Nach einer Weile sagte sie: »Ich glaub aber doch, es geht auch ohne Schläg. Man müßt halt allweil das richtige Wörtle finde. Das sitzt nacher schon am richtigen Örtle.«

Ob ich meinen Kindern gegenüber immer das richtige Wort gefunden, weiß ich nicht. Aber ich habe sie nie geschlagen. War's die richtige Methode? Oder waren meine Kinder so glücklich geartet, von ihrer Mutter so glücklich geführt, daß ihnen eine Portion väterlicher Hiebe nie so nötig war wie mir? Das ist schwer zu entscheiden. Und ich muß an die kalten Füße eines meiner Jagdfreunde denken. Dem froren auf den herbstlichen Pirschgängen immer die Zehen halb weg. Wir rieten ihm, zwischen Strumpf und Schuh eine Hülle von japanischem Reispapier zu tragen. Als er nach dem ersten Versuch von der Pirsche heimkam, [148] fragte ich: »Nun, hat das Reispapier gegen die Kälte geholfen?« Er sagte: »Das kann ich heute nicht entscheiden, heute sind mir die Füße nicht kalt geworden.« –

Damals nach jener bösen Pfeifernacht mußte ich mehrere Tage das Bett hüten. Als ich wieder sitzen, stehen und gehen konnte, nahm mich der Vater zum ersten Male mit auf einen Pirschgang. Mit keinem Worte kam Papa auf die Geschichte vom Bachkätzelespfeifle zurück. Er zeigte mir allerlei merkwürdige Dinge im Wald und erzählte mir von Pflanzen und Tieren. Was? Ich weiß es nimmer. Aber ich muß aus dem, was er sagte, wohl einen absichtlichen Sinn herausgefühlt haben, der seine Wirkung tat. Denn daheim, vor dem Bettgehen, nahm ich Papa um den Hals, bat um Verzeihung und versprach alle heiligen Berge. Er sagte: »Das Halten wäre mir lieber als das Versprechen.«

Vielleicht steht es damit in Zusammenhang, daß ich aus der nächsten Zeit keinen ›unverantwortlichen‹ Streich zu erzählen habe – ausgenommen die Geschichte von den verhexten Enten des Wangers. Der hatte an die vierzig von diesen schönen, weißen, geduldigen Vögeln. Daß ich den Erpeln am Schwanze die reizenden Ringelfederchen auszupfte, das hätte ihnen weiter nicht viel geschadet. Aber [149] sie bekamen eine sonderbare, auch für den Viehdoktor ganz unerklärliche Krankheit. Ihr weißes Gefieder bedeckte sich mit zahlreichen, schwatzgrauen Tupfen. Und alle paar Tage wurde solch ein getüpfeltes ›Entavögele‹ traurig und krank. Die Nachbarsleute glaubten an Zauberei. Kein Weihwasser half Doch die unheimliche Hexengeschichte hatte plötzlich ein Ende – als die Mutter mein Blasrohr in den Ofen schob. Die schmerzenden Projektile, die ich zu Hunderten aus dem Versteck der Stachelbeerstauden nach den Enten verschossen hatte, bestanden aus gekautem Zeitungspapier, das nach festem Puster auf jeder weißen Fläche einen kleinen Spritzfleck von Druckerschwärze zurückließ. Und meine Mutter fragte mich damals immer, ob ich schon wieder Heidelbeeren gegessen hätte.

Sensible Kritiker werfen dem Meister von ›Max und Moritz‹ vor, daß seine lustige Kunst die Kinder zur Grausamkeit erziehe. Solcher Vorwurf ist Unsinn. Busch ist nur wahr. Denn die meisten Kinder sind grausam aus natürlicher Anlage. Aber sie pflegen ihre Grausamkeit als eine Art von Humor zu empfinden. Mein Pusterspiel, vom Standpunkt der leidenden Enten betrachtet, war gewiß keine löbliche Sache; aber ich, in meinem Staudenversteck, habe Tränen dabei gelacht. Wenn [150] solch ein ahnungsloses Wackelvögele den Schuß bekam, tat es erschrocken einen drolligen Flattersprung, sagte sehr schnell und aufgeregt: Gwack wack wack wack! ... und guckte dann unglaublich dumm in der Welt umher und zum Himmel hinauf. Das war immer so wahnsinnig komisch, daß ich mich vor Lachen schüttelte. Aber die Enten? Ich bin überzeugt, daß viele von den Enten des Wangers bei dieser für mich so lustigen Sache den Glauben an den Entengott verloren und Pessimisten wurden – bis sie wieder einen fetten Regenwurm aus dem Grase zogen. Aber dann zweifelte wohl der Wurm an Gottes Weisheit und Güte? Gott muß ein schweres Handwerk haben. Er kann es niemand recht machen.

Aus der Zeit dieser Entenkomödie ist noch eine Vogelgeschichte zu erzählen, die ich als Trauerspiel empfand. Ich hatte aus einem Raubvogelnest zwei junge, fast flügge Gabelweihen ausgenommen. Von der Schwarzwälderuhr des Wangers zwickte ich die Messingkettchen weg und fesselte damit im Hundezwinger meine ›Falken‹ an den Dachgiebel der Hundehütte. Ich wollte die Stoßvögel ›abrichten‹, träumte von ›Falkenjagd‹ und fühlte mich als ›Falkner‹. Mir war's eine Freude. Aber die zwei Vögel hatten unbehagliche Zeiten. Vor den [151] bellenden Hunden kamen sie vom Morgen bis zum Abend nicht aus einer nervösen, federsträubenden Aufregung heraus. Das behagte ihnen nicht auf die Dauer. Und eines Morgens – als sie an langen Schnüren schon prächtig das Fliegen gelernt hatten – waren sie mitsamt ihren Messingkettchen aus dem Hundezwinger verschwunden. Denkt euch meinen Kummer! Und am Vormittage gab's einen Aufruhr im Dorfe. Die eine der beiden Gabelweihen hing mit ihrem Kettchen am Wipfel einer Pappel, die andere am Kreuz des Kirchendaches. Herunterholen konnte man die Vögel nicht, man mußte sie totschießen. Und nun hing durch viele Monate da droben auf der Pappelspitze und da droben auf dem Kirchdachkreuz ein brauner Federklumpen und dann ein weißes Vogelskelett.

In der Trauerzeit um meine geliebten ›Falken‹ verfaßte ich – im Alter von acht Jahren – mein erstes Theaterstück: ›Die heilige Genoveva‹. Ein Stück, das nicht auf meinem Figurentheater und mit Pappfigürchen, sondern von lebendigen Menschen auf einer wirklichen Bühne gespielt werden sollte! Wie die Sage von der treuen Ritterdame Genoveva da mißhandelt war, das weiß ich nimmer. Aber das äußerliche Schicksal dieser Dichtung ist [152] mir im Gedächtnis geblieben. Sie wurde nur ein einzigesmal und nur zur Hälfte aufgeführt und erlebte einen blutigen ›Durchfall‹. Ich spielte den frommen Ritter, und der Maleralfons den bösen Golo; das Malernannele, das bei meinem kleinen Bruder Kindsmädel war, gab die heilige Genoveva mit dem Knäblein Schmerzenreich, und weil wir keine Hirschkuh hatten, nahmen wir als Ersatz des Wangers weiß und schwarz gefleckte Ziege. Es mag eine schwere Arbeit gewesen sein, diese ›Hirschkuh‹ über die zwei steilen Treppen auf den Dachboden hinauszubringen, wo Alfons und ich das Theaterpodium aufgeschlagen und mit alten Fenstervorhängen drapiert hatten. Das schöne Spiel begann. Doch als die flachshaarige Genoveva, die mein Brüderchen am Herzen und die Ziege am Stricklein hatte, ihre Rolle deklamierte, brach das Podium. Die fromme Dulderin plumpste zwischen die geknickten Bretter hinunter und schlug sich die Nase blutig, das Knäblein Schmerzenreich fing jämmerlich zu schreien an, und die zahme Hirschkuh wurde scheu. Nach solcher Gefährdung der öffentlichen Sicherheit wurde das Stück verboten.

Ich vermute, daß die Sprache dieses meines ersten dramatischen Versuches, so unbehilflich sie auch geklungen haben mag, doch manche Wendung [153] enthielt, die aus guter Quelle stammte – aus Goetheschen Gedichten. Goethe war Mutters Liebling, den sie mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit verehrte. Diese kleinen Bändchen, die in blaßgrünes, mit Rosenknospen bedrucktes Papier gebunden waren, pflegte sie ihre ›Gebetbüechle‹ zu nennen. Und wenn sie aus diesen Bändchen vorlas oder, was häufiger geschah, mir eins von den Goetheschen Liedern auswendig vorsagte, das war immer wie Gottesdienst. Deutlich erinnere ich mich noch des tiefen Eindrucks, den, als ich ein sechsjähriges Bürschlein war, die schaurig-heitere Ballade von der Wandelnden Glocke auf mich machte. Manches, was die Mutter gerne zwitscherte, lernte ich ihr bald nachsingen: Jägers Abendlied, das Heidenröslein, Mignon, die Ballade vom Fischer und das Liedchen vom guten Damon, der die Flöte blies. Daneben behielt aber auch der Struwwelpeter sein festes Recht, der Münchener Bilderbogen und das Märchenbuch. Als ich erst lesen konnte, begann ich alles, was mir schön war, zu verschlingen, wie ein hungriger Wolf die großen Bissen schluckt. Ganz besonders liebte ich die Geschichte vom Bäumchen, das andere Blätter haben wollte; diese schöne lange Sache mit den vielen Strophen blieb mir sicher im Köpfl und [154] auf der Zunge. Für alles, was Wort hieß, was in Versen klang, hatte ich ein flinkes und dauerndes Gedächtnis. Große Gedichte brauchte ich nur ein paarmal zu lesen oder zu hören, um sie auswendig zu behalten. Mit diesem hurtig schnappenden Gedächtnis sammelte ich freilich auch manches in mein Gehirnchen ein, was nach Meinung der Eltern besser draußen geblieben wäre. Brachte ich eins von den unverstandenen Liedern heim, die von den Bauernburschen beim Gasseleslaufen oder in den Spinnstuben gesungen wurden, dann sagte der Vater, manchmal lachend und manchmal ärgerlich: »Da hast du wieder was Sauberes gelernt!« Oder die Mutter riet mir: »Bub, das kannst du wieder vergessen!« Fragte ich: »Warum?«, so sagte Mama: »Weil's nicht nett ist!« Aber mehr als die Ruhe dieses ästhetischen Urteils wirkte auf mich die fromme Drohung unserer Köchin: »Pfui Deifl! Dees muescht beichte!«

Vor dem Beichtstuhl hatte ich einen herzbeklemmenden Respekt, obwohl der gute Pfarrer Hartmann außerhalb der Kirche ein sehr freundlicher Herr war. Doch als ich zum erstenmal mein Gewissen vor ihm erleichterte, wollte er wohl erzieherisch auf mich wirken – und das trug mir einen schrecklichen Nachmittag ein. Nach mancherlei [155] kleinen Sünden hatte ich schließlich auch bekannt, daß ich auf dem großen Heuboden der Rollewirtin schon viele Eier ›gefunden‹ und ausgetrunken hätte. Deutlich ist mir in Erinnerung geblieben, wie der Pfarrer hinter dem Gitter nickte, und mit seiner Flüsterstimme sagte: »Gfunde? So, so? Gfunde? Meinscht net, da müeßte mer ›gstohle‹ sage?« Ich hatte das Gefühl, als wäre dicht vor meinem Gesicht ein glühender Ofen. Der Pfarrer fragte mich nach dem siebenten Gebot, setzte mir gründlich den Unterschied von Mein und Dein auseinander und erklärte, daß der liebe Gott mir diese abscheuliche Sünde erst vergeben würde, wenn ich die Rollewirtin wegen des Schadens, den ich ihr zugefügt, um Verzeihung gebeten hätte.

Im Gemütszustande eines geknickten Menschenkindes verließ ich die Kirche. Beim Mittagessen brachte ich kaum einen Bissen hinunter. Von der Mehlspeise, die nach Eiern schmeckte, wurde mir fast übel. Und fünf Minuten später stand ich atemlos und mit klopfendem Herzen auf der steinernen, mit einem Eisengeländer versehenen Freitreppe des Rollewirtes. Weiter kam ich nicht. Beim Anblick des offenen Hausflurs hatte ich ein Gefühl, als sollte ich in die Hölle springen. Leute kamen und Leute gingen. Ich blieb auf der Treppe [156] stehen oder turnte, um unverdächtig zu erscheinen, am Geländer hin und her. Drinnen im Hausflur tauchte die runde Rollewirtin immer wieder zwischen Schänkstube und Kellerstiege auf. So oft ich sie gewahrte, wurde mir kalt oder heiß. Endlich fiel es ihr auf, daß ich immer da auf der Treppe stand. Sie kam und fragte freundlich: »Ludwigle, willschst ebbes?« Aber ich brachte keinen Laut heraus, schüttelte nur den Kopf – und turnte wieder. Stunde um Stunde verging. Es wurde fünf Uhr nachmittags, und die Herren kamen zum Tarock, einer nach dem andern, der Doktor, der Aufschläger, der Lehrer, der Förster Rauschmeyer und Papa. Jeder fragte so was ähnliches: »Ludwigl, was treibst du denn da?« Ich hatte immer die gleiche Antwort: »Nix!« Und turnte immer aufgeregter. Und jetzt – mir stand das Herz heroben im Halse still – jetzt kam der Pfarrer mit dem lustigen Benefiziaten Troll. Ich wollte davonrennen, doch meine Füße waren wie angewachsen. Der Pfarrer legte mir die Hand auf das Köpfl und fragte genau so neugierig wie die anderen: »Ludwigl, was treibscht du denn da?« Ich sah ihn verzweifelt an und stotterte: »Awer Sie wisse doch, Herr Pfarr ...« Er machte ein erstauntes Gesicht und sagte: »Ich? Was soll ich denn wisse? Nix [157] weiß ich. Gar nix!« Dann tätschelte er meine Wange und trat ins Haus. Ich konnte nimmer turnen, alles am Leibe war mir wie tot. Und der frühe, kühle Frühlingsabend fing schon zu dämmern an. Da kam die Rollewirtin plötzlich aus dem dunklen Hausgang heraus, nahm mich bei der Hand, führte mich in ihre Schlafstube, die neben der Kellertüre war, und beugte sich zu mir herunter: »Ludwigle, muescht mer ebbes sage?« Ich nahm die Frau mit beiden Armen um den Hals und fing herzbrechend zu schluchzen an. »No, no no«, tröstete die Rollewirtin, bevor ich noch ein Wörtlein bekannt hatte, »weischt, es ischt it so arg! Muescht bald meine Henneneschter jetzt e bissele in Rueh lasse, gell?« Ich fühlte, daß an meinem Kittelchen die Tasche schwer wurde. Und als ich aufatmend draußen auf der Treppe stand und durch den Abend davonrannte mit federleichtem Gewissen, fand ich in meiner Kitteltasche vier gefärbte Ostereier, zwei rote und zwei blaue. Mir war unbeschreiblich wohl zumute. Aber ich konnte an diesem Abend lange nicht schlafen – weil mich immer die Frage beschäftigte: »Warum sind die anderen nicht zur Rollewirtin gekommen, der Muckl und der Alfons?« Das Rätsel löste sich am nächsten Morgen. Alfons und Muckl [158] hatten nicht beim Pfarrer, sondern beim lustigen Benefiziaten ihre mit vielen Eiern beschwerten Seelen erleichtert. Der hatte ihnen nur zwei Vaterunser und einen Rosenkranz als Buße aufgegeben. – Das nächstemal beichtete ich beim Benefiziaten. So lernt man im Leben.

Langsam begann ich zu werden, was man ›klug‹ nennt. Und dennoch blieb ich noch immer kinderdumm für viele Dinge, ging mit geschlossenen Augen, geschützt von einem segensvollen Zauberspruche der Kindheit, an offenen Geheimnissen vorüber, die der Alfons und der Muckl schon lange verstanden, ohne sie mir erklären zu können.

Meine Schwester war nach Ottobeuren in die Mädchenschule gekommen und brachte im Kloster Wald mit ihren Streichen die frommen Frauen zur Verzweiflung. Ihren Platz in der Kinderstube zu Welden hatte mein kleiner Bruder Emil eingenommen, ein lungenkräftiger Schreihals. Meine Mutter erzählte mir in späteren Jahren, daß ich bei der ersten Nachricht von der Ankunft eines Bruders gefragt hätte: »Kann er schon kraxeln?« Ich führe das an, weil es zeigt, wie viel ich damals von den Quellen des Lebens wußte. An der Erscheinung der Mutter war mir keine Veränderung aufgefallen. Ich sah nur plötzlich: der [159] neue kleine Kerl ist da, und die Mutter ist vor Freude krank geworden und dazu ein bißchen mager. An den Vogel mit dem langen Schnabel glaubte ich nimmer – und zwar deshalb, weil es mir schrecklich zu denken war: der dumme Storch hätte sich im Schornstein irren und mich in ein anderes Haus bringen können – und dann wären Mama und Papa für mich zwei wildfremde Menschen gewesen. Aber für den Storch, der mir nimmer gefiel, mußte ich einen Ersatz haben. Und so begann der schöne, geheimnisvolle Kindlesbrunnen in meiner Phantasie zu rauschen. Hatte der Vater diesen Brunnen im Walde gefunden? Immer dachte ich darüber nach. Aber ich sprach zu keinem Menschen davon und fragte niemand – weil mich beim Denken an diese Dinge immer eine seltsame Angst erfüllte, eine wunderliche, unbezwingbare Scheu – so ähnlich wie das quälende und dennoch neugierige Zittern, das mich jedesmal befiel, wenn ich in der Weihnachtswoche durch das Schlüsselloch einer verriegelten Türe guckte. Manchmal zweifelte ich auch am Kindlesbrunnen und hatte Ahnungen, die der Wahrheit nahekamen. Die Lieder, die ich von der Gasse heimbrachte, und was meine Kameraden mit Geschmunzel schwatzten, und was ich die erwachsenen Burschen in den Spinnstuben [160] und auf dem Felde reden hörte, und was man im Dorfe an den Tieren sah – all diese Dinge wurden zu einer heimlichen Schule des Wissens. Man wußte alles und wußte dennoch nichts. Die Augen sahen, die Ohren hörten; aber das schwül angehauchte Knabengehirn zog immer falsche Schlüsse, tat nie einen geraden Sprung, sondern machte immer wieder märchenduselige Umwege, auf denen die Blumen verzauberter Gärten blühten.

Man soll die Kinder rechtzeitig aufklären. Verschleppte Unwissenheit in natürlichen Dingen ist eine latente Lebensgefahr. Aber einen vielfarbigen Kinderglauben auszutauschen gegen eindeutige Lebenswirklichkeiten – das erscheint mir als eine der schwierigsten Erziehungskünste. Wie viele Väter, Mütter oder Pädagogen gibt es, die da immer das rechte Wort zu finden wüßten? Denn ein falsches Wort zerstört da mehr, als es baut. Und wer weiß für solch ein Wort, wenn es schon das rechte ist, auch immer die rechte Zeit zu finden? Kommt es zu spät, so ist es überflüssig und lächerlich. Kommt es zu früh, so wird dem Kinde mehr genommen als gegeben.

Ich glaube, daß von allen Aufklärungsmethoden jene die beste, gesündeste und ungefährlichste ist, die sich am absichtslosesten zu geben weiß, keines[161] schwer zu findenden Wortes bedarf und keine Zeit zu wählen braucht – das heißt also: jene Aufklärung, die gar nicht nötig wurde. Lügt man dem Kinde, bevor es zu denken versteht, nicht diesen läppischen Unsinn vom gefährlichen Storchenschnabel und der gebissenen Mutter vor, so braucht man, wenn das Kind zu denken und zu fragen beginnt, nicht um neue Lügen verlegen zu werden. Hört ein Kind von Anbeginn nichts anderes, als daß die Menschen geboren werden, so wird es dieses heiligste aller Schöpfungswunder so harmlos hinnehmen wie jede andere unverschleierbare Natürlichkeit seines kleinen Leibes. Freilich darf man dann auch das zarte Schamgefühl, das die Natur jedem werdenden Geschöpfe mit ins Leben gibt, nicht dadurch verbilden, daß man ihm predigt, sein Hemdchen wäre unanständiger als sein Gassenkleidchen, und ein nackter Mensch wäre was anderes als ein bekleideter. Ist denn die Wahrheit in diesen Dingen nicht tausendmal schöner und reinlicher als jede Lüge, die ihr für das Kind ersinnen könnt? Märchen, die dem Kinde eine schwerverständliche Härte und Bitternis des Lebens verhüllen, sind Wohltaten. Aber es gibt auch Märchen, die für die Entwicklung einer jungen Menschenseele gefährlich und von unberechenbarem [162] Schaden sind. Solch ein mörderisches Märchen ist die Storchenfabel. Während der Jahre, in denen die Liebe zu Vater und Mutter im Herzen eines Kindes Wurzel schlagen soll, unterbindet ihm diese Lüge den zärtlichsten seiner kindlichen Lebenstriebe, stiehlt ihm das liebeschaffende Bewußtsein, daß es Blut vom Blute seines Vaters und Fleisch vom Herzen seiner Mutter ist – und verzerrt ihm die Kindesliebe zu einer gedankenlosen Gewohnheit, zu einer Utilität, zu einem ablohnenden Danke für Futter und Wärme, für unbegreifliche Opfer und für den Zufall grundloser Liebkosungen. Kommt dem Kinde die Erkenntnis der Wahrheit, so kommt sie in vielen Fällen zu spät. Ich befürchte, daß unter hundert Elternpaaren ein erschreckender Prozentsatz den Unverstand solcher Lügen mit vorzeitiger Vereinsamung büßen muß, mit einer verfrühten Loslösung ihrer Kinder aus der Blut- und Seelengemeinschaft der Familie.

Ich erinnere mich mit süßem Zittern eines Tages meiner Kindheit, an dem – zwei Jahre nach der Geburt meines Bruders – eine Kuh im Vatikan des Heiligen Vaters kälberte. Ich stand dabei und sah erschrocken dieses nicht sehr reinlich sich vollziehende Lebenswunder mit an. Und mußte ratlos fragen:

[163] »Wo kommt denn das Kälble her?«

Der Domini mit seinem klugen achtjährigen Lächeln sagte: »Aus der Kueh kommt's raus.«

»Wie isch es denn da hineingekomme?«

»Narrle, 's isch gwaxe in der Kueh, wie du in deiner Muedr gwaxe bischt!«

Als ich an jenem Tage heimkam, mußte ich die Mutter immer ansehen. Und mußte die Arme um ihren Hals klammern, mußte sie küssen und liebhaben. Die Mutter fragte immer: »Kindle, was hast du denn?« Aber ich konnte nicht antworten, konnte nur in Freude weinen, nur küssen in heißer Zärtlichkeit. Und als ich hinauskam in die Kinderstube, wo das kleine zweijährige Kerlchen in seinen Kissen lag, da nahm ich dieses winzige Händchen an meine Wange und begriff zum erstenmal, was das heißt: ein Bruder, ein Geschwister!

Man rühmt den Familiensinn der Juden, ihre treue, jede Not des Lebens und auch das Grab überdauernde Kindesliebe. Dieser kostbare Besitz der jüdischen Familie quillt aus keiner Eigenart der Rasse. Nein! Ich war zehn Jahre Journalist in Wien. Da lernt man Juden kennen. Sehr viele. Und ich habe gefunden, daß in jüdischen Familien alle Wichtigkeiten der Menschwerdung vor den [164] Kindern viel natürlicher und verständiger genommen und besprochen werden, als die verkrüppelte Sittlichkeit unserer ›christlich-arischen Kultur‹ das zuläßt. Die jüdischen Väter und Mütter genießen in der tieferen Liebe ihrer Kinder die Frucht des Vernünftigen.

Die schönen Wunder und Geheimnisse, die seit Ewigkeiten die Entstehung des Lebens umweben, sind ungefährlich für das Kindergemüt. Gefährlich sind nur die läppischen Tuscheleien, zu denen man aus falscher Scham dieses ewig Schöne entstellt. Man soll nicht Experimente machen, keinen Versuch unternehmen, dem Kinde ein verfrühtes Verständnis aufzuzwingen, für das es noch nicht reif geworden. Aber man soll das Aufblühen dieses Verständnisses auch nicht durch törichte Verschleierungen hindern, soll nicht ein Kind durch systematische Lügen auf dunkle Wege führen, auf denen eine schwüle, beklemmende Furcht, die das Resultat eurer Geheimniskrämereien ist, dem Kinde das verwehrt: offen und ehrlich mit Vater und Mutter zu sprechen, wenn es ein Unverstandenes bei Menschen und Tieren sieht oder von Wunderlichkeit seines jungen Leibes befallen wird.

Nennt vor dem Kinde – schon von der Zeit an, in der es noch nicht hört, in der es noch auf [165] euren Armen und an eurem Herzen ruht – alle natürlichen Dinge des Lebens bei ihrem rechten Namen! Dann wird dem Kinde, wenn es zu hören beginnt, alles Natürliche schon eine harmlose Gewohnheit sein, und es wird nicht Ursache zu Fragen finden, die euch verlegen machen, und deren Beantwortung euch widerstrebt. Kommen solche Fragen doch, dann sollt ihr, wenn ihr eine unbedenkliche Antwort nicht zu finden wißt, statt einer Lüge lieber sagen: »Ich weiß das nicht!« Es ist mir in Erinnerung geblieben, daß mir in der Kinderzeit einmal das unerklärliche Gebaren zweier Hunde auffiel; und ich fragte die Mutter: »Was macht denn das Hunderl da?« Sie sagte ruhig: »Da mußt du das Hunderl fragen! Wie soll ich denn wissen, was ein Hunderl tut und will!« Man kann um die Klippe einer Kinderfrage immer herumkommen, ohne daß man lügenhaften Unsinn sagen muß. Und wachsen die Kinder heran, und redet ihr gelegentlich von Dingen, die man vor Kindern nicht gerne erörtert, so sprecht, wenn ein Kind zur Türe hereinkommt, ohne Sorge weiter, ohne Verlegenheitspause, die dem Kinde auffällt und seine Neugier weckt. Hütet euch aber auch, in Gegenwart eines Kindes von Dingen sprechen zu wollen, bei denen ihr das Kind aus [166] der Stube schicken müßt, weil euch die Nähe seiner Ohren unbehaglich ist. Seid reinlich in euren Worten, reinlich in eurem eigenen Leben, so wird auch euer Kind bei mählich wachsendem Verständnis seine natürliche Reinheit ungetrübt bewahren. Dann ist keine Aufklärung nötig und ihr könnt alles Weitere dem Kinde selbst überlassen. Es wird hören, hören und wieder hören, wird fragen oder schweigend denken, wird alles Natürliche mit gesunder Harmlosigkeit hinnehmen, wird im Verständnis dieser Dinge Schritt halten mit seiner geistigen und körperlichen Entwicklung, und wird ohne Gefahr erkennen, was es wissen soll, bevor die Regungen seines Geschlechtes beginnen.

Freilich, die Offenheit in natürlichen Dingen genügt für sich allein noch nicht, um die Erziehung eines Kindes auf gute und gesunde Wege zu führen. Dazu ist noch manches andere nötig. Statt dieses Notwendige zu erörtern, will ich ein Wort zitieren, das mir lieb ist. Seit mehr als zwanzig Jahren verbindet mich mit Franz von Defregger eine herzliche Freundschaft, die mir aus Bewunderung für den heiter schaffenden Künstler und aus Verehrung für diesen seltenen Menschen entsprang. Er ist Vater von glücklich gearteten und prächtig geratenen Kindern, die man nur eine Minute zu [167] sehen braucht, um sie liebzugewinnen. Und da fragte meine Frau einmal: »Sagen Sie mir, lieber Herr Professor, wie machen Sie das nur, daß Ihre Kinder so famos erzogen sind?« Mit einem Lachen in den brunnenklaren Augen sagte er in seiner ruhigen Art: »Das ist sehr einfach. Vormachen muß man's ihnen halt!«

Ich glaube, das ist die goldene Regel der Erziehungskunst. Freilich, es gibt auch Ausnahmen. Vater und Mutter haben mir es vorgemacht, was Mensch sein und redlich atmen heißt. Wenn ich zurückdenke an ihr Zusammenleben, steht immer etwas Schönes, Reines und Friedliches vor meinem Blick. Ich habe nur die Kunst des Nachmachens nicht immer verstanden. War wohl auch im Dorf ein bißchen zu viel mir selbst und der Gasse überlassen. Der Vater hatte seinen Beruf der ihn vom Morgen bis zum Abend festhielt, und die Mutter war mehr und mehr durch die Sorge für meine jüngeren Geschwister in Anspruch genommen. So spreitete die Freiheit meiner jungen Jahre die Ellenbogen immer weiter auseinander. Lustig war das freilich: dieses schrankenlose, jubelnde Hintollen durch die Knabenzeit. Aber dabei verwilderte man auch ein bißchen. Und dann kam eine Zeit, in der ich immer müde war. Eines Nachmittags auf dem [168] Theklaberge, wurde mir merkwürdig übel. Grüne, gelbe und rote Kreise tanzten vor meinen Augen. Auf dem Heimwege hatte ich Schmerzen, hatte das Gefühl, als wäre ein wachsendes Feuer in meinen Gedärmen. Ich glaubte, daß ich im Wald etwas Giftiges gegessen hätte. Um der Mutter keine Angst zu machen, wollte ich das daheim verschweigen, wollte mir von der Köchin heiße Milch geben lassen – weil ich wußte: das ist ein Mittel gegen alles Giftige. Doch vor der Haustür fing ich zu taumeln an, fiel irgendwo auf den Boden hin, und alles wurde grau vor mir. In dieser Dämmerung, in der ich nichts mehr erkannte, hörte ich die Mutter wie in weiter Ferne sagen: »Ach Gottele, das Kind hat ja schweres Fieber!« Dann wußte ich nimmer, was mit mir geschah, alles ging mir unter in einer brennenden, wirbelnden, grauenhaften und dennoch wohligen Finsternis.

Viele Tage später, als ich wieder sehen und hören konnte und klappermager in meinem Bette lag, sagte mir eine fremde Frau, daß ich sterbenskrank gewesen wäre. Ich wunderte mich, daß die Mutter nicht bei mir war; die Frau sagte mir, daß Mama eine Reise gemacht hätte und noch lange nicht zurückkäme. Auch Papa guckte nur jeden Tag ein paarmal zur Türe herein und blieb nicht [169] lange; er hatte immer so müde Augen, sagte aber doch ein paar lustige Worte und lächelte mir mit blassem Gesichte zu. An jedem Morgen und Abend kam der Doktor Gerber, der aus seinem langen, rostbraunen Vollbarte neugierig und so ernst herausguckte, daß man nicht den Mut fand, viel mit ihm zu reden. Zu essen bekam ich, was mir nicht schmeckte. Und schrecklich langweilig war das: immer so halb allein im Zimmer sitzen zu müssen. Dann wickelte mich Papa eines Morgens in die Bettdecke; er hatte nasse Augen und war so aufgeregt, daß er kaum sprechen konnte: »Komm, ich trag dich hinunter zum Mutterle! Heut darfst du hinein zu ihr!«

In ihrem Schlafzimmer lag sie weiß und mager in den Kissen. Ihr schönes Haar war so kurz abgeschnitten, als hätte sie sich wie der Lehrermuckt vor den Kirchgasselesbuben in acht zu nehmen. Die Hände konnte sie nicht so heben, wie sie wollte. Aber sie lachte, ein frohes Glänzen war in ihren Augen – und vor dem Bette lag unser zahmes Reh, mit einem roten Bändchen um den braunen Hals herum. Und wenn das Reh eine Bewegung mit dem Köpfchen machte, bimmelte leis die kleine Schelle.

Ich kann euch nicht schildern, was ich immer [170] sah und dachte, wenn in unserem Hause während der folgenden Zeiten diese zwei fremden Silben ausgesprochen wurden: Typhus.

Aus den feuchten Mauern war das graue Ungeheuer herausgestiegen. Und mit der Maler-Rosa, die als Pflegerin zu meiner Mutter gekommen, war es hinausgewandert in die Bachgasse und war da von Haus zu Haus gesprungen. Vierzehn Leute starben im Dorf. Durch viele Wochen ging alle paar Tage unter schönem Glockengeläute solch ein schwarzer Zug an den Fenstern unserer Kinderstube vorüber, in die man auch meine Geschwister wieder heimgeholt hatte.

Jetzt erfüllte sich die Prophezeiung der Mutter: die Regierung mußte »Füeß mache«. Im Oberdorfe – dort, wo gegen Ehgarten hinaus die Kirchgasse begann – wurde auf schönem, freiem Hügel ein großes Kleefeld angekauft. Und dann fing man flink zu bauen an. Im Herbste stand das neue schmucke Forsthaus unter Dach, und im Frühling gab's einen lustigen Umzug.

[171]
4.
IV.

Für uns Kinder war das neue Haus eine Freude, die keinen Schatten hatte. Aber die Eltern bekamen mancherlei Verdrießlichkeiten zu überstehen. Ein prächtiges Haus mit hübscher Veranda und luftiger Altane. Aber die Baubehörde hatte an den Grundmauern gespart und die drei ebenerdigen Zimmer nicht unterwölbt. Als alle Räume blitzblank eingerichtet waren, mußte man in diesen drei Zimmern die Dielen wieder aufreißen, weil der Mauerschwamm gewachsen war. Ein Jahr lang hatten wir immer die Zimmerleute und ›Mörtelbatzler‹ auf dem Halse, und immer roch es abscheulich nach Petroleum. Wir vertrugen das; aber die kleinen, filzigen Blättchen, die wieder und wieder aus der Mauer herauswuchsen, hielten auf die Dauer diesen Gestank nicht aus und verschwanden. Nun kam wieder Ruhe und reine [172] Luft ins Haus. Und da war's traumhaft schön!

Ein Garten, so groß, daß man den Atem verlor, wenn man rings um den Zaun herumlief, ohne anzuhalten! Überall hübsche Baumgruppen und blühende Rosenbäumchen. Die zahmen Rehe in der Wiese. Und rings um die Grasflächen schlängelten sich die feinbesandeten Wege, auf denen das Barfußlaufen eine Wonne war. Über duftendem Blumenhügel ein Sommerhäuschen mit wildem Wein und Jerichorosen, umgeben von Starenkobeln auf schlanken Stangen.

Auf der Höhe des weitumzäumten Hügels, gegen das Dorf hin, stand das große Ökonomiegebäude, mit der Forstgehilfenstube und der Waschküche, mit Kuhstall, Hühnersteige und Taubenschlag, mit der Tenne, dem herrlichen Heuboden und der prachtvollen Holzlege, in der ich sägen, schnitzeln, feilen, hämmern und bosseln konnte. Und hinter der Waschküche lag meine ›Burg‹ und ›Festung‹ – der kellerförmig in den Boden hinuntergebaute Schweinestall, in dem die Mastferkel vom Morgen bis zum Abend die geduldige Lebensregel verkündeten: »Gwohn's, gwohn's, gwohn's!«

Im Garten wieder ein Garten, der kein Haus mehr vor sich hatte und frei gegen die blauen [173] Wälder blickte: die Domäne der Mutter mit den Gemüsebeeten und Blumenrabatten zwischen den sauber gejäteten Kieswegen, mit den Kugelakazien an den Ecken des Zaunes, mit den Rosenspalieren, den Fliederstauden und zierlichen Tujawipfeln, den Goldregenbüschen und den pyramidenförmig oder fächerartig gezogenen Zwergobstbäumchen.

Zwischen diesem Innengarten und dem großen Ökonomiehofe erhob sich das schöne neue Wohnhaus mit der Haustür gegen den Hof und mit der Veranda gegen das bunte Blumenreich. Zu ebener Erde lag vor der Küche und Speisekammer ein verglaster Korridor, den Hunderte von Blumenstöcken zwischen Herbst und Frühling in einen kleinen Wintergarten verwandelten; neben Papas Kanzlei war Mutters blinkende Wohnstube mit den ›lieben Sächelgen‹, die noch aus ihres Vaters und Großvaters Zeiten stammten; und neben der Küche lag die als Speisezimmer dienende Werkeltagsstube mit dem einfach gezimmerten Gerät aus naturfarbenem Eichenholz, mit den Vogelkäfigen, mit den immerblühenden Blumen auf den drei Fenstergesimsen und mit Mutters Spinnrad an jenem Fenster, das die Sonne hatte, sobald sie schien.

Im Obergeschoß war die Schlafstube der [174] Eltern, der ›grüne Salon‹, wieder ein kleiner Wintergarten, dessen Glastür zur Altane führte, dann das Fremdenzimmer, und neben der Magdkammer das ›Kleinkindleszimmerle‹, das so hieß zum Unterschied von meinem ›Buebestüble‹, einer gemütlichen Mansarde unter dem Dachgiebel, mit schmalem Zwillingsfenster, durch das ich fast alle Häuser des Dorfes, den Theklaberg und das lange Tal der Laugna vom Schwarzbrunnenberge bis hinunter zum Mühlgehau überblicken konnte.

Fein heimlich war's da droben! Aber der Weg bis hinunter zur Küche war immer eine Gefahr. Denn das Treppengeländer hatte drei scharfe, heimtückische Wendungen – da mußte man beim Herunterrutschen sehr genau aufpassen, wenn man das Knie nicht einzwicken und die flinke Drehung ohne folgenschweren Purzelbaum herausbringen wollte. Immer gelang's nicht. Aber den Rat der Mutter, über die Treppe herunter zu gehen, konnte ich aus dunklen Ursachen nie befolgen. Ich litt, wie Papa sich auszudrücken pflegte, an der ›Geländeritis‹. Und als ich später den Treppenfahrten entwachsen war, ging's mit den Brücken an; doch in der Stadt äußerte sich die Krankheit nur während der Nachtstunden; kam mir da eine Brücke in den Weg, so mußte ich, statt den Pfad vernünftiger [175] Menschen zu beschreiten, über die Geländerstange hinübergaukeln. Das Leiden blieb mir, bis das älteste meiner Kinder schon ein großes, schlankes Mädchen war; da wurde ich eines Tages von dieser Krankheit durch einen Weinkrampf kuriert, den meine Frau bekam, als ich bei Meran, vor dem Schlosse Tirol, eine tiefe Bergschlucht wieder auf dem Brückengeländer überschreiten mußte. Aber ich wurde damals nicht gründlich geheilt; denn auch heute noch – wenn meine Frau nicht dabei ist – stellt sich manchmal ein Rückfall dieses, für einen mehr als fünfzigjährigen Menschen doch sehr rätselhaften Gehirnleidens ein. Verantwortlich dafür ist der königlich bayerische Baurat zu machen, der in unser neues Haus zu Welden diese ansteckende Treppe hineinbaute.

Alles übrige im Hause war gefahrlos. Nur vom Heuboden konnte man herunterfallen, wenn man in der Tenne beim Fangemanndl die Leiter nicht fest genug erwischte. Und zuweilen brach beim Klettern eine von den grünen Spalierlatten entzwei, mit denen das Haus auf den drei Sonnenseiten bis unters Dach hinauf übergittert war. Der Vater hatte da große Spalierbäume eingesetzt, und gleich im zweiten Jahre gab's Bergamottbirnen, Zitronenäpfel und Aprikosen, die nie die Zeit der Reise erlebten.

[176] Auf allen drei Sonnenseiten des Hauses waren Tische und Bänke zwischen Gesträuch und jungen Baumgruppen angebracht – man konnte sich's zu jeder Tageszeit aussuchen, wie man's haben wollte: Sonne oder Schatten. Und vom Frühjahr bis zum Herbste waren da Blumen in blühender Menge. Auf diese duftende Kunst verstand sich die Mutter. Täglich arbeitete sie im Garten vom ersten Morgengrau, bis die Sonne kam, und vom ersten Abendschatten bis in die Nacht hinein. Krämpfige Hände bekam sie, mit schmerzenden Knötchen an den Sehnen; aber sie hatte ihre frohe Freude an dem blühenden Erfolg dieser vielen Mühe; und die hundert kleinen Knoten an den Sehnen der abgearbeiteten Hände nannte sie lachend ihre ›Perleschnürle‹. Und wenn ich während meiner Studentenjahre mit dem Ränzlein heimgewandert kam in die Ferien, spürte ich schon immer bald nach dem Weiler Ehgarten, auf eine halbe Stunde weit, den Duft der gefüllten Veilchen, der Rosen, Levkoien und Reseden meiner Mutter.

Das ist mir gleich einer hellen, führenden Lebensglocke, wenn ich in meiner Erinnerung höre, wie die Mutter an schönem Sommermorgen über die Treppe heraufgesprungen kommt und zur Türe meiner Mansardenstube hereinruft: »Auf, du [177] Murmeltierle! Auf! Und raus ins Gärtle! Die Sonn ischt da!« Sie lacht; und hat die Türklinke mit dem Ellenbogen aufgemacht, weil ihre lieben Hände ganz schwarz von Erde sind; drei Stunden hat sie da schon im Garten geschafft; und trägt eine blaue Latzschürze über dem hellen Perkalkleid; und ihr Haar – das nach der Krankheit nimmer so schön geworden, wie es einst gewesen – ist eingefangen in ein Netz aus hellbraunen Fäden, das überall, wo die Fäden sich kreuzen, eine kleine dunkelblaue Perle hat. Wie diese Perlen in der Sonne, genau so glänzten ihre frohen Augen.

Die Blumenfreude, der Sonnenglaube und das heitere Lachen der Mutter – das waren im Lebensakkord unseres neuen Forsthauses die leitenden Klänge. Und wer da auch immer kam zu uns, ein jeder lachte dieses Lachen mit. An allen hohen Feiertagen gab's vergnügte Gäste. Das Haus wurde einfach geführt, mit bescheidenen Mitteln; aber es war doch immer alles da. Die Mutter verstand sich aufs Einteilen. Und es war ihr liebster Stolz, den Gästen als ›Eigenbau‹ eine Mahlzeit vorzusetzen, bei der sie aufzählen konnte; »die Eier und die Göckele aus meiner Hennesteig, die Milch von meiner Kuh, das Hasebrätle aus Gustls Jagd, [178] und 's Gemüs und 's Obscht und 's Beerezeug ischt alles aus meim Gärtle!«

An Ostern und Pfingsten kamen aus Augsburg die Verwandten und Freunde der Eltern schwarmweise zu uns nach Welden. Da schliefen oft zwanzig Leute und darüber im Forsthaus, obwohl es nur ein Kanapee und zwei Fremdenbetten hatte. Bevor es in solchen Nächten ruhig wurde, zitterten oft die Fensterscheiben vom Widerhall der lauten Heiterkeiten, die es in den Massenquartieren absetzte. Von den lustigen Streichen, die da getrieben wurden, könnte ich tagelang erzählen. Weil die Mutter auch im heitersten Gewirbel niemals rasten konnte, beim Schwatzen und Lachen immer nadelte oder spann, strickte oder häkelte, drum nahmen sie ihr einmal an einem Pfingstsonntag den Strickstrumpf weg und begruben ihn nach feierlicher Prozession im Garten. Dabei wurden Reden gehalten wie beim Leichenbegängnis eines berühmten Parlamentariers. Und alle Leidtragenden weinten herzzerbrechend. Am Pfingstmontag in der roten Abendsonne wurde Auferstehung gefeiert. Aber da zeigte sich ein sonderbares Wunder. Statt des begrabenen Strickstrumpfes fand man in der Gruft alle abgenagten ›Göckelesknöchele‹ von den Malzeiten der beiden lustigen Festtage. [179] Auf Grund dieses greifbaren Wunders wurde das verewigte Strickzeug der Mutter heilig gesprochen. Und man feierte diese fidelste aller Kanonisationen bei der dampfenden Krambambulischüssel bis spät in die Nacht hinein – bis die zwei Leiterwagen mit den lachenden und singenden Gästen unter dem Sterngefunkel davonfuhren.

Nicht weniger heiter ging es das ganze Jahr hindurch jede zweite Woche an den ›Konsumvereinsabenden‹ zu. Die Honoratioren des Dorfes wollten ihre Geselligkeit haben; im Wirtshaus wurde die Sache zu teuer, und häufige Gastereien vertrugen sich nicht mit den mageren Beamtenbörsen. Die engen Häuslichkeiten des Doktors und Aufschlägers eigneten sich auch nicht für viele Gäste, und im Pfarrhofe mußte aller übermütige Heiterkeitslärm respektshalber vermieden werden. Drum gründete man diesen ›Konsumverein‹, der sich jede zweite Woche abwechselnd beim Benefiziaten und bei uns im neuen Forsthaus versammelte. Der Benefiziat und meine Eltern legten in ihren Kellern ein, was begehrt wurde – es war nicht viel – und das wurde zum Selbstkostenpreise wieder abgegeben. Es ging da bei aller Heiterkeit immer sehr mäßig und bescheiden zu – was aber nicht hinderte, daß man schwelgerische [180] Rundgesänge anstimmte, wie etwa den folgenden:


»Zimmermänndle, Zimmermänndle,

Du versoffes Lueder,

Wann dr nomel en Rausch ansaufst,

So sag i's deiner Mueder!


Zum Zipfel, zum Zapfel, zum Kellerloch nei',

Aelles mueß versoffe sei',

Strümpf und Schueh, Strümpf und Schueh!

Lauf mer em Deifl barfueß zue!


Geld, Geld, Geld,

So schreien die Kanalien

Wenn koine weiß, wie's koiner ischt,

Wenn koine koins mehr hat – schrumm!«


Und dann ging's mit Trommeln und Krugdeckelgeklapper wieder von vorne an, bis die Mutter, unter Tränen lachend, schließlich mahnen mußte: »Jesus, Jesus, ihr wecket mir ja die Kinderle auf!« Aber die hatten den gesunden Kanonenschlaf.

Wie es die Stimmung brachte, sang man auch ernstere Lieder, meist dreistimmige Volkslieder: das Ännchen von Tharau, den Siebenbürgischen Jäger, Hoch vom Dachstein an, den guten Kameraden, das Lied vom hohen Seiling. Oder die Mutter zwitscherte zur Gitarre des Lehrers eins von ihren [181] Lieblingsliedchen aus den kleinen weißen Büchelchen mit den Rosenknospen oder las eine Goethesche Ballade vor; der Vater hielt naturwissenschaftliche Vorträge, der Doktor brachte mikroskopische Präparate, die Forstleute verstanden sich auf fidele Jagdgeschichten, der Benefiziat geigte, sang lateinische Oden und blies die Klarinette mit komischen Gixern – jeder von allen, die da waren, konnte was beitragen zur Unterhaltung der Tafelrunde. Und der musikalische Trumpf war's immer, wenn der Forstgehilf Harlander seine Zither aus der schwarzen Schachtel hervorholte; er wußte die klingenden Liebenswürdigkeiten nach dem Hundert auswendig zu spielen; aber am schönsten klang es immer, wenn er ernst und traurig wurde. Ein prächtiger Mensch! Doch er laborierte an jener bitteren Sache, die man ein ›verkuhwedeltes Leben‹ nennt. Aus guter Familie stammend, hatte er Forstwissenschaft studiert, war aber vor dem letzten Examen abgeschnappt und mußte sich nun mit den mageren Aussichten des niederen Forstdienstes begnügen. Ein tollfrohes Korpsstudentenherz, dessen lachender Sanguinismus intermittierend belastet war mit verspäteter Reue und mit der Sehnsucht nach Dingen, die ihm für immer verloren waren. Überkam ihn solch eine trübselige Stimmung, dann [182] spielte er auf seiner Zither gerne jenes Volkslied: Mutterseelenallein. Ein billiger Schmachtlappen! Aber es begann da in seinen Saiten etwas zu zittern, zu klagen und zu schluchzen, daß alle, die es hörten, tief ergriffen wurden. Verhauchte der letzte Ton, so wischte er die Tränen fort, tat einen tiefen Trunk, spielte flott einen gerissenen Walzer herunter und war wieder der unverdrossen fidele Kerl.

In der vergnügten Tafelrunde des Konsumvereins wollen wir uns noch ein bißchen umschauen. Die Forstgehilfen und Eleven wechselten. Aber der Honoratiorenstamm blieb durch ein halbes Jahrzehnt der gleiche. Der Lehrer Gsell mit dem ›Dudelschächtele‹ auf dem runden Bäuchle und mit dem gefährlichen ›Unnerhösche‹ – den kennt ihr schon. Den dickbärtigen Doktor Gerber, der es über ein ruhiges Lächeln nicht hinausbrachte, habt ihr an meinem Krankenbett gesehen. Dann war da der Malzaufschläger Heutle, ein mittelgroßes wohlgenährtes Männchen mit klugem Schwabengesicht und hurtigen Augen, ernst oder heiter, wie es die Stunde verlangte, ein schneidiger Liberaler, der sich späterhin zu einem hartnäckigen Altkatholiken entwickelte und die dunkle Pfarrhoftragödie ins Rollen brachte. Dann der Förster Rauschmeyer[183] mit dem rotbärtigen Apostelkopf – ein stilles Wässerchen, das gern in fremden Töpfen heiß wurde. Wenn die Nächte schön waren, stellten sich auch die entfernt wohnenden Förster ein. Da kam mit dem friedlichen, eisgrauen Struwwelkopf der alte Stöger aus Streitheim, der seinem heranwachsenden Sohne den Rat gab: »Bub, wenn du heiratest einmal, so nimm dir eine Schöne, denn eine Wüschte frißt grad so viel!« Es kam der brave, gewissenhafte ›Meister‹ Ehrenreich aus Hinterbuch, der beim Tarock immer sagte: »I gib net vierezwanzgmal wie der Pfarrer von Apfeldrach!« – und der rassige Nimrod Regenbogen von Emmersacker. Dem hatte der Dokter aus süßen Gründen das Bier bis auf einen einzigen Trostschoppen verboten; während dieser Abstinenzkur trank der Förster bei einem Scheibenschießen neunundzwanzig Halbe, und als er schon gezahlt hatte und den Heimweg antreten wollte, sagte er zur Kellnerin: »Jesus, Mädele, jetz hätt i bald ebbes vergesse! Gib mir gschwind no das Schöpple her, das mer der Doktor verstattet hat!« Wenn sich im Förster Regenbogen manchmal der Jähzorn rührte, pflegte er fürchterlich zu fluchen. Drum sagte eines Tages der Pfarrer zu ihm: »Aber! Herr Förster! Sie sind doch so ein lieber Mensch! [184] Wenn S' Ihnen nur das schauderhafte Fluchen ein bissele abgwöhne täten!« Die Antwort: »I? Und flueche? Ja Himmelherrgottsbluetsakerment, wer sagt denn, daß i fluech?«

Die Frauen dieser Männer sind in meiner Erinnerung erloschen. Ich weiß nichts von ihnen zu erzählen. Sie kamen nur selten zu den Konsumsvereinsabenden, saßen immer halb im Schatten ihrer Männer, sprachen wenig, und wenn sie kicherten, hielten sie die Hände vor das Gesicht. Nur die gute Pfarrköchin Luis! Die ist mir im Gedächtnis geblieben, wie die Spur eines schwerbefrachteten Wagens lange auf einer Straße bleibt. Doch bevor ich ihr Bild mit weit ausholendem Schwung zu konturieren versuche, will ich von den drei geistlichen Herren erzählen, die man im Konsumverein mit zärtlicher Verehrung ›unsere drui lieben Pfäffle‹ nannte.

Ich erinnere mich eines Wortes, das meine Mutter einmal in lustiger Stunde zum Benefiziaten sagte: »Wie unser Herrgott Ihne nach seim himmlische Ratschluß ins Pfaffegwändle gesteckt hat, ich glaub, da hat er sich hintnach 's Köpfle kratze müsse!« Und der hochwürdige Herr Troll erwiderte lachend: »Da könne Se recht habe! An dem Kratzplätzle ischt ihm koin Härle nimmer gwaxe.

[185] So fescht hat er sich kratze müesse!« Dieser frohe, von Lebenslust überschäumende Mensch hätte in jedes andere Gewand besser gepaßt, als in den schwarzen Talar. Er benützte auch jede zulässige Gelegenheit, um dieses dunkle Tuch abzulegen, trug daheim einen türkischen Schlafrock, bei der Arbeit in seinem heißgeliebten Garten eine graue Joppe – und an jedem Faschingsmontag maskierte er sich als Bauernmädel und tanzte beim Rollewirt mit allen Bauernburschen seelenvergnügt bis in den närrischen Dienstag hinein. Immer lachend, klein, mit zierlichen Händen und Füßen, von quecksilberner Agilität, mit gesunder Frische im Gesichte, machte er auch noch als Dreißigjähriger den Eindruck eines frühreifen Knaben im Alumnengewand. Und war dabei innerlich doch ein fester und ganzer Mann, anständig und reinlich in all seinem Tun, sicher vor jedem Vorwurf, auf geweihtem Boden stets seines Amtes würdig, von allen Leuten im Dorf als Mensch und Priester geliebt und geachtet.

In der äußeren Erscheinung glich ihm unser vergöttertes ›Pfarrherrle von Hegnebach‹. Wenn ich nicht irre, war sein Name Schmied oder Schmidt. Bestimmt weiß ich es nimmer. In der Anrede sagte man immer: Pfarrle. Und sprach [186] man von ihm, so hatte er keinen Namen, sondern hieß: »Die gute Seel« – oder: »Die liebe Stund« – oder: »Der Richtige, wie er sein soll!« Diese paar Worte zeichnen auch sein Wesen. Er kam nicht oft, weil er von seiner Pfarrei bis zu uns eine gute Stunde zu gehen hatte. Doch wenn er kam, war's immer ein Fest – und da war man fröhlicher als sonst – nicht nur deshalb, weil er lustig und heiter schwatzen konnte und mit hübscher Tenorstimme reizende, uralte Liederchen zur Gitarre sang. Er war von den seltenen Menschen einer, von denen, auch wenn sie schweigen, der Frohsinn und alle Zufriedenheit des Lebens ausströmt, wie der Duft von einem blühenden Baum. Und sein Pfarrhaus hättet ihr sehen sollen, unter den Gaisblattspalieren und zwischen den Obstbäumen, deren Stämme zum Schutz gegen Ungeziefer immer mit weißem Kalk bestrichen waren! In diesem Hause, das weiß und sauber, kühl und friedlich war, schien die ganze Woche Sonntag zu sein. Eine ältere Schwester des Pfarrers, die ein steifweißes, wunderlich geformtes Nonnenhäubchen trug, wirtschaftete zwischen diesen weißen Mauern unauffällig und unhörbar. Und aß man in diesem Hause, so wurden kleine weiße Schüsselchen aufgetragen, als sollten hier nicht Menschen essen, [187] sondern Vögel ein bißchen picken. So sparsam war das Pfarrle! Denn es war der Ehrgeiz seines Lebens, sich eine neue große Kirche für seine arme Gemeinde vom Munde abzusparen.

In diesem weißen Pfarrhaus von Hegnenbach erlebte ich, als ich ein Zwanzigjähriger war, eine abenteuerliche Liebestragikomödie, die ich noch erzählen werde. Seit damals – und das sind nun 33 Jahre – hab ich den guten lieben Pfarrer nimmer gesehen, hörte nur vor einiger Zeit, daß er mit weißen Haaren gestorben wäre. Ob er den Ehrgeiz seines Lebens erreichte und die neue große Kirche seiner Sehnsucht unter Dach brachte? Ich weiß es nicht. Aber ich glaube dran, so fest und unerschütterlich, wie der kleine seelengute Pfarrer an alles glaubte, was er in der Schule lehrte und in dem alten, baufälligen, kaum für hundert Leute ausreichenden Kirchlein predigte. Unter den vielen frommen Menschen, die mir das Leben zeigte, war er der frömmste und gläubigste. Er war gebildet, las Rotteck, Humboldt und Goethe. Doch was es im Alten und Neuen Testament zu lesen gab, was im kleinen Katechismus dämmerte und in seinem großen, reinen Priesterherzen glänzte, das war ihm ein Unumstößliches und Unbeirrbares. Da gab's für ihn keinen Zweifel, kein Zugeständnis, [188] kein Deuten am Buchstaben, kein widersprechendes Resultat der Wissenschaft, kein korrigierendes Ergebnis der menschlichen Forschung. Gottes Wort war ihm Gottes ewige Wahrheit, jedes dunkle Wunder, von dem geschrieben steht, war ihm Gottes helle Tat. Mit dieser unbeirrbaren Festigkeit glaubte er auch an jene Sonne, die nicht unterging, und an jenes Wasser, das sich vor der Bundeslade staute zu einem Wall. Und jeden schreienden Widerspruch zwischen Naturgesetz und Wunder, zwischen Vernunft und Offenbarung löste er mit dem ruhigen Worte: »Gott weiß das. Ich nicht.« Ihr hättet ihn einmal sehen sollen, wie er im Sommer an schönem Sonntagmorgen nach dem Hochamt aus dem alten armseligen Kirchlein zu treten pflegte, den feinen schlanken Jünglingskörper vom glattgebügelten Talar umschimmert, in der Hand das Brevier, auf dem aschblonden, nach Knabenart gebürsteten Haar das schwarze Käppchen! Und wie er da die Leute freundlich grüßte! Und froh hinaufblickte zur lieben Sonne, lächelnd hinüberträumte zu dem Wiesenhügel, der in zehn oder zwanzig oder dreißig Jahren die neue Kirche tragen sollte, und zufrieden hinausschaute über die goldwogenden Ährenfelder, ein weihevolles Glücksgefühl in den glänzenden Augen, die zu sagen[189] schienen: »Dieses Schöne gab uns Gott, weil er uns heute wieder gläubig, fromm und dankbar sah!« Er hatte jene seltene Art von Religion, die den Menschen glücklicher, lebensruhiger, froher und zufriedener macht, als ihn die höchste Weisheit und die tiefste Philosophie zu machen vermögen. Solche Religion ist die verläßlichste von allen Lebenskünsten. Man kann sie nur leider nicht erlernen, muß dafür begabt sein und geboren werden wie ein Künstler für seine Kunst, wie ein großer Feldherr für seine Siege. Und genau so selten wie die genialen Staatengründer, wie die großen Künstler und Erfinder, sind in der Geschichte des Menschentums jene unberühmten Helden der kindlichen Andacht, jene restlos frommen und gläubigen Menschen, von denen der kleine Pfarrer Schmidt oder Schmied zu Hegneubach einer war.

Ich hab' ihn hier geschildert, wie ich ihn damals kennen lernte, als ich jene abenteuerliche Liebestragikomödie erlebte, bei der ihm die Sorge um mein Seelenheil und meinen Lebensfrieden schlaflose Nächte verursachte. Von den heiteren Konsumvereinsabenden in meiner Kinderzeit blieb mir nur die festliche Freude im Gedächtnis, die jeder seiner Besuche in unserem Haus erweckte – und ein deutliches Bild seiner äußerlichen Erscheinung: [190] wie er klein, schlank und schwarz zwischen diesen festen Gestalten saß, ein wenig schüchtern, immer ein bißchen verlegen, und dennoch immer fröhlich, heiter spendend und heiter empfangend, voll rührender Hingebung bei seinem Gesang, zärtlich begeistert für alles, was Musik hieß.

Wie ein feingestricheltes Komma neben einem dicken Fragezeichen, so sah das kleine Pfarrle von Hegnenbach neben unserem hochwürdigen Pfarrer Hartmann von Welden aus, der ein großmächtiges, breitschultriges Mannsbild war, dritthalb Zentner wog, einen runden gefunden Kopf hatte und einen offenen schwarzen Rock trug, zu dem man so viel Tuch brauchte wie zu einer Bahrdecke. Er war in der Kirche streng und würdevoll, außerhalb der Friedhofsmauer freundlich und leutselig. Aber wegen der Eiergeschichte bei meiner ersten Beichte hatte ich als kleiner Junge immer ein bißchen Angst vor ihm. Drum sah ich ihn vielleicht nicht richtig, und ich muß, um sein Bild gerecht zu zeichnen, die Erzählungen meiner Mutter und die Verehrung zu Hilfe nehmen, mit der mein Vater in späteren Jahren von ihm sprach. Wie es mit seiner Religion aussah, wage ich nicht genau zu entscheiden; ich glaube, er war weniger eine fromme Seele als ein kluger und verständiger Diplomat [191] seines geistlichen Berufes, ein zu Kompromissen geneigter Pädagog, welcher Politik und Religion immer streng auseinander hielt, von seinen Pfarrkindern nur immer verlangte, was sie mit gutem Willen geben konnten, seinem Amte ohne Kanzelradau gerecht wurde und die Leute außerhalb der Kirche denken ließ, was ihnen lieb war. Und sicher war er ein prächtiger, ehrenfester, gesund veranlagter und natürlich empfindender Mensch, der es mit den Leuten gut meinte, das Schwere nicht zu schwer nahm, bei trockenem Humor mit widrigen Dingen schnell fertig wurde, einen Spaß verstand, mit Liebe an der ihm anvertrauten Gemeinde hing, sich um ihr weltliches Wohl nach Kräften sorgte, und drum von allen ›kirchpflichtigen Seelen‹ des Dorfes verehrt und geschätzt wurde.

In gleicher Verehrung stand bei Bauern und Beamten seine brave, an Menschenfreundlichkeit und Gewicht ihm ebenbürtige Wirtschafterin, das ›Fräule Luis‹. Doch statt des genaueren abzuschätzen, wie viel sie wog, will ich zur Charakteristik ihrer imposant geformten Weiblichkeit ein drolliges Wort zitieren. Eines Sonntags, als die Pfarrluis Besuch bei uns im Forsthaus machte, war ein entfernt wohnender Waldaufseher meines Vaters da, der Mayerfels aus Zusamzell. Der hatte die [192] Pfarrköchin noch nie gesehen. Und da riß er nun groß und rund die Augen auf, sprach kein Wort mehr – und als die Pfarrköchin majestätisch davonrollte, in der weiten Krinoline, die zwischen den Türsäulen einen nach rückwärts aufgebäumten Trichter machte, guckte Mayerfels, sich vorbeugend, dieser ungeheuren Sache erschrocken nach, kratzte sich am Hinterkopf und sagte beklommen: »O du mei heiligs Herrgöttle von Biberach! Wenn einerderen Haxe ausreiße tät ... Herrgott, was müeßt dees für e Loch abgeawe!«

Um diesen grotesken Huttenschwung dezent zu maskieren, trug die Jungfer Luis noch immer die Krinoline, obwohl dieses monströse Kleidungsstück schon langst wieder aus der Mode gekommen war – und bei ihren kleinen, zierlichen Trippelschritten schwankte das umfangreiche Reifgehäuse wie eine Glocke, die in drehender Bewegung nach der Seite läutet. Umfang und Atemnot ließen dieses freundliche, gutmütige Frauenzimmer stets ein wenig komisch erscheinen. Dazu liebte sie sich schön zu machen, sich jugendlich in geblümelte und rosige Farben zu kleiden, trug das braune Haar in einem Netz à la Kaiserin Eugenie und balanzierte schief über der scharlachroten Stirn ein winziges Strohdeckelchen mit neckischer Feder. Aber das Gesicht, [193] trotz Ofenglut und Glanzlichtern, war hübsch und liebenswürdig; und aus den halbmondförmigen Fettpölsterchen guckten zwei ehrliche, wohlwollende Äuglein heraus. Dieses Fräulein Luis war ›sehr gebildet‹, übte die Umgangsformen einer Dame, hatte Takt und Feingefühl, wirkte bei allem beträchtlichen Luftraum, den ihre Leiblichkeit beanspruchte, niemals aufdringlich, mischte sich in sichtbarer Weise niemals in die kirchlichen und weltlichen Angelegenheiten ihres Pfarrherrn, verstand sich trefflich mit allen Frauen im Dorfe, tat keinem Menschen was zu Leide, tat Gutes, wo sie es tun konnte, war um ihrer freundlichen Eigenschaften willen überall gern gesehen und zählte in der ›Gesellschaft‹ als gleichberechtigt mit. Auch einen Scherz, wenn er nicht zu derb wurde, ließ sie sich gerne gefallen. Aber dem Mayerfels wurde sie bös, als man ihr das phantastische Gleichnis vom ausgerissenen Schenkel erzählte.

Mit ihrem stattlichen Pfarrherrn führte die stattliche Jungfer Luis ein so friedliches Zusammenleben, wie Philemon und Baucis zu einer Zeit miteinander gelebt haben mögen, in der dieses berühmte Pärchen noch nicht so alt war, um an abgeklärter Freundschaft sein Genügen zu finden. Der Pfarrer behandelte das ›Fräule‹ sehr nett [194] und übersah geduldig die drolligen Schwächen ihrer verzeihlichen Eitelkeit. Die beiden machten täglich miteinander stundenlange Spaziergänge – der Pfarrer nannte das: ›die Fettmühl treiben‹ – sie erledigten gemeinsam alle Anstandsvisiten bei den Honoratioren, und pünktlich erschienen sie miteinander zu jedem Konsumvereinsabend. Wären die beiden Mann und Frau gewesen, sie hätten nicht wohliger zusammen hausen können. Man munkelte auch mancherlei. Aber der Bauer, wenn er nur sonst mit seinem Pfarrer zufrieden ist, macht aus dem Allzumenschlichen keinen Gegenstand des Konfliktes, die Honoratioren sahen über die Sache weg, als wäre sie nicht vorhanden, in Gesellschaft war das Benehmen der beiden auch völlig einwandfrei, und aus dem Pfarrhof flatterte nie ein verräterisches Fähnchen heraus. Doch eines schönen Septembertages ereignete sich ein deklarierendes Intermezzo.

Da wurde am Nachmittag bei uns im Garten ein Kaffeekränzchen abgehalten. Acht oder zehn Gäste waren da, unter ihnen die Pfarrluis und der hochwürdige Herr. Der erzählte im Verlauf des Geplauders: er hätte am Morgen die unangenehme Wahrnehmung machen müssen, daß in der Nacht der schönste Birnbaum seines [195] Gartens bis auf den letzten ›Butzen‹ geplündert worden wäre.

Fräulein Luis, die von den gestohlenen Birnen noch gar nichts wußte, war gleich Feuer und Flamme vor Zorn über den schlechten Kerl, der die Birnen geholt hatte.

»Und denk einer,« erzählte Pfarrer Hartmann, »der unverschämte Tropf wie er den Metzesack voll Birne auf'm Buckl gehabt hat, ischt zu faul gewese, daß er wieder übers Zäunle steigt! Ganz gemütlich ischt er durch unser Höfle raus und hat mir am Gräbele 's Brückebrettle nuntertrete ... so schwer hat 'r trage, der Kerl!«

»Aber gelle Se, Herr Pfarr!« fährt die Jungfer Luis in Empörung auf und gibt dem Hochwürdigen einen Klaps gegen die Schulter. »Ich hab Ihne doch in der Nacht noch gstöße, wie ich 's Brettle hab krache höre!« Kaum hatte sie das gesagt, da wurde sie kreidebleich vor Schreck. Rings um den Tisch ein schallendes Gelächter. Und die Jungfer, jetzt so rot wie ein gesottener Krebs, rollte unter grillendem Schrei mit einer Geschwindigkeit davon, wie man sie noch nie an ihren drei Zentnern gesehen hatte.

Nun wurde die Stimmung doch ein bißchen unbehaglich. Niemand lachte mehr, alles schwieg.

[196] In dieser Stille sagte der Pfarrer mit Gemütsruhe: »Die Gans, die dumme! Wär's hocke bliebe!« Aber es brannte ihm doch das Gesicht.

Meine Mutter wollte eine Brücke bauen. »Recht habe Se, Herr Pfarr! Deswege hätt 's Fräule Luis net davon renne brauche. Mensche sind mer alle. Darf ich Ihne noch e Täßle einschänke?«

Der Pfarrer nahm Zucker, man sprach sehr eifrig von was anderem, der Zwischenfall war erledigt und hatte keine schlimmeren Folgen, als daß man darüber lachte. Ein paar Tage ließ sich die Jungfer Luis nicht blicken; dann kam sie mit einer sehr geistreichen, aber doch ganz harmlos klingenden Korrektur, die man ohne Widerspruch entgegennahm. Zwei gute Menschen werden doch für vernünftige Augen darum nicht schlechter, weil ein Grabenbrettchen das Gewicht eines Obstdiebes und eines Metzensackes voll Birnen nicht zu tragen vermag. Aber man sprach damals zu Welden, im Gegensatz zur Bibel, gerne von einemBirnbaum der Erkenntnis. Und wenn es über ein Mädel was zu munkeln gab, so gebrauchte man mit Vorliebe das geflügelte Wort: »Mir scheint, die hat 's Brettle krache höre!«

Das alles weiß ich, weil Vater und Mutter [197] in späteren Jahren noch oft und gerne über die Heiterkeiten lachten, die es aus der ›Weldener Zeit‹ zu erzählen gab. Ich habe wohl jenes Intermezzo beim Kaffeekränzchen selber miterlebt. Aber damals verstand ich nicht, warum man lachte, begriff nicht, warum das Fräule Luis so ›huidle‹ davonrannte; ich kapierte nur die Sache mit dem geplünderten Birnbaum und benützte jede Gelegenheit, um ›auf Ehr und Seligkeit‹ zu schwören, daß ich die Birnen im Pfarrersgarten nicht gekrapst hätte.

Um die Zeit, in der die Geschichte vom krachenden Brettle spielte, bekam ich ein kirchliches Amt, das mir mancherlei Freuden bereitete. Ich wurde Ministrant, trug mit Stolz die rote oder schwarze Kutte und das Chorhemd darüber, lernte mit Vergnügen die lateinischen Floskeln, die ich außerhalb der Kirche bei allen unpassenden Gelegenheiten anwandte, und weil mir das Knien eine sehr unbequeme Sache war, freute ich mich besonders darüber, daß mich die Eigenart meines Ministrantendienstes mehr aus der Kirche entfernte, als in der Kirche festhielt. Denn man hatte mich zum Schwinger des Weihrauchfasses ernannt, das beim Hochamt nur immer in Intervallen und für kurze Minuten in Aktion tritt. [198] In den Zwischenpausen bummelte ich draußen vor der Sakristeitür in der lieben Sonne, im pritschelnden Regen oder im Schneegestöber herum – und während sie drinnen in der Kirche beteten, sangen und musizierten, blies ich mir unter freiem Himmel allen Atem aus der Lunge, um die Kohlen des Rauchfasses rot zu erhalten, schlug mit der Glutpfanne feurige Räder und Schlangenlinien durch die Luft, oder machte den Schürhaken glühend und brannte Jahreszahlen, Buchstaben, Kreuze, Herzen, Tiergestalten und rätselhafte Arabesken in die Sakristeitüre.

Aus dem Umstande, daß ich keine Freude am Knien hatte und die Kirche gerne schwänzte, darf aber nicht der Schluß gezogen werden, daß ich ein unfrommer Junge gewesen wäre. Ich war ein sehr frommes Kind und wurde von der Mutter zu vertrauensseliger Gläubigkeit erzogen.

Der Vater sprach zu uns Kindern niemals von religiösen Dingen. Er war eine viel zu gerade und ehrliche Natur, um aus dem, was er selber glaubte, eine kleine erzieherische Lüge für die Kinderstube machen zu können. Was unser kleines Gehirn begriffen hätte, das konnte er uns nicht sagen; und was er uns hätte sagen können, das hätten wir Kinder nicht verstanden. Drum [199] schwieg er lieber und dachte: »Das sind Dinge, mit denen ein jedes Menschenkind für sich selber fertig werden muß.« Erst in späteren Jahren, als ich schon die Universität besuchte, bekam ich einen Einblick in die religiösen Anschauungen meines Vaters. Doch er liebte religiöse Debatten nicht und pflegte zu sagen: »Das sind Dinge, die ins Herz gehören, nicht auf die Zunge.« Nur aus sparsamen Worten, die er darüber sprach, aus kurzen Urteilen und knappen Bemerkungen vermag ich mir das Bild seiner religiösen Anschauungen zu konstruieren. Allen äußerlichen Religionskram schob er von sich weg. Die Bücher des Alten und Neuen Testaments waren ihm ein Gemenge von Geschichte, Sage und Fälschung. In Jesus sah er den ›besten und mildesten aller Menschen‹, den die Torheit des Lebens immer wieder kreuzigt mit jedem neuen Tag. Er liebte die Nathansche Fabel von den falschen Ringen und glaubte, daß die Menschheit den echten Ring noch einmal finden würde. Es war eins von seinen Lieblingsworten: »Religion muß man haben, gleichviel welche, sie muß nur ehrlich sein und muß suchen können!« Aller menschliche Glaube erschien ihm als eine Sehnsuchtsform, die sich auf langsamen Wegen der Erkenntnis fortwährend [200] verwandelt und verfeinert. Das Gebot der Nächstenliebe nannte er den sicheren Stab auf diesem Ewigkeitswege, den verheißungsvollen Goldglanz des echten Ringes. Er glaubte an die Ewigkeit der Materie, an einen ewigen Kreislauf des Lebens, an keinen Himmel, an kein besseres Jenseits, aber doch an ein Wiederfinden all jener, die sich auf Erden liebten, und an eine unsterbliche Seele, die sich der Vollkommenheit entgegenbildet. Einmal fragte ich ihn, wie er sich das vorstelle. Da brach er das Gespräch ab: »So was läßt sich nicht sagen, nur fühlen.« Je wortkarger er in solchen Dingen war, um so eifriger beschäftigte er sich mit ihnen. Er hatte eine reichhaltige theosophische Bibliothek. Die Bücher, die er am liebsten und immer wieder las, waren Döllingers ›Papsttum‹, Strauß und Renan, Frohschammers ›Christentum und Naturwissenschaft‹, ›Die Religion Jesu‹ von Theodor Rohmer, Melchior Meyrs ›Gott und sein Reich‹, und ›Der Papst und das Konzil‹ von Janus. An Döllingers Auftreten knüpfte der Vater große Hoffnungen, erwartete die Loslösung der deutschen Katholiken von Rom, die Gründung eines unabhängigen deutschen Patriarchates und einen allmählichen Ausgleich zwischen Deutschkatholizismus [201] und Protestantentum. Mit leidenschaftlicher Glut beteiligte er sich an den hoffnungsvollen Religionskämpfen der Konzilzeit, und nahm es heiter hin, als ihn der Nachfolger unseres guten Pfarrers Hartmann – jener unselige Herr Andra – mit unflätigen Worten als ›roten Hund und Exkommunizierten‹ aus der Kirche wies. Aber die Enttäuschung, welche die altkatholische Bewegung brachte, hat der Vater bis an sein Lebensende nicht überwunden. Durch dreißig Jahre besuchte er die Kirche nur im schwarzen Rock, wenn einem geliebten Menschen die letzte Ehre zu erweisen war, und in der Beamtenuniform, wenn Gottesdienst für den König und Regenten gehalten wurde. Erst am vorletzten Tage seines Lebens überbrückte er mit Humor den kirchlichen Konflikt.

Er war von den Ärzten aufgegeben, hatte aber noch immer das Aussehen eines kerngesunden, nur ein bißchen unpäßlichen Mannes. Und wir Kinder glaubten, daß der Vater nicht wüßte, wie es um ihn stand – wir hielten, dem Spruch der Ärzte entgegen, auch selbst noch immer an einer zähen Hoffnung fest.

Und damals, am Vormittage, kam ich in Vaters Wohnung. Meine Schwester Berta, verweint und aufgeregt, erwartete mich an der Haustür [202] und brachte das kaum heraus: »Heute früh ist der Franziskanerprior dagewesen!«

Etwas Schmerzendes krampfte sich um mein Leben, das Blut stieg mir zu Kopf, und im ersten sinnlosen Sturm, der mich durchwühlte, rannte ich ins Franziskanerkloster hinüber und ließ mich beim Prior melden.

Ein feines, liebenswürdiges Mönchsgesicht mit freundlichen Augen beschwichtigte meinen Aufruhr, bevor ich noch eine Silbe sprechen konnte. Ich bat: meinen Vater, der über seinen Zustand nicht informiert wäre und wohl auch noch Hoffnung auf Genesung hätte, durch Besuche nicht zu beunruhigen.

»Das hätte ich nie getan,« erwiderte der Prior ruhig, »ich kam nur, weil Ihr Herr Vater mich holen ließ.«

Verstört – einem Unbegreiflichen gegenüber – fand ich kein Wort mehr; und auf der Schwelle hörte ich noch, wie der Prior sagte: »Es war mir eine Freude, Ihren Herrn Vater kennen zu lernen. Das ist ein verehrungswürdiger Mann!«

Als ich mit stockendem Herzschlag zu Papa in die Stube trat, saß er bequem auf dem Sofa und sah mich lachend an: »Mir scheint, du weißt es schon?«

[203] »Ja!« Mir wurde leichter ums Herz. »Aber geh, Vaterle, warum hast du denn das getan? Du bist doch wirklich nicht so krank ...«

»Ich weiß, ja, und ich komm auch ganz gewiß wieder auf. So ein bisserl Influenza! ... Aber es war mir für alle Fälle lieber, daß ich da sauberen Tisch gemacht habe. Bei uns im Lande Bayern wird's langsam duster. Halt wieder so ein Übergangl. Und da hat mich das immer beunruhigt, daß Ihr Kinder nach mei nem möglichen Tod allerlei Unannehmlichkeiten haben könntet! Ich war ja doch eigentlich immer noch so quasi exkommuniziert! ... Na also, jetzt ist alles in der schönsten Ordnung!«

Ich brachte kein Wort heraus.

»Eigentlich war es ja auch ganz nett!« Der Vater lachte und begann in seiner behaglichen Art zu erzählen. »Dieser Prior ist ein ganz famoser und feinfühliger Mensch! Er hat mich ein bisserl an unser liebes Hegnenbacher Pfarrle erinnert. Und da ist mir's natürlich ganz leicht geworden, ihm alle meine fürchterlichen Sünden aufrichtig herzusagen. Ein paarmal hat er gefragt: ›Wie oft, wie oft?‹ ... No, weißt, er hat's halt fragen müssen! ... Ja, mein lieber Herr Prior, hab ich gesagt, das weiß ich [204] nimmer! ... ›No‹, sagt er ›halt so approximativ!‹« Der Vater lachte, daß ihm die Tränen kamen. »Hab ich's ihm halt in Gottesnamen so approximativ gesagt: zehnmal, zwölfmal, zwanzigmal!«

Ich atmete auf. Das Lachen des Vaters war eine Hoffnung! So könnte doch ein Mensch nicht plaudern, wenn er empfände oder wüßte, daß der Tod schon vor der Türe wartet?

Papa wurde plötzlich ernst. Und sagte mit jener Wärme, die immer in seiner Stimme war, wenn er ruhig und nachdenklich sprach: »Vielleicht ist das nicht recht, daß ich lache drüber? ... Denn was wahr ist, muß ich sagen: es hat mich gefreut, zu sehen, wie dieser nette, gute Franziskaner sich freute, weil ich Frieden schloß mit seinem Herrgott!« Der Vater schmunzelte wieder. »Na ja! Mit dem meinigen wär's nicht nötig gewesen! Ich glaub, der hat mir nie was verübelt!«

Und am folgenden Tage ging Papa mit lächelnder Ruhe hinüber zu dem verträglichen Gott, an den er glaubte.

Das war ein schöner Gott! Der machtvolle Schöpfer aller funkelnden und blühenden Wunder im ewigen Getriebe der Natur! Der Atem und die Kraft in allen bewegten Dingen. Der zielbewußte Lenker über allem Wandelsüchtigen [205] des Lebens. Ein harmonisches Gottgesicht – und doch mit Linien, die sich widersprachen. Eine alles umfassende, alles erfüllende Weltseele – und doch ein Gott mit individuellen Zügen, vielgestaltig, dem Menschen nahe, dem Menschen freundlich, gegen alles Leben gerecht und hilfreich. Ein Gott, der ruhelos gegen die Schatten seines eigenen Lichtes, gegen die widerstrebenden Kräfte seiner eigenen Schöpfung rang – Monismus, der sich wundersam vermischte mit pantheistischen Vorstellungen, die das jahrzehntelange Leben in der Natur meinem Vater gegeben hatte, mit buddhistischen und platonischen Ideen, mit Träumen von einer läuternden Wanderung der Seele. Und in seinem Unsterblichkeitsglauben war auch ein Zug von zärtlichem Egoismus – er vermochte sich das nicht zu denken, daß sein Leben eines Tages erlöschen müßte, um für immer von jenen geschieden zu sein, die er auf Erden liebte.

Wesentlich anders war die Religion meiner Mutter geartet, obwohl sie mit den religiösen Anschauungen des Vaters manches gemeinsam hatte. Was ich im ›Hohen Schein‹ den Forstmeister Ehrenreich von seiner Frau erzählen ließ, das hätte mein Vater fast Wort für Wort von der Lebensreligion meiner Mutter sagen können: »Wieviel [206] Gutes hat sie an den Leuten getan! Was nur immer lebte, Mensch, Tier, Blume ... das war ihr alles ein Einziges. Wie sie die Natur erfaßte und fühlte! Eine Knospe, ein Blatt, eine Mücke, ein Sonnenstrahl, ein Regentropfen ... alles für sie ein tiefes, herrliches Geheimnis, ewig verschleiert und dennoch klar! ›Ach, wie schön!‹ Das war ihr Wort am Morgen und ihr Wort am Abend. Und vom ersten Licht bis zum letzten unermüdlich, immer bei der Arbeit in Haus und Garten. Und dennoch hatte sie immer Zeit für eine Freude, für Musik und Lied, für ein wertvolles Buch. Und ihr Gott! ... Religiösen Formelkram, das gab's nicht für sie. Und doch war sie fromm und gläubig, war überzeugt von einem wirkenden Zusammenhang zwischen Gott und Leben. Und wenn sie am Abend im Garten saß, mit den abgearbeiteten Händen im Schoß, und so still hinaufschaute zum Himmel in seiner Glut, dann hab' ich immer gewußt, sie betet. Das ist wie ein eiserner Glaube in ihr gewesen: alles Gute an unserem Leben hat sie von Gott erbetet, und jeden Kummer, der uns nahe kam, hat sie durch ihr Gebet erträglich gemacht.«

Das war die stärkste Farbe in der Religion meiner Mutter: der Glaube an die Kraft eines [207] frommen Gebetes, bei dem man die Hände nicht zu falten, kein lautes Wort zu reden, kein Kreuz zu schlagen und kein Knie zu beugen braucht. Auch der Gott meiner Mutter hatte ein zwiegestaltiges Wesen: vor einem leuchtenden Zauber der Natur, in schöner und träumender Stunde, war er der Unfaßbare nach der Goetheschen Lehre: »Wer darf ihn nennen?« – doch in herzbedrückenden Minuten wurde er eine klare, bestimmte Persönlichkeit, eine verklärte Lebensgestalt mit Augen und Ohren, der allmächtige und liebevolle Vater über den Wolken droben, der alle Schmerzen sieht und geduldig jeden klagenden Schrei der Menschen hört. Von diesem Gotte liebte die Mutter zu sagen: »Mein Herrgöttle ischt ein seelenguts Männdle! Laßt allweil reden mit ihm! Und allweil hilft er!« Und immer redete die Mutter mit ihm, wie mit einem guten, treuen Kameraden. Waren Sorgenzeiten in Haus und Familie, so wurde ihr der ganze Tag zu einem einzigen Gebet; sie betete im Garten bei der Arbeit, in der Küche am Herd, bei der Mahlzeit, unter dem Schnurren des Spinnrades, beim Klang der Zithersaiten – und betete noch in der Nacht, wenn ihr der Halbschlaf schon auf den müden Augen lag. Sie pflegte zu sagen: »Kirch ischt allweil und überall!«[208] Drum hatte sie, um mit ihrem Herrgott in Frieden zu leben, auch keine steinerne Kirche nötig, kein Dogma und keine Formel. Und als der Vater vom Pfarrer Andra als ›liberaler Lump und roter Hund‹ aus der Kirche gewiesen wurde, verließ sie an der Seite ihres Mannes ohne Erregung und Gewissensstreit das ›Beamtenchörle‹, nahm die Sache heiter und sagte: »Komm, Gustl! Mach dir nix draus! Unser Herrgott ischt, wo wir sind.« Und Pfarrer Andra hieß im Sprachgebrauch der Mutter von diesem Tag an ›der biblische Judd‹ – das sollte heißen: einer von denen, die unter dem Kreuze Christi schreien und nicht wissen, was sie tun.

Mit aller Zärtlichkeit ihres Glaubens und mit aller Innigkeit ihres Gebetes vertrug sich ganz gut auch aller Humor ihres Wesens. Über alle Dinge, die äußerlich als heilig gelten, machte sie ihre heiteren Späße, wußte drollige Geschichten aus dem Wüstenleben und den Versuchungszeiten der guten Heiligen und zitierte lustige Knittelverse über den ›Antonius von Padawa‹ und über ›'s Nepomükle auf'm böhmische Brückle‹, parodierte die verballhornten Bauerngebete und erzählte gern die Anekdote von jener weißen Taube, die am Pfingstfeste in einer Kirche als heiliger Geist [209] erscheinen sollte; doch statt der flatternden Taube erschien am Guckloch der Kirchenkuppel das blasse Gesicht des Mesners, der herunterkreischte: »Jesusmaarja, Herr Pfarr, jetzt hat die Katz den heiligen Geist mitsamt die Federe gfresse!«

Wie die Mutter aus ihrem eigenen Glauben keine Formel machte, so verlangte sie auch von keinem anderen, daß er sich an Formeln hielt. Als sie an einem Quatemberfasttage dem ›Fräule Luis‹ einen Besuch im Pfarrhof machte und einen fastenwidrigen Küchenduft bemerkte, sagte sie lachend: »Herr Pfarr, mir scheint, ich schmeck e Brätle?« Die Pfarrluis wollte leugnen, aber Pfarrer Hartmann wußte, wen er vor sich hatte, und erwiderte mit Laune: »Narrle, ich werd ihn doch net stinket werde lasse!«

Das war in der Lebensreligion meiner Mutter die andere starke Farbe: Duldsamkeit in religiösen Dingen und verträgliche Nachsicht, die nie zu einer Grenze kam. So war das von Kindheit auf in ihr, weil sie aus einer Mischehe stammte, in welcher der Vater protestantisch und die Mutter katholisch war, und in welcher die Töchter katholisch und die Söhne protestantisch werden mußten. Aus dieser Kinderstube mit zwei Bekenntnissen trug sie das Wort ins Leben heraus: »Da isch doch kein [210] Unterschied! Soll ein jeds glauben, was es mag! Deswegen bleiben alle Men schen doch Geschwisterleut!« Und wie das in ihrem Leben wuchs, daß sie alles Natürliche heiter nehmen, alles Menschliche begreifen und drum auch alles Menschliche verzeihen konnte, so wußte sie auch ihren Glauben von der Verschwisterung aller Menschen ins Praktische zu übersetzen, in eine rastlose Betätigung ihrer warmen Nächstenliebe. Pfarrer Hartmann sagte einmal zu ihr: »Fraule, Sie sind in der Seelsorg mein Kamerädle, das allweil 's Bessere wirkt. Komm ich mit'm Gotteswort, so kommen Sie mit'm volle Körble! Das zieht!« Wer im Dorfe nur immer Hilfe nötig hatte, konnte zu meiner Mutter laufen – oder meine Mutter rannte zu ihm. Sie tat da häufig mehr, als die bescheidenen Verhältnisse des Beamtenhauses eigentlich erlaubten. Aus unseren Kästen wanderten Kleider, Wäsche und Schuhe davon, noch ehe sie ›alt‹ geworden. Und manchmal brummte Papa ein bißchen, wenn schon wieder eine Hose oder Joppe fehlte, die er gerne noch ein Jahr lang getragen hätte. Doch die Mutter hatte da ein Wort, gegen das der Vater nicht aufkam: »Geh, Gustl, Gott wird's ersetze!« Dann lachte Papa: »Freilich, ja, aber die Rechnung bei Schuster und [211] Schneider hab noch allweil ich bezahlen müssen!« Und ein paarmal in jeder Woche bekamen wir ›Krankenkost‹: eingemachtes Kalbfleisch, Hühnersuppe, Gerstenschleim – weil die Mutter in der Nachbarschaft immer Patienten oder Wöchnerinnen hatte, die nur ›was Leichtes‹ vertrugen. Sie war eine Krankenpflegerin, von der jede barmherzige Schwester hätte lernen können. In jedem Bauernhause, in dem der Doktor sich aus ernsten Gründen täglich sehen lassen mußte, war auch die Mutter täglich zu finden. Und als der alte Armenhäusler Lenhardt – (mein Modell zum ›Lehnl‹ im ›Herrgottschnitzer‹) – an einer schwärenden Fußwunde erkrankte, deren unerträglicher Geruch jede Pflegerin vertrieb, hielt meine Mutter bei dem Kranken aus, bis sie den Genesenden wieder in die Sonne führen und mit Lachen sagen konnte: »Gelt, Lehnle, hawe mer halt mit Bete die Gsundheit doch wieder runtergrisse vom Himmel!«

Der fromme Glaube der Mutter machte auch uns Kinder fromm. Und der schöne Glanz, der immer in ihren Augen war, wenn sie uns die kleinen, heiligen Kinderverse vorsprach, lehrte auch mich mit gläubiger Inbrunst beten.

Die religiösen Bilder, die vor meinen Kinderaugen aus der Dämmerung herauswuchsen, sind [212] mir noch gut in Erinnerung. Mein erster, zärtlicher Glaube galt, wie ja bei allen Kindern, dem schönen Weihnachtsengel, der pünktlich jedes Jahr erschien, wenn am heißersehnten heiligen Abend die Kuhschelle rasselte und das von hundert Lichtern glänzende Zimmer sich auftat. Zuerst sah man nur den brennenden Baum und einen Wirbel von Spielzeugfarben; guckte man aber hinter die Türe, so stand neben dem weißen Ofen der große, schlanke, schimmernde Engel mit dem Palmzweig in der Hand; er hatte schwarze Haare, ein liebes, freundliches Gesicht, etwas Funkelndes um die Stirne herum, ein langes silbernes Kleid und zwei kleine goldene Flügel, von denen ich, wenn er plötzlich verschwunden war, nie recht begriff, wie der große Engel mit diesen kleinen Flügeln fliegen konnte. An einem Weihnachtsabend erkannte ich in diesem Engel unsere Köchin Ottil an ihren ›Fleckelespantoffeln‹. Diese Entdeckung machte mir zuerst ein riesiges Vernügen, aber in der Nacht konnte ich nicht schlafen und mußte weinen. Und von dieser Zeit an wurde ich gegen alles Heilige ein bißchen mißtrauisch und zweifelsüchtig: Ob nicht wieder die Ottil mit ihren Fleckelespantoffeln dahintersteckte? Auch das aus Wachs gebildete Christkinderl sank in meiner Verehrung – [213] was aber nicht hinderte, daß mir in den Wochen vor der Weihnacht allabendlich in der Dämmerung das ›wirkliche‹ Christkind erschien, ein feines, lächelndes Knäblein, schöner als das schönste Erdenkind, in einem weißen, bis zu den nackten Zehen reichenden Hemdchen, einen bläulichen Schimmer um die blonden Locken her. Wenn ich mich im Bett bewegte und mutig hinsah, verschwand es – wenn ich ruhig lag und mit unbeweglichen Augen in das Dunkel der Stube blickte, kam es wieder und blieb so lange, bis ich atmen mußte. Aber so konnte ich in stillen, finsteren Nächten nicht nur das Christkind, sondern auch alle anderen Dinge sehen, die ich liebte und mir ersehnte. Ich brauchte nur fest an das Ersehnte zu denken, den Atem anzuhalten und aufmerksam in die Nacht zu schauen, dann erschien es mir; erst war's wie eine trübe, violette Sonne; sie verwandelte sich in farbige Ringe, die gegen einander liefen; und innerhalb dieser kreisenden Ringe erschien mir, was ich zu sehen wünschte; ein paar Sekunden schwebte es wie ein Wirkliches in der Luft; dann begann es sich zu verändern, wurde von den kreisenden Farbenringen verzehrt und war verschwunden. Nach einer Viertelstunde konnte ich wieder etwas sehen, aber niemals das Gleiche zweimal in der gleichen[214] Nacht. Diese wunderliche Gabe blieb meinen Augen bis ins zwölfte Lebensjahr; dann erlosch sie, und kam wieder als mein achtzehnjähriges Herz von der ersten tieferen Liebesleidenschaft erfaßt wurde; verschwand mit diesem ersten Frühlingsglück – war wieder da, als mir in reifem Mannesalter die geistige Arbeit bei gesundem Leib die Nerven zittern machte und meiner Müdigkeit den Schlummer versagte – und nun ist dieses Farben- und Bilderschauen in der Finsternis seit Jahren ein amüsantes Spiel meiner schlaflosen Nächte.

Das Christkind, das ich vor den Schuljahren immer sah, verwandelte sich mir im wachsenden Knabenalter zum guten Hirten mit dem Lammfell um die nackten Schultern und mit dem weißen Hakenstab, begleitet von Johannes, der ihm glich wie ein Zwillingsbruder. Dann kam eine Zeit, in der ich immer den Knaben Jesus sah, wie er im Tempel die Schriftgelehrten staunen macht; und dieser Knabe wurde mir zum schlanken Jüngling, der träumend in der Wüste ruht oder im blauen Mantel wandert und mit sanfter Hand die reisen Ähren streift; auch den verklärten Heiland sah ich, der dem ungläubigen Thomas erscheint; doch niemals sah ich den Sohn Marias [215] in seiner Qual. Und bildliche oder plastische Darstellungen des Gekreuzigten in seiner Marter waren mir von Kindheit auf eine Sache, die ich nicht liebte und nur mit Widerstreben betrachten konnte.

Eine ganz absonderliche Vorstellung hatte ich als sechsjähriger Junge von Gott Vater. Den sah ich als riesenhaften Greis mit wehendem Mantel, mit schönem weißen Barte, doch ohne Gesicht. Statt des Gesichtes hatte Gott Vater ein goldenes Dreieck mit blauem Auge; die grandiose Gestalt bewegte sich immer, doch das funkelnde Dreieck blieb unbeweglich, und das blaue Kyklopenauge rührte sich nie. Den richtenden Gott im flatternden Mantel hatte ich wohl als Kind auf irgend einem Bilde gesehen – und ich glaube, in der Pfarrkirche zu Welden war über dem Altar das goldene Dreieck mit dem strengen Auge. Religiöses Symbol und künstlerisches Bildnis flossen mir in Eins zusammen. Diese groteske Vorstellung, die mich zuerst beängstigte, bekam allmählich etwas Heiteres für mich. Der von den Wolken getragene Riese sah immer aus, als wäre ihm ein zu großer, goldener Generalshut mit blauer Kokarde bis auf die Schultern gefallen. Wenn dieser Riese sich bewegte, glaubte ich immer: [216] jetzt schiebt er den Hut in die Höhe! Doch er tat es nie. Und da kam es so, daß ich immer schmunzeln mußte, wenn von Gott Vater die Rede war. Kein Bild meiner Schulbücher, keine Religionsstunde, keine Kirchenpredigt, kein frommes Wort meiner Mutter, keine der Zärtlichkeiten, die sie von ihrem lieben Herrgott zu sagen wußte, konnte diese sinnlos erscheinende Vorstellung aus meinem Knabenhirn verscheuchen. Sie verblaßte erst, als ich zu denken begann, und wurde durch kein anderes Bild ersetzt. Ein schwer erklärliches Spiel der Kinderphantasie wurde für mich die wunderliche Vorstufe zur Ahnung eines Gottes, der jeder Verbildlichung widerstrebt – eines Schöpfers, den Menschensinne weder zu schauen, noch zu deuten, noch zu fühlen und zu fassen vermögen.

Jene komisch giganteske Vorstellung Gottes war für meinen Kinderglauben eine zersetzende Kraft. Ich selber merkte das nicht, blieb noch lange ein gläubiger Junge und hatte sogar Neigung zu religiöser Schwärmerei und Verzückung. Obwohl ich als Ministrant Allotria und Dummheiten trieb, die Kirche lieber schwänzte als besuchte, vergnügt jeden ›Unfürm‹ meiner Chorhemdkollegen mitmachte und von den Banalitäten der [217] Sakristei und des Kirchendienstes ernüchtert wurde, überkamen mich doch immer wieder selig süße Minuten, in denen ich vor dem Altar, beim Rauschen der Orgel und im Duft der Weihrauchwolken, allen irdischen Boden verlor und mit träumerisch verzückter Knabenseele gen Himmel flog. Da sah ich die Jakobsleiter mit den auf- und niederschwebenden Engeln, sah in der geöffneten Höhe einen blendenden Glanz, aus dem mir die silberweiße Gestalt des Heilands in Verklärung zulächelte; und immer höher und höher flog meine glückliche Seele den schimmernden Herrlichkeiten zu – bis ein Schmerz mich weckte und wieder aufs kalte Kirchenpflaster herunterzerrte: weil mein Ministrantenkamerad, der ›Weihrauchbüxelesbub‹, mich in den Arm oder in den Schenkel zwickte, um mich zu kirchendienstlichem Verstand zu ermuntern – oder weil mir der Mesner unter einem Faustpuff zuflüsterte: »Du Lausbüeble, du verdrehts, paß auf e bissele!« In solch einer schmerzenden Sekunde kamen mir manchmal vor Zorn die Tränen.

Himmelsträume sind eine Süßigkeit für das Kinderherz. Mir wurden solche Träume doppelt süß, weil sie nur Seligkeitshoffnungen kannten, doch keine Höllenfurcht und keine Teufelsangst. [218] Pfarrer Hartmann, der lustige Benefiziat und das Pfarrle von Hegnenbach pflegten sehr vorsichtig und nur mit christlicher Rückversicherung von der ewigen Verdammnis zu predigen. Drum trug ich aus Kirche und Schule keinen Glaubensschreck heraus, und das schwäbische ›Deifele‹, das in den bäuerlichen Spinnstuben sein Wesen trieb, war ein viel zu lustiger Geselle, als daß man ihn hätte ernst nehmen können. Im Haus meiner Eltern wurde vom ewigen Feind aller Lebensschönheit nur gesprochen, wenn Vater und Mutter zu einer häßlichen Sache ›Pfui Teufel!‹ sagten – und so blieb mir der fabulöse Höllenfürst in meiner Kindheit nur immer der dumme Kerl, der sich vom Schmied von Jüterbock die Klauen stutzen läßt, ein Spielzeug mit rotem Zünglein, eine Theaterfigur, die vom Käschperle geprügelt wird, und eine Fastnachtsmaskerade, die man vergnügt mit Schneeballen oder Straßendreck bewarf.

Der Teufelsunsinn hat mein junges, heiteres Kinderleben so wenig beschwert wie der Gespensterglaube, den auch unsere sonst sehr brave und kluge Köchin Ottil mit ihren hundert Geistergeschichten in mir nicht zu wecken vermochte. Diese gruseligen Mondscheingeschichten, die da zur Dämmerzeit in der Küche getuschelt wurden und der hübschen, [219] dicken Stallmagd die Haare zu Berge trieben, machten mich nicht ängstlich, sondern nur zappelneugierig. Ich glaubte nicht an Gespenster, aber ich hätte doch ums Leben gern einmal einen Geist gesehen! Wenn ich in der Nacht hinauf ›raffelte‹ in mein Mansardenstübchen, spähte ich auf dem finsteren Bodenraum sehnsüchtig in alle Winkel. Aber da blieb alles schwarz, nichts Weißes wollte erscheinen. In warmen Sommernächten hielt ich mich oft so lange wach, bis ich die Mitternachtsglocke schlage hörten – aber wie weit ich auch das Köpfl zum Fenster hinausstreckte, niemals sah ich etwas Leintuch-Ähnliches um den Dachgiebel fliegen oder durch den Garten schleichen. Und wenn mich der Vater, was oft geschah, noch spät in der Nacht um einen Krug Bier zum Bräuhaus schickte, weil die müden Dienstboten ihre Ruhe brauchten – dann machte ich mit Vorliebe den kleinen Umweg durch den Kirchhof, blieb vor der Beinkapelle stehen und guckte aufmerksam die bleichen Knochen und Schädel an, ob sich da drinnen nicht ein bißchen was Geisterhaftes rühren möchte. Es raschelte auch manchmal – aber nur, weil die Mäuse liefen.

Was mich da so stehen und spähen ließ, das war nicht etwa kecker Knabenmut, nur unüberwindliche[220] Neugier, der ich gehorchen mußte. Und wenn ich auch nie einen ›Geischt‹ gesehen habe, so sah ich doch sonst gar mancherlei. Eine von den vielen Beobachtungen, die ich auf dieser ruhelosen Geistersuche machte, verursachte ein Ereignis, das ich nicht verstand. Da wollte Papa eines späten Abends noch etwas mit dem Forstgehilfen bereden, der drüben in der Gehilfenstube des Ökonomiegebäudes wohnte. Der Vater ging, um den Gehilfen zu rufen, kam zornig zurück und schalt: »Das ist doch unerhört! Der Kerl ist aber auch nie daheim!«

Ich hatte den Forstgehilfen lieb und konnte ihn zu meiner Freude auch gleich und gut verteidigen. »Vaterle! Der isch gwies daheim! Der isch nur bei der Kuehmagd drin im Stüble, ja, weischt, die traut sich nimmer alleinig schlafe! So viel Angst tuet's habe vor die Geischter!«

»Wasss?« sagte Papa. Und ging mit seinem langen Schritt aus der Stube.

Die Mutter war sehr ärgerlich und schickte mich ins Bett. Am anderen Morgen übersiedelte der Forstgehilfe mit bleichem Gesicht in ein Bauernhaus, die gute dicke Magd blieb ganz verschwunden, und noch vor Abend bekamen wir eine neue Stalldirn, die mager und häßlich war. Warum? [221] Dieses Unerklärliche verstand ich nicht. Und als ich einige Tage später dem geliebten Forstgehilfen erzählte, wie treu und gut ich ihn verteidigt hätte, gab er mir eine fürchterliche Maulschelle. Das war nun wieder eine Sache, die ich nicht begriff. Und damals, unter Tränen, empfand ich zum erstenmal, wie schwer es ist, die Menschen in ihren dunklen Regungen klar zu erkennen.

Neben den Geistergeschichten betrieb unsere Köchin Ottil noch eine zweite novellistische Spezialität: die Geschichten von vergrabenen Schätzen. Und mitdiesen Geschichten erwischte sie mich beim Wickel und träufelte mir etwas Heißes und ruhelos Bohrendes in das neunjährige Gehirn. Vergrabene Schätze? Warum nicht? Schätze gibt es doch! Und da kann man sie auch vergraben. Und wenn sie vergraben sind, so kann sie einer finden. Ich glaubte! Und hatte nur noch diesen einen Traum bei Tag und bei Nacht: einen heimlichen Schatz zu entdecken, Vater und Mutter reich zu machen und mir eine Kutsche mit zwei weißen Ziegenböcken zu kaufen. In meiner Phantasie genoß ich das schon voraus: wie ich mit dem Muckl, mit dem Alfons und Domini spazieren fahren würde. Abend für Abend guckte ich mir im Garten, oder auf dem [222] Theklaberg, oder auf sumpfigen Wiesen, oder an den Waldrändern die Augen nach dem Irrlicht aus, das mich führen mußte. Weil nirgends ein Irrlicht flackern wollte, wurde ich ungeduldig. Und wollte selber einen Schatz vergraben. Und wollte dem Domini, dem Muckl und Alfons die Freude lassen, diesen Schatz zu finden. So krapste ich eines Tages alles zusammen, was ich daheim an Gold und Silber erwischen konnte: mein Patenbesteck, die silbernen Löffel meiner Mutter, Papas goldene Uhr und goldene Kette – und diesen ganzen Schatz, ein paar hundert Gulden an Wert, vergrub ich im tiefsten Dickicht des Schwarzbrunner Waldes. Weiß nun der Kuckuck, wie's der Zufall brachte: auf dem Heimweg über die Wiesen, als ich mich umguckte, sah ich in der Dämmerung des Waldes ein helles Lichtlein flackern. Vielleicht hatte da ein Holzknecht sein Pfeiflein angezündet. Aber ich hielt es für ein Irrlicht, das über dem vergrabenen Schatz zu tanzen begann. Und nun stimmte die Sache. Vor seliger Aufregung konnte ich in der Nacht kaum schlafen – und träumte davon, daß der eingegrabene Schatz jetzt goldene und silberne Kinder bekäme und sich ins Ungemessene zu vermehren begänne.

[223] Doch bevor ich dem Alfons, dem Muckl und dem Domini noch sagen konnte, wo sie das tanzende Irrlicht suchen sollten, vermißte Mama ihre silbernen Löffel und Papa seine goldene Uhr. Und weil die neue Stallmagd in Verdacht kam, mußte ich erschrocken beichten. Zuerst gab's eine sprachlose Verblüffung, dann ein lustiges Gelächter. Und Papa sagte wieder: »Du Kamel!« Ich mußte mit dem Vater gleich in den Schwarzbrunner Wald hinaus – kroch da stundenlang im Dickicht herum und konnte den vergrabenen Schatz nicht mehr finden. Als ich in unerschüttertem Vertrauen den Vorschlag machte, auf das ganz verläßliche Irrlicht zu warten, zog der Vater in aufwallendem Ärger zu einer Ohrfeige aus. Doch er gab sie mir nicht. Und als es zu dämmern anfing, trat er schweigsam mit mir den Heimweg an. Weit draußen auf den Wiesen sprach er das erste Wort: »Du! Wenn du dich jetzt nochmal umschaust, dann kriegst du aber wirklich eine!« Der Verlust des Gold- und Silberzeuges verdroß ihn viel weniger, als mein hartnäckiger Glaube an das Irrlicht. Daheim, bei den Tränen in den Augen meiner Mutter, wurde mir das Herz schwer. Dann kamen bange Tage. Eine ganze Woche suchte man noch immer nach [224] dem vergrabenen Schatz. Er blieb verschwunden. Und schließlich gab man das Suchen auf. Der Vater verschmerzte seine goldene Uhr viel rascher, als Mama ihre silbernen Löffel.

Die frohen Augen meiner Mutter naß und traurig zu sehen, das war für mich eine schreckliche Sache. Drum stand ich Abend für Abend droben in meinem Dachstübchen am Fenster und spähte nach dem Schwarzbrunner Wald hinaus, ob nicht das Irrlicht wieder käme. Und eines Abends stipitzte ich Papas Fernrohr aus der Kanzlei. Doch ob ich in der Nacht auch stundenlang gegen den Wald hinausguckte – das Glas blieb immer finster. Bei diesen Fernrohrstudien erwischte mich der Vater. »Kerl! Was treibst du denn da?«

Ich brachte nur ein einziges Wort über die Zunge: »'s Irrlichtle ...« Und da hatte ich schon eine Ohrfeige – die letzte von der Hand meines Vaters, der mit einer niederschmetternden Verachtung sagte: »So ein Kamel! Und das will studieren und aufs Gymnasium gehen!«

Papa befand sich hier in einem Irrtum. Ich wollte gar nicht studieren, wollte viel lieber ein Schlosser, oder ein Vergolder, ein Fischer, ein Jäger, oder sonst was Schönes werden. Nur [225] nicht fort von Welden, nicht fort aus dem Walde, nicht hinein in die Stadt! Bei dem Gedanken an dieses Drohende rieselte mir immer etwas Kaltes durch das junge Leben. Und wenn ich die Mutter so still und ernst an meiner Seminar-Ausstattung nähen sah, dann war mir immer das Heulen nahe. Die bitteren Wässerlein fingen auch gleich zu rinnen an, wenn die Mutter sagte: »Ach, Bubele, im Herbst!« – oder: »Jetzt nur noch zwei Monat und sieben Tag!« – oder: »Kindle, das wird hart werden, für uns alle!« – oder: »Kind, in der Fremd, da wirst du erst merken, was Heimat und Vater und Mutter heißt!« Solche Worte taten mir weh; und ich wußte doch nicht, warum! Denn an diese Reise zur Weisheit glaubte ich einfach nicht – erst recht nicht, als ich während meiner Ministrantenzeit zum lustigen Benefiziaten in die ›lateinische Lehre‹ kam. Mir war das ein Gegenbeweis. Wenn man das Lateinische auch in Welden lernen kann, so braucht man doch nimmer in die Stadt zu reisen!

Aber allmählich dämmerte doch die Erkenntnis in mir auf, daß es mit dieser fürchterlichen Sache ernst würde. Da wurde ich zuerst von einer hilflosen Verstörtheit befallen. Dann kam etwas über [226] mich, wie ein irrsinniger Rausch – eine unersättliche Gier, mich in Wald und Feld und Garten noch gründlich auszurasen – just so, als wäre unbewußt der Gedanke in mir gewesen: »Genieße, was du noch hast; wenn es verloren ist, dann kommt es nimmer wieder!«

In diesen letzten Monaten trieb ich es, daß sogar der Alfons und Muckl es müde wurden, mir nachzurennen. Und immer war's wie Hunger in mir: zu raufen und mit den Fäusten dreinzuschlagen! Ruhig reden konnte ich nimmer, nur noch schreien mit schrillender Stimme, so schreien, daß ich an jedem Abend heiser war. Und am frühen Morgen ging's wieder los. Wenn ich zur Unterrichtsstunde kam, die der Benefiziat mir gab, war ich immer ohne Atem, vom Rennen fieberhaft erhitzt, hatte zerrissene Kleider, hatte blutige Striemen im Gesicht und Beulen am Kopf, hatte zerschundene und verstaubte Hände – und mußte mich immer erst waschen und ausruhen, bevor ich halbwegs fassen konnte, wie amo konjugiert wird.

Der sonst so lustige Benefiziat war bei diesem Unterrichte gar nicht lustig. Er gab sich ernstliche Mühe, die großen Zahnlücken meiner Schulbildung zu plombieren und mir das erste Jahr der Lateinschule [227] ein bißchen zu erleichtern. Wenn ihm das nicht gelang, so war's nicht seine Schuld. Nur im deutschen Aufsatz brachte er mich ein wenig vorwärts – und immer hatte er sein schmunzelndes Vergnügen an dem wunderlichen Zeug, das ich da zusammenkritzelte. Einmal gab er mir das Thema: »Warum hat der Mensch eine unsterbliche Seele?« Als er las, was ich geschrieben hatte, lachte er hell hinaus und sagte: »Ludwigle, du bischt e Komiker!«

Ich fragte: »Warum?«

Doch er gab mir keine Antwort, sondern sah mich so merkwürdig forschend an, daß ich glühend rot wurde und mich schämte.

Um mir Geschmack an der Klangschönheit der lateinischen Sprache beizubringen und dadurch meinen Fleiß zu beflügeln, las er mir Oden von Horaz und Ovidische Hexameter vor. Die Worte verstand ich nicht, aber der rhythmische Klang ging mir ins Ohr und haftete. Und obwohl ich nur erst ein paar hundert Vokabeln und die Hilfszeitwörter schlecht im Kopfe hatte, gelang es mir, einen lateinischen Hexameter eigener Fechsung zustande zu bringen. Dafür schenkte mir der Benefiziat das einzige Fleißbillett, das ich von ihm bekommen habe; es war ein rotes Hauchbildchen, [228] das sich auf der warmen Handfläche krümmte; und auf meine Leistung war der gute Benefiziat so stolz, daß er gleich am nächsten Konsumvereinsabend allen Honorationen erzählte: ich hätte einen ganz richtigen Hexameter gemacht, aber in den fünfzehn lateinischen Silben wären siebzehn grammatikalische Fehler gewesen.

Seine Freude über diesen »Vers« und dazu die Heiterkeiten, die ihm meine deutschen Aufsätze bereiteten, das waren für den guten Benefiziaten die einzigen Lichtpunkte neben den vielen tiefen Schatten dieses Unterrichtes. In den Stunden für Katechismus, Geographie und Rechnen brachte ich ihn manchmal um das letzte Restlein seiner liebenswürdigen Geduld. Da konnte er mit der Faust auf den Tisch hauen und schreien, daß die hohen Bücherkästen seiner Studierstube dröhnten. Und weil ich jede Gelegenheit benützte, um durch Tür oder Fenster auszukneifen, drum sperrte er mich immer, bis ich meine Aufgabe fertig hatte, in seiner Stube ein und halte von außen die Fensterläden zu. In dieser wohligen Dämmerung betrachtete ich stundenlang den Stäubchenflug in den Sonnenbändern, die durch die Herzlöcher der Fensterläden hereinfielen; oder ich legte mich auf das Ledersofa, kaute am Bleistift und hatte schöne [229] Träume; manchmal spielte ich ›Benefiziat‹, zog seinen türkischen Schlafrock an und trug seine lange Studentenpfeife spazieren.

In solch einer Dämmerstunde hinter Schloß und Riegel brachte mich die gedankenlose Langweile auf einen Streich, den ich bitter bereute, als ich merken mußte, wie grob er dem guten Benefiziaten zu Herzen ging. Aus irgend einem Grunde – ich glaube, weil mir die Spitze meines Bleistifts abgebrochen war – suchte ich nach einem Messer. Und fand das Rasiermesser des geistlichen Herrn. Also, das war schon prachtvoll, wie man mit diesem Messer den Bleistift spitzen konnte! Und jeder Schnitt in das harte Holz des Schreibtisches war wie ein Schnitt in die linde Butter! Freilich, aus der feinen Messerschneide sprang manchmal ein kleines Splitterchen heraus. Aber das Messer schnitt deswegen immer noch großartig! Und ganz besonders fein ging der Schnitt durch Pergament und Leder! Da konnte ich mit Schneiden und Schneiden gar nicht satt werden! Aus den hohen Bücherkästen, auf deren Brettern die in Schweinsleder und Pergament gebundenen Kirchenväter zu Hunderten standen, nahm ich Band um Band heraus und schnitt in die Buchrücken und in die Kanten der [230] Lederdeckel die schönsten Ornamente und Zacken hinein.

Als ich schon ein paar Reihen der Kirchenväter in solcher Weise geziert hatte, kam der Benefiziat und gewahrte gleich meine künstlerische Leistung. Sie war sehr auffällig! Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen und sagte immer: »Jesus ... Jesus ...« Da begann die Besinnung in mir zu erwachen, und ich fing zu zittern an. Im nächsten Augenblick erwischte mich der unlustige Benefiziat mit beiden Fäusten bei den Kreuzerschneckerln und beutelte mich, daß mir die Zähne klapperten. Als er dieses Richteramtes müde wurde, sah er mich kopfschüttelnd an, zog das am übelsten zerschnittene Buch aus der ornamentierten Reihe, schlug den Deckel auf und sagte kummervoll: »Der heilige Augustin!« Diesen beschaulichen Moment benützte ich, um flink davonzusausen. Erst spät am Abend fand ich den Mut zum Heimweg und dachte dabei mit großer Sorge an die Hundspeitsche. Aber daheim war's friedlich und still. Der Benefiziat hatte mich beim Vater noch nicht verklagt; er tat es auch später nicht; die Eltern merkten aber doch, daß irgend etwas nicht in Ordnung war; sie brachten nur das [231] Eine heraus: daß ich dem Benefiziaten das Rasiermesser beim Bleistiftspitzen kaput gemacht hätte; und Papa ließ für den geistlichen Herrn ein schönes neues Rasierbesteck aus Augsburg kommen.

[232]
5.
V.

In den Wochen, die nun folgten, war ich rasend fleißig, um den verdrossenen Benefiziaten wieder heiter zu stimmen. Ich weiß nicht, ob mir das gelungen wäre. Doch es kam mir da ein Ereignis zu Hilfe, das für dreitausend Menschen in den sieben Dörfern des Holzwinkels ein unbändiges Gelächter brachte und auch den Benefiziaten lustig herausriß aus seiner stillen Trauer um die mißhandelten Kirchenväter.

Diese Geschichte, die heimlich als zärtlicher Liebestraum in zwei jungen Herzen begann, endete unter Mitleidenschaft von hundert Menschen mit der derben Komik einer schwer zu erzählenden Volksgroteske.

Neben jenem geisterscheuchenden Freunde unserer dicken Stallmagd von einst und neben dem zitherkundigen Harlander hatte mein Vater noch einen [233] dritten Forstgehilfen, einen jungen, schmucken Menschen, welcher Xaver hieß und den Spitznamen ›das stille Wässerle‹ bekam. Der ging nach fröhlichem Einstand immer so wunderlich verträumt herum, war selten zu sehen und redete wenig. Das Geheimnis seiner Schwermut wurde schließlich eine landkundige Sache. Er hatte sich über Hals und Ohren in eine reiche Wirtstochter aus einem zwei Stunden von Welden entfernten Dorfe verliebt; aber nicht um ihres Geldes willen. Seine Erkorene hieß Babettle und war ein schlankes, frisches und bildhübsches Mädel mit rosigem Madonnengesicht und herzlieben, nußbraunen Augen; auch ein bißchen eitel war sie und liebte es, sich zierlich nach städtischer Art zu kleiden; besonders gerne trug sie jene gestärkten, mit Spitzen besetzten Batistkrawatten, die man ›Bärblen‹ nannte. Dieses seine Mädel verdrehte nicht nur dem Xaver, sondern noch vielen anderen den Kopf. Auch mir fiel ein heißes Fünklein in das zehnjährige Knabenherz – und bei einem Ausflug, den ich mit den Eltern nach dem ›Wirtshaus zum zuckrigen Mädele‹ unternahm, machte ich den Versuch, diese niedliche Schönheit zu besingen. Meine erste lyrische Dichtung! Aber sie blieb Fragment. Denn ich fand nur diesen einzigen Reim:


[234]

»Babettle, Babettle,

Mit deim nette Krawättle ...«


Der Vers wurde im Holzwinkel populär, und das Babettle hörte ihn so oft zitieren, daß sie die weißgestärkten ›Bärblen‹ nimmer tragen mochte. Jetzt ging sie mit bloßem Halse – und da war sie noch viel hübscher, und der Xaver wurde noch viel schwermütiger, obwohl er beim Babettle alle anderen Bewerber ausstach und freundliche Gegenliebe fand. Das war eine Liebe, bei der um so weniger herausschaute, je tiefer der Xaver dem Babettle in die glänzenden Augen hineinguckte. Die zwei jungen Leutchen hätten einander gerne geheiratet. Aber der neugebackene Forstgehilfe konnte nicht darauf rechnen, daß ihm die Regierung den Konsens zur Heirat erteilen würde; und die Eltern des Mädels, die das Wirtshaus ihrem großgewachsenen Sohn übergeben wollten, wünschten für die Tochter was Besseres zu finden als einen ›hungrigen Forschtner‹. So wurde, was zwischen Xaver und Babettle spielte, ein Glück mit Trauer und Tränen. Man schwatzte viel von der Sache, die Leute nahmen Partei, und Babettle und Xaver wurden als Liebespaar im Holzwinkel so berühmt, wie Romeo und Julia in aller Welt.

[235] Hier aber siegte weder die Liebe noch der Tod. Babettles Eltern setzten ihren Willen durch und verlobten das Mädel, das wohl auch keinen sonderlich tapferen Widerstand geleistet hatte, mit einem wohlsituierten Bauernsohn, der ein frecher Kerl und ein hochmütiger Lümmel war. Jetzt, nach der Entscheidung, nahm alle Welt im Holzwinkel einstimmig Partei für den verstörten Xaver, der mit dem Gedanken umging, sich aus Liebeskummer totzuschießen. Man mußte ihn bei Tag und Nacht bewachen.

Babettles Bräutigam, der seinen Triumph vor allen Leuten feiern wollte, ließ eine ›große Hochzeit‹ rüsten, lud hundert Mahlgäste ein – und um seinen Sieg recht gründlich auszukosten, schickte er den Hochzeitslader zu allen Forstgehilfen, Praktikanten und Eleven – und auch zum Xaver. Diese offensichtliche Verhöhnung eines in Liebe trauernden Herzens hatte böse Folgen. Die jungen Forstleute betrachteten die Sache als einen Schimpf gegen die grüne Farbe, beschlossen, sich zu rächen, und suchten nach einem Mittel, um diese hochmütige Hochzeit in einen brüllenden Spott zu verwandeln. Unter allen Mitteln, die dazu helfen konnten, fanden sie das allerschrecklichste.

Meinem Vater fiel es auf, daß seine Forstgehilfen[236] und Eleven in dieser Zeit die Fuchsjagd mit besonderem Eifer betrieben. Einen Fuchs um den anderen brachten sie heim. Innerhalb zweier Wochen erlegten sie vierunddreißig Füchse. Darüber freute sich mein Vater um seiner Hafen und Rehe willen. Von der Verschwörung, die da mitspielte, hatte er keine Ahnung.

Dann kam der Hochzeitstag. Und weil man eine blutige Prügelei befürchtete, war die Gendarmerie sieben Mann hoch aufgeboten. Doch die vierzehn jungen Forstleute in ihren grauen und grünen Uniformen erschienen manierlich und mit dem Anschein aller Friedfertigkeit zum Feste. Auch Xaver kam, ein bißchen blaß, aber sonst ganz ruhig. Daß ihn die schöne Braut in ihrer Verlegenheit gar nicht bemerken wollte, das erleichterte ihm seine Haltung – und was er kom men sah, schien seinen Liebeskummer schon halb geheilt zu haben.

Nach der Trauung wanderte der festliche Zug hinter den dudelnden Trompeten und Klarinetten, unter Böllärgekrach und Flintenschüssen nach dem geschmückten Wirtshaus und über die steile Treppe hinauf in den Tafelsaal, an dessen reichgedeckten Tischen die hundertzwanzig Gäste so enge sitzen mußten, wie die gepöckelten Heringe zu liegen pflegen. Die bedienenden Mägde mußten sich [237] beim Umtragen der Schüsseln mühsam zwischen den Stuhllehnen hindurchzwängen; war eine für diese Schlangenarbeit zu dick, dann gab's allerlei Scherze und viel Gelächter.

Das erste Gericht war die festübliche schwäbische Spätzlessuppe. Dazu trank man süßen Wein. Und der Bräutigam sprach in seiner triumphierenden Freude dem Glase fleißig zu, prostete die Forstleute und den Xaver an, jauchzte und jodelte und war der stolze Held dieser schmatzenden Stunde seines Glückes. Nach dem zweiten Gange, der, wie gebräuchlich, das ›saure Voressen‹ brachte, hielt der Pfarrer seinen Tafelspruch und ließ das Brautpaar leben. Im Tanzsaal ein Trompetentusch, der die Ohren sausen machte. Und drunten im Wirtsgarten krachten die Böller.

Einer von den Verschworenen soll bei diesem Pulverdonner gesagt haben: »Da herinne weard's an bald krache!« Diesen Scherz begriffen die Mahlgäste nicht; aber die Forstleute verstanden ihn. Sie lachten. Und alle stießen sie freundlich und unter wohlwollenden Segenswünschen mit dem Brautpaar an. Nur der Xaver hielt sich ferne, war blaß und schweigsam.

Nun kam als drittes Gericht, das ›Eahreschüssele‹, das bei keiner schwäbischen Hochzeit [238] jener Zeit zu fehlen pflegte. Auf einer solchen Hochzeit gab es immer zweierlei Gäste: die Tanzleute, die erst nach Schluß der Tafel erschienen und ihr hüpfendes Vergnügen gratis hatten – und die feierlich geladenen Mahlgäste, die ihren Anteil an der Tafel mit schweren Kronentalern bezahlen mußten. Doch jeder Gast konnte da seinen Besitz nach Belieben dokumentieren und seine ›Eahr‹ und Würde nach Gutdünken einschätzen. Auf einer großen Zinnplatte wurde eine schöngeschnitzte Holzschüssel mit süßem Milchreis herumgereicht; dieser Brei war fingerdick mit Zimt bestreut – und die braune Zimtkruste war dicht gespickt mit großen Himbeeren aus rotem Zuckerguß. Für jede Himbeere, die ein Gast herausfischte, mußte er einen Kronentaler auf die Zinnplatte werfen. Dabei protzten die Leute gerne. Was ein großer Bauer war, der fischte seine zehn Himbeeren und einen festen Löffel voll Zimt. Und dieses ›Eahreschüssele‹ wurde nach strenger Etikette herumgereicht. Zuerst nahm der Pfarrer – gewöhnlich nur eine Himbeere, aber viel Zimt und Reis – dann nahmen die Eltern des Brautpaares, dann Bräutigam und Braut, die nächsten Anverwandten, der Bürgermeister, die großen Steuerzahler, die kleinen Bauern, dann die Beamten, [239] die Gendarmen und zuletzt der Lehrer und der Hochzeitslader, der die Kasse revidieren und ein gereimtes Sprüchlein aufsagen mußte. So war's auch auf der Hochzeit des schönen Babettle – und bei dem mancherlei Hin und Her, das die Ehrenschüssel machen mußte, fiel es nicht auf, daß die Forstleute wohl ihren Kronentaler auf die Zinnplatte warfen, aber den spärlich genommenen Zimtreis mit der Himbeere auf ihrem Teller liegen ließen. Auch gab's gerade am Tisch der Hochzeitsleute einen Zwischenfall, der viel Aufsehen erregte und Spott und Gelächter weckte. Denn als die Braut das Löffelchen mit der ersten Himbeere zum Mäulchen heben wollte, stand plötzlich aufgeregt und blaß der Xaver mit seinem Glas an ihrer Seite, um auf ihr Wohl zu trinken. Dabei benahm er sich so wunderlich und täppisch ungeschickt, daß er Babettles Teller mit dem Zimtreis vom Tisch hinunter auf den Boden warf. Lustiges Gejohle und allerlei Stichelreden über den abgedankten Liebhaber. Der wütende Hochzeiter fischte, damit seine Braut beim Ehrengerichte nicht zu kurz käme, flink ein paar Löffel voll Zimtreis und Zuckerbeeren für sein Babettle auf einen frischen Teller heraus und wurde grob gegen Xaver. Auch ein paar von den Forstleuten[240] schienen sich über Xavers Benehmen zu ärgern, warfen ihm heftige Worte zu und verließen ihre Mahlplätze. Und Xaver sah das schmausende Babettle traurig an – und weil er doch den Teller mit dem Zimtreis nicht ein zweitesmal vom Tisch hinunterwerfen, auch seine Kameraden nicht verklatschen konnte, ging er mit schwülem Seufzer stumm davon.

Nun muß ich das schon halb verratene Geheimnis der Verschworenen völlig entschleiern. Beim Lohnkutscher, der alles für die Hochzeit Nötige aus der Stadt zu liefern hatte, war der Zimt in der großen Blechbüchse heimlich gegen was anderes vertauscht worden. Und Fuchsleber, die man in der Sonne dörrt und dann zerpulvert, sieht genau so aus wie Zimt – und ist ein rapid und grauenvoll wirkendes Erleichterungsmittel. Vielleicht hatten die Verschworenen der Fuchsnatur auch noch ein bißchen nachgeholfen.

Denn kaum war das ›Eahreschüssele‹ um den letzten Tisch herumgegangen – kaum hatte der Hochzeitslader die Mahlkasse revidiert und seinen Spruch begonnen:


Ȁlle sein mer guete Zahler!

's feahlt mer bloß e wunzigs Bissele,

Und druihundert Kroanetaler

Liege drin im Hochzetsschüssele –«


[241] da wurde plötzlich der Herr Pfarrer kreidebleich, sprang vom Sessel auf, zog die schwarzen Rockschöße nervös auseinander und steuerte dem Tanzboden zu, so flink, als er zwischen den enggereihten Stühlen nur durchzukommen vermochte. Die Musikanten im Tanzsaal, die just die Reste der Ehrenschüssel verspeisten, fingen fidel zu lachen an, als sie den geistlichen Herrn so angstvoll laufen und im Korridor verschwinden sahen. Inzwischen brach an der Hochzeitstafel die Katastrophe wie der Anfang einer Lawine los. Zuerst bekam der Vater des Bräutigams die weiße Mauerfarbe und mußte springen. Dann fiel das bleichmachende Unglück die beiden Mütter des Brautpaares an. Die anderen lachten und wußten noch immer nicht recht, wie sie daran waren – und brüllten vor Vergnügen, als der Bräutigam, der den langen Umweg durch die engen Sesselreihen nicht mehr wagte, gleich einem Irrsinnigen über den Hoch zeitstisch hinübersprang. Er war leichenblaß, fand so himmelschreiende Flüche, wie sie sonst nur der Förster Regenbogen von Emmersacker zu finden wußte, machte Sprünge wie ein aus der Falle befreiter Löwe und erreichte trotz aller Geschwindigkeit die Türe viel zu spät. Während er mit allen Anzeichen hochgradiger Übligkeit gegen die [242] Mauer taumelte, hörte er draußen im Korridor die Stimme seiner verzweifelten Mutter kreischen: »Jöises! Herr Pfarr! O jöises Maaarja! So tean S' doch 's Tüerle aufriegle!«

Der Bräutigam in seinem Elend schien jetzt den Zusammenhang der Dinge zu erraten. Trotz seiner schlotterigen Verfassung machte er wütend den Versuch, den Xaver oder sonst einen von den jungen Forstleuten beim Kragen zu erwischen – und dann hätte es wohl Blut und Mord gegeben, da auch die Gendarmen bereits in ihrer Amtswürde irritiert erschienen. Doch die vierzehn Verschworenen waren vom Hochzeitsfeste verschwunden.

Und das arme, halbschuldige Babettle! Das sich vom barmherzigen Xaver nicht hatte warnen lassen! Zitternd stand es mit Rosmarin und Myrtenschmuck in einer Fensternische, wagte sich aus irgendwelchen Gründen nicht mehr vom Fleck zu rühren und schrie dem sakramentierenden Bräutigam unter Tränen zu: »Jetz hascht es! Gell, jetz hascht es!«

Die katastrophale Lawine rollte streng nach der Etikette weiter. Nach dem Brautpaar erfaßte sie die großen Steuerzahler; dann kamen die kleineren Bauern an die Reihe, die Gendarmen wurden bleich, zuletzt erblaßten der Lehrer und der Hochzeitslader [243] und zu allerletzt die Musikanten, die das ›Eahreschüssele‹ sauber ausgelöffelt hatten. Auf dem Tanzboden und draußen im dunklen Korridor staute sich die hilfesuchende Menge – der bedrängte Pfarrer hatte noch immer nicht ›aufgeriegelt‹ – ein ohrenbetäubendes Geschrei erhob sich im ungeduldigen Belagerungsheere, alle Gesetze der guten Erziehung begannen sich zu lösen, es gab ein fürchterliches Gedränge und auch sonst noch mancherlei Dinge, die schrecklich waren. Die Weibsleute bekamen Ursache, ihre Kleider wie beim Menuett zu schürzen und auf den Fußspitzen zu gehen – wenn ein Bauer seinen Hut verlor, dann hob er ihn nicht mehr auf – und die steile Treppe, auf der sich die Flüchtenden und Festgewurzelten stießen, verwandelte sich in eine Kaskade der menschlichen Verzweiflung.

Draußen vor dem Wirtshaus standen die Ungeladenen mit schadenfrohem Halloh und endlosem Gelächter und guckten zu, wie Hof und Garten sich in allen Winkeln mit den Flüchtlingen des gestörten Mahles bevölkerten, und wie die Dienstleute des Wirtes immer wieder mit großen Schäffern zum Brunen liefen, um rettendes Wasser zu holen. Doch keine Wasserflut war groß genug, um dieses Unheil fortzuschwemmen. Alles, was Hochzeitsfreude [244] hieß, war zunichte gemacht, den ganzen Nachmittag wurden die blassen Ehrengäste auf dem Laufenden erhalten, und als es Abend wurde, konnten die Musikanten dem Hochzeitspärchen nach ländlicher Sitte nicht zum Heimweg blasen. Denn der Bräutigam mußte flink vorausspringen, und von den Trompetern und Klarinettisten mußte einer nach dem anderen in den Stauden des Wegrandes zurückbleiben. Auch die Nacht bescherte den bewegten Seelen keinen Frieden. In allen Bauerngehöften sah man unter den ruhigen Sternen der Finsternis die trüben Laternen des irdischen Lebens ruhelos hin- und hergaukeln zwischen den Haustüren und jenen kleinen Nebengebäuden, die nach dörflicher Sitte hinter dem Stall zu stehen pflegen.

Durch viele Wochen hatten die dreitausend Menschen in den sieben Dörfern des Holzwinkels was Ausgiebiges zu lachen. Kein Wunder, daß auch der gekränkte Benefiziat seiner ausgezackten Kirchenväter vergaß und wieder lustig wurde. Aber die jungen Forstleute – die den Spitznamen ›die vierzehn Nothelfer‹ bekamen – mußten die Augen fleißig offen halten und hatten gefährliche Zeiten. Der Xaver war von seinem Liebesleid kuriert. Aber das Babettle und ihr Angetrauter [245] konnten sich dieses tausendstimmigen Gelächters nimmer erwehren, verkauften ihr Bauerngut und verzogen sich in eine entfernte Gegend. Hinter den beiden blieb – wie nach dem ›Hornberger Schießen‹ – ein Sprichwort im Holzwinkel zurück. Wenn es irgendwo eine recht üble und unsaubere Wirtschaft gab, dann pflegte man zu sagen: »Da geaht's ja zue wie auf'm nette Krawättle seiner Hochzet!«

In die Zeit dieses großen Lachens fiel für mich zehnjährigen Jungen ein wunderlicher Todesschreck. Eine schwerkranke Schwester meines Vaters, mit der die Ärzte in der Stadt nichts mehr anzufangen wußten, war zu uns aufs Land herausgekommen und wohnte im Oberstock des Benefiziatenhauses. Damals suchte man sterbende Menschen noch mit Schröpfköpfen und Blutegeln im Leben festzuhalten. Bei solch einem unsinnigen Aderlaß wurde die Kranke vom Starrkrampf befallen. So lag sie viele Tage, stumm und starr und weiß, mit geschlossenen Augen und weit offenem Munde. Ich begriff das nicht: wie man so ruhig liegen konnte und leben, ohne was zu essen und zu trinken. Während die Kranke im Starrkrampf unmerklich atmete, wurden ihr immer die Lippen trocken; und da mußte man alle paar [246] Stunden mit einem Ölpinselchen ihren Mund befeuchten. Ich hatte mir's erbeten, der armen Tante am Tage diesen Samariterdienst erweisen zu dürfen. Und als ich wieder einmal pinselte, tat die Tante plötzlich einen merkwürdigen Schluckser, öffnete die weißen Augen und schloß den grauen Mund. Mir fuhr ein jäher Schreck bis ins innerste Blut. Ich rannte aus der Stube, sprang die Treppe hinunter und schrie in meiner wirbelnden Verstörtheit: »Herr Ben'ziat, Herr Ben'ziat, mir scheint, die Tant will ebbes z'esse hawe!« Das war eine falsche Vermutung. Die Tante hatte keinen Hunger mehr. Weil sie tot war.

Da fällt mir nun gleich eine andere gruselige Sache ein. Der Waldaufseher Mayerfels – der Erfinder des Gleichnisses vom ausgerissenen Schenkel – erschien eines Abends in meines Vaters Kanzlei, mauerbleich und an allen Gliedern zitternd: er hätte im Mühlgehau den leibhaftigen Teufel gesehen, am hellen Tage, kohlrabenschwarz, mit glühenden Augen und großen schwarzen Hörnern. Papa sagte: »Mayerfels! Sie Kamel! Oder sind Sie besoffen?« Aber der zitternde Mensch war völlig nüchtern und beschwor die Wahrheit seiner ›dienstlichen Meldung‹ mit allen Eiden. Am andern Morgen klärte sich die Sache [247] auf. Der Teufel, den der Mayerfels gesehen hatte, war ein von der Drehkrankheit befallener Gemsbock, der sich vom fernen Hochgebirge hundertfünfzig Kilometer weit bis in den schwäbischen Holzwinkel heruntergedreht hatte. Wäre er dem Mayerfels nicht erschienen und hätte ihn mein Vater nicht erschossen, so wäre der Gemsbock mit seiner Drehkrankheit vielleicht bis nach Berlin gekommen. Und auf dem Kreuzberg hätten die Berliner eine Gemsjagd halten können.

In das letzte Jahr meiner Schulzeit im Dorfe fallen meine ersten politischen Erinnerungen. Da wurde an den Konsumvereinsabenden viel über Krieg und Frieden debattiert, und mit Begeisterung sang man:

»Schleswig-Holstein, meerumschlungen ...«

Auch erinnere ich mich, daß der Vater die Stunde nie erwarten konnte, in der ihm der Postbote die Augsburger Abendzeitung brachte. Manchmal mußte ich dem Postboten halbwegs bis Zusmarshausen entgegenlaufen, damit der Vater die Zeitung schneller bekam. Und wenn der Vater diese Zeitung las, schlug er zuweilen mit der Faust auf den Tisch und sagte: »Es ist doch unglaublich ...« Im übrigen bekamen wir Schulkinder vom deutsch-dänischen Kriege nur einen[248] alten, auf einem hölzernen Beine wackelnden Invaliden zu sehen, gegen den wir den Verdacht hegten, daß er den Krieg gar nicht mitgemacht hätte. Jedes Kind mußte einen Kreuzer mit in die Schule bringen; dann spielte der Invalide auf einer Drehorgel und zeigte ›illuminierte Bilder‹ vom Kriegsschauplatze. Eines dieser Bilder hielt er gegen die Sonne, und da sahen wir die rotglühenden Bogenlinien der Bomben und das mit gelbem Papier unterlegte Spritzfeuer der platzenden Granaten. Das war ›die Erstürmung der Düppler Schanzen‹. Diese kriegerische Sache war sehr langweilig. Die Kriege, die wir Buben im Dorfe führten, waren viel interessanter und wichtiger.

Einen tiefen Eindruck verursachte mir die Nachricht von der Erkrankung unseres Königs. Man erzählte: König Max wäre vom Notlauf befallen, und nun würden im ganzen Lande Bayern alle Turteltauben gesammelt und nach München in das Krankenzimmer des Königs gebracht, weil die Turteltauben den Notlauf ›anziehen‹ – die Tauben müßten davon sterben, aber der König würde gesund. Ich hatte da mals neben einer zahmen Elster und einem hinkenden Nußhäher auch ein Turteltaubenpärchen. Und da wartete ich Tag für Tag in wachsender Ungeduld, ob die Abgesandten [249] des Königs nicht kommen würden, um meine Tauben zu holen. Doch niemand kam, und ich jaßte den Entschluß, dem kranken König meine Tauben durch die Post zu schicken. Begann auch gleich den Reisekäfig zu zimmern. Aber bevor ich ihn fertigbringen konnte, kam die Nachricht, daß der König gestorben wäre. Ich machte mir bittere Vorwürfe, weil ich die Turteltauben nicht gleich geschickt hatte. Denn meine Tauben hätten den guten König doch sicher gerettet!

Ich erinnere mich noch der schwarzen Fahne, die vom Kirchturm lang herunterhing – und sehe noch, wie Mama dem Vater einen schwarzen Flor über die Goldstickereien der Uniform nähte und um den Griff des Hirschfängers wand – und höre noch, wie die großen Glocken durch viele Stunden geläutet wurden. Auf der Gasse standen die Bauern in Gruppen beisammen, hatten ernste Gesichter und sprachen leis.

Dann eines Tages zeigte die Mutter mir und meinem Brüderchen das Bild eines schönen Jünglings mit dunklen träumerischen Augen – und sagte: »Schauet, Kinderle, das ischt unser neuer König! Ach Gottele, was muß doch der für ein liebes Mannsbild sein!«

Bald besaßen alle Frauen und Mädchen im [250] Dorfe das schöne Bild. Und alle schwärmten sie für den jungen König. Im Album meiner Mutter hatte dieses Bild den ersten Platz. Ich glaubte was Besseres zu sein als die anderen Jungen, weil ich Ludwig hieß wie der neue König. Und in den letzten Tagen vor meiner Reise zur Lateinschule war unter meinen Trostwünschen auch dieser eine: daß ich neben den Bildern von Vater und Mutter ein Bild des schönen jungen Königs in die Fremde mitbekäme. Die Mutter erfüllte mir diesen Wunsch, und das wurde späterhin die Ursache meiner ersten schweren Rauferei im Seminar.

Ungefähr anderthalb Jahre vor meiner Reise war meine Schwester Ida zur Welt gekommen. Nun wußte ich schon, daß ein Kind unter dem Herzen seiner Mutter wächst. Und dennoch fiel mir auch jetzt wieder, wie vor der Geburt meines Bruders, an Mamas verändertem Aussehen nicht das geringste auf. Das Kind war plötzlich da, wie am Morgen ein Ei im Hühnernest liegt. Und von diesem Familienereignis blieb mir nur das eine in Erinnerung, daß Papa immer lachte, daß ich beim Taufgang dabei war, daß ich beim Schmaus einen kleinen Schwips bekam, und daß ich mich riesig über das neue Schwesterlein freute. Es war ein winzes, feines, zartes Dingelchen, dessen[251] Köpflein wie ein kleiner rosiger Apfel im Wickelkissen lag. Und das Kind wog so wenig, daß ich auf meinen zehnjährigen Armen kaum ein Gewicht verspürte, wenn ich mein Schwesterchen stundenlang in der Sonne herumschleppte.

Bevor ich das Elternhaus verlassen mußte, wollte die Mutter ›uns alle noch schön beisammen‹ haben. Man schrieb nach Ottobeuern, daß meine Schwester Berta für ein paar Wochen in die Ferien heimkommen sollte. Aber der Großvater antwortete: »'s Bertele kann ich nicht hergeben. Die brauch' ich notwendig. Die muß meiner Frau die Gall' aufriegeln. Wenn meine Frau nicht allweil ein bissele geärgert wird, so ist sie nicht recht gesund.«

Und dann kamen schwere Tage und schwüle, unruhige Nächte. Der stete Gedanke an den nahen Abschied setzte mir so übel zu, daß ich elend aussah, obwohl mich die Mutter in dieser ›Henkerszeit‹ mit all meinen Lieblingsspeisen fütterte. Papa war gleichmäßig ruhig, und Mama, die sich beherrschen wollte, war lustiger und scherzhafter als sonst. Aber wie es ihr ums Herz war, das merkte ich, wenn sie mich schweigend ansah. Eines Abends, als sie beim Spinnrad saß, umklammerte ich ihren Hals. Sie preßte [252] mich fest an sich und sagte wie mit ersticktem Schrei: »Ach, Kindle, wie wird man dich aus der Fremd wieder heimschicken zu mir!« Und dann mußte ich ihr ›bei Gottes Lieb und Barmherzigkeit‹ versprechen: brav zu bleiben und kein schlechter Mensch zu werden. Ich habe diesen Schwur nur halb gehalten. Denn ich blieb nicht, was man ›brav‹ zu nennen pflegt. Aber ich glaube doch, daß ich kein schlechter Mensch wurde.

Einen ganz neuen Koffer bekam ich, mit meinen Namensbuchstaben auf dem Deckel und mit meiner Seminaristenziffer: Elf! Die Mutter nannte das, wenn sie lachen konnte, meine ›Sträflingszahl‹. Doch während sie diesen Koffer packte und die schöne neue Wäsche, die im halben Dutzend mit blauweißen Litzen zusammengebunden war, so Päcklein um Päcklein mit Sorgfalt hineinlegte, fiel eine glitzernde Perle um die andere in die tiefe Kiste hinunter. Innen am Kofferdeckel befestigte die Mutter einen weißen Karton, auf welchem Papa mit seiner festen Handschrift Stück um Stück die ganze Habe verzeichnet hatte, die ich mitbekam. Und die Mutter sagte: »Schau, Bubele, da hast du jetzt alles schön und sauber in Ordnung! Jetzt tu mir halt auch ein bissele drauf Obacht geben, auf das teure Sach! Und denk halt allweil: da [253] hat dein Mutterle viel Tag und Nächt dran nähe müsse! Gell?« Ich sagte: »Ja!« Aber ach, du lieber Gott! Wie sahen die ›teuren Sachen‹ nach einem Vierteljahr schon aus!

Während der letzten Tage gab mir die Mutter Nähstunden, damit ich mir selber richtig helfen könnte, wenn ein Knopf abgesprungen, ein Knopfloch ausgefranst oder ein Strumpf zerrissen wäre. In den Koffer kam eine Nähschachtel, die alle zur Kur einer leiden den Wäsche nötigen Dinge nett und zierlich enthielt. Was ich in Mutters Nähstunde profitierte, das nützte ich später, um einem Professor die Ärmel seines Winterrockes so drahtfest zu vernähen, daß man die Naht mit dem Messer kaum aufzuschneiden vermochte.

Am Abend nach dem Essen gab's immer eine lange Lehrstunde für mein Verhalten in der Fremde. Was der Vater predigte, läßt sich in zwanzig Worte zusammenfassen: was Tüchtiges lernen, fleißig sein, aufrichtig und ehrlich, sich ordentlich waschen, nie eine Lüge sagen und lieber eins hinter die Ohren kriegen, als sich von einer Strafe losschwindeln durch ein erlogenes Wort! Auch mußte ich immer hören, welch eine kostbare und rare Sache das Geld wäre. Der Vater legte mir ein ›Ausgabenheftle‹ an, mit einem [254] sauber geschriebenen Lehrbeispiel, wie man das bescheidene Taschengeld als Einnahme zu registrieren und dann alle Ausgaben bis auf den Kreuzer zu buchen hätte. Während des ersten Monats in der Fremde machte ich die Sache auch ganz genau so, wie mir's der Vater gewiesen hatte, im zweiten Monat rundete ich ab, und im dritten Monat hatte das ›Ausgabenheftle‹ seine ungestörte Ruhe. In meinem späteren Leben hab' ich noch mehrmals den Versuch gemacht, mich an regelrechte Buchführung zu gewöhnen. Es ist mir nie gelungen.

Unter den guten Lehren meiner Mutter lautete das Grundgebot: »Denk allweil heim! Schreib, so oft du Zeit hast! Und vergiß das Beten nie! Bei Gott ischt Hilf für jeden Kummer. Man muß nur mit dem Herzen reden, net bloß mit dem Mäule plappere! Und sei beim Essen allweil mäßig! Daß du gesund bleibst! Und wird im Seminar der Tisch ein bissele knapp, so denk dir halt: es ischt schon oft ein Säckle zubunden worden und ischt net voll gewesen!« Nach jedem Ratschlag machte mir die Mutter auch immer wieder Mut. Wie schön das wäre, die Welt zu sehen! Und was für ein lustiges Leben das werden würde, hundert fidele Studentlein unter einem einzigen [255] Dach! »Sei nur immer gut und freundlich mit allen!« Diesem Rat der Mutter gab Papa den Nachsatz: »Aber laß dir auch kein Unrecht gefallen!«

Es dauerte eine ganze Woche, bis ich überall Abschied genommen hatte – Abschied von den Honoratioren und Kameraden, Abschied von allen Türen des Dorfes, vom Malerhause und vom Vatikan des Heiligen Vaters, Abschied von all meinen Lieblingsplätzen, von der Muckelsbruck und vom Theklaberge, von den Bachkätzelesstauden an der Laugna und von meinem Wald, in dem die Buchenblätter wie tausend goldfarbene Herzen zu leuchten begannen. Und Abend für Abend stand ich stundenlang an meinem Mansardenfenster und guckte mit umflorten Augen zu den Sternen hinauf – im bangen Herzen den verstörten Gedanken: ob die Sterne in der Fremde wohl auch so goldschön leuchten würden, wie über Haus und Garten meiner Mutter?

Am letzten Tage waren die drei Getreuen – Alfons, Muckl und Domini – meiner Mutter Gäste vom Morgen bis zum Abend. Wir tobten durch Hof und Garten und schrien dazu, daß wir das Echo unserer Stimmen herüberklingen hörten vom Theklaberge und vom hohen Schwarzbrunner Wald. Unsere zwei zahmen Rehe, die [256] gackernde Elster, mein Nußhäher ›Hinkefüeßle‹, die beiden Teckel, der Hühnerhund und wir vier vor Schmerz und Freude trunkenen Jungen – das sprang und flatterte, rannte und kollerte in ruhelosem Wirbel durch die Wiese hin und her. Der Tag war so schön, daß wir trotz der späten Jahreszeit im Garten Mittag halten konnten. Da wurde neben dem lodernden Wachtfeuer ein richtiges Indianerlager aufgeschlagen. Aber die Mutter zog den stolzen Apachen die Kappen über die Köpfe und band ihnen warme Schlipse um die verschwitzten Hälse. Nach dem Schmause, bei dem wir ›Ränzlein wie die Kürbisse‹ bekamen, ging das Tollen wieder los. Zuerst ein ›Jagdzug‹ in den Wald, wobei wir freilich nur Brombeeren zur Strecke brachten und tintenschwarze Mäuler bekamen. Dann wurden, wieder daheim im Garten, noch ein letztesmal alle Herrlichkeiten unserer Knabenjahre durchgerast. Der Drache stieg nicht, weil kein Wind wehte. Aber die Flitschpfeile flogen, die Ballesterbolzen knallten am Scheunentor, die flachen Kieselsteine flogen übers Hausdach – ein Fenster ging in Scherben, und die Mutter lachte dazu – wir rangen nach Athletenart mit nackten Oberkörpern, hielten Wettlauf, zankten um den Sieg, walkten und prügelten [257] uns im Grase, alles in schönster Freundschaft, und zum ›Veschberbrötle‹ schüttelten wir die letzten ›beinah reifen‹ Äpfel und Birnen von den Spalierbäumen. Der Knalleffekt des Tages kam bei Anbruch der Dämmerung. Papa, der sonst seinen Gewehrkasten fest verschlossen hielt, gab uns ›ein ganzes Pfund‹ Pulver und überwachte selber die Anfertigung des ›Speiteufels‹. Das mit Wasser angefeuchtete Pulver wurde im Mörser zu dickem Brei zerrieben, Kohlenstaub und Eisenfeilspäne wurden beigemischt, und in den Fuß des kegelförmig aufgebauten ›Speiteufels‹ wurde ein ›Kanonenschlag‹ eingebettet. Wir konnten vor Ungeduld nicht warten, bis es völlig dunkel wurde. Der Himmel war noch rot, als wir Feuer an den Zunder legten. Mit grillendem Geschrei begrüßten wir das Aufbrennen des zischenden Funkensprudels. Aber plötzlich wurden wir still und guckten schweigend in die aufsprühende Feuergarbe, neben deren Glanz der blaue Abend wie schwarze Nacht erschien. Immer kleiner wurde der schwarze Kegel, von dem die strahlende Funkenfontäne hinaufsprang in die Nacht. Dann riß der explodierende Kanonenschlag die letzten Feuerflocken auseinander – und finster war's – nur auf dem Boden glühten die ausgestreuten Funken noch.

[258] Und droben am Himmel begannen die Sterne zu flimmern.

Die Mutter legte den Arm um meinen Hals. »So, Kinderle! Jetzt isch es gnueg! Jetzt tuet einander Adjeh sage!«

Wir waren nicht traurig und nicht gerührt, nur ein bißchen wortarm. Jeder von den Dreien sagte das Gleiche: »Gell, tue sein bald wieder hoimkomme!« Ich antwortete: »Freili, jaa! Weischt, an Oschtere!«

Der Vater trat durch den ganzen Hof hin die glimmenden Funken aus.

Und als die Drei schon lange davongegangen waren, mußte ich plötzlich hinüberspringen zur Gartenhöhe und mit aller Kraft der zehnjährigen Lunge unseren Bundesruf hinausbrüllen in die kühle Nacht: »Hoihulladuuuuh!«

Drei Stimmen antworteten, eine von der Kirche her, eine von den schwarzen Wiesen herüber, eine vom Bach herauf.

Dann kam's noch wie eine feine, zarte Stimme vom Theklaberg herunter und vom hohen Schwarzbrunner Walde: »Duuu!« Es klang, als hätten auch Wald und Berg mir noch ein zärtliches Wort zum Abschied sagen wollen.

Als ich das Echo aus dem Walde hörte, [259] mußte ich an den verloren gegangenen Schatz denken. – Ob ihn wohl einer noch einmal heben wird? –

Eine stille Mahlzeit in der kleinen lieben Stube, in der die Nelken und Geranien auf den Fenstergesimsen blühten, das Spinnrad in der dunklen Fensternische stand und die Schwarzblättchen und Grasmücken beim Sprunge leis in ihren Käfigen klippten.

Dann kamen der lustige Benefiziat, der Lehrer Gsell, Herr Pfarrer Hartmann und das Fräule Luis. Alle brachten mir was mit – die gute dicke Pfarrersköchin hatte mir ein kleines ›Geldbeutele‹ gehäkelt, in dem ein Kronentaler als Viatikum lag. Es wurde heiter um den Tisch. Mein Ben'ziat hielt eine lateinische Rede, die gewiß sehr lustig war, weil Papa und der Pfarrer immer lachten – ich selber verstand nur die beiden letzten Worte: »Prosit, Ludowitschele!« Nun erzählte der Pfarrer aus seinen ersten Studentenjahren allerlei lustige Schnurren. Doch als der Lehrer mit seinem ›Dudelschächtele‹ wieder einmal das Liedchen vom schwanzlosen Kätzle sang, fielen mir vor Müdigkeit die Augen zu.

Ich weiß nimmer, wie ich ins Bett kam. Und ich hatte schon fest geschlafen, als ich plötzlich [260] wach wurde und in der Finsternis zwei heiße Hände an meinen Wangen fühlte.

»Mutterle?«

»Ja, Kind! Und komm, heut bete mer nochmal miteinander!«

Nach dem Amen küßte sie mich in der Dunkelheit auf beide Augen, deckte mich sorglich zu und ging aus der Stube. Ich weinte, bis ich einschlief.

Vom anderen Morgen ist mir ein wirres Bild geblieben. Ich weiß nur noch, daß wir in der milden Septembersonne auf der Altane frühstückten; daß ich bei meinen zwei Geschwisterchen im Kleinkindleszimmerle war; daß die Köchin Ottil und die magere Stallmagd ein komisches Geschrei erhoben, als die Kutsche kam und der Koffer mit der Ziffer Elf verladen werden mußte; und daß ich, als ich mit Papa schon im Wagen saß, verstört die Mutter suchte, die nimmer zu sehen war. Sie hatte sich den Abschied schwer gemacht, um ihn mir zu erleichtern.

Die Kutsche rollte über die sonnige Straße hinaus. Obwohl mir das Bild des Hauses und des Gartens wie unter Wasser flimmerte, sah ich doch die Mutter auf der Altane stehen. Ich wollte aus dem Wagen springen. Aber der Vater hielt mich fest. Und als ich vernünftig wurde, [261] sprach er ruhig und ernst mit mir während der ganzen dreistündigen Fahrt bis Augsburg. Nun stellte ich auch zum erstenmal die Frage: warum ich denn nicht in Augsburg studieren dürfte? Da wär's doch so nahe bis heim! Ich merkte, daß es dem Vater schwer wurde, mir das zu sagen: es wäre für ihn bei seinem mageren Beamtengehalte kein leichtes Stück, vier Kinder gut erziehen zu lassen; drum käme ich nach Neuburg in das reiche Seminar: dort könnte ich einen Freiplatz bekommen, wenn ich fleißig wäre. Ich klammerte mich an Vaters Arm und fragte nicht weiter.

In Augsburg kaufte der Vater noch mancherlei für mich, und am Abend nahm er mich mit ins Theater. Aber davon weiß ich nichts Rechtes mehr – weiß nur noch, daß wir im Gasthaus zum Weißen Lamm übernachteten. Am Morgen, als ich mich fertig machte, fand ich auf meinem Hut fünf rote Nelken. Die Mutter hatte sie mir hinter den Hut gesteckt – und ich sah sie erst jetzt. Rote Nelken waren die Lieblingsblumen meiner Mutter. Es sind auch die meinigen.

Wir fuhren zum Bahnhof. Der Lärm, die Menschenmenge, dieses Dampfen, Sausen und Pfeifen – das machte mich ganz verdreht. Und [262] ich verstand nicht, was der Vater sagte, als er mich einem großen, langen Studenten übergab, dem Sohn eines Forstmeisters. Papa selber brachte im Coupé mein Ränzlein und meinen Regenschirm unter – nahm mich fest in seine Arme – und dann waren elf Studenten mit mir in dem engen Raum, und der Vater war nimmer da. Der Boden des Wagens fing zu brummen und zu wackeln an. Ich wollte Papa noch einmal sehen, ich schrie, aber die Else drängten sich Kopf über Kopf so dick ums Fenster, daß für mich kein Ausguck blieb.

Ich bekam meinen Platz in der Mitte des Wagens. Vor den Fenstern, bei denen die größten Studenten saßen, liefen die Felder und Wälder spazieren. Nach einer Weile wurde mir so übel, daß es immer ums Magenumdrehen herging. Und immer kugelten mir die Tränen um den Mund. Die anderen machten Witze über mich – aus Ärger und Scham vergaß ich die Üblichkeit, verfiel in einen gereizten Übermut und trieb so tolles Zeug, daß die Elfe immer was zu lachen hatten. Auch grob wurde ich. Einer hatte mir die fünf roten Nelken vom Hütlein heruntergerissen. Dem sprang ich zornig an den Hals, und er mußte mir die Blumen wieder geben.

[263] Während ich die Nelken in meiner Brusttasche verwahrte, gab mir der andere eine ›Kopfnuß‹ und sagte: »Was sich so ein homo novus erfrecht!« Es wäre zu einer Rauferei gekommen; aber der lange Forstmeisterssohn stiftete Frieden und setzte mir auseinander, daß ich als homo novus bescheiden sein und das Vorrecht der älteren Klassen respektieren müßte.

Unter den Jungen im Dorfe war ich immer der erste gewesen. Nun sollte ich plötzlich unter vielen der letzte sein. Diese res nova begann mir sehr zu mißfallen. Und in Donauwörth, wo an die sechzig Studenten mit Geschrei aus den Eisenbahnwagen herauskrabbelten, mußte ich bei der lärmenden Abfütterung, obwohl ich doch sicher den größten Hunger hatte, richtig so lange warten, bis alle die anderen schon in die Knödel bissen. Das Essen schmeckte mir nimmer. Ein Gefühl namenloser Vereinsamung begann mich zu quälen. Ich sah nichts von der Stadt, nichts von diesem neuen Stück Erde – dachte nur immer heim. Und in meinem erschrockenen Herzen schrie unablässig eine Stimme: Mutter, Vater! Mein Welden! Mein Wald!

Eine lange Reihe gelber Omnibusse. Die Postillone mit blauen Fräcken und blinkenden [264] Hörnern. In den ›Marterkästen‹ waren alle guten Plätze schon besetzt. Mich schubbsten sie ganz zu hinterst in einen Winkel. Und als ich klagte, daß mir übel würde und daß ich Luft haben müßte – hieß es: »Der homo novus soll das Maul halte! Und wenn er speit, wird er nausgeschmisse.«

Ich merkte aber bald, daß diese ›höherklassigen Menschen‹ viel gefährlicher redeten, als sie in Wirklichkeit waren. Und mit dem Speien kam es anders.

Bei der Losfahrt bliesen die acht oder zehn Postillone zusammen das gleiche Stücklein. Das war ein schöner lustiger Klang. Und mir wurde gleich wieder ein bißchen wohler ums Herz. Die Sieben, die mit mir zusammen im Omnibus waren, fingen zu singen an. Sie sangen Lieder, die ich nicht kannte. Eins war darunter, bei dem jede Strophe mit den zwei Worten endete: Ergo bibamus! Da wollte ich zeigen, daß ich schon ein bißchen Latein verstünde. Und sagte: »Ergo bibamus, das ischt doch falsch, bibamus ischt Plural, mit dem das Subjekt übereinschtimme mueß, und drum mueß es heiße: Ergines bibamus!« Die Sieben lachten fürchterlich. Und da bekam ich meinen ersten Spitznamen: Ergines!

[265] In dem Städtchen Rain, wo die Postpferde gefüttert wurden, begannen viele Studenten zu rauchen und mit schrecklichem Durst zu trinken. Im Omnibus gab's dann üble Folgen. Immer wieder mußte einer aussteigen oder den Kopf zum Fenster hinausstrecken. In der Gegend zwischen Rain und Neuburg roch es nicht gut. Und als es Abend wurde, war ich in unserem Omnibus der einzige, dem nicht übel geworden.

In der Dunkelheit fahren wir an einer endlos langen Mauer vorüber, über die man viele und große Baumgruppen emporsteigen sah. Das war der Seminargarten. Ein Garten wie ein Wald! Und die Freude schoß mir heiß in die Stirne.

Die Omnibusse holperten über grobes Pflaster, an Laternenpfählen und enggereihten Häusern vorüber. Dann kam ein mächtiger Bau mit großen, schwervergitterten Fenstern. Und ein riesiges Tor. Auf der Schwelle stand ein altes, freundliches Männchen mit einer Laterne: der Seminarpförtner. Gewirr und Geschrei, kräftige Kehlen und bange Stimmchen – und hinter den sechzig Studenten und ihren Koffern fielen die schweren Torflügel zu.

Die Weisheit hatte mich an ihre Brüste genommen. Das war eine kalte Zärtlichkeit – eine Milch, die man nicht gerne sog.

[266] Die Eindrücke des ersten Abends sind wie huschende Bilder in mir. Ein langer Präfekt in schwarzem Rock; große, gewölbte Korridore, auf deren Steinfliesen die Schritte hallten; eine breite Treppe; der weite Studiersaal der Lateinschüler, mit den dreizehn Pulten, jedes zu vier Plätzen; hinter dem Studiersaal der Kastenflur mit den zweiundfünfzig Schränken, unter denen ich die Nummer Elf bekam. Der Koffer mußte gleich geleert, Kasten und Pult gleich eingeräumt werden. Die homines novi guckten einander mißtrauisch und sehnsüchtig an. Die älteren Seminaristen lärmten und führen Tür aus und ein. Hundertundzwölfe unter dem gleichen Dach! Eine Mahlzeit, bei der ich keinen Bissen hinunterbrachte – ich konnte nicht schlucken, nicht reden. Das gemeinsame Nachtgebet, bei dem die Hundertzwölfe, unter denen ich der Jüngste war, im großen Studiersaal der Gymnasiasten Schulter an Schulter und mit geduckten Köpfen auf den Knien lagen. Dann der ›Schlafsaal I‹ im zweiten Stocke; vierzig Betten; zwischen je zwei Betten ein hölzerner Sessel, um die Kleider draufzulegen; in der Mitte des Raumes der ungeheure Waschtisch, vierzig Krüge und zinnerne Becher im Kreise – und der große, mit Kupfer ausgeschlagene Trichter des[267] Waschtisches funkelte unter der Nachtlampe. Ein paar Minuten, und die vierzig Jungen lagen in ihren Nestern, die hölzernen Bettgestelle knarrten, die Matratzen raschelten, Kichern und Geflüster, hier und dort ein leises Weinen – dann die Stille, ein schweres oder leichtes Atmen.

Ich zitterte an allen Gliedern. Und niemals in meinen Kinderjahren hab' ich mit solcher Inbrunst gebetet, wie zu Anbruch dieser Nacht. Während ich, schwitzend, mit Kopf und Haaren unter der Decke lag, wurde in der Finsternis vor meinen Augen alles Verlorene lebendig und hell: mein Wald, mein Welden, unser Haus, mein Stübchen unter dem Dach. Zwischen den fließenden Farbenringen sah ich den Vater, wie er am Morgen von der Pirsche heimzukommen pflegte: schlank, in der grauen Joppe, lang ausschreitend, die linke Schulter vom Gewicht der Büchse ein wenig heruntergezogen, das hagere Gesicht mit dem schmalen Knebelbart ein bißchen erhitzt, über der Stirn die schiefe dunkelblonde Haarsträhne, die Augen halb heiter und halb nachdenklich. – Schwarze Nacht. – Und dann kam in kreisenden Farben das Bild der Mutter: wie sie am Fenster in der Sonne spinnt; Sonne liegt auf ihrem Schoß und auf ihren ruhelosen Händen; die verwaschene [268] blaue Latzschürze ist wie eine Glocke um ihre Füße her, und feine, schimmrige Flachsfäden hängen an ihrem Gewand; ihr Fuß geht mit dem Tritt des Rades pochend auf und nieder, und das gescheitelte Blondhaar hüllt sich mit zwei dunkelgoldenen Schalen um das liebe gute Gesicht, in dem die blauen Augen träumen. – Von wem? –

Eine rasselnde Glocke. Und der Morgen ist da. Vierzig junge Kerlchen raufen sich in Hemd und Unterhosen um die Plätze am Waschtisch. Gelächter und Wassergepritschel. Nach dem Morgengebet das gemeinsame Frühstück – eine schreckliche Brennsuppe, die an Sparta erinnerte. Und dann eine Freude, die mich schreien machte: ein Brief von der Mutter! Den hatte sie geschrieben, während ich noch daheim war. Und nun wurde mir alles leichter.

Vormittags verlas man die Seminargesetze. Dann mußten wir alles Geld abliefern – ehrlich gab ich meinen Kronentaler und die elf Gulden her; und drum mußte ich in den Wintermonaten immer ein bißchen entbehren, während die anderen von ihrem verschwiegenen Gelde heimlich knapperten.

Die Pulte wurden revidiert. Innen am Pultdeckel[269] hatte ich mit Reißnägeln den Stundenplan befestigt, darüber das Bild des schönen Königs, links und rechts die Bilder von Vater und Mutter. Das waren zwei schlechte, graue, trüb verschwommene Photographien, wie bei Regenwetter gemacht. Ich weiß das, weil ich die Bilder heute noch besitze. Aber damals vor dreiundvierzig Jahren, wenn ich sie betrachtete in meiner Sehnsucht, hatten sie helles Leben für mich, Farbe, Sonne und Liebe.

An diesem Pulte, das die Nummer Elf hatte, schrieb ich meinen ersten Brief. Dann kam die Mittagsstunde mit dem Geklapper von zweihundert Zinntellern. Beim Geläut der Glocke ein Wettlauf nach dem Speisesaal zu ebener Erde. Das war ein mächtiger weißer Raum, durch zwei Säulen in eine größere und kleinere Hälfte geteilt. Zwischen Tür und Ofen stand der runde Tisch, an dem der Rektor und die drei Präfekten speisten, die ihre eigene Herrenkost bekamen. Hinter dem Ofen war ein großes Schubfenster, durch das man die Küche sah, den langen Herd mit den dampfenden Kupferkesseln, eine ältere Frau, ein schönes junges Mädchen, die Mägde und Küchenjungen. Da draußen ging's immer hin und her. Und durch dieses Fenster bekam der alte Tafeldecker [270] Christoph – oder hieß er Anton? – die rauchenden Schüsseln hereingereicht in den Saal. Sechs lange Tische und zwei runde. Zwölf bis sechzehn Jungen an jedem Tische. Ein Oberkläßler teilte vor, die zwei homines novi, die an den beiden Enden der Tafel saßen, mußten die Teller tragen. Gleich bei der ersten Mahlzeit merkte ich die Nachteile der ›Klassenwirtschaft‹ im Leben. Die Älteren suchten sich die besten Bissen aus, die Jungen mußten nehmen, was übrig blieb. Das war oft wenig. Mit Speisen, die der eine liebte und der andere verschmähte, wurde ein schwunghafter Tauschhandel betrieben. Hoch im Preise stand das ›gelbe Voressen‹ – eine merkwürdige Eierspeise – und alles, was Knödel oder Nudel hieß. Sehr billig waren die Kartoffeln zu haben, die so häufig erschienen, daß man sie schließlich zu hassen begann. (Ein Jahr nach meinem Abgang von der Lateinschule kam es zu einer tumultuarischen ›Kartoffelrevolution‹; während des Abendgebetes im Gymnasiastensaale wurden die vorbetenden Präfekten plötzlich mit Hunderten von gesottenen Kartoffeln bombardiert; aber ohne Salz und Butter.)

Von den Tischen – wir hatten freien Nachmittag – gab's wieder einen Wettlauf in den [271] Garten. Hier kam für mich eine bittere Enttäuschung. Der Gartenteil mit den schönen Bäumen war Separatgebiet der Gymnasiasten. Wagte sich ein Lateinschüler in diesen ›heiligen Hain‹, so bekam er abschreckende Prügel – ich, in meiner Waldsehnsucht, bekam sie gleich am ersten Nachmittag, ein Umstand, der mir das Eingewöhnen ein bißchen erschwerte.

Den Lateinschülern gehörte der große baumlose Hof mit dem Turnplatz, dem Holzschuppen und der Kegelbahn hinter dem Backhaus. Auch hier wieder eine scharfe Differenzierung des menschlichen Ranges. Die von der vierten Klasse hatten die Kegelbahn in Besitz; die von der zweiten und dritten Klasse okkupierten die große freie Mitte mit dem Springbock, der Speersäule und dem Klettergerüst. Uns hominibus novissimis verblieb die Ecke mit dem Schwebebaum und der Graswinkel beim Holzschuppen. Und da machte ich gleich eine schöne Erfindung. Dieser Holzschuppen war achtzig Schritte lang, hatte keine Wände, nur ein rotes Ziegeldach, unter dem die schweren Holzscheite zum Trocknen aufgebeugt waren bis unter den Giebel. Droben am First war eine kleine Lücke. Ich kletterte hinauf, schob mich durch die enge Röhre, als wär's ein Fuchsbau meines [272] Weldener Waldes – und als ich mich so zwanzig Schritte vorwärts gewuzelt hatte, begann ich Scheit um Scheit herauszuziehen und seitwärts zu verstauen. Ich arbeitete, daß mir der Schweiß herunterlief. Das ließ mich die Prügel halb vergessen, die ich eine Viertelstunde früher bekommen hatte. Nach einer Stunde war mitten in der dicken Scheiterbeuge ein gemütliches Dämmerkämmerchen ausgehöhlt. Nun wählte ich die Kameraden, die meine ›Waldhütte‹ mit mir teilen sollten. Wer im Walde aufgewachsen, riecht den Wald. Unter den Fünfen, die ich auswählte, waren vier Försterssöhne. Später wurde die Waldhütte zu einer ›Burg‹ ausgebaut, und wir nahmen noch vier Bundesgenossen auf. Kein anderer durfte herein. Die Burg war leicht zu verteidigen. Denn durch die Fuchsröhre konnte immer nur ein einziger kriechen. Wollte ein ›Fremdling‹ eindringen, dann bekam er, sobald sein Haardach erschien, so viele Kopfnüsse, daß er flink wieder retirierte. In dieser Burg wurde nur von der Heimat, vom Wald und von der Jagd geredet. Alljährlich – wie das Holz verbraucht und neues Holz wieder zugeführt wurde – mußten wir die Burg umbauen oder ganz verlegen. Aber diese Stätte ungestörter Zuflucht hielten wir vier Jahre eisern [273] fest – bis das Geheimnis unter fürchterlichem Skandal zutage kam.

Die Freude an dieser Erfindung versüßte mir den ersten Nachmittag. Nun waren wir auch schon unser Sechse, die treu zusammenhielten. Am Abend vor dem Einschlafen, riefen wir uns von Bett zu Bett unsere geheimnisvollen Bundesgrüße zu.

Am anderen Morgen, nach der Messe in der Seminarkirche, begann die Schule, vormittags von acht bis zehn Uhr, nachmittags von zwei bis vier Uhr; dazu im Tage noch drei Stunden ›Studierzeit‹ an den Pulten, unter Aufsicht eines Präfekten. Am Mittwoch und Samstag nach der Mahlzeit wurden die Hundertzwölfe gemeinsam spazierengeführt, in die Stadt hinaus, zur Donau hinunter und über die Felder. Das nannte man den ›Heerwurm‹. Am Sonntage das Hochamt, zwei Stunden Studierzeit und der Gottesdienst am Nachmittag. Und in der Woche drei Musikstunden; das Seminar hatte eine prachtvolle Kirchenmusik und ein gutes Hausorchester von vierzig ›Mann‹. Für jeden Seminaristen war ein Instrument obligat. Und als man mich fragte, was ich lernen möchte, fiel mir Mutters Liedchen vom zärtlichen Damon ein, der die Flöte blies. Verzeiht [274] mir also mein unglückseliges Flötenspiel! Der Schuldige ist Goethe.

Nach dem Abendessen war täglich ein halbes Stündchen für musikalische Übungen reserviert. Und nun denkt euch das: ein Saal, und an die fünfzig Jungen; und Geigen, Bratschen, Flöten, Celli, Klarinetten, Waldhörner, C-Trompeten – und jeder Junge geigt und bläst und tutet was anderes! Manchmal war's, um aus der Haut zu fahren. Und der Präfekt steckte sich immer dicke Wattepfropfen in die Ohren.

Dem Geräusche, das da entstand, ist kaum der Lärm zu vergleichen, der vor Beginn der Schulstunde im Klassenzimmer herrschte. Der Weg in die Schule war nicht weit. Das Seminar mit Kirche und Gymnasium – das Ganze ein ehemaliges Jesuitenkloster – bestand aus einem mächtigen Vierecksbau, der einen kühlen, stillen Hof umschloß. So brauchte man, um in die Schule zu kommen, nur durch den Kastenflur zu gehen.

In der ersten Klasse waren wir zweiundvierzig Schüler, zur Hälfte Seminaristen, zur Hälfte ›Stadt studenten‹. Eine zügellose Bande! An die dreißig wilde, rassige Dorfjungen drunter. Und dazu dieses feine, schlanke, zierliche Professorchen! [275] Aber da muß ich den kommenden Jahren was vorwegnehmen und gleich voraus eine merkwürdige Sache registrieren. Ich habe in meinen acht Latein- und Gymnasiastenjahren keinen ›bösen Professor‹ kennen gelernt – keinen, dem ich einen Vorwurf hätte machen können, wenn's mir in der Schule nicht gut ging. Sie alle, unter denen ich zu schwitzen hatte, waren tüchtige Lehrer, die sich redlich und freundlich mit uns plagten, und die wir wilden Rangen zum Dank dafür alle paar Tage an den Rand der Verzweiflung brachten.

Unserem Professor in der ersten Lateinklasse machten wir das Leben blutig sauer. Und dennoch schwärmten wir für ihn. Er hatte den wunderlichen Namen Binhack und war ein feines, elegantes Männchen mit großen, klugen Augen und mit schwarzen Haarsträhnen um ein blasses Schmalgesicht, das an Heinrich Heine erinnerte. Er sah nicht nur einem Dichter ähnlich, er war auch einer! Ein Bändchen Gedichte, das er publiziert hatte, kursierte heimlich in der Klasse und machte uns das Blut und die Seele heiß. Wir liebten ihn. Aber das war jene Art von Liebe, die zu quälen versteht. Unsere Streiche versetzten ihn manchmal in zitternden Zorn. Doch nie wurde er heftig. Immer erledigte er so was mit feinem, [276] überlegenem Spott, der das Gewissen und den Ehrgeiz weckte, aber auch manchmal schärfer ins Gesicht schlug, als eine Rute das fertig gebracht hätte. Und wenn der Dichter Binhack nach den Schulsatzungen der damaligen Zeit als Professor mit dem Haselnußstecken arbeiten mußte, so bekam bei ihm eine solche Exekution stets einen heiteren Zug und ein klassisches Zitat als Beigabe. Er übersah es auch immer, wenn wir uns die Hände vor Empfang der ›Tatzen‹ mit Kolophonium salbten, oder die Knie mit wattierten Lederflecken, die Sitzgegend mit wollenen Jacken polsterten.

Bei der ersten lateinischen Skription wurde ich unter zweiundvierzig Schülern der Einundvierzigste. Der deutsche Aufsatz brachte mir den sechsten Platz, aber Geographie und Arithmetik warfen mich gleich wieder in die vorletzte Bank zurück. Darüber erschrack ich ein bißchen. Denn ich dachte an den Vater und an den Freiplatz. Und mit dieser Schulsorge paarte sich das von Woche zu Woche wachsende Heimweh, das in unserer ›Holzburg‹ genährt wurde und mich oft die halben Nächte flennen machte. Von den Eltern, die durch den Rektor über meine zweifelhaften Erfolge im Reiche der Wissenschaften informiert wurden, kamen bei aller Zärtlichkeit sehr [277] ernstlich mahnende Briefe – die kleinen Blättchen der Mutter hatten manchmal große graue Flecken – und der Vater schrieb mir eines Tages: er könne mich, wenn ich keinen Freiplatz bekäme, nicht weiterstudieren lassen. Ich biß die Zähne übereinander, bekam den rechten Willen – und wurde in der lateinischen Freiplatz-Skription der Zweite. Nun hatte ich meinen halben Freiplatz, schrieb einen seligen Brief nach Hause, und von daheim kam eine große Weihnachtsschachtel mit grünen Fichtenzweigen und jenen schlaraffischen Bäckereien, die man in der Sprache des Holzwinkels Leckerle nannte, Pfeffernüßle und Zuckersternle, Huzelbrot und Nonnefürzle. An diesen Köstlichkeiten fraß ich mich so knüppelvoll, daß ich tagelang an verdorbenem Magen laborierte. Aber die Weihnachtswoche brachte auch noch eine andere Katastrophe: meine erste schwere Rauferei im Seminar. Eines Nachmittags, als ich in der Freizeit mein Pult öffnete, war das Bild des schönen Königs verschwunden. Ich suchte, ich fragte – umsonst. Es fiel mir nicht ein, meine Pultkameraden zu verdächtigen. Das Bild konnte herausgefallen, unter das Pult geraten und irgendwie verschwunden sein. Doch am nächsten Tage, wieder in der Freizeit, als ein Zweitkläßler sein Pult öffnete, [278] sah ich bei ihm mein Königsbild. Gleich sprang ich los und griff nach meinem Gut. Der andere drückte erschrocken das Pult zu und zwickte mir den Arm ein.

Und ich in Zorn: »Du Spitzbue! Mein König gibscht her!«

Noch immer tat der andere, als verstünde er nicht, was ich wollte. Doch als ich wieder schrie: »Du Spitzbue!« – gab er mir einen Stoß vor die Brust. Da fing ich wütend zu dreschen an, so grob, daß dem armen Jungen das Blut in zwei dicken Fäden aus der Nase rann.

Das Geschrei, unter dem die anderen abwehren wollten, rief den Präfekten aus seinem Zimmer. Als er den Streitfall untersuchte, erwies sich die Unschuld des geprügelten Jungen. Das Bild war sein Eigentum, war ein Geschenk seines Vaters, der auf die Rückseite des Bildes geschrieben hatte: »Liebe deinen Gott und ehre deinen König!« Ich mußte feierlich Abbitte leisten, wurde mit vierwöchentlicher Karenz aller Mehlspeisen bestraft und bekam dazu noch einen Nachmittag Arrest.

Da mögt ihr nun an jene Sache denken, die – nach eines Dichterwortes verläßlicher Behauptung – fortzeugend Böses muß gebären.

[279] Denn als ich eingesperrt wurde, machte ich die nähere Bekanntschaft eines kleinen, dicken Männchens, das eine rote Kartoffelnase und auch sonst noch mancherlei komische Eigenschaften hatte. Das war der Pedell, den wir ›Pudel‹ nannten. Er wirkte befruchtend auf meine Phantasie – und in der Einsamkeit meiner Haft verfaßte ich auf ihn ein vielstrophiges Spottgedicht, in welchem deutsche und lateinische Reime miteinander abwechselten. Und weil nun das Brünnlein meines lyrischen Gemütes einmal erschlossen war, ging das Gesprudel noch am gleichen Tage weiter, und ich allegorisierte den Raufhandel um das Königsbild in einer Wüstenballade, die den Todeskampf eines Panthers mit einem Leoparden schilderte. Die Einzelheiten dieses blutigen Liedes sind in meiner Erinnerung gänzlich erloschen. Doch ich glaube, es schlug auch meine Wüstenkatze ›mit dem Schweif einen furchtbaren Reif‹.

Am folgenden Tage las ich meinen Burgbrüdern die beiden Gedichte vor. Der Wüstengesang machte nicht den geringsten Eindruck. Aber die Pedelliade wurde mit Jubel aufgenommen. Abschriften des Gedichtes zirkulierten in der Klasse, wurden von den Stadtstudenten aus dem Seminar hinausgetragen – und eines Morgens wurde ich [280] zum Rektor gerufen, der eine Kopie meines satirischen Erzeugnisses auf dem Tische liegen hatte. Ich bekam zwei feste Ohrfeigen, dazu den Rat, meine ›poetischen Gaben‹ für würdigere Zwecke zu verwenden – und den nächsten freien Nachmittag mußte ich abermals in der beschaulichen Einsamkeit eines Klassenzimmers verbringen und eine lange Strafarbeit über alle grammatikalischen Fehler machen, die der Rektor in den lateinischen Reimen meiner Pedelliade aufgefunden hatte.

Nach dieser abschreckenden Erfahrung ließ ich es für einige Zeit mit dem Dichten gut sein. Aber die Kette der schweren Folgen, die sich aus dem Raufhandel um das Königsbild herausentwickelte, war noch nicht abgehaspelt. Weil ich vier Wochen keine Mehlspeise bekam, hatte ich immer Hunger und beschwor die Mutter in einem Briefe, mir ein bißchen heimliches Geld zu schicken. Aber die Mutter erwähnte die Sache in ihrem Antwortszettelchen mit keiner Silbe, schickte mir auch kein Geld, nur ein Schächtelchen mit vier Garnknäueln zum Strümpfestoppen. Diese symbolische Aufforderung zu häuslichem Wohlverhalten brachte mich in verdrießliche Laune. In dieser gereizten Stimmung schoß ich einem Kameraden mit meinem Flitschpfeil fast ein Auge aus, [281] wurde vom Präfekten über den Stuhl gelegt und bekam gesalzene Hiebe. Nicht nur die Not, auch der Schmerz macht erfinderisch – und für die nächste Gelegenheit ähnlicher Art ersann ich mir einen kunstvollen, im Schutz der Unterhose zu tragenden Lederklobus, zu dem ich zwei Paar Hausschuhe verarbeitete und die Hälfte des von der Mutter gesandten Garnes als Wattierung verbrauchte. Dabei wurden die Garnknäuel sehr klein. Und schließlich, als es schon auf Ostern zuging, merkte ich eines Tages, daß diese kleinen Wollkugeln immer so hart in ihrem Schächtelchen wackelten. Ach, das schlaue Mutterl! Jetzt verstand ich erst den Rat ihres Briefes: »Tu nur recht fleißig nähen, und wenn du Zeitlang hast, so wickle das Garn vom Knäule herunter auf ein anderes Papierböbbele! Wirst sehen, das macht dir Spaß.« Sie hatte die kontrollierenden Argusaugen des Präfekten gefürchtet und in jeden Garnknäuel einen Gulden hineingewickelt.

Vier Gulden! Krösus hatte sicher nicht viel mehr! Das Bewußtsein meines Reichtums war wie ein Rausch in mir. Ich grübelte Tag und Nacht, was ich mir jetzt vergönnen sollte. Endlich verdichteten sich meine fliegenden Pläne zu einem festen Entschluß. Einen Gulden behielt ich [282] als Reserve, für zwei Gulden ließ ich mir durch einen Stadtstudenten ›verbotene‹ Bücher kaufen: Schiller und Goethe – und für den vierten Gulden verschaffte ich mir den höchsten aller irdischen Genüsse: Emmentaler Käse!

Für einen Gulden Käse! Damals vor dreiundvierzig Jahren! Denkt euch, wie viel das war! Ein Klumpen, so schwer, daß man einen Menschen mit diesem ›Diskus‹ hätte totwerfen können. Mich selber hätt' ich damit auch fast ums Leben gebracht. Innerhalb zweier Tage ›verschnipfelte‹ ich den ganzen Käslaib, wurde krank davon, bekam einen langwierigen Gastrizismus und konnte, als die Osterferien begannen, nicht heimreisen. Das wurde im ›Spitalzimmer‹ eine nette Heulerei! Zu meinem Troste und zur Beschwichtigung seiner eigenen Sorge kam Papa für zwei Tage – und als er die Käsegeschichte hörte, hatte er alle Ursache, wieder einmal zu sagen: »Du Kamel!«

Diesem Ferienschmerze folgte bald ein anderer, der mir nicht minder tief in die Seele ging. Wir machten – die erste Lateinklasse mit ihrem Professor-Dichter Binhack – den ›Maispaziergang‹ nach Steppberg zu den Parkwundern und Glashäusern des Grafen Arco. Dabei kamen wir [283] durch ein kleines Dorf und ich sah auf dem Dach eines Bauernhauses einen alten Mann sitzen, der die Schindeldecke ausbesserte und sich in seinem hurtigen Fleiß durch den Lärm des ›Heerwurmes‹ nicht stören ließ. In der folgenden Woche mußten wir diesen Maispaziergang zu einem deutschen Aufsatz verarbeiten. Ich kam auf die verwegene Idee, dieses Pensum in Hexametern zu erledigen, war riesig stolz auf meine Leistung und hielt vor den Kameraden erwartungsvoll den Schnabel, um der großen Überraschung und meinem Erfolge nichts vorweg zu nehmen. Nach Hangen und Bangen erschien der bedeutungsvolle Tag, an welchem Professor Binhack den korrigierten Aufsatz in die Schule brachte. Mir schlug das Herz und meine Wangen glühten. Note um Note wurde verlesen, gute und schlechte Arbeiten wurden besprochen – und endlich nahm dieser Schreckliche auf dem Katheder das letzte Blatt in die Hand, das meine! »Jetzt kommt das Allerschönste! Ein Dichter ist unter uns! Ein homerischer Sänger! Apollo möge ihm gnädig dieses Fürchterliche verzeihen! Ich kann es nicht!« So was Ähnliches sagte er, unter dem Gelächter der ganzen Klasse. Und während mir die Augen tröpfelten, begann er zu lesen. Immer nach ein [284] paar Versen brach wieder diese niederträchtige Heiterkeit los. Und dann der Knalleffekt! Ich hatte versucht, den hurtigen Fleiß des Schindeldeckers durch mehrfache Wiederholung des Zeitwortes zu veranschaulichen. Dieser Hexameter – von allen der einzige, der in meinem Gedächtnis haften geblieben – lautete:

»Hoch am Dache ein Greis. Der schindelte, schindelte, schindelte ...«

Aus einundvierzig Kehlen ein fideles Gebrüll. Und ich, von Zorn geschüttelt, kreischte in den vergnügten Lärm hinein: »Ihr Oxe! Dees isch doch ein absüchtlücher Iterativ!« Dann mußte ich zwei Stunden nachsitzen, meine Dichtung in schulgemäße Prosa übertragen – und von diesem Tage an hatte ich zwei neue Spitznamen: der ›Schindler‹ und der ›Iterativ‹.

Der mißhandelte Ehrgeiz brannte in meiner aufgewühlten Seele – um so mehr, da im Seminar das Dichten grassierte. Die Neuburger Jesuitenpatres hatten um das Jahr 1660 in ihrer Schar einen Laureaten, den Jakob Balde von Ensisheim, den berühmten Sänger des »Poema de vanitate mundi«; sein schwarzgewordenes Ölbild hing in unserem Studiersaal; und bei jeder Jahresschlußfeier bekam das beste, von einem [285] Seminaristen lateinisch oder deutsch verfaßte Gedicht den vielumworbenen Baldepreis. Der Gewinn dieses Preises – so beschloß ich – sollte für meine verwundete Seele das heilende Pflaster werden. Ich wußte wohl, daß der Baldepreis nur an Abiturienten des Gymnasiums verliehen wurde. Aber diese Regel störte meine optimistischen Hoffnungen nicht. Die Ausnahme mußte eben erzwungen werden. Meiner Sache sicher, machte ich mich ans Verseschmieden. Ein ›würdiges Thema‹ war bald gefunden. Und vier Wochen vor Schulschluß reichte ich beim Rektorate – zur Konkurrenz um den Baldepreis – eine große Ballade ein, betitelt: ›Die Macht des Gesanges‹. Den Stoff hatte mir eine von den frommen Geschichten gegeben, die unser Religionslehrer zu erzählen pflegte: Räuber brechen um die Zeit der Mitternacht in eine Klosterkirche ein; während sie die Schatzkammer der Sakristei zu plündern beginnen, erschallt auf dem dichtvergitterten Chor der Mettengesang der unsichtbaren Mönche; die erschütterten Diebe fallen auf die Knie, bereuen und bekennen ihre Schuld und treten als dienende Brüder dem heiligen Orden bei.

In schlaflosen Nächten stellte ich mir immer vor, welches Gesicht die Mutter und der Vater [286] machen würden, wenn ich heimkäme und das Lederetui mit der silbernen Baldemedaille aus dem Hosensack herauszöge. Aber dann kam eine auf, geregte Zeit, die mich meines Baldepreises beinahe vergessen ließ.

Schon vor Wochen hatten es die Stadtstudenten mit in die Klasse gebracht: »Es wird Krieg geben, zwischen Österreich und Preußen! Und Bayern wird zu Österreich helfen!« Ich erinnere mich noch, daß ich ein wundersames Hochgefühl empfand, als einer von den Jungen in seinem Schlachtendrange schrie: »Die Preußen werden zu Knödel gehackt und auf dem Kraut verschluckt!« Natürlich brannte auch in mir die Begeisterung wie ein heißes Feuerlein. Aber im Seminargarten kam es zu keinem richtigen Gefechte! Alles war ›Freund‹, niemand wollte ›Feind‹ sein, kein bayrischer Bub den ›Breißen‹ spielen. Dieses Glühende in unseren Köpfen wurde zum Brande, als zwei Studenten der Oberklasse die Schule verließen und Soldaten wurden. Doch auf den patriotischen Taumel, der uns erfüllte, wirkte die Nachricht von Königgrätz wie ein Keulenschlag. Wir Jungen saßen mit unserer Vaterlandstrauer im Seminargarten herum, wie die Jerusalemiten in der Verbannung. Und als von den Seminaristen [287] einer den Vorschlag machte, eine Spende für die Verwundeten zu sammeln, rannten wir hundert Patrioten in die Präfektenstube und leerten unsere Taschengeldkassen. Ein schöne Summe kam zusammen. Jeder von uns behielt nur, was er zur Reise in die Heimat brauchte.

Die Nachrichten, die von den Stadtstudenten in die Klasse gebracht wurden, lauteten immer schrecklicher: Niederlage bei Kissingen! Niederlage bei Aschaffenburg! Die Preußen rücken schon auf das südliche Bayern los! Und einen Tag um den andern hieß es: Sie sind schon in Nürnberg! Sie sind schon in München! Sie stehen schon bei Donauwörth! In diesen Zeiten der Kriegsfurie erhielt ich vom Rektorate meine Preisballade zurück. Das Blatt trug in roter Tinte die Zensur: »Thema sehr löblich; aber wer noch nicht orthographisch schreiben kann, sollte das Versemachen unterlassen! – Romeis.« Das war der Name unseres Rektors.

Das Vaterland besiegt! Die Schwingen meiner Muse geknickt! Zwei Schmerzen, die mir in einen zusammenflossen. Und catilinarische Gedanken durchwühlten mein verstörtes Gemüt.

Da lief eines Tages durch die Straßen der schönen Stadt Neuburg eine schreiende Panik: [288] »Die Preußen kommen! Die Preußen kommen!« Viele Seminaristen begannen gleich ihre Koffer zu packen. Aber der blinde Schreck verwandelte sich in Gelächter. Jener Türmer, der den Lärm geschlagen, hatte die auf den fernen Feldern stehenden Getreidemännchen für preußische Vorposten angesehen.

Bei uns in den Klassenzimmern ging es immer zu – ein Sprichwort sagt: wie in der Judenschule. Und drum beschloß der hohe Rat der Lehrerschaft, dem Semester ein vorzeitiges Ende zu bereiten. Diese unerwartete Erlösung wurde von allen Seminaristen mit Jubel aufgenommen. Aber nach den seelischen Kümmernissen, die ich in mir, und nach den mancherlei physischen Leiden, die ich hinter mir hatte, sah ich zum Schulschluß recht miserabel aus. Kein viel besseres Aussehen hatte mein Zeugnis. Mit knapper Not ließen sie mich hinüberschlüpfen in die zweite Klasse. Aber mir schien das ein ausreichender Grund, um mit gutem Gewissen heimzureisen. – Heim! – Man fing zu zittern an bei diesem Gedanken! Der Krieg und die Preußen waren vergessen. Alle persönlichen Gegensätze unter den Schulkameraden, alle Fehden und Feindschaften verschwanden während dieser letzten Tage. In all den hundert [289] Jungen war nur noch ein Einziges: das gleiche brennende Warten auf die Stunde der Freiheit, auf den Tag der Heimfahrt.

Und endlich dieses liebe, süße, herrliche Morgengrau, in dem die Reise beginnt! Sonne, Sonne! Ob sie scheint oder nicht! Immer fühlt man sie. Und bei der langsamen Schneckenfahrt der Omnibusse ist das fliegende Herz immer weit voraus. Um uns den Weg zu kürzen, machen wir aus dem Preußenschreck eine Heiterkeit. So oft die Kolonne der gelben Omnibusse durch ein Dörflein fährt, schreien wir alle aus den Wagenfenstern heraus und von den Bocksitzen herunter: »Die Preußen kommen! Die Preußen kommen!« –

In Augsburg, am Nachmittag, erwartet mich der Stanger mit seinem ›Botescheesle‹. Es dauert endlos, bis der Koffer aufgebunden ist. Und dann will der Gaul nicht vorwärts kommen. Da war der Donauwörther Omnibus noch eine Schwalbe! Zum Verzweifeln ist das! Und der Adelsrieder Forst will kein Ende nehmen.

»Ach, geh doch, Stangerle, tue doch dein Rößle ein bissele besser laufe lasse!«

»Mei(n), Narrle, i däet ja geare, awer 's Rößlekaa(n) it besser!«

Schon will der laue Sommerabend kommen, [290] und zwischen Kruichen und Ehgarten fangen schon die feuchten Wiesen grau zu dampfen an. Mich hält's nicht länger im Wagen. Ich möchte bei Tag noch daheim sein! Und auf meinen eigenen Beinen komm' ich flinker vorwärts als des Stangers Rößlein. Und alle kürzeren Fußwege weiß ich, jedes Steiglein in den Stauden. Alles ist grün um mich herum. Ich sehe noch nichts vom Dorfe. Aber jählings weht mir in dem engen Bachtal ein starker, lauer Hauch entgegen. Und süßer Duft!

»Die Blumen! Mutterles Blumen!« Ich renne wie ein Irrsinniger, durch Waldzungen, durch Stauden und Pfützen, über gemähte Wiesen und durch die Weizenfelder. Da ist der Garten! Und unser Haus! Was anderes sehen meine Augen nicht. Und jetzt, von der Altane her, eine feine, schrillende Stimme: »Kind! Kind! Kind!«

Ich renne, renne, bin atemlos – viele Stimmen, viele Gesichter – drei Hunde bellen, einer springt an mir hinauf und wirft mich beinah zu Boden – aber zwei liebe Arme umklammern schon meinen Hals. Und dann unter Lachen ein Schreck der Mutter: »Jesus, Bub, wie schaust du denn aus! Und wo hascht du denn deine netten Haar?« Aus einer ähnlichen Angst, wie sie der Muckl [291] vor den Kirchgasselbuben empfanden, hatte ich mir im Seminar meine blonden Kreuzerschneckerln kurz abscheren lassen bis auf die Haut.

Daheim! Daheim! Ach, dieser erste Abend! In der kleinen Stube, mit den blühenden Blumen, mit den zwitschernden Vögeln, mit Mutters ruhendem Spinnrad in der Fensternische! Mein Bruder hängt mir am Hals, die lange Berta (das ›Fahrhexle‹) ist wieder daheim, mein kleines Schwesterlein krabbelt mir auf den Schoß, und die Mutter lacht. Nur Papa ist ein bißchen ernst. Mein Zeugnis hat ihm gar nicht gefallen. Doch er will mir »den ersten Abend nicht verderben!«

Und dann mein Stübchen! Droben unter dem Dach! Ein seliges Strecken, ein süßer Schlaf. Durch meinen Traum aber gaukeln die unregelmäßigen Zeitwörter aus Englmanns lateinischer Grammatik, wie Gespensterspinnen mit langen Beinen – die ersten Gespenster, die ich fürchten lernte.

Am hellen Morgen wieder die liebe Stimme! »Rrrraus ins Gärtle, du Murmeltier! Die Sonn ischt da! Und auf mit Gott, beim Teufel ischt kein Troscht!«

Gleich nach dem Frühstück geht das Tollen und Rasen los. »Hoihulladuuuuuh!« Der Muckl, [292] der Alfons, der Domini! Und mein Garten, mein Haus, mein Welden, mein Bach, mein Berg, meine Wiesen, mein Wald! Und alles ist mein! Alles, alles, alles, was Kinderfreude und schönes Leben heißt!

[293]
6.
VI.

Ferienzeit! – Nicht Worte, nicht Bücher erschöpfen den Zauber, den diese vier Silben bergen. Nur trunkene Kinderherzen können ihn fühlen.

Und Frieden ist wieder! Und alle Bauern freuen sich und scheinen neue Gesichter zu haben. Nur das Eine kann ich nicht recht begreifen, daß es der Vater mit den ›Breißen‹ hält und immer sagt: »Jetzt kommen große Zeiten für uns Deutsche!« Doch dieses Unverständliche geht mir unter im jubelnden Rausche meiner Freiheit.

Warum nur muß alles Schöne im Leben so raschen Flug haben wie die Falken?

Wann bin ich heimgekommen? Gestern? Vorgestern? ... Vor acht Wochen? Nein! ... Und da steht der Stanger schon wieder vor dem Zauntor, mit diesem schrecklichen Rößle, das so fürchterlich schnell nach Augsburg läuft! [294] Damals im Herbste, als ich zum anderenmal in Neuburg einrückte, gab's an einem der ersten Nachmittage ein Ereignis, das für mich wie ein tröstender Nachklang aus dem Leben der Heimat war. Wir bauten da gerade an unserer neuen ›Burg‹ in der Scheiterbeuge. Mir wurde das Wagnis zugeteilt, in den ›heiligen Hain‹ zu schleichen und Fichtenzweige zu holen, um mit ihnen die harten Sitze auf den Holzscheiten der Burg zu polstern. Mit dem Spürsinn und Späherblick eines Indianers machte ich mich an diese Aufgabe. Doch sie erwies sich als völlig ungefährlich, denn die Gymnasiasten waren aus irgendwelcher Ursache gar nicht in ihrem heiligen Hain. Die Fichten standen weit droben in der Ecke des Gartens, ganz bei der hohen, an die Felder grenzenden Mauer. Ich schlich auf allen Vieren an den Gemüsebeeten des Seminargärtners vorüber. Und plötzlich fährt mir's wie ein elektrischer Schlag durch Blut und Nerven. Zwischen den Kohlköpfen seh' ich einen Hafen hocken – einen richtigen wilden Feld- und Waldhasen, der, die Löffel zurückgelegt, gemütlich an den Krautblättern knappert. Ich schlich zurück, vom Zittern des Jagdfiebers befallen. Und hinauf in die Burg. »Ein Has! Ein Has! Ein Has ischt [295] im Garte! Den fange mer! Raus! Raus! Ein Has! Den müsse mer fange!«

Unter den zehn Burggenossen waren sechs Förstersbuben. Denkt euch: wie flink die herausfuhren aus der Burg! Wir wühlten uns mit solcher Hast durch die ›Fuchsröhre‹, daß wir uns lange Holzsplitter in die Schenkel und Arme stießen. Aber jetzt spürte man keinen Schmerz, kein rinnendes Blut. Ich übernahm die Leitung der Jagd und stellte lautlos den Kreis. Wie geduckte Mohikaner lagen und schlichen wir im Grase der Prärie. »Hussa!« Zehn junge Kerle fuhren mit brennenden Gesichtern in die Höhe – und der Hase machte vor Schreck einen meterhohen Sprung aus dem Kraut heraus. Wir hinter ihm her, wie die Windhunde auf der Fährte ihres sicheren Opfers. Der Hase konnte zwischen Zaun und Mauer nirgends aus. Eine halbe Stunde dauerte dieses atemfressende Rasen, an der Mauer hin, kreuz und quer durch die Stauden, im Kreis um die offene Wiese, zurück in den Krautgarten und wieder die hohe Mauer entlang. In der spitzen Ecke des Gartens machte der Hase ein paar verzweifelte Versuche, an der Mauer hinauszuspringen. Dabei erwischte ich ihn. Er zappelte und kratzte. Ein Schlag [296] ins Genick und das arme Häslein hatte ausgelitten.

Wir, von unserer Jagdfreude wie betrunken, erhoben ein Geschrei, daß die Mauer des heiligen Haines hallte. Und im Triumphzug wurde die Beute zum Rektor getragen. Dabei kam es zu einer heißen Debatte über die Frage: wie der Hase wohl in den Garten gekommen wäre. Wir Förstersbuben hatten das Wahrscheinlichste bald heraus. Draußen an der Spitze des Gartens lagen die Felder fast so hoch wie die Mauerkante. Und da war wohl der Hase, hinter dem die Jäger und Hunde her waren, über die Mauer in den grünen Garten gesprungen, um sich zu retten. Und war von einer Jagdnot in die andere geraten. In die gefährlichere.

Der Rektor, als wir ihm den Hasen ins Zimmer brachten, machte zuerst verdutzte Augen und wollte streng sein. Doch unser Jubel, unsere glühenden Gesichter und blitzenden Augen beredeten ihn zu heiterer Laune. Er lachte und schickte uns mit dem Hasen in die Küche, wo die Beute für uns zehn Jäger noch am gleichen Tage gebraten wurde. Am Abend, nach der gemeinschaftlichen Mahlzeit, saßen wir Zehne im Refektorium rings um einen runden Tisch, und die[297] hundert anderen guckten lachend zu, wie der Hase aufgetragen wurde, in braunem Sößle und mit großen Knödeln, und wie wir Jäger unsere Beute mit seligem Vergnügen schmausten.

Ein paar Tage später lief unter den Seminaristen das Gerücht um, daß sich der Rektor wegen des Hafen in großer Sorge befände. Wir hatten ja wirklich gegen das Jagdgesetz gehandelt, einen Jagdfrevel begangen – und der Rektor hatte das lachend gutgeheißen. Aber die Sache führte zu keiner bösen Folge.

Dieser Rektor Romeis war ein strenger und gewissenhafter Herr. Aber trotz der scharfen Zucht, die er führte, weiß ich mich keiner Ungerechtigkeit zu entsinnen, die er jemals wider uns begangen hätte. Gab's einen Streit und hatte man recht, so fand man dieses Recht auch immer bei seiner Entscheidung. Und bei aller Strenge konnte er dem Blut, der Torheit und dem Übermut der Jugend auch gesund und vernünftig was nachsehen. Er hatte einen schönen Kopf, ein blasses und feingeschnittenes Gelehrtengesicht, ging immer sehr adrett gekleidet und machte das Ansehen eines vornehmen Weltmannes. Unter den Seminaristen wurde ein bißchen über ihn geklatscht – man tuschelte: er ›hätte was‹ mit dem ›Annerl‹, mit [298] dem schönen jungen Töchterlein der Küchenpatronin. In dieses Annerl, obwohl es nur flüchtig durch das Küchenfenster des Speisesaales zu sehen war, pflegten sich alle Oberkläßler bis über die Ohren zu verlieben. Und da sprach dann wohl die Eifersucht aus ihren hungrigen Herzen, wenn sie dem Rektor was anzukreiden suchten. Dieser Klatsch sickerte von Klasse zu Klasse herunter, bis ihn die homines novi hörten. Aber im Ernste war dem Rektor – so weit meine zwölf- bis vierzehnjährigen Augen reichten – nichts anderes nachzusagen, als daß er manchmal während der Studierzeiten freundlich plaudernd mit dem schönen Annerl in der Einsamkeit des heiligen Haines spazieren ging. Viele Augen belauerten das Paar. Doch die Redereien, die man an solche Beobachtungen knüpfte, waren mir zuwider. Und zuweilen gab es Meinungsverschiedenheiten im Frieden der Burg, wenn ich den Verdächtigten mit gutem Glauben verteidigte: »Der tuet nix, was koinz oder keel isch! 's Annele isch halt e netts Mädle. Und ebbes Nettes gfallt ihm halt!« Unter ›keel‹ und ›koinz‹ 1 verstand [299] ich in meinem Holzwinkeldialekte alles, was mir ekelhaft war.

Bei solchen Debatten über das schöne Annerl konnte ich den Einwurf hören: »So? Gfallt's ebbe dir auch?« Das brachte mich in heißen Zorn, und es rutschten mir bei solchem Thema leicht die Fäuste aus. Ihr wißt doch, wie ich – meine beiden Schwestern ausgenommen – über alles dachte, was Mädel hieß! Nach den schrecklichen Erfahrungen, die ich mit diesen merkwürdigen Geschöpfen hatte machen müssen! Sogar die kleine Schwäche für das ›nette Krawättle‹ war flink wieder in mir erloschen. Allerdings begann ich schon theoretische Unterschiede zu machen und fand sehr flink heraus, was ›nett‹ war. Im übrigen aber betrachtete ich die Sache noch immer von dem Standpunkt, den ich in der Dorfschule eingenommen hatte, wollte um keinen Preis der Welt als ›Mädlefußeler‹ gelten – und wenn die Seminaristen davon tuschelten, daß der Rektor mit dem Annerl ›was hätte‹, war es mir immer höchst peinlich, mir vorstellen zu müssen: wie der schöne vornehme Herr sich auf den Boden hinsetzen [300] sollte, um das nette Mädel an den Waden, in der Kniekehle oder sonstwo zu zwicken! Soll denn auch so was ein Vergnügen sein? Zwicken! Das ist doch überhaupt nur eine Eigenschaft der Schwächlinge! Und beim Raufen ist das Zwicken direkt unanständig. Und mit Mädeln rauft man nicht. Was Mädel heißt, läßt man in Ruh, und die Buben haut man. – So ungefähr lauteten die Schlüsse, die der Logik meines zwölfjährigen Köpfls entsprangen.

Aber da fällt mir jetzt einer ein, der das Zwicken liebte und doch kein Schwächling war – wenigstens nicht in seinem äußeren Bilde.

Unter den weltgeistlichen Präfekten des Seminars war einer, vor dem ich Respekt hatte, obwohl er uns alle mit eiserner Strenge behandelte – ein zweiter, vor dem ich zitterte, obgleich er mir bei jeder Gelegenheit sein besonderes Wohlwollen erwies – und einer; den ich zärtlich liebte, obwohl er kaum merkte, daß ich auf der Welt war.

Jener erste hieß Waldvogel und war ein mageres, langes, fast zwei Meter großes Mannsbild, das im Studiersaal immer wie ein drohendes Ausrufungszeichen hinter dem Stehpult des Präfekten stand. Mit dem Glockenschlag trat er in den Saal, ging auf das Pult zu, rührte sich [301] nimmer vom Fleck, schrieb oder las, und beim ersten Schlag der Glocke klappte er sein Buch zu und ging davon, in sein Zimmer. Während der Studierzeit, in der unter Waldvogels Aufsicht stets eine lautlose Stille herrschte, hob er nur selten das Gesicht von seinem Buche. Tat er es, so sah er mit dem ersten Blick gleich alles, was heimlich hinter den Pulten geschah. Und da strafte er unerbittlich. Weil er sich niemals täuschte, hatte er nie eine Untersuchung nötig. Wenn er in dieser Stille rief: »Nummer Elf! Bringe mir sofort dein Buch!« – dann war das sicher keine lateinische Grammatik, sondern eine Indianergeschichte oder eine Schillersche Tragödie, die konfisziert wurde. Und ich mußte knien – eine Sache, die ich schlecht vertrug. War man fleißig und ordentlich, so hatte man auch mit diesem gestrengen Herrn sein ruhiges Auskommen, obwohl er für die Jungen, mit denen er zufrieden war, als einzige Anerkennung nur ein stummes Kopfnicken fand. Er lebte wie ein Einsiedlerkrebs, blieb während der Freizeiten zumeist in seinem Zimmer, gesellte sich im Garten nie zu uns Buben und nahm in der Abendzeit auch nie an unseren Spielen im Studiersaal teil.

Viel zutunlicher und freundlicher zeigte sich da [302] der zweite Präfekt. Er war nicht viel kleiner als Waldvogel, dazu von so hühnenhaftem Gewichte und von so breitschultriger Klobigkeit, daß wir ihn den ›Unschlacht‹ nannten. Er hatte Arme wie Balken, Finger wie Regensburger Würste. Dazu ein breites, gemütliches Gesicht mit knallroten Bausbacken und kleinen Augen. Wenn er Aufsicht führte, wurde die Studierzeit zu einem ununterbrochenen Gerappel und Gesumm. Die Pultdeckel gingen auf und nieder, alle erdenklichen Allotria wurden getrieben, die Telegraphenleitungen – (Bindfäden zwischen Zigarrenkistchen) – wurden in Gang gesetzt, man warf mit Papierpfeilen und Lettenkügelchen, ließ den gekauten Gummi elasticum knallen, und immer wieder wurde die Maus gejagt, die gar nicht vorhanden war. Da schrie einer plötzlich: »E Mäusle! E Mäusle!« Und fünfzig Buben rumpelten auf einen Knäuel zusammen, balgten sich und rannten von Pult zu Pult, warfen die Stühle um, klapperten mit den Linealen allen Staub und Dreck unter den Pulten heraus und trieben diesen wirbelnden Radau durch die halbe Studierzeit, bis es dem Präfekten schließlich doch zu dumm wurde. Dann brüllte er »Silentium!« – und wenn wir alle wieder an den Pulten saßen, begann er im Studiersaal ein [303] empörtes Auf- und Niederwandern. Solcher Zorn beschwichtigte sich aber bald wieder zu seiner chronischen Gemütlichkeit. Und da blieb er gern bei seinen Lieblingen stehen – zu denen auch ich gehörte – machte sie auf Fehler in den Hausaufgaben aufmerksam, vergönnte ihnen das verbotene Buch, in dem sie lasen, krappelte in ihrem Haar, schmunzelte, streichelte, tätschelte – oder zwickte.

Das war eine schreckliche Gewohnheit von ihm: dieses Zwicken in die Wangen. Und für mich – wohl um mir seine ganz besondere Gewogenheit zu zeigen – hatte er noch eine gräßliche Nuance erfunden: wenn er mich in die Wange zwickte, geriet er mir jedesmal mit dem Finger zwischen die Zähne. Mir wurde immer ganz übel. So was ›Keeles‹ war das für mich! Wenn der Unschlacht in die Nähe meines Pultes kam, fing ich zu zittern an. Und ich war doch kein feiger Junge. Je freundlicher und nachsichtiger er gegen mich wurde, um so mehr begann ich ihn zu fürchten, fast zu hassen. Und eines Abends, als er mich wegen irgend einer Sache in sein Zimmer gerufen hatte und wieder so grauslich zwickte, stieß ich mit beiden Fäusten seinen Arm zurück und schrie: »So ebbes mag i nit!« Er [304] erwiderte keine Silbe, lächelte nur und gab mir aus seiner Bibliothek ein Buch: Des Knaben Wunderhorn. Von dieser Zeit an zwickte er mich nimmer, blieb aber freundlich und nachsichtig – so nachsichtig, daß ich mir alles erlauben durfte. Das hatte keine gute Wirkung auf meinen Fortschritt in der Schule. Ein Glück für mich, daß zum Gegenhalt unser Klassenprofessor Loher sich alle Mühe mit mir gab. Ich werde von diesem prächtigen Manne mit der doppelten Lehrerseele noch zu erzählen haben.

Erst muß ich vom Unschlacht noch eine merkwürdige Sache registrieren. Dieser freundliche, gutmütige, zutunliche Herr konnte zuweilen recht gefährlich werden. Er strafte nicht gerne – aber wenn's eine grobe Sache gegeben hatte, die nach dem Haselnußstecken schrie, und wenn der Unschlacht den Missetäter über den Stuhl zog, konnte er so fürchterlich losdreschen, daß der arme Schächer das bequeme Sitzen ein paar Tage lang nimmer fertig brachte. Ebenso gefährlich war der gutmütige Unschlacht am Abend, wenn wir ›Stockschlagen‹ spielten. Das war ein Spiel, dessen Erfinder man hätte ohrfeigen sollen. So denke ich jetzt. Aber damals in meiner Seminarzeit trieb ich dieses Spiel sehr gerne – um mit [305] Vergnügen heimzahlen zu können, was ich unter Schmerzen empfangen mußte. Einer saß auf einem Stuhl: der Stockhalter. Wer beim Spiel an die Reihe kam, mußte stehend das Gesicht vornüberbeugen und die Augen in die Hände des Stockhalters legen. Dann schlug man ihm hinten mit der flachen Hand eine Feste hinauf; und wer den Schlag bekam, mußte blind erraten, wer geschlagen hatte; riet er fehl, so ging die Sache weiter; riet er richtig, so kam zur Abwechslung der andere ›in den Stock‹. Bei diesem Spiel guckte der Unschlacht gerne zu; und manchmal, wenn einer von seinen Lieblingen im Stock war, sauste plötzlich seine schwere Hand zu einem Schlag herunter, daß man schreien mußte und in die Knie brach. Da riet man dann immer richtig: »Jesus Maria, der Herr Präfekt!« Und lachend ging der Unschlacht davon.

Der dritte der Präfekten führte für uns Lateinschüler, die wir noch nicht in die Kirchenmusik und in das Orchester eingereiht waren, ein Leben wie der Maulwurf in der Wiese. Das war der Musikpräfekt, Herr Ludwig Kerler. Man bekam ihn selten zu sehen. Alle paar Monate erschien er einmal in meiner Flötenstunde und hörte ein Weilchen zu. Gefiel ihm mein Gedudel nicht, [306] so schnitt er eine Grimasse, als hätte er eine sehr bittere Sache zu trinken bekommen, und entfernte sich, ohne ein Wort zu sagen. Eines einzigen Besuches erinnere ich mich, bei dem ich seine Zufriedenheit erweckte. Da tippte er mit dem Griff seines Stockes an meine Schulter und sagte mit seiner heiseren Stimme: »Büeble! 's geht vorwärts! Da hast du jetzt grad e Tönle bracht ... das ist Musik gewesen!« Seit dieser Stunde gab ich mir alle Mühe, reine Klänge aus meinem Wimmerholz herauszubringen. Der Präfekt aber lobte mich niemals wieder.

Ich weiß nicht, was diesem wunderlichen Manne, der die Seele eines Künstlers und das Gesicht eines Trunkenboldes hatte, meine Zuneigung gewann. Fast schwärmerisch verehrte ich ihn. Und ich fand auch oft Gelegenheit, dem Präfekten Kerler meine Anhänglichkeit in aller Stille zu beweisen. Er hatte sein Zimmer in einem etwas abgelegenen Trakte des Seminars. Und da wurden mit der Türklinke des Präfekten, mit dem Schlüsselloch oder mit den vor der Tür stehenden Stiefeln manchmal sehr üble Scherze getrieben. Herr Kerler ging Abend für Abend in die Stadt hinaus und kam erst spät in mitternächtiger Stunde zurück, um etwas heiteren Ganges seiner Klause [307] entgegenzustreben. Da fand er dann die Überraschungen, die seiner warteten. Doch nie verklagte er die Missetäter. Er suchte aber auch die verschwiegenen Schutzengel niemals auszuforschen, die häufig vor seiner Tür die Spagatfallen zerschnitten, reinliches Papier um die klebrige Klinke wickelten und das Schusterpech aus dem Schlüsselloch herausstocherten.

Hatte man ihm in der Nacht einen solchen Freundschaftsdienst geleistet, so fühlte man sich am Morgen in der Kirche belohnt, wenn er die Messe dirigierte, die Orgel spielte und von seinem unsichtbaren Chorsitz diese herrlichen Klänge auf uns knieende Jungen niederrauschen ließ. Da überkamen mich traumhafte, seltsam wogende Stimmungen, die ich nicht schildern kann. Und wenn Herr Kerler auf der Orgel mit wechselnden Tonarten phantasierte, bekam oft plötzlich die ganze Kirche vor meinen Augen eine intensive, einheitliche Farbe; alles erschien mir rot oder ährengelb oder in prachtvollem Blau. Das dauerte immer nur wenige Sekunden und verschwamm dann wieder. Meistens sah ich nur eine einzige Farbe, und wenn sie zerflossen war, blieb alles so, wie es in Wirklichkeit war. Doch manchmal – wenn die Tonart, während ich eine Farbe sah, mit raschem [308] Übergang wechselte – verwandelte sich diese Farbe ebenso rasch in eine andere, die noch stärker leuchtete. Das war immer so namenlos schön, daß mir ein süßer Schauer durch Herz und Sinne rieselte. – Dieses Farbenschauen meiner Augen, bei tiefer Wirkung guter Musik, verstärkte sich noch in späteren Jahren. Irgendwelche Gesetzmäßigkeit in dieser Erscheinung hab' ich bisher nicht konstatieren können. Aber es gibt ein paar musikalische Werke, bei denen ich stets die gleiche Farbe sehe. Wenn ich Wagners Rheingold höre, kommt immer ein Augenblick, in dem das ganze Bild der Bühne für mehrere Sekunden von einem brennenden Goldgelb überflossen wird. Und spiele ich mit meinen Kindern das erste Trio von Haydn, so erscheint mir das Notenblatt gegen Ende des ersten Satzes in einem matten Rotviolett, das sich, wenn wir ohne Unterbrechung gleich das Adagio Cantabile beginnen, in ein tiefes Stahlblau verwandelt. Im Allegro non troppo der C-moll-Symphonie von Brahms, die ich bis jetzt drei- oder viermal hörte, sah ich jedesmal das gleiche Scharlachrot – und einmal sah ich in dieser Farbe eine weite Himmelsferne mit langgestreckten, in Scharlach brennenden Wolkenzügen, über die eine hohe, in tieferes Rot gekleidete Frauengestalt wie schwebend dahinglitt.

[309] Alle leidenschaftlich empfundene Musik verwandelt sich für mich in Bilder, die ich sehe, während ich die Musik für Sekunden und Minuten nicht mehr zu hören glaube. Am häufigsten und stärksten kommen mir solche Bilder und Farben bei Schumann und Beethoven. Früher war's auch bei Wagner so. Aber die bilderschaffende Wirkung, die sonst die Wagnersche Musik in mir hervorrief ist seit etwa fünf Jahren fast ganz für mich erloschen. –

Während des zweiten und dritten Jahres meiner Seminarzeit kam mir alle Frömmigkeit, die ich in der Kirche noch fühlte, aus der schönen Musik des Präfekten Kerler. In der stillen Messe war ich so wenig bei Gott, wie es die anderen waren – mit spärlichen Ausnahmen. Zweihundert Studenten, dicht gedrängt in den Betstühlen, mit Husten, Trampeln, Scharren, Zappeln, Jucken und Flüstern! Wie soll da entstehen oder dauern können, was Andacht heißt? Ich glaube, aller Religionszwang in der Schule ist ein unfehlbarer Weg zum Zweifel oder zur Heuchelei.

Wie die Kirchenstimmung in warmen Sommerszeiten war, das weiß ich nimmer recht. Aber im Winter war's immer schrecklich, wenn uns der Atem bei jedem Seufzer unserer Qual wie ein [310] graues Wölklein vor dem Munde stand. Kluge Priester sollten ihre Kirchen im Winter heizen lassen. Man kann nicht an einen gütigen Gott glauben, wenn man eiskalte Zehen, abgestorbene Ohren, eine vor Kälte pelzige Nasenspitze hat und ruhelos in die Hände hauchen muß. Wir Buben mit unseren geschorenen Köpfen, mit den dünnen Wirkhandschuhen und den kurzen Radmäntelchen froren in der eisigen Kirchengruft, daß uns die Zähne klapperten und die Augen tränten. Gott war uns Hekuba. Wir hatten keinen anderen Kirchengedanken als die Sehnsucht auf den Augenblick, in dem wir mit Getrampel aus dem Betstuhl hinausdrängen und hinaufrasen konnten in das warme Klassenzimmer. Die erste Lehrstunde war immer verloren. Denn eine ganze Stunde brauchte man, bis man ordentlich auftaute.

Und da bin ich nun bei diesem Professor Loher mit der zwiefachen Lehrerseele. Ein mittelgroßer Mann, immer ein bißchen unordentlich gekleidet, mit dunklem zerwirrtem Haar, mit kurzem, mißmutig durcheinander gesträubtem Vollbart und mit schwermütigen Augen, die selten in froher Helle glänzten. Wenn er verheiratet war, so hatte er sicher kein freundliches Familienleben. Kam er in die Klasse, so gab er sich mit rührender [311] Inbrunst seinem Berufe hin. Die schöne Leistung eines Schülers machte ihn für wenige Minuten glücklich. Ein grober grammatikalischer Fehler wirkte auf ihn wie eine schwere persönliche Kränkung. Aber den Haselnußstecken liebte er nicht. Wenn Strafe nötig wurde, nahm er das Haupt des Übeltäters zwischen Brust und Arm und gab ihm eine feste ›Kopfnuß‹. Das tat sehr weh. Aber das kurzgeschorene Köpfl konnten wir nicht polstern, und das Einreiben mit Kolophonium half nichts; man bekam davon nur ein Gefühl, als hätte man Läuse.

Dieser Professor Loher, der in der Schule neben dem Lateinischen noch ein paar andere Fächer lehrte, war außerhalb der Klasse auch unser Turnlehrer. Von diesem doppelten Berufe kam die Zwiespältigkeit seiner Lehrerseele. Ich war ein jammervoller Lateiner, aber ein guter Turner. Und drum liebte mich Professor Loher in der Turnhalle so zärtlich wie einen Sohn, während er mir in der lateinischen Stunde sehr häufig seine tiefste Verachtung bezeugen mußte. Das eine färbte ein bißchen aufs andere ab. Die Freude über meine Turnkünste wurde ihm getrübt durch den Gedanken an mein Latein – und der Kummer über meine mangelhafte Kenntnis des ciceronischen [312] Idioms wurde ihm ein bißchen getröstet, wenn er sich erinnerte, was ich in der letzten Turnstunde an Reck und Barren geleistet hatte. Führte ich in der Turnhalle zwanzigmal hinter einander die Doppel-Kniewelle mit tadellosem Abschwung aus, dann konnte er, bei hellem Glanz in den Augen, wehmütig sagen: »Ludwig! So möchte ich dich einmal den Accusativ cum Infinitiv gebrauchen sehen!« Und in der Klasse konnte er, bei kummervollem Blick, mit gemildertem Zorne seufzen: »Ganghofer! Da hast du wieder einmal ein sträfliches Latein geliefert! Aber ich will nicht vergessen, daß du ein verläßlicher Turner bist. Nun ja! Es gibt eben nichts Vollkommenes im Leben!«

Daß ich bei Professor Loher ein so schwächlicher Lateiner blieb, das hat mir weiterhin auf Erden nicht viel geschadet. Aber die Turnkünste, die ich dem braven Manne mit der zwiefachen Seele verdanke, haben mir oft das Leben gerettet – zum erstenmal schon damals im Seminar. Das hohe Klettergerüst im Seminarhof war seit einiger Zeit in seinen faulen Balkenfüßen ein bißchen wackelig geworden. War einer in der Spielzeit droben auf dem Querbalken, so kamen natürlich die anderen gleich gelaufen und fingen zu rütteln an. Schließlich trauten sich nur noch [313] die wenigen hinauf die sich da droben in zehn Meter Höhe schwindelfrei und sicher fühlten. Und so war ich eines Tages wieder einmal droben und spielte Seiltänzer. Die Kerle kamen gleich und singen zu wackeln und zu rütteln an. Plötzlich tat das Klettergerüst einen dumpfen Krach und begann zu fallen. Ich gaukelte auf dem seitwärts gleitenden Balken, konnte mich aufrecht erhalten – und als der Balken nur noch ein paar Meter von der Erde entfernt war, machte ich einen festen Hupf in die Höhe und landete glücklich auf dem Lohboden. Die Sache ging so schnell, daß ich das festmachende Sprüchlein des Alfons gar nimmer sagen konnte. Diesmal kam ich zur Abwechslung gut davon, weil ich die Augen offen hielt. So hab' ich es dann späterhin immer gemacht, wenn's mir an den Kragen ging – und dabei vergaß ich allmählich den Zauberspruch meiner Kinderzeit und verließ mich in allen kitzlichen Sekunden auf mich selbst. – Mancher Leser mag bei dieser Stelle sagen: Das klingt wie Übermut. Doch es kommt mir so vor, als wär's nur ein Gleichnis. In jenen Jahren begann ich doch auch meinen blinden Kinderglauben zu verlieren. Aber der sehende Glaube, den mir das reife Leben als Ersatz gegeben – das war der schönere. Ein [314] Glaube mit dem Dogma: ›Wie Gott unfaßbar in allen Sternen brennt, so pocht er in deinem Herzen und glüht in deinem Blute. Hilf dir selbst, und Gott hat dir geholfen. Sei furchtlos und bleibe froh! Dann wirst du machen aus dir, was aus dir werden konnte. Und ermüden deine Kräfte, sowarst du Mensch, und wirst die Stunde nicht schelten, in der die natürlichen Leiden deines irdischen Staubes dir das letzte Lachen zernagen. Und alle Dämmerung des Lebens wird dir nichts anderes sein, als notwendige Ruhe und geduldiges Harren auf neues Werden!‹

Wo bin ich?

Richtig, ja, noch immer bei Professor Loher! Aus seiner Klasse fallen mir zwei kleine Geschichten ein. Im Sommer einmal, da hatte ich neue Stiefel, die mich drückten. Unter der Schulbank zog ich den rechten Stiefel herunter, um dem schmerzenden Fuß ein bißchen Luft zu vergönnen. Der verwünschte Kerl, der hinter mir saß, merkte die Sache und gab dem Stiefel einen so kräftigen Fußpuff, daß die lederne Lokomotive durch alle Bankreihen hinausfuhr und pumpernd gegen den Katheder schlug. Professor Loher guckte mißbilligend aus seiner Höhe herunter, ließ den Stiefel unter sein Pult stellen und sprach: »Wenn die [315] Unterrichtsstunde zu Ende ist, werden wir das Weitere sehen!« Mir wurde schwül. Und weil mein Banknachbar ein Stadtstudent war, der nicht weit vom Gymnasium wohnte, tuschelte ich: »Du! Verlang hinaus und hol mer en Stiefel.« Nach fünf Minuten war der Stiefel richtig da – aber es war nicht der rechte, den ich brauchte, sondern ein linker. Ich kam aber doch hinein. Mit festem Willen vermag der Mensch auch naturwidrige Hindernisse zu überwinden. Unter wachsenden Schmerzen erwartete ich den Schluß der Schulstunde. »Sssso!« sagte Professor Loher und stellte sich vor die erste Bank. »Heraus jetzt, einer nach dem anderen!« Wer zwei Stiefel an den Füßen hatte, durfte fortgehen. So leerte sich Bank um Bank. Als ich heraustrat, machte Professor Loher auch bei mir den entlassenden Handwink. Ich wollte rennen. Aber da fiel ihm plötzlich etwas auf »Ganghofer! Halt! ... Du hast ja zwei linke Stiefel an!«

»Ja, Herr Professor, weil ... weil ich zwei linke Füß hab.«

»Gut! Weiter!«

Ich machte flinke Beine. Und ein Viertelstündchen später erfuhr ich, daß Professor Loher, als der letzte mit zwei Stiefeln aus der hintersten [316] Bank heraustrat, unter Kopfschütteln sagte: »Das ist aber doch ganz unerklärlich ...«

Am anderen Morgen, vor Beginn des Unterrichtes, gab Professor Loher diese Erklärung ab: »Um auf die Sache von gestern zurückzukommen ... wenn einer von euch zufällig zwei rechte Füße haben sollte, kann er den überzähligen Stiefel beim Pedell in Empfang nehmen.« Dabei sah er mich an – und schmunzelte ein bißchen. In der nächsten Turnstunde, als ich einen tüchtigen Sprung über die Hochschnur gemacht hatte, sagte er: »Schade! Um wie viel höher würdest du noch springen, wenn du keine Mißgeburt wärst! Aber zwei linke Füße ...« Er zog mein Haardach an seine Brust und versetzte mir eine Kopfnuß, die ich am anderen Tag noch spürte.

Auch die zweite Geschichte spielte im Sommer. Ich hatte zeichnerische Talente, die sich, wie an der Sakristeitür in Welden noch heute zu sehen ist, schon früh entwickelten. Diese zeichnerischen Künste wurden für mich unter Professor Loher zu einer Plage. Wenn er Geographie lehrte, mußte ich immer an die Tafel heraus und Landkarten oder Bauwerke nach kleinen Vorlagen zur Erleichterung des Anschaulichkeitsunterrichtes in vergrößertem Maßstabe nachzeichnen. Das war [317] eine sehr unbequeme Sache. Und drum schmiedeten wir eines schwülen Sommernachmittages ein erlösendes Komplott. Die große Tafel wurde so steil gestellt, daß die geringste Bewegung genügte, um das schwarze Ungeheuer aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und richtig wurde ich wieder herausgerufen: um die kyklopischen Mauern von Mykenä zu zeichnen. Ich zog ein paar Linien mit der Kreide, dann fing ich zu taumeln an, wurde ›ohnmächtig‹, fiel auf den Boden hin, und – dullerabums! – rasselte die Tafel samt ihrem spreizbeinigen Gestell auf mich herunter. Ein fürchterlicher Aufruhr in der Klasse. Und weil ich durch kein Mittel aus meiner ›Ohnmacht‹ zu erwecken war, trugen acht Buben mich hinunter in den kühlen Seminarhof wo der alte Brunnen stand – d.h. sie trugen mich nur bis zur Türe hinaus, über die Treppe lief ich selber hinunter, und im Hofe ließ ich mich wieder tragen. Ein paar Minuten später sprang in der Klasse einer auf: »Herr Professor! Sollen wir nicht nachsehen? Ich fürchte, dem Ganghofer geht es sehr schlecht!« Zehn Buben rannten davon, um zu fragen, wie es mir ginge. Und weil sie nicht mehr kamen, schnellte wieder einer von der Bank auf: »Herr Professor? Soll ich mich nicht erkundigen? [318] Ich fürchte, der Ganghofer ist schon tot!« Da sauste auch gleich ein ganzer Schwarm zur Türe hinaus. Und keiner kehrte zurück. Doch als Professor Loher mit den paar Letzten, die bei ihm geblieben waren, nach dem Läuten der Stundenglocke heruntergelaufen kam in den Brunnenhof da war ich wieder, was man ›frisch und munter‹ nennt.

»Gott sei Lob und Dank! Und spürst du auch wirklich gar nichts mehr?«

»Nein, Herr Professor! Ganz guet isch mer wieder!«

Und dieser liebe prächtige Mensch, mit dem wir übermütigen Fratzen Schindluder trieben, sagte in zärtlicher Freude: »Siehst du! Dein gesundes Turnerblut! Ein anderer wäre da nicht so glücklich davongekommen!«

Während der folgenden Woche fragte er in der Schule häufig nach meinem Befinden, und war in puncto Latein so nachsichtig gegen mich, daß meine Noten sich wesentlich besserten. Bei diesem ›Schub nach aufwärts‹ hat außer dem guten Professor Loher noch ein anderer energisch mitgeholfen. Weil ich im ersten Semester nicht sonderlich gut ›abgeschnitten‹ hatte, bekam ich nach Ostern einen Instruktor zur Nachhilfe. Und diesem [319] Manne – ich sage: Mann, obwohl er nur erst ein Student der dritten Gymnasialklasse war – diesem Manne hab' ich für mein Leben mehr zu verdanken, als ich damals erkennen oder auch nur ahnen konnte. Erst in späteren Jahren begriff ich, daß er mich ruhig, bewußt und sicher an Gefahren vorübergeführt hatte, die ich sah, ohne sie zu verstehen, und die nach mir tappten, ohne daß sie mich fassen konnten.

Dieser seltsame, häßliche, strengäugige Schutzengel meiner Knabenzeit hieß Rauner. Er war der Sohn einer Schullehrerswitwe. Und es ist mir in Erinnerung, daß er mich, als ich Schüler der dritten Lateinklasse war, während der Weihnachtswoche für einige Tage mitnahm in das Haus seiner Mutter. Wo stand dieses Haus? Wie war es? Unter trüben Schleiern seh' ich etwas Kleines und Ärmliches – graues Holz und weiße Mauern – eine steile geländerlose Stiege, winzige Stübchen, ein Dachkämmerchen, in dem ich friere, daß mir die Zähne klappern – und ein etwas größeres Zimmer, in dem unter sparsam brennender Lampe vier oder fünf Menschen mit ruhigem Geplauder um einen kleinen Tisch herumsitzen. Und dieser Tisch ist mit blauem Leinen gedeckt. – Mehr seh' ich nimmer. Doch [320] während ich mich zu erinnern suche, ist ein warmes und frohes Gefühl in mir, als hätt' ich mich vor vierzig Jahren glücklich und wohl befunden im kühlen, reinlichen Frieden dieses Hauses von irgendwo. –

Ich glaube, daß Rauner spät auf die Lateinschule kam und älter war als die Kameraden seiner Klasse. Oder vermute ich das nur? Weil dieser Student der dritten Gymnasialklasse meinen dreizehnjährigen Augen immer wie ein Greis erschien? Wie sah er aus? In Wirklichkeit? Seh' ich ihn mit der Erinnerung an die Abschiedsstunde, in der ich ihn liebte? Oder blieb in meinem Gedächtnis sein Bild aus jenen ersten Drillwochen, in denen ich ihn haßte, weil ich leiden und mich krümmen mußte unter seiner steinernen Strenge?

Ich sehe eine magere, lang aufgeschossene Gestalt mit den eckigen Bewegungen einer Holzpuppe – eine Gestalt, die immer den gleichen Rock und die gleiche Hose trägt. In einem faltigen, mit vielen Sommersprossen getüpfelten Gesichte blitzen die blauen, ernsten Augen; ein schmaler und harter Mund; wenn er spricht, bewegen sich die Lippen nur ein wenig, und man sieht nur ein ganz klein bißchen die weißen Zähne.

[321] War Rauner bei den Gymnasiasten nicht beliebt? Oder liebte er die Gesellschaft der anderen nicht? Während der Freizeit blieb er gern mit einem Buch an seinem Pulte sitzen; oder ich sah ihn im heiligen Hain an den Schweberingen turnen, während die anderen heimlich rauchten oder Tarock spielten; oder ich sah ihn einsam über die große Wiese wandern und stehen bleiben und eine Blume pflücken, deren Kelch er mit einem seinen Messerchen zerlegte.

In der ersten Unterrichtsstunde schwärmte ich für ihn, während der zweiten begann ich ihn zu fürchten, nach der dritten haßte ich diesen trockenen Quälgeist. Er machte mich ›büffeln‹, daß ich schwitzen mußte, und vergönnte mir keinen Atem freier Zeit, bevor ich nicht meine Arbeiten zu seiner Zufriedenheit erledigt hatte. War ich nachlässig, so bestrafte er mich unbarmherzig mit ›Pultarrest‹ und scharfer ›Karenz‹. Auch ohne mich strafen zu wollen, hatte er auf meine Mahlzeiten ein scharfes Auge; er sorgte dafür, daß ich mich nicht ›überfraß‹ – wozu ich immer gerne geneigt war, wenn ich mir ein paar Portionen des ›gelben Voressens‹ oder ein Dutzend Semmelknödel erschachern konnte. Es war das eine von seinen trocken dozierten Lebensregeln: »Eine Sau frißt, ein [322] Mensch nährt sich mit Maß und Ziel.« Damals dachte ich: sich nähren, darunter versteht er hungerleiden. Und als er dahinter kam, daß ich bei einer Geburtstagsfeier sieben Biermarken eingehandelt und beim Nachtessen sieben Krügl Bier getrunken hatte, gab er mir eine grobe Watsche, entzog mir auf vier Wochen das Taschengeld und ließ mich Abend für Abend ›gesundes Brunnenwasser‹ plempern. Da könnt ihr euch denken, wie wütend ich auf diesen ›Fadian‹ und ›Pedanten‹ war! Das Maß meines Ingrimms kam zum Überlaufen, als er mich am Pfingstsonntage – heute weiß ich nimmer, warum – zu ›großer Karenz‹ verdonnerte, d.h. zu völligem Entzug des festlichen Mittagsschmauses. Am Nachmittag schrieb ich diesem ›Tyrannen‹ einen empörten Brief – und schrieb, daß er sich nicht mehr zu bemühen bräuchte, da ich die Absicht hätte, mir einen anderen Instruktor zu nehmen. Ich weiß noch, daß in diesem Briefe refrainartig die Weisheit wiederkehrte: »Hunger tut weh!«

Vor dem Abendessen, während die anderen schon alle hinunterrannten ins Refektorium, befestigte ich diesen versiegelten Brief mit einem Reißnägelchen an Rauners Pult. Als ich zu spät in den Speisesaal kam, sah er mir mit bohrendem [323] Blick in die Augen. Oder redete mir das nur mein schlechtes Gewissen ein? Ich wurde von einer Verstörtheit befallen, die ich nicht schildern kann. Obwohl mir die Gedärme vor Hunger kullerten, brachte ich kaum einen Bissen hinunter. Ums Leben gerne wär' ich hinaufgerannt in den Studiersaal und hätte den verfluchten Brief wieder weggerissen von Rauners Pult. Doch als die Mahlzeit vorüber war, rannte ich wie ein Narr hinaus in den dämmerdunklen Garten.

Durchbrennen!

Seit anderthalb Jahren hatte ich diesen Erlösungsgedanken schon hundertmal geträumt. Und ganz genau wußte ich die Wege, die ich zu machen hatte. Jetzt ging ich sie ohne Besinnen. Durch den Gemüsegarten, wo ich den Hafen gefunden hatte! Nicht weit vom Gärtnerhause war ein großer Spalierbaum an der Mauer. Hinauf über die Latten! Von der letzten Leiste ein Affensprung – und ich hatte mit beiden Händen die Mauerkante erwischt. Draußen ein Sprung in die graue Tiefe. Und dann ein irrsinniges Rennen.

Als ich den Atem verlor und mich in einem Straßengraben hinhocken mußte, kam mir die Vernunft zurück. Rings um mich her die schwarzen Felder und hoch über mir die blitzenden Sterne[324] – die gleichen wie in Welden! Und Hunger hatte ich, daß mir fast übel wurde. Wo einen Bissen bekommen? Ich begann den unreifen Weizen zu kauen. Wo schlafen? Wie am Morgen den Kasse bezahlen? Und den Omnibus? Und die ›Eusebahn‹? – Mich durchbetteln? Das ginge wohl! Und den ganzen Weg bis Welden zu Fuß laufen? Aber daheim? Der Zorn des Vaters! Und die Augen der Mutter! Ihre Tränen! – Und da war ich schon umgekehrt und fing zu rennen an, bis ich die Seminarmauer erreichte. – Wie komm' ich aber jetzt hinein? – Herrgott, wo ist denn nur der Hase in den Garten gesprungen? – Ich fand die Stelle. Ein Sprung in den heiligen Hain hinunter! Und gerade konnte ich noch ins Haus schlüpfen, bevor der Tafeldecker das Gartentor zusperrte. Droben läutete schon die Schlummerglocke.

In dieser Pfingstnacht, als ich schwitzend in meinem Bette lag, hab' ich wieder einmal mit gläubiger Andacht gebetet. Und am Morgen schmeckte mir die verhaßte Brennsuppe wie eine süße Köstlichkeit des Lebens.

Während des zweiten Feiertages erwähnte Rauner mit keiner Silbe den Brief und tat, wie wenn nichts geschehen wäre. Am ersten Schultag, [325] abends um fünf Uhr, kam er wie gewöhnlich durch den Studiersaal I gegangen und winkte mir, zur Stunde zu kommen. Schwül schnaufend packte ich meine Bücher zusammen und folgte ihm. Ruhig erledigte er die Repetition; nur der Bleistift fehlte, mit dem er sonst während des Unterrichtes fortwährend zu spielen pflegte; statt des Bleistiftes drehte er zwischen den Fingern ein dünngerolltes Papier; und als die Stunde vorüber war, legte er das gedröselte Blatt als Merkzeichen in mein lateinisches Lesebuch. Dieses Blatt – das war mein Brief.

Durch viele Tage konnte ich meinem Instruktor gegenüber ein drückendes Gefühl der Beschämung nicht loswerden. Und dieses Gefühl verwandelte sich unmerklich in eine scheue, verehrungsvolle Zuneigung, obwohl Rauner seine Strenge von nun an eher verschärfte als milderte. Dieser Strenge war es zu verdanken, daß ich nach Schluß des Schuljahres glatt ›aufrücken‹ durfte und den Eltern ein recht passables Zeugnis mit heimbringen konnte in die glückselige Freiheit der Ferienzeit. Ich war unter sechsunddreißig Schülern der Achte geworden. Und unter meinen Noten prunkte sogar ein hochmütiger Einser.

Doch neben den paar guten Zeugnisziffern [326] hatte ich der strengen Aufsicht meines Instruktors noch etwas anderes zu verdanken, das für mein Leben viel wichtiger und nützlicher war, als es eine römische Zahl auf dürrem Papier zu sein pflegt. Bevor ich ein weiteres davon rede, muß ich von einigen Dingen erzählen, die wie dunkle Lebensgespenster an meinen erschrockenen Knabenaugen vorüberhuschten.

Das Seminar hatte eine Folterkammer. Aber da braucht ihr nicht gleich an den gespickten Hafen und an die eiserne Jungfrau zu denken, wie sie auf der Nürnberger Burg zu sehen sind. Die Folterkammer des Seminars war jener große leere Korridor zwischen dem Schlafsaal I der Lateinschüler und jenem Raume, für den die deutsche Sprache, obwohl sie schon ein paar Jahrtausende sucht, noch immer keine salonfähige Bezeichnung zu finden wußte. Dieser Raum hatte wieder eine zimmergroße Vorhalle, in der zu allen dunklen Stunden eine Hängelampe brannte – und unter diesem milden Ampelscheine führten drei schmale Türen zu den Zellen der Einsamkeit.

Doch ich höre meine Leser ungeduldig fragen: »Folterkammer? Wieso?«

Unter den vierzig Kameraden des Schlafsaales passierte es zuweilen einem verträumten Jungen, [327] daß er in der Nacht um eine wichtige Minute zu spät erwachte. Freilich sprang er dann flink aus dem Bett, wickelte sich etwas verstört in das rot oder blau passepoilierte Schlafröckerl mit den langen Quastenschnüren und wanderte dem milden Scheine der Ampel zu – obwohl es eigentlich gar nimmer nötig gewesen wäre. Begab er sich wieder zur Ruhe, so lag er für den Rest der Nacht höchst unbequem auf der Bettkante – war den Tag über sehr bedrückt und schwermütig – und merkte am Abend im Schlafsaal, daß seine geduldige Seegrasmatratze gegen einen fürchterlichen Strohsack vertauscht war. – Erster Grad der Folter. – Denn wenn der arme Junge, der doch wirklich nur das Opfer eines ›Traumes‹ geworden, sich nur ein bißchen rührte, fing der Strohsack zu rascheln an. Das hörte man im ganzen Schlafsaal, die heimliche Schande wurde offenbar, und bald von linksher, bald von rechtsher ließen sich deutlich und grausam allerlei termini technici vernehmen, die der gefolterte Schächer als schmerzende Kränkung empfinden mußte. Wie viel bittere Tränen mögen wohl in solchen Strohsacknächten auf die harten Kissen getröpfelt sein! Und die armen Jungen sahen acht Tage immer elend aus, weil sie in der Sonne dem Spott [328] nicht entrinnen konnten und in der Nacht nicht einzuschlafen wagten, um ja nur den gottverfluchten Strohsack nach der obligaten Strafwoche wieder loszuwerden.

Mißlang ihnen das, so kam der zweite Grad der Folter; sie durften, wenn sie ›rückfällig‹ wurden, nimmer im Schlafsaal bleiben; ihre Bettlade mitsamt dem unglücklichen Strohsack wurde in den großen öden Korridor hinausgestellt. Nun denkt euch, was für Nächte die kummervollen Einsiedler da nach allem Spott der Tage durchzumachen hatten! Denn bei manchen kam als dritter Grad der Folter noch die Gespensterfurcht hinzu – in diesem großen öden Raume, in dem die Mäuse knapperten und das Mondlicht durch die hohen Gitterfenster seine geheimnisvollen Milchfluten hereinschüttete.

Ich erinnere mich noch eines zwölfjährigen, mageren und kränklichen Jungen, der immer zitterte, keinem andern Buben mehr in die Augen schauen konnte, immer für sich allein blieb, immer ein mauerblasses Gesicht und den Blick eines verzweifelten Tierchens hatte. Der mußte viele Nächte da draußen schlafen in der Folterkammer.

Zuerst verhöhnte ich ihn geradeso, wie es die anderen gesunden und trocken schlafenden Bengel [329] taten. Aber dann bekam die Sache plötzlich ein neues, erschreckendes Gesicht für mich. Es war in einer Mondscheinnacht. Da mußte ich, nach rechtzeitigem Erwachen, mein grünverschnürtes Schlafröckle spazieren tragen. Und als ich in den Korridor kam, auf dessen Dielen die Mondflecken lagen, hörte ich ein merkwürdiges Geräusch, das mich an die Weiher auf dem Theklaberge und an einen fleißig singenden Frosch erinnerte. In einer Ecke des Korridors, vom Zwielicht der Mondnacht umdämmert, stand das Bett jenes blassen Jungen, der wieder für einen seiner chronischen Rückfälle büßen mußte – und jenes Geräusch, das ich hörte, war das Lallen seiner Stimme und das Klappern seiner Zähne. Er konnte doch nicht frieren? In dieser warmen Sommernacht? Mir hauchte etwas Kaltes an das Herz. Rasch ging ich an ihm vorüber. Doch als ich aus dem milden Scheine jener Ampel wieder heraustrat, mußte ich fragen: »Männdle, was tuescht du denn da?«

Er gab keine Antwort, murmelte nur und klapperte. Starr aufgerichtet saß er im Bette und hielt vor dem Gesicht die Hände auf eine merkwürdige Art gefaltet – nur die zitternden Fingerspitzen berührten sich.

[330] Es ließ mich nicht von der Stelle. Und ich mußte fragen: »Männdle, tuescht bete?«

Da sagte er in jagender Hast und mit einer Stimme, die ich im Leben nie vergessen werde: »Gott liebt mich nicht! Gott liebt mich nicht! Gott liebt mich nicht! Alle liebt er! Nur mich nicht ... michnicht ... mich nicht ...«

Stammelte ich ein barmherziges Wort? Ich weiß es nimmer. Doch als ich an sein Bett kam, umklammerte er mich, daß ich vor seiner Angst erschrak. – Dreißig Jahre später, als auf dem Starnbergersee bei grobem Sturmwetter mein Segelboot unterging, klammerte sich mein Matrose, der nicht schwimmen konnte, genau so an meinen Körper. Dem mußte ich einen Faustschlag aufs Hirndach geben, um ihn dann so lang über Wasser zu halten, bis ein Boot uns beide rettete. – Aber die Arme jenes verzweifelten Jungen auf dem Strohsack brachte ich nicht von meinem Körper los. Doch als die Schlafzimmertüre ging, stieß er selbst mich von sich fort, warf sich gegen die Mauer und zog die Wolldecke über den Kopf. Ich kehrte in den Schlafsaal zurück. Und der Schlafrockwanderer, der mir im Korridor begegnete, sah mich eigentümlich an – und lachte. Ich wußte nicht recht, warum? [331] Am anderen Morgen suchte ich auf dem Weg zum Klassenzimmer mit dem scheuen, blassen Jungen zusammenzutreffen und riet ihm, er sollte alles aufrichtig an seine Mutter schreiben. Das tat er wohl. Denn wenige Wochen später wurde er aus dem Seminar genommen.

Aber so oft ich dann den Korridor betrat, erwachte immer wieder in mir die Erinnerung an den singenden Frosch und an diese lallende Verzweiflung eines Kindes: »Gott liebt mich nicht! Gott liebt mich nicht!«

In einer Nacht, als mir beim ersten Schritt in den Korridor diese Erinnerung wieder kam, hörte ich leises Flüstern und Gekicher, dazu einen sachten, dumpfen unerklärlichen Lärm. Er kam aus jener Vorhalle, in der die milde Lampe brannte. Und als ich auf die Schwelle trat, erschrak ich, wie ich noch nie in meinem Leben erschrocken war – auch damals nicht, als dem Muckel und mir beim entzwei gefeilten Blitzableiter das grelle ›Himmelsfeuer‹ vor den Augen prasselte.

Dann lag ich wieder in meinem Bett. Und wußte nicht, wie ich in den Schlafsaal zurückgekommen war. Ich zitterte und hielt die Augen zugedrückt. Und obwohl dieses Fürchterliche in mir nicht ruhig werden wollte, begriff ich plötzlich [332] nimmer, warum ich eigentlich erschrocken war? So was hatte ich doch schon oft gesehen – nicht im Seminar – aber draußen im Dorfe. Und wenn wir Buben da, zu zwanzig und dreißig, unter der lachenden Sommersonne in der Laugna badeten – wenn wir Athleten spielten, miteinander rangen, uns haschten und balgten, uns splitternackt im Grase wälzten und mit den Füßen gegen die Sonne strampelten – da erschrak ich doch nie? Warum denn auch? Da war doch nie was ›Koinzes‹ und ›Keeles‹ dabei? Das war doch lustig und schön! Und draußen in der Militärschwimmschule an der Neuburger Donau, diese hundert nackten Jungen im Wasser und auf den Stegen – das war doch auch immer was Schreivergnügtes – so fidel, daß ich gleich in der ersten Schwimmstunde von der hohen Brücke heruntersprang und ertrunken wäre, wenn mich der Bademeister nicht mit der langen Stange herausgefischt hätte.

Warum nun ein solcher Schreck?

Durch viele Tage wurde ich diese scheue Verstörtheit nicht los. Rauner fragte immer: »Was ist denn mit dir?« Ich schüttelte den Kopf und schwieg. Er ließ das Fragen sein. Doch von dieser Zeit an hatte er nicht nur auf meine Schulhefte, sondern auch auf meinen Umgang ein wachsames [333] Auge. So oft ich eine neue Freundschaft schloß, die ihm nicht behagte, erledigte er die Sache mit einem kategorischen Wort; oder er nahm mich während der Freizeit mit in den heiligen Hain und erzählte mir so viel merkwürdige Dinge von Himmel und Erde, von Sternen und Blumen, daß ich aller Kameradschaften gern vergaß.

Hartnäckig wußte Rauner es immer zu verhindern, daß ältere Gymnasiasten jene vertrauliche Duzbrüderschaft mit mir schlossen, die man ›Bussasche‹ zu nennen pflegte. Dieser Name war mir lächerlich, und was er bezeichnete, das sah ich als homo novus mit verständnisloser Verwunderung an. Französisch verstand ich noch nicht; aber ich glaubte nicht falsch zu raten, wenn ich annahm, daß dieser wunderliche Terminus von dem deutschen Worte ›Bussi‹ herkäme. Denn häufig sah ich solch ein ungleiches Paar – einen langen Gymnasiasten und ein scheues Lateinerchen aus der ersten oder zweiten Klasse – sich in den Fensternischen der Korridore oder in einem Winkel des Gartens mit Liebkosungen regalieren, deren zärtliche Art meinem ländlich derben Knabensinne widerwärtig erschien. Was ein richtiger Bub ist, küßt doch nur seine Mutter! Freilich erkannte ich auch, daß solche ›Brüderschaft‹ im Seminar [334] ihre großen Vorteile haben konnte. Denn die kleinen Freundchen wurden von ihren langen Duzbrüdern auf den Spaziergängen, bei den Spielen und besonders im Speisesaal bei Verteilung der Portionen ersichtlich beschützt und bevorzugt. Wenn ich Karenz hatte oder auch ohne Karenz Hunger litt, erschien mir ein solches Protektorat, wenigstens für die Dauer der Mahlzeiten, als eine sehr nützliche Sache. Warum auch nicht? Für drei Portionen Rahmnudeln kann man sich schon – nicht gern, aber doch – ein paar ›Bussi‹ gefallen lassen. Aber wenn sich da, von meinem Hunger geknüpft, was anspinnen wollte, stand immer mein Instruktor als unverschiebbare Säule im Weg und spottete so bissig und so lange über meinen ›Verehrer‹, bis mir der präsumtive Protektor als eine komische Figur erschien, die man nur noch auslachen konnte – eine Heiterkeit, für die man zuweilen eine grobe Maulschelle bekam. Und dann war's natürlich aus mit aller Protektion beim ›gelben Voressen‹ und bei den ›Pavesen‹.

Das Gesicht dieser Dinge wurde für mich noch schleierhafter, als ich zu Beginn des dritten Schuljahres aus glückseligen Ferien in das Seminar zurückkehrte und mich in den Schlafsaal II versetzt fand. Zuerst machte mir diese Umquartierung [335] Freude. Mir war das so etwas Ähnliches wie ein Gefühl des Vorwärtskommens im Leben. Und meine Schlafstelle hatte überdies noch eine feine Lage – gleich das erste Bett bekam ich, bei der Tür zum Treppenflur, und neben einem großen Fenster, das ich in schwülen, beklemmenden Nächten heimlich öffnen konnte, um frische Luft hereinzulassen. Ich bekam darin eine katzenartige Geschicklichkeit: in schlaflosen Nachtstunden, die mich nach erquickenden Atemzügen dürsten machten, unmerklich aus dem Bett herauszuschlüpfen, die um einen fingerbreiten Spalt geöffnete Tür mit einer Drahtklammer festzuhaken und am Fenster die Läden und Scheiben ein bißchen aufzumachen und mit Korkstöpseln gegen den Zugwind zu verklemmen, so lautlos, daß von den dreißig Schlummerbrüdern dieses kleineren Schlafsaales keiner wach wurde. Die meisten schnarchten auch immer wie die Dachse. Manchmal das Ächzen einer Bettlade, ein beklommener Seufzer, schlaftrunkenes Lallen, ein Stöhnen wie aus quälendem Traum heraus – und wieder die stille Ruhe in dem matt erleuchteten Raum. Nur auf meinen Bettnachbar – es war ein kleiner, doch breitschultriger Bub, zwei Jahre älter als ich, wunderlich in seinem Wesen, so wortkarg und verschlossen, [336] daß ich ihn ›Philosoph‹ zu nennen pflegte – auf diesen Nachbar mußte ich bei meinen Luftmanövern an Tür und Fenster vorsichtig aufpassen, weil er einen leichten Schlaf hatte und immer gleich die Augen aufmachte, wenn etwas zu hören war. Und dieser Nachbar wollte es im Schlafsaal immer schön warm haben. Über jedes Zuglüftchen schalt er.

Ich war da sein Widerspiel. Wenn ich nicht schlafen konnte, und es strich die herbstlich kühle Nachtluft gegen mich her und streichelte mir lind die heißen Wangen, da wurde ich immer gleich ein bißchen ruhiger, und schließlich fielen mir die Augen zu, so daß ich bis zum Morgen einen festen Schlaf hatte. Ein paar Tage war's dann wieder gut. Doch immer häufiger kamen Nächte, in denen ich das lautlose Luftmanöver bei Tür und Fenster machen mußte.

Am Tage war mir dann immer zumute, als hätte ich Blei in den Gliedern. Die Arbeit wurde mir schwer. Und obwohl Rauner sich alle Mühe gab, mich ins Geleise zu bringen, ging's mir in der Schule nicht sonderlich gut. Namentlich das Griechische bereitete mir ernstliche Schwierigkeiten. Wir hatten wieder den Professor Binhack, der als Lehrer in die dritte Klasse aufgerückt war. [337] Ich gab ihm Ursache zu allerlei spöttischen Predigten. Und wenn er meine ›unleugbare Begabung‹ mit meinen ›niederträchtigen Leistungen‹ verglich, dann pflegte er, mit einer Anleihe bei Müllner, gerne dieses Sprüchlein an mich zu richten:

»Erkläret mir, Graf Ganghofur,
Diesen Zwiespalt der Natur?«

Obwohl ich keinen Laut der Klage heimschrieb, färbte doch die Stimmung dieser Tage auf meine Briefe an die Eltern ab. Es kamen lange, besorgte Episteln der Mutter. Und ihre hundert guten Worte sagten immer wieder dies eine: »Sei nicht verstockt, lieb Kind! Und wenn dich etwas bedrückt oder quält, so schreib's deinem Mutterle offenherzig!«

Nein! Das konnte ich der Mutter nicht schreiben! – Und schließlich glaubte ich allen Ernstes, daß ich krank wäre; fand aber doch nicht den Mut, mich meinem Instruktor anzuvertrauen oder zum Seminardoktor zu gehen. Manchmal wollt' ich es tun. Doch es ging mir mit meinem Leiden, wie es mit dem Zahnweh geht. Bevor du beim Zahnarzt die Glocke ziehen konntest, ist aller Schmerz verschwunden. Freilich, dann kommt er wieder.

In einer Nacht, die mich wieder einmal nicht [338] schlafen ließ, hörte ich plötzlich den ›Philosophen‹ tuscheln: »Du! Was hast du denn?«

Ein flüsterndes Gespräch begann, während wir uns aus den Betten hinausbeugten, fast Gesicht an Gesicht. Und da fand ich den Mut, ihm ehrlich meine wunderlichen Schmerzen zu sagen. Er kicherte. Und gebrauchte merkwürdigerweise ein Lieblingswort meines Vaters: »Du Kamel!« Dann sagte er mir mit allerlei philosophischen Ausdrücken, daß ich gar nicht krank wäre, sondern sehr gesund; und das wäre eine ganz natürliche Sache, die bei jedem gesunden Jungen einmal ihren Anfang nehmen müßte.

»Bei jedem? ... Hascht denn du das auch?«

»Aber selbstverständlich! Oft!«

Diese Aufklärung beruhigte mich. Und ganz gut begriff ich das: wenn ein Mensch in gesundem Wachstum ist, so muß doch alles an ihm wachsen. Und nun konnte ich prächtig schlafen. Konnte am Tage wieder arbeiten, konnte lachen und froh sein.

In einer Nacht erwachte ich plötzlich, wie von brennendem Feuer geweckt. Ich empfand einen grauenvollen Schmerz und glaubte eine Hand an meinem Körper zu fühlen. Schreiend stieß ich mit den Füßen zu – und während ich dann in [339] halber Bewußtlosigkeit dalag, war mir, als würden viele Schlafsaalkameraden wach und als hörte ich sie fragen: »Was ist denn? Wer hat denn so geschrien?« Eine Stimme: »Wird halt einer geträumt haben!« Und eine andere Stimme: »Silentium in cubiculo!« Und das alles ferne, wie unter schweren Schleiern. Jetzt wieder die Ruhe. Schlaf' ich? Oder bin ich wach? An meinem Hals ein wildes Hämmern in den Schlagadern. Ein Sausen in meinen Ohren. Doch im Schlafsaal ist alles ruhig. Die Lampe brennt, ich sehe die weißen Betten, sehe das Kupfer des Waschtisches blinken wie rotes Gold. Und der ›Philosoph‹ in seinem Bette schnarcht.

Ich muß wohl geträumt haben – einen schweren, fürchterlichen, ›keelen‹ Traum?

Schweißtropfen standen auf meiner Stirne. Dann kam ein dumpfer Schlaf.

Was war das nur?

Ich hatte seltsam schwermütige Tage und ruhelose, verstörte Nächte. Und noch in der gleichen Woche begann dieses Unheimliche in mir.

In einer Nacht erwachte ich. Finsternis war um mich her. Und es fror mich. Und ich sah keine Lampe, kein Bett, kein blinkendes Kupfer. War das wieder ein Traum? Aber deutlich [340] fühlten meine Hände das harte Holz vor mir. Und langsam erkannte ich viele dämmerige Vierecke – die großen Fenster. Nur mit dem Hemd bekleidet, saß ich im Studiersaal vor meinem Pulte. Ein Schreck befiel mich, den ich nicht schildern kann. Ich rannte verstört die Treppe hinauf, warf mich in mein Bett und zitterte. –

In einer Nacht erwachte ich. Finsternis war um mich her. Wieder fror mich. Und ich glaubte wieder vor meinem Pult zu sitzen. Nein, ich stand. Aber meine Hände fanden kein Holz, meine Augen fanden die grauen Fenster nicht. Und als ich mich bewegte, stieß mein Kopf gegen etwas Hartes. Ich gewahrte einen matten Lichtschimmer. Als ich auf ihn zuging, kam ich aus irgend einem finsteren Raume in den matt erleuchteten Treppenflur. –

In einer Nacht erwachte ich. Mich fror. Aber graue Dämmerung war um mich her, und viele Sterne funkelten über mir. Ich saß auf dem Schindeldach der Kegelbahn. Auf den Boden hinunter war's kein hoher Sprung. Aber die Kieselsteine des Seminargartens zerstachen mir die nackten Sohlen. Und als ich ins Haus wollte, fand ich das Tor verschlossen. Gott Jesus, wo bin ich denn nur herausgekommen? Irgendwo fand ich ein offenes Fenster – und kletterte hinein [341] ins Haus. Und lautlos hinauf in den Schlafsaal! Neben meinem Bette stand das Fenster geöffnet – und da draußen, glaub' ich, war ein Blitzableiter. –

Den ganzen Tag zermarterte ich mein Gehirn, um einen Weg zu finden, auf dem ich der Angst vor diesem Fürchterlichen entrinnen könnte. Ich wagte mich keinem Menschen anzuvertrauen – aus Furcht vor dem Spott der anderen, aus Furcht – ich weiß nimmer, was ich alles fürchtete! Und am Abend nahm ich von Mutters Garnknäueln einen mit hinauf ins Bett, knüpfte mir zwei doppelte Zwirne um die Handgelenke und band die Enden um die Knäufe der Bettlade. In der Nacht, als ich wieder wandern wollte, spürte ich den Zug von Mutters Fäden und erwachte.

Dann kam es nimmer. Ich war geheilt. Und durfte dazu noch zwei gemütliche Wochen verleben – allerdings im Krankenzimmer. Um mir festen Schlaf zu verschaffen, turnte ich immer wie ein Narr. Eines Tages bekam ich von der Reckstange große Blasen an beiden Händen. Ich zwickte sie mit den Fingernägeln auf, riß die lose Haut ab, rieb die Hände mit Loh ein und turnte weiter. Am anderen Tage sah meine rechte Hand [342] wie ein blau gebratener Apfel aus. »Blutvergiftung!« sagte der Doktor. Und so kam ich ins Krankenzimmer. Ein paar Tage stand die Sache sehr bös. An meiner Hand wurde geschnitten und gebrannt – noch heute hab' ich die Narben. Aber mein ›gesundes Turnerblut‹ riß mich wieder durch. Und dann war's gemütlich in der warmen Stube und bei guter Kost. Täglich kam Rauner für einige Stunden, um das Schulpensum mit mir durchzunehmen. War die Arbeit erledigt, so schwatzten wir heiter, während draußen die Flocken um das Fenster wirbelten. Ich kann euch nicht sagen, wie wohl mir in diesen Stunden war! Und der Schmerz an meiner kranken Hand wurde immer gleich ein bißchen leichter, wenn mir Rauner mit der Herzlichkeit eines älteren Bruders den Verband streichelte.

Auch meine Klassenkameraden besuchten mich und trieben lustigen Unsinn vor meinem Bett. Nur der ›Philosoph‹ ließ sich niemals blicken. Deswegen wurden wir beide ›faschee‹. Oder aus einem anderen Grunde? Ich mag's nimmer wissen. Wir beide blieben einander fremd durch anderthalb Jahre, bis zu meinem Abzug von der Lateinschule.

Nun brauchte Rauner meinen Umgang nimmer zu überwachen. Von jetzt an wußte ich selber, [343] mit wem ich Freund sein mochte und von wem ich mich fern halten mußte. Und es gilt nicht nur von meinen Händen, wenn ich rekapituliere: es war mir ein Tröflein Gift ins Blut geraten, aber meine glücklich geartete Natur überwand es – und ich blieb gesund.

Und doch begann gerade in dieser Woche des Genesens ein heißer und wunderbarer Fiebertraum meine dreizehnjährige Seele zu befallen.

[344]
Fußnoten

1 Zwischen diesen zwei Dialektworten, obwohl sie alle beide den Begriff des Häßlichen bezeichnen, ist ein feiner Unterschied; ›keel‹ bedeutet die Häßlichkeit der äußeren Form ›koinz‹ die Häßlichkeit der inneren Qualität; ein häßliches Gesicht ist ›keel‹, ein Mensch von schlechtem Charakter ist ein ›koinzer‹ Kerl.

7.
VII.

Während der Tage, die ich im Krankenzimmer verbringen mußte, besuchte mich auch der hochwürdige Unschlacht häufiger, als mir lieb war. Er zwickte nimmer. Doch mit dem Anschein freundlicher Sorge fühlte er gerne, ob ich auch ›warme Füße‹ hätte. Mir wurde immer unbehaglich zumute, wenn ich draußen im Korridor seinen schweren Schritt heranpumpern hörte. Aber ich hatte da, ähnlich wie Professor Loher, eine zweifache Seele. Bei allem Unbehagen wartete ich doch auch mit Ungeduld auf den Besuch des Unschlacht, weil er mir Bücher aus seiner Bibliothek zum Lesen brachte. Dabei richtete er sich ganz nach meinem Geschmack. Und weil ich eine wachsende Vorliebe für Theaterstücke bekam, brachte mir schließlich der Unschlacht nur noch Dramenbücher. Brennende Seligkeiten begannen da in [345] meinem Herzen und in meinem Blut zu zittern und zu träumen. Doch mein Instruktor Rauner nahm mir die geliebten Bücher immer wieder weg und legte mir die Schulhefte auf die Bettdecke. Ich erinnere mich, daß er sagte: »Geh, das verstehst du ja noch net!« Es war aber schon Feuer in mir, und ein Same begann zu keimen. Allerlei Gestalten gaukelten durch meine schwül geheizte Phantasie: Brutus, Catilina, Alba, Gottfried von ›Bullion‹ – (ich wußte nicht genau, wie der Name meines Helden geschrieben wurde) – Anakreon und Polykrates. In einer schlaflosen Nacht, während mir in der eiternden Hand der Blutschlag tobte, befiel mich der Gedanke, eine nationale Trilogie zu dichten! ›Heinrich der Deutsche!‹ Sie sollte aus den drei Dramen bestehen: ›Heinrich das Kind‹ – ›Canossa‹ – und ›Heinrichs Tod‹. Aber dann wurden mir alle klassischen Träume und alle Gestalten der Vergangenheit plötzlich beiseite geschoben durch einen ›modernen Stoff‹. Ich weiß nimmer, wie mir diese verdrehte Sache in das verdrehte Köpfl fiel? Vielleicht war's die Nachwirkung eines Spielhagenschen Romanes, den ich während der vergangenen Sommerferien in einer Zeitschrift gelesen hatte, die meine Eltern hielten. Oder wuchs mir dieser [346] Stoff aus den knabenhaft feurigen, aber auch kindlich verschrobenen Debatten heraus, die wir in unserer ›Holzburg‹ zu führen pflegten, um uns für die ›Befreiung der Menschheit‹ vorzubereiten?

Ich war mit keinem bewußten Gedanken bei dieser Arbeit, hatte nie das Gefühl, daß ich etwas ersinnen müßte, sondern lag nur immer mit geschlossenen Augen da, schwer atmend – und dann kamen diese leuchtenden Bilder und diese verklärten Menschen zu mir. Als ich aus der Spitalstube entlassen wurde, fing ich zu schreiben an – mit der Hand, die noch nicht ganz geheilt war. Ich schrieb während der Studierstunden, schrieb in den Freizeiten und schrieb während des Unterrichtes in der Schule. Die Reinschrift malte ich in ein schwarzgebundenes Heft mit rotliniertem Papier. Nach drei Wochen war das ›Erlösungsdrama‹ vollendet. Es hieß: ›Mathilde – oder die Insel der Seligen‹. Woher ich den Namen der Heldin nahm? Mathilde? Ich vermute, daß ich diesen Namen von Nagelschmieds Mathild entlehnte, die ja solch ein stilles, schlankes, blasses, traumäugiges Menschenkind war, wie ich mir meine Heldin vorstellte. Der Name des ›Schurken‹, der diese ›edle, reine Seele‹ in unglücklicher Ehe gefangen hielt, und der Name des Helden, der [347] die Geknechtete erlösen mußte, ist in meinem Gedächtnis erloschen. Ein Ehebruchsdrama! Und ich dreizehnjähriger Junge wußte noch gar nicht, was Ehebruch war! Ich schrieb das Drama einer Ehe, die zerbrach, ohne daß sie gebrochen wurde. Es kam auch in dem ganzen Stücke kein Wort von Liebe vor! Für so etwas Minderwertiges war in meiner Dichtung kein Raum. Es handelte sich hier um viel höhere Dinge! Um die Erlösung einer geknechteten Seele, um Freiheit und Menschenwürde, um die Gründung eines geläuterten Lebensreiches! Der Held erkennt die gräßliche Sklaverei des edlen Weibes, er leidet mit seiner ›Schwester im Geiste‹, will sie befreien, entführt sie mit kühnem Mute, tötet den schurkischen Gatten im Duell, ›obsiegt‹ allen philiströsen Widerständen und zieht mit der erlösten Dame zur grünen Insel der Seligen, um in Freiheit ein neues, edleres Menschengeschlecht zu begründen! Über die Art und Weise, wie der Held dieses vorgesteckte Ziel erreichen würde, war ich einigermaßen im unklaren. Das Drama endete also mit einem Fragezeichen und hatte einen ›problematischen Schluß‹ – wie man das heutzutage nennen würde. Auch in der Technik war es der Zeit seiner Entstehung weit voraus. Das lange Stück [348] hatte nur drei Personen; und jeder Akt bestand fast nur aus einer einzigen Szene. Ungefähr vierzig Jahre später hat mir Gabriele d'Annunzio das nachgemacht – womit ich aber nicht behaupten will, als hätte dieser feurige Italiener an mir ein Plagiat begangen. Denn das Manuskript meiner ›Mathilde‹ war schon aus der Welt verschwunden, als Gabriele d'Annunzio noch die geschlitzten Höschen trug. Was aus dem schwarzgebundenen Heft mit dem rotlinierten Papier geworden ist? Sicher weiß ich es nicht. Aber ich habe meine gute Mutter im Verdachte, daß sie die ›Mathilde‹, die sie während der Sommerferien 1868 in meinem Koffer fand, den ›läuternden Flammen‹ des Kochherdes übergab. Eingestanden hat sie mir das freilich nie. Aber gelesen hat sie mein Werk. Denn viele Jahre später sagte sie einmal zu mir: »Ach, Bub, weißt du ... sooo, wie über dein Trauerschpiel ›Mathilde‹, so haben der Papa und ich im Leben noch nie gelacht! Ordentlich gescheppert hawe mer vor Lachen!«

Als die Mutter das sagte, konnte ich mitlachen. Aber dabei dachte ich doch auch mit ein bißchen Wehmut an die fiebernde Begeisterung zurück, in der ich die Mathilde ›geschaffen‹ hatte.

[349] Durch drei Wochen war ich damals wie ein Betrunkener, der keine Ernüchterung kennt. Und ich kann euch die Freude nicht schildern, mit der ich unter die letzte Zeile der Reinschrift das Wörtchen »Finis« setzte, das ich mit roter Tinte prachtvoll umschnörkelte. Wie ein kostbares Kleinod hütete ich das schwarzgebundene Heft, hielt es unter meiner Wäsche versteckt und nahm es nur heraus, wenn ich vor jeder Störung sicher war. Keinen meiner Kameraden ließ ich hineingucken, keinem las ich eine Zeile vor. Es hätte mich ja keiner ›verstanden‹! Seit dem Hexameter vom fleißigen Schindeldecker war ich mißtrauisch gegen das ›Urteil der Menge‹ geworden.

Während dieser ›literarischen Epoche‹, in der die ›Insel der Seligen‹ entstand, bekam mein Fortgang in der Schule höchst bedenkliche Krebsfüße. Freilich hielt mich Rauner zur Not über Wasser – will sagen: oberhalb der Note IV. Aber weil sich mein Instruktor auf sein Absolutorium vorbereiten mußte, blieb ich mehr als sonst mir selbst überlassen. Nach der Geburt der Mathilde fühlte mein Geist das Bedürfnis, sich auszuruhen. Ich machte mir's in der Schule so bequem wie möglich und war in den Freizeiten der Übermütigste unter den tollenden Jungen.

[350] Streich um Streich wäre da zu erzählen. Und endlich brachte mich eine abenteuerliche Geschichte nach vielen Pult- und Klassenarresten auch in den richtigen Karzer, der unter gewöhnlichen Umständen für die Lateinschüler ein ›fernes Land‹ war, doch ›ein Ziel, aufs innigste zu wünschen‹. Denn wer im Karzer gesessen hatte, trug für unsere seminaristische Weltanschauung so etwas wie ein Adelszeichen auf der Stirne.

Ein großer Dichter behauptet, daß alle menschlichen Taten, ob sonnig oder dunkel, emporgestiegen kämen aus den beiden Lebensbrunnen Hunger und Liebe. Die Liebe war mir noch eine fremde Sache – doch eine sehr vertraute war mir der Hunger. Wir wurden im Seminar durchaus nicht knauserig gehalten. Aber ich hatte immer mehr Hunger, als der ordnungsgemäße Durchschnitt das erlaubte. Und diese knurrende Sehnsucht brachte mich auf einen herrlichen Einfall.

Im Seminargarten, nicht weit von der Kegelbahn, erhob sich das Backhaus, in dem jede Woche zweimal dieses viele Brot für hundertfünfzig Mäuler gebacken wurde – für Präfekten, Seminaristen und Dienstleute. Aus den vergitterten Fenstern strömte da immer an den Backtagen ein seiner, lockender Duft heraus, der nicht nur mich, [351] wohl auch noch manch ein anderes kleines, hungriges Kerlchen von einer schlaraffischen Stunde träumen ließ, in der man sich einmal gründlich satt essen könnte. Wenn auch nur an frischgebackenem Brot! Es muß ja nicht immer Emmentaler Käse sein! Oder Schokolade! Denn in einem Briefe, den einer der Präfekten 1867 an meinen Vater schrieb, steht zu lesen:

»Damit Sie auch wissen, auf welche Weise Ludwig das Geld hinauswirft, so muß ich noch folgendes beifügen. Herr Rektor erfahren gestern durch jemand, daß ein Seminarist an einem Tage für einen Gulden Chocolat eingekault habe. Und es stellte sich leicht heraus, daß Ludwig es war, welcher an jenem Tage so viel davon geschleckt hat, daß es ihm unwohl wurde, und daß er bei Tische nichts mehr essen konnte. Er weiß eben das Geld gar nicht zu schätzen und meint, die Leute hätten es nur, um es auszugeben.«

Nun lacht ihr wohl? Aber dieser Briefstelle muß ich einen Nachsatz geben. Ich besitze noch die vom Seminar-Administrator ausgestellte ›Privat-Abrechnung für den Zögling Ludwig Ganghofer auf das Jahr 1868/69‹. Laut dieser Abrechnung betrug mein Taschengeldverbrauch während [352] des ganzen Jahres die Riesensumme von 7 Gulden 30 Kreuzern.

Diese Abrechnung ist noch aus anderen Gründen merkwürdig, charakteristisch für eine vergangene Zeit. Sie lautet:


Klassengeld  8 fl. 24Kr.
Taschengeld  7 fl. 30.Kr.
Dem Apotheker  – fl.  – Kr.
Dem Haarschneider  3 fl. 24Kr.
Für Bücher16 fl. 57Kr.
Für Schreibmaterial  9 fl. 24Kr.
Für Zeichnungsmaterial  3 fl. 20Kr.
Für Musikalien  1 fl. 33Kr.
Dem Schuhmacher  6 fl. 34Kr.
Dem Schlosser  4 fl. 16Kr.
Dem Schneider  8 fl. 27Kr.
Dem Zinngießer  1 fl.   3Kr.
Für Wäscherlöhne  3 fl. 41Kr.
Für Porto-Auslagen  3 fl.   9Kr.
Pedellgebühren  1 fl. – Kr.
Für Tinte und  – fl. 291/4Kr.
    Stiefelwichse
Bibliothekbeitrag  – fl. 30Kr.
Für den Schwimm-Unterricht  1 fl. 15Kr.
    Dem Buchbinder
(hierunter zwei Album!!)  8 fl. 10Kr.
89 fl.   61/4Kr.

Der Administrator verrechnete sich bei dieser Addition um einen Kreuzer, denn er brachte nur 89 Gulden 51/4 Kreuzer heraus. Wie muß er [353] sich den Kopf zerbrochen haben, als ihm die Seminar-Bilanz auf das Jahr 1868/69 um diesen unglückseligen Kreuzer nicht stimmte! Ich glaube, daß er schlaflose Rächte hatte. Und nun hab' ich, nach vierzig Jahren, seinen Rechnungsfehler klargelegt. Wenn ich's dem Administrator zu seiner Beruhigung nur noch hinübermelden könnte ins bessere Jenseits! – Oder habe vielleicht ich mich verrechnet? Es wäre nicht das erstemal.

Zu obiger Summe kam noch:


Einstandsgeld  2 fl. 42Kr.
Kostgeld (bei90 fl.  –Kr.
halbem Freiplatz)
Meubel-Beitrag  – fl. 90Kr.
94 fl. 12Kr.

Rechnet man für Reisegeld und für Anschaffungen, die daheim gemacht wurden, noch 30 Gulden hiezu, dann betrug mein Jahresverbrauch als Lateinschüler im Durchschnitt etwa 210 bis 220 Gulden. Später gings freilich höher hinauf!

Ein jährliches Taschengeld von 7 Gulden 30 Kreuzer! Da gab's wohl viele Wochen mit leerem Geldbörsle – Wochen, in denen man sehnsüchtig von einem heimlichen Bissen träumte! Und kam dann der silberne Regen – wie er mit den vier Garnknäueln der Mutter gekommen war – so wurde solch ein ewig hungerndes Kerlchen [354] über Nacht zum Lebemann und kaufte und fraß für einen Gulden Emmentaler Käse, für einen Gulden ›Chocolat‹. Begannen die Hungerzeiten wieder, so kam man schließlich auch auf den karzerwürdigen Einfall, neugebackenes Brot zu stehlen.

An der Backstube befand sich, halb in den Boden versenkt, eine Ausgußröhre. Die war nicht viel weiter als ein enger Fuchsbau. Aber in der aufregungsvollen Zeit, in der ich die ›Mathilde‹ dichtete, war ich – ohnehin schon ein schlanker Bub – noch schrecklich mager geworden. Und so war's keine völlig aussichtslose Sache, wenn ich mir dachte: ob man nicht durch diese Ausgußröhre in die versperrte Backstube hineinkriechen und einen Brotlaib herausholen könnte? Das Unternehmen gelang. Doch während ich dann in der Holzburg saß und zusammen mit den Bundesbrüdern den herrlichen, noch ein bißchen warmen Brotlaib verschnipfelte, war mir in allen Knochen ein Gefühl, als hätte mich eine Boa constrictor im Halse gehabt. Durch einige Wochen wurde dieses Schlupfmanöver an jedem Backtag glücklich ausgeführt, sobald der Bäcker die Backstube versperrt hatte und davongegangen war. Schließlich begnügten wir uns nicht mehr mit einem Brotlaib. Drei oder vier Laibe schob ich [355] immer aus der Stube heraus, bevor ich ins Freie schlüpfte. Aber diese Fuchsbewegung wurde von Woche zu Woche immer schwieriger – weil ich besser genährt war. Wir Brüder hatten droben im Studiersaal die Pulte immer angepackt mit Brot und kauten bei Tag und Nacht.

Merkte man den Abgang in der Backstube? Und paßte man auf? Oder war's ein Zufall, daß in der abendlichen Freizeit, als ich wieder einmal mühsam durch die Ausgußröhre ins Schlaraffenhaus hineingekrochen war, der Herr Präfekt bei gemütlichem Auf-und Niederwandern sein Brevier gerade in der Nähe des Backhauses beten mußte? Immer wieder hörte ich den Warnungspfiff, der bedeutete: »Hannibal ante portas!« Auf die Dauer wurde mir dieses Warten in der Backstube langweilig. Ich zog, um mir die Zeit zu vertreiben, meinen Taschenfeitl heraus, begann an einem Laib zu schnipfeln – und speiste und kaute und schluckte mit Behagen. Als ich endlich das erlösende Pfiffzeichen hörte, läutete auch schon die Glocke zur Studierzeit. Hurtig schob ich drei Laibe durch die Röhre hinaus – aber da draußen war schon alles mäuschenstill – und als ich hinausschlüpfen wollte, kam ich nur mit dem Kopf ins Finstere und blieb mit der Nabelgegend im Rachen [356] der Steinröhre stecken. Der halbe Brotlaib, den ich aus Hunger und Langweile verschlungen hatte, spreizte sich gegen meine Befreiung. Ich arbeitete wie ein Irrsinniger; doch weil ich auf dem glatten Pflaster der Backstube keinen Widerhalt für die Füße fand, kam ich keinen Ruck mehr vorwärts – und durfte froh sein, als ich endlich die Erlösung nach rückwärts erkämpfte. Abgezappelt, dampfend von Schweiß und der übelsten Dinge gewärtig, saß ich in der dämmerigen Backstube – und hatte keine Luft mehr, Brot zu schnipfeln.

Droben im Studiersaal machte natürlich mein leerer Platz von sich reden. Aber die Brotbrüder schwiegen. Und so mußte sich der Präfekt mit dem Tafeldecker auf den Weg machen, um mich zu suchen. Abends um neun Uhr fanden sie zuerst die drei Brotlaibe, die draußen vor der Röhre lagen, dann mich in der Backstube und zwar schon ein bißchen schlanker.

Am folgenden Tage hielt man peinliches Gericht und verdonnerte mich zu zwölfstündigem Karzer. Und da wurde meine Vorliebe für mechanische Betätigungen die Ursache einer höchst merkwürdigen Diagnose.

Für den Karzertag armierte ich mich wie für eine Reise nach unerforschten Ländern. Was ein [357] Bub nur an heimlichen Instrumenten besitzen kann, versteckte ich unter meinen Kleidern. Und von den Kameraden pumpte ich einen Gulden und etliche Kreuzer zusammen, weil die Sage ging, daß der Pedell – vulgo ›Pudel‹ – für einen vorsichtigen Bestechungsversuch nicht unzugänglich und nach sanfter Einreibung wohl geneigt wäre, dem schmachtenden Häftling einen verschluckbaren Trost zu reichen. Aber mein freundliches Angebot wurde vom Pudel, der mich um acht Uhr morgens in den Karzer führte, mit Entrüstung zurückgewiesen – es zeigte sich, daß er mir die Pedelliade noch immer nicht verziehen hatte. Talent bringt Leiden!

Da saß ich nun – draußen drehte der Pudel den Schlüssel im Schloß herum – und ich sollte durch zwölf Stunden hungern.

Es ist unerläßlich, den Situationsplan des Karzers genau zu zeichnen. Den Fenstern des Speisesaales gegenüber und neben dem Tor des Ökonomiehofes lag die Badestube. Sie war auch zugleich die Vorhalle des Karzers. Und dieses Gefängnis war ein dämmeriger Raum, vier Schritte breit, acht Schritte lang, mit einem kleinen und hochliegenden Fenster, das von einem dicken Drahtgeflecht verschlossen war.

[358] Wer will nun raten, wie ich aus diesem Katzer hinauskam und meinen Hunger stillte?

Aber wollt ihr zuerst noch wissen, wie dieser Salon möbliert war? Es stand da ein hölzerner Tisch, ein hölzerner Sessel, der eiserne Ofen und in einer dunklen Ecke der unentbehrliche Verzweiflungsthron.

Ich packte meine Instrumente aus den heimlichen Taschen heraus. Zuerst studierte ich die geistvollen Inschriften, die zahlreich das Mauerwerk bedeckten. Und vermutlich hab' ich diese Urkundensammlung um einige Weisheitssprüche bereichert. Dann schnitt ich meinen Namen in den Tisch und verzierte den Sessel so ähnlich wie seinerzeit die Kirchenväter des Benefiziaten. Hierauf unternahm ich das schwierige Werk, den eisernen Ofen zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen. Nicht nur schwierig, auch schmierig war dieses Unternehmen. Ich sah fürchterlich aus. Und während ich meine schwarzen Hände an der Mauer abklatschte, begann im Refektorium drüben das Klapperlied der Zinnteller und das Stimmengesumm der hundert Jungen, die nun essen durften.

Ich rüttelte wütend an der Karzertür und versuchte meinen ganzen Werkzeugkram an diesem festen Schlosse. Nichts half. Doch plötzlich [359] machte ich eine Entdeckung: draußen steckte der Schlüssel im Schloß – der Pudel hatte nicht nötig gehabt ihn abzuziehen, weil das schwere Vorhängschloß vor der Badezimmertüre für alle Sicherheit des Häftlings garantierte. Von dem Schlüssel aber, der im Schloß der Karzertüre träumte, guckte noch ein winziges Zipfelchen zu mir in den Karzer herein. Und da faßte ich dieses Zipfelchen mit meiner Zwickzange – drehte den Schlüssel herum – und die Türe war offen. Draußen in der Badestube brauchte ich nur das Fenster aufzumachen – und ich erinnere mich noch, daß dieses Fenster Milchgläser mit blauen Blümchen hatte. Zwischen den Gitterstäben war leicht hinauszuschlüpfen. Hundert Panthersprünge durch den großen Ökonomiehof – niemand hatte mich gesehen – und nun war ich draußen in der Stadt. Da kam ich aber nun wirklich in ein ›unerforschtes Land‹. Denn das kleine Wirtshaus, das dem Seminar gegenüberlag, hatte den Namen: ›Die neue Welt‹.

Vor vierzig Jahren konnte ein Studentlein sich mit einem Gulden und etlichen Kreuzern nicht nur satt essen, sondern auch noch ein Räuschlein kriegen. Ein festes! So hell blieb ich aber immer noch, daß ich unerwischt den Rückweg fand, das Badstubenfenster[360] schön verschloß und mit der Zwickzange den Schlüssel in der Karzertüre wieder umdrehte, um mich einzusperren. Auch mit meinen Werkzeugen muß ich irgend etwas gemacht haben – irgend etwas Unerklärliches – denn diese seinen Instrumente sind niemals wieder zum Vorschein gekommen. Die Erinnerung an die Abendstunden meiner Karzerhaft ist eine dunkle Sache. Und schließlich kam so was ähnliches, wie vor dem Typhus auf dem Theklaberge. Ich sah die blauen und gelben Kreise tanzen, sah den eisernen Ofen laufen und dann wurde alles schwarz vor mir.

Als ich die Augen wieder aufschlug, lag ich im wohlbekannten Krankenzimmer unter der Lampe – Präfekt und Tafeldecker waren da – und der Seminardoktor sagte stolz: »Er atmet! Ich hab' ihn wieder zum Leben gebracht! Alle Gefahr ist vorüber.«

Weil sich niemand denken konnte, daß ich aus dem Karzer herausgekommen wäre – und weil in den Kamin der Badestube und des Karzers noch die Röhre von einem Herdfeuer des Ökonomietraktes mündete, drum hatte der Doktor die einzig wahrscheinliche Diagnose gestellt: Kohlenoxydgasvergiftung! Und hatte solange Wiederbelebungsversuche und künstliche Atmung mit mir [361] vorgenommen, bis meine umschleierte Seele wieder zum Leben erwachte.

Ich durfte mich drei Tage im Krankenzimmer bei Präfektenkost erholen.

Für meine nächsten Streiche bekam ich Klassenarrest – und wurde erst wieder in den Karzer gesperrt, als die Sache mit dem Kamin in ungefährlicher Ordnung war. Aber jetzt hatte ich keine Zwickzange mehr. Und mit den Zähnen war das Schlüsselzipfelchen nicht zu fassen.

In dieser Epoche hatte der ›Pudel‹ so viel mit mir zu schaffen, daß ich ihn nochmals verewigen mußte. Einem meiner Klassenkameraden, dem Gottfried Mayrhofer, schrieb ich diesen Vers in das Stammbuch:


»Hafen, Füchse und Studenten

Haben gleiches Ungemach:

Jenen laufen stets die Jäger,

Diesen stets der Pudel nach!«


Doch ich glaube, daß dieser Vierzeiler nicht auf dem Acker meiner eigenen Muse wuchs, sondern ein gebräuchliches Studentenstammbuchverslein jener Zeiten war.

Am Ende des Schuljahres kam ich mit leidlich heiler Haut davon, wurde mit der Note III unter dreiunddreißig Schülern der Sechsundzwanzigste [362] und durfte noch aufrücken. Aber das war ein Durchschlüpfen, so knapp, wie der Schlupf durch die Ausgußröhre der Backstube. Und mein Semesterausweis trug die Bemerkung: »Unerklärlicher Leichtsinn! Könnte unter den besten sein und steckt unter den schlechteren; keiner verdiente wegen seiner guten Anlagen eher eine ganze Freistelle, und keiner macht dies durch Gleichgültigkeit gegen sein Studium und durch lose Streiche weniger möglich. Es ist außerordentlich zu bedauern!«

Und nun ging's wieder heim! Ach, dieses zärtlichste aller Worte! Heim! Und diesmal in Gesellschaft! Denn mein Instruktor Rauner, der ein seines Absolutorium gemacht hatte, wurde von den Eltern für ein paar Wochen in unser Forsthaus eingeladen. Vater und Mutter empfingen ihn wie einen Gast, dem sie sich dankbar erweisen mußten. Mich schob man ein bißchen in die zweite Reihe; aber es wurde mir doch der erste Abend auch diesmal nicht ›verdorben‹. Freilich mußte Rauner gleich während des Abendessens die Leporelloliste meiner ›unqualifizierbaren‹ Streiche hersagen. Er tat es mit strenger Ehrlichkeit. Dabei saß ich an seiner linken Seite – merkte aber doch, wie er dem Vater und der Mutter mit dem rechten Auge immer zublinzelte. Papa war etwas kurz [363] angebunden, als ich ihm gute Nacht wünschte. Die Mutter aber – kaum lag ich droben in meinem Dachstübchen – brachte mir in der Finsternis noch was Gutes hinauf. Und sagte:

»Geh, schau, Bub, mußt halt doch einmal ein bissele zu Verstand komme!«

»Ja, Mutterle! Ganz gwies! Auf Ehr und Seligkeit!«

Der Schulkonflikt war sanft erledigt. Und am frühen Morgen tönte wieder die liebe Herzensglocke: »Raus ins Gärtle! Die Sonn ischt da!« – Solange die Mutter lebte, verschwand diese Sonne nie.

Mit Freude erinnere ich mich der freundlichen Tage, an denen Rauner mit mir durch Wald und Felder bummelte und mir immer etwas zu zeigen, immer etwas zu sagen hatte, was mich fesselte. Als er sich am Tage seiner Abreise von meinen Eltern verabschiedet hatte, sah er mich an und strich mir das Haar aus der Stirne: »Sei fleißig! Hörst! Und sei schön brav!« Seine Stimme zitterte. Und mir klunkerten gleich die Tränen herunter. Rauner beugte sich zu mir herab, als hätte er mich küssen wollen. Aber das tat er nicht. Sondern sprang sehr schnell in die Kutsche. Ich hab' ihn im Leben niemals wieder gesehen.

[364] Atmet er noch? Vierzig Jahre sind vergangen – und ich weiß nur, daß ich diesem strengen, reinlichen Menschen noch immer dankbar bin!

Als er uns verlassen hatte, war mir halb zumute wie einer Waise. Auch konnte ich das ›Hoihulladuuuh!‹ nimmer hinausschreien über die Wiesen, meine drei Getreuen nimmer zusammenrufen. Denn der Muckl war, ich weiß nicht wo. Der Domini hämmerte als Lehrling in seines Vaters Nagelschmiede. Und der Alphons war beim Schreiner in der Lehre. Und wenn wir drei Verbliebenen uns an einem Feiertage zusammenfanden, war es nimmer wie einst; unsere Freude war mehr ein Schwelgen in Erinnerungen als ein neues lachendes Erleben.

Da blieb ich nun sehr viel daheim, half der Mutter im Garten das Unkraut jäten und die Blumen gießen – oder vertiefte mich bis zur Taubheit in irgend ein Buch, das ich erwischte – oder bettelte dem Vater das ab, daß er mich auf einen Pirschgang mitnahm. Bei diesen Waldwegen gab es ernste Gespräche, doch manchmal auch ein lustiges Stücklein. Wir hatten damals einen deutschen Vorstehhund von ungewöhnlicher Körperstärke. Ein Hund wie ein Stier! Diesen Tyras mußte ich immer am Riemen führen. Wenn[365] Papa sich von mir entfernte, sagte er: »Du! Laß den Hund nicht aus!« Kaum aber war das ›Herrle‹ verschwunden, da fing Tyras zu ziehen an, daß mir die Arme lahm wurden; immer schneller machte der Hund mich springen, schleifte mich über die Ackerfurchen, ließ mich Purzelbäume schlagen – und Papa lachte dazu, daß ihm die Tränen in den Bart kugelten.

Es schien, als hätte der Vater das Bedürfnis, seinen nachdenklichen Ernst zuweilen in solch ein schallendes Lachen aufzulösen. Um diese Zeit bekam er eine tiefe Furche zwischen den Brauen. Und durch viele Nächte brannte die Lampe seiner Kanzlei bis in den Morgen hinein. Eine immernahe Sorge umschlich dieses grüne Haus des Lachens, ohne doch einzutreten. Die Eltern hatten ihr kleines Vermögen im Laufe der Jahre langsam zugesetzt, der bescheidene Gehalt für sich allein wollte nimmer ausreichen – und die ›Beamtenaufbesserung‹, von der an den Konsumvereinsabenden unermüdlich geredet wurde, wollte halt gar nie kommen. Und wenn ich einen Wunsch hatte, der über das Notwendige hinausging, bekam die Mutter feuchte Augen und sagte: »Kindle, das geht nicht! Der Papa muß das teure Geld so viel hart verdienen!« Damals fing die Mutter [366] auch an, was sie ihr ›grünes Geschäftle‹ nannte – allen Erfolg ihrer Gartenmühe, die Blumen, das Obst und Gemüse, verkaufte sie an einen Handelsgärtner in Augsburg. Und Papa begann für Fachzeitschriften und für die Augsburger Abendzeitung zu schreiben, machte Wirtschaftspläne für Gemeindewaldungen und übernahm die Forstkontrolle über herrschaftliche Güter. Der Tag gehörte seinem Amte, die Nacht seinem Nebenverdienst. So kämpften Vater und Mutter sich über die Sorgen hinüber.

Es sind mir aus dieser Zeit, in der die Mutter seltener lachte und der Vater immer se ernste Augen hatte, ein paar Reflexlichter dieses harten Beamtenkampfes im Gedächtnis geblieben.

Eines Tages, als ich mit der Mutter im Garten schanzte, kam von irgendwo aus der Umgebung eine Beamtenfrau angefahren, um ihre Visite zu machen. Mama wusch die Hände, nahm die Schürze herunter und führte den Gast zu einer von Blumen umdufteten Gartenbank. Die blau aufgedonnerte Dame, die einen großen schillernden Vogel auf dem Hut hatte, sah neben meiner Mutter aus wie ein hohes Kirchenfest neben einem Werkeltage. Diese fremde Frau redete furchtbar schnell und stellte viele Fragen, um [367] herauszubringen, wieviel die Revierförsterei Welden eintrüge. Die Mutter gab Antwort. Und da sagte diese blaue Dame mit eigentümlichem Lächeln: »No ja, und 's Nefasle wird wohl au no e bissele was bringe?«

Mama machte verwunderte Augen: »'s Nefasle? ... Ich weiß nicht, was Sie meinen?«

Die fremde Frau wurde verlegen, fing aber dann lustig zu lachen an, drohte mit dem Finger, als hätte meine Mutter etwas witzig Schelmisches geredet, plapperte immer hurtiger, ließ den schillernden Vogel auf ihrem Hut sehr flinke Bewegungen machen – und empfahl sich mit etwas auffälliger Haft.

Als Papa gegen Mittag heimkam, fragte die Mutter gleich: »Du, Gustl, was ist denn das: das Nefasle?«

Der Vater hob den Kopf: »Warum?«

Mama erzählte. Und stellte wieder die gleiche Frage: »Das Nefasle? Was ist denn das?«

Papa sah die Mutter mit ernsten Augen an und sagte: »Sei froh, Lotte, daß du das nicht weißt! Und in unser Haus soll das auch nie hereinkommen. Dafür sorg ich schon!« Dann ging er in seine Kanzlei.

Es gibt ein lateinisches Wort: nefas. Und dieses[368] Wort bedeutet: Unrecht. Unter dem schwäbischen Diminutiv ›Nefasle‹ verstand man ein kleines, ein halbes Unrecht, bei dem die Gerechtigkeit ein Auge zudrücken konnte – und mit diesem Terminus der Gutmütigkeit bezeichnete man Beamteneinkünfte, die gerade nicht unehrenhaft, aber doch auch nicht anständig waren. –

Eines Abends hörten wir Papa in seiner Kanzlei so laut und heftig sprechen, wie es sonst nicht seine Art war. Und dann kam ein fremder Mann heraus, der flink davonging. Dem rief der Vater durch die Türe nach: »Sie Kerl! Was glauben Sie denn?« – Der Fremde war ein Holzhändler. Papa hatte ihm eine große Partie Sägblöcke zugeschlagen, weil der Händler unter mehreren Konkurrenten den besten Preis geboten hatte. Der Fremde glaubte sich bedanken zu müssen und hatte den Versuch gemacht, eine Banknote auf Papas Schreibtisch zu legen.

Einmal um die Mittagszeit, als wir bei Tisch saßen, gab es für uns Kinder einen vergnügten Jubel, weil die Mutter eine große Zinnplatte mit einem Berg von dampfenden Leberwürsten hereingetragen brachte. Der Vater machte erstaunte Augen. »Lotte?«

Mama lachte: »Geh, Gustl, das sind billige [369] Würst! Der neue Metzger hat sie geschickt mit einem schönen Gruß.«

»Sooo? Und gestern war er bei mir und hat Waldstreu haben wollen. Und ich habe sie ihm abschlagen müssen. Und jetzt meint er wohl, durch die Küche wär's leichter zu machen, als auf dem ehrlichen Weg in die Kanzlei! Marsch, fort mit den Würsten!«

»Aber Gustl! Man kann sie ja bezahlen! Und jetzt sind sie doch schon gesotten.«

»Aber noch nicht gegessen! Gott sei Dank!« Der Vater packte die zinnerne Platte, riß das Fenster auf die schönen rauchenden Leberwürste flogen in hoher Kurve über den Staketenzaun auf die Straße hinaus – und Papa sagte mit einer Härte, wie sie sonst nicht in seinem Wesen lag: »Würste? Würste? Wozu braucht ein Staatsbeamter Würste? Der soll Kartoffel schlucken, bis ihm der Dampf zum Hals herausfährt!«

Wir Kinder wurden nicht satt bei dieser Mahlzeit. Und in den Nächten, die dann kamen, verbrannte Papa sehr viel Petroleum. Weil bei der schwülen Sommerszeit auch in der Nacht alle Fenster offen standen, konnte ich's droben in meinem backofenheißen Mansardenstübchen häufig hören, wie die Mutter nach Mitternacht aus ihrem Schlafzimmer [370] gegen das Kanzleifenster hinunterrief: »Ach, Gustl, schau, so geh doch endlich schlafe!«

Immer seltener ging Papa auf die Pirsche; er mußte die schönen Tage, wie Mama sich auszudrücken pflegte, am Schreibtisch ›verhocke‹. Aber diese bösen Zeiten bauten eine Brücke zu besseren Jahren; bei den vielen Artikeln, die der Vater für Fachjournale und Zeitungen verfaßte, weitete sich ihm der Blick des Forstmannes; drei Jahre später publizierte er unter dem Pseudonym ›Silvius‹ eine Broschüre mit Vorschlägen zur Reorganisation des Forstwesens; die Wirkung dieser Broschüre, die viel Aufsehen machte, verwandelte sich für Papa in eine Leiter, über die er zur höchsten Stelle seines Faches emporstieg. Da bekam er schließlich einen schönen Gehalt. Und lachend pflegte er zu sagen: »Jetzt hätt' ich mehr als genug zu essen. Aber inzwischen sind die Zähn' ein bisserl schlecht geworden. Jetzt kann ich nimmer beißen.« –

Die Kampfzeiten der letzten Jahre in Welden gingen auch an der Mutter nicht spurlos vorüber. Ein Blut, das leicht aufbrauste, sich aber gleich wieder beruhigte – solch ein Blut hatte sie ja schon immer. Und nun war ihr vom Typhus her eine nervöse Reizbarkeit verblieben, die sich [371] in diesen Sorgenzeiten und bei der vielen, an ihren körperlichen Kräften zehrenden Arbeit im Garten noch verschärfte. Eine Gemütserregung konnte das Gleichgewicht ihrer frohen Natur auf das schwerste erschüttern, ein jäher Schreck machte sie für Minuten sprachlos, und irgend eine Kleinigkeit des Haushaltes konnte in ihr einen aufbrausenden Jähzorn entfesseln. Solch ein Sturm – bei dem der Vater und wir Kinder still die Köpfe duckten – war in Mama immer schnell wieder besänftigt. Doch unter den Nachwehen solcher Nervenmarter wurden ihre Beine sehr oft von einem so andauernden Zittern befallen, daß die Mutter bei ruhigem Sitzen viertelstundenlang mit den Schuhstöckelchen in jagender Schnelligkeit auf dem Fußboden trommelte. Dabei fand sie auch ihren Humor wieder und machte allerlei drastische Spässe. Einmal, als sie dieses Nachtrommeln einer Gemütserregung wieder hatte, mußten sich Pfarrer Hartmann und das Fräule Luis, die zusammen über fünf Zentner wogen, auf Mutters tanzende Knie setzen, um ›die verflixte Nacklerei auszuprobiere‹. Aber auch dieses achtunggebietende Gewicht konnte die trommelnden Beine der Mutter nicht beschwichtigen – und je erschrockener die beiden dreinguckten, um so lustiger [372] lachte Mama, während sie weitertrommelte und schelmisch sagte: »Sehe Se, Herr Pfarr,alles im Mensche kann die Religion halt doch nit beruhige!«

Damals in jenen Sorgenzeiten suchte die Mutter auch immer was Lustiges auszudenken, um die Konsumvereinsabende recht fidel zu machen und den Vater zwischen schweren Arbeitstagen ein bißchen aufzuheitern. Sie hatte ein angeborenes schauspielerisches Talent. Wenn sie was erzählte, bekam sie immer das Gesicht des Menschen, den sie gerade reden ließ. Und nahm sie noch ein bißchen Maskerade zu Hilfe, so konnte sie sich völlig unkenntlich machen, nicht nur für uns Kinder, auch für den Vater. Da kam sie eines Tages als Fuhrmann maskiert, im blauen Kittel, mit Pfeife, Peitsche und Zipfelhaube, zu Papa in die Kanzlei, brachte eine Beschwerde vor und wurde so grob, daß der Vater dem Forstgehilfen die Weisung gab, den unverschämten Lümmel aus der Kanzlei hinauszuwerfen. Aber ein helles, wohlbekanntes Kichern öffnete dem Vater die Augen, bevor es zu Tätlichkeiten kam. Ein andermal erschien sie aneinem Tage nacheinander in vier verschiedenen Trachten, ohne auch nur ein einzigesmal erkannt zu werden. Die alten [373] Bauern in Welden wissen noch heute von Mutters lustigen Maskeraden zu erzählen. Und in uns Kindern blieb die treue Erinnerung an all das frohe Lachen. –

Während jener Ferienzeit, in welcher Papa immer fleißiger am Schreibtisch sitzen mußte und die Mutter lieber den Vater zu einem Schmunzeln zwang, als daß sie selber lachte – in jener Ferienzeit begann ich mich, um zu Wald und Jagd zu kommen, an die Forstgehilfen zu hängen. Schließlich war ich jeden Morgen und Abend draußen, wo die Bäume rauschten. Um Papa zu beruhigen, steckte ich vor jedem Waldgang ein lateinisches oder griechisches Buch in die Joppentasche. Aber draußen hab' ich in diese Bücher nie hineingeguckt. Die staken mir gut in der Tasche. Und wenn sie klunkerten und unbequem wurden, schob ich sie dem Forstgehilfen in den Rucksack.

Ich kann euch den frohen, wundersamen Rausch nicht schildern, der mich immer überkam, wenn ich im Walde war! Jetzt hatt' ich doch schon andere Augen als früher in den ersten Kinderzeiten. Ohne noch ein rechtes, klares Verständnis für die Natur zu haben, sah ich immer Dinge, die kein anderer gewahrte. Am liebsten hatte ich den [374] Wald bei Gewitter und Sturm. Die Blitze zu zählen, das war mir eine viel schönere Sache, als dem Kuckuck nachzurechnen. Und wenn der Sturm den Wald durchbrauste, hörte ich immer eine Musik, die der Forstgehilfe, der bei mir war, nie hören konnte. Da blieb ich einmal stehen, klammerte die Hand um den Arm des Gehilfen und stammelte: »Dort! Der alte dicke Baum dort! Hörscht du nit, wie er singt? Ganz tief! Viel tiefer und schöner als die größte von den Orgelpfeifen!« Der Gehilfe schüttelte den Kopf »Ich hör nix! Als wie den Wind halt!« Und ich in Zorn: »Aber nein! Das isch der Wind it! Das isch der Baum! Der singt! ... Dasmußt du doch hören!« Aber der Forstgehilfe hörte nichts.

Diese staunende, schauende, lauschende, unersättliche Waldfreude entzog mich allen anderen Dingen. Meine Lesewut war erloschen. Kein Gedanke mehr brachte mich in Versuchung, Verse zu machen oder etwas Selbstersonnenes aufs Papier zu kritzeln. Und meine ›Mathilde‹ war so völlig vergessen, daß es mir gar nicht auffiel, als das schwarzgebundene Heft aus meinem Koffer verschwand. Ich erinnere mich nur, daß Vater und Mutter während der letzten Ferientage immer [375] so merkwürdig schmunzelten, wenn sie mich ansahen. Damals hatten sie wohl die ›Insel der Seligen‹ gelesen. Aber wenn sie mich so anguckten, glaubte ich immer, ich hätte Kletten oder Baumbast an den Kleidern hängen.

Als ich zu Ende September den Wald verlassen mußte, wurde meine Sehnsucht nach ihm schon während der Reise zu einem schmerzhaft brennenden Durste. Der machte mich im Seminar zu einem verdrehten, widerhaarigen und jähzornigen Gesellen. Nicht nur die Präfekten und Lehrer, auch meine Kameraden hatten ungemütliche Zeiten mit mir. In den Freistunden war ich so empfindlich, daß ich fast Tag um Tag in eine Keilerei hineingehetzt wurde. Alles, was Studium hieß, war mir eine gleichgültige und ferne Sache – Rauner fehlte mir, wie die Krücke einem Hinkenden – in den Studierstunden konnte ich nicht arbeiten, in der Klasse konnte ich nicht aufpassen, immer war ich mit allen Gedanken weit da draußen, wo die hundertjährigen Bäume jenes Lied sangen, das kein anderer hören konnte, nur ich allein!

Diese ewige Zerstreutheit mag es wohl verschuldet haben, daß mir vom Professor der vierten Lateinklasse nur der Name im Kopf geblieben: Pusl! Wie war der Mensch, der diesen komischen [376] Namen trug? Ich weiß es nimmer. Kein Zug seines Gesichtes, keine Farbe seines Wesens, kein Klang seines Lebens, nichts Gutes und nichts Böses blieb von ihm in meiner Erinnerung. Aber ich glaube, daß ich ihm viele verdrießliche Stunden bereitet habe. Und drum kann ich ihm das erbitterte Urteil nicht verdenken, mit dem er mich im Zensurenfaszikel der Studienanstalt Neuburg solcherweise verewigte: »Ludwig Ganghofer ist ein wohlbefähigter, aber ganz nichtsnutziger, überaus träger und leichtsinniger Schüler, der schon vom Beginn des Schuljahres an zeigte, daß er eine völlige Abneigung gegen die Studien hege. Für alle Mahnungen war er taub; Strafen hatten bei ihm keine Wirkung! Bei vielen Gelegenheiten zeigte er überdies einen boshaften und rohen Charakter. Dem entsprechend sind sein Fortgang und seine Noten.« Das alles mochte – bis auf ein einziges Wort – gewiß der Wahrheit entsprechen. Aber: boshaft? Mir scheint, da hat der sonst sehr gewissenhafte Herr Professor Pusl doch wohl ein bißchen falsch gesehen.

Man darf in der Kunst der Schilderung mit Gegensätzen wirken – auch in der Schilderung seiner selbst. Drum füge ich hier das Urteil an, das Professor Loher, der prächtige Mensch mit [377] der zwiefachen Seele, über mich fällte: »Ganghofer Ludwig, der talentvollste Schüler der Klasse, lernt und begreift alle Klassengegenstände mit Leichtigkeit. Er ist in der Klasse zerstreut und unaufmerksam, mutwillig, bisweilen sogar etwas ungezogen und unfolgsam«. – Etwas ungezogen! Was für ein liebes, wohlwollendes, nachsichtiges Lehrerwort ist dieses ›etwas‹! Ich glaube, Professor Loher schrieb das aus seiner Turnerseele heraus und dachte dabei an meine Doppel-Kniewelle mit tadellosem Absprung!

Aus dem Jahre bei Professor Pust, dessen Bild in meiner Erinnerung völlig erloschen ist, vermag ich mich auch keiner heiteren Sache, keines lustigen Streiches zu erinnern. Nur auf das Eine besinne ich mich, daß mehrmals verbotene und ›unsittliche‹ Bücher während des Schulunterrichtes bei mir konfisziert wurden. Welche? Das weiß ich nimmer. Doch was vor vierzig Jahren für die Erzieher der Jugend als ›unsittliche Lektüre‹ galt, erhellt aus einem Präfektenbriefe, der im Juni 1867 an meinen Vater geschrieben wurde:

»Zur Anzeige: daß Ludwig am 23. Mai bei Buchhändler Prechter Goethe's Reinecke Fuchs kaufte, nachdem er schon auf der Herreise aus den Osterferien in Donauwörth die ›Bardenklänge‹ [378] gekauft hatte. Hiewegen wurde er mit einem siebenstündigen Arreste unter Entziehung des gewöhnlichen Tisches bestraft, nach vorhergegangener ebenso wohlwollender als ernster Belehrung und Warnung.«

Und diesen Brief hatte der zwickfreundliche Unschlacht geschrieben, der mir bald darauf ›des Knaben Wunderhorn‹ zu lesen gab und mir dann wohlwollend seine ganze Privatbibliothek ohne Zensur und Beschränkung zu beliebigem Gebrauche überließ. Nur schade, daß sie nicht alles enthielt, was ich gerne lesen wollte! Mein Taschengeld war knapp. Und so verklopfte ich manches Stücklein meiner Wäsche, verschacherte Kleider und Schuhe, verkaufte das überflüssige Schreibmaterial und verhandelte mein Essen und die Biermarken, um mir Bücher kaufen zu können – und was ich gelesen hatte, verkitschte ich wieder um den halben Preis, um neue Bücher zu bekommen.

Wie eine heiße, gefährliche Krankheit brach dieses wachsende Lesefieber in mir aus. Und immer griff ich nach dem Besten, griff gierig nach den Werken jener Großen, deren Namen mir lockend in die Ohren klangen. Was mag ich da in buntem Wechsel alles verschlungen haben? Ich erinnere mich nur noch an einzelnes, das in dieser [379] flutenden Masse war: Schillers Räuber und Fiesko, Goethes Iphigenie und Tasso, die Wahlverwandtschaften und Wilhelm Meisters Lehrjahre, Heines Harzreise und der Rabbi von Bacharach, die Sappho von Grillparzer und Shakespeares König Lear, Cleopatra, Richard III. und der Kaufmann von Venedig. Und ich war noch nicht vierzehn Jahre alt!

Was ich da verschlang, fiebernd und die Zeilen fressend, versetzte mich in einen Begeisterungstaumel, der mich um so trunkener machte, da ich nur mit halbem Kopfe, doch mit gedoppeltem Herzen las – und immer, immer, immer las! Ich betrat in den Freistunden den Garten nicht mehr; oder wenn ich es tat, geschah es nur, um mit meinem Buche mich einzuwühlen in einen ungestörten Winkel. Ich las in allen Studierstunden – den Unschlacht, der mir alles erlaubte, brauchte ich nicht zu fürchten, und zum Schutze wider die Argusaugen des anderen Präfekten hatte ich mir einen feinen Mechanismus konstruiert, der das Buch im Notfalle mit Gummibändern flink unter den Pultdeckel zog. Ich saß in der Schule, mit dem verbotenen ›Gifte‹ unter der Bank, oder in gereizter Ungeduld den Glockenschlag erwartend, der mich meinen vergötterten Büchern wiedergab.

[380] Ich nahm sie am Abend mit in den Schlafsaal und schlich mich in der Nacht, wenn die andern alle schliefen, hinaus in den Korridor. Und stieg auf ein Fenstergesims hinauf, um der trübe brennenden Nachtlampe näher zu sein. Mit der einen Hand an den Fensterriegel angeklammert, mit der andern Hand das Buch hinausstreckend in das bessere Licht der Lampe – mit der Zunge umblätternd – vor Kälte zitternd und dennoch brennend vor Erregung, so las ich und las, eine Nacht um die andere, bis mir schließlich die Anstrengung des Lesens in dieser trüben Helle die Augen verdarb, so daß ich kurzsichtig wurde und eine Brille bekommen mußte.

Wie um diese Zeit meine Noten in der Schule aussahen, könnt ihr euch denken! Professor Pust brauchte viel Tinte, um diese dicken Römerzahlen zu schreiben. Und Strafe um Strafe bekam ich in der Klasse. Aber was kümmerte mich das! Auch die ernsten langen Briefe des Vaters, auch die kleinen, kummervollen, graufleckigen Zettelchen der Mutter konnten mich nicht aufrütteln aus diesem Zustand trunkener Betäubung. Nur manchmal ein kurzes, erschrockenes Erwachen, ein krampfhafter Versuch, am Strang der Schule zu ziehen. Und nach wenigen Tagen wieder dieses[381] gleiche brennende, dürstende Fieber! Alles, alles vergaß ich über meinen heimlichen Büchern, die mir viel zu denken und noch mehr zu fühlen gaben. Was ich auf diesen tausend Blättern fand, verstand ich eben, wie ich es in meinem grünen Alter verstehen konnte. Was äußerliche Handlung hieß, versetzte mich in zitternde Spannung. Ich haßte die Schurken und Tyrannen, liebte und vergötterte die stolzen Helden, berauschte mich an dem schwebenden Pathos ihrer Worte. Nur die weiblichen Gestalten vermochten kein sonderliches Interesse in mir zu wecken, wenn sie nicht durch schwere, traurige Schicksale mein Erbarmen erregten und meine heißen Tränen über das grünverschnürte Schlafröckle tröpfeln machten.

Was vor jenen bösen Nachtwandlerzeiten ein ›keeler Traum‹ in mir hatte wecken wollen, das war vergessen, war in meinen gesunden Knabensinnen und in der Waldluft meiner Heimat wieder stumm und ruhig geworden. Und keines dieser Bücher, die ich da verschlang in Gier und Zittern, wirkte störend oder schädlich auf diesen reinlichen Schlummer meines Leibes. Ein Buch, das künstlerischen Wert hat – mag es enthalten, was es will – wird niemals eine Gefahr für die Reinheit der Jugend sein. Und echte Kunst, auch [382] wenn sie nackt ist, wird stets erzieherisch auf die Seele eines Kindes wirken, nie verderblich. Da will ich euch ein lehrreiches Exempel erzählen. Auf meinem Schreibtische steht ein patinierter Nachguß des pompejanischen Narziß. Und eines Tages guckte mein vierjähriges Enkeltöchterchen diese von Reiz umwobene Statuette mit ernsten Augen an und fragte: »Großpapa? Wer ist denn das?« Was soll man antworten? Ich sagte: »Das ist ein braver junger Mann!« Und das Kind, mit großen Augen, sah im Zimmer umher. Da standen auf den Bücherschränken die liebe Frau von Milo, der Antinous, die mediceische Venus, der berberinische Faun. Und das Mädelchen – in seinem kindlichen Sprachklang, den ich nicht nachzubilden versuche – sagte langsam: »Das sind auch brave junge Männer! Die sind nackt. Die müssen sich aber nicht schämen. Weil sie so schön sind!« Ist das nicht ein Kinderwort, von dem die Pädagogen lernen sollten? Und die Kunstbeschimpfer? Und die Sittlichkeitsschnüffler in ihrer Häßlichkeit, die sich bedecken muß? Und die Törichten, die vielleicht auch heute noch einen zwölfjährigen Jungen sieben Stunden einsperren und einen Tag lang hungern lassen möchten, weil ihm ein Meisterlied von Goethe besser gefällt als die zweifelhafte [383] Sache, die der ›Verfasser der Ostereier‹ in die Welt setzte?

Damit will ich durchaus nicht predigen, daß man schon den Zwölf- oder Dreizehnjährigen alle Werke der klassischen Literatur in die Hände geben soll. Ich will nur sagen, daß man einen Jungen, der verfrüht zur Lektüre eines wertvollen Buches kommt, deswegen nicht zu strafen braucht. Es genügt, ihm zu sagen: Das verstehst du noch nicht! Und einem jungen Kopfe, der sich früh entwickelt und vorzeitig nach wertvoller geistiger Nahrung verlangt, sollte man mit kluger Wahl der Lektüre entgegenkommen, statt ihn als verdorbenes Geschöpf zu betrachten. Und vor allem sollte man sich hüten, einem Jungen beibringen zu wollen, daß er – weil er bei einem Buche über den geistigen Horizont seines Alters hinausgriff – etwas ›Unsittliches‹ gelesen hätte. Das ist gefährlich, nicht das Buch, das der Junge las. Von allen Erziehungsmethoden ist jene die bedenklichste, die dem Kinde den Begriff des Sittlichen dadurch beizubringen versucht, daß sie ihm definiert, was unsittlich ist. Das Feigenblatt erzieht nicht zum Schamgefühl, sondern nur zum Wunsche, daß man druntergucken möchte. Und den Gott, dem eine kindliche Seele sich am liebsten und ehrlichsten [384] hingibt, predigt nur immer jener Priester, der nie vom Teufel redet.

Die vielen, dem Verständnis meines Alters noch entrückten Bücher, die ich damals in jenem brennenden Lesefieber unersättlich verschluckte, haben mir – außer einer schlechten Schulnote und außer dem Anreiz zu grüblerischem Denken – nur den einen Nachteil gebracht, daß ich später als Universitätsstudent der Meinung war: Das alles kenne ich schon! – um dann in reiferen Jahren merken zu müssen, daß ich das alles noch nicht kannte. Aber sinnlich hat die heimliche Lektüre dieser guten Bücher nie auf mich gewirkt. Ich mußte wohl, unter traumhaftem Schauen, manchmal ein bißchen darüber nachdenken, ›was Mars mit Venus tat‹. Aber mehr als ein huschender Gedanke war das nie. Und dann fand ich mich in diesen Dingen immer gleich wieder auf dem Standpunkte, den ich in der Dorfschule eingenommen hatte. Und von der Meinung aus, daß alles ›Mädeleszuig‹ eine minderwertige Sache wäre, die ein richtiger Bub von sich fortzuschieben hätte – von der kühlen Höhe dieses Bubenstolzes betrachtete ich nun auch die Beziehungen und Konflikte zwischen Mann und Weib, die mir in diesen Büchern entgegentraten. Ungeduldig, manchmal [385] sogar gelangweilt, überflog ich alle Szenen und Kapitel, in denen von der ›dummen Liebe‹ die Rede war.

Brennen und zittern machte mich nur das hohe, schöne Geschehen, die starke Tat, das Bild der männlichen Helden, ihre Kraft, ihr Mut und Geist, ihre klingende Rede. Ach, wie konnte ich da lieben! Und die Feinde meiner Lieblinge hassen! Diesen Franz Moor, diesen Dorea, diese grauenvollen Schwestern der Cordelia hätte ich auf einem Kohlenfeuer rösten können, wie wir draußen in Welden die Äpfel und Kartoffel braten ließen! Und während ich las, war immer wie ein heißer Kummer der Gedanke in mir: daß all dieses Traurige schon längst geschehen war, und daß man nimmer hinspringen und nimmer helfen konnte. Darüber mußte ich weinen vor Zorn. Und dann kam auch immer gleich der Gedanke dazu: Es war doch Einer dabei – einer, der immer und überall ist – einer, der helfen hätte können und helfen hätte müssen! Gott! Wenn das Gute unterlag und das Unrecht siegte? Wenn diese Treuen, Schönen und Herrlichen untergingen? Warum half er da nicht? Wollte er nicht helfen? War er nicht so gut, wie das die Mutter von ihm glaubte? Konnte er grausam [386] sein, wie es der Gott der Juden war? Und die besten der Menschen bluten lassen? Auch den eigenen Sohn? Wie durfte er so Schaudervolles ansehen, ohne aus den Wolken herauszugreifen und den Donner seiner Stimme hinrollen zu lassen über die Köpfe der Schlechten, über alle Missetat auf Erden? Oder konnte er nicht helfen? Weil er nicht ist, wie wir ihn glauben? Oder weil ergar nicht ist? – Bei solchem Gegrübel zerflatterte jener schöne blaue Gottesmantel; und jenes goldene Dreieck mit dem starren Kyklopenauge rann mir auseinander zu grauen, wesenlosen Nebeln.

Aber solches Denken begann in mir nicht erst diesen heimlichen Büchern gegenüber. Das hatte schon anderthalb Jahre früher, während der Sommerferien nach der zweiten Lateinklasse, in meinem aufgeschreckten Knabengehirn angefangen. Da war eines Nachmittags ein schweres Hagelwetter über Welden niedergegangen und hatte groben Schaden angerichtet. Und am Abend, in der Konsumvereinsgesellschaft, wurde das erzählt: Ein Bauer, einer der bravsten Menschen des Dorfes, wäre beim Geprassel des Hagels verstört zu seinem Krautfeld gelaufen. Das ganze Feld war schon vernichtet, das Kraut zu Brei geschlagen. Und da riß der Bauer zwei von diesen traurigen [387] Kohlstrünken aus der Erde, streckte sie unter dem Getrommel des Hagels zum Himmel hinauf und schrie: »Nur älleweil raa! Nur älleweil raa! Schlag älles zäme, du! Und sag mer: sein dees an no Krautsköpf? Sein dees an no Krautskopf? Du!« Man lachte über diese Geschichte. Mir aber sprang das Wasser in die Augen und etwas Kaltes rieselte über meinen Rücken.

Vor dem Einschlafen, und gleich am anderen Morgen wieder, immer mußte ich an diesen Bauern und an seine zerschlagenen Kohlköpfe denken. Wie hatte nur der liebe Gott das tun können? Zerstören, was er doch selbst hat wachsen lassen? Und einen braven Menschen um den Lohn seines Fleißes bringen? – Ich mußte die Mutter fragen. Sie sagte mir eins von ihren guten, versöhnlichen Worten. Aber das gab mir keine Ruhe, ich mußte fragen und fragen – und schließlich strich mir die Mutter das Haar aus der Stirn und sagte: »Ach, Kindle, es gibt halt viel im Lebe, was wir Mensche net verstehe könne!«

Aber man will doch verstehen! Immer wieder und wieder mußte ich an den braven Bauern und seine Kohlköpfe denken. Und da bekam ich plötzlich Augen für vieles, was im Leben unbegreiflich und grausam ist. Und alles andere gesellte sich [388] dazu: der Nachtschreck im Seminar, diese geschäftsmäßigen Massengebete, der durch Übermaß abstumpfende Kirchenzwang, dieses Frieren und Zähneklappern in der Wintermesse, und die ermüdende Religionsstunde, in der wir Gottes unbegreifliche Eigenschaften am Schnürchen hersagen mußten wie die unregelmäßigen lateinischen Zeitwörter. Und wenn man in dieser Religionsstunde wagte, aus Zweifel zu schmunzeln, oder den Kopf zu schütteln, oder eine ehrlich neugierige Frage zu stellen, so bekam man eins mit dem Lineal über den Kopf oder wurde eingesperrt und zu Karrenz verurteilt und galt als ›impertinenter Frechling‹, als ›Geselle von heimtückischer Bosheit‹, als ›gefährliches Subjekt, dessen Entfernung von der Schule im Interesse der übrigen Schüler läge‹. So lernt man Gott nicht lieben.

Der Zweifel, der aus dem Leben an mich herangetreten war, saß mir schon bohrend im Gehirne, als ich unter der Nachtlampe des Korridors diese heimlichen Bücher zu verschlingen begann. Sie zeigten mir nur neue Bilder, die mich zu neuen erschrockenen Fragen zwangen. Und was Dichtung war, empfand ich immer als wirkliches Leben, als ein greifbares Geschehen vor meinen Augen. So kam es, daß ich, ein Knabe noch, über [389] Fragen grübelte, auf die nur ein reifer Mann Antwort suchen sollte. Ein Mann kann wieder bauen, wo er Schutt und Moder beiseite räumt. Mich vierzehnjährigen Jungen dürstete nach Wahrheit; aber ich fand die Quelle nicht, die mich trinken ließ. In meinem Hirn und Herzen sah es schließlich aus, wie nach dem Hagelwetter auf dem Krautfeld des fleißigen Bauern.

Und dann der Schulschreck! Das Jahr ging schon zu Ende; und jetzt war das nimmer zu ändern: daß ich unter sechsundzwanzig Schülern der Sechsundzwanzigste wurde. Man schrieb das meinem Vater. Die lange, erregte Epistel, die ich bekam, verstörte mich noch mehr; das lag auf mir wie eine dumpfe Lähmung; und ich sah einen Beruf versinken, auf den ich mich gefreut hatte; denn ich sollte Techniker werden, Maschinenbauer – weil ich geschickte Hände hatte und alles liebte, was Maschine hieß. Und jetzt war das verscherzt. Und der Vater schrieb: »Das Reifezeugnis fürs Realgymnasium kannst du nicht mehr erringen. Und repetieren lasse ich dich nicht. Meine Kollegen sollen von meinem Buben nicht sagen: dieses studierende Kamel! Nun also, jetzt geht ja dein Lebenstraum in Erfüllung, jetzt kannst du Jagdgehilf oder Schlosser werden!« Ich ging herum [390] wie einer, der auf den Kopf geschlagen wurde und das Bewußtsein nimmer findet, nur noch den Gebrauch seiner Glieder hat. In dieser Verstörtheit dachte ich an Amerika, an das dunkle Afrika – sogar an ein Land, das noch dunkler ist. Aber da kam ein kleiner, lustiger Brief meiner Mutter: sie hätte sich schon arg gefreut, daß ich jetzt immer bei ihr bleiben dürfte, und hätte schon in Welden mit dem Schlosser geredet, daß er mir ein guter Meister sein müßte; und hätte mir schon im Schlosserhaus ein sauberes Winkelchen ausgesucht; aber da würde halt jetzt leider nichts mehr draus, weil der gute Papa mich doch dieses einzige Mal noch repetieren ließe. »Und drum mach dir halt jetzt das junge dumme Herzle nicht gar zu schwer! Und im nächsten Jahr, da wirst du dich schon wieder richten! Und ein bissele Verstand kriegen! Gelt, mein Herzensbub! Ich kenn dich doch, weißt!«

Dieses lustige Brieferl hatte viele graue Flecken, die so strahlig waren, wie die Blumensternchen.

Und da sah ich plötzlich wieder einen Weg vor mir. Und gab mir einen Ruck. Drei Wochen hatte ich noch Zeit. Ich büffelte wie ein Berserker. Und glücklich, wenn auch nicht mit allzu schlanker Note, bestand ich das Absolutorium der [391] Lateinschule. Ich glaube, meine Professoren waren wohl auch ein bißchen barmherzig.

Freiheit! Freiheit!

Ich war vor Freude wie besoffen, als ich an jenem Augustmorgen durch das Seminartor hinausraste und affenschnell in den Omnibus kletterte. Es klunkerte in meinem Koffer, so oft man ihn drehte und hob; denn die Hälfte meiner Kleider und Wäsche war draufgegangen für die heimlichen Bücher; drei von ihnen nahm ich jetzt in dem halb leeren Koffer mit fort auf die Reise; sie waren vom Ruß der Korridorlampe so beschmiert, daß kein Antiquar sie mehr genommen hatte: diese drei Bändchen von Wilhelm Meisters Lehrjahren.

Die Pferde zogen an, die Postillone bliesen – und seit jenem Sommermorgen des Jahres 1869 hab' ich Neuburg an der Donau nicht mehr gesehen.

In Augsburg sollte ich bei Verwandten übernachten, weil der Vater am anderen Tage kommen wollte, um mit mir zum Rektor des Realgymnasiums zu gehen. Aber der Herr Rektor mußte noch etwas länger auf mich warten. Denn an jenem Abend in Augsburg ereignete sich eine denkwürdige Sache.

[392] Hinter dem Hause meiner Verwandten lag ein hübscher Garten mit einem Springbrünnelchen in einem steinernen Wasserbassin. In diesem Garten kam der Jubel über meine Freiheit zur Kulmination. Um meine Freude zu manifestieren, mußte ich in diesem Garten irgend etwas loslassen. Etwas Prachtvolles! Und da kam mir der Einfall: wie meine Lateinschulzeit mit einem ›Speituifele‹ begonnen hatte, so sollte sie auch jetzt mit einem, ›Speituifele‹ beschlossen werden. Vom Reste meines Reisegeldes kaufte ich drei Pfand Pulver. Aber da sieht man wieder, was eine Stadt ist! Nirgends waren Eisenfeilspäne aufzutreiben. Ich mußte mit großem Kummer auf den Speiteufel verzichten. Also zehn Kanonenschläge! Oder noch was Schöneres! Eine unterirdische Mine, die vergnügt in die Lüfte springt!

Mein guter Vetter Höllenbrand war gleich begeistert von dieser herrlichen Idee. Doch in dem Maulwurfsloche, das wir im Rasen fanden, hatte nur die Hälfte des Pulvers Platz; die andere Hälfte blieb in der Zigarrenkiste. In das Minenpulver steckten wir die lange Zündschnur hinein und stopften dann die Sache fest mit Gras und Erde zu. »Brennt schon! Obacht!« Wir rannten nach den Ecken des Gartens. Und sahen[393] auch, wie der knisternde Funke der Zündschnur lief. Jetzt mußte die Mine steigen. Aber sie stieg nicht. Wir warteten. Nichts rührte sich. Natürlich! Zwischen Gras und Erde war die Zündschnur vermutlich feucht geworden und erloschen. In der linken Hand das Zigarrenkistl mit dem Rest des Pulvers, sprang ich auf die Mine zu und wollte mit dem Zeigefinger der rechten Hand den Graspfropfen aus dem Minengang herausbohren. Da stieg die Mine. Dullerabumm! Wie damals beim Himmelsfeuerfang vor dem Drahtloch des Blitzableiters, so flog mir wieder etwas Schreckliches und Blendendes vor den Augen vorbei, über die Hände herauf und um das Gesicht herum. Der Luftdruck ließ mich einen halben Purzelbaum machen. Lachend sprang ich wieder auf. Aber da waren alle Dinge des Gartens trüb verschwommen, weil meine Brille in die Luft geflogen war. Und das Zigarrenkistl in meiner linken Hand war leer, war nicht mehr braun, sondern schwarz. Und ebenso rußschwarz waren meine beiden Hände. Und Vetter Hillenbrand sagte erschrocken: »Jesus, du bist ja im Gesicht wie ein Mohr. Und auf dem Kopf hast du schier gar kein Haar nimmer.« Ich lief zum Springbrunnen und guckte ins Wasser. Ein [394] richtiges Negerköpfl grinste als Spiegelbild von da drunten herauf. Lachend begann ich mir das Gesicht zu waschen. Und da blieben mir zwischen den Händen ein paar große Lappen liegen, die auf der einen Seite schwatz, auf der anderen Seite rot waren – die verbrannte Gesichtshaut, die ich mir beim Waschen heruntergerissen hatte. Vetter Hillenbrand erzählte mir später, daß ich da erschrocken gesagt hätte: »Herrgott Saxe! Was isch denn jetz dös?«

Ein quälender Schmerz begann, und das Blut tröpfelte mir über die Nase, während der Vetter mich ins Haus führte. Als ich auf dem Sofa lag, den Hals umrieselt von den warmen Blutfäden, kam der alte Doktor. Er hielt mir eine lange, sehr entrüstete Strafpredigt. Meine Schmerzen wurden so heftig, daß ich die Zähne übereinanderbeißen mußte, um nicht laut zu schreien. Und immer zankte der Doktor noch. Da wurde ich ungeduldig und sagte: »Schimpfen Sie nicht, Sie dummer Kerl, sondern helfen Sie mir!« Der Doktor war so perplex, daß es ihm die Sprache verschlug. Aber dann mußte er lachen. Und sagte: »Ein solcher Frechiöh ist mir doch im Leben noch nicht untergekommen!« Und schweigend begann er seine Kur.

[395] Mein ›gesundes Turnerblut‹! Aber ich hatte dazu auch wieder einmal Glück. Denn gerade in jenen Tagen war eine ›neue amerikanische Brandsalbe‹ erfunden worden, bei der irgend ein heilsames und schmerzstillendes Öl mit Eidottern zusammengerührt wurde. Diese Salbe linderte schon nach wenigen Stunden meine Schmerzen.

Am andern Morgen kam Papa. Er wurde kreidebleich, als er mich sah. Und sagte: »Du Kamel! Jetzt hast du's einmal!« Der Doktor erklärte dem Vater, daß mein Gesicht nach der Heilung sehr entstellt sein würde und schwere Narben behalten müßte. Papa erwiderte: »Das macht nichts! Wenn es ihm nur den Verstand ein bisserl aufgepulvert hat!«

Um die Mutter nicht zu erschrecken, wurde die Notlüge gebraucht, daß ich in Augsburg einen dreiwöchigen Vorbereitungskurs für das Realgymnasium zu erledigen hätte.

Bei meinem ›Turnerblute‹ machte die Heilung flinke Fortschritte. Aber weil ich ein so gutes ›Heilfleisch‹ hatte, wuchsen mir eine Woche lang in jeder Nacht der Mund oder die Nasenlöcher zu. An jedem Morgen mußten sie wieder aufgeschnitten werden. Schließlich bekam ich ein gequetschtes Silberröhrchen zwischen die Lippen und [396] in jedes Nasenloch einen Federkiel. Das war sehr unangenehm. Aber ich konnte wieder prächtig atmen.

Gegen Ende der dritten Woche versprach mir der Doktor, daß ich in acht Tagen aufstehen und heimreisen dürfte. Meine Hände waren schon ziemlich wieder in Ordnung und auch im Gesichte begann sich der Schorf bereits von den heilenden Wunden zu lösen. Und da wurde eines Nachmittags auf den Domtürmen die Feuerglocke geschlagen. Wenn es brennt in der Stadt, so kann man doch unmöglich im Bette liegen bleiben. Das muß doch jeder Mensch einsehen! Also heraus aus den Federn! Und flink in die Kleider! In der Maximilianstraße rannte ich wie verrückt hinter den rasselnden Feuerspritzen her. Aber es brannte gar nicht, war nur ein blinder Lärm gewesen. Und auf dem Heimweg guckten mich alle Leute an und lachten. In der Glasscheibe eines Schaufensters konnte ich mein Spiegelbild betrachten. Und da mußte ich selber lachen. Wie ein protzig tätowierter Indianer sah ich aus. Und furchtbar komisch wirkte dieser sonderbare Kopfschmuck: die starr und tintenschwarz zusammengepickten Haarbüschel zwischen den kahlgebrannten Stellen, auf denen halbfingerlang das Haar schon wieder silberblond gewachsen war.

[397] Ich suchte einen Friseurladen und ließ mir alles kurz herunterscheren, was ich auf dem Kopfe hatte. Und das wurde eine lustige Sache. Was ich dabei erzählte, weiß ich nimmer. Ich erinnere mich nur noch, daß während des Haarschneidens ein Dutzend Leute mit endlosem Gelächter um mich herumstand. Dem Friseur mußte ich die zwanzig Kreuzer für seine vergnügte Mühe schuldig bleiben, weil ich kein Geld in der Tasche hatte. Er vertraute mir – auf mein ›gutes Gesicht‹, wie er lachend sagte. Aber ich bin ihm diese zwanzig Kreuzer noch heute schuldig. Denn am andern Morgen wollte mich der Doktor wieder im Bette festhalten; da half mir kein Reden und kein Betteln; drum brannte ich am Nachmittage heimlich durch und rannte, ohne einen Kreuzer in der Tasche, die fünf Stunden nach Welden hinaus.

Während des Rennens auf der Landstraße mußte ich immer Gesichter schneiden, weil der trockene Harsch über den Wunden so schrecklich spannte. Und schließlich riß ich eben herunter, was mir lästig war. Und wenn das Blut tröpfelte, pflückte ich Sauerampfer- oder Salbeiblätter und legte sie als Pflaster auf die brennenden Stellen.

In der roten Glut des schönen Sommerabends kam das Gleiche wieder, wie damals bei der ersten [398] Heimkehr von der Neuburger Schule. Im grünen Tal der Laugna ein sanfter Windhauch, der mir lau entgegenstrich. Ein süßer Duft, ein lieber Gruß von meiner Mutter Blumen! Und wieder dieses irrsinnige Rennen, dieses schmerzende Lachen, dieses selige Weinen und Schreien, als zwischen Baumkronen das Dach des Forsthauses emporstieg in den leuchtenden Abendhimmel.

Der Weg von den Wiesen bis zur Straße war mir zu weit. Ich kletterte über den Staketenzaun in den Wiesgarten. Die zahmen Rehe, die mich nimmer kannten, nahmen Reißaus. Und plötzlich mußte ich stehen bleiben und lauschen. Von der Gartenhöhe klangen viele lustige Stimmen herunter, ich hörte das Dudelschächtele des Lehrers klimpern, und dann begann das wohlbekannte Chorlied:


»Zimmermänndle, Zimmermänndle;

Du versoffes Lueder,

Wann dr nomel en Rausch ansaufft,

So sag i's deiner Mueder!«


Ich war gerade zu dem Abend gekommen, an dem der Abschied des hochwürdigen Herrn Pfarrers gefeiert wurde. Und Pfarrer Hartmann war auch der erste, der mich sah und lachend rief: »Herr jöh, da kommt ja gar unser kleiner [399] Feuerwerker!« Das gab einen fidelen Jubel! Der ganze Konsumverein war im Garten versammelt, alle waren sie da: das Fräule Luis, der Benefiziat, das gute Pfarrle von Hegnenbach, Aufschläger Heutle, der Herr Lehrer mit dem ›Unnerhösche‹, das seine Gefährlichkeit noch immer nicht verloren hatte, ein neuer Doktor, die Förster, Forstgehilfen und Eleven, Nagelschmieds Leopold, der ein stattliches junges Mannsbild geworden war, und der C-trompetende Gerber als neuer Bürgermeister. Papa war in guter Laune und machte Spässe über mich. Und die Mutter lachte; aber so oft sie mir in das übel massakrierte Gesicht sah, kamen ihr die Tränen – und als ich nur erst die Runde bei all den vielen Händen gemacht hatte, faßte Mama mich wieder einmal wie in früheren Kinderzeiten beim Handgelenk, zog mich zur Haustür hinein, wollte schelten und mußte lachen. Sie wusch mir das blutfleckige Gesicht mit lauem Wasser, in das sie Milch gegossen hatte, legte mir frische Pflasterläppchen auf und wickelte mir leinene Binden nach allen Seiten um das Köpfl herum.

So durfte ich wieder hinaus in den Garten, wo ich mit lautem Gelächter begrüßt wurde. Aber dieser Konsumvereinsabend im Freien blieb nicht [400] immer so heiter, wie ich ihn bei meiner Ankunft gefunden hatte. Meines Vaters Abschiedsrede auf den Pfarrer, den die Freunde und alle Leute des Dorfes mit Kummer aus Welden fortziehen sahen, ließ in der Gesellschaft eine ernste, fast schwermütige Stimmung zurück. Droben am stahlblauen Himmel begannen die Sterne zu glänzen, auf den Tischen flackerten die Kerzen in den Glaskugeln, der schwüle Abendwind trieb den Pfeifenrauch davon und machte die Zigarrenfunken fliegen, mit dröhnendem Halle schlug die Turmuhr der nahen Kirche, und drunten im stillen, von Schornsteinrauch umschleierten Tal der Laugna glimmerten die fünfzig Fensterlichter an den Häusern der Bachgasse.

Dem Pfarrer Hartmann, als er auf die Rede meines Vaters erwidern wollte, versagte die Stimme. Er sprach auch nimmer weiter, sondern hob das Krügelchen. »Trinke mer halt! Ihr wißt doch alle, wie ich's mein'!« Und eine Weile später, als er beim Zaungitter stand und hinuntersah auf das im Abendfrieden ruhende Welden, sagte er sorgenvoll und mit feuchten Augen: »Ach, du mei arms Dörfle du!«

Bei der heiß erregten Debatte, die dann rings um den großen Gartentisch herum entstand, bekam [401] ich zum erstenmal diesen schönklingenden Namen zu hören – Andra – den Namen des neuen Pfarrers, mit dem in Welden der Unfrieden einziehen sollte, wie ein Unwetter herzieht über ein wohlgeratenes Weizenfeld. Und noch einen anderen Namen hörte ich an diesem Abend zum erstenmal. Den Namen: Döllinger. Auch von einer päpstlichen Bulle wurde gesprochen. Von einem Konzil, das sich in Rom versammeln sollte. Und von der merkwürdigen Sache, daß sich der Papst als ›unfehlbar‹ erklären lassen wollte.

Ich erinnere mich noch einer Lachsalve, die ein Forstgehilfe mitten in diesem ernsten Gespräch mit dem Wort erweckte: »Wann i nacher Papst und unfehlbar wär, gang i auf e jedes Scheibeschieße. Da däet i viel Geld verdeane! Wann 's Kügele nie dernebe gang!«

Und als ich droben in meinem Mansardenstübchen lag und bei der Nachtschwüle und vor seligsüßer Heimfreude nicht einschlafen konnte, hörte ich noch lange vom Garten herauf die heiß debattierenden Stimmen. Und ich meine, das war die Stimme des Pfarrers, die aufgeregt erklärte: »Und i glaub's it, daß sie's durchsetze. Die deutschen Bischöf stehen älle wie e Mauer [402] da! Und in Rom da gibt's do an no Köpf die Verstand hawe!«

Mitten in der Nacht erwachte ich und hörte fernen Donner rollen. Ich sprang aus dem Bett und guckte zum Fenster hinaus. Der Garten war still und leer, der Himmel und die Ferne waren schwarz, es leuchtete kein Blitz, doch immer näher und näher tönte dieses dumpfe Rollen.

Am Morgen, als ich munter wurde, schien die Sonne wieder, und die Regentropfen blitzten an allem Laub.

Die Mutter hielt mich eine ganze Woche im Hause fest – auch an dem Tage, an dem die Glocken läuteten und die Böller krachten, um den neuen Pfarrer zum Einzug zu begrüßen. Unsere Köchin Ottil berichtete mir ausführlich über diese Feierlichkeit. Der neue Pfarrer wäre ein sehr schöner Herr, auch noch jung – nur hätte er am ganzen Leibe ein so komisches Zittern, wie ›en alts Männdle‹. Und diese drei Nichten! Die jüngste wäre wie eine ›scheue Holzkatz‹, und die andere wäre ein ›liebs netts Mädele‹, aber die älteste hätte ihr gar nicht gefallen. Die könnte mit den Augen stechen und hätte ein Näsle wie ›e spitzigs Gäbele‹. Und einen ›arg bösen Hund‹ müßte der neue Pfarrer mitgebracht haben. Denn [403] zwischen seinem Hausrat wäre eine merkwürdige, mit Luftlöchern versehene Kiste gewesen. Aber man hätte den bösen Hund nie bellen hören.

Eines Mittags, als ich aus meinem Mansardenstübchen zum Essen herunterkam, hatten Herr Pfarrer Andra und das Fräule Kreszenz, die älteste der drei Nichten, gerade ihre Antrittsvisite bei uns im Forsthaus gemacht. Ich konnte das seidene Kleid dieser Nichte noch durch die Haustür rauschen hören. Und die Mutter fragte den Vater: »No, Gustl, was sagst du denn da?« Papa hatte ernste Augen und schwieg. Worauf die Mutter ungefähr sagte: »Er hat eigentlich kein ungute Eindruck auf mich gemacht. Aber sie! Die hat 's Näsle e bissele gar arg in der Höh! ... Mir scheint, da wird sich kein netter Verkehr nit anspinne.« Und am gleichen Tage brachte die Köchin Ottil das noch heim, daß für das Fräule Kreszenz bereits ein Spitzname im Dorf herumliefe: »Der Hofgockel!«

In der Pflege meiner Mutter begann der Denkzettel, den mir das Feuerwerk ins Gesicht gebrannt hatte, von Tag zu Tag immer mehr zu verschwinden. Es blieb, der Prophezeihung des Augsburger Doktors entgegen, nicht die geringste Narbe zurück. Mein ›gesundes Turnerblut‹ hatte [404] mich wieder einmal glücklich durchgerissen. Und eines Morgens sagte die Mutter mit zärtlichem Lachen: »Bueb, ich glaub, du bischt im Pulverdampf noch e bissele netter worde! Und guck nur, wie du dich strecke tuescht! Jetzt gehst mir schon über d' Ohre naus!« Sie faßte mich am blonden Schopf der schon wieder zu greifbarer Länge gewachsen war. »Du! Ich sag dir's! Übern Kopf naus därfst mir aber nie nit wachse! Gell?«

Ich hatte meine leidenschaftliche Waldrennerei wieder angefangen. Und in diesem Sommer durfte ich meinen ersten Rehbock schießen. Doch als er dalag, war's eine Geiß – im Jagdfieber hatte ich Maskulinum und Femininum verwechselt, wie mir das mit den lateinischen und griechischen Substantiven schon des öfteren passiert war. Der Vater zog mit der Hand schon aus, aber sagte dann: »Ein Glück für dich, daß man deine verpulverten Ohrwascheln noch allweil ein bissel schonen muß!« Doch ich durfte von diesem Tag an kein Gewehr mehr in die Hand nehmen. Freilich ließen mich die Forstgehilfen ohne Wissen des Vaters immer wieder heimlich von der Jagdschüssel naschen. Auch mein achtjähriger Bruder Emil streckte schon die Hände nach den Flinten, die im Hausflur hingen; und eines Tages hätte [405] er bei einem unbeabsichtigten Dullerabumm unsere Hausmagd beinah erschossen. Meine Schwester Berta war in den Ferien daheim, und wenn wir drei durch Hof und Garten tollten, zappelte auch das feine, kleine ›Idele‹ schon hinter uns her. Mit den jüngeren Geschwistern wurde ich selber wieder ganz zum Kinde, vergaß die überstandenen Schulschmerzen, vergaß auch Schiller, Shakespeare und Goethe, vergaß meine religiösen Zweifel und Seelenkämpfe, ließ den lieben Herrgott wieder einen guten Mann sein und half meinen Geschwistern in Haus und Hof und Garten einen Spektakel aufschlagen, daß Papa in seiner Kanzlei nervös wurde und daß die gute Mutter sich manchmal verzweifelt mit beiden Händen die Ohren zuhielt.

Aber plötzlich kamen dann stille, bange, wunderlich träumerische Tage über mich.

Ich bummelte da eines schönen Vormittages vom Schwarzbrunner Walde heim, wo ich wieder einmal nach dem versunkenen Schatze gesucht hatte. Und da begegnete mir bei der Laugna hinter Nagelschmieds Garten ein junges Mädchen in weißem Leinenkleid. Sie war wohl ein bißchen älter als ich. Aber von uns beiden war ich der größere. Als wir auf dem schmalen Fußweg [406] zwischen Bach und Hecke einander im Vorübergehen mit den Armen streiften, reichte meine Schulter über die ihre hinaus. Und dann mußte ich mich umgucken. Aber sie drehte das Köpfchen nimmer.

Wie lieb und sanft und hübsch war dieses Gesichtl! Unter dem gelben Strohhut legten sich die braunen Haare glatt gescheitelt über die Schläfen. Ein bißchen blaß war dieses seine Gesicht. Und drum erschien das Mäulchen auch gar so kirschenrot! Und die großen Augen hatten einen stillen, schwermütigen Blick. – So oft ich an diese traurigen Augen dachte, tat mir etwas unter meinen Rippen weh. Und so oft ich die Augen schloß und dieses liebe, weiße Figürchen wieder sah, das so schlank war und doch so zart gerundet, rann mir ein schwüles, ein wehes und süßes Ichweißnichtwas durch alles, was Leben in mir hieß.

Wie alle Wege nach Rom führen, so gingen von diesem Tag an alle meine Spaziergänge am Pfarrhaus vorüber. Noch dreimal sah ich das feine schlanke Mädel mit diesen Augen, deren Trauer mich zittern machte, ohne daß ich sie verstand – einmal begegnete ich ihr in der Kirchgasse, einmal sah ich sie zwischen den Dirlitzenstauden [407] des Pfarrgartens stehen bleiben und sich verbergen, und einmal blickten diese traurigen, lieben Augen durch eine Fensterscheibe des Pfarrhofes und verschwanden gleich, als ich grüßen wollte.

Ums Leben gerne hätt' ich im Pfarrhofe Besuch gemacht. Aber die Eltern erlaubten mir's nicht. Und so rannte ich wieder in den Wald hinaus, trug meine Pein und Süßigkeit in das ewige Grün, dichtete lange Oden, wie ich sie in den ›Bardenklängen‹ gelesen hatte, und wühlte das heiße Gesicht ins kühle Gras.

Dann kam ich fort. Nach Augsburg aufs Gymnasium. Und war meiner Kinderzeit entwachsen und ging meiner Jugend entgegen, etwas Verlangendes, Ahnendes und Dürstendes in meinem Herzen – und auch in meinem Blut!

Was die nächsten Zeiten an frohen und wunderlichen Dingen, an großen und ernsten Ereignissen brachten, und wie mein Leben sich weiter entwickelte, das will ich im ›Buch der Jugend‹ schildern.

Das Buch meiner Kindheit ist hier zu Ende.

Unter meinen alten vergilbten Papieren fand ich ein kleines Lied, das in jenem letzten Kindheitssommer entstand. Aber die älteste Form besitze ich nimmer, nur den korrigierten Klang, zu dem [408] ich das Liedchen in meinen Universitätsjahren umarbeitete:


Der Wald ist schön, der Wald ist grün, Hat hunderttausend Bäume, Da lieg' ich, wenn die Wolken ziehn, Im Schatten gern und träume. Wer war das blasse Mädelein? Kann's nit zusammenreimen! Und mangsmal möcht' ich Huisa schrein Und mangsmal möcht' ich weinen. Ich möchte, möchte, weiß nit was, Und glaub', ich muß verderben, Und drücke mein Gesicht ins Gras Und mein', jetzt muß ich sterben! Doch neulig war's, da schrie im Wald Ein Guggezer ein feiner, Der schrie: »Du wirst so froh und alt Wie unter Tausend Einer!«

[410]

Buch der Jugend

1.
I.

Augsburg! Das alte, stille Provinzstädtchen von Anno 1869! Für mich vierzehnjährigen Jungen, der ich nur das Kaufbeurer Tänzelhölzle, die Bachgasse von Welden und den Neuburger Seminargarten kannte – für mich war Augsburg eine Riesenstadt, ein Trubel und Wirbel, ein Millionengewimmel, eine Verwirrung und ein Rausch. Herrgott, was gab's da alles zu gucken und zu staunen! Dazu die Freiheit eines auf eigene Füße gestellten Stadtstudenten! Und es muß in jenem Jahr ein schöner, sonniger Herbst gewesen sein. In meiner Erinnerung ist ein wundersames Glänzen von hohen Giebeln und leuchtenden Dächern, von gleißenden Fenstern und blitzenden Kirchturmknäufen, von goldigem Schimmer in altertümlichen Gassen und von Gärten, die noch blühten.

[11] Bei diesem Freudentanz des Lebens, das klingend seine Tore für mich aufgetan, war mir die Schule durch viele Wochen eine Sache, die garnicht vorhanden schien. Ich weiß mich aus dem ersten Augsburger Gymnasialjahr an keinen meiner Lehrer zu erinnern, an nichts, was in der Schule passierte. Wenn ich früh um acht Uhr in die muffige Klassenstube hineinstürmte, die nie einen Sonnenstrahl bekam und in der engen Jesuitengasse über hohe Dächer her nur spärliches Licht erhielt, da war ich von allem Wirbel des Stadtlebens so vollgesogen, daß ich die zwei, drei Schulstunden wie ein Gebannter überdämmerte, in dem nur ein Gedanke lebte: Wann wird die erlösende Glocke wieder bimmeln? Bei ihrem ersten Ton ein Aufschnellen, daß die Schulbank wackelte. Und in den finsteren Korridoren des Realgymnasiums und draußen auf der hellen Straße ging dieses verrückte Rennen wieder an, als wäre stets die Sorge in mir, ich könnte bei einer schönen Sache um eine Minute zu spät kommen. Immer war ich außer Atem, immer brannte mir das Gesicht, immer schwitzte ich am ganzen Leib, und immer baumelte mir das Blondhaar naß um Stirn und Schläfen.

Dieses ruhelose Feuerchen, das in mir brannte,[12] wurde nicht nur von den neuen Dingen entzündet, die ich sah. Ich wurde auch heiß von allem Alten, das in den Gassen von Augsburg für meine dürstende, suchende Phantasie zum Leben auferstand. Nun wußt' ich ja schon ein bißchen was von der Weltgeschichte. Und mein Hausvater gab mir eine dicke Augsburger Chronik zu lesen. Die verschlang ich in einer einzigen Nacht – und ich erinnere mich noch, daß ich um drei Uhr morgens barfüßig und im Hemd durch die Küche geisterte und so lang in der Finsternis herumtappte, bis ich eine neue Kerze fand. Am Morgen, obwohl mir die durchwachte Nacht wie Blei auf den Augen lag, sah ich ein schöneres Augsburg, in dem die Konditorläden, die Schaufenster des Riedingerhauses, die Metzelstuben und die Büchsenmacherwerkstätten nicht mehr das Herrlichste waren. Sogar das Naturhistorische Museum mit seiner Schmetterlingssammlung und seinem Urweltshirsche trat in zweite Reihe zurück. Jetzt wurde der eherne Mann auf dem Welserplatze für mich zu einem Menschen mit Fleisch und Blut, die Fresken am Fuggerhause begannen für mich lebendig zu werden, die Kanonen vor dem Ratsgebäude erzählten mir donnernde Geschichten, und den Erasmus von Rotterdam, den ich ein bißchen mit [13] Nostradamus verwechselte, sah ich leibhaftig in schwarzem Talar und mit weißem Bart aus einer gotisch zugespitzten Haustür treten.

Durch viele Tage hatte ich die Fiktion, als trügen alle Leute, die mir auf der Straße begegneten, das Kleid vergangener Zeiten. In jeder Gasse ereignete sich für mich etwas unerhört Merkwürdiges. Als das Blechschild eines Bäckerladens auf die Pflastersteine fiel, hörte ich das Speergerassel eines Turniers, bei welchem Ferdinand, der Königssohn, zum Sieger ausgerufen wird und zum erstenmal die schöne Philippine sieht. Die war doch sicher beinah so schön, so sein und weiß wie das Pfarrhof-Bertele von Welden? Und hier, durch diese Gasse ritt Kaiser Karl zum Fuggerhaus, an jenem denkwürdigen Tage, an dem der großmütige Kaufmann die berühmten Schuldscheine ins Kaminfeuer warf, in dessen Flammen das Sandelholz mit köstlichem Wohlgeruche brannte.

Mein historisches Bilderschauen entfernte sich zuweilen um einen guten Bauernschuh von der geschichtlichen Wahrheit. So passierte es mir, daß ich Augsburg mit Worms verwechselte und ganz deutlich sah, wie Martin Luther durch die Jesuitengasse zu jener Reichstagssitzung wanderte, [14] bei der sein unerschrockener Mut die geflügelten Worte sprach: »Hier steh' ich, ich kann nicht anders!«

Wahrheit? Ist an den Dingen des Lebens, die man sieht, die Wahrheit das Entscheidende? Nein. Ihre lebendige Seele ist der Glaube, den sie in uns erwecken.

Ich vermag euch nicht zu schildern, wie wundervoll das anzuschauen war, wenn mit Prunk und Lärm vor meinen Augen durch die Straßen von Augsburg die endlosen, von Mohren und Indianern wimmelnden Wagenreihen zogen, die das Gold der Azteken in die Fuggerschen Schatzgewölbe führten. Und wenn die Frachtkarawanen der Welser an mir vorüberfunkelten, konnte ich deutlich die Zimtrinde und den Pfeffer riechen.

Ob diese Phantasie meiner Geruchsnerven nicht einen wunderlichen Zusammenhang mit der Tatsache hatte, daß ein ähnlicher, an überseeische Produkte gemahnender Duft den Pfarrhof zu Welden umwitterte, seit der hochwürdige Herr Andra mit den drei Nichten hier eingezogen war? In jenen letzten Ferienwochen meiner reisenden Knabenzeit, als das Pfarrhof-Bertele mit den stillen, schönen, traurigen Rehaugen mir süße Sehnsucht und schmerzende Zärtlichkeit ins junge Herz [15] geworfen hatte – wenn ich da im Zwielicht der Herbstabende den Pfarrhof zu Welden umschlich, und es stand ein Fenster offen, so spürte ich jedesmal einen unverkennbaren Geruch nach Glühwein und scharfen Gewürzen. In Welden wußten damals die Leute schon, warum der schöne, stattliche Pfarrherr an den Händen dieses sonderbare Zittern hatte. Aber mein vierzehnjähriges Gehirnchen konnte sich solche Dinge ›nit zusammenreimen‹. Was meine Nase in der Nähe des Pfarrhofes witterte, wurde auch für die verträumte Sehnsucht meines Herzens – oder meines Blutes? – eine süße Köstlichkeit. So oft ich in den Nächten zu Augsburg an das Bertele im Pfarrhof zu Welden dachte, spürte ich den Geruch von tropischen Gärten, den Duft von überseeischen Früchten. Und als mir das Bild des seinen ›blassen Mädeleins‹ mit der Gestalt der glücklich-unglücklichen Philippine Welser in eins zusammenfloß, begannen alle erträumten Spezereienschätze des Welserhauses für mich nach ›Zimmet und Nägelegwürz‹ zu duften.

In jenem Winkelchen meines Lebens, in dem die verschollene »Insel der Seligen« geblüht hatte, rührte sich wieder was Dramatisches. Ein Fieber in Glut und Zittern war's. Und die schöne Sache, die sich da formte, hatte einen noch schöneren Titel, [16] »Die weiße Rose von Augsburg.« Nach fünf Nächten war der erste Akt vollendet. Doch als ich am Morgen ins Gymnasium rannte, kam eine grauenvolle Enttäuschung. An einer Straßenecke standen auf dem Theaterzettel einer Wandertruppe großgedruckt die beiden Worte: Philippine Welser! Das war vernichtend – aber auch empörend! Das Meisterwerk, das ich schaffen wollte, war bereits von einem anderen geschrieben. Der hatte mir die weiße Rose von Augsburg vor der Nase weggepflückt. Während der Schulstunde, die dieser Entdeckung folgte, kugelten mir die bittersten Tropfen des Kummers auf Cäsars bellum civile. Eine ganze Woche lang war ich schrecklich traurig – und um mich wieder zu mir selbst zu bringen, bedurfte es einer fürchterlichen Rauferei, die zwischen den Realgymnasisten und den Stadtstudenten von St. Stephan auf dem großen Domplatz ausgefochten wurde. Da fühlte man wieder, daß man Mensch war, und alle gesunden und frohen Lebenskräfte tauchten aus bedrückter Seele neu empor. Der Sieg des Realgymnasiums war ein vollständiger. Mit den humanistischen Linealen, Federbüchsen und Buchdeckeln, die auf geweihter Stätte liegen blieben, hätte man einen Schubkarren anfüllen können.

[17] Als meine Kratzwunden schon verheilten, wurde im Theater das Stück des anderen wiederholt. Ich war ganz ruhig. Aber ich mußte mir das Machwerk des Konkurrenten doch ansehen. Heimlich, ohne Rektoratserlaubnis, besuchte ich das Theater – Galerie, zehn Kreuzer. Es war das zweitemal, daß ich den Zauber der Bühne sah. Das erstemal, als mich der Vater vor vier Jahren auf der Reise nach Neuburg ins Theater mitgenommen hatte, war mir bei meinem schlucksenden Heimweh alles Bild der Bühne unter Tränen erloschen. Auch dieses zweitemal kam ich nicht auf den Geschmack der Sache, die man Theater nennt. Ich stand auf der Galerie hart eingekeilt zwischen jungen Burschen und Mädchen, die viele Tränen vergossen. Ich transpirierte nur, sehr ausgiebig, und dennoch kann ich behaupten, daß ich nicht warm wurde. Das Theater weckte in mir keinen Funken von Begeisterung. Ich muß das wohl dem künstlerischen Brotneid zuschreiben, meinem Mangel an Objektivität. Denn das Stück des anderen mißfiel mir schon, bevor ich es noch gesehen hatte. Und als ich es sah, war ich der festen Überzeugung, daß ich die Sache viel besser gemacht haben würde. Und noch ein anderes kam dazu, um mir jede theatralische Illusion im Keim [18] zu ersticken: das schlanke, seine, weiße Mädelein, als das ich meine Philippine in träumerischem Schauer immer gesehen hatte, wurde von einer wohl noch jungen, doch erstaunlich fetten und krebsroten Dame dargestellt, die, wenn sie von Liebe sprach, beim Einziehen des Atems ein pfeifendes Jiiiiih vernehmen ließ. Beleidigt verließ ich den Tempel der Kunst. Und weil ich, naßgeschwitzt bis auf den letzten Faden, in meinem dünnen Sommerspenserchen in die kühle Novembernacht hinausrannte, bekam ich einen fürchterlichen Schnupfen. Der ist mir in Erinnerung geblieben, weil er sich besonders katastrophal entwickelte. Alle Regungen und Widerstände meiner Natur behielten durch mein ganzes Leben einen exzessiven Charakter. Ein Schnupfen ist auch heute noch immer eine schwere Krankheit für mich. Aber der von damals nach der Philippine Welser – der war grauenhaft! Ich steckte die Hälfte meiner Klasse an – natürlich die hintere Hälfte, die nicht die bessere war – und das ganze Haus, in dem ich wohnte, wurde leidend um meinetwillen. Meine Nase verwandelte sich in einen roten Ballon, die Augen wuchsen mir beinahe zu, und mein Niesen war immer wie eine andauernde Salve unter unbeschreiblichem Gebrüll. Das alles [19] kam von Augsburgs großer Vergangenheit und haftete in der Erinnerung meiner Mitlebenden. Im folgenden Frühling, als meine Mietsleute an schönem Abend den Böllerschuß und das Raketengeknatter eines Feuerwerks vernahmen, fragte mein Hausvater: »Was war denn das?« ... und die Hausmutter antwortete: »Wird am End 's Ludwigle in seim Stüble drübe wieder habe niese müesse?«

Erst Mitte Dezember wurde ich die schnaubende Plage los. Kaum aber hatte ich meine lachende Gesundheit wieder gewonnen, da warfen mich die Liebe und der Weihnachtsengel in den ersten schweren Kampf um mein Leben. Und hätt' ich dieses Leben nicht so lieb gehabt, daß es mir eines zähen und erbitterten Kampfes wert erschien, so hätten mich vor vierzig Jahren die Hechte und Weißfische der Schmutter als Gefrorenes aufgespeist.

Am ersten Morgen der Weihnachtsferien nahm ich in seliger Heimfreude mein kleines Handköfferchen am Hakenstock über die Schulter und rannte die fünf Stunden nach Welden hinaus, das Geld für die ›Eusebahn‹ sparend, die mich nach Westheim hätte bringen und meinen Weg um eine Stunde hätte kürzen können. Noch lag kein Schnee, [20] aber es war so grimmig kalt, daß ich immer hopsen mußte, um warm zu bleiben. Als ich bei Aystetten über die Wiesen trabte, blinkte der wie eine ruhende Schlange gewundene Wasserlauf der Schmutter vom schönsten Eis. Ich ›schlieferte‹ kreuzvergnügt über die glatten Spiegel hin, ohne zu ahnen, welch einen fürchterlichen Weg ich eine Woche später durch diese gefrorenen Bachschlingen machen sollte.

Daheim im Forsthause langte ich mit blauem Gesicht und steifen Händen gerade rechtzeitig an, als die warme Mittagssuppe aufgetragen wurde. Ach, diese liebe, weiße, gemütliche Stube daheim! Der Ofen lebte; die Brüstung des Fensters, in dessen Nische das Spinnrad der Mutter stand, war mit einem Rehfell verhangen; in den Käfigen piepsten und klippten die hüpfenden Vögel; zwischen Fenstern und Winterfenstern war grünes Moos mit bunten Figürchen – aber diese kleinen Nettigkeiten, die eine Illusion des Sommerlebens in die Winterstube brachten, waren kaum zu sehen, denn alle drei Fenstergesimse waren mit Mutters Weihnachtsblumen bestellt, mit den weiß und gelb und zinnoberrot blühenden Stachelpflanzen. Auf dem Ofen schwang ein papierener Schmied den Hammer, eine Mosesschlange drehte sich um eine Stricknadel[21] – (technische Schöpfungen meines Bruders) – und daneben grünte in einer Glasflasche der Oleandersteckling, der im warmen Wasser seine Wurzeln bildete, um einst ein blühender Baum zu werden.

Nach vier Jahren die erste Weihnacht, die ich wieder daheim erleben durfte!

Bei der Mahlzeit kramte ich gleich aus meinem Neuigkeitssäcklein das ganze Augsburg heraus. Der Urhirsch des Museums, das Gold der Fugger, die Pfeffersäcke der Welser – das alles ging im Sprudel durcheinander, daß der Vater mahnen mußte: »So red doch erst einen Satz zu End, eh du den anderen anfängst!«

»Geh, laß ihn!« sagte die Mutter lachend. »Du siehst doch, daß er e bissele was profitiert hat. Wie's rauskommt, isch gleich! Wenn's nur in ihm drin isch.«

Nach dem Essen wär' ich gerne ins Dorf gerannt – um nur bald in die Nähe des Pfarrhofes zu schlüpfen. Doch vor der Liebe kamen Mutter und Vater. Ich sperrte mich drüben im Ökonomiegebäude den ganzen Nachmittag und den folgenden Tag in der Forstgehilfenstube ein, kramte meinen Laubsägkasten aus und sägte, feilte, hämmerte, polierte, schwitzte und leimte drauf los, daß ich den [22] Leim sogar in die Haare und in die Ohren bekam. Eine Stunde vor der Bescherung war für den Vater eine Patronenkassette fertig, für die Mutter ein seines ›Etascheerle‹ und für jedes der Geschwister irgend eine unbrauchbare Sache, mit der ich mich sehr geplagt hatte.

Ein Nachthimmel im Sternenglanz. Das Läuten der Weihnachtsglocke. Und dann der Baum in seiner strahlenden Lichterfülle. Für die jüngeren Geschwister stand wieder der weiße Engel mit den unmöglichen Silberflügeln neben dem Ofen – und ich konstatiere, daß er diesmal keine Fleckelespantoffel trug, sondern Zeugstiefelchen mit ›Gwäschtelen‹. Die neue Köchin war, was man ein ›feines Mädle‹ nennt. Und viele Geschenke gab's, billig eingekauft, aber mit Zärtlichkeit ausgesucht. Ich könnte noch heute jedes Stücklein aufzählen. Und über diesen Weihnachtsabend vermöcht' ich ein ganzes Buch zu schreiben. Was da gesprochen wurde, unter dem brennenden Baum und dann beim Rehbraten, bei den geschnittenen Nudeln, bei den Punschgläsern und den Pfeffernüßlen – das alles ist mir fast wörtlich im Gedächtnis geblieben.

Wie es kam, daß all dieses Kleine so scharf in meiner Erinnerung haftete? Weil eine Woche [23] später, in dem Augenblick, als mir der kalte Tod an die Kehle griff, alles Kleinste dieser letzten Tage im Elternhause für meine von Grauen geschüttelte Seele wieder grell erwachte und sich meinem Gedächtnis eingrub für Lebenszeit. Was ich in einer Woche erlebt hatte, erlebte ich ein zweitesmal in drei Sekunden. Zeit? Was ist Zeit? Ich weiß es nicht. Dieser Begriff erlischt nicht nur im Traume – er kann auch für einen Wachenden erlöschen, der die Augen aufgerissen hält. Zweimal hab ich das erfahren – damals am letzten Tage meiner Weihnachtsferien und sechzehn Jahre später, als ich auf der Gemsjagd bei Berchtesgaden kirchturmhoch über die Siegerethwand heruntersauste und mich doch mit heilen Knochen aus dem Lawinenschnee herauskrabbelte, in den ich hineingeplumpst war wie in ein gut gefülltes Federbett. In solchen Sekunden denkt man Dinge, die man sich merkt.

Ich weiß noch ganz genau, daß meine kleinen Geschwister an jenem Weihnachtsabend schlafengehen sollten, als es zehn Uhr schlug, und daß sie noch um ein Viertelstündchen bettelten, und daß der Vater sagte: »Nein, Kinder, alles muß sein Genügen haben, und morgen ist auch wieder ein Tag!« [24] Wir ›Alten‹ blieben noch auf – weil Papa noch ein bißchen an seinen Schlagregistern arbeiten und ich in die Weihnachtsmette gehen wollte, um das Pfarrhof-Bertele zu sehen. Während wir schwatzten, spann die Mutter.

Eine Viertelstunde vor Mitternacht läuteten die Glocken. Ich rannte in meinem Radmäntele wie ein Narr davon – und wurde wunderlich traurig, weil das Pfarrhof-Bertele nicht in der Mette war. Im ›Pfarrköcheskirchstuehl‹ kniete nur das Fräulein Kreszenz im seidenen Hoigockelstaat, andächtig wie eine Heilige, und die jüngste der drei Schwestern ›die schwarzhaarige Wildkatz‹, die immer was zu gucken und zu wispern hatte.

Der Weihnachtsengel bescherte mir für den Rest dieser Nacht in meinem eiskalten Mansardenstübchen keine sanfte Ruhe.

Am Vormittage sprach ich vor den Eltern die höfliche Meinung aus, daß es doch wohl schicklich für mich wäre, im Pfarrhofe Besuch zu machen.

»Nein!« sagte Papa. »Das kannst du dir sparen.« Sonst kein Wort. Und Vater und Mutter redeten auch weiterhin mit keiner Silbe vom Pfarrhaus und vom hochwürdigen Herrn.

Die ganze Woche war das Bertele nirgends zu sehen, nicht in der Kirche, nicht auf der Gasse, [25] nicht im Garten, nicht hinter den immer verhüllten Fenstern des Pfarrhofes. Und wo ich auch im Dorfe vorsichtig nach dem Bertele anklopfte, überall bekam ich ein sonderbares Lächeln zu sehen oder ein unverständliches Wort zu hören.

Wißt ihr, was ›steinunglücklich‹ ist? Das war ich! So unglücklich war ich, daß ich, um die Tage zu verscheuchen, aus meinem Handköfferchen die nur pro forma mitgenommenen Schulbücher herauskletzelte und mit verstopften Ohren zu büffeln begann. Diese Verzweiflungstat wirkte ein Gutes. In den paar Tagen holte ich nach, was ich in drei Monaten versäumt hatte.

Am Morgen des Neujahrstages, der einen kalkweißen Himmel brachte, bekam der Vater bedenkliche Wettersorgen. Er meinte, daß ein starker Schneefall bevorstünde, und daß ich noch am Nachmittage den Rückweg nach Augsburg antreten sollte. Aber ich bettelte ihm das ab, daß ich den anderen Tag noch bleiben durfte bis zur letzten Stunde. Und die Mutter half mir bitten; sie glaubte nicht an schlechtes Wetter, weil sie in ihren ›Perleschnüerle‹ – in den Nerven-und Sehnenknoten an ihren Händen – noch immer kein schmerzliches Wetterzeichen verspürte.

So hatte ich noch anderthalb Tage Zeit, um [26] das Bertele aufzuspüren. Aus aller Liebe wird Mut geboren. Am Nachmittage, als es schon bald zu dämmern anfing, zog ich die Haustürglocke des Pfarrhofes. Ich hatte mir's sein einstudiert, wie ich dem hochwürdigen Herrn und dem Fräule Kreszenz glückseliges Neujahr wünschen wollte, und dann mußten sie mich nach Honoratiorensitte zu einer Tasse Kaffee einladen. Und da wird natürlich auch mein seines blasses Mädelein dabei sein!

Es dauerte lange, sehr lange, bis die Haustür zögernd geöffnet wurde. Vor mir stand Herr Pfarrer Andra, der stattliche, nur ein bißchen zittrige Mann, in rotgefüttertem Schlafrock, ein Hauskäppchen auf dem steifglänzenden Braunhaar, in der unruhigen Hand eine lange Studentenpfeife. Er sah mich feindselig an: »Was wünschen Sie?«

Mir verschlug's die schön memorierte Rede. So fing ich zu stottern an: »I wünsch e glückseligs nuis Jahr ...« Und dann kam ein Nachsatz, von dem ich nicht begriff, wieso er den hochwürdigen Herrn in solchen Zorn versetzen konnte.

Es gibt im Schwabenland ein kleines altes Verslein, mit dem die armen Dorfkinder an Sylvester von Tür zu Türe betteln gehen. Dieser Vers – ohne daß ich's wußte oder [27] wollte – kam mir in meiner Verlegenheit auf die Zunge:


»I wünsch e glückseligs nuis Jahr,

Derzue e Christkindle mit Krausehaar!«


Vor Zorn wurde der Hochwürdige dunkelrot übers ganze Gesicht, zog mit der Hand zu einer Ohrfeige aus und schrie: »Sie unverschämter Lausbub! Machen Sie, daß Sie weiterkommen!«

Die schwere Türe flog zu, als wäre eine Kanone abgeschossen worden.

Ich hatte die Ohrfeige gar nicht bekommen, stand aber vor der Haustür, als wäre mir ein schwerer Stoß gegen Brust und Stirne gefahren. Das war nun wieder einmal eine Minute, in der ich Gott und die Welt nicht verstand.

Ein paar Stunden trödelte ich in der Nähe des Pfarrhofes herum, ohne zu wissen, was ich da noch schaffen wollte. Es wurde dunkel, die verhüllten Fenster erhellten sich, und undeutliche Sterne schimmerten zwischen den Wolken.

Ich spähte und lauerte – und brachte heraus, daß an einem gegen den Garten blickenden Fenster im Hochparterre die Vorhänge nicht völlig schlossen.

Ein Sprung über den Zaun. Bei mir krachte kein Brettle. Und es bellte kein Hund. Wo war denn nur der ›große böse Hund‹, von dem [28] es hieß, daß ihn der Hochwürdige in einer mit Luftlöchern versehenen Kiste mitgebracht hätte?

Lautlos wie ein Marder kletterte ich am Weinspalier in die Höhe. Als ich durch den Vorhangspalt in die von einer schön brennenden Wachskerze erleuchtete Stube guckte, wär' ich vor Schreck beinahe rücklings über das Spalier hinuntergepurzelt; so gröblich schlug das Bild, das ich sehen mußte, mich Ahnungslosen ins Gesicht. Der stattliche Herr – ohne Schlafrock, in Hemdärmeln – saß auf einem Sessel und hatte das seine weiße Mädelein auf seinem Schoße. Rein, das Mädelein war nicht weiß, sondern trug ein dunkles Hauskleidchen. Und deutlich sah ich, daß das liebe Bertele weinte. Aber die Weinende wischte nicht an ihren Augen, sondern ließ die Arme wie leblos hängen. Und der gute, schöne, hochwürdige Onkel hielt sie ringsherum unter diesen schlaffen Armen fest umschlungen, redete ihr anscheinend sehr herzlich zu und küßte sie dabei immer wieder hinter das kleine Ohr. Und plötzlich brach das Bertele in verzweifeltes Schluchzen aus und umklammerte mit so heftigem Ruck den Hals des hemdärmeligen Onkels, daß sein steifglänzendes Braunhaar sich verschob, als wär' es ein abnehmbares Käpplein.

[29] Ich weiß nimmer, wie ich aus dem Garten hinauskam, weiß nur noch, daß ich wie ein Irrsinniger über finstere Wiesen rannte und daheim an der offenen Haustür die Glocke zog, als stünd' ich wieder vor dem verschlossenen Pfarrhof.

Beim Nachtmahl wurde mir jeder Bissen zu einem ekelerregenden Ping. Und es hatte mir doch die Mutter eine meiner Leibspeisen gekocht! Weil ich kaum ein Wort herausbrachte, fragte sie: »Langerle, was hascht du denn?«

»Nix, Mutterle! Als daß ich halt morge fort muß!«

Die Blässe meines Gesichtes fiel ihr auf. Aber diese Erscheinung schrieb sie den vielen Leckerle und Pfeffernüßle zu – es war doch auch in früheren Jahren nie eine Weihnachtswoche gewesen, in der ich mir nicht gründlich den Magen verdorben hätte.

Ich mußte eines von Mutters heilsamen Tränklein schlucken und bald ins Bett wandern.

Ach, diese Nacht! In dem finsteren, gletscherkalten Mansardenstübchen! Und mir brannte doch alles an Leib und Seele! Obwohl ich nicht wußte, warum! War's denn etwas so Schreckliches, daß ein guter Onkel seine Nichte küßt? Nein, nein, nein! Aber hinter das Ohr? Herr Jesus! Hinter das Ohr! So was ›Koinzes und Keeles‹ hätte [30] sich das Bertele nicht dürfen gefallen lassen. Und an Handumdrehen sah ich alle Schuld bei diesem seinen Mädelein, das nimmer weiß war. Mein Schreck und Kummer verwandelte sich in Zorn, nein Zorn in glühenden Haß. Ich grub das Gesicht in die Kissen, zog die Bettdecke übers Haar, schwitzte und schnatterte doch mit den Zähnen, and meine verstörten Gedanken taumelten hinüber in martervolle Träume.

Als die Mutter mich weckte, war es zehn Uhr vormittags. Natürlich hieß ich wieder das ›Murmeltierle‹ – nur daß die Mutter an diesem trüben Wintertag nicht sagen konnte: »Raus ins Gärtle, die Sonn isch da!«

Gab's denn überhaupt noch eine Sonne?

Obwohl ich an die acht Stunden geschlafen haben mußte, war ich müd an Herz und Gliedern.

Um elf Uhr bekam ich meine Wanderkost und ›Henkersmahlzeit‹. Vater, Mutter und Geschwister, die erst später essen wollten, saßen im Kreis um auch herum. Die Mutter, obschon ihr die Augen manchmal ein bißchen tröpfelten, war lustiger Laune, weil das Wetter sich zu bessern schien. Die Luft war lau geworden, und das ruhig treibende Gewölk sah eher nach Regen aus, als nach drohendem Schneefall. Auch Papa beschwichtigte seine [31] Sorge, gab mir aber, für alle Fälle' einen Bauernburschen, den Jörgele, als Begleiter mit, der mich nach Westheim bringen und mein Handköfferchen tragen sollte.

Als ich zum Abschied am Hals der Mutter hing, kamen mir die Tränen wie ein heißer Sturz.

Die Mutter tröstete: »Geh, Langerle, sei gscheid! An Oschtere kommst ja wieder!«

– Es hätte an jenem grauen Tage nicht viel gefehlt, und ich wäre niemals wieder gekommen. –

Der Jörgele war ein fideles Huhn und schwatzte beim Marschieren so lustig drauf los, daß meinen Gedanken wenig Zeit verblieb, sich mit dem abscheulichen Pfarrhof-Bertele zu beschäftigen. Abscheulich? Ja! Mit der war ich fertig! Aber schon gründlich! Läßt sich hinters Ohr busseln und hängt sich einem Pfäffle an den Hals! Pfui Teufel!

– O Torheit des jungen Herzens, Blindheit der jungen Augen! Ein wehrloses Menschenkind, das sein Unglück zu einem hübschen Weibe machte, wird in Schlingen gefangen, entehrt, gepeinigt, erwürgt – und solch ein dummes, blindes, vierzehnjähriges Kerlchen meint verachten und hassen zu müssen und erledigt die verhüllte Tragödie und allen Jammer eines verzweifelten Geschöpfes mit einem billigen Wort: Abscheulich! –

[32] Als wir die Straßenhöhe hinter Ehgarten erreichten, fahr uns ein kalter Windstoß ins Genick, Der Jörgele marschierte und schwatzte immer lustig weiter. Zu Kruichen vor dem Wirtshaus blieb er stehen. Man hörte lachende Stimmen, Guitarre und Ziehharmonika. So was liebte der Jörgele.

»Ludwigle, was moi(n)scht? Keahre mer e bissele ei(n)?«

»Noi(n), Jörgele, i mueß zur Eusebahn. Die wartet nit, weischt! Und morge hab i Schuel.«

Er sah mich prüfend vom Kopf bis zu den Füßen an und meinte, daß ich doch schon so ein starkes ›Mannsbild‹ wäre, um mein Köfferle auf den eigenen Buckel nehmen zu können.

»In Gottesname, so gib halt her und tue di vergnüege! I sag em Vater nix!«

Der Jörgele sprang mit einem Juhschrei in die lustige Wirtsstube – ich nahm mein Köfferle am Hakenstock über die Schulter und rannte los, obwohl's mit der Eile nicht dringend war. Bis vier Uhr konnte ich den Bahnhof zu Westheim bequem erreichen. Und erst um fünf Uhr kam der Zug.

Bei Adelsried begann der kalte Wind hinter mir her zu blasen, daß mir das Rennen leicht [33] wurde, und daß die zwei Enden meines blauen Schlipses immer kerungerade vorausstanden.

Als ich mitten im Adelsrieder Forste war, fing es zu schneien an, erst hinter mir her, dann grade herunter, dann mir entgegen. Wie merkwürdig das war! Die großen Schneeflocken wehten horizontal durch die Luft, als möchten sie nie zu Boden fallen. Und dennoch wurde der Schnee auf der Straße immer tiefer. Nach einer halben Stunde ging er mir schon bis an die Knie herauf, und das mühsame Waten machte mir heiß. Die Flocken wehten so dicht, daß ich links und rechts von mir die Ränder des Waldes nimmer sah. Auch mußte ich die Pudelkappe tief ins Gesicht ziehen und immer mit dem Kopfe vorausbohren, um den Schnee nicht in die Augen zu bekommen. Ein Glück, daß die Straße stangengerade durch den Wald lief und nicht zu verlieren war!

Vorne fror mich, in den Handschuhen wurden mir die Finger wie zu Eiszapfen – und hinten lief mir's unter dem klebenden Hemde heiß von den Schultern.

Ein paarmal tappte ich über die Straße hinaus in den Schnee des verwehten Grabens. Diese pfadweisenden Mulden verschwanden immer mehr im dichten, wehenden Gestöber. Durch die Pudelkappe [34] biß mich der Wind schon kalt in die Ohrlappen. Schneezotten hingen mir vor den tränenden, geblendeten Augen. Und ob ich mich rechts oder links halten mußte, das merkte ich schließlich immer nur, wenn ich links oder rechts hinunterplumpste in den tieferen Schnee. Und das kleine Köfferle, in dem nur mein Feiertagsanzug, ein bißchen Wäsche, die Schulbücher und Mutters Geschenke waren, begann wie ein Zentner zu drücken. Wegwerfen? Was die Mutter mir geschenkt hatte? Nein!

Wenn nur ein Wagen käme! Ein Mensch! Aber alles blieb weiß um mich herum. Und der Wind sauste wie eine große Mühle. Ach, der verflixte Jörgele!

War ich denn noch im Walde? Nirgends hinter dem Gestöber sah ich den grauen Schatten eines Baumes. Und dieses Tiefe da, wo ich waten mußte bis über die Hüften herauf? War das nicht schon der Hohlweg bei Aystetten? Dann mußten ja bald die ersten Häuser kommen! Wie schön war diese Hoffnung! Doch es kam kein Haus, es kam eine leere, weiße Wüste, mit Gähwinden wie Mauern so hoch, mit einem sausenden Schneetreiben, gegen das ich in meiner wachsenden Erschöpfung fast nicht mehr anzukämpfen vermochte.

[35] Nein, jetzt dachte ich nimmer an das Pfarrhof-Bertele. Das war jetzt ein Erloschenes für mich, ein Niegewesenes. Nur noch heim dachte ich, an Vater und Mutter, und an die Sorge, die sie haben mußten! Und noch an etwas anderes dachte ich, an etwas Kaltes und ganz Unsagbares. Und was sie wohl morgen in der Klasse wispern würden, wenn das blonde ›Schwabeschüppele‹ nimmer kommt?

Wo war ich denn nur? Wo war ich denn? Nach welcher Richtung mußte ich waten?

Ich blieb im sausenden Gestöber lange stehen und schrie aus Leibeskräften, schrie, bis die Tränen des Zornes und der Angst meine Stimme zerdrückten.

Da vernahm ich im Sturm einen Laut. War's nicht ein Glockenton? Die Bahnhofglocke? Oder war's der Pfiff einer Lokomotive? Herr Jesus, gleich da drüben, wo das Weiße so dick ist, muß der Hügel von Westheim liegen! Und ich war schon weiter, als ich glaubte, schon auf den Schmutterwiesen! »Herrgott, so ein bissele! Da wirscht du ja do no durchkomme!« Ich fing mit neuen Kräften zu waten an – zu rennen, wo der Schnee seichter wurde – zu wühlen, wo die weißen Mauern standen. Und plötzlich bekam ich leichteren Weg; [36] dieses Graue, Nasse, Klebrige, das mußte eine Straße sein! Aber lief denn über die Schmutterwiesen eine Straße? Nein! Herr Jesus, dieses Graue – –

Dieses Graue tat unter meinen Füßen einen leisen Krach, und bis zu den Armen hing ich im Wasser – und merkte gar nicht, daß es kalt war.

»Herrgottsaxe!«

Nach diesem erschrockenen Stoßseufzer fing ich zu brüllen an. Aber ich tat nur ein paar Schreie. Dann begriff ich, daß mir niemand helfen würde, wenn ich mir nicht selber half.

Das Köfferle und der Hakenstock waren auf dem Eise liegen geblieben. Sie gaben mir den Halt, den ich brauchte. Ich kam heraus – und weiß nicht, wie ich auf den Einfall geriet, mich im Schnee zu wälzen, um das Wasser aus den Kleidern zu bringen. Und immer lachte ich, während ich mit Hakenstock und Köfferle wieder zu waten und erschöpft zu rennen begann. Doch plötzlich verging mir das Lachen – ein dumpfer Knacks – und ich hing schon wieder bis zu den Armen im Wasser.

Jetzt blieb ich stumm. Und hing so da, und rührte mich nicht, und hatte keinen anderen Gedanken als den einen an dieses Kalte, Ziehende [37] in der Gegend meiner Beine da drunten. Das Köfferle lag weit von mir – noch auf dem Eise? Oder schon am anderen Ufer? Und der Hakenstock war verschwunden. Im Schnee versunken? Ins Wasser gefallen? Und das Gestöber, das mich umhüllte, war nimmer weiß, war schon ein bisselchen grau – die Dämmerung begann.

Ich suchte mit den Füßen nach festem Grund und fand keinen. Dieses Rudern mit den Beinen war die letzte Bewegung, die ich fertig brachte. Und ohne mich zu regen, hing ich wieder an das sulzige Eis geklammert. Das Wasser zog meine untere Hälfte schief hinüber. Und ich dachte: »Jetzt kann ich nimmer bis hundert zählen, dann muß ich auslassen!«

Es wurde mir rot und blau vor den Augen. Und da kam dieses zweite Erleben. Nur wenige Sekunden kann es gedauert haben. Und war eine ganze Woche mit Tagen und Rächten. In dieser Woche meines wiederholten Lebens war kein Pfarrhof – nur das Haus meiner Eltern. Schwimmen mir die Bilder jener Vergangenheiten wirr durcheinander? Vermag ich die Chronologie des Erlebten nicht mehr mit Sicherheit festzustellen? War es wirklich der Neujahrstag von 1870, an dem ich das Bertele auf dem Schoß [38] des zärtlichen Onkels hatte sitzen sehen? Hab' ich vielleicht dieses ›keele‹ Bild erst in den Weihnachtsferien des folgenden Jahres erlebt? Oder rechnet meine Erinnerung richtig? Und haftete der Lebensschreck, der mich vom erleuchteten Fenster des Pfarrhofes hinausgetrieben hatte in die schwarze Nacht, so locker in meiner Seele, daß er spurlos und völlig aus ihr verschwinden konnte, als das eisige Wasser der Schmutter an meinen Hüften zog? Denn dieses Eine weiß ich heute noch fest und bestimmt: die jagende Bilderflucht, die damals der kalte Hauch des nahen Todes in meinem Gehirn entstehen ließ, zeigte mir keinen Pfarrhof nur die Meinen und das Elternhaus. Und alles, was ich da zum anderenmal erlebte, war schön und warm und heiter. Die Mutter, der Vater und die Geschwister lachten immer. Und alles kam da wieder, jedes Kleinste, jedes Wort, jeder Atemzug – alles, von der ersten Stunde, in der ich mich vor Freude wie verrückt an den Hals der Mutter geworfen hatte, bis zur letzten, in der sie mich tröstete: »Geh, Langerle, sei gscheid! An Oschtere kommst ja wieder!«

Und als ich die Mutter das sagen hörte, spreitete ich den linken Arm über das Eis und schlug mit der rechten Faust eine Scholle ins [39] Wasser hinunter – und streckte den rechten Arm und schlug mit dem linken zu – und kam dem Ufer immer näher, fühlte vor den suchenden Fingern ein Schilfbüschel, fühlte Grund unter den Schuhen – und war draußen und wälzte mich wieder im Schnee, aber nimmer lachend, sondern stumm. Meine Hand, die wie beinern geworden, konnte kaum noch das Köfferle fassen. Während ich watete und keuchte, begannen im kalten Grau des Abends meine Kleider zu gefrieren. Die Hose wurde wie von Blech, und in den Kniekehlen empfand ich schmerzende Schnitte. Ein Lokomotivenpfiff – noch ferne! Ich watete, keuchte, wurde heiß und schwitzte – viel reichlicher noch, als im letzten Alt der, Philippine Welser› – und alles Starre an meinen Kleidern begann wieder lind zu werden. Rötliche Lichter im trüben Schleier. Ein Hügel, den ich kaum noch bezwingen konnte – ich mußte das Köfferle an meinen hartgewordenen Schlips binden und im Schnee hinter mir herziehen wie einen Kinderschlitten. Bevor der verspätete Zug noch in den Bahnhof einfuhr, stand ich am Schalter: »Augsburg, erster Klass‹!« Denn ich wußte, nur in der ersten Klasse gab es Wärmflaschen.

Der Kondukteur fing fürchterlich zu schimpfen [40] an, als er mich weißes Schneemänndle in die erste Klasse hineinzappeln sah. Aber ich hatte mein ›Bullet‹, er mußte schweigen. Und als der Zug sich langsam davonschob durch den Schnee, riß ich – allein in dem warmen Wagen – unter dem trüben Öllämpchen flink herunter, was ich am Leibe hatte, stieg auf die Polster, trocknete meinen Körper mit den Fenstervorhängen ab und holte aus dem Köfferle die frische, noch leidlich trockene Wäsche und mein Feiertagsgewand heraus. Ich hatte Strümpfe, aber keine anderen Schuhe. Und nun hockte ich da, mit den pelztauben Füßen auf der langen Wärmflasche, mit den starren Händen unter dem Körperteil, auf dem ich saß.

Herrgott, wie war mir wohl! Und wie war das Leben so schön! Und ich mußte lachen darüber, daß ich am ganzen Leibe dampfte wie eine in guter Glut gehaltene Tabakspfeife.

Dann schlief ich ein. In Augsburg konnte mich der schreiende Kondukteur kaum munter machen. Er schimpfte wegen der Wasserlache, die den Boden des Kupees bedeckte, und stopfte mein nasses Zeug in mein Köfferle, während ich mich fürchterlich plagen mußte, um die aufgedunsenen Füße in die windelweichen, eingeschrumpften Schuhe zu bringen.

[41] Damit ich nicht aus der schönen Wärme käme, schlug ich durch die Stadt einen Laufschritt an.

Mein Zimmer war kalt. Ich legte mich gleich ins Bett, holte aus meinem Köfferle Mutters feuchtgewordenen Marzipan heraus und schluckte und knusperte. Was mir auf den Schmutterwiesen passiert war, jener Todesschreck, verwandelte sich jetzt in eine so komische Geschichte, daß ich unter der warmen Decke immer lachen mußte, während der Marzipan zwischen meinen Zähnen krachte.

Als ich am andern Morgen zur Schule geweckt wurde, machte ich die Wahrnehmung, daß die Hefte und Schulbücher, die ich im Köfferle aus den Weihnachtsferien mitgebracht hatte, vor Feuchtigkeit ganz zermürbt und gerunzelt waren. Sonst hatte ich keinen Schaden von der Sache, war frisch und gesund, kein bißchen heiser – und nicht einmal einen Schnupfen bekam ich wie nach der ›Philippine Welser‹. Das Leben mit seinen Gefahren und Ängsten scheint eine noch viel gesündere Sache zu sein, als die Kunst mit ihren schönen Worten.

Und das Pfarrhof-Bertele? Hekuba! Und ausgelöscht aus meinem Leben! Meine in der [42] Weldener Dorfschule gereifte Erfahrung, daß alles ›Mädeleszuig‹ eine minderwertige Sache wäre, hatte sich wieder einmal als richtig erwiesen.

Die psychischen Nachwirkungen der glücklich überstandenen Todesgefahr verwandelten mich für einige Wochen in ein fleißiges Studentle. Ich gab mein verrücktes Gassenrennen auf, blieb viel daheim, beschäftigte mich am Tage hartnäckig mit meinen Schulbüchern, las in den Nächten Büchners ›Kraft und Stoff‹ oder Shakespeares Historien, (die ich liebte, weil in ihnen so wenig von Liebe vorkam) – und Augsburgs große Vergangenheit wurde mir eine gleichgültige Sache. Noch schlimmer als gleichgültig! Man spottet gerne über erledigte Leidenschaften. An einem schneienden Winterabend, der die Gassen öde machte, setzte ich dem Denkmal des edlen Herrn Welser – oder war es das Denkmal des noch edleren Herrn Fugger? – einen alten Zylinderhut auf und band ihm einen aufgespannten Regenschirm an die eherne Faust. Folgenden Tages stand zum ersten Male etwas über mich in der Zeitung, glücklicherweise ohne Nennung meines Namens; in dem empörten Artikel des Augsburger Blättchens hieß ich kurzweg: dieser Bube. Ein falsches Urteil! Was [43] ich getan hatte, war kein Bubenstreich, sondern eine geistige Erlösung. Und wäre dem Artikelschreiber bekannt gewesen, wieviele Seelenschmerzen ich um Augsburgs großer Vergangenheit willen gelitten hatte – er würde meine Handlungsweise milder beurteilt haben.

[44]
2.
II.

Der Fleiß für die Schule und dieses geduldige Stubenhocken schien nicht günstig auf meine gesunde Natur zu wirken. Ein junges, rundes Mädelchen, das im Hause war, irritierte meine Phantasie und verursachte mir wunderliche Leiden. Ich begann da wieder einmal zu glauben, daß ich ›krank‹ wäre. Und hatte keine Ruhe mehr bei Tag und Nacht. Damals war mir alles menschlich Physiologische noch eine ziemlich dunkle Disziplin der irdischen Erfahrung. Ich sah mich in diesem martervollen Zustand allerlei Unerklärlichkeiten gegenüber, die ich trotz eifrigen Nachdenkens nicht klarzustellen vermochte. Die Tage wurden quälendes Unbehagen, die Nächte eine schwüle, zitternde Pein. Und ob ich in diesen Rächten wachte und sonderbare Bilder sah, oder ob ich schlief und von grotesken Unmöglichkeiten träumte – das eine [45] wie das andere machte mich mager und verursachte mir unheimliche Schmerzen. Ich litt an schweren Erscheinungen, die ich nicht genauer zu schildern brauche, da sie jeder Lebende kennt. Die Natur glänzt in dieser Sache nicht durch Vielseitigkeit.

Um der dunklen Hausplage zu entrinnen, fing ich jene unermüdliche Gassenrennerei wieder an, machte alle tollen Streiche der Kameraden mit und fehlte bei keinem Abendbummel auf der Maximiliansstraße. Dabei wurde ich wieder ganz der stolze feste Bub mit den maskulinen Glaubenssätzen der Dorfschule. Aber Klugheit und Ehrgeiz machten mich ein wenig zum Heuchler. Ich verachtete das Weib nur innerlich und durch einen völligen Mangel an Taten. Doch wenn meine Kameraden beim Bummel allerlei pikante Gespräche führten, durfte ich nicht als der Dumme, nicht als die Unschuld vom Land erscheinen. Da mußte man schwadronieren und um jeden Preis auf der Höhe bleiben. An konkrete Darstellungen meiner angebliche Donjuanerien wagte ich mich wegen meiner lückenhaften Sachkenntnis in arte amandi nicht heran. Ich spielte den Verschlossenen, den Diskreten, beschränkte mich auf ein vieldeutiges Lächeln, auf kurze Kraftworte, und hatte immer heimliche Wege zu machen, bei denen ich ›absolut‹ keine [46] Begleitung brauchen konnte – Wege, die mich zu einem Vorstadtantiquar, zu einem Briefmarkenhändler oder zu einem Schmetterlingszüchter führten. Damit ich aber auch ein bißchen was Effektives zu zeigen hätte, wählte ich mir nach dem Beispiel der Kameraden einen ›offiziellen Schwarm‹. Sie war eine Konditorstochter in der Maximiliansstraße. Da konnte man beim abendlichen Bummel bedeutsame Augenwinke durch das Schaufenster hineinsenden. Und kaufte man für 10 Kreuzer ›Lagrizzezeltln‹ oder einen Indianerkrapfen, so konnte man geheimnisvoll lächeln, den Ellenbogen vertraulich über die Ladenpudel legen und Gesten machen, die sich im Laden selbst recht harmlos ansahen, aber draußen von den Spähern vor dem Schaufenster ganz anders gedeutet wurden. Diese Sache spielte den halben Winter, ohne daß ich den Vornamen meiner Angebeteten erfuhr. Doch als mir einer meiner Kameraden und Neider einmal spöttisch vorhielt: »Du, die Deinig schielt doch e bissele?« ... antwortete ich mit der Ruhe eines gewiegten Herzenbrechers: »Was verschtehscht denn du? Dees isch doch grad das Reizvolle an ihr!«

Die Bummelbande begann aber schließlich doch an der Tatsächlichkeit meiner Erfolge zu zweifeln. Da bescherte mir ein freundliches Schicksal [47] ein merkwürdiges Erlebnis, mit dem ich wirklich prahlen und die Zweifler überzeugen konnte.

Wenn wir nachmittags aus der Klasse kamen und den Bummel begannen, ging man in der Maximiliansstraße zuerst zum Charkulier Eckert und kaufte heiße Würstchen, die man dann auf der verschneiten Straße draußen mit Appetit aus der Papierdüte herausbiß. In diesem Laden, in dem es sehr lebhaft zuging, war auch eine hübsche junge Verkäuferin mit lustigen schwarzglänzenden Kirschenaugen. Sie gab sich immer sehr freundlich gegen mich, und wenn wir im Dutzend anrückten, bediente sie mich zuerst. Ich weiß nicht, wie es kam – eines abends mußte ich zu ihr sagen: »Fräule! Sie haben zwei so liebe schwarze Äugerln.« Sie lachte, beugte sich über den steinernen Ladentisch herüber und sprach ganz leise: »Und du hascht zwei gute, nette, blaue Guckerle!« Mir wurde heiß übers ganze Gesicht, als ich den Gulden auf den Marmor legte, um meine zwei Paar Würstchen zu bezahlen.

Erst auf der Straße merkte ich, daß dem lustigen Fräulein beim Wechseln ein Irrtum passiert war. Jetzt werden die Pessimisten unter meinen Lesern denken: die kluge Schlange hat den grünen dummen Kerl mit einer liebenswürdigen [48] Redensart eingeseift und hat ihn dabei um zwanzig Kreuzer beschummelt. Nein! Der Pessimismus kennt die Menschen schlecht. Die gute Seele hatte mir zehn Sechser herausgegeben, wieder einen vollzähligen Gulden! Ich rannte in den Laden zurück. Aber das Fräulein erklärte auf das Bestimmteste, daß ich mich geirrt hätte. Ganz ernsthaft redete sie; doch ihre Augen lachten. Das Verständnis dämmerte mir auf Aber ich wollte meiner zärtlichen Rechnung nicht trauen, bevor nicht eine verläßliche Probe gemacht war. Am folgenden Abend bezahlte ich meine drei Paar Würstchen wieder mit einem Gulden. Und wieder bekam ich zehn Sechser heraus. Das gleiche ereignete sich Abend für Abend. Ich wechselte die zehn Sechser immer wieder in einen Gulden um, die freundliche Würstlfee verwandelte den Gulden immer wieder in zehn Sechser. Meine Kameraden konnten sich mit eigenen Augen von diesem Wunder der Liebe überzeugen.

Vielleicht findet ein Leser, der mit dem Lebensgewichte der Korrektheit behaftet ist, mein Verhalten in dieser Sache nicht gentlemanlike. Aber als immerhungriges Studentlein mit fünf Gulden Taschengeld im Monat hatte ich niemals den Ehrgeiz, ein Gentleman zu sein, und so kann ich [49] in der Geschichte meines Lebens bei der Wahrheit bleiben und bekennen, daß ich mir auf meinen galanten Erfolg sehr viel einbildete, und daß die Gratiswurst, die mir die Liebe zwei Monate lang an jedem Abend bescherte, ganz vortrefflich schmeckte. Aber dann gab's einen Donnerschlag, wie er in vielen Märchen vorkommt. Eines Tages war die hübsche Verkäuferin aus dem Laden verschwunden, und ich mußte meine zwei Paar Würstchen wieder genau so bezahlen wie jeder andere Sterbliche. Eine ganze Woche brauchte ich, bis ich den Mut fand, im Laden nach dem Verbleib des netten Fräuleins mit den schwarzen Äugerln zu fragen. Und nun denkt euch, was ich da erfahren mußte! Meine gute Fee hatte – einen Stabstrompeter geheiratet. Erst war ich über diese Nachricht konsterniert, dann ein bißchen traurig, und schließlich wünschte ich in meinem Herzen dieser guten Seele, deren Namen ich nie erfahren habe, alles lachende Glück des Lebens.

Werdet nur nicht ungeduldig über die kleinen Harmlosigkeiten, die ich da erzähle. Ich glaube nämlich, daß sie wichtig sind. Und glaube, daß das Leben eines Menschen viel weniger von den großen Ereignissen der Daseinsfeste geformt wird, als von der stillen, intimen Kleinarbeit der [50] Wochentage. Auch schreib' ich die Geschichte meines Lebens nicht, um mich nach Art so vieler Selbstbiographen bedeutsam aufzuputzen und mich wichtiger zu machen, als ich bin. Ich will nur das Leben eines frohen Menschenkindes in allen Zügen schildern, um zu beweisen, daß man gerechte Ursach haben kann, das Leben zu lieben und an die Menschen zu glauben. Und weil mein Leben immer hell und heiter war, und weil ich wahr sein will und mein eigenes Leben besser zu kennen glaube als das Leben eines anderen, drum wurde ich zum Biographen meiner selbst. Aber da müßt ihr nun dieses Leben auch so nehmen, wie es war – und müßt mich ehrlich auch das Kleine in seinem Gesichte schildern lassen, ohne literarische Frisur und ohne romantischen Spitzenbesatz.

Abenteuer mit Prinzessinnen und fürstlichen Frauen kann ich nicht auftischen. In ihre Nähe kam mein Leben erst, als ich schon nimmer auf Abenteuer ausging. Das will ich nicht beklagen. Die Singer und Sager haben mit hohen Damen niemals sonderlich frohe Erfahrungen gemacht; sie verlernten das Lachen und wurden Sänger eines Schmerzes, der für das Leben nicht typisch ist, also auch nicht notwendig. Denkt nur an den [51] größten unter ihnen – an den einen, der alles kennen lernte, die Grotte der Egeria und die Hand, die werkeltags den Besen führt. Er sang das hohe Lied vom guten Gretchen. Doch er mußte mit Schnellpostpferden Reißaus nehmen bis nach Rom hinunter, um einem Glücke mit Wappenschild noch heil zu entrinnen. Doch ihr wißt auch, was ihn wieder tröstete und wieder lachen machte! Ein bescheidenes Veilchen, das er am Wege fand.

Ihr kleinen, stillen, niedlich blühenden Veilchen meiner Jugend! Ihr meines erwachenden Herzens huldvolle Königinnen, die ihr nicht Samt und Seide trugt, nur Mull und waschbares Leinen! Ich blieb euch dankbar durch mein ganzes Leben. Denn nie verstandet ihr euch auf die kluge Geschicklichkeit, zu nehmen, nur auf die zärtliche Kunst, zu geben!

Und du! In diesem blühenden Reigen von den ersten eine! Du Namenlose! Du mit den lachenden Kirschenaugen! Du Stabstrompeterin! Von der ich vermute, daß sie heute Großmutter von vielen Enkeln ist! Deine molligen Grübchenhände waren ein bißchen rot – und immer ein bißchen glänzend, ich will nicht sagen, wovon! Doch diese Hände verstanden es, heiter zu schenken. Es könnte sein, Du Namenlose, daß mir deine [52] roten Hände und dein heiteres Lächeln vom guten Herzen des Weibes ein Besseres erzählten, als die tausend Lieder der Minnesänger und die kunstvollen Strophen der Troubadours. Und heute will ich dir bekennen, daß ich dich lange, lange nicht vergessen konnte. Ich habe dir feste Treu' gehalten! Zwei volle Jahre gab es für mich kein neues ›Weib‹ – zwei Jahre und drei volle Monate hielt dein Angedenken mein junges Herz und Blut in ungestörter Schonzeit. Sei gesegnet! Amen!

Die Leidenschaften, die mir ferne blieben, ersetzte ich in jener ›liebeleeren‹ Zeit durch Passionen. Und jede betrieb ich mit Sturm und Glut. Zuerst wollte ich das Perpetuum mobile erfinden. Aber wie es jenem erging, der Gold machen wollte und das Porzellan erfand, so ähnlich erging es mir. Meine mechanischen Heimlichkeiten führten zur Erfindung einer Gummischleuder, mit der man einen die Nachtruhe störenden Hund vom dritten Stock herunter so fürchterlich hinausschießen konnte, daß er heulend durch sieben Gassen rannte.

Dann kam wieder die Markensammelwut an die Reihe. Ich wurde Spezialist und setzte meinen Ehrgeiz darein, alle Thurn und Taxis [53] und die sämtlichen ›Nester‹ von Brasilien zu besitzen. 1

Nach wenigen Wochen eine jähe Rückkehr zur Natur! Schmetterlinge! Und weil ich im Winter nicht zum Fang hinausrennen konnte, verlegte ich mich auf den Handel, auf Kitsch und Kauf. Ich brachte unter allen Augsburger Sammlern die reichhaltigste Kollektion von asiatischen Seidenspinnern zusammen.

Neben der Schwärmerei für die schöne Natur versuchte ich einen Flug ins Reich der Kunst. Alles Schulleben jenes Winters ist in meinem Gedächtnis erloschen. Nur die Erinnerung an den Zeichnungsunterricht, den ich gern besuchte, ist hell in mir geblieben. Wir machten da prachtvolle Konstruktionen, tuschten nach Kartonmodellen und zeichneten nach Gipsköpfen. Und weil mir ein paar Tonflächen, ein paar Akanthusblätter und Götternasen nicht übel gelangen, fühlte ich mich zum Künstler berufen, ließ mir das Haar nimmer schneiden und gewöhnte mir eine für meinen künstlerischen Beruf ganz unentbehrliche Bewegung an: mit der rechten Hand genialisch[54] durch den wuchernden Lockenwald zu fahren. In Glut und Eifer studierte ich die Kunstkritiken der Augsburger Abendzeitung und eignete mir Worte an wie: tonig, kaltes Licht, pastos, gruppiert, überschnitten, dekorativ, staffaschig usw.

Sitzt ein Spatz auf der Stange, so fliegt auch gleich ein zweiter zu. Ich war schon kunstkrank, als ich auch noch vom Fieber fürs Theater befallen wurde. Nicht mit einer klassischen Tragödie begann das, sondern mit Nestroys ›Lumpazi Vagabundus‹. Ob dieses Stück im Augsburger Stadttheater gut oder schlecht gemimt wurde, kann ich nicht entscheiden. Ich weiß nur noch, daß es für mich ein Rausch von Freude und Heiterkeit war, von Jubel und Begeisterung. Unvergeßlich ist mir der Name des Komikers Witz geblieben, der den Schuster spielte und mit so urwüchsiger Derbheit extemporierte, daß die kichernden Frauenzimmer im Zuschauerraume immer die Hände vor die Augen hielten. Es war eine Aufführung, von der ich heute glaube, daß in ihr noch ein Atemzug aus den Zeiten der wildesten Hanswurstiaden lebte. Und wer hätte mir an jenem lachenden Abend vorausgesagt, daß ich fünfundzwanzig Jahre später mithelfen würde, die Gesamtausgabe Johann Nestroys zu redigieren?

[55] Mit diesem Abend begann für mich ein unersättliches Theatergerenne. Um mir die ersehnte Freude zu verschaffen, machte ich's wieder wie beim Neuburger Lesefieber und verkitschte, was von meinem bescheidenen Eigentum einen Groschen bringen konnte. Den stärksten Eindruck unter allem, was ich zu sehen bekam, machte auf mich die Rollerszene in den Räubern. Sie regte mich derart auf daß ich plötzlich, in der atemlosen Stille des Hauses, einen gellenden Laut gegen die Bühne schrie und aus dem Stehparkett hinausgeführt wurde, weil die Türschließer vermuteten, ich wäre irrsinnig geworden – eine Diagnose, die ich in meinem Zorn über die erlittene Behandlung mit den Worten widerlegte: »Ihr Oxe! E Dichter wird wohl no wirke därfen auf oin!«

Den Roller hatte kein Schauspieler dargestellt, sondern ein Opernsänger, der junge Baritonist jener Spielzeit. Ihm zuliebe besuchte ich die nächste Oper, in der er beschäftigt war. Aber da gab's eine Enttäuschung. Was ›Oper‹ hieß, mißfiel mir gründlich – trotz meiner Zärtlichkeit für alles, was Musik war. Ich begriff nicht, warum die handelnden Personenimmer singen mußten – und es ernüchterte mich, wenn die Helden und Heldinnen so dumme Bewegungen [56] machten und das Maul so fürchterlich weit aufrissen. In den kritischen Gesprächen mit meinen Kameraden bezeichnete ich die Kunstform der Oper als ›ebbes Unsinnigs‹ und beschränkte mich dann ausschließlich auf den Besuch des Schauspiels. Das war ein wunschloses Genießen, ein dankbares Stillen meines Schönheitsdurstes, aber keine Fütterung meines Ehrgeizes. Immer galt meine Begeisterung dem Ganzen, nie dem einzelnen Komödianten, der auf mich wirkte. Die Schauspielerei erschien mir nicht als eine rechte Kunst, nur als eine amüsante Sache, die man bei einigem Geschick und gutem Willen lernen kann wie das Tapezieren. Und aus meiner Theaterbegeisterung wuchs mir auch niemals der leiseste Wunsch heraus, Schauspieler werden zu wollen. Von dieser Torheit der Jugend blieb ich verschont. Der viele Theaterbesuch dieses Winters befruchtete aber auch keinen anderen Keim meines Lebens. Seit der bösen Erfahrung, die mir die Philippine Welser gebracht hatte, war ich mit meiner kindlichen Muse wieder einmal ›faschee‹, und der Gedanke, Schriftsteller zu werden, war damals meinem Leben so ferne, wie Kolumbus bei der Entdeckung Amerikas ferne von Indien war.

Dann plötzlich – man kann da wirklich [57] sagen: über Nacht – wurde meine objektive Theaterschwärmerei völlig von einer anderen Sache beiseite geschoben, die mich mit glühenden Zangen faßte.

Da bummelte ich eines Abends wieder durch die Maximiliansstraße, döselte und träumte in meiner gewohnten Art, guckte die Menschen an, ohne sie zu sehen – und unter den vielen kam mir einer entgegen, bei dem ich mir denken mußte: »Herrgott, der schaut wem ähnlich! Wem denn nur?« Der Ähnliche blieb vor mir stehen und sagte schmunzelnd: »No, du blindes Kamel, mir scheint, du kennst deinen eigenen Vater nimmer!« Ich erwachte. »Herr Jesusle, Papa!« Dann gab's einen Sturm meiner Zärtlichkeit, daß die Leute auf der Straße stehen blieben und lachten.

Am Abend nahm Papa mich in eine Weinstube mit. Unter dem Haustor sagte er: »Du! Da sind gescheite Leut beisammen! Da halte deinen grünen Schnabel und paß ordentlich auf!« In einer großen, gemütlichen Stube des ersten Stockes versammelte sich an einem langen Tisch eine Gesellschaft von etwa zwanzig Herren: ein Dutzend Berufskollegen meines Vaters, die von ihren Revieren hereingekommen waren, einige Offiziere, der Redakteur Wirth von der Augsburger[58] Abendzeitung, ein Herr von der Allgemeinen und zwei Landtagsabgeordnete, von denen er eine gleich meine Aufmerksamkeit zu fesseln begann: ein untersetzter, robuster Mann, ein bißchen bucklig, mit einem mähnigen Löwenkopf mit einer kraftvollen Glockenstimme und mit zwei klugen, schönen, flammenden Augen, deren erster Blick auch klein und mäuschenstille machte. Das war der Doktor Völk. Wer weiß heute noch viel von ihm? Ein Augsburger Advokat! Und war doch eine von den klingenden, starken Noten jener stürmischen Zeit, aus deren Schoß ein Großes geboren wurde – und war von den Männern einer, die mit festen Schultern das liebe Bayerland dorthin schoben, wohin es gehörte.

Während die Herren speisten, ging das Gespräch mit zwanzig Stimmen heiter durcheinander. Als die Teller verschwanden und die Pfeifen qualmten, kam ein anderer Klang in die Stimmen. Zwei, drei Gesprächsgruppen bildeten sich am Tische; in der einen sprachen sie leis, in der anderen laut und erregt. Immer löffelte ich mit den Ohren, aber ich konnte nicht viel aufschnappen, was mir verständlich war. Links von mir sprachen sie vom Konzil, das seit Monaten in Rom versammelt saß, um den Papst unfehlbar zu machen; [59] rechts von mir redeten sie von Frankreich, von Napoleon, von der Kaiserin Eugenie, von den Chassepotgewehren, vom preußischen König und von diesem schrecklichen Minister Bismarck, den ich von Anno 66 her noch immer haßte – und ein mageres Herrchen mit beinernem Runzelgesichte wollte zehn Flaschen Jesuitengarten wetten, daß Preußen im Frühling übers Jahr den Krieg mit Frankreich hätte. Man lachte und redete wirr durcheinander. Nur der Bucklige mit dem Löwenkopf blieb stumm und trommelte nervös mit seinen kurzen dicken Fingern auf der Tischplatte. Dann schwiegen auch die anderen alle und lauschten einem hageren Offizier, der in meines Vaters Alter stand; er redete hastig, mit gedämpfter Stimme, und ich weiß noch, daß er sagte: »Es heißt, daß sie in den preußischen Arsenalen fieberhaft arbeiten, bei Tag und Nacht.«

Da griff der Doktor Volk mit beiden Fäusten über den Tisch hinüber und faßte die Hand des Offiziers. »Und bei uns? Was geschieht bei uns?«

Der Offizier wollte antworten, doch er schwieg und wandte die Augen mit einem Blick des Unbehagens auf mich. Papa wurde dunkelrot übers ganze Gesicht. Und Onkel Franz – meines Vaters Bruder, der in Augsburg städtischer Revierförster [60] war – sagte von einer Ecke her: »Gustl, schick den Buben heim, gegessen hat er ja schon!« Ich fühlte, daß mir alles Blut aus den Wangen wich, und daß mir eiskalt wurde bis in die Fingerspitzen. Und plötzlich stand ich auf den Beinen, streckte mich und sagte mit schrillender Stimme: »Auf Ehr und Seligkeit, i tue nix ausrede, i ka(n) schweige wie en Ofe!« Ein heiteres Gelächter prasselte um den ganzen Tisch herum, alle Augen sahen mich lustig an, und der Löwenköpfige sagte: »Der Bub soll nur bleiben! Wer soll's denn fühlen, wenn's die Jugend nicht mitfühlt!« Er streckte mir freundlich das Glas entgegen. »Komm, du keckes Scheisserle, stoß an mit mir! Auf daß du ein deutsches Mannsbild wirst, wie dein Vater eins ist! Und paß auf, Bub! Bis übers Jahr wirst du was Furchtbares erleben! Oder, geb's Gott, was Herrliches!« Alles wirbelte mir im Kopf während ich meines Vaters Weinglas bis auf den letzten Tropfen austrank – und ich kann euch nicht sagen, wie glücklich ich war, und wie stolz!

Von den heißen Worten dieses Abends hab' ich wohl nicht allzuviele behalten. Aber manches weiß ich noch - so, daß der Doktor Völk unter dem lauten, erregten Gespräch der anderen plötzlich [61] mit der Faust auf die Tischplatte schlug und schrie: »Sie müssen! Sie müssen! Da geh ich im Landtag mit dem Kopf durch die schwarze Wand«.

Dann gab's einen Aufruhr, weil ein kleiner schmieriger Junge mit blauer Leinenschürze dem Herrn von der Allgemeinen einen langen engbedruckten Papierstreifen brachte. Alle an der Tafel streckten die Köpfe. Der Herr von der Allgemeinen schickte den Druckerjungen aus der Stube, legte den Papierstreifen auf den Tisch und sagte: »Hier, meine Herren, der neue Römische Brief, der morgen erscheint!« Das wirkte wie ein Funke in der Pulverkiste. Und mein Vater riß das Blatt an sich, sprang vom Sessel auf und begann zu lesen. Immer wieder wurde er durch erregte Zwischenrufe unterbrochen. Es war da von Rom die Rede, vom Konzil, vom Papste, von den deutschen Bischöfen – etwas Deutliches und Sicheres weiß ich nimmer – aber ich erinnere mich noch, daß die Stimme meines Vaters, während er las, immer heftiger zitterte, und daß sie einen fremden, gereizten Klang bekam.

Dann gab's eine leidenschaftliche Debatte, der mein wirbliges Gehirnchen nicht mehr folgen konnte. Doch einiges drückte sich noch fest in mein Gedächtnis ein. Ich sehe noch, wie sie alle [62] den Herrn von der Allgemeinen bestürmten, weil sie wissen wollten, wer der Verfasser dieser anonymen Römischen Briefe wäre. Der Redakteur schüttelte immer den Kopf und wehrte mit beiden Händen. Und der Doktor Völk rief in den Lärm der anderen: »Das ist der Döllinger! Kein anderer hätte den festen, ruhigen Mut!« Wieder ein Gewirre von Stimmen, ein heißerregtes Hin und Her der Meinungen. Dann klang die Stimme meines Vaters: »Wenn sie es nur täten! Wenn sie nur die Kurasche hätten, dem gesunden Verstand der ganzen Welt ins Gesicht zu schlagen! Das brächte den Riß! Endlich! Endlich! Und das deutsche Patriarchat! Die deutsche Einheitskirche!« Und dann stand der Doktor Völk hinter seinem Sessel, dessen Lehne er mit den starken Fäusten umklammerte. Und sprach, während alle schwiegen – sprach von einer großen, leuchtenden Hoffnung, vom Aufgang einer gebärenden Zeit.

Ich habe in meinem Leben viele, viele Redner gehört, die sich auf wertvolle und klingende Worte verstanden. Aber kein zweiter hat mir Leib und Seele und Blut so heiß durcheinander geschüttelt, vie damals an jenem Abend der Doktor Völk mit seiner Löwenstimme und mit dem Worte von der gebärenden Zeit.

[63] Ein Jubel von zwanzig Stimmen, ein Gläserklingen – dann war ich mit meinem brennenden Köpfl draußen in der kühlen Nacht. Und während wir durch die dunkle, menschenleere Straße heimgingen, sprach Papa noch immer heiß und erregt. Vor meiner Haustür hing ich lange an den Hals des Vaters geklammert. Und als ich droben in meinem finsteren Stüble war, das Fenster aufriß und mit dem Kopf hinausfuhr, konnte ich von der Langen-Gasse her noch die raschen Schritte des Vaters hören, der, um mit dem Morgen wieder im Dienste zu sein, noch in der Nacht die fünf Stunden nach Welden hinauswanderte.

Ich weiß nicht, ob ihr ruhig Gewordenen von heute aus dem Bilde, das ich da geschildert habe, noch herausfühlen könnt, was dieser ›große Abend‹ für mich junges Kerlchen bedeutete. Es mag auch sein, daß ich bei meinem grünen Alter von damals das Wichtigste mißverstand, das Wertvollste vergaß, und daß ich heute nur noch ein Halbes, ein Unzureichendes zeigen kann. Aber in jener Nacht, in der ich vor Aufregung und Begeisterung nimmer schlafen konnte, hatte ich das Gefühl, als wär' ich plötzlich ein Mann geworden, und brennend war in mir der Glaube, daß von meinem auf ›Ehr und Seligkeit‹ beschworenen [64] Schweigen die geistige Befreiung der Menschheit und das Schicksal des deutschen Volkes abhinge. Nein, ihr sollt nicht lachen über die Torheit meiner fünfzehn Jahre! So, wie es damals in mir begann, so töricht und schön beginnen im Leben der Menschen alle großen, neuen und wertvollen Dinge.

Zwischen jenem Abend in der Weinstube und dem Tage, an dem das Große, das wirklich Große, in Wahrheit begann, müssen viele Wochen, drei oder vier Monate gewesen sein, mit den Osterferien dabei – aber alles Dazwischenliegende ist in meinem Gedächtnis beinahe völlig erloschen. In meiner Erinnerung sieht es so aus, als hätte sich unmittelbar an jenen Abend in der Weinstube die stürmisch aufbrennende Begeisterung des deutschen Volkes, die französische Kriegserklärung und die altkatholische Bewegung angeschlossen. Doch im Leben paart sich alles Große mit dem Kleinen, alles Ernste mit einer Ursache zu schallendem Gelächter. Wie man in einer finsteren Gewitternacht beim Aufzucken der Blitze flüchtig ein paar wunderliche Dinge sieht, die man nie vergißt – so ist mir aus jener unkontrollierbaren Zwischenzeit, in der alles andere Leben für mich erlosch, die Erinnerung an ein drolliges Wort geblieben, die Erinnerung an eine groteske Szene und an ein schmerzliches Erlebnis.

[65] Aus der Zeit der Osterferien besinne ich mich noch dunkel darauf, daß es in Welden schon allerlei Unfrieden gab; daß politische Parteien entstanden waren, die sich befehdeten; daß der hochwürdige Herr Andra immer einen hastigen Gang, ein echauffiertes Gesicht und zornsprühende Augen hatte; daß mir ein paar von meinen Dorfschulkameraden scheu aus dem Wege gingen – und daß mir einer, den ich beim Kittel faßte und nicht mehr ausließ, diesen Blödsinn beichtete: unser Forsthaus wäre vom Teufel besessen, man hätte schon mehrmals in den Rächten feurige Geister bei uns durch Hof und Garten reiten sehen. – Oder gehören diese Bilder ins folgende Jahr? In die Osterzeit von 1871? – Das alles liegt für mich wie unter dichten Schleiern. Hell ist nur jenes schmerzliche Erlebnis. Das war an einem kühlen Frühlingsabend mit zaubervollen Himmelsfarben. Lange Wolkenstreifen waren wie brennende Blutbäche zwischen dem leuchtenden Grün der Lüfte. Vom Widerglanz dieser Farben schimmerte alle Dämmerung des Grundes. Wohin ich gehen wollte, weiß ich nimmer. Ich kam vom Bräuhaus her, auf dem Fußweg neben der Pappelallee – und erinnere mich noch, daß auch die Laugna wie ein roter [66] rauchender Blutbach war, und daß sich die Brückenstatue des heiligen Nepomuk ganz schwarz in das Feuer des Abends zeichnete. Und da begegnete mir das Pfarrhof, Bertele. Sie ging mit eiligem Schritt, immer zu Boden schauend, war dunkel gekleidet, ohne Hut, und trug um die Schultern ein schwarzes, gehäkeltes Tuch, in das sie die Arme dicht eingewickelt hielt. Es regte sich in mir etwas Bitteres und Spöttisches – dabei hatte ich einen witzigen Einfall und wollte sie fragen: ob sie noch feucht hinter den Ohren wäre? Doch eine würgende Klammer legte sich um meine Kehle, als das Bertele mich plötzlich gewahrte, wie versteinert stehen blieb und mich mit großen Augen erschrocken ansah. Ihr schmales, seines Gesichtchen war weiß wie Kalk. Ich glaubte zu sehen, daß ihr zwei große Tränen über den streng geschlossenen Mund herunterfielen. Und dann ging sie an mir vorüber, stumm, ohne den Gruß zu erwidern, mit dem ich hastig das Hütl zog.

Ich lachte – weil sie so ›hochmütig‹ meinen Gruß übersehen hatte. Doch während ich lachte, schmerzte mich etwas – ich weiß nicht, was. Dieses Wehe, Schmerzende zitterte durch viele Tage in mir. Und gerade aus diesen bangen, seltsam bedrückten Tagen blieb mir die Erinnerung [67] an jenes drollige Wort, das unsere Köchin sprach, die neue, die ein seines Mädel war und als Weihnachtsengel keine Fleckelespantoffel, sondern Zeugstiefel mit seidenen Quästchen trug. Sie war so niedlich und zierlich, daß meine Mutter sie immer das, ›Marzipanfigürle‹ nannte. Dieses kleine Dingelchen hatte sich in einen Bärenlackl von Forstgehilfen verliebt und wollte ihn heiraten. Wenn das Paar beisammen stand, reichte die Braut dem Bräutigam nicht hoch über den Rabel hinaus. Und da fragte meine Mutter eines Tages lachend: »Aber, Mädle, hascht denn kein Angst net vor so em Endstrumm Mannsbild?« Und das Marzipanfigürle sagte lustig: »Noi(n) noi(n), Frau Revier, es isch no nie e Mäusle unter'me Fueder Heu verstickt.«

Und jene groteske Szene, an die ich mich noch erinnere? Die wirkte auch wie ein Satyrspiel nach einem ernsten Drama. Es war zu Augsburg, im Vorsommer, als man das Kommende bereits vorausahnte und das Kriegsgewitter schon in der Luft fühlte – und ich glaube, man mußte bei dieser Szene gar so fürchterlich brüllen, weil man sie als komischen Kontrast empfand, in einer Zeit, in der man schon jeden Offizier auf der Straße mit Sorge, Hoffnung, Vertrauen und [68] Stolz betrachtete. Da kam ich an einem sonnigen Vormittage durch die Annastraße und hörte schon von weitem einen grillenden Kinderjubel. Die Leute blieben auf der Straße stehen, guckten verwundert drein, oder rannten neugierig dieser merkwürdigen Sache entgegen. Auf schönem Pferde kam ein junger, eleganter Chevaulegers-Offizier geritten – hinter ihm her wälzte sich ein noch immer wachsender Schwarm von schreivergnügten Kindern – und die großen Leute, die auf beiden Seiten der Straße stehen blieben, schüttelten sich vor Lachen, als sie sahen, was den Kindern dieses rasende Vergnügen bereitete. Der Offizier saß bleich auf seinem zierlich tänzelnden Pferde, nagte in Zorn und Verlegenheit an seinem Bärtchen und konnte sich augenscheinlich die Ursache dieses Kinderjubels nicht erklären – er guckte wohl prüfend an sich hinunter, spähte nach rechts und links, konnte aber nicht entdecken, was hinter seinem Pferde geschah. Er hatte da in seiner Begleitung einen Clown von unerhörter Komik: ein schneeweißes, russisches Windspiel, das in hungriger Stunde einen großen, langen Putzlumpen verschlungen hatte und diesen auch für einen Hundemagen unverdaulichen Bissen jetzt eben wieder ans Tageslicht befördern wollte.

[69] Das gelang nicht völlig – die neugeborene Sache, die zu drei Vierteln schon in die Welt gesetzt war, hakte sich mit dem letzten Viertel ein und wollte nicht weichen. Der verzweifelte Windhund, der sich, da er treu und folgsam immer dicht hinter dem Pferde seines Herren blieb, keine ruhige Überlegung vergönnen konnte, geriet in Raserei und machte die wahnsinnigsten Sprünge, Kapriolen und Purzelbäume, um sich dieses schrecklichen Anhängsels zu entledigen. Er suchte das feindliche Objekt von sich abzuschütteln, mit den Hinterfüßen von sich wegzutreten, mit den Zähnen zu haschen. Doch je schneller er sich bei diesem Fangemanndlspiel um die eigene Achse drehte, um so schneller entflatterte ihm der beschwingte Feind. Man mußte lachen, daß man jeden vernünftigen Gedanken verlor. Der junge, blasse Offizier, um diesem brüllenden Rätsel zu entrinnen, fing auf dem groben Pflaster zu galoppieren an – und der tollgewordene Windhund wirbelte pirouettierend hinter ihm her, wie ein vierbeiniger Laokoon im Verzweiflungskampf mit einer des Fliegens kundigen Schlange. Als Roß und Reiter, Windhund und Boa constrictor schon verschwunden waren, blieb in der Annagasse noch lange dieses fohlende Vergnügen. Die Kinder jubelten und [70] ahmten kreischend die Sprünge des Hundes nach, und auch die Erwachsenen, die den Neuhinzugekommenen die Ursache dieser Heiterkeit erklären wollten, begannen komisch zu wirken, da sie vor Gelächter nicht richtig reden konnten und sich allerlei drastischer Gesten bedienen mußten.

Dieser grotesken Szene hab' ich mich in späteren Jahren nie erinnern können, ohne daß mir hinter dem Lachen die ernste Frage kam: Was ist aus dem jungen Offizier geworden, der da schuldlos unter dem Gespött der Gasse leiden mußte? Ist er heut ein weißbärtiger Reitergeneral? Oder schläft ein graues Restlein seines jungen Lebens weit da drüben über dem Rhein, in fremder Erde – dort, wo blühende deutsche Jugend vieltausendköpfig ins Dunkle hinuntersank, um der Heimat, um der Einheit und Größe unseres Volkes willen?

Krieg? Was bist du? Ein Lebensübel, das die kommenden Jahrhunderte kurieren werden? Oder eine von den unsterblichen Torheiten der Menschen, ein dauerhaftes Erbe aus irdischen Vergangenheiten, in denen das Raubtier der einzige Herr des Lebens war? Oder bist du eine unerläßliche Daseinsgewalt, eine notwendige Grausamkeit, die ein Schönes werden und leuchtenden [71] Glanz gewinnen kann? Bist du wie die ewig wiederkehrende Sonne, die faule Krankheitskeime zerstört, alles Trübe zur Klarheit läutert, alles Starke und Gesunde zu erneutem Leben führt und Schatten und schwarze Nächte erzeugen muß, weil sie Licht verbreitet und strahlende Tage bringt? Und wenn es gelänge, den Krieg aus dem Leben der Menschen hinauszustoßen? Würde dann keine Wohnstatt der Menschen mehr in Flammen aufbrennen, keine Saat verwüstet werden, kein Herz verbluten, kein Leib in Qualen zucken, kein Frauengesicht in Gram zerfallen, kein Auge von Tränen brennen, kein Tod mehr auf Erden sein? Und wie kommt es, daß die aus Schwäche Sanften und die Klugen, welche redlich sind, das grauenvolle Wesen des Krieges nur immer zu erkennen glauben, wenn sie sorglos in sicherem Frieden leben, doch niemals, wenn Gefahr und Schimpf ihrem Lande droht, wenn der Lebensnerv ihres Volkes in Zorn und Empörung zuckt, wenn seine schlummernden Kräfte stark erwachen und jubelnde Begeisterung durch die Gassen der Dörfer, durch die Straßen der großen Städte rauscht?

»Es braust ein Ruf« und »Deutschland, Deutschland über alles!« Wann sangen wir [72] Jungen von 1870 dieses trunken Klingende zum erstenmal, Arm in Arm geklammert, mit brennenden Gesichtern durch die von Gewühl erfüllten Gassen stürmend? Im Herzen den deutschen Glauben, die deutsche Hoffnung, den deutschen Zorn, die deutsche Freude! Und durch Tag und Nacht in der aufgewühlten Knabenseele den brennenden Gedanken: »Herrgott, wenn ich jetzt drei Jahre älter wäre! Nur ein es! Dann würden sie mich neh men! Mutter, Mutter, warum hast du mich zu spät geboren!«

In den wogenden Bildern meines Erinnerns scheiden sich die Einzelheiten kaum noch voneinander. Alles Geschehen von damals ist mir wie ein großer breiter Strom, auf dem die Schiffe des Lebens mit gebauschten Segeln durch die Sonne ziehen.

Seht ihr die vielen aufgeregten Menschen, die sich neben dem Rathaus um die Straßenecke drängen? Dort an der Mauer ist die Emser Depesche angeschlagen! Oder war's die französische Kriegserklärung?

Seht ihr das schreiende Leutegewühl, das in der Abenddämmerung des schönen Julitages den Augustusbrunnen umwogt? Wie blitzende Fische aus rauschenden Wellen springen, so taucht immer [73] wieder ein gellender Schrei aus dem Stimmengewirre. Und immer wieder hört man die vier Silben ›Patrioten‹ – mit dem Klang eines Schimpfwortes! Und seht ihr den jungen Menschen, der mit seinem leichenblassen Gesicht, mit dem unsteten Blick und den zerwirrten Haaren wie ein Verbrecher aussieht – und ein braver Bayer ist, der in dieser brennenden Abendstunde ein Deutscher wurde? Hört ihr ihn schreien wie einen Irrsinnigen? Sein Irrsinn ist politischer Verstand und ehrliche Begeisterung. Er hat keinen Hut mehr, von seinem Spenser ist der Ärmel heruntergerissen, und wie ein kleiner Schneefleck leuchtet in der Dämmerung das Weiß seines Hemdes, während er auf die Brüstung des Brunnens klettert und fest und schlank auf den Schultern einer kupfernen Nymphe steht. Er hält die Arme erhoben, immer schüttelt er die Hände, daß sie aussehen, als hätten sie zwanzig Finger; heisere Töne schrillen aus seiner Kehle, doch niemand hört auf ihn – er schreit und schreit – und plötzlich lauschen tausend Leute, und der junge, im Feuer seiner Seele zitternde Mensch ist ein Redner geworden, der tausend Augsburger in tausend Deutsche verwandelt. Und immer wieder der Name »Jörg!« [74] Aber das ist nicht der Jörgele von Welden, der mich vor dem Schneesturm in Kruichen verließ. Es ist der Name des Landtagsabgeordneten Jörg, des traurigen Helden und Führers der bayrischen Klerikalen, die sich ›Patrioten‹ nennen und ihre deutsche Heimat verkaufen und verraten wollen. In der Kammer verweigern sie den Kredit für das Heer, wollen nur die Mittel für eine bewaffnete Neutralität bewilligen, offen predigen sie den Vertragsbruch gegen Preußen und raten verblümt zum Anschluß an Napoleon und Frankreich.

Und dann am Morgen, in der Sonne – seht ihr die vielen Jungen, die aus einer engen Gasse herausgeschossen kommen? Jeder trägt zwischen Brust und Arm einen Pack von weißen Blättern, und jeder zetert mit kreischender Stimme: »Egschtrablättle!« »Egsch trablättle!« Und wo die Leute diesen Schrei vernehmen, rennen zwanzig und dreißig auf solch einen zeternden Jungen zu. Und mit den weißen Blättern stehen sie in der Sonne und lesen: daß drüben zu München geschehen ist, was in Bayern jedes deutsche Herz erhoffte. Die Liberalen haben in der Kammer den Widerstand der ›Patrioten‹ niedergeworfen; es hat sich erfüllt, was an jenem ›großen Abend‹ in der Augsburger Weinstube verheißen [75] wurde: der Völk mit dem Löwenkopf, und der Stauffenberg, und die anderen alle, die eins mit diesen beiden waren – wer weiß denn heute noch, wie sie hießen? – sind mit Sturm durch die ›schwarze Mauer‹ gegangen, die entzwei brach und in Scherben liegt. König Ludwig macht für Deutschland das bayerische Heer mobil, der Jubel seines ganzen Landes rauscht dem schönen, geliebten König entgegen – (die Münchener verzeihen ihm sogar den Richard Wagner!) – über Nacht sind alle ›Parteien‹ verschwunden, es gibt in Bayern keine Liberalen, keine Patrioten mehr, nur noch ein starkes, einiges Volk, das bayerisch ist und deutsch empfindet, sich tragen läßt vom brausenden Strome seiner Begeisterung und mit froher Zuversicht den Krieg beginnt, der ein gerechter ist. Und ich fünfzehnjähriges Kerlchen pritschelte trunken und selig mit in diesem Strom der mächtigen Dinge, immer auf den Beinen, immer schreiend, immer brennend, immer schwitzend – und glaubte nun zu begreifen, warum der Vater nach Anno 66 zu den ›Breissen‹ hielt und immer sagte: »Jetzt kommen große Zeiten für uns Deutsche!«

An einem frühen Morgen lief ich aus dem Haus, im kurzen Spenser und mit der blauen [76] Studentenkappe. Nicht zum Realgymnasium! Sondern auf weitem Umweg nach entgegengesetzter Richtung! Durch abgelegene Gassen zum Bahnhof! Ich schleppte kein Köfferle und machte dennoch eine Reise. Und während ich rannte, griff ich immer wieder in den Hosensack, ob die drei Gulden noch drin wären – mehr hatte ich für meine Markensammlung mit allen Thurn und Taxis und mit sämtlichen Nestern von Brasilien nicht bekommen. Aber die drei Gulden genügten überreichlich. Denn als ich das Menschengewühl auf dem Bahnhof sah – (damals war es noch der kleine, alte) – kam ich gleich auf den schönen Einfall: daß ich das Fahrgeld sparen könnte. Ich brauchte nur, als der überfüllte Zug davonzottelte, auf ein Trittbrett hinaufzuspringen und in einen Bremserkasten zu schlüpfen. Die Lokomotive pustete schrecklich, und dennoch wackelte der Zug vier ewige Stunden bis zum Ziele. – München! – Aber was kümmerte mich die neue große Stadt! Ich wollte nur Eines: den Führer des bayerischen Heeres, den Kronprinzen von Preußen sehen und Vivat schreien. Gesehen hab' ich ihn nicht. Denn als er durch die Straße fuhr, in der ich mich aufgepflanzt hatte, gab's ein schiebendes Gedränge, und plötzlich stand [77] ich zwischen großen Lümmeln mit eisenharten Ellenbogen so regungslos eingekeilt, daß ich von den vorüberfahrenden Hofequipagen nur noch die Federbüsche der Leibjäger sah. Aber Vivat hab' ich so fürchterlich geschrien, daß ich am Abend bei der Heimreise kein Wort mehr aus der Kehle brachte. Am anderen Morgen schob ich einen Papierknödel zwischen Wange und Stockzähne, band ein Taschentuch um das ›geschwollene Gesicht‹ und schilderte dem Herrn Rektor heiser und lallend das höllische Zahnweh, das mich am verwichenen Tage gezwungen hatte ›dem Unterrichte fern zu bleiben‹.

Und wieder bin ich auf dem Bahnhof wenige Tage später. Und wieder ist da ein Gewühl von Menschen. Mit schmetternden Klängen spielt eine Regimentsmusik. Und wir Jungen reißen den Kellnerinnen, den vornehmen Frauen und den weiß und blau beschleiften Herren die vollen Biergläser aus den Händen, schleppen die Weinflaschen und Zigarrenkistchen und rennen an der langen Wagenreihe auf und nieder: »No e Schöppele, Herr Soldat? Möge Se no e Gläsle Wein? Möge Se no e guets Zigärle?« Und das ›Gläsle‹ ist immer eine ganze Flasche, und das ›Zigärle‹ immer ein Pack Zigarren, so dick [78] ihn die Hand aus dem Kistchen herausgreifen kann! Und junge schöne Mädchen tragen Blumenkörbe und werfen blühende Sträuschen in alle Wagenfenster. Und aus diesen Wagenfenstern gucken viele Hunderte von blauen Soldaten heraus, manchmal einer mit blasser und ernster Stirne, die meisten erhitzt und vergnügt, mit blitzenden Augen, immer lachend, immer singend. Das alles wirrt sich zu einem Unsagbaren ineinander: die schallenden Soldatenlieder, das Gelächter und die gellenden Schreie, die Klänge der Regimentsmusik und das Schnauben des in die Sonne hinausrollenden Zuges. Blaue Arme und blaue Mützen winken aus den entgleitenden Wagenfenstern und aus den verpflockten Türen der mit Soldaten angepfropften Gepäckwagen. – Wie viele von dieser blauen Jugend werden die Heimat wiedersehen? – Immer kleiner schrumpft der davonjagende Zug zusammen; und über den Köpfen der Menschen, die den Bahnhof erfüllen, ist die Luft noch immer weiß von wehenden Taschentüchern. Eine alte Frau, klein, mager und dürftig gekleidet, läßt sich schieben von dem jubelnden Gewühl, ist stumm, und blinkendes Wasser füllt ihre großgeöffneten Augen. Und ein junges, schönes Mädchen, das bis zur letzten Sekunde [79] vor der Abfahrt des Zuges am Hals eines Offiziers gehangen, fängt wie eine Wahnsinnige zu grillen an, wird ohnmächtig und muß davongetragen werden. Dann plötzlich ein johlendes Gelächter. Ein junger, dicker Soldat, der irgendwo gewesen, hat den Zug verpaßt – ihm selber ist nicht lustig zumute, denn sein Gesicht ist kreidebleich – aber Hunderte von Menschen brüllen wie vergnügte Narren, während der arme Kerl seine Hose festhält, zwischen den Schienen rennt, sich allen Händen entwindet, die ihn aufhalten wollen, und irrsinnige Sprünge macht, um den entschwindenden Zug noch einzuholen. Ich besorge, daß er die Schlacht von Weißenburg versäumte.

Ach, diese Tage! Immer wühlte nur dieses eine im Gehirn: der Krieg, der Krieg! Alles andere des Lebens wurde ein Nebensächliches, nicht nur die Schule, auch was in diesen Julitagen zu Rom geschah. Vor Wochen und Monaten hatte die Konzilsfrage noch alle Gemüter bewegt und gereizt. Und nun war das fast ein Gleichgültiges geworden, daß Rom – um meines Vaters Wort zu wiederholen – ›dem gesunden Menschenverstand der ganzen Welt ins Gesicht schlug‹. Man las in der Zeitung davon, wie man von einem Wirbelsturm in Japan liest.

[80] Und manchmal redete man darüber: daß jeder Teilnehmer des Konzils so frei seine Meinung sagen durfte, wie Papageno mit dem Vorhängschloß; daß von den deutschen Bischöfen, die im Herbste zu Fulda so mutig geredet hatten, einer nach dem anderen umstand wie die stummen Fische im lauen Wasser; daß die zusammengeschmolzene Opposition den Papst fußfällig angefleht hätte, den Infallibilitätsantrag zurückzuziehen; daß am Tage vor der letzten Abstimmung das kleine Häuflein der Standhaften von Rom abgereist wäre; und daß an jenem unglückseligen Achtzehnten des Juli in Rom unter sechshundert Bischöfen nur noch zwei Männer waren, die den Mut hatten, Nein zu sagen. Und das verkündeten die deutschen Zeitungen ungefähr in der gleichen Woche, in der sie großgedruckt die Nachricht von der französischen Kriegserklärung bringen mußten. Dieses Größere, Wichtigere, schob das andere vorerst aus dem Gehirn der Deutschen hinaus. Und als nach Monaten der gedämpfte, fast erloschene Zorn wieder aufloderte und der kleine Pfarrer von Mering, das nicht weit von Augsburg liegt, ein religiöser Kämpfer und Held zu werden begann, da war es zu spät für einen Sieg der Vernunft. Ich habe meinen Vater oft [81] sagen hören: »Wäre der Krieg mit Frankreich nicht gekommen, der unser Leben ganz verlangte, so hätten wir einen Sieg auf geistigem und religiösem Boden erfochten, wären frei von Rom geworden und hätten die deutsche Kirche begründet!« Ich glaube, Papa, mit seinem sonst so klaren und ruhigen Verstande, war doch auch ein bißchen Idealist. Wir Deutsche haben doch heute keinen Krieg mit Frankreich, hausen im schönsten Frieden, sind stark und auch noch einig und könnten es der Vernunft gestatten, auf festen und geraden Beinen zu marschieren. Aber die Bulle gegen die Modernisten ist da! Und die Borromäus-Enzyklika! Und die ›deutschen Denker‹ sind empört – und sind doch geduldig und langmütig über alles männliche Maß hinaus. Und überall stehen wieder dick und hoch die ›schwarzen Mauern‹ – dicker und höher als je. Sie werden nicht ewig stehen, werden fallen, wenn die rechte Stunde wieder die rechten Löwenköpfe mobil macht. Doch ob die Fünfzigjährigen von heute das noch erleben dürfen? Diese Frage ist eine Unerquicklichkeit der Gegenwart.

Vergangenheit! Du warst das Schönere! Du hattest Hoffnungen, deren Erfüllung man erlebte! Und das Herrliche von damals hatte so etwas wie eine künstlerische Steigerung. Nach [82] dem ersten Begeisterungsjubel kam vor dem großen Aufstieg ein schwüler Dämpfer. Ich erinnere mich noch, daß ich vor Schreck völlig sprachlos war, als ich an den Straßenecken die Depesche von der Schlappe bei Saarbrücken angeschlagen fand. Und ich weiß noch, wie wir Jungen die Fäuste ballten, als man von den Siegeshymnen hörte, welche die französische Presse über die Feuertaufe des Prinzen Lulu aus der gallischen Posaune stieß.

»Herrgottsaxe! Jetzt mueß aber mit, was e Flint und en Säbel trage ka(n)!«

Wir hielten es geradezu für ausgeschlossen, daß ›Nabolion‹ ohne unsere Mithilfe besiegt werden könnte. Aber der beschäftigte Feldwebel, zu dem wir rannten, um uns als Freiwillige ins deutsche Heer einreihen zu lassen, fertigte uns mit einer altbayerischen Grobheit ab, deren Wortlaut sich nach klassischem Vorbild nur durch Gedankenstriche andeuten ließe. Wir waren weder beleidigt, noch abgekühlt, sondern meinten nur, daß wir zum Schmied gehen müßten, statt zum Schmiedle. Und drum lief ich zu einem hohen Offizier, der mich sehr freundlich aufnahm. Aber ich bekam weder Flinte noch Säbel, sondern sehr ernste Ermahnungen, daß ich keine Dummheit machen sollte. Jetzt war ich beleidigt! Heldenmut und Vaterlandsliebe [83] sollten eine Dummheit sein! »Wart, dem zeig i's!« Eine halbe Stunde später hatte ich mein silbernes Patenbesteck verkitscht, und dreizehn Gulden klunkerten in meinem Hosensack. Mit dreizehn Gulden kommt man noch weiter als nur bis in Feindesland! Aber wer eine große Heldentat vorhat, dem ist das Hetz zu voll, als daß er den Schnabel gänzlich halten könnte. Diese Ursache zeitigte eine böse Wirkung. Als ich in der Nacht ausreißen wollte, waren meine dringend notwendigen Röhrenstiefel spurlos aus meinem Stüble verschwunden. Auch die Absicht, barfuß bis an den Rhein zu laufen, führte zu keinem Resultat. Denn an der zugesperrten Wohnungstüre war der Schlüssel abgezogen. Deutschland, Deutsch land, wie wird es dir jetzt ergehen! In meinem Stüble setzte ich mich ans offene Fenster, tränte über die drei Stockwerke auf die nachtstille Straße hinunter, guckte hilflos zu den deutschen Sternen empor und heulte vor Zorn.

Und am Morgen, als ich meine konfiszierten Stiefel wieder kriegen mußte – da war mein Vater da. Meine Hausleute hatten noch am Abend irgend einen Verräter nach Welden hinausgeschickt.

Was ich in meiner gedemütigten Seele litt, [84] das wurde mir durch die Nachricht von den deutschen Siegen bei Weißenburg und Wörth gemildert. Und Papa sagte zu mir nicht: »Du Kamel!«, sondern war sehr gut und herzlich, auch ganz zufrieden mit meinem Zeugnis, in dem ich – was mir heute ein unbegreifliches Rätsel ist – als der sechste unter zwanzig Schülern bezeichnet war. Ich glaube, meine Professoren von 1870 müssen sich in der allgemeinen Kriegsverwirrung bei der Kopiatur dieses Zeugnisses verschrieben haben.

[85]
Fußnoten

1 Die ältesten brasilianischen Marken trugen die Wertziffer in einem Linienornamente, das einem aus Reisig geflochtenen Neste glich.

3.
III.

Wieder daheim. – Auch in Welden drehte sich alles Leben um den Krieg, der mich heiß beschäftigte und mir Gedanken und Blut in stetem Wirbel und Aufruhr erhielt. Neben allem Ernste ist mir eine heitere Geschichte im Gedächtnis geblieben. Mama hatte sie vom Förster Stöger gehört, dessen Sohn als Leutnant in Frankreich war. Dort hatte der junge Offizier eines Tages seinen Burschen ausgeschickt, um Eier zu kaufen, und hatte ihm eingepaukt, wie er auf Französisch fragen müßte, was die Eier kosten. Der Bursch brachte eine Kappe voll Eier zum Lagerplatz, brachte aber auch alles mitbekommene Geld wieder heim. »Du Kerl! Ich habe dir doch streng befohlen, daß du die Eier bezahlen mußt!« Und der Bursch antwortete: »I ha(n)'s zahle wölle, aber wie i gfragt ha(n): Kombi kutt il?, hot die [86] Bäuerin gsät: Gah zue – (Quat' sous) – und da bin i gange.«

Was war das ein fieberhaftes Zittern auf die Zeitung, Tag für Tag! Und was gab es da zu lesen! Von Wörth, von Mars la Tour, von Sedan, von den Scharen der Kriegsgefangenen, vom Schloß auf der Wilhelmshöhe und vom trauernden Napoleon, über den der schwäbische Volkswitz das drastische Liedchen dichtete:


»Da droben au'm Bergle,

Da hockt e Franzos,

Der hat e blaus Jäckle

Und voll die roat Hos!«


Dem siegreichen Volke wurde der im Sturm gewonnene Krieg zu einer lachenden Heiterkeit, bei der die Ströme des vergossenen Blutes, die verwüsteten Städte und die zerstampften Felder über dem Rhein da drüben nimmer zählten. Noch immer seh' ich das, wie an schönen Septemberabenden auf dem Marktplatz in Welden die Burschen und Bauern aufgeregt beisammen standen, und wie sie schwatzten, lachten und den Inhalt der Zeitungen nachgockelten, während die Feuerfunken aus ihren Maserpfeifen in die Dämmerung wehten. Doch manchmal wurden diese Heiteren plötzlich stumm und ernst – wenn mit gesenktem [87] Kopf eine Bäuerin vorüberging, die das schwarze Kleid tragen mußte, ohne daß in ihrem Haus ein Toter gelegen hatte. War sie im Dunkel des Abends verschwunden, so wurde auf dem Marktplatz wieder gewispert, wieder gelacht und wieder gesungen.


Ȁlleweil, wann's e Weil finschteret,

Älleweil geit's wieder Sunne,

Älleweil hau' mer e Kriegle gmacht,

Älleweil hau' mer's au gwunne!«


Wie viele von solchen Liederchen, die ein lachender Augenblick dem Volke gibt, wurden wohl damals lebendig und sanken wieder in Vergessenheit? Und so heiter, wie das Dorf den gewonnenen Krieg zu nehmen wußte, genau so heiter fand ich ihn auch von der Stadt genommen, als ich mit dem Herbste wieder in Augsburg einrückte. Die Worte Zuav und Turko waren gutmütige Injurien geworden, wie Flegel und Lümmel. Und auf der Maximiliansstraße, beim Abendbummel, sagte man nimmer »Grüß Gott!« und »Adjes!«, sondern »Schlettstadt hält sich!« und »Schlettstadt gefallen!« Über die ganze Breite der Straße rief man sich das mit brüllendem Jubel zu: »Nichts Neues vor Paris!« Und bot man einem Kameraden die heißen Vesperwürstchen zu einem Freundschaftsbissen [88] hin, so sagte man komplimentierend: »Pariser Ratten gefällig?«

In diesem Übermut unserer Siegesfreude verfielen wir beim ersten Schneegestöber auf einen Streich, der übel für uns hätte enden können, wäre der ›Feind‹, den wir uns auserkoren, nicht ein gutmütiger bayerischer Soldat gewesen. Ein Dutzend verrückter Kerle, stürmten wir die Hauptwache vor dem Rathaus und bombardierten den Posten mit einer groben Schneeballensalve. Der Soldat, anstatt zu schießen oder Alarm zu schlagen, retirierte lachend in das Schilderhäuschen und drehte uns geduldig seine Schattenseite zu. Und als die anderen Soldaten aus der Wachtstube herausrasselten und ihre Werdergewehre vom Zapfenbrette rissen, galoppierten wir schon im weißen Flockengewirbel um die Straßenecke hinter dem Augustusbrunnen.

Ein paar Tage später, inmitten dieser wirbelfröhlichen Zeit, fiel beklemmende Trauer in mein Herz, und ich erlebte dabei noch eine jener dunklen Wunderlichkeiten, die man psychische Rätsel zu nennen und als unerklärbar zu bezeichnen pflegt.

Ich führ in einer Nacht, schon gegen Morgen, aus dem Schlummer auf und hatte beim Erwachen die Empfindung, daß ein dröhnendes Glockenläuten [89] mich geweckt hätte. Aber die Nacht war still. Mit heftig pochendem Herzen saß ich in meinem Bett und lauschte. Und vernahm von der schweigsamen Straße herauf einen hastigen Schritt, der über die Pflastersteine klapperte und eilig näher kam. Nun verstummte dieser Hall, dicht unter meinem Fenster, und im gleichen Augenblick wurde heftig an unserer Haustürglocke gerissen. Etwas Wehes und Kaltes zuckte mir jäh durchs innerste Leben: »Jesus, Großpapa ist gestorben!« Ob ich diese Worte laut in der Nacht geschrien habe, oder ob ich sie nur dachte, das weiß ich nimmer. Aber sie waren in mir, als diese Glocke so schrecklich läutete.

Ich war vor Schreck wie gelähmt. Nebenan im Wohnzimmer meiner Hausleute wurde ein Fenster aufgerissen, eine Stimme rief etwas hinunter in die Nacht, eine andere Stimme, wie aus weiter Ferne, rief etwas herauf von der Straße – ich verstand meinen Namen, sprang aus dem Bett und hatte mich in der Finsternis halb schon angekleidet, als der Hausherr im Schlafrock und mit einem Kerzenlicht in mein Stüble trat und mir sagte: eine Magd wäre vor dem Haustor, und ich sollte gleich zu meinem Onkel kommen.

Auf der Straße drunten erfuhr ich, was ich schon wußte – mein Großvater war gestorben.

[90] Ich konnte nicht weinen. Es war in mir nur ein ratloser Schreck, ein kalter Schauer.

Am Nachmittage kam Papa und reiste gleich wieder fort, nach Ottobeuren.

Ganz verloren war ich. Immer, immer, immer sah ich den Großvater, nicht tot, sondern gesund und lebendig, mit dem guten freundlichen Gesichte, lachend – und immer stand er auf der Hausschwelle des Ottobeurer Forsthauses in der Sonne und klapperte mit den Kanzleischlüsseln in der Hosentasche. Immer wartete ich, daß er fragen würde: »Magst en Kreuzer?« Doch er schwieg. –

Papa kam von der Reise zurück mit verhärmtem Gesicht, mit blauen Ringen unter den Augen. Er erzählte mir, wie der Großvater gestorben wäre: ohne Krankheit, plötzlich, nach einem heiteren Abend, lachend, ohne Ahnung seines nahen Todes. Und dann sagte der Vater leis: »So möcht ich sterben ... einmal.«

Ich klammerte mich an seinen Arm. »Isch es denn wahr? I kann's nit glaube! Älleweil isch mir so, als tät er noch lebe!«

»Hast recht, Bub!« Der Vater nickte. »Die Guten, die man lieb hat, werden nur begraben. Aber sie sterben nie.«

Da erzählte ich ihm das Dunkle, Wunderliche [91] aus jener stillen Nacht. Doch Papa schüttelte ruhig den Kopf »Nein, Kind! Solche Dinge gibt es nicht. Seelen sind unsterblich. Aber nicht so. Und mit den Menschen, die zu ihnen gehören, spielen sie nicht, Schneider leih mir die Scher'. Wir kommen zu ihnen, ja! Aber sie kommen nicht mehr zu uns! ... Und Ahnungen? Das ist nur ein leeres Wort für Vorgänge im menschlichen Gehirne, die wir nicht ganz begreifen können.«

»Aber wenn's doch wahr isch, Papa! So schau nur, ich hab's doch erlebt.«

Er schüttelte wieder den Kopf. »Das ist nur eine Unsicherheit deines Erinnerungsvermögens. Bei dem heftigen Läuten empfandest du eine unbewußte Sorge, dann hörtest du die Nachricht. Im Schreck verlorst du das Gefühl für die Zeit, in deiner Vorstellung rannen die Zeitmomente durcheinander, und fünf Minuten später glaubtest du voraus erlebt zu haben, was du in Wirklichkeit erst nachträglich erfahren haben kannst.«

So etwas Ähnliches sagte Papa – genau weiß ich es nimmer – und fügte bei, daß solche ›Umdrehungen‹ im menschlichen Gehirne nicht selten wären. Ich wollte dem Vater nicht widersprechen, ließ mir aber auch nicht ausreden, was ich sicher und wahrhaft erlebt zu haben glaubte.

[92] Noch lange, durch viele Wochen beschäftigte mich das Gegrübel über dieses Rätselhafte. Dabei kamen mir oft sonderbare Gedanken. Ich begann an feststehenden Begriffen zu zweifeln und geriet mit den herkömmlichen Vorstellungen von Raum und Zeit in Fehde. Etwas Wundersames empfand ich in einer sinnenden Nacht, die meinen wachen Augen ein Traumbild zeigte: das Leben als einen ewigen Strom, in dem mir die Schicksale der einzelnen Geschöpfe nur als winzige, zueinander gehörende Teilchen erschienen, wie die gemeinsam flutenden Tropfen in einer großen Woge. Meer und Bach und Nebel, Wolke, Regen, und wieder Quelle, Bach und Meer – ist das nicht auch ein Einziges? Und die verwandten Menschen, alle, die das gleiche Blut erfüllt? Die sind doch ein Einheitliches, ein Ganzes, ein unlösbar Aneinandergewachsenes! So fest gehören sie im Leben zueinander, daß ein Schauer das Blut des Enkels durchrieselt, wenn in hundertstündiger Ferne das Blut des Großvaters erkaltet. In meiner Trauer jubelte ich über die ›Erklärung‹, die ich da für jene unbegreifliche Rätselnacht gefunden hatte. Und sind denn schließlich nicht alle Menschen Ahnen und Enkel, Brüder und Schwestern? Und ist der Aufruhr und die Begeisterung eines Volkes nicht ganz [93] das gleiche wie Schmerz und Freude einer Familie, wie Jauchzen und Weh eines Einzelgeschöpfes, das sich aus Muskeln, Nerven, Knochen und Blut zusammensetzt?

Doch dieses Schöne, das die Nacht mir gegeben hatte, zerflatterte am Tage. Und ich fand keine Ruhe mehr. Ich wollte wissen, wissen, wissen! Bei meinem Gegrübel kam ich auf Wege, für die meine Augen noch zu jung, meine Kräfte noch zu schwächlich waren. Ich suchte Hilfe, wo ich sie zu finden glaubte. Mit Gier verschlang ich, was ich an philosophischen Schriften erwischen konnte. In kunterbuntem Wirrwar fraß ich Bruchstücke von Hegel, Kant, Spinoza und Feuerbach in mich hinein. Davon wurde mir Gehirn und Blut nur immer wirbliger. Statt Rätsel zu lösen, häufte ich nur immer neue Rätsel zu unüberkletterbarem Berge vor mir auf – bis ich eines Tages in Wut und unter Tränen brüllte: »Herrgottsaxe, jetzt hab i's aber gnueg!« Ich warf die Hegelsche Schwarte in einen Winkel, surrte mit brennendem Köpfl in den sonnigen Wintertag hinaus, kaufte nach flinkem Entschluß ein paar holländische Schlittschuhe und rannte zum Eisplatz.

Die Kunst des Schlittschuhlaufens war mir noch eine fremde Sache. In der ersten halben [94] Stunde machte ich die üblichen Purzelbäume nach hinten. »Noi(n), so geaht's it!« Lange blieb ich auf dem gleichen Flecke stehen und beobachtete aufmerksam die guten Läufer, bis ich erkannte, daß bei der ganzen Kunst nur dieser eine Vorteil war: sich mit dem Körper auf dem gleitenden Fuße fest nach vorwärts zu legen, wobei sich im Wechsel das Gleichgewicht von selbst ergab. Ich probierte die Sache – es ging – eine Stunde später lief ich schon zwischen meinen Kameraden wie ein Wilder in der langen Kette mit und machte nur dann noch einen Purzelbaum, wenn ich mit einem anderen im tollen Schuß zusammenrannte, daß uns beiden das Blut aus der Nase und das Feuer aus den Augen sprang.

Und jenes Nachträtsel? Von dieser dunklen Angelegenheit ließ ich mich nimmer aus dem neugefundenen Gleichgewichte bringen. Das verständige Wort meines Vaters wurde jetzt für mich zu einer Autorität mit ehernen Füßen und lebendigem Kopfe. Eine Umdrehung der Zeitmomente in einem krankhaft überreizten Gehirn! Da muß sich eben das Gehirn, wenn es zur Ruhe kommt, wieder auf die gesunde Seite zurückdrehen! Fertig! Und niemals wieder in meinem ferneren Leben wurde ich von Ahnungen oder ähnlichen Dingen geplagt. Und [95] mein Großvater war für mich nicht tot. Menschen, die man lieb hat, sterben nie! Man braucht sich auch gar nicht vorzustellen, daß sie begraben wurden. Sie sind nur eben im Augenblick nicht da, sind irgendwo in der Ferne. Und das wäre eine armselige Liebe, die nicht ins Weite sieht, sondern immer Hände braucht, um greifen zu können.

So hatte ich am Ende dieser grüblerischen Tage doch etwas Festes und Fruchtbares für mein Leben gewonnen. Und zu diesem ruheschenkenden Gewinne rechne ich auch dieses Eine: daß mir lebenslang ein vorsichtiges Mißtrauen gegen alle spekulative Philosophie verblieb, die von innen aus sich herausspinnt, statt von außen in sich aufzunehmen.

Aber in diesen Wochen des Gewinnens verlor ich auch. Der deutsche Sturm und Jubel jenes Winters war ein bißchen von mir abgerückt, ich sah mich losgelöst von allem freudigen Rausche dieser ›gebärenden‹ Zeit. Daß ich mich heiß und glücklich wieder mit ihr zusammenfand, das hab' ich einem meiner Lehrer zu danken: dem Rektor Hartmann. Er ist unter allen Professoren meiner Augsburger Gymnasialzeit fast der einzige, der mir heute noch klar und lebendig vor Augen steht. Ein schwerer, massiv gebauter Mann mit energischem Schritt; ein harter Eisenkopf mit scharf geschnittenem [96] Gesichte, von dessen Wangen die schwarzen Bartkoteletten gegen die Schultern wehten; dunkle, strenge, ruhelos gleitende Augen, in denen nie ein Lachen war, nur immer der unveränderliche Ernst der Arbeit. Er lehrte Geschichte und Deutsch, nicht als Buchdrescher, sondern auf eine Art, die uns einen Vorgeschmack der Hochschule gab. Zehn Minuten lang rekapitulierte er durch Fragen das Pensum der letzten Stunde; dann legte er hinter dem Rücken die Hände unter dem langen schwarzen Rock übereinander, begann in seinem wuchtigen Schritt um das Viereck der Schulbänke zu wandern und hielt uns freien Vortrag, mit der Formvollendung eines klassischen Rhetors. Wehe dem Schüler, der da nicht Ohr war bis zu den Fußspitzen hinunter. Da konnte Rektor Hartmann zwei Augen machen, vor denen man zitterte. Zu den Schülern, mit denen er unzufrieden war, sagte er ›Sie‹. Die anderen duzte er. Auch mich. Er hatte mich lieb und zeigte mir das auf eine wunderlich herbe Art, die mich stolz und ehrgeizig machte. Als er mir eines Tages einen deutschen Aufsatz mit guter Note zurückgab, sah er mich lange prüfend an – und nickte. Von nun an rief er mich nur noch auf, wenn ihm andere die Antwort schuldig blieben. Dann hieß es: »Ganghofer! Sag' es ihnen!« Einmal, als er mich wieder [97] mit diesen Worten aufgerufen hatte, blieb ich stumm. Wie sich da sein Gesicht veränderte – das hab' ich nie vergessen. Er sagte: »Das ist zum Verzweifeln! Setzen Sie sich!« Bis zum Schluß der Stunde saß ich gleich einem Gelähmten auf meines Nichts durchbohrendem Gefühl. Dann rannte ich dem Rektor wie ein Verrückter nach und vertrat ihm auf dem dunklen Korridor den Weg. »Verzeihen Sie mir, Herr Rektor! Ich werde niemals wieder unvorbereitet in Ihre Stunde kommen.« Er schwieg eine Weile. Dann ging er an mir vorüber: »Gut! Wir wollen sehen!« Durch viele Wochen rief er mich nicht mehr auf Endlich, endlich hörte ich das wieder, doch mit einer kleinen Spielart ins Mißtrauische: »Ganghofer! Sagen Sie es ihnen!« Da haute ich aber auch meine prügelfest memorierte Weisheit auf die Bank hin, daß es klatschte! Von diesem Tag an duzte er mich wieder.

Mit Ende des Schuljahres wurde er nach München versetzt. Und viele Jahre später – als mein Name schon ein bißchen genannt wurde – begegnete ich ihm eines Morgens in der Ludwigstraße und stürmte in Freude auf ihn zu. Er nahm meine Hand. Und damals sah ich in seinen strengen Augen zum erstenmal ein freundliches Lachen.

Dieser Lehrer – ich finde für ihn kein Wort, [98] das mir wertvoller klänge – dieser Lehrer war es auch, der mich nach meiner kleinen Irrfahrt ins Abstrakte wieder zum Realen jener großen Zeit zurückführte, mir diesen brennenden Rausch der deutschen Freude wie der gab. Wenn er in jenem Frühjahr 1871 das Klassenzimmer betrat und in seinem massigen Wuchse noch größer zu sein schien als sonst, dann wußten wir gleich, was kommen würde. Immer begann er ungefähr mit den nämlichen Worten: »Da ihr die Söhne deutscher Väter seid, so will ich euch eine Mitteilung machen, die ihr in Anbetracht der Würde und Bedeutung dieses vaterländischen Ereignisses stehend anzuhören habt.« Und so sprach er zu uns das einemal von König Ludwigs Initiative zur Einigung des Deutschen Reiches und von dem glorreichen Tage, an welchem König Wilhelm in Versailles zum Deutschen Kaiser ausgerufen wurde; ein andermal von den Friedensverhandlungen zwischen Bismarck und Thiers, vom Einzug unserer Truppen in Paris, von der Eröffnung des Deutschen Reichstages zu Berlin. Aus seinen Worten fiel mir Feuer ins Blut, und ich zitterte und brannte vor Aufregung, wenn er seine kleine Rede mit den Worten schloß: »Und nun wollen wir uns dem Pensum unserer heutigen Stunde zuwenden!« [99] Gern möcht' ich euch zwei Bilder zeigen: wie der gehaßte Bismarck von anno 66 in meiner Vorstellung aussah, und wie der erste Kanzler des Deutschen Reiches vor meinen Augen stand. Eine lange Schilderung ist da nicht nötig. Stellt das Widerwärtigste neben das Herrlichste, eine fratzenhafte Karikatur neben die Glanzgestalt eines Heros, so seht ihr diese beiden Bilder. Was ist Haß und Liebe in den Herzen der Menschen? Im Grunde nichts anderes als Mißverständnis und Glaube.

Nach der Gründung des Deutschen Reiches bekam die halb eingeschlummerte religiöse Bewegung wieder frischen Atem – jene Bewegung, die mein Vater als ein ›Erlösungswerk des gesunden Menschenverstandes‹ zu bezeichnen liebte, während der hochwürdige Herr zu Welden sie von der Kanzel herab als ›freimaurerische Schweinerei‹ bezeichnete, als ›Döllingerschwindel und deutlich erkennbares Teufelswerk‹.

Gegen Döllinger, der wenige Tage nach der Eröffnung des Deutschen Reichstages die erzbischöfliche Aufforderung zur Unterwerfung unter das neue Dogma der Unfehlbarkeit mit ruhigem Nein zurückgewiesen hatte, wurde die Exkommunikation ausgesprochen. Das blies in die schläfrig gewordenen Kohlen. Der Senat der Universität München antwortete [100] in kriegerischer Stimmung mit Döllingers Wahl zum Rektor Magnifikus. Wie das im Lande wirkte, und wie man im liberalen Lager sich an der Hoffnung berauschte, daß die bayerische Regierung Farbe bekennen und ›durchhalten‹ würde – das habe ich hier nicht zu schildern. Ich habe von diesen vergangenen Dingen nur so weit zu reden, als sie mein eigenes Leben berührten.

Berührten? Das ist ein unzureichender Ausdruck. Diese Dinge rüttelten mir Leib und Seele durcheinander. Was in den Überzeugungen meines Vaters eine ruhige Glut war, das wurde in meinem sechzehnjährigen Rappelkopf ein wühlendes Feuer. Und in der Religionsstunde des Realgymnasiums kam es eines Vormittages zwischen dem Religionslehrer und mir zu einer scharfen Kontroverse. Unser Katechet war kein Eiferer. Sein Gesicht vermag ich in meiner Erinnerung nicht mehr zu sehen. Aber ich meine noch zu wissen, daß er ein ruhiger, freundlicher Mann war, der nicht weniger und nicht mehr denn seine Pflicht tat, als er seinen Schülern in der Religionsstunde den Glauben an das neue Dogma einzureden versuchte. Er hatte keine Schuld an dem Wortgefechte, das ich heißblütig heraufbeschwor. Ich war ein bockbeiniger Bekenner und hatte vielleicht [101] den Ehrgeiz, ein Märtyrer meiner Überzeugung zu werden. Und so mußte ich plötzlich von der Schulbank aufspringen und sagen: »Ich halt' es für meine Gewissenspflicht, die Erklärung abzugeben, daß ich an das neue Dogma de infallibili magisterio summi pontificis papae nit glaube ka(n)!« Der Herr Religionslehrer machte ein namenlos verdutztes Gesicht. Und in der Klasse hörte man keinen Laut, keinen Atemzug. Der Katechet, in einiger Verwirrung, sagte: »So? Sooo? Das ist eine schöne Bescherung, die Sie mir da machen!« In aller Ruhe begann er mit mir zu sprechen. Als er mir vorhielt, daß ich nicht das nötige theologische Rüstzeug besäße, um eine so komplizierte kirchliche Sache richtig beurteilen zu können, fuhr mir's heraus: »So beruf' ich mich halt auf den theologischen Gelehrten Döllinger. Der wird wohl das nötige Rüschtzeug hawe, um zu wisse, warum er Nein sage mueß.«

Die Stirne des Herrn Katecheten begann sich zu röten. »Dieser Döllinger, auf den Sie sich da berufen, ist vor Jahren mein Lehrer gewesen. Und ich kann Ihnen sagen, daß er damals ganz anders gesprochen hat, als er heute redet. Damals war alles bessere Wissen bei ihm. Heut ist das bessere Wissen in mir!«[102] Es wurde mir heiß unter dem Haardach. »Wenn Professor Döllinger Ihr Lehrer gewesen ischt, so werd ich wohl annehme dürfe, daß der Lehrer sich besser auskennt als wie der Schüler.«

Da schlug die Stundenglocke.

»So?« Der Herr Katechet griff nach seinem Hute. »Jetzt haben Sie die Sache selbst erledigt. Sie sind mein Schüler, ich bin Ihr Lehrer. Wer ist also jetzt nach Ihrer Logik der Gescheitere von uns beiden?« Sprach's und verließ die Klassenstube.

Meine Schulkameraden surrten auf mich zu. Das Gelindeste, was sie mir in Aussicht stellten, war die Dimission. Mir selber schwante so was Ähnliches. Aber der Nachmittag verging, ohne daß ich aufs Rektorat gerufen wurde. Auch am folgenden Tag ereignete sich nicht das geringste. Und in der nächsten Religionsstunde schien der Herr Katechet den Vorfall vollständig vergessen zu haben. In meinen Augen war das ein Sieg der Wahrheit. Ich trug den Kopf sehr hoch, war stolz und bildete mir auf den Erfolg meines Überzeugungskampfes ein Erkleckliches ein.

Heute, nach achtunddreißig Jahren, gefällt mir das Verhalten des Katecheten besser als das meine. Abernur als Schuljungenfrechheit dürft ihr mir diese Sache doch nicht ankreiden. Ihr müßt bedenken, [103] daß dieser Vorfall in der Zeit spielte, in der meine Eltern zu Welden eines denkwürdigen Sonntags die Kirche verlassen mußten, weil der Hochwürdige von der Kanzel herab auf das ›Beamtenchörle‹ deutete und von ›liberalen Lumpen und roten Hunden‹ predigte.

Ach, dieser unglückselige Prophet! Er machte meine Mutter weinen, verursachte meinem Vater schlaflose Nächte, Tage voll endloser Bitterkeit – und bereitet nun auch mir wieder unerquickliche Stunden. Ich erzähle nicht gerne, was ich jetzt erzählen muß. Immer wieder während der letzten zwanzig Jahre kam mir der Gedanke, in einem Romane ›Pfarrhof und Försterhaus‹ die politischen und religiösen Kämpfe der siebziger Jahre zu schildern und die Bilder dieses Buches aus den Wirklichkeiten herzunehmen, die wir in Welden erleben mußten. Doch immer wieder schob ich diesen Gedanken von mir fort, weil seine Gesichte mich quälten und weil ich daran verzweifelte, für diese Dunkelheiten eine künstlerische Form zu finden, die sich dem Vorwurf übler Tendenzmacherei entwinden könnte. Der Roman blieb ungeschrieben. Doch aus dem Berichte meines Lebens kann und darf ich nicht hinausschieben, was unlösbar mit ihm verbunden ist, und was einen Schmerz, einen Schreck, [104] einen martervollen Zweifel an der Menschheit in meine junge, vertrauensvolle Seele warf Und nun will ich in der Schilderung dieses menschlichen Schauer- und Trauerspieles aus bestem Willen die Wahrheit suchen. Ob ich sie immer finden werde? Manches wirrt sich vor meinen Augen durcheinander. Und vieles, was ich nicht selbst gesehen, weiß ich nur vom Hörensagen. Klatsch, Phantasie und Wirklichkeit mögen in diesem mündlich Überlieferten bunt durcheinander fließen. In jener aufgeregten Zeit verschärften sich alle grellen Lichter und vertieften sich alle dunklen Schatten. 1

Und voraus will ich noch dieses eine sagen: was wir die tragische Schuld in diesem Trauerspiel nennen müssen, das seh' ich heute nicht mehr im Leben und Handeln dieses unglückseligen Pfarrers, der mir vor siebenunddreißig Jahren ein Gegenstand des Grauens wurde. Unglückselig? Ja, das war er! Ein Belasteter, ein Gezeichneter, ein Verlorener um seines Blutes willen, ein Gefesselter in seinem Leben. Und auf allen Wegen, [105] über die er zitternd taumeln mußte, preßte ihm ein Dämon Weib die kleinen, aber eisernen Fäuste stoßend in den Nacken – und machte ihn mit Liebe kirr, wenn er widerspenstig werden wollte. Nach Christi Wort von jenen, die viel geliebt haben, muß diesem Pfarrer viel verziehen werden.

Er kam – und ihr wißt bereits: die erste Sache, die von sich reden machte, war eine Last auf seinem Gepäckwagen, eine mit Luftlöchern versehene Kiste, wie man sie zum Transporte großer Hunde benützt. Als der neue Pfarrer sich im Pfarrhof installiert hatte, war von einem großen Hunde nichts zu sehen und zu hören. Erst ein Jahr später, als aufgeregte Neugier den Pfarrhof zu umwandern begann, war plötzlich ein wachsamer Hund da, der hinter den Staketen des Widums kläffte bei Tag und Nacht. Aber jene Kiste? Was war in jener Kiste? Man mußte sich lange gedulden, bis man das erfuhr. Und dann nannte man dieses Schreckliche eine Bestialität. Nicht ganz mit Recht. Es war zugleich auch eine menschliche Zärtlichkeit.

Neben der Neugier um diese Kiste erwachte auch schon am ersten Tag ein Verwundern über den Pfarrer selbst. Ein schöner, stattlicher Mann, noch jung, nur erst ein Jährchen über vierzig. Und [106] hatte schon dieses greisenhafte Zittern am ganzen Leibe, an den Händen, in den Knien. Und mußte, um seinen Kahlkopf zu verhüllen, diese steifbraune, glänzend frisierte Perücke tragen. Dazu ein rundes, harmlos und gutmütig wirkendes Gesicht, fast wie ein Knabengesicht, mit roten Bäckchen, mit hübschen, verträumten Augen, die immer in feuchter Begeisterung zu schwimmen schienen.

So kam er – und brachte drei Frauenzimmerchen mit, im Alter von vierzehn bis zu neunundzwanzig Jahren: die kleine magere Theres mit den unordentlichen Haarzotten und den scheuen Wildkatzenaugen, das liebe, blasse, schwermütig stille Bertele, dem ich gutwerden mußte, und das Fräule Kreszenz, das so eitel und hochmütig war und so lärmend redete, daß der Volksmund gleich in den ersten Tagen für diese schneidige, modisch gefiederte Dame den Namen ›Hofgockel‹ erfand. Diese drei Weiblichkeiten wurden bei den Visiten der Honoratioren als Nichten vorgestellt.

Nichten? Nun, im Dorfe schmunzelte man ein bißchen. Aber man nahm dem Pfarrer die zärtliche Fürsorge für seine ›Blutsverwandtschaft‹ weiterhin nicht übel.

Doch dieses duldsame Übersehen einer halb verschleierten Sache dauerte nicht lange. Und das [107] verschuldete der immer mit erhobenem Näschen und in Seide einherrauschende Hofgockel. Dieses rassige Fräule Kreszenz war ein schlankes, zierliches, fast elegantes Dämchen, stets mit dem neuesten Hutmodell über der klugen Stirne, von quecksilberner Beweglichkeit, begabt mit einer sieghaften Redegewandtheit. Jeden Widerspruch verstand sie stumm zu machen. Und ein dunkles, hartes, eisernes Teufelchen guckte scharf aus ihren flinken Argusaugen, die alles im Dorfe sahen, das Offene und das Verborgene. Sie war nicht schön. Vielleicht war sie es einmal gewesen. Aber grobe Blatternarben hatten das feingeschnittene Gesicht verändert und entstellt. Doch ihre Seele schien makellos zu sein. In allen Angelegenheiten der Moral und Sittlichkeit hatte sie wahrhaft puritanische Grundsätze, war strenger als ein biblischer Prophet, und wenn sie während des Hochamtes, das ihr stattlicher Pfarrherr zelebrierte, mit ihrer schwärmerischen Frömmigkeit im ›Pfarrköcheskirchstuehl‹ kniete, bot sie den Anblick einer allem profanen Staub entrückten Heiligen. Diese fromme, sittliche Seele wurde gleich in den ersten Wochen nach ihrem Einzug in Welden der Schrecken aller jungen Burschen und Mädchen, die das Leben fideler und süßer nahmen, als das Fräule Kreizenz die irdische Wallfahrtgenommen [108] sehen wollte. Kein Kirchenschwänzer entging ihrem Späherblick; was Tanz und Lustbarkeit hieß, mußte abgestellt werden; und wenn es für das scharfe Näschen des Hofgockels ruchbar wurde, daß ein junges verliebtes Paar die Freuden des künftigen Eheglückes auf Raten vorausbezog, dann wußte das strenge Fräule Kreszenz ihren sonst sehr gutmütigen Pfarrherrn so scharf zu laden, daß er sich auf der Kanzel in schweren sittlichen Explosionen entlud.

Die Stimmung im Dorfe wurde schwül und unbehaglich. Die alten frommen Bauern und Bäuerinnen, die sich nach aller Lebensplage die ewige Seligkeit unverkürzt erhofften, wurden gefügig und drehten sich nach dem scharfchristlichen Winde, der aus der Pfarrhofküche herausblies. Doch alle Leute, die in kraftvollem Leben standen, und alle Jungen, die ihr Bröselchen Daseinsfreude haben wollten, wurden bockbeinig und gereizt. In einer stockschwarzen Winternacht gab's eine Katzenmusik vor dem Pfarrhause. Die Folge war eine wetternde Sonntagspredigt. Und die Pfarrköchin surrte wie ein Detektiv von Haus zu Haus, um die Schuldigen auszuforschen. Auch auf einen Forsteleven hatte sie Verdacht. Und kam in Zorn und Aufregung zu meiner Mutter ins Forsthaus. Mama [109] glaubte ein bißchen zum Frieden mahnen zu müssen. Und meinte, daß man dem jungen Volk im Dorfe nicht allen lustigen Ellbogenraum entziehen dürfte. Und daß uns der liebe Gott zwei Augen gegeben hätte, damit man im Notfall eines zudrücken und doch immer noch sehen kann. Aber mit diesen ›laxen Prinzipien‹ kam die Mutter übel an. Das Fräule Kreszenz erklärte: »Wir haben keine Veranlassung, Kompromisse zu machen. Wer sich selbst nicht das geringste vorzuwerfen hat, kann auch von anderen die strengste Lebensführung verlangen. Was christlich und sittlich ist, darüber haben doch wohl in erster Linie wir zu entscheiden. Bei aller Hochachtung, Frau Oberförster ... aber in die pfarramtlichen Angelegenheiten lassen wir uns nichts dreinreden!«

Noch als alte Frau konnte meine Mutter diese Szene so drollig kopieren, daß wir Tränen lachen mußten. Aber damals, als der Auftritt sich ereignete, war er weniger lustig und hatte ungemütliche Folgen. Die Pfarrhofleute brachen den Verkehr mit dem Forsthaus ab. Und es dauerte nicht lange, so mußten meine Eltern bemerken, daß manche Leute im Dorfe nicht mehr so freundlich zu ihnen waren wie früher.

Fräule Kreszenz – bei dem Anspruch, die [110] herrschende Königin des Dorfes zu sein – brüskierte der Reihe nach alle Honoratiorenfrauen. Dann gab es immer zwischen den Ehemännern und dem Pfarrer lange Korrespondenzen, die im Stil der Hochachtung begannen und mit scharfen Ausdrücken endeten. Am schwersten bekamen der gute, gemütliche Lehrer Gsell und seine Frau das eiserne Fäustchen zu fühlen, das im Pfarrhof obenauf war. Zur Frau des Lehrers sagte das schneidige Fräule Kreszenz eines Tages: »Im Verhältnis zu mir sind Sie eben nur die Mesmerin, die den Kirchtorschlüssel an den Nagel hängen darf! Mehr sind Sie nicht!« Darauf kam die Antwort: »Was Sie sind ... noi(n), dees ka(n) me gar it sage!« Nach diesem Wortwechsel gingen zwei Todfeindinnen auseinander. Auch mit der Frau des Aufschlägers hatte es was Ähnliches abgesetzt. Der Mann klagte seinen Zorn und Kummer einem Freunde zu Obergünzburg, von wo der neue Pfarrer mit seinen ›Nichten‹ gekommen war und erhielt zur Antwort einen Brief aus dem ich ein paar aufhellende Sätze zitieren muß:

»Herr Andra war hier bis zu den letzten Landtagswahlen eine sehr geschätzte Persönlichkeit. In Wirtshäusern hat man ihn wenig gefunden, und dort war er, wenn er einmal hinkam, auch [111] sehr verträglich. Zu Hause wurde, nach den Weinlieferungen zu schließen, viel gekneipt. Mit seinen – man sagt ›Bäschen‹ – sah man ihn häufig auf Spaziergängen zur Tags- und Nachtzeit. Während seines Hierseins hat er zweimal vikariert, einmal in Ungerhausen und das zweitemal in Ebersbach. Die Ebersbacher sind, wie du vielleicht weißt, meistens Rongianer und Freigeister. Herr Andra ist mit diesen Leuten so gut gefahren, daß dieselben heute noch bedauern, diesen Mann nicht als Pfarrer erhalten zu haben. Ja, diese Freigeister zu Ebersbach glauben gar nicht, daß Herr Andra seit den letzten Landtagswahlen gählings ein anderer geworden ist, als er bis dorthin war. Erst bei Vornahme der letzten Wahlen zur Abgeordnetenkammer ist dieser Schneck aus seinem stillen Häuschen getreten und ist als Politikus ein Wühler wie kein zweiter geworden.«

Dieser Brief enthält ein paar Sätze, die man sich merken muß, wenn man erkennen will, daß es sich hier nicht um die Tragödie eines einzelnen Menschen handelt, sondern um das Trauerspiel eines ganzen Standes.

Also, der Hochwürdige, der zu Welden gegen die ›liberalen Lumpen‹, gegen die ›roten Hunde‹ und ›freimaurerischen Schweine‹ zu predigen begann, [112] war früher einmal ein Freund der Freigeister, ein aufgeklärter Priester, ein Rongianer, ein Anhänger des exkommunizierten Wanderpredigers Johannes Ronge, der gegen Aberglauben und Reliquienschwindel kämpfte und eine freie deutsch-katholische Kirche begründen wollte! Und dieser gesinnungsfeste Rongianer Andra wurde im Handumdrehen – vielleicht über Nacht? – ein Wühler und Hetzer übelster Sorte, ein ›Patriot‹, der auf der Kanzel den Sieg und die Einigung der Deutschen mit den Worten feierte: »So lang ich atme, werde ich mitarbeiten an der Zertrümmerung dieses neuen Deutschen Reiches, das der Teufel bauen half!« Wie kam dieser jähe Gesinnungswechsel? Warum nur mußte das so plötzlich geschehen, daß – (ein klassisches Wort!) – dieser ›Schneck aus seinem stillen Häuschen‹ trat? Warum? Die Antwort wird sich ergeben.

Das frohe, friedliche Dorf an der Laugna war über Wochen und Tag in zwei feindliche Lager gespalten. Auf der einen Seite die paar Liberalen, die Honoratioren, die sich von den Glühweindüften und der bedenklichen Zimmet- und Pfefferatmosphäre des Pfarrhofes möglichst ferne hielten – auf der anderen Seite die verläßlichen [113] frommen Seelen, denen das Himmelreich versprochen wurde, weil sie den neuen Pfarrer als einen reinen Propheten Gottes nahmen und rings um den Pariser Federhut des Fräule Kreszenz einen Heiligenschein erblickten. Zwischen den beiden Parteien pendelten die noch Unentschlossenen, die nicht rot werden und nicht schwarz sein wollten. Diese ›Lauen im Geiste‹ lachten und schwatzten gerne, spielten ihre lustigen Streiche nach zwei Seiten hin, bemalten die Haustür unseres Forsthauses mit Zinnoberfarbe und die des Pfarrhofes mit Wagenschmiere, schrieben drollige anonyme Briefe und kolportierten eine allzumenschliche Erklärung, als das blasse, schwermütige Bertele für längere Zeit aus dem Dorfe verschwinden mußte, und als sich bald darauf auch die zarten Formen des Fräule Kreszenz überraschend zu runden begannen.

Man tuschelte durch alle Gassen des Dorfes. Und im Pfarrhof gab es Feuer und Flammen, als das umlaufende Gerede bis zu den Ohren des Hochwürdigen drang. Er hielt eine donnernde Sonntagspredigt über das Otterngezüchte der Verleumdung und über den kostbaren Wert der makellosen Jungfräulichkeit, die ein Wohlgefallen vor Gottes Augen ist. Das Dichterwort: »Es liebt die Welt das Strahlende zu schwärzen« – wurde [114] auf dem Kanzelgesimse breitgeklopft. Und woher kommt solche Niedertracht der Welt? Von der freimaurerischen Schweineherde, von den roten Lumpen, vom teuflischen Liberalismus, von den Gegnern der Infallibilität, von den Zuträgern gewissenloser Schmierblätter. »Aber was hat ein seiner Kirche treuergebener Priester zu fürchten, der mit seinen politischen und religiösen Überzeugungen ganz auf dem Boden seines hochwürdigsten Herrn Bischofes und seiner geistlichen Behörde steht!«

Solchen Hintergrund hatte die Zeit in Welden, als die Propaganda für die Wahl zum ersten Deutschen Reichstag begann. Mein Vater tat da wieder, was er in früheren Jahren vor jeder Wahl für die Abgeordnetenkammer getan hatte: er berief eine Volksversammlung, die in der Schulstube tagen sollte. Achtzig oder hundert Wähler – eine Volksversammlung! Bei früheren Wahlen war das immer ein liebenswürdiges und freundschaftliches Wortgefecht zwischen meinem Vater und dem Pfarrer Hartmann gewesen. Man wählte, wie man wollte, und dann ging man gemütlich auseinander – nein, man setzte sich erst recht zusammen. Wie sollte das jetzt werden? Während der Tage vor der Volksversammlung sauste Fräulein Kreszenz von[115] Haus zu Haus, machte den Bäuerinnen die Hölle heiß und legte wohl auch ihrem Pfarrherrn ein wirksames Feuerchen unter. Bei der Volksversammlung gab es Blitz und Donner, und es fehlte nicht viel, so hätten die sonst so friedlichen Bürger von Welden einander geprügelt.

Nun hub im Dorfe erst recht der richtige Unfried an. Der Pfarrer und seine Kreszenz kämpften mit der Devise: »Wer nicht für uns ist, ist wider uns! Und gegen Gott!« Das Forsthaus wurde verfemt und verschrien. In den Wirtshäusern und auf der Straße war das Gezähnt an der Tagesordnung, in Nachbarhäusern schimpfte man von Tür zu Tür, von Fenster zu Fenster; der politische und kirchliche Streit wurde in die Familien hineingetragen, der Mann verfeindete sich mit seiner Frau, der Vater mit dem Sohn, der Bruder mit seiner Schwester. Und kaum eine Nacht verging, ohne daß meinem Vater oder meiner Mutter irgend ein ekelhafter Possen gespielt wurde. Was ist für Christen nicht alles erlaubt gegen ein Haus, unter dessen Dach nach der Meinung einer Pfarrersköchin notorisch der Teufel haust? Man war beinah' im Forsthaus seines Lebens nicht mehr sicher. Aber die Eltern fanden nach allem Verdruß und aller Kränkung [116] bald wieder ihren unverwüstlichen Humor und benützten die Höllenfurcht der Zeit zur Sicherung ihres Hauses. Sie höhlten große Kürbisse aus, schnitten Augen, Mäuler und Nasen hinein, steckten ein brennendes Licht in die Höhlung und schoben diese rotglühenden Teufelsfratzen in den Nächten zu den Giebelfenstern hinaus oder ließen sie um Mitternacht an Drähten von einer Dachluke des Wohnhauses hinüberlaufen zu einer Dachluke des Ökonomiegebäudes. Das wirkte! Von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen wagte sich kein politischer Gegner mehr in die Nähe unseres Zaunes.

Dann plötzlich gab es in der schwülen Frühlingsluft des Dorfes einen Wettersturz, der die Schar der Pfarrgetreuen von Woche zu Woche immer merklicher lichtete und auch die Ahnungslosesten stutzig machte. Zuerst erfuhren sie, was hinter dem schrecklichen, das Forsthaus umfliegenden Teufelswesen steckte – da mußten sie lachen. Und dann flatterten aus dem Pfarrhof allerlei Nachrichten heraus, bei denen die Leute ernst und nachdenklich wurden.

Die mutige Kämpferin für Keuschheit, Vaterland und Rom, verschwand aus der Schlachtreihe des dörflichen Kampfes. Sie wurde nicht mehr [117] gesehen. Hatte vielleicht auch sie eine Reise angetreten? Nein! Die arme Jungfer Kreszenz war nur erkrankt und lag in einem unzugänglichen Zimmerchen des Pfarrhofes, wo sie von der kleinen Wildkatz und vom Hochwürdigen mit Sorgsamkeit gepflegt wurde. Bald hieß es, sie hätte ein Magenleiden, bald wieder sagte man, sie läge an einem Rückfall der Pocken. Irgend etwas Ansteckendes mußte es wohl sein. Denn niemand durfte den Pfarrhof betreten. Auch der Arzt blieb ungerufen. Diese Krankheit dauerte lange. Und als Rekonvaleszentin wanderte das Fräule Kreszenz bei Nacht und Nebel von Welden nach Dinkelscherben und reiste von da mit der Bahn nach einem dunklen Ziel. Nun blieb die Theres, jetzt ein fünfzehnjähriges Mädchen, als einzige Nichte im Pfarrhof zurück. –

Eines Morgens sah der Gerber, als er an seiner Lohstampfe die Schleuse öffnete, etwas Merkwürdiges tief unten durch das Wasser schwimmen und in den strudelnden Gumpen hinuntertauchen, wieder herauskommen und wieder verschwinden. Was war denn das nur gewesen? Gab es denn in der Laugna so große Fische?

Aus dem Wasser wurde die schon halb zerstörte Leiche eines neugeborenen Kindes herausgezogen.

[118] Die Untersuchung wegen des Verbrechens, das da vor zwei, drei Wochen geschehen war, verlief ohne Resultat. Kein Mädel im ganzen Dorfe war ›so dran‹ gewesen, daß man Verdacht hätte schöpfen können. Es hieß: eine Fremde, eine, die in der Nacht durch Welden gewandert, von irgendwo gekommen und irgendwohin gegangen wäre!

Dann war's in einer milchweißen Vollmondnacht. Mein Vater arbeitete noch in seiner Kanzlei. Es ging schon auf die zweite Morgenstunde. Da pochte jemand heftig ans Fenster. Und als der Vater öffnete, stand draußen im Hof der Nachtwächter mit seinem Spieß. Der Mann hieß Stanger, war ein Bürger von Welden und versah in jener Nacht den Wächterdienst, der von Haus zu Haus immer wechselte. Und ein fleißiger und tüchtiger Mensch war er, dieser Stanger, wahrheitsliebend und nüchtern.

»Was ist denn?«

Eine erwürgte Stimme: »Herr Oberförschtner!«

»Was denn?«

»Lasset Se mi nei(n) ins Haus! Da herauße, da guckt der Himmel zue. Da trau i mer's nit sage!«

Papa schloß das Fenster und öffnete die Haustür. Und als der Nachtwächter in der Kanzlei war, mußte er sich erst auf einen Sessel setzen, bevor [119] er reden konnte. Dann erzählte er meinem Vater: daß er auf seiner Dienstrunde bei klarem Mondschein am Pfarrhofe vorbeigegangen wäre. Und da hätte, im vollen Mondlicht, aus einem Dachfenster des Pfarrhofes ein Kind herausgeschaut.

»... Was?!«

Ein Kind! Ganz deutlich: ein Kind! Ein vier- oder fünfjähriges Kind!

»Stanger! Sie sind ja betrunken!«

»Noi(n), Herr Oberförschtner! I ha(n) koi(n) Tröpfle nit im Mage! Und gnau han i's gsehe! Es isch e Kindle gwese!«

»Aber das ist doch unmöglich! Sie haben sich im Mondschein getäuscht.«

»Noi(n), noi(n), noi(n), Herr Oberförschtner! Es isch e Kindle gwese! Auf Eahr und Seligkeit! Und e Büeble, mit gschnittene Härle! Und hat mit em Händle rausgriffe zum Fenschter.«

Papa schüttelte den Kopf. »Nein! Das ist unmöglich! Sie haben sich verschaut. Auf dem Speicher des Pfarrhofes, neben dem offenen Fenster, kann Wäsche hängen. Die hat sich in der Zugluft zum Fenster herausgebauscht. Und die Aufregung und das Gerede im Dorf! Das geht Ihnen durch den Kopf! Und da haben Sie gesehen, was in Wirklichkeit nicht existieren kann! [120] Erzählen Sie diesen Unsinn um Gotteswillen keinem anderen Menschen! Sie könnten wegen Beleidigung und Verleumdung schwer gestraft werden!«

Der Mann versprach zu schweigen. Doch unter der Haustür sagte er noch: »Auf Eahr und Seligkeit! Und da laß i mer en Grind aaschneide, es isch e Kindle gwese!«

Ein Kind im Pfarrhof? Schon nach wenigen Wochen wurde das wahr. Wenn auch auf andere Weise. Im Juni kehrten Berta und Kreszenz zurück und brachten ein auf den Namen Aloysius getauftes Knäblein mit. Im Pfarrhof wurde die Erklärung gegeben: die arme Mutter des Kindes wäre gestorben, und die wohltätigen Schwestern hätten sich des verwaisten Knäbleins aus Barmherzigkeit angenommen. Der Aufruhr im Dorfe begann sich wie durch ein Wunder zu beschwichtigen. Gegen Wohltat und Barmherzigkeit ist nichts einzuwenden, am allerwenigsten, wenn sie in einem Pfarrhofe geübt werden. Aus den Unschuldsaugen eines Kindes scheint etwas Sänftigendes auszufließen – so etwas wie zaubersames Öl, das die empörten Wogen beruhigt. Und das Aloysche – so erzählte das Fräule Kreszenz im ganzen Dorfe – hätte noch ein älteres, zweijähriges Brüderchen mit Namen Ludwig; dieser [121] kleine Ludwig hätte die Auszehrung und kränke sich sehr, weil seine Eltern gestorben wären; so oft ihm die Photographie seiner Mutter gezeigt würde, hebe das Kind die Händchen auf und weine.

Im Herbste verschwanden die beiden Schwestern Kreszenz und Berta aus Welden. In diesem gleichen Herbste, so um Jakobi herum – in der Zeit, in der die frühreifenden Jakobiäpfel süß werden – mußte auch die kleine Wildkatz aus dem Dorfe verschwinden, die fünfzehnjährige Theres. Und Pfarrer Andra erzählte: seine jüngste Nichte hätte bei einer vornehmen Herrschaft einen guten Dienst gefunden; doch er besorge, daß sie an strengere Arbeit noch nicht gewöhnt wäre, und da könnte es wohl sein, daß sie bald wieder käme. Die Theres blieb aber sehr lange fort, mehr als ein halbes Jährchen. Das Fräule Kreszenz und das blasse Bertele kehrten schon nach wenigen Tagen wieder zu ihrem einsamen Onkel zurück und brachten jenen zweijährigen Ludwig mit. Sie wollten in Mildherzigkeit versuchen, ob das verwahrloste Kind durch die gleiche Sorgfalt, Liebe und Zärtlichkeit, wie sie das Aloysche genießen durfte, nicht wieder zu fester Gesundheit zu bringen wäre. Und der hochwürdige Herr ließ die beiden Kinder beim Gemeindeamte auf seinen eigenen [122] Namen einschreiben. Schüchtern fragte der Bürgermeister, ob denn das auch der richtige Name der Kinder wäre?

»Nein!«

Aber dann ginge doch so was nicht!

»Wenn ich das so will, dann geht es schon! Ich liebe diese Kinder!«

Der Bürgermeister schrieb in die Matrikel: Ludwig Andra und Aloys Andra.

Leuchtete damals ein milder, warmer Herbst? Ich weiß noch vom Hörensagen, daß die ›Pfarrhofkinder‹ Tag für Tag, bis spät hinein in den November, durch das ganze Dorf spazierengetragen und spazierengefahren wurden. Das stille blasse Bertele trug oder führte das Ludwigle, Fräulein Kreszenz mit einem Hut nach der neuesten Mode schob das Korbwägelchen, in dem das Aloysche lag, und der hochwürdige Herr ging nebenher, bekam einen roten Kopf, wenn seine Augen einem sich abwendenden Gesichte begegneten – grüßte aber freundlich und leutselig, wenn eine Bäuerin mit scheuer Herzlichkeit zu dem Korbwägelchen herantrat, um die netten, hübsch gekleideten Kinder zu bewundern.

Ich selbst habe dieses Familienbild mit eigenen Augen nie gesehen. Damals im Sommer war ich [123] nicht in Welden, sondern zu Furth im bayerischböhmischen Walde als Feriengast bei meinem Onkel Wilhelm. Ich bestieg den Ossa, den Arber und den Hohen Bogen; sah den Urwald mit den vielhundertjährigen Bäumen und den tausend vom Sturme gestürzten Waldriesen; machte einen Ausflug nach Eger, um die Stätte zu sehen, auf welcher Wallenstein verbluten mußte – unternahm eine Fahrt nach Pilsen, wo ich von dem gottverfluchten Gebräu den ersten unter den drei großen Räuschen meines Lebens bekam; besuchte ein berühmtes Kloster, in dem es eingemachte Preißelbeeren von unerhörter Güte und die größten Karpfen gab, die ich je gesehen; besuchte die Glashütten, aus denen ich, ganz verrückt vor Freude, gar nimmer herauswollte; und trieb mich tagelang in den Spiegelmacherwerkstätten herum, in denen die Männer, Frauen und Mädchen genau so blaß waren und um den Mund herum so schmerzliche Linien hatten, wie das Pfarrhofbertele von Welden. Und da ist mir etwas im Gedächtnis geblieben. Man erzählte mir dort, daß von den Spiegelmachern, die das giftige Quecksilber auswalzen, keiner älter würde als fünfunddreißig, höchstens vierzig Jahre. Mit einem Gefühl der Beklemmung sah ich diese dem frühen Tod geweihten Menschen an. Und da fiel es mir auf daß sie trotz [124] dem kranken Schmerz, der ihren Gesichtern eingeschrieben war, doch ruhige, frohe Augen hatten. Ich glaubte das zu begreifen, als ich ihre Wohnungen sah. Diese blinkweißen Stübchen dufteten von Sauberkeit, jedes Kleinste verriet eine liebevolle Hand, alles Zierliche und Niedliche war da zusammengetragen, Vögel sangen, auf den Fenstergesimsen blühten Rosen und feuerfarbene Nelken, fleckenlose Leinwandläufer lagen auf den Dielen, die Mullvorhängelchen leuchteten wie reines Silbergespinst – und in jedem dieser Stübchen, in denen die Leute still mit nackten, reinlichen Füßen umhergingen, hatte man die Empfindung: daß es Sonntag wäre. Einer von diesen bleichen, fünfunddreißigjährigen Greisen sagte zu mir: »So muß es sein! Weil unser Leben so kurz ist, müssen wir's um so schöner machen.«

– Ihr Menschen, die ihr achtzig und neunzig Jahr' alt werdet! Ist euer Leben denn ein langes? –

[125]
Fußnoten

1 Ich bringe hier in der Buchausgabe die Weldener Pfarrhofgeschichte in einer gekürzten Form, die sich auf das Notwendigste beschränkt. Wer sich für die ausführliche, aktengemäße Darstellung des Falles interessiert, möge sie im Jahrgang 1910 der Süddeutschen Monatshefte nachlesen.

4.
IV.

Im Herbste 1871, als ich von meiner böhmischen Waldreise wieder in die Augsburger Schule zurückkehrte, kam ich zum Buchhändler Lampart in Wohnung und Kost. Hier lernte ich ein für meine Augen neues Stück Welt kennen: einen regen und interessanten Geschäftsbetrieb, den Apparat eines stattlichen Hauses, in dem alles den Stempel der Gediegenheit hatte, und das vornehm zugeschnittene, ruhige Leben einer Stadtbürgerfamilie von altem, verfeinertem Blute, wohlhabend und wohlerzogen.

Ich wohnte zusammen mit einem Stadtstudenten von St. Anna, mit dem Thomas Stettner, der mir ein herzlicher Freund fürs ganze Leben wurde. Von der ersten Stunde an vertrugen wir uns gut. Im Hinterhause, dessen Fenster in einen märchenhaft alten Hof hinunterguckten, hatten wir eine gemütliche Wohnstube und ein nettes Schlafkämmerchen. [126] Die Musik erwärmte unsere erste junge Freundschaft. Thomas war ein guter Violinspieler, sein Geigenklang gefiel mir besser als mein Flötenton – und ich hatte das immer gerne: am Abend still und träumend im Ofenwinkelchen zu sitzen, während Thomas durch die dämmerige Stube wanderte und die alten, zärtlichen Volksliederchen geigte.

Außer uns beiden waren noch drei junge Leute im Haus, der Buchhandlungsgehilfe und die beiden Lehrlinge. Die wohnten unter dem Dache in den Mansardenstuben. Da droben saß ich halbe Nächte lang und verschluckte den Inhalt der Bücher, die mir die Lehrlinge aus dem Laden heraufschmuggelten. Wert und Unwert kollerte da wirr durcheinander: Heine, Rotteck, Börne, Lessing – der Mann im Mond und Claurens Mimili, zwei Bücher, die mich eher langweilten, statt mir das junge Blut zu heizen – die drei Musketiere, Tausend und eine Nacht, und der Graf von Monte-Christo, Bücher, die mich zittern machten in Glut und Aufregung. Die stärkste Wirkung unter allem, was ich da verschlang, übte Dantes Hölle auf mich, in der neuerschienenen Übersetzung von Krigar, mit den Illustrationen von Doré, und ein populärwissenschaftliches Buch, eine Urweltsgeschichte: »Vor der Sündflut«, von Oskar Fraas. Dieses Buch, das [127] von der Wissenschaft längst überholt wurde, mag ich auch heute noch gerne lesen. Und dann seh' ich auch immer wieder die Saurier durch die Schachtelhalmwälder wackeln, genau so, wie damals in den Träumen meiner Jugend. Und noch heute kann ich die heiße, jubelnde Freude nachfühlen, die damals sonnenschön in mir aufging, als ich eine Vorstellung vom Wesen der Welt gewann und das unerforschbare Alter des Lebens vergleichen lernte mit den 6000 biblischen Jahren. Damals, bei träumendem Aufwärtsstaunen zu den Sternen, begann in mir der Glaube zu keimen, der das Denken meines ganzen Lebens beherrschen sollte – der Glaube: daß dort oben ein Gleiches sein muß, wie hier unten; daß alles ein Ewiges, Unendliches und Einheitliches ist; und in dieser Einheit blüht das Leben als eine Frühlingsblume, als eine Wandelform mit pochendem Herzen, das sich von keiner falschen Hoffnung betrügen zu lassen braucht und, froh und mutig, keinem Zwang und Wahn gehorchen muß, nur einem herrlichen Ewigkeitswillen und den sinngemäßen Gesetzen der Natur.

Damals, freilich, war das alles in mir noch wie ein Morgen unter Schleiern. Doch da droben in den Mansardenstuben, auf den Bettgestellen der Lehrlinge hockend, focht ich erbitterte Glaubenskämpfe [128] aus und hielt meine ersten literarisch-kritischen Debatten. Die jungen Kameraden und Thomas nahmen solche Gespräche sehr ernst. Doch der kluge Buchhandlungsgehilfe mit dem goldenen Zwicker machte das, was er ›kaustische Witze‹ nannte. Das war sein Lieblingswort. Alle Großen, die er verehrte, Heine, Saphir, Börne, Voltaire und der neue Demokrit, sie alle hatten nach seiner Meinung kaustischen Witz.

Der Umstand, daß diese geschmuggelten Bücherschätze für mich nur in der Nacht erreichbar waren, machte mich ungeduldig, wenn ich am Abend zu Besuch bei der Großmutter saß. Sie war von Ottobeuren nach Augsburg übersiedelt; meine Schwester Berta, als Institutsmädel, wohnte bei ihr; und den Haushalt führte unsere frühere Köchin aus Welden, die Ottil, die noch immer gerne von vergrabenen Schätzen erzählte. Wir zwei Geschwister saßen am liebsten bei der Ottil in der Küche. Denn drinnen bei der Großmutter war's ein bißchen langweilig. Eine ruhige, kluge, gute Frau. Aber sie strickte immer, guckte schief über die Brille hinaus, gab uns wohlmeinende Lehren und hatte uns immer im Verdachte, daß wir schon wieder irgendwas Schreckliches angestiftet hätten. Und eine Gewohnheit hatte sie, die mich nervös machte. Wenn ich [129] vom Charkulier Eckert meinen kalten Aufschnitt zum Nachtmahl mitbrachte, mußte die Großmutter von jeder Wurstsorte kosten – siemußte – oder sie wäre gestorben vor Wißbegierde. Das hatte zur Folge, daß ich schließlich immer nureine Wurstsorte kaufte, und eine recht grobe, die den Wissensdrang der Großmutter nicht reizte: Leberkäs oder Pressack. Glaubt nicht, daß ich geizig war! Ich war nur hungrig. Immer, immer, immer hungrig. Und drum dachte ich auch so treu und anhänglich an meine verschwundene Würstlfee.

Bei Lamparts wurden wir gut und reichlich verpflegt. Aber mein sechzehnjähriges ›Mägele‹ war, wie die Mutter immer zu sagen pflegte, ›ein Säckle, das koin Boec hat!‹ Bei jedem Mittagstisch im Lampartschen Hause mußte ich mich immer gewaltsam beherrschen, um nicht mehr Brot vom Laib herunterzuschneiden, als gerade noch anständig war. Einmal gelang mir diese Beherrschung nicht. Und da sagte der ›junge Herr‹ in seiner ruhigstrengen Art: »Diese Brotfresserei, das ist unappetitlich.« Mir schoß das Blut ins Gesicht, daß ich drei Stunden später noch brennheiße Wangen hatte.

Nur bei diesen Tafelzeiten kamen wir mit der Familie Lampart in Berührung. Der ›alte Herr‹ bekümmerte sich nicht viel um uns, er hatte immer [130] sein Geschäft im Kopfe, sprach wenig, doch was er sagte, hatte heiteren Klang. Sein Sohn, der ›junge Herr‹, war der menschgewordene Lebensernst und die personifizierte Akkuratesse. Die Schwester war ein schönes, hochgewachsenes Mädchen mit Blauaugen und reichem Haar von hellem Kupferglanz, eine ›Dame‹, in deren Nähe ich mich angeschimmert fühlte wie von einer unnahbaren Göttin; sie war für mich eine Majestät, zu der man nicht reden darf, außer wenn man gefragt wurde. Nahe stand uns nur die ›alte Frau‹, die sich sorglich mit uns beschäftigte; wenn wir ins Speisezimmer traten, war in ihren Augen immer dieses Prüfen, ob wir manierlich gekleidet wären und saubere Hände und reinliche Nägel hätten. Bei aller Strenge hatte sie eine warme, freundliche Art und wurde nur böse, wenn ich in meiner Stube als ›Chemiker‹ eine Explosion verursachte, Schwefelgase entwickelte, deren fürchterlicher Gestank die ganze Wohnung verpestete, oder wenn ich sonst bei meinen wissensdurstigen Bestrebungen etwas Schreckliches anstellte.

Wir hatten im Realgymnasium Physik als neues Fach bekommen. Und da wurde ich gleich ein begeisterter Naturwissenschaftler. In der Schule ging mir's zu langsam, ich wollte vorwärts, eilte dem Pensum voraus, und mein ganzes Taschengeld [131] verwandelte sich in Retorten, Glasröhren, Spiritus, Chemikalien und elektrische Apparate. Ich goß mir ein Elektrophor und peitschte stundenlang unermüdlich mit dem Fuchsschwanz auf den Harzkuchen los, um die seinen knisternden Funken aus dem Blechdeckel ›ziehen‹ zu können. Mit einem großen Gurkenglase konstruierte ich eine Elektrisiermaschine und überlud meine Leydener Batterie so gründlich, daß schließlich immer alle Flaschen zertrümmert wurden. Den Kommodekasten verwandelte ich in eine ›Bundeslade‹, die kein Uneingeweihter ohne Gottesstrafe berühren durfte – wer ahnungslos den Schlüssel anfaßte, bekam einen elektrischen Schlag, daß ihm Hören und Sehen verging. Alle paar Tage gab's in der Ofenröhre eine Detonation, die immer das ganze Haus zusammenrief. Ich glaube, daß selten ein Mensch so viele schlechte Gerüche einatmen mußte, wie mein geduldiger Stubengeselle Thomas. Er sagte nur manchmal: »Das schmeckt aber gar nicht gut!« Eines Feiertages – ich trug meinen schönen blauen Sonntagsanzug – entwickelte ich Wasserstoffgas. Sehr einfach, das! Man nimmt eine Flasche, gibt Zinkstücke hinein, schüttet gewässerte Schwefelsäure drauf, stöpselt mit dem Glasrohrpfropfen zu – und wenn es in der Flasche zu wurlen und zu brodeln beginnt, [132] kann man oben an der Glasrohrspitze das ausströmende Gas mit dem Schwefelhölzel anzünden. Das ist sehr schön, nur ein bißchen lebensgefährlich, weil sich Knallgas bilden kann. Und damals, da wurlte und brodelte es unten in der Flasche schon lange, doch oben wollte der Wasserstoff nicht brennen. Bei genauer Untersuchung nahm ich wahr, daß ich in den Korkstöpsel statt einer hohlen Glasröhre einen massiven Glasstab hineingesteckt hatte. Als ich der mysteriösen Sache auf den Grund kam, war es schon zu spät. Ich konnte nur noch schreien: »Thomas! Spring weg!« Da flog die Flasche schon in die Luft und krachte wie eine Kanone. Ehe noch die alte Frau Lampart händeringend herbeistürzte, sagte Thomas in aller Gemütsruhe: »Schau, jetzt hast du plötzlich einen gelben Anzug!« So zitronengelb getüpfelt war auch das ganze Zimmer, jedes Möbel, jeder Vorhang, der Fußboden und die Tapete. Und zolltief waren die Glassplitter in die Mauer, in die Stubendecke und in das Holz der Türe geflogen. Von diesem Tag an durfte ich in meiner Wohnung nicht mehr experimentieren.

Das war ein tiefer Kummer. Aber die Hilfe fand sich. Im Realgymnasium lag, mit unserem Klassenzimmer durch eine Tür verbunden, das Laboratorium des Physikprofessors Schmitt, der sich durch [133] einen schönen Christusbart auszeichnete. Diese Türe war natürlich immer versperrt. Aber innen steckte der Schlüssel, und sein Zipfelchen guckte aus dem Schlosse zu uns ins Klassenzimmer herein. Meine Neuburger Karzergeschichte lebte wieder auf. An jedem Mittwoch verübte ich vormittags irgend eine Ungehörigkeit, die mir drei- oder vierstündigen Klassenarrest am freien Nachmittag eintrug. Saß ich fest und war der Pedell davongegangen, so packte ich mit einem Zwickzängelchen den Schlüsselzipfel an der Tür des physikalischen Heiligtums, drehte ihn schwups herum – und war im Laboratorium. Herrgott, was war das eine prachtvolle Sache! Die große Flaschenbatterie knallte wie ein kleines Ungewitter. Und die Wintersche Elektrisiermaschine mit dem Holzring brachte ich immer zur ›Maximalleistung‹. Ich vermute, daß Professor Schmitt an jedem Donnerstag Vormittag in seinem Laboratorium Erscheinungen konstatieren mußte, die sich wissenschaftlich nicht erklären ließen: daß Gläser und Flaschen ohne erforschbare Ursache zersprungen waren; daß die Leydener Batterie sich von selbst geladen hatte; daß die Scheibe der Elektrisiermaschine unbegreifliche Kratzer und Fettflecken hatte; und daß immer wieder ein physikalischer Apparat durch irgend eine dunkle Naturkraft beschädigt oder [134] völlig ruiniert war. Der Pedell ging damals an jedem Donnerstag mit brennrotem Kopf herum. Und sehr häufig hörte man aus dem Laboratorium heraus einen heftigen Wortwechsel.

Schließlich wäre mein heimlicher Experimentalbetrieb doch wohl enthüllt worden. Doch es kam so, daß ich noch vor der Entdeckung den Schulstaub des Augsburger Realgymnasiums von meinen Röhrenstiefeln schütteln mußte.

Eines Tages im schönen Vorfrühling erschien der neue Rektor in der Klasse und verkündete: daß er jede Erlaubnis zum Theaterbesuch bis auf weiteres sistieren müsse, und daß es den Schülern des Gymnasiums bei Strafe der Dimission verboten wäre, eine Vorstellung der im Stadttheater gastierenden Rappo-Truppe zu besuchen; die Darbietungen dieser Gauklertruppe wären eine Entweihung der antiken Kunst und vom sittlichen Standpunkte schwer zu mißbilligen.

Ich hatte bis zu diesem Augenblick von der Rappotruppe noch kein Wort gehört. Was war nun die Folge? Daß ich neugierig wurde und noch am gleichen Abend ins Rappotheater lief Und so werden es wohl auch noch andere gemacht haben. Die Abschreckungstheorie ist kein Produkt der Klugheit. Und durch die Warnung vor der Unsittlichkeit [135] erzieht man junge Menschen nicht zur Moral. Überdies waren die Vorstellungen der Rappotruppe von einer Art, daß man ihren Besuch ohne jedes Bedenken hätte gestatten können.

Ich gebrauchte die Vorsicht, erst fünf Minuten nach sieben Uhr ins Theater zu gehen, und bekam in dem dichtgefüllten Haus noch knapp ein Plätzchen auf der Galerie. Die Genüsse dieses Abends mußten mit unzählbaren Schweißtropfen verdient werden. Zuerst kam die Kalospinthechromokrene – ein Springbrunnen wurde unter zärtlicher Musik in wechselnden Farben beleuchtet. Und dann enthüllte sich die Rappo-Kunst: junge, schöngewachsene Menschen, stark beleuchtet, entweder marmorweiß geschminkt oder mit Goldbronze überzogen, stellten antike Bildwerke dar, den sterbenden Fechter, den barberinischen Faun, die drei Grazien, den Raub der Proserpina, den Apoll von Belvedere usw. Es war wunderschön. Nur bei der Laokoongruppe wirkten die ausgestopften Wurstschlangen sehr komisch. War das am Ende das Moralwidrige? Während des ganzen Abends wartete ich immer auf die Unsittlichkeit. Aber sie kam nicht. Und vor dem letzten Bilde mußte ich fort, um sicher wieder aus dem Theater hinaushuschen zu können. Doch allzu große Vorsicht ist nicht immer gut fürs Leben. Denn [136] drunten bei der Türe prallte ich mit meinem Geometrieprofessor König zusammen, derwohl auch das Theater früher verlassen hatte, um nicht gesehen zu werden. Bei allem Schreck, den ich hatte, zog ich höflich die Kappe. Und dachte auf dem Heimweg: »Nein! Der zeigt mich nicht an! Ich bin doch sein Liebling in der Geometrie!«

Und doch hat er mich angezeigt! Ich dachte dann sehr schlecht von ihm – bis mir mein Vater ein paar Tage später mitteilte, daß der Herr Professor nur deshalb das Theater früher verlassen hätte, um nur ja von seinen Schülern keinem begegnen zu müssen; aber da ich ihm trotzdem in die Hände gelaufen wäre, hätte er in seiner Amtspflicht das nicht vertuscheln dürfen. – Das hab' ich mir gemerkt, durchs ganze Leben. Und wenn ich manchmal glaubte, ich hätte allen Grund von einem Menschen schlecht zu denken, dann kam diese korrigierende Erinnerung: »Vielleicht ist das auch ein Geometrieprofessor? Du mußt die Sache richtiger zu sehen versuchen!« Immer gelang mir's nicht, aber doch sehr oft. –

Also ich rannte am anderen Morgen sorglos in die Klasse. Nach Schulschluß kam der Pedell: »Ganghofer, aufs Rektorat!« – Knacks! Mein Genick war gebrochen! – Und bekümmert eröffnete mir der neue Herr Rektor, daß sich am Nachmittag [137] um meinetwillen der Lehrerrat versammeln müßte. Das Weitere würde ich vernehmen.

Während des Heimwegs hatte ich im Gehirn eine tote Stelle, die nicht mehr denken wollte. Und als ich langsam wieder zu mir kam, rührte sich der Trotz und mein Übermut. Ich glaubte zu wissen, daß ich keinen Pardon mehr finden würde. Die Dimission war feierlich angedroht. Und ich hatte schon etwas auf dem Kerbholz. Ein paar Wochen früher wurde mir, weil ich im Jähzorn grob auf einen Schulkameraden losschlug, das consilium abeundi erteilt – das heißt auf deutsch: wenn noch das Geringste passiert, ist's aus! Und nun war doch was passiert. Aber sie sollten mich nicht fortjagen! Da ging ich lieber von selber. Dieser Gedanke war auch schon ein Entschluß.

Am Nachmittage blieb ich ›dem Unterrichte fern‹. Und machte unter der schönen Frühlingssonne einen Ausflug in den Siebentischwald. Ich war dabei der Meinung, daß mir ganz vergnügt zumute wäre. Damit mir aber doch der einsame Nachmittag nicht zu lang würde, kaufte ich mir bei einem Haustorantiquar ein Buch: Die Geheimnisse von Paris, von Eugen Sue. Der Titel war verlockend. Und der Antiquar sagte schmunzelnd: das wäre ein sehr interessanter Roman, aber ich wäre wohl noch zu [138] jung dafür. Natürlich kaufte ich jetzt das Buch erst recht! Wenn man jung ist, will man immer älter sein – später wird's umgekehrt.

Ich schob das Buch in die Spensertasche. Und in dieser Tasche blieb es auch. Denn draußen im Siebentischwald war es zwischen den ersten Blumen, am Ufer des rauschenden Wassers und unter den knospenden, harzduftigen Bäumen so zauberhaft schön und linde, daß ich, statt die Geheimnisse von Paris zu ergründen, lieber auf dem Rücken lag und hinausguckte zu den ruhig schwimmenden Silberwolken. Doch plötzlich, als der nahende Abend sich schon zu röten begann, mußte ich mich aufsetzen. Was war denn nur das in meinem Herzen? Dieses abscheulich Drückende? Und dieses Dumpfe, Wirbelnde in meinem Gehirn? War das etwas Ähnliches wie damals in jener Nacht, in der mein Großvater gestorben? Mir war, als müßt' ich vor Todesangst, vor Weh und Schmerzen schreien wie ein Tier. Und bei diesem Fürchterlichen mußte ich aufspringen, mußte rennen wie ein verfolgter Dieb, und so rannte ich, und rannte, rannte, bis ich spät in der Nacht die Fenster unseres Forsthauses in Welden leuchten sah.

Ich kletterte auf den Zaun und konnte in die helle Stube gucken – und mein Erstes war ein [139] Gefühl der süßesten Erleichterung: »Gott sei Lob und Dank! Sie leben! Alle zwei!« Diesmal brauchte sich in meinem Gehirn nichts umzudrehen.

Ich rutschte vom Zaun hinunter – springen konnte ich nimmer, so erschöpft und fertig war ich an allen Gliedern. Den Mut, ins Haus zu treten oder ans Fenster zu pochen, fand ich nicht. Aber sehen mußte ich sie wieder – diese beiden. Ich schlich in den Garten, lautlos und zitternd, kam immer näher ans Haus und stieg auf die hölzerne Bank. Hier stand das Fenster offen –- und ich konnte das halbe Zimmer überschauen. Diese Stube! Diese liebe, weiße, friedliche Stube! Der Vater saß hinter dem Bierglas und mit der Pfeife am Tisch und arbeitete. Ich konnte das flinke Rascheln der Feder hören. Und neben dem Tische saß die Mutter und spann – und taktierte beim Treten des Rades ein bißchen mit dem Kopf und lächelte leise vor sich hin.

»Ach, ja!« sagte der Vater, legte die Feder fort und trank.

Und die Mutter – meine Mutter sagte, wie aus Gedanken erwachend: »Ach Gott! Was wird wohl unser Bueb jetzt mache?«

»Mein, der wird halt schlafen.«

»Und träumen von daheim.«

[140] Ein Krampf befiel meinen Nacken, und mein Kopf schütterte so heftig, daß meine Zähne auf, einanderschlugen wie in schauerlichem Frost. Blindlings rannte ich in die Nacht hinein, kam in das Gartenhaus, warf mich über den Tisch hin und brach in Schluchzen aus.

– Seit jener Nacht begreife ich das: wie frühe Jugend zum Selbstmord kommen kann, um der Schule willen. Seid verständig, ihr Lehrer! Ihr könnt ja auch gut sein, ich weiß es, ich hab's erfahren! Seid auch vernünftig! Und streicht aus euren Schulvorschriften diese beiden niederträchtigen Fremdworte heraus:consilium abeundi und Dimission! Das ist Unsinn. Und kann Mord werden – und ist es schon oft geworden. Und ihr straft damit nicht den dummen, leichtsinnigen Jungen. Nur immer die ahnungslosen Eltern. –

Wenn ich jene verzweifelte Nachtstunde überlebte, so hatte das nur diesen einen Grund: daß ich müde war zum Umfallen. Ich konnte wohl meinen Schmerz noch fühlen, aber nach dem Willen meines Schmerzes nicht mehr handeln.

Aus dem Gartenhäuschen hinaustaumelnd, warf ich mich wieder ins Gras und lag da, ich weiß nicht wie lange. Dann kam mir der Gedanke, mich dem Forstgehilfen anzuvertrauen, der drüben [141] im Ökonomiegebäude sein Stübchen hatte. Meine Knie trugen mich kaum mehr da hinüber. Der Forstgehilfe war nicht daheim, die Stube finster. Als ich das Bett unter meinen Händen spürte, hatte ich nur noch diesen einen Gedanken: schlafen. In den Kleidern und Stiefeln warf ich mich auf die Kissen hin.

Und dann erwachte ich, spürte zwei Hände an meinem Leib, hörte einen fürchterlichen Schrei. Irgend jemand rannte wie besessen aus der Stube. Und ich aus dem Bett heraus, ins Freie, um das Gebäude herum, zur Stalltür hinein, in den Stadel, über die Leiter hinauf zum Heuboden. Bis in den hintersten Winkel kroch ich, über alles Heu hinüber. Wo ich nimmer weiter konnte, war eine Luke in der Mauer. Da hört' ich plötzlich Hundegebell und wirre, aufgeregte Stimmen – die Stimmen der Mutter, des Vaters und der Köchin. Das Mädel zetert: »Em Ghilfe sei(n) Bett han i aadecke wölle, und da liegt oiner drinne, so e Mordslackel von em Mannsbild, e Kerl wie en Olifant!«

Lichtschein fällt durch die Mauerluke herein, und ich sehe da drunten im Hof den Vater vorübergehen, in erhobener Hand die Lampe und in der anderen Hand ein Gewehr. Durch mein Gehirn [142] fährt der Gedanke: Jetzt werden sie den Hund auf meine Fährte geben, werden mich suchen, mich finden –

Wie ein Dachs, der sich einwühlt, zog ich alles erreichbare Heu über mich her, und dann lag ich und rührte mich nimmer – und spürte nichts mehr; es wurde wirbelig und dunkel unter meinem Haardach.

Als ich erwachte, fühlte ich ein Blenden von Licht in den Augen. Die Sonne schien zur Mauerluke herein, mir gerade ins Gesicht. Und halb erstickt war ich, hatte Atemnot und einen fürchterlichen Schmerz im Schädel. Die Glieder konnte ich kaum bewegen, konnte mich nur langsam hinwälzen zur Mauerluke, um Luft zu kriegen. Während ich so liege und schnappe, hör' ich die Stimme meiner Schwester, die Stimme der Ottil. Wieso kommt es denn, daß diese beiden in Welden sind? Aber das war leicht zusammenzureimen. Man wird mich in Augsburg am Abend vermißt haben, und da sind die beiden noch in der Nacht nach Welden herausgelaufen oder gefahren. Jesus, Jesus, was für eine Nacht müssen Vater und Mutter durchgemacht haben! Und was muß noch immer in ihren Herzen sein!

Ich wollte rufen. Doch meine Stimme war [143] völlig erloschen. Nur pfeifen konnte ich, zweimal, dreimal – die beiden da drunten gucken zum Himmel hinauf nach allen Seiten, laufen schreiend in das Haus – dann kommen sie in die Tenne gerannt, und Mama ist bei ihnen, und immer schreien sie: »Ludwig! Ludwig! Ludwig!« Ich konnte nicht antworten, konnte mich nicht rühren.

»Aber Bueb! So geh doch! Wenn dein Mutterle ruft, so wirscht doch komme! Gell?«

Da löste sich dieser Bann in meinen Gliedern. Ich krabbelte aus dem Heu heraus, stieg über die Leiter hinunter – und die drei da drunten fingen schrill zu lachen an – und dann die Stimme der Mutter: »'s isch mer alles recht, alles, alles, weil mer dich nur wieder hawe!« Als sie mich um den Hals nahm, fiel ich in Ohnmacht.

Ich wurde wieder munter und lag im Bett des Forstgehilfen und hörte die Mittagsglocke läuten. Mama saß auf der Bettkante. Und dies war das erste heisere Wort, das ich reden konnte: »Hungere tuet mi!«

»Ja, Langerle, kriegscht glei was!« Mama lief davon. Sie brachte mir eine meiner Lieblings, speisen, bœuf a la mode mit gebackenen Kartoffelnudeln, und blieb vor dem Bette stehen und guckte mir immer zu, während sie redete. Vom Gymnasium [144] wußte sie schon das Gröbste und schien die Sache sehr ruhig zu nehmen. »Aber Papa ist bös, Bub, arg bös!« Sie räumte das Geschirr vom Bette. »Ich hab schon ein gutes Wörtle für dich eingelegt. Jetzt kannst dich noch ein Stündle ausrasten. Nachher stehst du auf und gehst mit Papa nach Augsburg hinein. Da wird sich schon alles wieder richte lasse.« Sie wollte sich auf den Sessel setzen, auf meine Kleider, stand aber gleich wieder auf, weil sie was Hartes gespürt hatte: die Geheimnisse von Paris. Und als sie das Buch aus meiner Spensertasche zog und den Deckel aufschlug, fahr ihr das Blut ins Gesicht, und ihre Augen blitzten vor Zorn. »Du Schschschweinkerl! Solche Bücher tust du lese!« Sie schlug mir dreimal die Geheimnisse von Paris ums Gesicht herum. »Jetzt mag ich schon auch nix nimmer wisse von dir!« Mit Tränen in den Augen warf sie das Buch ins Ofenloch und verließ die Stube.

– Seht, nun war ich für meine eigene Mutter ein halber Geometrieprofessor geworden. Ich hatte das Buch doch gar nicht gelesen. Und las es auch nie in meinem Leben. So oft ich nach ihm greifen wollte, immer schob ich es wieder fort – und erfuhr von diesem Roman nur das eine: daß er zehn Bände besitzt, von denen mich der Augsburger [145] Antiquar nur mit einem einzigen angeschmiert hatte. –

Mutters Ärger war noch nicht völlig verraucht als sie nach einer Stunde kam: »So! Papa ist schon vorausgegangen. Jetzt kannst du ihm nachlaufe!« Erst beim Zauntürchen wurde sie wieder so herzlich, wie sie immer war. Und ich hatte ihr doch gar nicht gesagt, daß sie mir halb ein Unrecht getan.

Als ich um die Ecke des Gartenzaunes rannte, sah ich Papa schon weit auf den Wiesen draußen. Erst beim Schwarzbrunner Walde, wo ich einst den Schatz vergraben hatte, konnte ich den Vater einholen.

»Grüß Gott, Papa!«

Er gab mir keine Antwort. Schweigend wanderte ich hinter ihm her. Dabei mußte ich viel an Dantes Hölle denken, die ich vor kurzem gelesen hatte. Wozu braucht man einen rächenden Gott? Es straft sich alles am eigenen Herzen, am eigenen Blut, am eigenen Leibe.

Das war eine fürchterliche Wanderung. Die Luft war frühlingskühl, und dennoch hatte ich das Empfinden, als ginge ich immer durch Feuer, zwei Stunden lang, bis in die Mitte des Adelsrieder Forstes. Wenn Papa seitwärts in den Wald [146] hineinblickte, mußte ich sehen, wie blaß und vergrämt sein Gesicht war. Auf dem Arm hatte er einen dicken schottischen Schal, wie sie damals im Frühling und Herbst an Stelle eines Paletots getragen wurden. Und diesen Schal nahm der Vater immer von einem Arm auf den andern, hin und her. Das konnte ich nimmer ansehen, konnte dieses Schweigen nicht mehr ertragen. Ich sagte: »Geh, Papa, ich bitt schön, laß mich doch wenigstens deinen Schal tragen!«

»Nein! ... Du hast mir noch etwas Schwereres aufgeladen!«

Was ging in diesem Augenblick durch mein Gehirn? Ich weiß es nimmer – weiß nur noch, daß ich wie ein Hirsch über den Straßengraben hinübersprang und in den tiefsten Wald hineinsauste.

Mit einer Stimme, wie sie beim Jüngsten Gericht erschallen könnte, rief der Vater: »Ludwig! Ob du hergehst!«

Ich gehorchte wie ein Hühnerhund. Eine Weile gingen wir stumm nebeneinander. Dann sagte Papa: »Erzähl mir, wie alles war!«

Als ich ihm die ganze Geschichte treulich berichtet hatte, schien er ruhiger zu werden; er hatte bis zur Stunde nur dieses Eine gewußt, daß ich dimittiert worden wäre, doch nicht, warum; und [147] da hatte er wohl meine Schuld schrecklicher gesehen, als sie war. Er atmete erleichtert auf und sagte: »Die könnten aber doch wirklich auch ein bißl vernünftiger sein! Wenn sie nur wüßten, wie viele Nächte ich jetzt wieder durcharbeiten muß, um die Kosten hereinzubringen!« Und dann bürstete der Vater mir die Haare, gründlich! Es hat lange nachgehalten.

Am andern Morgen, in Augsburg, ging er zum Rektor und kam dann sehr ruhig zu mir. »Du Kamel!« Ganz wohl wurde mir, als ich dieses zärtliche Wort wieder hörte. Dann erzählte mir Papa die Sache vom Geometrieprofessor. »Sie hätten dich gar nicht fortgejagt, wenn du nicht die Dummheit gemacht hättest und selber davongelaufen wärst. Aber jetzt, natürlich ...« Längeres Schweigen. »Du kommst nach Regensburg. Übermorgen mußt du reisen.«

Ich packte. Das viele Zeug, das ich hatte, konnte ich nicht mitnehmen. Was mit meinen elektrischen Apparaten geschah, das weiß ich nimmer. Meine Schmetterlingssammlung stiftete ich dem Augsburger Naturhistorischen Museum. Dort könnt ihr noch heute meine asiatischen Seidenspinner sehen.

Im Jahresbericht des Augsburger Realgymnasiums von 1871 auf 72 ist mein Name nicht [148] mehr zu finden. Ich war ein Versunkener, der nicht mehr genannt werden durfte. Es steht da nur zu lesen: »Ein Schüler wurde dimittiert.«

In der Nacht vor meiner Abreise hockten wir beide, Thomas und ich, bis zum Morgen wach in unseren Betten und plauderten. Das war unser Abschied. Und am folgenden Abend saß ich zu Regensburg in einer kleinen Stube, vier Stöcke hoch, an einem kleinen Fenster, sah auf die rauschende Donau hinunter, die am Sockel meines Hauses vorüberfloß, verschenkte mein Herz an dieses neue Lebensbild und fand, daß Regensburg eine ganz unsagbar schöne Stadt ist.

Bevor ich nun weiter von mir erzähle, muß ich berichten, was während meines ersten Regensburger Semesters da draußen im schwäbischen Holzwinkel geschah.

Wie bei allen Kriegführenden früherer Zeiten der Winter immer als tote Saison betrachtet wurde, so war auch in Welden, sobald der Schnee die Dächer zu drücken begann, zwischen Pfarrhof und Gemeinde eine Art von Waffenstillstand eingetreten, ohne daß ein solcher geschlossen worden wäre.

Um die Osterzeit 1872 installierte man eine Fahrpost zwischen Augsburg und Welden, und als der grünbekränzte, dottergelbe Omnibus zum erstenmal[149] im Holzwinkel erschien, verursachte er freudiges Aufsehen und einen lärmenden Zusammenlauf erstaunter Menschen. Ja, eine große Sache, das! Welden war nun angeschlossen an das ›Verkehrsnetz‹, an das Leben der rauschenden Welt. Über diesem wichtigen Ereignis vergaß man fast den Pfarrhof ein bißchen. Doch der Hochwürdige tat das Seinige, um sich wieder lebhaft in Erinnerung zu bringen. Es wurde Ende Mai ein drittes Kindchen in den Pfarrhof gebracht, das ein paar Monate alt und wieder eine Waise war, die vom wohltätigen Pfarrer und seinen barmherzigen Nichten in Pflege genommen wurde. Dieser Tatsache gegenüber ist festzustellen, daß die Schwestern Kreszenz und Berta seit dem Herbste auch nicht einen einzigen Tag aus dem Pfarrhofe verschwanden. Allerdings begann in diesem wunderschönen Monat Mai das schwermütige Bertele schon wieder so bleichsüchtig zu werden, daß man einer neuerlichen Reise in Bälde entgegensehen durfte. Damit nun da im Pfarrhof keine fühlbare Lücke entstehen möchte, kam Anfang Juni die kleine Wildkatz Theres wieder nach Welden zurück. Die war inzwischen ein zahmes, niedliches Kätzchen geworden, war hübsch frisiert, war anzuschauen wie ein nettes, vollerblühtes Mädchen, fast wie ein junges Weibchen[150] – von 16 Jahren! Der ›schwere Dienst in der Fremde‹ hatte ihr gut angeschlagen. Und nun waren im Pfarrhof der hochwürdige Herr, alle drei Nichten und dazu drei Kinderchen versammelt – ja, nur drei – vorausgesetzt, daß sich der Nachtwächter Stanger im trügerischen Mondschein getäuscht hatte.

Bevor diese Tragödie mit Schauer zu Ende ging, bekam sie noch den Anschein eines Lustspiels. War im Pfarrhof Wäschetag gewesen, so hingen durch Hof und Garten an langen Leinen die Windelchen, die kleinen Hemdlein und die herzigen Jäckelchen fröhlich flatternd in der warmen Junisonne. Und täglich, wenn die Sonne des lieben Gottes am schönsten wärmte, konnte man die ›heilige Familie‹ in der Dirlitzenlaube des Pfarrgartens zu heiterem Spiel versammelt sehen.

Auf die Straße wagten sie sich nicht mehr recht hinaus. Dieses Spazierentragen und Spazierenfahren der Kinderchen hatten sie aufgegeben, seit auf der Straße ein armes Mädel ihr ›lediges Büeble‹ in den pfarrherrlichen Korbwagen hineingesetzt hatte, mit den Worten: »So, jetz mecht i 's Meinige au emal spazierefahre lau(n), 's Meinige isch au it schlechter, wenn sei(n) Vater au bloß e braver Baureknecht isch!« Das Fräule Kreszenz [151] geriet über diesen undelikaten Zwischenfall in hochgradige Empörung. Und zur Antwort auf ihre Zornergüsse wurde in einer dunklen Nacht ein langer Zettel mit sehr bösen Versen an die Pfarrhoftüre genagelt.

Fühlte der Hochwürdige, daß der Entscheidungskampf begann? Er antwortete mit einem scharfen Schuß, der die Wirkung einer Bombe hatte.

Am Fronleichnamstage, als die heilige Prozession sich zu formieren begann, erschienen die drei Nichten des Pfarrers als weißgekleidete Jungfrauen, mit den Unschuldskränzlein in den Locken, und stellten sich an die Spitze des Jungfernbundes, der hinter dem Bilde der heiligen Maria zu wandern hatte. Der Zug geriet ein bißchen in Unordnung, man hörte unfreundliches Gemurmel, sogar laute Schimpfworte, und mehrere Mitglieder des Rosenbundes verließen empört die keusche Fahne, zu der sie geschworen hatten. Aber die drei Pfarrhofjungfrauen blieben, und der Hochwürdige ließ die Glocken läuten und begann die heilige Handlung. Das Fräule Kreszenz schoß aus den flinken Augen Triumphblitze nach allen Seiten; die erblühte Theres lachte im Schmuck der weißen Rosen – und das Bertele, ein Bild des Erbarmens, war kreidebleich – so weiß wie die Rosen in ihrem Haar. Fast immer hielt sie die [152] Augen geschlossen, und immer schien sie einer Ohnmacht nahe. – Eine Kennerin solcher Zustände, in ihrem bürgerlichen Berufe war sie Hebamme, erklärte damals: das Bertele wäre zu fest geschnürt gewesen, und man hätte die weiße Jungfrau bei jener Fronleichnamsprozession auf den sechsten oder siebten Monat taxieren müssen.

Es war ein Pyrrhussieg, dieser Triumph der Fronleichnamsprozession. Während der heiligen Handlung war die empörte Gemeinde wehrlos. Doch am folgenden Abend warf man dem Pfarrer die Fenster ein. Darüber erschrak der Hochwürdige so sehr, daß er Sorge um das Leben der unschuldigen Kindlein empfand und die drei Kleinen bei Nacht und Nebel von Welden fortschaffen ließ. Und mit den Kindern verschwand auch das Bertele.

Eine Beschwerde, die von der Gemeindevertretung an das Ordinariat gerichtet wurde, blieb ohne Wirkung und ohne Antwort. Es mußte noch erst ein Grauenvolles geschehen, ehe die geistliche Behörde das System ihrer Duldung preisgab und zur Rettung der Priesterwürde hemmend in die Speichen eines schon zerstörten Wagens griff.

[153]
5.
V.

In der Zeit, in welcher rings um den verlorenen Pfarrer zu Welden das Wasser stieg, ging auch mir zu Regensburg das Wasser einmal bis an den Hals herauf, sogar noch drüber hinaus. Das ist ganz wörtlich gemeint. Nach schweren Gewittertagen war Hochwasser in der Donau. Wir waren in der Militärschwimmschule, und ich wettete um ein Krügl Bier und zwölf Regensburger Bratwürstln, daß ich zweimal über den hochgeschwollenen Strom hinüber und herüber schwimmen würde, ohne am Ufer zu rasten. Hinüber ging es ganz flott, herüber schon wesentlich langsamer, und als ich zur letzten Passage umgekehrt war und erschöpft die Mitte des Stromes erreichte, war ich mit meinen jungen Kräften fertig und begann stromab zu treiben. Schreien konnte ich nimmer, nur noch ein bißchen gurgeln – sah auch noch, daß sie weit da[154] draußen in der Militärschwimmschule unter Geschrei einen Kahn ins Wasser stießen – dann ging ich unter. Während des Sinkens hatte ich nur diesen einen Gedanken: ich komme schon wieder herauf, ganz bestimmt! Gleich darauf erlosch mir alles Denken in einem grauenhaften Angstgefühl, ich spürte stechende Schmerzen in der Brust, ruderte dabei noch immer mit Armen und Beinen, hatte etwas Grüngraues vor den Augen – denn daß die schöne blaue Donau blau ist, das ist nicht wahr – und plötzlich hörte ich einen stoßenden Hall in meinen Ohren, als hätte man an zwei ungeheure Glocken geschlagen, von denen die eine tiefer klang als die andere. Und nun verwandelte sich meine Todesangst in ein Gefühl von namenloser Süßigkeit – –

Als ich die Augen aufschlug, lag ich in der Kabine des Schwimmmeisters auf der Pritsche. Und es waren Leute um mich herum, von denen ich vermutete, daß sie mir dir Arme und Beine ausreißen wollten. Dann hörte ich von der Türe her die schreienden Stimmen meiner Kameraden. Ich mußte brechen. Mir war sehr übel. Erst als mir der Schwimmlehrer was Brennendes in den Hals gegossen hatte, wurde mir ein bißchen wohler. Man wickelte mich in eine wollene Decke, und so lag ich und duselte und hatte das Gefühl, als wäre [155] die Haut meiner Brust in glühende Kohlen verwandelt. Dieses langsame Einschlafen war schön.

Eine laute Stimme und grobe Hände weckten mich. Vor der Pritsche stand ein Feldwebel, der fürchterlich schimpfte. Er wickelte mich aus der Decke heraus, untersuchte mich von oben bis unten, vorne und hinten, lachte, schlug mich mächtig aufs nackte Quartier hinauf und sagte: »Na, da wär doch schad drum gewesen!«

Meine Kameraden waren nimmer da. Es war schon Abend. Langsam ging ich am Ufer der Donau hinauf bis zur alten Brücke, von welcher viele Sagen erzählt werden. Dann stand ich droben auf dem steinernen Bogen und guckte in den rauschenden, rinnenden Strom hinunter, bis es dunkel wurde und überall die Laternenlichter zu blitzen begannen.

Am andern Morgen kam ich sehr stolz in die Klasse. Einer, der den Tod gesehen hat! Das ist doch eine Sache! Ich renommierte: »Der Tod isch gar nix! Bloß ein Glockenläuten! Und was merkwürdig Gutes!« Was ich da sagte, das war kein jugendlicher Unsinn. Die Physiologen können euch dieses ›Merkwürdige‹ erklären..

Nun war da wieder ein Neues, Schönes, Geheimnisvolles und mir Freundliches in mein Leben getreten: das Wasser, das große Wasser.

[156] Die Laugna in Welden war ja nur so ein kleines Bächle gewesen, die Donau in Neuburg eine mäßige Sache, die ich näher nicht kennen lernte, der Lech in Augsburg nur so ein Kiesgerinnsel, wo man durchwaten, manchmal sogar hinüberspringen konnte. Doch jetzt dieses reiche, mächtige Ehepaar: die rauschende, lebenslustige, nur ein bißchen gefährliche Donau, und der stille tiefgründige Regen!

Ich wurde halb verrückt vor Zärtlichkeit für diese beiden neuen Götter meiner Jugend. An jedem Abend, an jedem freien Nachmittage, ob schön oder trübe, war ich mit einer Zille draußen. Und die ganzen Sonntage bummelte ich mit Ruder und selbstgenähtem Segel auf dem beweglichen Boden herum, der keine Balken hat. Im plätschernden Wellenzug der Donau mit lustigem Gegaukel so hinzuschießen und dann aus Leibeskräften stromauf zu rudern, mit übereinandergebissenen Zähnen, keuchend, schweißtriefend am ganzen Leibe, die Adern an Hals und Schläfen zum Springen geschwellt – was war das eine herrliche Sache! Man aß und schlief dann wie ein griechischer Herrgott. Und das Nötige für die Schule war am Morgen mit einer Stunde erledigt. Aber das viel, viel Schönere noch, ein Unbeschreibliches, war dieses [157] andere: nachmittags auf dem stillen, von Schattenstauden begleiteten Regen weit stromauf zu rudern und am Abend vom kleinen weißen Segel sich heimziehen zu lassen, so lautlos und sanft hineinzugleiten in die violette Dämmerung, in die blaue Nacht, diesen hundert blitzenden Sternen entgegen, die vom Himmel auf die dunkle Erde gefallen schienen! Und dabei mit langen Beinen in der Zille zu liegen, ohne Hut, das Köpfl auf dem Steuerbrett, die Hände im lauen Wasser schleifend – und hinauszugucken ins Ewige, und den murmelnden, wunderlichen und wundersamen Märchen zu lauschen, die das alte, kühle Großmütterchen alles Lebens zu erzählen weiß: das Wasser!

Weil ihr doch immer sagt, es wäre nicht alles hell im Leben, so will ich ehrlich bekennen, daß auch dieses Schöne eine Schattenseite hatte. Dem Zillenmeister an der Regenlände mußte ich für Schiffsmiete so viel Geld schuldig bleiben, daß ich es erst acht Jahre später bezahlen konnte.

In diese verrückte Leidenschaft für das Wasser riß ich nach und nach fast alle meine Kameraden hinein. An jenem Fronleichnamstage, an dem zu Welden die drei weißen Rosenjungfrauen einen Pyrrhussieg erfochten, führten wir auf dem Regen die ›Seeschlacht von Actium‹ auf, deren Friedensbedingungen [158] auf dem Rektorate diktiert wurden. Eine Kleopatra konnte uns nicht feige verlassen, weil wir keine bei uns hatten. Wir fochten um die Ehre, nicht um das Weib.

Meine Passion für das Feuchte bescherte mir aber doch noch ein Abenteuer, bei dem ich beinah wieder so was ›Merkwürdiges‹ wie in jener Minute des Versinkens erlebt hätte.

An einem Samstagnachmittag, der einer schönen Mondnacht entgegenglühte, pattelte ich den Regen hinauf. Ich wollte machen, was man eine ›stramme Tour‹ nennt, und im Mondschein rudern bis zum Morgen. Meine Zille war ein winziges Nußschälchen, das ich, wenn Wehre oder schlechte Strecken kamen, leicht aus dem Wasser heben und auf zwei mit Rollen versehenen Latten über Land ziehen konnte wie ein Wägelchen.

Diese Mondnacht! Dieses stille Gleiten der schwarzen und weißen Dinge! Fein war's! Aber eine Plage, daß ich an den Händen Blasen und Schwielen bekam!

Bei grauendem Morgen kam ich zu meinem vorgenommenen Ziel, zu dem Dorfe Regenstauf. Oder ist's ein Städtchen? Weil es eine Apotheke und ein Kaffehaus hatte?

Erst schnarchte ich ein paar Stunden im Gras, [159] bis der Hunger mich weckte. Ein Morgen mit funkelnder Sonne war's. Quer durch die Wiesen ging ich auf die Ortschaft zu, kam auf eine Straße, und gleich das erste Gebäude war dieses Kaffeehaus. Ein kleiner, altmodischer Bau von zwei Stöcken, in einem hübschen Garten. Am Zaun eine dichtverwachsene Laube mit Tisch und Hufeisenbank. Auch vor der Türe noch Tisch und Stühle. Vom Garten trat man in die Kaffeestube, in der nur Platz an den Wänden war, denn fast den ganzen Raum verschlang ein großes, altes Beutelbillard, auf dem wohl schon die Helden der Befreiungskriege gespielt hatten, als es nicht mehr neu war. Die Sonne schien zu allen Fenstern herein und zeichnete in die goldigen Wandflecke den verkehrten Schatten der beiden Wörter Wein und Café, die man rot auf jede Fensterscheibe gemalt hatte.

Es war noch lange vor der Kirchenzeit. Ein junges Mädchen, sieben oder acht Jahre älter als ich – damals stand ich knapp vor meinem siebzehnten Geburtstage – war mit Räumen der Stube beschäftigt und blickte bei meinem Eintritt verwundert auf, weil es zu so früher Morgenstunde wohl an Gäste nicht gewöhnt war. Ich bestellte mir ein festes Frühstück, das lange brauchte, bis [160] es kam. Das Mädchen hatte sich sonntäglich umgezogen, trug ein nettes, hellblaues Blümchenkleid und hatte eine weiße Latzschürze vorgesteckt. Weil ich der einzige Gast war, konnte sie reichlich mit mir schwatzen und nippte auch mit einem freundlichen »Gesegn' es!« von meinem Heidelbeerwein. Ich wäre wohl fremd? Und woher ich käme? Schon so früh am Morgen? Als ich von meiner Nachtfahrt erzählte, wurden wir gleich gute Freunde. Sie sagte, das wäre auch ihr das liebste: Wasser und Mond. Alles, wonach ich auf dem Tische greifen wollte, schob sie mir hin. Meiner grünen Jugend gegenüber mütterlte sie ein bißchen. Ich erfuhr auch bald ihren Namen: Annche. Sie war nicht Kellnerin, war die Tochter, hatte den Vater schon verloren, die Mutter war kränklich, und so mußte das Annche die Wirtschaft führen und für die drei jüngeren Geschwister sorgen. Bei diesem Worte ›sorgen‹ war in ihrem Gesichte etwas, das mir gefiel. Dann stellte es sich heraus, daß ich ihren Bruder Jakob kannte, welcher Lehrer werden wollte und zu Regensburg in die Präparandenschule ging. Wir schwatzten und schwatzten. Und der Heidelbeerwein machte mir so wunderlich warm! Oder kam das von Annches hübschen, frohen, herzlichen Augen? Immer wieder mußte ich sie ansehen. [161] Sie erschien mir viel schöner, als meine Stabstrompeterin seligen Angedenkens gewesen. Und ebenso rund war sie, im Gesichtl, an den Händen und – an allem. Doch je wärmer mir im Blute wurde, um so schwerer wurden meine Lider. Annche merkte das, lachte ein bißchen und bot mir das Kämmerchen ihres Bruders zum Schlafen an. Ich legte mich lieber in den Garten hinaus – und fragte das Annche noch, sehr höflich, ob ich den ganzen Tag bleiben dürfte. Sie lachte wieder, ohne zu nicken oder den Kopf zu schütteln.

Neben der Laube fand ich ein grünes Plätzchen. Der Morgen begann schon heiß zu werden. Ich nahm den Kittel und die Weste herunter, um ein Kopfkissen zu haben, zerrte den Hemdkragen auseinander und stülpte die Hemdärmel bis zu den Schultern hinauf, damit die Sonne meine ›Schifferarme‹, auf die ich mir sehr viel einbildete, noch brauner brennen möchte. Mit der Kappe über den Augen schlief ich ein.

Was war in meinem Traum? Ich weiß es nicht. Aber von diesem Traume muß noch etwas in mir gewesen sein, als ich heiß erwachte. Ich hatte keine Kappe mehr über den Augen. Reben mir im Grase saß das Annche, schräg auf die linke [162] Hand gestützt. Sie sah mich lächelnd an und hatte in der rechten Hand eine große weiße Kümmeldolde, mit der sie über meinem Gesicht die Mücken verscheuchte. Sie schwieg, ich rührte mich nicht und hatte nur immer den einen Gedanken: das Annche küssen zu dürfen. Kann man solch einen bettelnden Gedanken in den Augen lesen? Das Annche warf plötzlich die Kümmeldolde fort, nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände, beugte sich zu mir her und küßte mich auf den Mund. Ich umschlang sie, zog mich zu ihr hin, und als ich ihre Brust an meiner Wange fühlte, fing ich heftig zu zittern an.

Da sagte sie leise: »Brav mußt du sein!«

Ich weiß nimmer, was ich bei dieser Mahnung dachte; weiß nur noch, daß ich sagte: »Das bin ich noch allweil gewesen! Glaubst du's?«

Sie nickte. Und ich durfte meinen Kopf in ihrem Schoße liegen lassen. Ach, dieses wohlige, süße Kissen! Und das Annche fahr mir immer mit der linken Hand durch den dicken Haarwald. Und manchmal beugte sie sich langsam herunter und küßte mich. Einmal führ ich erschrocken auf, in Sorge um das Annche: »Du! Wenn's einer sieht!«

Sie schüttelte lustig den Kopf. »Es sind doch alle noch in der Kirch.«

[163] Ich umhalste sie, fest und lange. »Aber du? Warum bist denn du nicht in der Kirch?«

»Die Mutter hat gesagt: man kann doch einen fremden Menschen nicht allein im Haus lassen, man weiß doch nicht, wer du bist, du könntest doch auch was stehlen wollen!« Sie legte ihren Mund an mein Ohr: »Hast ja doch auch schon was gestohlen!«

Die Freude brannte in mir: »Annele?« Sie nickte schon, bevor ich noch das andere Wort gesagt hatte: »Dein Herz?«

Während wir uns küßten, singen drei Glocken zu läuten an. Und viele verwünschte Menschen kamen die Straße her. Annche huschte ins Haus. Mir brannte das Blut. Und während ich mich schlafend stellte, blinzelten meine Augen. Von den vielen Menschen da draußen kamen zuerst nur vier zu diesem letzten Haus. Voraus eine Magd, dann eine schwerfällige Frau zwischen einem Buben und einem Mädel von neun und vierzehn Jahren. Diese drei mußte ich gleich liebhaben. Aber sie sahen mich mißtrauisch an. Zwei Herren kamen, und wieder zwei, zum Frühschoppen. Und schließlich waren alle Sessel in der Stube besetzt und die Billardkugeln klapperten. Das Annche hatte viel zu tun; aber manchmal trat es vor die Türe, winkte mit [164] den Augen zu mir herüber und verschwand wieder. Dann mußte ich plötzlich fortrennen – weil ich gesehen hatte, wie ein alter Herr dem Annche die Wange tätschelte – und mußte hinausrasen zum Ufer des Wassers. Meine Nußschale war noch da. Ich schleppte sie zwischen dicke Stauden, jagte wieder ins Ort hinein, ging langsam bei Annches Haus vorüber – und weil ich dann eine Apotheke sah, wollte ich mir was für die Blasen an meinen Händen kaufen. Nun gab's eine Überraschung. Der Apothekerlehrling war ein Schulkamerad aus meiner Neuburger Seminarzeit. Die Freude machte mich ganz verdreht – jetzt hatte ich doch einen glänzenden Vorwand, um jeden Mittwoch, Samstag und Sonntag wieder kommen zu können. Wir aßen zusammen im Kaffeehaus, und der kleine Apotheker machte dem Annche fürchterlich den Hof worüber wir zwei Heimlichen was Glückseliges zu lachen hatten. Er und ich, wir spielten den ganzen Nachmittag Kegelbillard. Ich mußte die Sache erst lernen. Und das Sprichwort vom Spiel und der Liebe scheint nicht konsequent zu stimmen. Er machte immer ›Ver‹ – und ich, obwohl ich mit den Augen nur beim Annche war, brauchte mit dem langen Stecken bloß zu puffen, dann fielen die Kegel, ohne daß die Kugel sich in den ›Abgrund‹ verirrte. So [165] nahm ich dem Apothekerle mehr als einen Taler ab. Das war keine Freude. Mir wurde das Herz immer schwerer, je weiter der Uhrzeiger vorrückte. Um sechs Uhrmußte ich fort. Und so dem Annche vor zwanzig Menschen mit zerdrücktem »Auf Wiedersehen!« nur die Hand geben zu dürfen – das war hart!

Doch als ich drunten am Regen meine Nußschale mit einem Fußtritt schon ins Wasser gestoßen hatte, vernahm ich einen klingenden Schrei. Etwas Helles, Liebes, Glückseliges kam flatternd über die blumige Wiese herübergejagt. Das Annche klammerte die Arme um meinen Hals, küßte, küßte und küßte mich – und jagte lachend wieder davon.

Du schöne Heimfahrt! Und ich bekam auch für mein Segel noch eine Brise, daß ich sie mir besser nicht hätte wünschen können, immer über die Haare her, nicht zu grob und nicht zu schwächlich. So konnt' ich die wunden Hände rasten lassen.

Von meiner Nußschale war ich immer des Glaubens, daß sie so etwas wie eine Seele hätte, die mich versteht. Während der folgenden vierzehn Tage verstand sie mich aber sicher nicht. Denn sie sah mich gar nimmer. Weil ich jetzt immer mit dem Kurierzug fuhr.

Dieser Mittwoch! Die Regenstaufer Billardspieler[166] hatten am Werkeltage nicht viel Zeit. Annche und ich, wir saßen fast den ganzen Nachmittag allein in der Laube. Dabei wurden wir völlig stumm. Und das Annche mußte mir immer barmherzig die Schweißperlen meiner Qual und Seligkeit von der Stirne trocknen.

Am Samstag merkten es schon alle im Haus, sogar die Kinder. Nur der zwanzigjährige Jakob, der über den Sonntag aus Regensburg herauskam, war blind und merkte nicht das geringste. Aber die Mutter machte große runde Augen, kam gegen Abend zu uns in die Laube und sagte: »Annche? Hast du denn ganz den Verstand verloren?« Da sprang ich auf und ballte die Fäuste. Aber das Annche zog mich wieder auf die Bank hin und sagte ruhig: »Ich mag ihn ebe!« Die Mutter seufzte, ging davon und wurde von dieser Stunde an sehr freundlich zu mir. Sie schien mich bei meinen siebzehn Jahren für ein ungefährliches Menschenkind zu halten und vergönnte dem geplagten Annche das harmlose Vergnügen.

Den folgenden Mittwoch war der Jakob wieder anwesend – weil er seine Wäsche holen mußte, wie er mir sagte. Und als ich am Samstag in Regensburg auf den Bahnhof gewirbelt kam, stand er auch schon wieder da. Die ganze Woche hatte [167] ich wahnsinnig für die Schule gearbeitet; ich mußte etwas haben, um nicht auch bei Tag noch aus Annche zu denken; sonst wär' ich verrückt geworden.

Am Samstagabend versäumte ich in Regenstauf den letzten Zug. Ich will bekennen, daß es nicht Zufall war. Als ich, ganz verstört und verloren, wieder zurück ins Kaffeehaus kam, fahr dem Annche ein brennendes Rot über das liebe, runde Gesichtl. Die Mutter seufzte wieder. Aber der Jakob sagte ganz ruhig: »Du kannst ja bei mir in der Stube schlafen, da steht noch ein leeres Bett.« Wir saßen lange beisammen, tranken Heidelbeerwein und spielten Schwarzpeter. Nach jedem Spiel bekam ich einen schwarzen Strich ins Gesicht, sah schon fast wie ein Neger aus, und das Annche, während es den Arm um meine Schulter geschlungen hielt, mußte immer lange, lange suchen, um in meinem Gesicht noch einen Platz für den neuen Strich zu finden. Dabei sprachen wir nicht, wir lachten nur – doch unsere Augen redeten, heiß und dürstend, verlangend und gewährend. Dann mußte das Annche noch die Stube räumen. Ich wusch mir in der Küche das Gesicht – und dann gingen wir schlafen, der Jakob und ich. Als wir schon droben auf der Treppe waren, kam das Annche hinter uns heraufgeflogen, nahm dem Jakob das Licht aus der [168] Hand und sagte zu mir: »Komm, ich schenk dir was!« Sie führte mich in ihr Stübchen, dessen Türe gegenüber von Jakobs Kammer war. Mir schlug das Herz bis in die Kehle herauf und in meinen Ohren war wieder solch ein Klingen wie damals beim Ertrinken in der Donau. Und völlig blind war ich, sah von dem kleinen Stübchen nichts, nur Annches Gesicht und ihre schenkenden Hände. Sie hatte mir aus Seide ein rotweißes Absolviaband gehäkelt. Ich sagte: »Das darf ich noch nicht nehmen, das mußt du mir aufheben bis zum nächsten Jahr!« Sie nickte, nahm mich um den Hals, und in unseren Gluten zitterten wir, als sollte unser Leben erfrieren müssen.

Nun lagen wir in den Betten, der Jakob und ich, und führten in der finsteren Kammer ein langes Gespräch. Wollt ihr raten, über was? Über Leben, Liebe, Jugend, über Glück oder Elend? Nein! Wir sprachen über den Kulturkampf und über das Jesuitengesetz vom 4. Juli, ich in brennender Erregung, Jakob ruhig und sachlich. Als ich draußen das Annche über die Treppe herauskommen hörte, hämmerte mir das Herz so heftig, daß mir's die Sprache verschlug. Nach einer Weile sagte ich: »Laß uns schlafen, Jakob! Wir machen heute die Jesuiten nimmer anders, als sie sind.« [169] »Hast recht! Gute Nacht!«

Eine fürchterliche Stunde. Ein Verbrennen an Leib und Seele. Und immer dieses atemwürgende Lauschen, ob der andere schliefe.

Er hörte nichts, als ich mich erhob; er rührte sich nicht, wenn die Diele knarrte; und ich hatte schon die Türklinke in der Hand.

Da sagte er: »Ludwig?«

Wie versteinert war ich.

Und er, in seiner Ruhe: »Schau, ich weiß doch, wohin du willst!«

Ich konnte nicht antworten.

»So geh, komm her zu mir!«

Der herzliche Laut seiner Stimme bezwang mich. Ich setzte mich auf sein Bett. In der Finsternis nahm er meine beiden Hände.

»Komm, laß dir was sagen, Ludwig! Ich weiß, das Annche hat dich lieb und will alles tun für dich. Willst du ihr zum Dank dafür das junge Leben verderben? Und das deinige dazu?« Er sprach, ganz leise, und sprach – wohl eine Stunde lang. Dann sagte er: »Jetzt weißt du alles. Jetzt kannst du tun, was du willst. Die Tür da ist offen, und ich denk', das Annche wird heut auch nicht zugeriegelt haben.«

Ich konnte mich lange nicht regen. Dann umklammerte [170] ich Jakobs Hals und brach in Tränen aus. Er streichelte mein Haar.

Als ich schon wieder in meinem Bette lag, fahr ich aus meiner Verzweiflung und Verstörtheit auf: »Jakob! Du mußt hinüber zum Annche! Und mußt ihr alles so sagen wie mir! Sonst bringt es mich um.«

Gleich stand er auf Ich konnte hören wie er drüben an die Tür pochte und mit leiser Stimme fragte: »Annche? Bist du noch auf?«

Lange blieb er fort. Als er kam, da konnt' ich nicht fragen; ich brachte keinen Laut aus der Kehle, obwohl mir immer war, als müßt' ich schreien. Auch Jakob schwieg. Und bald konnte ich hören, wie er im Schlummer ruhig atmete. Ich lag mit offenen Augen, bis es Tag wurde. Dann stand ich auf, ging aus dem Haus und rannte – ich weiß nicht wohin – irgendwohin, wo ein Wald war.

Erst nach der Kirche kam ich zurück. Es waren schon viele Leute im Kaffeehaus. Das Annche war blaß, hatte blaue Ringe unter den Augen und ließ sich von jedem alten Herrn die Arme und die Wangen tätscheln, ohne sich zu wehren wie sonst. Wir beide durften uns nicht ansehen – wenn wir es taten, kamen uns gleich die Tränen.

Dieser lange Tag war wie ein Mord.

[171] Ich durfte an diesem Tage nicht bezahlen, was ich gegessen und getrunken hatte; denn weder die Mutter, noch der Jakob, noch die Magd nahm Geld von mir; und dem Annche konnt' ich doch die Silberlinge nicht geben – ich hätte mir lieber die Finger abgebissen. In der Küche warf ich, ohne daß es jemand sah, die Geldstücke ins Herdfeuer.

Am Abend, als nur noch ein Viertelstündchen Zeit bis zum letzten Zuge war, ging ich in den Garten hinaus, schon mit der Kappe in der Kitteltasche. Das Annche kam. In dem grünen Winkel hinter der Laube hielten wir uns umklammert, stumm, und unsere Küsse waren ein Trinken von Tränen. Plötzlich stand der Jakob neben uns. In Zorn fahr ich auf: »Du? Was willst du schon wieder?«

Er sagte ruhig: »Es ist nur, daß du den Zug nicht versäumst. Und wenn's dir recht ist, fahren wir zusammen.«

Wir wanderten zum Bahnhof der Jakob und ich. Und in Regensburg ging er noch mit mir bis zu meiner Haustüre.

Seine Schwester hab' ich nimmer gesehen.

– Annche? Lebst du noch? –

Die Seele meiner Nußschale verstand mich wohl auch jetzt nicht mehr. Jeden Mittwoch, Samstag [172] und Sonntag hatte sie mich wieder. Doch immer war ich müde, wollte nicht rudern, wollte nimmer mit dem Wasser kämpfen. Ich fahr nur so hinaus, irgendwohin, wo sonst kein anderer war. Und legte die Ruder weg, saß auf dem Steuerbrettchen, ließ mich schaukeln und hielt das Gesicht in die Hände gedrückt. –

Dann war ich wieder daheim, in Welden. Und das Grauenvolle, das ich hier geschehen sah, rüttelte an meinem jungen Leben, schüttelte mir Leib und Seele durcheinander und drängte unmerklich aus mir hinaus, was wohl heißer in meinem erwachenden Blute als in meinem Herzen gewesen. –

Bei meiner Heimkehr war das Letzte dieser Pfarrhoftragödie schon im Rollen. Ein wühlender Aufruhr ging durch das Dorf. Am 27. Juli, in einer Nacht, die nicht finster war, hatte eine Nachbarin des Pfarrhofes gehört, daß die Haustürglocke des Widums heftig gezogen wurde. Weil die Nachbarin glaubte, ein Mensch im Dorfe wäre schwer erkrankt und begehre nach der letzten Ölung, sprang sie aus dem Bett, öffnete das Fenster und guckte hinaus. Vor dem Haustor des Pfarrhofes gewahrte sie eine weibliche Gestalt, die trotz der schwülen Sommernacht so dick vermummt war wie bei schwerer Winterkälte; und sie mußte schnell gelaufen [173] sein und den Atem verloren haben, weil sie sich erschöpft, wie in halber Ohnmacht an die Mauer lehnte. Die Türe wurde geöffnet, ohne daß ein Lichtschein aufleuchtete. Und die Nachbarin hörte in der stillen Nacht, wie das eingemummte Weib mit müder Stimme klagte: »Laßt mich ins Zimmer hinein! Ich möchte schlafen, schlafen, ich will Ruhe haben, Ruhe, sonst nichts!« Nach der Stimme meinte die Nachbarin: das müßte die Berta sein. Aber das blasse Bertele war doch seit dem Fronleichnamstage wieder irgendwo?

Die Türe des Pfarrhofes hatte sich hinter dem klagenden Weib geschlossen. Am Widum wurde kein Fenster hell. Die Nachbarin in ihrer Neugier wartete und wartete. Aus dem Pfarrhofe kam niemand mehr heraus.

Am anderen Morgen traf die Nachbarin mit dem Fräule Kreszenz beim Metzger zusammen und fragte: Wer denn zur Nachtzeit in den Pfarrhof gekommen wäre? Zuerst bekam sie die Antwort: niemand, keine Menschenseel'. Dann erinnerte sich das Fräule Kreszenz plötzlich, daß in der Nacht eine fremde Bettlerin geläutet und Einlaß begehrt hätte; man hätte ihr ein warmes Süpple gekocht, hätte ihr ein Almosen gegeben, und dann wäre die fremde Bettlerin wieder fortgewandert – wer weiß, wohin?

[174] Ein paar Tage – und durch das ganze Dorf hin tuschelten und schrien es die Leute: das Bertele ist wieder da; ist heimgekommen in jener Nacht, vermummt, erschöpft und müde bis auf den Tod! Und wenn die ›Kennerin‹ am Fronleichnamstage recht hatte, so muß beim Bertele jetzt Matthäi am letzten sein! Hundert Augen begannen den Pfarrhof zu bewachen und zu belauern. Man wollte in der Laugna keinen Fisch mehr schwimmen sehen, der weiße Händchen und weiße Beinchen hat. Wo zwei Menschen beisammenstanden, sprachen sie vom Pfarrhof. Wo die Bauern auf hügeligen Feldern arbeiteten, schatteten sie vor der Sonne immer wieder die Hände über die Augen und spähten in Zorn oder Neugier zum Widum hinunter, das sein steiles Dach über alle Dächer des Dorfes emporhob.

Eines Morgens, in der zweiten Augustwoche, ging ich mit einem Forsteleven auf die Rehpirsche. Bei Ehgarten, auf der nach Augsburg führenden Straße, überholte uns der früh um 5 Uhr von Welden abgegangene Omnibus, in dem sich als einziger Passagier das Fräule Kreszenz befand. Am Abend kam sie – obwohl sie zur Rückfahrt den Omnibus hätte bemühen können – mit einer Droschke von Augsburg heraus, stieg bei Ehgarten [175] aus und legte den Weg bis zum Pfarrhofe zu Fuß zurück. Die Droschke wartete bei Ehgarten, fuhr erst nach Anbruch der Dunkelheit ins Dorf hinein und übernachtete beim Rollewirt.

Eine Droschke in Welden! Denkt euch dieses Aufsehen! In solcher Zeit! Die Leute rannten aus allen Gassen zusammen. Und es gab Neugierige, die sich gar nimmer schlafen legten in dieser Nacht.

Kurz vor der vierten Morgenstunde, als es noch nicht völlig hell war, kam die Droschke zur Haustür des Pfarrhofes gefahren. Wegen der beiden Frauenbirnbäume, die vor dem Widum standen, konnte der Wagen nicht nah an die Türe heranfahren, sondern mußte frei auf der Straße stehen bleiben. Verschiedene Leute, die der Droschke nachgelaufen waren, konnten sehen, wie das Fräule Kreszenz flink in die Droschke schlüpfte. Dann kam die sechzehnjährige Theres aus dem Pfarrhof herausgehuscht und reichte auf zwei Händen ein mit rotem Teppich umwickeltes Paket in die Droschke hinein. Der Wagen fahr schnell davon.

Am gleichen Tage war ein Förster meines Vaters in Augsburg und traf dort nachmittags mit einem Lohnkutscher zusammen, der ihm erzählte: einer von seinen Droschkenführern wäre am Morgen in Welden gewesen und hätte ein Fräulein [176] mit einem Kinde abgeholt; das Fräulein wäre zu Augsburg in der Nähe des Domes ausgestiegen; der Kutscher, neugierig geworden, wäre der jungen Dame nachgefahren; sie wäre rasch zum Wohnhaus eines hohen Geistlichen und von dort in den Dom gegangen, und als sie dann wieder aus der Domkirche herauskam, hätte sie das rote Paket nicht mehr gehabt; es müsse das ein sehr, sehr braves Kind gewesen sein; eine vierthalbstündige Wagenfahrt, und »Gschriee hot's nit, koi(n) bissele nit!«

Noch am Abend des nämlichen Tages traf das Fräule Kreszenz mit dem neuen, dottergelben Omnibus wieder in Welden ein.

In der Nacht waren am Pfarrhof zu Welden alle Fenster beleuchtet. Und über die Fenster des oberen Stockwerkes sah man schwarze, eilfertige Schatten huschen. Um halb ein Uhr morgens kam die kleine Theres aus dem Widumsgarten herausgelaufen und rannte auf der nach Augsburg führenden Straße davon. Am folgenden Morgen – Sonntag, den 11. August – war mein Vater auf einer Frühpirsche in der Nähe von Kruichen. Er hatte einen Rehbock geschossen, den er im Rucksack trug. Als er aus dem Wald auf die Straße trat, sah er von Augsburg her einen schnellfahrenden Landauer kommen, der geschlossen war und leer [177] schien. Papa wollte mitfahren und rief den Kutscher an. Doch der Wagen hielt nicht, und als er vorüberfuhr, gewahrte Papa, daß im Landauer die kleine Theres auf dem Wagenboden saß und sich duckte, um nicht gesehen zu werden.

An diesem Sonntag, vor dem Hochamte, sagte der Pfarrer in der Sakristei zum Lehrer, daß sein gutes Cousinchen Bertele ganz unerwartet, doch gesund und mit Gottes Hilfe völlig genesen von der Reise zurückgekommen wäre, mit einem Landauer aus Augsburg heraus. Und nach dem Hochamte rennt die kleine Theres zum neuen Benefiziaten Lippert: er möchte doch schnell, schnell, schnell in den Pfarrhof kommen und dem armen Bertele, das schwer erkrankt wäre, die letzte Ölung reichen.

Mit eigenen Augen hab' ich das gesehen, wie an diesem Sonntagvormittag die in Empörung scheltenden Leute sich zwischen Bräuhaus und Kirche auf der Straße drängten; wie die Männer mit geballten Fäusten stehen blieben und die Weiber niederknieten und das Kreuz schlugen, als die schrille Klingel des Mesners rasselte und der blasse Benefiziat im weißen Chorhemd und mit der heiligen Wegzehrung zum Pfarrhof eilte.

Es dauerte lange, bis der Benefiziat wieder aus dem Widum herauskam. Verstört und zitternd [178] stand ich auf der Straße neben dem Lehrer Gsell. Der Lehrer fragte: »Herr Benefiziat? Um Gotteswille? Was isch denn?« Der hochwürdige Herr Lippert, kreidebleich und mit nassen Augen, sagte: »Das arme Bertele lebt kein Viertelstündl nimmer!«

Mir ging das wie ein grober Stoß ins Herz. Dem lieben, feinen, blassen Mädelein, das in dieser Stunde sterben sollte, war ich doch gut gewesen! Und nun brannte dieses Zärtliche plötzlich wieder in meinem innersten Leben, heiß und quälend.

Durch den Hof des Pfarrhauses sah ich die kleine Theres gegen den Garten laufen und über die Zaunstaketen auf die Straße klettern. Ich rannte ihr nach, wollte sie fragen, wie es dem Bertele ginge. Sie war aber weit voraus. Und da sieht sie in der Pappelallee den Einspänner des Doktors kommen, der irgendwohin über Land fährt. Doch statt dem Doktor zu winken und seinen Wagen anzuhalten, schmiegt sich die Theres hinter den Stamm einer Pappel, läßt den Doktor vorüberfahren – und dann rennt sie gegen den Marktplatz hinunter, zum Rollewirt. Mit dem Augsburger Landauer kommt sie vor dem Pfarrhof angefahren. Kreszenz und Pfarrer Andra, der an Händen und Knien schlottert, tragen das Bertele, das ohnmächtig scheint, aus dem Widum heraus [179] und heben das arme blasse Dingelchen in den Wagen. Die Kreszenz springt in den Landauer. Auch Pfarrer Andra, dessen Gesicht unter einem großen, breitrandigen Hute fast völlig verschwindet, will einsteigen und ruft zum Kutscher hinauf: »Nur schnell fahren! Schnell, schnell! Ums Himmelswillen, recht schnell!« Er will die Hand fassen, die ihm das Fräule Kreszenz hilfsbereit aus dem Wagen herausbietet – doch da wird er von einem stummschluchzenden Krampf befallen, macht Kehrt und will zur Haustür hinein. Die Kreszenz springt wie eine Furie aus dem Wagen, faßt ihren geistlichen Herrn am Arm, und ihre Stimme schrillt: »O nein! Sie fahren mit! Sie auch! Oder ich mache keinen Schritt mehr in Ihr Haus!« Herr Andra läßt sich in den Wagen ziehen – und der Landauer jagt davon.

Die Stimmung, die hinter dem verschwindenden Wagen im Dorfe zurückblieb, vermag ich nicht zu schildern. Und die Bilder, die mir an jenem Tage noch vor den Augen vorübergaukelten, vermag ich nimmer zu fassen. Ich weiß nur noch, daß der Doktor, der bei einem Schwerkranken in Streitheim gewesen, am Nachmittage zurückkam, von den aufgeregten Leuten das Geschehene erfuhr und gleich in den Pfarrhof eilte. Hier war nur noch die [180] bleiche, zitternde, ganz verdrehte Theres da. Sie sagte dem Doktor, die ›Tante Kreszenz‹ hätte einen ›Nervenanfall‹ bekommen. Aber es wäre ihr gleich wieder besser geworden. Und jetzt wäre sie mit dem Herrn Onkel fortgefahren, nach Augsburg. Vom Bertele sagte die Theres kein Wort. Der Doktor sah das entfärbte, an allen Gliedern geschüttelte Mädel an – und schwieg – und ging davon.

Ich will, was in Augsburg geschah, nicht erzählerisch zu gestalten suchen; will nur aus dem Prozesse, der vier Wochen später stattfand, die Aussage eines Zeugen wiederholen. Dieser Zeuge, ein praktischer Arzt in Augsburg, sagte aus: Am 11. August sei er zu einer schwerkranken Person in die Ottsche Badanstalt geholt worden. Dort habe er in einem Zimmer einen Pfarrer und ein Fräulein als dessen Nichte getroffen. Auf dem Kanapee lag die angebliche Patientin, die sich bei näherer Besichtigung als Leiche erwies, im Zustand vollständiger Totenstarre. Die Person mußte bereits seit etwa vier Stunden tot sein. Dieser Konstatierung wurde vom Pfarrer und dessen Nichte heftig widersprochen, mit der Behauptung, daß diese tote Person in der Ottschen Anstalt lebend angekommen wäre. »Das erschien mir etwas unklar. Am andern Tage wurde ich zur Leichenschau gerufen [181] und ließ dem Pfarrer sagen, daß in solchen Fällen eine den Sachverhalt klarstellende Sektion üblich sei. Der Pfarrer kam sehr aufgeregt und sagte, daß er die Sektion unter keinen Umständen zugeben könne, denn die Schwester der Toten habe nur auf die Nachricht hievon einen Herzkrampf bekommen, falle von einer Ohnmacht in die andere, und nach Aussage ihres Arztes sei dieser Herzkrampf so gefährlich, daß sie bei Ausführung der Sektion bestimmt zugrunde ginge. Ich suchte den Pfarrer zu beruhigen. Die Ohnmachten der Nichte fand ich nicht besorgniserregend. Daraufhin ersuchte sie mich um eine Privatunterredung und teilte mir mit, daß ihre Schwester mit einem Hauptmann ein Verhältnis gehabt hätte. Meine Frage, die Verstorbene werde wohl schwanger geworden sein, bejahte die Schwester. Ich fragte: Lebt das Kind noch? Sie sagte: Ja. Unter den heiligsten Beteuerungen versicherte sie, daß der hochwürdige Herr Onkel von dieser Schwangerschaft nicht das geringste wüßte. Nun nahm ich die Leichenschau vor. Dabei konstatierte ich, daß die Verstorbene eine Wöchnerin war.« Die Todesursache war Bauchfellentzündung, die durch Mangel an fachkundiger Geburtshilfe hervorgerufen wurde und höchst schmerzhaft gewesen sein muß.

[182] Von diesen Dingen wußte man in Welden am 12. August noch nichts. Diesem Dunklen gegenüber wuchs die Aufregung unter den Leuten mit jeder Stunde. Ein paar Getreue hielten auch jetzt noch gläubig am Pfarrer fest und erwarteten vom Himmel ein aufklärendes Wunder für diesen Geweihten.

In der Nacht, bei beklemmender Schwüle, begannen Wolken aufzuziehen, und mit trübem Grau erwachte der Tag.

An diesem Morgen macht sich früh um halb fünf Uhr der Briefträger Häfele auf seinen Botenweg nach einem der Dörfer, die er abzulaufen hat. Er sieht auf einem versteckten Fußweg den Pfarrer Andra und das Fräule Kreszenz von Augsburg heimkommen.

Gegen 9 Uhr hört man in dumpfer Windstille einen Donnerschlag, ohne daß vorher ein Blitz geleuchtet hätte. Große Tropfen beginnen vereinzelt aus dem dunklen, tiefhängenden Gewölk herunterzuklatschen – als fiele dem Himmel das Weinen schwer. Und plötzlich rennt bei uns vor dem Forsthause ein Mensch vorüber, mit fuchtelnden Armen, wie ein Verrückter, und seine gellende Stimme zetert immer dieses eine Wort: »'s Bertele bringe se! 's Bertele bringe se!« Blitzschläge und Donner, [183] als wäre das wirkliche Leben jählings ein mit groben Effekten arbeitendes Theater geworden. Und während der Regen herunterrauscht in weißgrauen Strömen, die bei jedem Blitze bläulich werden, stehen wir alle bei den offenen Fenstern und hören noch immer diesen verrückten Menschen gegen das Dorf hinunterschreien: »'s Bertele bringe se! 's Bertele bringe se!«

Draußen auf der Straße fährt langsam ein schwarzer Wagen vorüber, umschleiert von den Güssen des Regens.

Ich will herausrennen, will zum Pfarrhof. Aber der Vater faßt mich mit seinen eisernen Fingern am Handgelenk und sagt: »Du bleibst daheim!« Die Mutter steht noch immer regungslos am offenen Fenster, obwohl da draußen schon lange nichts mehr zu sehen ist, als nur dieser dicke Regen noch. Endlich wendet sich die Mutter zu uns. Ihr Gesicht ist so weiß wie die Mauer, ihre Augen schwimmen in Tränen, und so sagt sie zum Vater: »Gustl! ... Kann's denn so was gebe? ... Ach, lieber Himmel, das arme Ding! Das arme, gute Schaf!«

Das Gewitter zog vorüber. Doch der Regen fiel immerzu, bis spät in den Nachmittag hinein.

Ich konnte an diesem Tag nicht essen. Aber [184] es gab an diesem Tag einen Menschen, den ich hätte erwürgen können. Und Bilder waren in mir, in meiner verstörten Seele – Bilder, wie ich sie im Leben noch nie gesehen hatte, wild, grausam und scheußlich.

An diesem Nachmittage, während der Regen rauschte, las ich in einem dicken Buche – in der Sulzbacher Bibel des Leander van Eß.

Ich las: »Die beiden Engel kamen nach Sodom des Abends, als Lot im Tore von Sodom saß. Da Lot sie sah, stand er auf und ging ihnen entgegen, und neigte sich mit dem Angesichte zur Erde und sprach: Siehe da, meine Herren! Kehret doch ein in dem Hause eures Knechtes; übernachtet da, und waschet eure Füße; dann möget ihr früh euch aufmachen und eures Weges ziehen. Sie aber sagten: Nein! Auf der Straße wollen wir übernachten ...«

Ich weiß noch, daß ich bei dieser Stelle innehalten und in meiner Seele dieses richtende Wort wiederholen mußte: »Nein! Auf der Straße wollen wir übernachten!« Und während ich im Ofenwinkel den Kopf an die Mauer lehnte und das dicke Buch zwischen den zitternden Händen hielt, starrten meine Augen hinaus in das Grau des rauschenden Regens – und schauten brennende [185] Bilder, eine brennende Stadt und brennende Menschen – –

An diesem Nachmittage geht zu Welden der Leichensager unter dem Regen von Haus zu Haus und lädt zum Begräbnis einer unbefleckten Jungfrau ein. – Glaubt nicht, das wäre ein Wort von mir! Nein! So hieß es im Spruch des Leichensagers, wörtlich – in dem Spruch, den ihm das Fräule Kreszenz aufgeschrieben hatte.

Gegen Abend versiegte der Regen. Und die Leute liefen dem Pfarrhof zu. Der Tod, der da im Hause lag, hauchte auch diese empörten Menschen noch mit kalter Ehrfurcht an und machte sie stumm. Im Hausflur des Widums war die Leiche aufgebahrt. Hier wurde das Totengebet gehalten; die Leute kamen, beteten und gingen wieder – ein Zuströmen und Verschwinden, das kein Ende nehmen wollte. Nach der Dorfsitte war in der großen Küche Bier und Wein aufgestellt, Brot und Käse. Doch niemand aß einen Bissen, niemand trank einen Tropfen.

Der Pfarrer und das Fräule Kreszenz sind unsichtbar.

Im Hausflur ist ein dumpfes, eintöniges Gesumm der betenden Stimmen – »Gegeriseischtu Maria« – hundert Menschen knien da auf den [186] Steinfliesen, und die einen stehen auf und drücken sich hinaus, und andere drängen herein und beugen sich nieder – »Gege riseischtu Maria« – und auch die kleine Theres kniet und betet, dicht zu Füßen des Sarges, schwarz, und manchmal schlagen ihr beim Beten die Zähne aufeinander, als friere sie an diesem schwülen Sommerabend.

In der Dämmerung dieses Abends hab' ich mich hergestohlen, um das Bertele noch einmal zu sehen. Ich komme nicht weit zur Türe herein, muß wie versteinert stehen bleiben auf dem gleichen Fleck – und bis in Leib und Seele wird mir übel von dem bitteren Dunste dieser vielen, regennassen Kleider und vom Hauche der Verwesung, die in der Sommerschwüle schon zu zerstören beginnt, was da weiß über den schwarzen Tüchern schlummert. Leise rauchen und flackern die gelben Lichter der Wachskerzen, die den Sarg umgeben. Ich sehe weiße, jungfräuliche Rosen und sehe weiß ein schmales wächsernes Gesichtchen, dem ein weher, klagender Zug um den bläulichen Mund geschnitten ist.

Und während ich im sinkenden Dunkel heimstürze, halb von Sinnen, muß ich auf der Hügelhöhe unseres Gartens stehen bleiben und zurückschauen – und da ist im Westen unter den [187] Wolken ein brandroter Streifen hingezogen über den Kamm der Wälder – und die Kirchturmkuppel bohrt sich schwarz in diese Glut. Und überall im Dunkel hör' ich erregte Stimmen schreien.

Ich kann keinen Menschen mehr sehen, ich taumle hinauf in meine Mansardenstube und riegle hinter mir die Türe zu. Neben dem offenen Fenster sitz' ich an dem kleinen Tisch, bei der schwelenden Kerze, und halte die brennende Stirne zwischen den Fäusten. Und plötzlich – wie ein Fieber war es – muß ich dieses Wühlende stumm aus mir herausschreien, muß ein leeres Schulheft nehmen, muß auf das weiße Blättchen des grünmarmorierten Umschlages mit großen Buchstaben schreiben:

SODOM

Eine epische Dichtung (13. August 1872)


und muß auf der dritten Seite dieses leeren Heftes beginnen:

Der Himmel tat sich auf, ein Leuchten und ein Flammen

Fuhr nieder auf den Grund und lohte durch die Nacht,

Als ob das Sonnenheer des ganzen weiten Alls

Zu einem Lichte seine Strahlen einte.

Da schmolz der Wolken Schar zu weiß erglühtem Silber,

In einen Feuerball der Erde dunkles Rund;

Die Wälder loderten, die Berge brannten auf,

Und alle Luft schien Glut zu sein und Flamme.


[188]

Ein dumpfes Brausen war, ein Schüttern und ein Dröhnen –

So tönt und dröhnt es nicht, wenn Wolkendonner rollt,

Nicht, wenn der Sturmwind buhlt mit der erregten See

Und nicht, wenn Berge wanken, Berge stürzen.

Ein dumpfes Brausen war, ein Schüttern und ein Dröhnen –

So, wohl, so mag es sein, wenn einst der Richter kommt,

Wenn die Posaune tönt, die aus den Gräbern ruft,

Und wenn die Erde birst am Jüngsten Tage.


Zu Sodom zitterten die Mauern der Paläste,

Die Schläfer fuhren auf aus wollustmüdem Schlaf,

Und wer den nackten Arm um einen Nacken schlang,

Dem wurde todesbang im Arm der Wonne.

Wer da den Becher hielt, ließ ihn erbleichend sinken,

Im lauten Schwelgerkreis ward jede Lippe stumm,

Jäh starrte jeder Fuß, der sich im Tanze schwang,

Es starb der Lieder Klang, die Saiten schwiegen.


Die vierte Strophe wollte mir nicht so aus der Feder, wie ich sie sah und fühlte. Es trieb mich vorwärts. Und so stenographierte ich in Prosa hin: »Übergang. Es war nur ein Augenblick des Schreckens. Dann wieder Stille. Und Nacht. Nur auf der höchsten Bergspitze des Libanon sieht man zwei menschenähnlich gestaltete Feuersäulen stehen; sie steigen herab ins Tal der verruchten Menschen; die Engel, die Rächer Gottes.«

Und wieder weiter mit jagender Feder, mit hämmerndem Herzen, mit Schweißperlen auf der Stirne:


[189]

Hat Sodoma geträumt? – geträumt, wie Schläfer träumen,

Die mit erhitztem Haupt aufs Lager sich gestreckt –

So, wie ein Kranker träumt, wenn ihm ein wildes Blut

In heißer Fieberglut durchtobt die Adern?

Lag denn nicht still die Nacht, durchhaucht von lauen Winden?

Sah nicht vom Himmel her aus leichtem Wolkenflor

Der Sterne goldner Schwarm? Sang nicht mit süßem Schall

Verliebt die Nachtigall in allen Büschen?


Schlug leise plätschernd nicht der Jordan seine Ufer?

Zog nicht der Blumen Duft dem Weg der Winde nach?

Und hauchte wispernd nicht durch Bäume, Busch und Ried

Ein wunderbares Lied von Glück und Ruhe?

War denn der Wein nicht süß? Nicht rot des Weibes Lippe?

Nicht weiß der schlanke Leib, der weich in Fellen lag?

War nicht bekränzt das Haupt? Hing Sodom nicht beglückt,

Lufttrunken und verzückt im Arm der Wonne?


So – wie ein Kind, das jach ein ferner Donner schreckte,

Von seinen Spielen flieht und steht und staunt und lacht

Und wiederum beginnt der Spiele frohen Lauf –

So atmet Sodom auf und lächelt wieder.

Der Schläfer, jach erweckt, schloß neu die schweren Lider

Und träumte von dem Tag, der neuen Freuden galt.

Luftsehnend schmiegte sich aufs neue Brust an Brust

Und heiß in süßer Luft hing Lipp' an Lippe.


Ein Priester, der zuvor am bläßten sich entfärbte,

Strich taumelnd das Gelock aus schweißbetropfter Stirn

Und rief den Schwelgern zu: »Es ist die Nacht ein Weib

Und hat, just wie ein Weib, auch ihre Launen.

Füllt mir den Becher neu mit Noahs Freudentränen!

Auf, Mädchen, auf zum Tanz und gönnt uns euren Reiz!

Und du, mein Sänger, greif' ins falbe Netz der Saiten

Und singe mir das Lied der sieben Lüste!


[190]

Wenn dumpf die Erde grollt, und wenn sie bebt und zittert,

Geschieht es nur aus Neid, daß sie die süße Lust,

Die unsern Busen schwellt, nicht mitgenießen kann

Mit offnem Arm und jauchzendem Behagen.

Und wenn der Himmel flammt und seine Sterne brennen,

Und wenn mein alter HERR von seinem Wolkensitz

Die Feuergrüße wirft, ist's heiße Sehnsucht nur,

Atreb, nach deinem Kuß, du Weib der Weiber!«


Ich hörte die Mitternachtsglocke schlagen und vermerkte vor der nächsten Strophe diesen neuen Tag: »14. August.«


Die Schwelger lachten auf, es kicherten die Huren,

In alle Stirnen stieg der Freude neues Rot,

Die Schenken gingen um, und aus bekränztem Krug

Ergoß der dunkle Wein sich in die Schalen.

Hell durch die Halle scholl der Saiten sanftes Klingen,

Der Weidenflöte Ton zu lautem Beckenschall,

Und in den dumpfen Hall der Paukenfelle klang

Der summende Gesang geschlagner Stäbe.


Sahst du am Morgen schon, wenn noch vom Waldesrande

Die Sonne nicht erstieg, aus feuchtem Wiesenland

Den Nebel auferstehn und aufwärtsziehn den Hang,

Leicht, luftig, flink, in zierlichen Gestalten?

So schwebte nun empor vom Schwellenraum der Halle

Der Tänzerinnen Schar und wogte durch den Saal.

Laut jauchzten aus dem Kreis die Zecher ihnen zu

Und freuten sich des spärlichen Gewandes.


Ein Leibchen, kurz und straff, davon in schmalen Falten

Den schlanken Rücken hin ein rotes Linnen floß;

Die Hüften eng umschnürt mit buntem Bänderwerk,

Und wiederum ein Tuch entlang die Lenden –

[191]

– So, wie ein Mädchenmund im rosigen Geplauder

Das weiße Elfenbein der zarten Zähne zeigt,

So, wenn das rote Tuch erflatterte im Tanz,

Verriet's den Marmorglanz der weißen Glieder – –


Da wurde mit zwei Fäusten an meine Türe geschlagen. Und draußen die Stimme meiner Mutter: »Bub? Was isch denn? Um Gotteswille, was isch denn? So mach doch auf!«

Ich brauchte eine Weile, bis ich meine fünf Sinne zusammenfand. Und weil Mama schon wieder an der Türe rüttelte, ging ich hin und schob den Riegel zurück.

Die Mutter sah mich an, und das unberührte Bett, und meinen Tisch, auf dem die Kerze flackerte, und wieder mich. »Ja bischt du denn noch gar nit schlafe gwese? Und was hascht denn so en rote Kopp? Ich hör dich allweil umeinandtrappe da herobe ... und hab mer scho denke müesse, es fehlt dir ebbes?«

Ich konnte nicht antworten. Und Mama schien zu glauben, daß ich aus irgendwelchen Gründen ein schlechtes Gewissen hätte. Sie ging auf mein Tischle zu. Als sie das Heft mit den regelmäßigen Zeilen sah, schlug sie voll Erbarmen die Hände ineinander: »Ach, du lieber Herr Jesus! Dichte tut'r!«

[192] Mama wollte lesen. Aber ich warf mich mit Brust und Armen über mein Heft. »Nein! Nein! Nein! Das darfst du nicht lesen! Das wird etwas Fürchterliches!«

– Ihr lacht wohl jetzt? –

Doch meine Mutter blieb ernst. Sie atmete schwer. Und sagte: »Freilich, ja, ich kann mir's denke! Das ischt ein Tag heut gwese, von dem man ein Liedle singe müeßt ... aber gar kein schöns nit!« Sie legte die Hand auf meinen Nacken. »Geh, Langerle, tu lieber schlafe! Das isch gsünder!«

Mama nahm die brennende Kerze aus dem Leuchter und ging davon.

In der Finsternis blieb ich noch lang an dem kleinen Tische sitzen, glühend am ganzen Leib, den Mund überkugelt von heißen Tränen. Und ohne daß ich es wollte, formten sich in meinem wirbelnden Gehirn noch immer Worte, Verse und Strophen.

[193]
6.
VI.

Ein trüber, regnerischer Morgen guckte in mein Stübchen herein. Morgen? Nein, es ging schon bald auf die Mittagsstunde zu. Erschrocken sprang ich aus dem Bett, weil ich das Begräbnis des armen Bertele verschlafen zu haben fürchtete. Doch ich hörte kein Glockenläuten. Und dann erfuhr ich, daß man das Begräbnis um einen Tag hatte verschieben müssen. Jeder benachbarte Pfarrer, den Herr Andra gebeten, die Tote in die Erde hinunterzusegnen, hatte sich geweigert, diese Bedingung zu erfüllen: daß das Bertele mit jungfräulichen Ehren bestattet würde. Nun hatte Herr Andra an einen ihm von der Seminarzeit her befreundeten Pfarrer telegraphiert, der mit Bahn und Post erst kommen mußte. Und noch ein anderes Hindernis gab's. Die Jungfrauen des Rosenbundes, die nach dem Herkommen die entschlafene Schwester zum Gottesacker [194] tragen sollten, weigerten sich, dem Bertele diesen jungfräulichen Liebesdienst zu leisten und wollten die weißen Kränzlein nicht aus der Schachtel, die weißen Kleider nicht aus dem Kasten nehmen.

Der trübe Tag verfloß mir – recht weiß ich nimmer, wie. Gleich einem, der im Schlafe wandelt, so ging ich umher. Ein paarmal las ich, was ich in der Nacht geschrieben hatte, und machte einen Entwurf für das Folgende. Was mir aus den finsteren Morgenstunden an Versen und Bildern noch in Erinnerung war, das konnte ich nicht brauchen. Diese Orgie, die ich zwischen den Tänzerinnen und den betrunkenen Schwelgern hatte spielen sehen, war so toll und gräßlich, daß ich sie bei dem Gedanken, meine Mutter sollte das einst lesen, nicht mehr niederzuschreiben vermochte. Es kamen mir auch diese Nachtbilder ein bißchen unwirklich vor. Und mir schien, daß ich mich da noch erst bei den Forstgehilfen über Verschiedenes näher erkundigen müßte. Bezüglich der ›sieben Lüste‹ war ich sehr im Dunkeln. Und von den sieben Todsünden, die ich schildern wollte, hatt' ich – ausgenommen den Jähzorn und den unmäßigen Fraß – noch keine an mir selbst erlebt. Und diese beiden glaubte ich aus der Zahl der unverzeihlichen Sünden ausscheiden [195] zu dürfen. Es kann doch keine gar so schreckliche Sache sein, wenn man zuweilen aus zureichenden Ursachen ungebührlich wütend wird, und wenn man sich manchmal aus übergroßem Hunger ein bißchen überfrißt. So ließ ich als schreiende Sünden diese sieben bestehen: 1. Hochmut, 2. Geiz und Neid, 3. schnöde Wollust – auf meinem Brouillon vom 14. August war hier in Klammern und mit einem Fragezeichen das mir aus der Religionsstunde bekannte Fremdwort beigefügt: [Sodomiterei?] – 4. scheußlicher Mord, 5. Vergewaltigung der Unschuld, 6. Beraubung der Armen, 7. moralische Verworfenheit eines Priesters. Also mußte mein Epos 9 Gesänge erhalten. Erster Gesang: Zorn Gottes, Aussendung der Engel, allgemeine Schilderung der verruchten Stadt, Begegnung der Engel mit Lot, Handel um die zehn, nein, um deneinen Gerechten, dem zuliebe die Stadt gerettet werden sollte; – Gesang 2–8: die Engel suchen diesen einen Gerechten durch sieben Tage und Nächte; sie finden an jedem Tag und in jeder Nacht von den sieben Lüften und den sieben schreienden Sünden eine; Hauptfiguren: Radan, der verworfene Priester, undAtreb, die holde, schlanke, blasse, süße, das Kind-Weib, die geschändete Unschuld, die zum Morde der[196] eigenen Kinder gezwungen und zur Hure gemacht wird; – Schlußgesang: Rückkehr der Engel zum reinen Hause des Lot; Stimme Gottes, die das Strafgericht verkündet; Auszug des Lot mit Weib, Töchtern und Gesinde; Versteinerung einer Magd, 1 die sich neugierig umschaut, um das Gräßliche zu sehen; Untergang von Sodom; Wanderung des Lot und der Seinen durch dürre Wüste zu friedlichen Sommergefilden; Erneuerung alles Guten in den Menschen, die diesen Tag des Grauens überleben; Bündnis mit einem unsichtbar aus den Wolken sprechenden Gotte, der den Menschen verbietet: Tempel zu errichten, Altäre zu bauen, Opfer zu schlachten, Priester zu weihen, Gott mit Namen zu nennen und Bilder seines Gesichtes und seiner Gestalt zu ersinnen; und dies soll gelten als einziges Gesetz des neuen Bundes: jeder sei gerecht und redlich, jeder sei der Priester seines eigenen Herzens, jeder rede in seiner eigenen Sprache zu Gott, der die Glut der Sterne ist, der Hauch alles Lebens, die Seele aller Dinge. – Finis.

Als ich dieses stolze lateinische Wörtchen unter[197] meinen Entwurf geschrieben hatte, mußte ich aus meinem Mansardenstübchen hinuntersausen in den Garten. Es war Abend, und eine rote Sonne glänzte aus halbgeklärtem Himmel über das erfrischte Grün. Beim Brunnen stand unsere Stallmagd mit einem Forstgehilfen beisammen. Die Magd erzählte dem Gehilfen, daß das Fräule Kreszenz ›mit Ach und Krach‹ sechs ›Jungfrauen‹ im Dorfe ausfindig gemacht hätte, die morgen das Bertele tragen würden – von fünfen unter diesen Sechsen wäre allerlei Rosenbundwidriges zu berichten, und von der Sechsten wüßte man mit Sicherheit, daß sie schon bald im siebenten Monat wäre.

Am andern Morgen, unter reiner Sonne läuteten die Glocken. Man trug das Bertele hinaus zum Gottesacker, der eine halbe Wegstunde außerhalb des Dorfes lag. Der zweitägige Regen hatte die linden Ackerwege bodenlos gemacht. Bei jedem Schritte glitschte man wieder einen halben zurück. Der Zug mußte vor dem Friedhof über eine steile Böschung hinauf. Und da gab es ein schreckliches Intermezzo. Jene sechste, weißgekleidete Sargträgerin, die an sich selbst schon ein bißchen schwer zu tragen hatte, rutschte auf dem schlammigen Wege aus und stürzte in den Kot, die fünf anderen Rosenjungfrauen konnten den aus dem[198] Gleichgewicht geratenen Sarg nicht mehr auf ihren Schultern erhalten – – nein, dieses Grauenhafte mag ich nicht schildern. Wie solch ein ›Gottesurteil‹ auf die erregten und abergläubischen Gemüter wirkte, könnt ihr euch denken! Und da mögt ihr euch nun auch ausmalen, welche Stimmung dieses offene Grab umfieberte, als der brave fremde Geistliche, der von allen geschehenen Dingen nicht die geringste Ahnung hatte, seine Grabrede mit den Worten begann: »So hat es Gott in seinem unerforschlichen Ratschlusse wiederum gefallen, ein reines Kinderherz, eine fromme, unbefleckte Rosenjungfrau aus dem Leben abzurufen ...« In dem schwarzen Leutgedränge hörte man eine zornige Mädchenstimme schrillen: »Müesse mer uns denn so ebbes gfalle lau(n)?« Die noch halbwegs Ruhigen begannen aus dem Gottesacker zu flüchten. Auch ich mochte und konnte nimmer mit ansehen, was da geschah – und rannte davon, quer über die Felder hinüber – und blieb im Walde, bis keine Glocke mehr läutete.

Daheim, als ich zur Küche kam, hörte ich von der Wohnstube her eine schmerzvolle, ganz verzweifelte Stimme: »Gar nimmer lebe mag i! Glei gar nimmer lebe!« Bei meinen Eltern in der Stube fand ich den guten, lieben Pfarrer von [199] Hegnenbach. Und als dieser beste und würdigste unter allen Priestern, die das Leben mir zeigte, mich jungen Menschen in die Stube kommen hörte, drehte er sich auf dem Sessel herum, sah mich kummervoll mit seinen nassen Augen an und streckte mir die Hände entgegen: »Ludwig? Gelt, jetzt glaubst du am End, daß i au so e schlechter bin?« Das erschütterte mich, daß ich keinen Laut aus der Kehle brachte. Ich schüttelte stumm den Kopf, schlang die Arme um seinen Hals und mußte ihn auf die Wange küssen.

An diesem Tage konnte ich an meiner ›Epischen Dichtung‹ nimmer weitersingen. Während ich droben saß in meiner Mansarde, sah ich immer das blasse, verstörte Gesicht des Pfarrers von Hegneubach, die nassen, kummervollen Augen dieses Gerechten. Ich legte meinen Entwurf in das mit zwölf Strophen beschriebene Heft und schob es zu unterst in den Koffer hinein. Mein Lied von Sodoms Vernichtung bekam keine dreizehnte Strophe mehr. Es blieb unvollendet – um eines Gerechten willen. –

Erst ein Jahr später, bei dem Meineidsprozesse gegen ›Andra und Konsorten‹, erfuhr man, was sich an diesem Augusttage im Pfarrhof zu Welden noch ereignete. Um dem Begräbnis der [200] Tochter beizuwohnen, war die Mutter der Schwestern Berta und Kreszenz H. aus Neuburg gekommen, fast ganz so ahnungslos wie der fremde Pfarrer. Schrecklich mögen dieser Mutter in Welden die Augen aufgegangen sein! Und Herr Andra, der – um ein Wort meines Vaters zu wiederholen – »nimmer aus und ein wußte«, warf sich der Frau Marianne H. zu Füßen, bekannte ihr, daß er der Verführer und Mörder ihrer ›gut erzogenen‹ Tochter geworden wäre, erflehte unter Tränen ihre Verzeihung, die ihm der Himmel für seine Verdienste um die Unfehlbarkeit schon längst gewährt habe, und beschwor sie bei Gott und allen Heiligen, seine bedrohte Priesterehre zu retten. Welcher Dinge ist eine gedankenschwache Christin nicht fähig, wenn es die ›Ehre eines Priesters‹ zu beschirmen gilt! Da kann nicht nur eine Mutter ihres ermordeten Kindes vergessen – eine brave Christin darf in solchem Fall auch einen Meineid schwören. Sie darf nicht nur, sie muß!

Am Morgen des 20. August, während in der überfüllten Pfarrkirche die feierlichen Exequien für das zur Ruhe gebrachte Bertele abgehalten wurden, erschien zu Welden wiederum eine Augsburger Kutsche – nicht, um ein Kind oder seine [201] sterbende Mutter fortzubringen. Der Landauer hatte drei Herren gebracht: die Untersuchungskommission des Augsburger Bezirksgerichtes. Pfarrer Andra und seine Damen wurden aus der Kirche geholt. In Aufregung rannten die Bauern zusammen, und ein schreiendes Leutgedränge umgab den Pfarrhof, während da drinnen die Untersuchung wegen Verdacht des Kindsmordes und der fahrlässigen Tötung begonnen wurde.

Pfarrer Andra war so heftig erschrocken, daß er alle Fassung und fast die Sprache verloren hatte. Nur das Fräule Kreszenz verlor den Kopf nicht. Sie beriet sich mit ihrem geistlichen Herrn in seinem Schlafzimmer und überbrachte dann die nötigen Schlachtbefehle an die bestürzte Theres und an die tapfere Mutter Marianne.

Die Vernehmung begann. Vierstimmig wurden die alten Lügen unter Anrufung Gottes aufrecht erhalten – und vier Hände erhoben sich bereitwillig zum Schwur. Ein Jahr später, bei dem Meineidsprozesse, sagten sie alle Viere: sie hätten das für keinen richtigen Eid gehalten, weil kein Kruzifix dagestanden wäre und keine geweihten Kerzen gebrannt hätten. Ich führe das nicht als Kuriosum an; es soll eine Mahnung an unsere Richter sein. So, wie vor siebenunddreißig Jahren [202] Pfarrer Andra und Konsorten dachten, so denken heute noch viele, viele Leute aus dem Volk, fast alle Bauern. Der Eid ohne Kruzifix und brennende Kerze ist für sie keine ernste Angelegenheit und wird, wenn sie in einer Zwickmühle stecken, eine Verführung zum Meineid. Was Gerechtigkeit heißt, das soll doch wohl den Zweck nicht haben: Verbrechen zu erzeugen? Schafft den Eid ab! Oder wenn ihr ihn für die Bequemlichkeit der Rechtspflege behalten zu müssen glaubt, so laßt ihm auch die mittelalterliche mise en scène, die zu ihm paßt, und die er für törichte und betörte Menschen nötig hat. Sie ließe sich sogar mit Vorteil noch erweitern. Man könnte noch einen Totenkopf und gekreuzte Knochen dazu legen, könnte bei Tag die Fenster verdunkeln, wenn geschworen werden muß, und am Abend die elektrischen Lichter abdrehen. Das wäre nun freilich ein jammervolles Zeugnis für die Kulturentwicklung der Menschheit. Aber die Meineide würden seltener werden. –

Der Augsburger Untersuchungsrichter – vermutlich ein Freimaurer und Liberaler – war damals in Welden so unbescheiden, daß er sich bei der Erforschung der Wahrheit mit den heiligen Eiden eines Pfarrers und dreier Pfarrersfreundinnen nicht begnügte. Als er eine genaue Haussuchung [203] vornahm, wurde auf dem Speicher jene rätselhafte Kiste mit den Luftlöchern und in einer dunklen, muffigen Bodenkammer ein verwahrloster, fünf- oder sechsjähriger Knabe gefunden, der nur lallen konnte und die Sprache der fremden Herrn nicht verstand. Das Fräule Kreszenz bekannte schließlich: das wäre ihr Kind, und sie hätte den Knaben heimlich in den Pfarrhof genommen, weil sich der mildherzige Herr Onkel von dem lieben Bübchen, das er immer für ein fremdes Waisenkind gehalten, nicht hätte trennen können. Eine Brutalität! Und dennoch verbarg sich in ihr auch eine menschliche Zärtlichkeit! Ein Vater! Und darf nicht Vater heißen! Und liebt seine Kinder, und will sie in seiner Nähe haben! Und ist sich als Priester seiner Macht bewußt! Und sagt: »Wenn ich das so haben will, dann geht es schon!«

Als der Untersuchungsrichter das Widum verließ, noch am gleichen Tage, wurde Pfarrer Andra suspendiert. Viel hatte geschehen müssen, bis die geistliche Behörde sich rührte und ein verspätetes Lebenszeichen gab.

Nun begann der Spektakel in den Zeitungen. Ein Augsburger Kampfblättchen sprach von der ›Gebäranstalt und Engelmacherei im Pfarrhof zu Welden‹. Und Herr Andra sah sich zur Rettung [204] seiner Priesterehre gezwungen, den Redakteur wegen Beleidigung zu verklagen. Die Klage ist zu Augsburg im September 1872 verhandelt worden. Der Redakteur wurde in der Hauptsache freigesprochen und nur wegen einer unzulässigen Übertreibung im Ausdruck zu einer Geldstrafe von drei Talern verurteilt. Erst vier Monate später, im Januar 1873, wurden Andra und die drei mutigen Streiterinnen für seine Priesterehre verhaftet – und nach dem Meineidsprozesse verschwanden sie für drei Jahre hinter festen Mauern.

Das unerquickliche Bild dieser beiden Prozesse wollen wir beiseite schieben. Nur ein paar wunderliche Kleinigkeiten muß ich herausheben.

Die Mutter Marianne H. erklärte vor dem Richter: sie wäre mit dem Pfarrer Andra allerdings nicht dem Blute nach, aber doch in geistlichem Sinne verwandt, weil sie ihm – zur Pfarrei verholfen hätte. Über die Art und Weise, wie sie das zustande brachte, war nichts von ihr zu erfragen. Auch ein hoher Geistlicher, als Zeuge vernommen, konnte über diese dunklen Zusammenhänge keine Aufklärung geben.

Weiters deponierte die hübsch gewordene Theres: sie hätte, als es zum Schwören gekommen wäre, den Untersuchungsrichter nicht angesehen, [205] sondern hätte den Blick in frommer Inbrunst auf ein schönes Madonnenbild geheftet, in der festen Überzeugung, daß die reine Gottesmutter ihr heraushelfen würde.

Über die Haltung der Angeklagten während des richterlichen Verfahrens ist als charakteristisch anzuführen: daß dieser zittrige Herr Andra jeden letzten Halt verlor und (nach dem weinerlichen Zitate »Irren ist menschlich«) alle Schuld und sein ganzes Unglück auf diese vier Weiber schob – und daß, im Kontraste dazu, dieses harte und grausame ›Teufelchen Kreszenz‹ seinen ›geistlichen Herrn‹ bis zum letzten Augenblick tapfer und zäh verteidigte und auch durch das unumwundene Geständnis des Pfarrers sich nicht abhalten ließ, seine heilige Unschuld wankellos zu beteuern.

Eine Augsburger Zeitung machte dazu die spöttische Glosse: »Jeder Zoll eine Pfarrersköchin!« Nein! Dieser Spott war unangebracht. Ich sehe hier nur ein Weib, das einem Manne in unerschütterlicher Liebe auf Leben und Tod ergeben war, Verbrechen für ihn beging und ihr eigenes Leben vernichtete, um das seine zu retten. Sie war keine Heilige, gewiß nicht. Aber sie hatte in ihrem Blut und Herzen etwas vom heiligen Weibe. – Und wißt ihr, wann ich so von diesem [206] schrecklichen Fräule Kreszenz denken lernte? Sechs Jahre später. Da kam ich, als Universitätsstudent in München, eines Tages durch die Kaufingerstraße. Und auf dem Trottoir, zwischen dem Gewimmel der Leute, sah ich einen gebeugten, zerfallenen, zittrigen, völlig gebrochenen Greis stumpfsinnig einhergetäppelt kommen. Eine bescheiden gekleidete Weibsperson, gealtert, doch fest und aufrecht, führte diesen Greis mit Sorgfalt und Zärtlichkeit am Arme, behütete jeden seiner Schritte und schob mit der Faust die eilfertigen Menschen beiseite, die an diese zittrige Mannsruine anzupuffen drohten. Auf den ersten Blick erkannte ich die beiden nicht – erkannte sie erst, als sie schon an mir vorüber waren. »Herr Jesus! Der Pfarrer Andra und die Kreszenz!«

Glaubt nicht, daß ich weißwaschen möchte, was schwarz ist! Aber man will doch in jedem Trauerspiel des Lebens die Schuld und den Schuldigen klar erkennen. Dieser unglückselige Prophet der Unfehlbarkeit war ein Belasteter, gefesselt durch Gesetze seines Berufes, die es doch nicht hindern konnten, daß er Mensch blieb. Sein Dämon war ein Weib, das wir entschuldigt sehen durch eine tiefe, starke Liebe; diese Liebende mußte Verbrechen begehen, weil ihr die Priesterwürde des [207] Mannes, den sie liebte, die Liebe und alles Menschliche verwehrte. Und das Bertele? Ich will da nur bei dem Wort meiner Mutter bleiben: ein armes, gutes, dummes Schaf! Und die kleine Theres? Ein leichtsinniges Huhn, ein Opfer der vergifteten Luft, in die dieses junge Leben gestellt war, eine Verunglückte unter dem rollenden Wagen. Und die Mutter Marianne? Eine von jenen ›verläßlichen Christinnen‹, die den Nimbus der Pfarrhöfe mit festen Säulen stützen, den Wert einer bedrohten ›Priesterehre‹ über Gottes Gebote und über die bürgerlichen Gesetze stellen, bei jeder Primiz eines jungen Priesters das zu hören bekommen: daß ein katholischer Geistlicher mehr wäre und noch näher bei Gott stünde, als der Erzengel Gabriel – und die dann solch einem Gottesnächsten mit treuem Gehorsam und ohne Widerspruch alles zur Verfügung stellen, was sie besitzen: Vermögen, Seele, Leib und Leben.

Wer ist nun der Schuldige in diesem Trauerspiel?

Zu dieser Frage ist aus der Prozeßgeschichte eine Kleinigkeit nachzutragen. Als der Skandal dieser Prozesse das ganze Land durchschrie, brachte eine liberale Zeitung diese Briefkastenfrage: »Warum wissen die ultramontanen Blätter, die von allen [208] wütenden Hunden und sonstigen Schauergeschichten erzählen, kein einziges Wort von der Weldner Pfarrhofgeschichte zu berichten? Wo bleibt denn da die sonst so eilfertig zur Schau getragene sittliche Entrüstung?«

Daß der liberale Verteidiger des angeklagten Redakteurs den Prozeß politisch ausschlachtete, das soll nicht zählen. Aber die Urteilsbegründung war eine amtliche Urkunde. In dieser Urkunde hieß es:

»Die Presse hatte berechtigte Veranlassung, Zustände, wie sie in diesem Pfarrhof herrschten, dem Lichte der Öffentlichkeit preiszugeben. Das war nicht nur ein Recht, sondern sogar eine Aufgabe der Presse. Dies umsomehr, wenn, wie hier, von Seite der geistlichen Oberbehörde angesichts der langen Dauer dieser beklagenswerten Zustände ein energisches Einschreiten nicht erfolgt. Der Ausdruck vom ›Pfarrer, der geschont wird‹, hatte seine volle Berechtigung. Denn entschieden muß eine Toleranz der geistlichen Oberbehörde gegenüber dem Pfarrer Andra vorausgesetzt werden, wenn jahrelang die erwähnten offenkundigen Zustände geduldet wurden.«

Und nun eine kleine Rückschau. Wir müssen uns dabei jenes Obergünzburger Briefes erinnern[209] – jenes Briefes, der vom Freigeist Andra erzählte.

Da ist ein junger Priester – ist Priester geworden und ist doch Mensch geblieben, einer, dessen schwaches Blut immer durstig war. Der wohnt zu Neuburg unter dem gleichen Dache mit einem jungen Mädchen, das hübsch und klug ist, temperamentvoll, ein bißchen kokett, ein bißchen eitel, und auch ein bisselchen fromm, von jener Frömmigkeit, die den Priester, namentlich den jungen und wohlgebauten, gerne mit Gott verwechselt – so, wie sich im Theater die Backfische in den Schauspieler verlieben, weil sie den großen Dichter hören. Nun ja, in Gottesnamen, die beiden finden sich eben, der durstige Benefiziat und die ekstatisch verliebte Bäckerstochter. Er genießt – aber sie beginnt nun erst zu lieben, im tiefsten Sinne dieses Wortes – liebt in ihm den Vater ihres Kindes, das sie aus den zärtlichen Händen geben und verstecken mußte. Alles Schwere trägt sie allein, alles Heimliche erledigt sie geschickt und tapfer; ihm wird jede Unbehaglichkeit erspart, alles Unangenehme aus dem Weg geräumt – und wenn die heimliche Sache ein bißchen teuer wird, schiebt ihm die Kreszenz ihre eigene Börse hin und opfert dem Geliebten nach und nach ihr ganzes Vermögen.

[210] Da konnte er vergnügt und heiter bleiben, fand das Leben schön und den Himmel nicht strenge; er fühlte sich behaglich als Mensch, war kein Heuchler, im Gegenteil: ein bißchen Freigeist, ein Jünger der deutsch-katholischen Idee, ein Rongianer. Und wurde dabei wohl auch ein wenig anrüchig bei seinen geistlichen Vorgesetzten, mußte lange warten auf eine gute Pfarrei und hätte sie vielleicht gar nie bekommen, wenn nicht seine Schwiegermutter, nein, die Bäckersfrau Marianne H. sie ihm ›verschafft‹ hätte. Wie nur? Wie? Aber das ist Nebensache. Mit der Pfarrei bekam der junge Pfarrer in seiner Kreszenz – wahrhaftig, er sagte immer: ›Meine Kreszenz‹ – auch gleich eine Hausfrau, nein, eine Pfarrersköchin, wie er sich eine bessere nicht wünschen konnte. Alles tat sie für ihn, immer ließ sie ihn genießen, schrankenlos und unbehindert – so oft die jungen Lerchen schwirrten, wurde sie Mutter, Mutter und wieder Mutter. Und da wirft ihr plötzlich das Schicksal einen harten Stein in die warme Suppenschüssel ihres Glückes. Sie erkrankt an den Blattern, wird häßlich, fürchtet den Mann zu verlieren, den sie liebt – will seinen Besitz mit Ketten sichern und legt, eine Sarah rediviva, dem immer und immer nach Liebe Dürstenden, schon nach Liebe [211] Zitternden die hübsche vierzehnjährige Hagar in die Arme, die eigene Schwester. Die Leute, die bisher gutmütig ein Auge zudrückten, werden aufmerksam, und ein Gerede beginnt umzulaufen, das bis nach Augsburg dringt, bis in die Nähe des Domes, bis dorthin, wo der Freigeist und Rongianer Andra ohne hin kein Gegenstand des Wohlgefallens ist.

Und eines Abends muß da im Pfarrhof zu Obergünzburg – wer mag erraten, aus welchen Gründen? – ratloser Schreck und schwere Bestürzung geherrscht haben. Doch über Nacht geschah ein hilfreiches Wunder. Von seiner Kreszenz beraten, kroch der Schneck am Morgen aus seinem stillen Häuschen, ließ als ›treuer Sohn der Kirche‹ seine Stimme erschallen, schlug mit der Zitterfaust auf das Kanzelgesimse, predigte den Kreuzzug wider die freimaurerischen Schweine, wider die roten Hunde – und war gerettet vor dem drohenden Blitzstrahl und konnte sich wieder sicher fühlen in seines Pfarrhofs zärtlichem Harem. Und konnte dann mit allem Rechte von der Kanzel rufen: »Was hat ein Priester zu fürchten, der sich streng an die Direktiven seiner geistlichen Behörde hält und mit seinen Anschauungen ganz auf dem Boden seines hochwürdigsten Herrn Bischofes steht?«

[212] Bis zu dem Tage, an dem der Schneck aus seinem Häuschen kam, war der Erdenlauf dieses Hochwürdigen eine Lebenskomödie mit ein paar schweren, kontrastierenden Schlagschatten. Jetzt begann die Tragödie, auf deren dunklen Wegen ihr die mit weißen Rosen geschmückte Leiche eines jungen Weibes liegen saht, das in Krampf und Schmerzen verbluten mußte – und dieses Trauerspiel war halb wie ein Märchen vom Kinderbrunnen, in dem die weißen Figürchen ruhelos auf- und niedertauchen, mit zuckenden Mündchen und traurigen Augen.

Im Pfarrhofe zu Obergünzburg war die Schuld erschienen und kutschierte auf einer mit Luftlöchern versehenen Kiste nach Welden – und trug einen wundervollen Namen: Toleranz.

Ja! Diese Toleranz! Die einzige, deren sie sich rühmen konnten!

Und welch ein Bild des Erbarmens: der zittrige Held, den diese Schuld erzeugte. Ein Zölibatär! Und ist der emsige Beschatter von mindestens drei Weibchen, der Vater von unerforschlich vielen Kindern, von denen die Hälfte atmen durfte, die Hälfte erlöschen mußte. Freilich, Zölibat, das ist ja nur die Institution der priesterlichen Ehelosigkeit. So erklärte mir einst ein Pfarrer [213] die schwerbegreifliche Sache. Er sagte: »Keuschheit geloben nicht die Weltpriester, nur die Mönche strenger Observanz.«

Was gehen uns schließlich die Mönche hinter ihren Mauern an? Aber der Weltgeistliche, der nur die Ehelosigkeit bewahrt und sich zur Keuschheit nicht zu zwingen braucht, geht unter uns als ein Erhöhter umher, redet im Beichtstuhl zu unseren Kindern, hat im Dorfe das Ohr aller Weiber und kann sich da so allmächtig fühlen, daß er à la Andra sagt: »Wenn ich das so haben will, dann geht es schon!«

Es fällt mir nicht ein, den Fall Andra generalisieren zu wollen. Ich denke an den braven Pfarrer Hartmann von Welden und an mein reinliches, herzliebes Pfarrherrle von Hegnenbach, um dessen Tränen willen ich mein Empörungslied von Sodoms Vernichtung nicht mehr weitersingen konnte. Und das sind nur zwei von den vielen guten Priestern, die mir das Leben zeigte. Aber wunderlich ist das: wenn ich in einem meiner Bücher solch einen guten, freundlichen, religiös und menschlich empfindenden Pfarrer schilderte, fiel immer die klerikale Presse über mich her und sprach von ›antireligiösen Jammergestalten‹. Und da besorg' ich nun fast, daß diese kritischen [214] Kapläne die nach den Gerichtsakten geschilderte Figur des Pfarrers Andra als eine Idealgestalt nach ihrem Geschmack erklären werden.

Generalisieren will ich nicht. Nein! Ich will nur sagen: daß ich das mit eigenen Augen angesehen habe, wie ein Schlechter in Trümmer schlug, was eine Vielzahl von Guten gebaut hatte. Und sagen will ich: daß in solchem Falle das Toleranz-System der geistlichen Oberen eine gebärende Schuld, ein schreiendes Verbrechen wider das Leben ist. Ihr Hochwürdigsten! Wenn ihr einen mißratenen Pfaffen unerbittlich, mit Lärm und vor aller Augen aus eurem geweihten Kreise jagt, das schadet nicht, weder euch, noch eurer guten Sache. Doch wenn ihr um der Unantastbarkeit eures Standes willen solch eine grauenhafte ›Toleranz‹ bis über die äußerste Grenze übt, und wenn ihr, um den Skandal von euren Talaren abzuwehren, nicht nur vertuschelt und verheimlicht, auch noch helft und fördert – das macht euch, um mit eurem schönen, alten Buche zu reden: übelriechend vor allem Volke!

Wie lange noch wird das so bleiben müssen? Gleich einem altersgrauen Hexenstein in einem modernen Villenviertel, so steht die widernatürliche Institution des Zölibats in unserer menschlichen [215] Kultur von heute. Ein Ekel und eine Grausamkeit! Ein Erbarmen und eine Gefahr! Keine religiöse Notwendigkeit – nur ein Mittel zur weltlichen Macht! Sie wollen nicht Fischer im schlichten Rocke sein, sondern Fürsten im Purpur. – –

Jetzt fort mit diesen Bildern!

Sie haben einen schweren, drückenden Schatten über meine frohe Jugend geworfen. Ruhelos wirbelte dieses Fürchterliche in meinem siebzehnjährigen Gehirn. Durch viele Tage blieb das so: daß es mich zwischen den Häusern und unter den Menschen nicht mehr litt. Sobald es Morgen wurde, surrte ich davon, mit einem Rinken Brot in der Kitteltasche, rannte den ganzen Tag im Wald herum, kam spät im sinkenden Dunkel verschwitzt und abgezappelt nach Hause, fraß wie ein Wilder und fiel wie ein Stein ins Bett.

Wüßt' ich nur heute noch, was mir damals durch Sinn und Seele ging, wenn ich stundenlang auf einer Waldhöhe zwischen den Stauden hockte, einsam, mit der Stirn zwischen den Fäusten, und hinuntersah auf den hochgegiebelten Pfarrhof und hinaus zum fernen, von herbstlicher Sonne umsponnenen Gottesacker, in dem das erlöste Bertele schlief! [216] Auf ein einziges Erlebnis aus diesen Tagen der verstörten Waldrennerei besinne ich mich noch. Doch wenn ich es euch erzähle, so haltet ihr's vielleicht für ein Nichts. Und mir war es ein märchenhaft Schönes, etwas Befreiendes – ich weiß nicht, warum.

Da lag ich eines Morgens im Schwarzbrunner Walde zwischen Brombeeren, die noch nicht reisen wollten. Und plötzlich huschte etwas durch die Sonne, hoch über mir, etwas Goldrotes oder Feuergelbes. Ich sprang auf und guckte – und sah nichts mehr. Da klang aus dem tiefen Wald heraus eine Vogelstimme – eine, die mir fremd war, obwohl ich doch alle Vogelklänge meines heimatlichen Waldes kannte. Aber dieser schmelzende Schlag – nein, so was Zärtliches und Süßes, so was Helles und Frohes hatt' ich im Walde noch nie gehört. Ich fand auch gleich ein paar Worte für diesen Schlag und sang mit hoher Kopfstimme nach: »Gugl di schiiiu ... gugl di schiiiu!« Der Vogel schwieg. Doch als ich näher schlich und die Melodie des Schlages rein zu pfeifen versuchte, gab er wieder Antwort. Er saß auf einer großen, dichtbelaubten Buche – mußte hoch droben in der Krone sitzen – doch wie ich mich auch streckte und wie ich guckle, ich konnte [217] den Wundervogel nicht erspähen. Weil sein Schlag so stark und schmetternd war, drum dacht' ich mir: »Der muß doch mindestens so groß sein wie ein Kuckuck!«

Hatt' ich eine unvorsichtige Bewegung gemacht? Der Vogel war stumm geworden. Und ohne daß ich ihn hatte fortfliegen sehen, schlug er nun plötzlich wieder im tieferen Walde, noch schöner und süßer als zuvor. Da empfand ich etwas wie den Hauch eines wundersamen Geheimnisses. Ich rannte, schlich und spähte, und fand den Vogel wieder auf solch einer großen Buche, wie im Schwarzbrunner Wald nur wenige standen. Ich weiß noch, daß ich ganz von Sinnen schreien mußte: »Du! Du! Du!« Und da flog der Märchenvogel davon, grad über meinen Kopf hinüber – und sein Gefieder glitzerte in der Sonne wie pures Gold.

In heißer Aufregung kam ich mittags heim. »Papa! Papa! Papa! Heut hab ich einen Paradiesvogel gesehen!«

Der Vater guckte mich ruhig an. »Geh, du Kamel!«

»Aber ja!« Ich erzählte.

»Das war doch nur eine Goldamsel!« sagte Papa. »Drüben in Zusmarshausen, wo es viel [218] Laubwald gibt, da kommen sie manchmal vor. Da wird sich halt eine zu uns herüber verflogen haben.«

Also gut! Nur eine Goldamsel! Aber – verflogen? Nein! Die war zu mir gekommen! Zu mir! Zu mir!

– Nun sagt mir: Warum machte mich diese kleine, gar nicht merkwürdige Sache so froh und glücklich? –

Ein paar Tage lang suchte ich in allen Laubgehölzen meine Goldamsel. Ich fand sie nimmer. Und glaube: dieses Nimmerfinden war das Schönste an der Geschichte von meinem Paradiesvogel.

Eines Nachmittags, der im Herbst so mild und leuchtend war wie ein Tag im Frühling, kam ich von den Waldhügeln herunter zur Straße bei Ehgarten. Bevor ich noch aus dem Walde trat, vernahm ich unter leichtem Wagengerassel das Saitengeschwirr einer Gitarre, dazu zwei Singstimmen, eine helle, hohe, und einen tiefen Baß. Sie sangen das Liedchen:


Als wir jüngst in Regensburg waren,

Sind wir über den Strudel gefahren ...


Zwei Komödiantenwagen! Ein Meerschweinchen! Und ich rannte, als wäre da drunten wieder die Goldamsel geflogen. In einer Zeit, in [219] der alle Nerven meines jungen Lebens zitterten, kam mir da eine Freude entgegen, die ich mit Gier umklammerte.

Voraus fuhr der Zimmerwagen. Hinter den Fenstern sah ich eine alte Frau und ein zaushaariges Mädchen schlafend in den Ecken lehnen. Zwei Schauspieler waren mit einem Kartenspiel beschäftigt und droschen mit den Kartenblättern so mächtig auf ein unsichtbares Tischchen los, als müßten sie feste Nägel ins Holz hämmern. Auf dem breiten Bocksitz, der ein ledernes Vordach hatte, saß neben einem alten, die Zügel führenden Künstler ein mageres ältliches Mädchen mit blaugeschleiertem Strohhut, die Gitarre an der flachen Brust. Dieses Mädchen und der Alte sangen.

Dann kam der große, schwerfällige Dekorationswagen, den ein junger Schauspieler lenkte. An der Seite dieses Musenkutschers war ein freier Platz. Ich sprang über den Straßengraben und fragte, ob ich mitfahren könnte. »Komme Se ruff, jungs Herrche!« Ein Franke! Einer aus der Heimat meiner Mutter! Aber das ›Thiadr‹ gehörte, wenn ich mich recht erinnere, einem Schwaben, dem ›Tirächtr‹ Binder, einem Bruder des berühmten Binder vom alten Münchener Volkstheater.

Nach einer Minute waren wir zwei schon [220] gute Freunde, ich und dieser junge Künstler aus Franken, der ein Buchbinder gewesen und dabei eine Zärtlichkeit fürs ›Boädische‹ gewonnen hatte. Ich versprach gleich, daß ich helfen und, wenn Rot ein Mann wäre, auch mitspielen würde. So gut wie die Kellnerin, der Hausknecht und die Küchenmagd beim Fäßlerwirt, die von reisenden Truppen zur Komplettierung des Ensembles requiriert zu werden pflegten, brachte ich die Schauspielerei wohl auch noch fertig. Aber das Repertoire gefiel mir nicht recht: die Räuber auf Maria-Culm, der Viehhändler aus Oberösterreich, die Haberfeldtreiber usw. Von diesen Stücken hatte ich noch nie was gehört. Nur ein bekanntes war darunter – denkt euch: der Prinzenraub! Ach, das Elsbethle! Wo war wohl jetzt das Elsbethle? Und erinnert ihr euch der Geschichte vom braunen Sammethöste? –

Ich fragte den Künstler, ob die Truppe nicht auch was Klassisches hätte? Natürlich! Sie hatte den Müller und sein Kind. »Da flenne se glassisch!« Doch meine Träume flogen höher, und es keimte ein Plan in mir.

Als wir am Forsthaus vorüberfuhren, sah ich meine Mutter im Garten bei ihren Blumen arbeiten. Ich stieg auf den Bocksitz, schwang das [221] Hütl und schrie: »Frau Owerferschter, wölle Se uns nit aach die Ehr gewwe und unser Thiadr besuchche? Wir sein fränggische Gienstler us der Aschebercher 2 Gechend.«

Die Mutter lachte hell hinaus. Das war seit vielen Wochen ihr erstes Lachen wieder. Dann rief sie: »Du Schliffel! Gehschte gleich runner da!«

»Neee, heut müsse mer noch 's Thiadr baue!«

Ich führ mit dem Meerschweinchen zum Fäßlerwirt hinunter und half beim Ausladen der Dekorationen.

Es fing schon zu dämmern an, als ich heimkam. Die Mutter hatte ihre Blumen begossen, und während ich von den Künstlern erzählte, saßen wir auf der grünen Hausbank. Die Blumen dufteten. Im Tal der Laugna schlichen schon die weißen Nebel über die Wiesen hin. Da begann in der blauen Dämmerung plötzlich die Waldkuppe des Schwarzbrunner Berges wundervoll zu leuchten von einem letzten Sonnengruß unter fernen Wolken. Mit den müden Händen im Schoße sah meine Mutter lange schweigend zu diesem Glanz hinaus. Und als das warme Glühen schon verschwinden wollte, sagte sie: »So was Helles [222] und Schönes sollt man allweil in seinem Leben haben, auch wenn es noch so dunkel wird!« – Dieses Wort ist wie etwas Ehernes in meinem Leben geblieben. –

An jenem Abend war in mir eine frohe Trunkenheit. Nach dem flinken Nachtmahl rannte ich wieder zum Fäßlerwirt hinunter, hatte was Heimliches in der Brusttasche und fand die Künstlerschar in großer Aufregung. Der Wirt wollte ihnen nicht pumpen. Und die Künstler hatten schnöden Hunger. Das vierzigjährige Töchterchen des Direktors – jene, die vom Regensburger Donaustrudel gesungen hatte – weinte bitterlich und sprach sehr viel von der heiligen Kunst.

Die Gelegenheit war günstig. Ich bezahlte sieben Kalbsbraten mit Zitronenpunsch – d.h. ich blieb's der Kellnerin schuldig. Und als beim Punsch die Laune rosig wurde, rückte ich mit meinem heimlichen Büchelchen heraus und machte der Künstlerschar den Vorschlag, dieses Stück zu spielen: Goethes Iphigenie. Die vierzigjährige Liebhaberin war gleich Feuer und Flamme. Die anderen schnitten Gesichter. Doch die Verheißung weiterer Kalbsbraten und Pünsche tat ihre Wirkung. Und da verursachte auch die Kostümfrage keine Schwierigkeiten mehr. Der Direktor, der schon [223] ein bißchen bekneipt war, versicherte: »Mer mach' es! Mer mach' es!« Ich versprach auch noch, aus rotem umd blauem Papier die Mäanderschlangen auszuschneiden und auf die aus Bettleinen zu fabrizierenden Tuniken und Mäntel zu kleben.

Am anderen Morgen, früh um sechs Uhr, ging die Arbeit an, die dem Franken, der Vierzigjährigen und mir übertragen wurde, während die anderen das ›Thiadr‹ aufschlugen. Die Sache mit den Kostümen gestaltete sich sehr schwierig, weil die Leintücher nicht zerschnitten, nur drapiert werden durften. Auch war nur ein einziges fleischfarbenes Trikot vorhanden, und wir brauchten viere. Dieses eine nahm der Direktor für sich in Anspruch, weil er ›so hoorich‹ wäre. Wir anderen machten eine Erfindung, die uns ungefähr fünfunddreißig Jahre später der Direktor Reinhardt vom Berliner Deutschen Theater nachmachte: wir spielten mit nackten Schenkeln.

Die Vierzigjährige und der Franke lernten ihre Rollen aus dem Buch; ich hatte mir die meine herausgeschrieben: den Pylades! Der König und Arkas verließen sich auf die Souffleuse.

Die drei ersten Vorstellungen des Meerschweinchens waren schlecht besucht. Welche Stücke da [224] gegeben wurden, weiß ich nimmer. Ich weiß nur noch, daß sich die Liste der Kalbsbraten während dieser drei Tage in besorgniserregender Weise vermehrte. »Herrgottsaxe, die Gschicht wird teuer!« Obwohl die Portion nur zwanzig Kreuzer kostete! Ein Glück, daß der Freitag ein Fasttag war, an dem beim Fäßlerwirt nur Rohrnudeln mit Kraut verabreicht wurden. Dessenungeachtet standen auf meiner Rechnung schon siebzehn Gulden. Jetzt rechnet aus, wie viele Kalbsbraten, Pünsche und Maß Bier das waren! Aber meine Begeisterung hielt durch!

Am Samstag vormittags war die Probe. Dekoration: Fichtenwald und Kapelle. Ich spielte den Pylades mit einer Art von Raserei, die eigentlich Sache des Orest gewesen wäre. Aus diesem wahnsinnigen Königssohn machte der Franke einen gemütlichen Schweinfurter. Thoas und Arkas wußten kein Wort – der König, bevor er die alte Souffleuse verstehen konnte, sagte immer: »Hmmtja!« Nur die vierzigjährige Priesterin mit den mageren Knochenschüsserln – nein, die war großartig, einfach hinreißend! Ich schimpfte und heulte vor Wut, rannte aber doch den ganzen Nachmittag in allen Gassen des Dorfes herum und trommelte die Leute ins Theater.

[225] Am Abend ein ›bummvolles Haus‹! Die Sorge wegen eines weiteren Wachstums der Kalbsbratenliste fiel mir von der Seele. Auch war ich überzeugt, ein bißchen was für die Bildung des Volkes getan zu haben. So schrecklich die Aufführung war – den Leuten gefiel sie. Es war eben doch ›der alte Goethe‹! Den nahmen sie nun freilich auf ihre Weise, ungefähr so wie den ›Prinzenraub‹. Und manchmal wurde trotz Goethe mächtig gelacht, besonders in einer Szene, in der sich der wahnsinnige Schweinfurter auf dem Boden wälzte; er hatte bei seinen nackten Schenkeln die Vorsicht außer acht gelassen, unter der Tunika eine Schwimmhose zu tragen.

In dieser Vorstellung ereignete sich außerdem eine Sache, die ich seit dreißig Jahren schon so oft erzählt habe, daß sie inzwischen eine bekannte Anekdote und ein Wandergast in allen Witzblättern wurde.

Die vierzigjährige Iphigenie mit den Knochenschüsselchen sprach: »Vernimm!« Sie schlug den König auf die Schulter und rüttelte ihn immerzu, so daß er ganz wacklig wurde. »Ich bin aus Tantalus' Geschlecht!«

Souffleuse: »Du sprichst ein großes Wort ...«

[226] Thoas: »Duuu ... hmmtja ... du sprichst ein großes Wort!« Er wird von der erregten Priesterin noch immer hin und her gebeutelt. Die Souffleuse souffliert ein paarmal energisch das Weitere, und da tritt der biedere Arkas plötzlich auf und sagt zu der leidenschaftlichen Priesterin freundlich: »Geh, laß 'n aus!«

Kein Zuschauer lachte. Nur ich, hinter den Kulissen, schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

Den glänzenden finanziellen Erfolg dieses Abends wollte der Direktor warm erhalten, und drum gab er gleich am nächsten Abend ein neues Stück: die Haberfeldtreiber.

Ich übernahm die Rolle eines oberbayerischen Bauernsohnes, der in die Tochter eines Grafen verliebt ist und ihr in einer Mondscheinnacht – als ›Einlage‹ – ein Flötenständchen bringt. Am Vormittag war Probe, nachdem ich in der Nacht die Rolle gelernt hatte. Für diese künstlerische Aufgabe kam es mir sehr zustatten, daß ich Röhrenstiefel besaß. Von Wadelstutzen und Kurzledernen wußte ich damals noch nichts; ich zog meinen oberbayerischen Bauernsohn genau so an, wie die schwäbischen Bauernburschen gekleidet gingen – und sprach ihn auch so.

[227] Doch am Nachmittage gab's eine unvorhergesehene Wendung der Dinge. Der Fäßlerwirt hatte meinem Vater die Rechnung über die vielen Kalbsbraten und Zitronenpünsche geschickt. Papa war sehr verdrießlich, und Mama verbot mir jede weitere Pflege dieser kostspieligen Freundschaft mit der Kunst. Ich konnte aber doch den Direktor nicht im Stiche lassen und die Vorstellung des Abends nicht gefährden. Bei Anbruch der Dämmerung wollte ich ausreißen, aber da geschah mir wieder das gleiche wie damals, als ich Freiwilliger in der deutschen Armee werden wollte. Meine Röhrenstiefel waren konfisziert. Doch wahre Liebe zur Kunst überwindet alle Hindernisse. Ich rannte in den Hausschuhen davon, zog beim Fäßlerwirt meine Strümpfe herunter und ließ mir vom Hausknecht bis übers Knie hinauf die nackten Beine wichsen. Sie glänzten wie die schönsten Röhrenstiefel. So kam ich auch nach der Vorstellung heim. Hier wollte wegen meines Ungehorsams ein Gewitter ausbrechen. Doch als Papa und Mama meine feingewichsten Waden sahen, mußten sie so fürchterlich lachen, daß es keinen Groll mehr gab.

Aus literarhistorischen Gründen muß ich noch darauf hinweisen, daß ich bei dieser Gelegenheit [228] zum ersten Male mit der ›oberbayerischen Volkspoesie‹ in seelische Berührung kam.

Die Künstler des Meerschweinchens hab' ich dann nur noch von ferne gesehen. Sie hatten ja auch meine Zitronenpünsche und Kalbsbraten nimmer nötig. Jetzt machten sie gute Geschäfte. Die Theaterlust der Holzwinkler war geweckt, der Direktor spielte lustige Dummheiten, und da rannten die Leute scharenweis in die ›Kameedi‹, atmeten heiter auf und lachten sich nach erledigter Pfarrhofgeschichte allen Zorn und alles Grauen aus den gutmütigen Seelen hinaus. Meinen Vater und meine Mutter trugen sie wieder auf Händen. Auch war im Pfarrhof ein guter, kluger und freundlicher Priester eingezogen – und so begann der unter Stürmen gebrochene Dorffriede wieder grüne Schößlinge zu treiben.

In diesen letzten, ruhigen Ferienwochen trat ein Stück Vergangenheit wunderlich zu mir heran.

War das wirklich nur Zufall gewesen, daß mir der Künstler aus Schweinfurt unter dem Repertoire seines ›Thiadrs‹ auch den ›Prinzenraub‹ aufgezählt hatte? Und daß ich denken mußte: »Ach, das Elsbethle? Wo wird wohl jetzt das Elsbethle sein?«

Ich kam eines Abends in der Dämmerung von [229] der Laugna über die Wiesen her. Nicht weit von unserem Hause begegnete mir ein schlankes, städtisch gekleidetes Mädchen, das beim Vorübergehen zögerte, mich ansah und auf einen Gruß zu warten schien. Ich zog auch den Hut – nur so, wie man im Dorfe jeden Menschen zu grüßen pflegt. Und dann mußte ich mich umgucken. Das Mädchen war mir fremd. Und doch – ich weiß nicht – irgend etwas kribbelte in mir so komisch.

Als ich heimkam, sagte Mama: »Denk nur, Langerle, 's Elsbethle isch dagewese. Die ischt bei Nagelschmieds auf Besuch. Und allweil hat's gewartet auf dich, aber dann hat's doch gehe müsse.«

Ich war den ganzen Abend in einer seltsam verdrehten Stimmung. Und in der Nacht mußte ich viel aus Elsbethle denken, empfand dabei etwas sehr Zärtliches und Liebes, aber auch etwas recht Unangenehmes. Ich konnte dieses verwünschte ›Sammethösle‹ nicht aus meiner Erinnerung hinausjagen – jenes Sammethöschen, das beim ›Prinzenraub‹ ein bißchen in seinem schönen Braun beschädigt worden war. Immer sagte ich mir: »Das ist zu dumm! Das Elsbethle ist doch damals noch ein Kind gewesen! Und was ein Kind getan hat, das darf man doch einem großen Mädel nicht nachtragen!« Ich nahm mir heilig vor, gleich [230] am andern Morgen zu Nagelschmieds hinauszulaufen.

Doch als es Tag wurde, rannte ich in den Schwarzbrunner Wald, blieb da bis zum Abend und nährte mich von den reifgewordenen Brombeeren. Und so drei Tage hintereinander. Erst am vierten Morgen wanderte ich unter Herzklopfen zu den Vatikanischen Gärten des heiligen Vaters von Welden.

Ich fand ein leeres Nest. Das Elsbethle war verschwunden, war am Morgen mit dem Omnibus nach Augsburg gereist. Und irgend jemand bei Nagelschmieds sagte mir: »Dees hat em Elsbethle arg weah dau(n), weil it komme bischt!«

Dieses Wort schlug mich auf den Kopf daß ich wie betäubt davonging. Ich hätte mir vor Zorn über meine Abscheulichkeit die Augen aus dem Gesichte reißen mögen. Aber was ich da gegen die Heiligkeit der Freundschaft gesündigt hatte, das war doch wieder gut zu machen! Das Elsbethle blieb in Augsburg noch eine Woche zu Besuch bei seiner Großmutter. Und in diese Woche fiel meine Reise nach Regensburg. Ich bettelte meinem Vater das ab, daß ich – um das Münchener Oktoberfest zu sehen – einen Tag früher reisen durfte, als es der Schulbeginn erforderte.

[231] Ach, was könnt' ich denn nur dem Elsbethle schenken? Ich zergrübelte mir den Kopf. Unter allem, was ich besaß, mußte es gerade das sein, was mir selber mein Liebstes war! Mein größter Schatz war ein kleines, allerliebstes Büchelchen: die alte, zierlich gebundene Ausgabe einer Geßnerschen Idylle, mit entzückenden Kupferstichen. In dieses mir heilige Büchelchen schrieb ich die Widmung:


»Reden, Handeln, Tun und Wandeln

Zeigt der Menschen Wesen nicht.

Was im Herzen sie, im stillen,

Fest verschließen, stumm verhüllen,

Ist ihr richtigs Angesicht.


Meiner Jugendgespielin Elsbeth

in treuer Freundschaft gewidmet,

Ludwig Ganghofer.«


Früh um fünf Uhr, in nebliger Kühle, führ ich mit dem dottergelben Omnibus von Welden ab. Während des vierstündigen Gewackels malte ich mir immer aus, wie sich mein Besuch beim Elsbethle gestalten würde. Ich sah etwas Liebes, Zärtliches und Frohes kommen. In Augsburg ließ ich mein Zeug auf dem Bahnhof und rannte dann, mit dem Geßner in der Tasche, ein paar [232] Stunden durch die Straßen, um die anständige Besuchszeit abzuwarten.

Ein altes, engbrüstiges Häuschen in der Nähe eines noch älteren Tores. Eine schmale, dunkle Wendelstiege. Ich läutete. Und das Herz schlug mir, daß ich Schmerzen im Halse bekam. Die Türe tat sich vor einem finsteren Gängelchen auf. Und aus dieser Finsternis heraus, in der ich den Umriß einer schlanken, weiblichen Gestalt kaum unterschied, vernahm ich nach kurzem Schweigen zwei leise Worte: »Ach Gott!« Was in diesen beiden Worten zitterte – war das Groll oder Freude? Ich brachte keinen Laut aus der Kehle. Und dann sagte das Elsbethle ruhig: »Bitte, wollen Sie doch eintreten!«

Sie ging mir voran in ein kleines, nach alten Dingen duftendes Zimmer, dessen schmale Straßenwand ein Erker mit winzigen Fensterchen war. In diesem Erker, auf niederem Antritt, stand ein Nähtischchen mit zwei hölzernen Stühlen. Hier saß eine alte Frau mit so großer Haube, daß man an Rotkäppchens Verwandtschaft denken mußte. »Großmutter,« sagte das Elsbethle der alten Frau sehr laut ins Ohr, »das ist der junge Herr Ganghofer, weißt du, aus Welden!«

Die graue Frau rollte ihr Strickzeug zusammen,[233] stand schwerfällig auf und humpelte aus der Stube.

»Aber ... Großmutter!« sagte das Elsbethle erschrocken. »Warum bleibst du denn nicht?« Die alte Frau war schon verschwunden. Das Elsbethle machte einen Versuch, mich anzusehen, und flüsterte: »Großmutter hört nicht gut.«

Noch immer hatt' ich kein Wort gesprochen. Nun saßen wir im Erker, mit dem Nähtischchen zwischen uns. Das Geplauder tröpfelte nur, beklommen und leis. Wir sprachen vom nebligen Morgen, von der Sonne, vom Omnibus, von Regensburg, von lateinischen Büchern, von eisernen Brücken und Lokomotiven, die ich einmal bauen wollte, von Klopstock und Lessing. Das Elsbethle sah mich nimmer an, guckte immer zum Fenster hinaus – und dabei konnte ich mutig ihr Gesicht betrachten, dieses schmale, liebe, ein bißchen sommersprossige Gesichtchen, das in heißer Verlegenheit brannte und nicht wußte, wohin es mit seinen Augen sollte. Ich wollte von Welden sprechen, von unserer Kindheit – nein, es ging nicht. Wie ein Riegel lag mir's vor der Zunge, vor dem Herzen! Ach, dieses gottverfluchte Sammethöste! Immer hing es zwischen uns beiden in der Luft. Und das Elsbethle und ich, wir sagten ›Sie‹ zu [234] einander. Und in meiner ratlosen Verzweiflung begann ich eine Geschichte zu erzählen, die ich in der Zeitung gelesen hatte: von einem Neufündländer, der drei Kinder aus reißendem Wasser holte und die Rettungsmedaille um den Hals bekam.

Das Elsbethle sagte leise: »So ein tapferes Tier!«

Ich hörte das feine Ticken einer Uhr, die ich nirgends sah. Und mußte fragen: »Warum schauen Sie denn immer zum Fenster hinaus?«

Langsam wandte sie mir das Gesicht zu, sah mir scheu in die Augen, bekam wieder dieses Glühen auf den Wangen, sah wohl auch dieses gleiche, unbehagliche Brennen in meinem Gesicht – und da wurde sie bleich bis in den kleinen schmalen Mund hinein, ihre Augen füllten sich mit Tränen, und plötzlich warf sie sich über das Nähtischchen hin, vergrub das Gesicht in den Armen und fing zu schluchzen an.

Erschrocken sprang ich zu ihr hin. »Aber Elsbethle! Jesus, was isch denn?« Ich rüttelte sie an den Schultern, streichelte ihr Haar. »So schau nur, was hascht du denn? Ich denk ja doch gar nimmer dran! Wahrhaftig, ich hab's doch schon lang vergessen! Ich bitt' dich, so tu doch nimmer [235] weinen! Ich kann dir's doch schwören, daß ich gar nimmer dran denk! Schau nur ...«

Das Elsbethle richtete sich auf, wischte mit den Handballen die Tränen aus den Augen und sagte mühsam: »Das alles ist doch so dumm von mir, so fürchterlich dumm ...« Sie sah mich an. »Adieu, Herr Ganghofer! Das war sehr schön von Ihnen, daß Sie mich doch noch besucht haben!« Sie gab mir die heiße, zitternde Hand. »Adieu!« Und ging zur Türe hinaus.

Lange stand ich ratlos und allein in dem kleinen Zimmer, das nach alten Dingen duftete. Draußen im finsteren Korridor mußte ich lange herumtappen, bis ich die richtige Türe fand. Und wie mir die drei oder vier Stunden bis zur Abfahrt meines Zuges vergingen, das weiß ich nimmer. Meine Erinnerung klärt sich erst wieder bei dem Bilde des Siebentischwaldes, an dem der Zug vorüberbrauste. Da bekam ich plötzlich einen furchtbaren Schrecken – weil ich in meiner Tasche die Geßnersche Idylle mit der schönen Widmung fand. Wie hatte mir nur das passieren können! Hätt' ich dem Elsbethle nur gleich beim ersten Wort das nette Buch gegeben! Dann wäre doch sicher alles ganz anders gekommen!

In meinem Zorne warf ich das Buch, als [236] der Zug über die Lechbrücke donnerte, zum Kupeefenster hinaus. Es flog wie ein brauner Falke davon, wurde klein wie eine braune Lerche, schwamm wie ein welkes Blättchen auf den reißenden Wellen – und war verschwunden. – Das Elsbethle hab' ich niemals wieder gesehen. Vor einigen Jahren ist meine Jugendgespielin als altes Jüngferchen gestorben. –

Bei meiner Einfahrt in München fing es schon zu dämmern an. Damals standen noch nicht so viele Häuser neben dem Bahngeleise, wie heute. Man konnte auf langer Fahrtstrecke die Bavaria sehen, das Menschengewimmel und das Lichtergeblitze. Dieser fidele Rummel lockte mich nicht. Etwas Schönes wollte ich sehen, etwas namenlos Schönes! Diese Sehnsucht war in mir wie ein quälender Durst.

Ich ließ meinen Koffer und mein Ränzlein im Bahnhof, nahm nur den schottisch karrierten Schal über die Schulter und fragte mich im Leutgedränge bis zum Hoftheater durch. Die Vorstellung war schon angegangen. Ich bekam noch eine Galeriekarte. Und als ich mich in diese schwüle Stickluft hineinzwängte, scholl aus einer mattleuchtenden Tiefe eine wundervolle berauschende Musik herauf. An die dreißig Menschen standen dick vor [237] mir. Doch als der Vorhang aufging, war ich ganz vorne drunten bei der Brüstung.

Nun kamen vier Stunden eines selig staunenden Rausches, der mich das Elsbethle und alles, alles, alles vergessen ließ. Während des Zwischenaktes blieb ich wie versteinert immer auf dem gleichen Fleck. Dann wieder dieses fiebernde Trinken einer Schönheit, die mir wie ein ungeahntes Märchen war – Richard Wagners Tannhäuser.

Drei Namen dieses Abends sind mir im Gedächtnis geblieben: Anna Possart sang die Venus, Kindermann den Wolfram undHeinrich Vogl den Tannhäuser. Sie brachten mir von der Kunstform der Oper eine wesentlich andere Meinung bei, als ich sie mir im Augsburger Stadttheater gebildet hatte.

Der Vorhang war gefallen. Doch der Türschließer mußte mir das erst noch eindringlich klarlegen, daß alles schon vorüber wäre. Das ganze Theater hatte sich geleert – und ich kauerte noch immer auf dem gleichen Fleck, schwer atmend und von Schweiß übergossen, ein entrücktes und verzücktes Menschenkind, den schottischen Schal an die Brust geklammert.

An Essen oder Schlafen dachte ich nimmer in dieser Nacht. Von meiner Begeisterung ganz besessen,[238] rannte ich durch die Straßen der Königsstadt, durch Anlagen und Gärten.

Lange nach Mitternacht war's. Ich saß unter Bäumen auf einer Bank, nicht weit von einer weißen Kolonnade – im Hofgarten. Da setzte sich eine Dame zu mir und sprach mich sehr liebenswürdig an. Natürlich erzählte ich ihr gleich von allem Seelenrausch dieses Abends. Sie hörte mir eine Weile freundlich zu – aber dann tat diese Dame etwas, worüber ich so zornig wurde, daß ich ihr meinen schottischen Schal um die Ohren schlug.

Diese Nacht, die mich auf einen leuchtenden Gipfel der Kunst gehoben, führte mich auch am tiefsten Dreck des Lebens vorbei.

In der Bahnhofstraße ein Johlen und Getorkel, im Wartesaal ein Rülpsen und Kotzen der besoffenen Bauern des Oktoberfestes. Und mitten in diesem Gedränge von Widerlichkeiten steht plötzlich ein junges, bildschönes Mädel mit seidenem Fransentuch und schimmerndem Riegelhäubchen, ein rosiges Madonnengesicht mit verträumten, glückseligen Augen. Und neben ihr ein fester, hochgewachsener Bursch mit der Goldschnur um den Hut, mit einem ruhigen, glücksfrohen, sonnverbrannten Gesichte. Er hält den einen Arm um das Mädel [239] geschlungen, und den anderen Ellenbogen vorkrümmend, macht er einen eisenfesten Zaun. – Die beiden verschwanden im Gewühl. Doch heute, nach siebenunddreißig Jahren, seh' ich noch immer dieses junge Paar so deutlich, daß ich es malen könnte. –

Heißer Kaffee – und dann ein hartes, mühsam erkämpftes Winkelchen im Eisenbahnwagen. Ich konnte die Augen schließen – alles, was da knatterte und lärmte, versank für mich – und durch meine Träume rauschten die süßen, wirbelnden Geigenfluten des Hörselberges.

Als ich erwachte und zum Fenster hinausguckte, war heller, schöner Tag da draußen. Die herbstlichen Buchenwälder brannten unter reinem Himmelsblau, und aus zartem Dunst der Ferne stiegen die beiden schlanken, silberweißen, feingeperlten Türme des Regensburger Domes zur Sonne hinauf.

Der Bahnzug rasselte und jagte, als hätte er's dringend nötig, mich schnell, nur schnell an die Donau und einem harrenden Geheimnis in die Arme zu bringen.

Ich fuhr dem ersten tiefen Herzensrausch meines jungen Lebens entgegen.

[240]

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Fußnoten

1 Ja, einer Magd! Ich glaube, daß ich hier zum Bibelfälscher wurde, weil mir die Stelle mißfiel, die erzählt, wie die Töchter des Lot ihrem Vater Wein zu trinken gaben. Nein – da ließ ich dem Lot doch lieber sein Weib.

2 Aschaffenburger.

7.
VII.

In Regensburg erwartete mich ein neues Quartier. Herr Sonntag, mein ›Haus-Alter‹, war Zeichenlehrer in der Gewerbeschule und im Englischen Institut; seine Frau war eine junge, heitere Dame. Ich fühlte mich gleich in der ersten Stunde wohl. Mein Stübchen war zum Fressen nett; Sofa und Tisch an der Wand, und das Bett in einer alkovenartigen Vertiefung mit schiefem Plafond; die geblümelte Mauer bedeckt mit Skizzen und Studien meines Hausherrn, der einmal ein Künstler hatte werden wollen. Unglaublich huschelig und heimlich war diese Stube – nur ein bißchen duster. Das einzige Fenster, das sie hatte, lag tief in einem Mauerschacht. Doch wer durch dieses weiße Gängelchen zum Fenster hintrat, sagte immer: »Aaaah!« Vor dem Fensterbrett, auf dem man sitzen konnte, lag das schiefe Dach. Und Dächer, [241] Dächer und Dächer rings umher, steile und flache, spitzgegiebelte und gebuckelte; und überall sah man in tiefe Gassen hinunter, auf deren Pflaster die fingerlangen Menschen zappelten; und über die Dächer herüber grüßte der Dom mit den gewaltigen Silbertürmen, eine schöne Ferne mit sanft geschwungenen Wäldern und ein weiter, leuchtender Himmel.

Gleich in der ersten Nacht noch saß ich stunden lang da draußen auf dem Dach, guckte zu den hundert Laternenlichtern hinunter und hinauf zu den blitzenden Sternen. Hier so zu liegen auf meinem schrägen Ziegelsofa, die gespreizten Füße gegen ein paar verläßliche Kanten gestemmt, die Hände unter dem Nacken verschlungen – das nannte ich: astronomische Studien treiben. Hatte man Schuhe an den Füßen, so war die Passage ein bißchen glitschig; aber in den Strümpfen, wenn sie mit Wachs bestrichen wurden, konnte man völlig sicher über den schiefen Ziegelboden auf und nieder krabbeln.

Schon in der ersten Woche begann der übliche Studentenrummel: Forsch ist der Borsch! Wir bekamen vom Rektorat die Erlaubnis zu einer Kneipe in jeder Woche und gründeten die Absolvia, für die wir in der Deschermeierschen [242] Brauerei eine gemütliche Bude fanden. Ich half die Kneipzeitung redigieren. Ach, was mag ich da wohl alles verbrochen haben? Ich erinnere mich an Verse, die der Jobsiade nachgebildet waren oder sich an ›Saumüllers‹ Derbheiten anlehnten. Ein zu sittlicher Entrüstung Geneigter hätte, wenn ihm diese sekrete Kneipzeitung in die Hände geraten wäre, die Kommilitonen der Regensburger Absolvia von 1873 für schreckliche Wüstlinge halten können. Aber schließlich war das alles nur Renommage und jugendliche Kraftmeierei; im Kern unseres Wesens waren wir ganz anständige und gesunde Jungen. Wir schwärmten für Schiller, redeten die Sprache der Räuber und hielten jedes saftige Wort für einen Genieblitz. Alle Jugend, auch wenn sie lästert und über die Stränge schlägt, ist reinlicher, als sie dem vergeßlichen und mißtrauischen Alter zuweilen erscheinen mag. Freilich, die Regel hat auch Ausnahmen. Aber die Ausnahmen sind nicht maßgebend für die Beurteilung der Lebenswerte. Im Walde stehen viele Bäume, die krank und verkrüppelt sind. Und dennoch ist der Wald gesund und schön und ewig frisch in seiner aufrechten Kraft.

Die Schule? Trüb verschleierte Dinge steigen aus meiner Erinnerung herauf. Fremde Worte [243] gaukeln mir noch wie große, unheimliche Spinnen durchs Gedächtnis: Stereometrie und Stöchiometrie, niedere Analysis und sphärische Trigonometrie. Im Lateinischen lasen wir den Catilina des Sallust, der mich aufregte, und die Germania des Tacitus, die mich einschläferte. Ein Entzücken wurde mir im Französischen die Lektüre von Molières Les femmes savantes. In der deutschen Stunde kam eine mir schon vertraute Sache: Goethes Iphigenie – und der Professor wunderte sich sehr darüber, daß ich plötzlich kichern mußte, als die Stelle kam: »Du sprichst ein großes Wort gelassen aus!« Er warf mir Respektlosigkeit gegen den Olympier Goethe vor.

Dieser Professor, Karl Zettel, war nämlich selbst ein ›Auserkorener‹, hatte langes Haar und machte schöne Gedichte. Ich habe diesen tüchtigen Mann sehr verehrt, nicht weil er dichtete, sondern weil er ein guter, liebenswürdiger Mensch war. Und geradezu zärtlich liebte ich den Rektor MatthäusDietrich, den zierlichen Mathematiker mit dem gläubigen Jünglingsherzen und dem rötlichen Logebart. Wegen der geringsten Sache stellte er eine halsnotpeinliche Untersuchung an, die immer mit Versöhnung endete. Er pflegte zu sagen: »Sie sind ein ungemein begabter Schüler, da hab' [244] ich die Verpflichtung, doppelt strenge zu sein, aber auch doppelt nachsichtig.«

Wir waren in den drei Bänken der Oberklasse nur unser neun oder zehne. Aber zu unserem forschen Kreis gesellten sich noch ein paar ›Konkneipanten‹ der dritten Klasse und Zuzügler des humanistischen Gymnasiums. Da saßen wir in unserer Absolviabude immer im Doppeldutzend warm und eng beisammen. Die Frohen, Getreuen und Übermütigen von damals? Wo sind sie nun alle? Ich könnte ein ganzes Buch erzählen von den lustigen Streichen jener Zeit. Die Stadt Regensburg muß damals große Ersparnisse gemacht haben – so viele Laternen drehten wir ab in jeder Nacht. Ein wunderlicher Kontrast: Jugend, die für alles Strahlende und Lichte schwärmt und dennoch immer dafür sorgen muß, daß es finster wird!

Über dem Tor des Institutes der Englischen Fräulein nahmen wir bei solcher Finsternis die große Tafel herunter und hängten an ihre Stelle das Firmenschild einer approbierten Hebamme. Vor einem Palais, in dem ein General wohnte, trugen wir das Schilderhaus davon. Ein Polizist begegnete uns. »Obacht,« zeterten wir, »da kommt ein Cholerakranker!« Und der Mann der öffentlichen Sicherheit nahm Reißaus.

[245] In der sommerlichen Badezeit war's unser seligstes Vergnügen: von der Militärschwimmschule den langen Damm hinauszulaufen, über die Fischerleiter emporzuklettern zum Mittelbogen der alten, steinernen Brücke und von der Brüstung den ›Leandersprung‹ hinunterzumachen in die schießende Donau. Das wurde uns verboten, als ein klerikales Blättchen in sittlicher Entrüstung kreischte: »Leben wir denn im Lande der Hottentotten?«

Und auf dem Wege, der vom Domplatz hinunterführte zur Absolviabude, stand ein großes grünes Haus, in dem eine Apotheke war. Nacht um Nacht, so oft wir Kneipe hatten, mußte der gute Apotheker aus dem warmen Bett heraus, um für fünf Kreuzer Brausepulver zu verkaufen. In solch einer Nacht, in der wir besonders heiter waren, schleppten wir, während einer von uns in der Apotheke drin das Brausepulver zu sich nahm, die zwei großen, schweren, eichenen Torflügel davon und trugen sie im Laufschritt bis zur Donau hinunter. Der Apotheker mußte den Hausflur mit Kisten und Fässern verbarrikadieren.

Ach, dieses grüne Haus! Mit welcher Sehnsucht lernte ich nach seinen blinkenden Fenstern spähen!

Was da kommen sollte, war vorbereitet in mir[246] durch ein zielloses Dürsten, das mich ruhelos in Blut und Seele erfüllte. Da war oft plötzlich meine ganze sorglose Heiterkeit beim Teufel, und in den Nächten konnt' ich nimmer schlafen. Hatte ich freien Nachmittag, so überkam es mich oft, daß ich zwischen Mauern nicht mehr bleiben konnte. Ich mußte aus der Stadt hinaus, mußte ziellos über die Brachfelder oder durch den gelben Herbstwald rennen, oder sonst etwas ganz Verrücktes treiben. Kam ich dann am Abend in die Kneipe, dann war ich so verloren, daß die Kameraden sagten: »Die Schraube ist wieder los!« Und plötzlich war dieses Quälende wieder weg, und ich konnte lachen und singen, schreien, randalieren und übermütig sein wie die anderen.

Und eines Tages trat es schön, geheimnisvoll und zärtlich in mein junges Leben herein, dieses wissend und unwissend Erwartete – und wurde tiefer, ruhiger Schlummer für mein Blut und reines klingendes Leben für mein Herz und meine Seele.

Im November, eines Nachmittages, an dem jenes Quälende wieder in mir rumorte, wollt' ich aus der Stadt hinaus und zur Donau hinunter. Ich komme an dem grünen Haus vorüber, an dem ich bisher nichts anderes gesehen hatte als den [247] Apotheker, der sich geduldig ein bißchen hänseln ließ. An diesem grünen Hause komm' ich vorbei – und denke und ahne nichts – und da hör' ich plötzlich ein zartes, rufendes Stimmchen – –

Was ist Stimme? Alle Menschen glauben das zu wissen, die Klugen wie die Törichten. Man hat einen Kehlkopf und da preßt man Luft hindurch, zwei feingemuskelte Bänderchen schwingen, diese Schwingungen erzeugen Töne, und was man da zu hören bekommt, heißt Stimme? – Nein! Das ist nicht Stimme. Das ist Geräusch. Denn Stimme, das ist ein anderes. Du bist ein einsamer Mensch, heiter und dennoch unfroh, fröhlich und dennoch glücklos. So gehst du deines Weges. Und plötzlich, ohne daß du es fühlst, berührt dich der Atemzug eines neuen Werdens. Ohne daß du es weißt, ist alles in dir ein anderes geworden, ein Harrendes, ein Empfängliches. Und da hörst du einen rufenden Klang, den du noch nie vernommen, niemals noch in deinem Leben! Der ist dir fremd. Und ist dir dennoch vertrauter als die Stimme deiner Mutter, als ein Ruf deines Vaters. Und dieser Klang, den du vernommen, redet zu einem anderen – und sagt Adieu, oder guten Abend, oder sonst ein werkeltägliches Wort – und dennoch redet er zu dir, zu keinem anderen [248] Menschen sonst, zu dir allein und sagt dir ... ich weiß nicht, was ... ein unenträtselbares, ewiges Geheimnis. Da zittert dein junges Herz, deine Augen weiten sich, ein Staunen und Lauschen ist in dir, ein leises Tönen und Rauschen, mit dem deine Seele Antwort gibt. Du bist ein Glücklicher geworden. Und das ahnst du nicht; das wirst du erst erkennen müssen in den wunderlichen Sehnsuchtsträumen schlummerloser Nächte, in Freuden, die du fühlst, als wären sie Schmerzen! – Das ist Stimme!

Und solche Stimme vernahm ich.

Hätte ein anderer mit angesehen, was ich erlebte, er würde vielleicht erzählen: »Es war ein kühler, nebliger Novembertag. Ein langer, blonder Jüngling kam die Straße her und ging an einem grünen Haus vorüber. Im gleichen Augenblicke traten aus dem Haustor zwei junge Mädchen heraus, eines, das sich verabschiedete, und eine zarte, kaum sechzehnjährige Kleine in schottisch gewürfeltem Kleidchen, die der Freundin ein paar heitere Worte nachrief. Der junge blonde Mensch blieb wie versteinert stehen und machte eine Bewegung, als müßte er grüßen und wüßte nicht, wen. Die zarte Kleine bemerkte das und guckte seltsam verwundert drein. Leichte Röte flog ihr [249] über die Wangen; dann huschte sie flink ins Haus hinein. Der lange Blonde stand noch ein Weilchen wie angewurzelt und ging dann wie ein Nachtwandler davon.«

Zu diesem anderen, der so erzählen wollte, würd' ich sagen: »Du Blinder! Hast du denn nicht gesehen, daß hier ein Wunder geschah? Eins von den Wundern des ewigen Lebens? Und willst du begreifen, wie solch ein Wunder sich ereignet: daß zwei fremde Menschenkinder, die sich nie gesehen, eins werden beim ersten Blick, beim ersten Laut – dann frage die Natur! Die hat sich das vor hundert Millionen Jahren so ausgedacht.«

Was an jenem Nachmittage noch mit mir geschah? Ich weiß es nimmer. Doch in der Nacht, als ich schlaflos und seltsam unruhig war, da kam mir plötzlich jene Gabe meiner Kindheit wieder: dieses farbige Bildersehen in der Finsternis. Erst war's wie eine trübe, violette Sonne; sie verwandelte sich in farbige Ringe, die gegen einander liefen; und innerhalb dieser kreisenden Ringe erschien mir ein knospenhaftes, von braunen Löckchen umringeltes Gesichtchen, aus dem mich unter dunklen Wimpern zwei große blaue Augen verwundert betrachteten. Ein paar Sekunden schwebte dieses liebe Gesichtchen wie ein Wirkliches in der Luft; dann begann es [250] sich zu verändern, wurde von den kreisenden Farbenringen verzehrt und war verschwunden.

So kam es wieder in jeder, jeder und jeder Nacht.

Acht Tage später sagten meine Kameraden, ich wäre ›verliebt bis über die Ohren‹. Verliebt! Ich brüllte grade hinaus vor Hohn. Die Narren! Und immer schwatzten sie von ihr. Dem einen gefiel sie, dem anderen nicht. Und jenen Tempelschänder hätt' ich erdrosseln können, der zu mir sagte: sie wäre mager und hätte eine viel zu große Nase! Doch einem wär' ich gern um den Hals gefallen, weil er wußte, daß sie Luise hieß.

Durch viele Wochen arbeitete ich nimmer an der Kneipzeitung mit. Jetzt hatt' ich für mein Herz zu reimen. Ich mußte zärtliche Liederchen machen, eines an jedem Morgen und eines in jeder Nacht. Zwei, drei Tage lang gefielen sie mir. Dann fand ich sie unreif, holprig, unmöglich. Und solche Selbstkritik empfand ich immer, als würde mir ein Messer in der Magengrube umgedreht.

Ich wühlte mich in die Goethesche Lyrik hinein, verschlang von Heine, Platen, Lenau, Hölderlin, Rückert und Geibel ein Bändchen ums andere, machte Ghaselen wie Mirza Schaffy und rückte [251] mit dem französischen Lexikon dem Zauber Alfred de Mussets zu Leibe. Und damals schrieb mein Haus-Alter an meinen Vater: ich wäre so fleißig, daß an jedem Morgen meine Lampe frisch gefüllt werden müßte.

Die schulfreien Nachmittage gehörten der Fensterpromenade großen Stils. Man wandert fünf Stunden lang um ein Häusergeviert herum – das heißt, auf drei Seiten dieses Quadrates mußt du rennen, daß du außer Atem kommst, doch auf der vierten Seite, die am grünen Haus vorüberzieht, da schreitest du langsam und bedächtig hin, die Nase immer grade voraus im glühenden Gesicht, nur mit den Augen darfst du schielen und suchen, und wenn du an einem Fenster das liebe Bild erblickst, dann darfst du trunken zittern an Leib und Seele.

Dem grünen Hause gegenüber war eine Kirchenmauer, mit einer Laterne dran; die warf, sobald sie angezündet wurde, über die Mauer einen breiten Schattenstreif herunter. In diesem Schatten stand ich Abend um Abend. Und wenn da droben am rötlichen Fenster eine zarte Silhouette erschien, dann trat ich zwei Schritte aus dem Schatten heraus; und wenn die Silhouette verschwand, dann tauchte ich wieder schwarz hinein in meinen Laternenschatten.

[252] Das alles war so schön und froh, so süß und weh, so rein und heilig, wie der blühende Frühling ist. Es war ein Licht ohne Dunkel, ein Rausch des Herzens, den kein nüchterner Gedanke störte. Ich liebte, und ich wurde geliebt. Du selige Zeit! Dieses schüchterne, hoffende Sichsuchen, dies errötende Sichfinden, das scheu gewagte erste Wort, das bange Stammeln und Verstummen, das atemlose Lauschen und das zärtliche Spiel der mutigeren Augen! – Leben? Hast du an die Menschen viel zu verschenken, was schöner und köstlicher ist? Schöner, als dieses leise Weben der Natur an ihrem ewigen Werke?

Und eines Abends – in Dämmerung und Schneegestöber gingen wir Schulter an Schulter durch die Gassen, unter dem Schirme, mit dem ich mein liebes Mädchen vor Wind und Flocken zu behüten suchte – an diesem Abend küßten wir uns zum erstenmal. Und die Tage, die dann kamen! Sie waren keusche Seligkeit und wunschloses Glück! Der lange Winter wurde uns zu einem einzigen Sonnentag der Freude.

Aber die Noten, die ich an Ostern aus der Schule heimbrachte nach Welden, waren schrecklich anzusehen. Papa sagte: »Du! Um Forstmann zu werden, braucht man einen Zweier im [253] Absolutorium. Forstmann willst du ja nicht werden, sondern Techniker. Aber jedem Berufskollegen kann ich das nicht unter die Nase schreien. Und wenn du im Sommer einen Dreier heimbringst, werden sie alle sagen, daß mein Kamel von Sohn nicht Forstmann werden konnte, weil er keinen Zweier bekam. Wenn du mir das antust, dann – –«

Papa sprach nicht weiter.

Ich saß an diesem ersten Abend zu Welden sehr zerknirscht in meiner Mansardenstube, holte die Germania des Tacitus aus dem Koffer – und dichtete bis zum Morgen drei ellenlange Lieder meiner Sehnsucht. Durch vierzehn Tage wurde mir das liebe Welden eine fürchterliche Gegend.

Wie pochte mir das Herz, als ich endlich, endlich wieder die zwei Silbertürme des Regensburger Domes heraustauchen sah über die grünen Donauhügel! Und das Wiedersehen! Zuweilen sind Glück und Wahnsinn zwei Dinge, die man schwer von einander unterscheiden kann.

Der Sommer wurde uns beiden ein lieber Freund, ein hilfreicher Elefant. War mein Mädchen zu einer Landpartie geladen, so erfuhr ich immer das Ziel dieser Fahrten. Und draußen im blumigen Grase, zwischen den wogenden Ährenfeldern oder im Rauschen des sommerlichen Waldes[254] – wir beide ganz allein – wie schön ist das gewesen! Da gingen wir Arm in Arm und plauderten. Oder ich brachte ein Buch und las. Oder stammelte mit zerdrückter Stimme eines meiner eigenen Liedchen.

In solch einer grünen Stunde sprach ich einmal aufgeregt und lange von den kunterbunten Dingen, die ich aus den hundert in heißer Gier verschlungenen Büchern herausgebissen hatte – sprach von Goethe und Shakespeare, von Dante und Fraas, von Spinoza und Feuerbach – und da rühmte mein Mädchen mit glücklichem Staunen mein ›reiches Wissen‹ und meinte, daß wohl keiner meiner Kameraden so ›klug und fleißig‹ wäre wie ihr ›gelehrter Herr und Trauter‹.

Mir ging dieses gläubig vertrauende Wort wie ein Stich ins Herz. Noch am gleichen Abend nahm ich mit heißem Eifer die vernachlässigte Arbeit für die Schule wieder auf. Mit einer Anstrengung, die meine Gesundheit fast zerrieb, suchte ich in sechs Wochen nachzuholen, was ich in sechs Monaten versäumt hatte. Weil's in meiner Dachstube nach heißen Tagen so fürchterlich schwül war, konstruierte ich mir auf dem schiefen Dache draußen eine Art von ›hängendem Gärtchen der Semiramis‹, mit kleiner Bank und winzigem Tisch, [255] und hier saß ich nun die halben Rächte neben der flackernden Lampe, umschwirrt von Nachtschmetterlingen, und memorierte physikalische Gesetze, chemische Formeln, Botanik und Zoologie, goniometrische Reihen, rationale Bruchfunktionen, verlogene Religionsgeschichte und das langweilige Latein des Tacitus. Manchmal, zu meiner Erholung, blies ich auf der Flöte ein sehnsüchtiges Adagio in die Nacht hinaus.

Während dieser Wochen sah ich mein Mädchen selten. Doch für alle Entbehrung, die ich mir gewaltsam auferlegte, fühlte ich mich reich belohnt, wenn Luischen zärtlich meine überwachten Augen küßte. An einem Sonntag, als das Semester schon bald zu Ende ging, machte Luise mit der Familie einer Freundin eine Waldpartie. Ich fuhr eine Stunde später zum gleichen Ziel. Am Waldsaum trafen wir uns. Und während wir in unserem Sonnenglücke lachten und plauderten, pflückte mein Mädchen die langgestengelten Blumen des Waldsaumes. Sie trug ein helles, duftiges Kleidchen, das sich zart wie ein Schleier um ihre feinen schlanken Formen schmiegte und unter dünnem Flor das warme Weiß der Schultern schimmern ließ. In dem von Glanz und Schatten durchwobenen Walde breitete ich meinen schottischen Schal über das [256] Moos, und nun lagen wir da, von Sonnenlichtern überzittert, ums Haar die seinen Blumenkränze gewunden, die mein Mädchen geflochten hatte. Drei Stunden im Paradiese! Irdisches Leben, das ein leuchtender Himmel geworden! Jubelnde Herzen und schlummerndes Blut; träumende, zärtliche Freude, die rein wie eine Quelle am Morgen war; lachendes Glück, das keinen Wunsch besaß und Dankbarkeit für den Reichtum der Stunde fühlte.

Die Sonne ging hinunter. Wir mußten scheiden. Und da wurde ich plötzlich schweigsam und wunderlich traurig. War unbewußt die Sorge in mir, daß die süße Trunkenheit meiner Jugend nicht das Glück meines Lebens werden könnte? War unverstanden in mir das Vorgefühl: daß ich niemals wieder im Leben solch eine Stunde des reinsten Glückes und der lautersten Freude finden würde? –

Nun kamen die Tage des Examens. Ich sprang mit zähem Ehrgeiz in den dunklen Strudel des Schriftlichen hinein. Es riß mich nach oben.

Am Abend vor dem Beginn des Mündlichen war der Absolviakommers der Humanistischen. Meine Klasse delegierte mich zu dieser, für das mündliche Examen höchst gefährlichen Feierlichkeit. Bis um fünf Uhr morgens wurde kommersiert.

[257] Ich war nicht bekneipt; aber die Dinge des Lebens drehten sich doch ein bißchen verdächtig vor meinen Augen. Jetzt mußte eine von meinen Roßkuren helfen. Ich ging zur Donau, riß unbekümmert um Häuser und Leute die Kleider herunter und machte so lange einen Kopfsprung um den anderen in das kühle, tiefe Wasser, bis meine Augen die Bäume wieder fest im Boden und die Häuser wieder lotrecht sahen. Ein Polizist erschien und brüllte: »Sie? Haben Sie den Verstand verloren?«

»Nein! Ich brauch' ihn sogar sehr nötig! Heut muß ich Absolutorium machen.«

Um sieben Uhr morgens stieg ich, noch mit nassen Haaren, ins mündliche Examen. Alles ging glatt. Nur dem Religionslehrer, der etwas vom heiligen Augustin wissen wollte, erzählte ich hartnäckig eine lange Geschichte vom heiligen Nepomuk.

Trotz meiner schlechten Semesternote, die hart an den Vierer streifte, erkämpfte ich mir den Zweier, der meinen Vater glücklich machte.

Beim Absolviakommers auf der Insel Wörth mußt' ich eine Rede halten. Ich hatte sie aufgesetzt und gründlich memoriert. Eine richtige Schulrede war's. Doch während ich sprach, fiel mir etwas anderes ins Herz – der Gedanke: wir gehörten zueinander und liebten uns; nun [258] spült uns die Woge des Lebens nach allen Richtungen in die Welt hinaus, den einen zu dunklen Wegen, den anderen zu hellen Straßen. Wie ich aus dem Stegreif diesen Gedanken formte, das weiß ich nimmer. Ich weiß nur noch, daß die Erregung mir die Stimme halb erwürgte, und daß im Saal eine lautlose Stille war. Dann ein Jubel, der mich Erwachenden fast erschreckte. Als das silberbeschlagene Horn die Runde machte, sagte der Physikprofessor: »Aus einem Horn zu trinken, das ist sehr schwer. Man muß da physikalische Gesetze beobachten und dem gewundenen Horn die richtige Torsion zu geben wissen.« Sprach's, und trank – und begoß sich von oben bis unten.

Mein Luischen war über mein gutes Absolutorium nicht ein bißchen verwundert; sie hatte das für selbstverständlich gehalten, daß es so kommen würde. Und unser ferneres Leben lag nun sonnig, eben und klar vor uns. Erst wollte ich mein praktisches Jahr in einer Maschinenfabrik erledigen, als Einjähriger dienen, vier Jahre Polytechnikum absolvieren und gleich eine Eisenbahnbrücke bauen, die das Staunen der Welt werden sollte! Und in zehn Jahren konnten wir doch sicher schon heiraten! – Zehn Jahre? Zehn [259] Jahre? – Die Augen wurden feucht. Und dann lachten wir wie der. Was sind zehn Jährchen, oder neun, oder acht, für ein Menschenpaar, das sich lieb hat und fürs Leben zusammengehört? Ein Hauch! Ein Nichts!

Unser Glück erschien uns als ein fester Bau; so nahmen wir die Trennung nicht allzu schwer und konnten in der Scheidestunde ganz unserer Liebe und der süßesten Zärtlichkeit gehören.

Ein Gartenfest mit tausend Menschen. Mein Luischen da drüben am Tisch – und ich da herüben an der langen Tafel, zwischen den Rotkappen der Absolvia. Doch der liebe Herr Petrus hatte ein Einsehen. Mit einem festen Gewitterregen löschte er die bunten Lampions und trieb die tausendköpfige Gesellschaft in die trockenen Säle. Als das Unwetter sich vertobt hatte, fanden wir beide uns im leeren, finsteren und verwüsteten Garten für eine verstohlene Minute zusammen. Unter dem Laubdach einer Kastanie hielt ich mein zitterndes Glück umschlungen.

Schwere Tropfen klatschten von den Ästen herunter, der nasse Kiesgrund und die menschenleeren Tische schimmerten im Widerschein der hellen Saalfenster, Glühwürmchen gaukelten um die Büsche, und manchmal zuckte durch die duftenden [260] Lüfte ein mattes Wetterleuchten, dem in weiter Ferne ein schwacher Donner folgte.

In der Nacht, als die Wolken sich verzogen hatten und die Sterne wieder glänzten, saß ich noch ein letztesmal ›auf meines Daches Zinnen‹, in meinem ›hängenden Gärtchen der Semiramis‹.

Am Morgen die Reise.

Und daheim in Welden, als ich mit meinem papierenen ›Zweier‹ herausrückte, sagte der Vater lachend zur Mutter: »Lotte, heut darfst du ein Kalb schlachten!« Das war nur bildlich und biblisch gemeint. Denn wir hatten gar kein Kalb, nur ein paar kleine, dicke Schweinchen. Eins von ihnen mußte dran glauben!

Zur Belohnung meines Fleißes durfte ich mich in den nächsten Wochen weidmännisch in den Wäldern des Holzwinkels austoben. Ich brachte bei dieser seligen Waldrennerei sehr selten einen Rehbock, sehr häufig ein lyrisches Gedicht zur Strecke. In meiner glücklichen Traumverlorenheit passierte mir in einer Vollmondnacht eine merkwürdige Sache. Ich sah auf mondheller Lichtung plötzlich einen Wilddieb stehen, mit dem Gewehr im Anschlag gegen mich. Mein erster Gedanke: »So, jetzt bist du hin!« Und mein zweiter: »Wehr dich!« Und da kracht auch meine Büchse schon. Ich [261] glaube zu sehen, wie es den Wilddieb im Rauch über den Haufen wirft – springe in einen Graben hinunter und rase heim. Den Schreck, den mein Vater hatte, könnt ihr euch denken! Doch als wir in den Wald hinauskamen, um den Schwerverwundeten heimzuschaffen, stand der Wilddieb ganz gesund auf der Lichtung und zielte wieder: ein alter, mannshoher Baumstrunk mit ausgestrecktem Ast. Nun gab's ein Gelächter. Und Papa sagte: »Na, wenigstens hast du nicht schlecht geschossen!« Meine Kugel war mitten durch das faule Holz gegangen.

Dann kamen bange Tage in unser Haus. Papa, obwohl er sich äußerlich ruhig zeigte, war immer schwer erregt, und Mama, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, hatte mühsamen Atem und nasse Augen, weil – ja, weil über meinen Vater eine Disziplinaruntersuchung verhängt war, und weil er seine Entlassung aus dem Forstdienst besorgen mußte. Er hatte etwas sehr Unverzeihliches getan: hatte öffentlich eine notwendige Wahrheit ausgesprochen, hatte Kritik an mancherlei Übelständen seines Berufes geübt und Vorschläge zu einer neuen Organisation des bayerischen Forstwesens gemacht. Die Broschüre, die er unter dem Pseudonym ›Silvius‹ in Augsburg erscheinen ließ, [262] verursachte hellen Aufruhr in allen Kreisen der Forstleute. Das Pseudonym blieb nicht lange gewahrt. Und da sagte man bei der Kreisforstbehörde: mein Vater hätte dienstwidrig gehandelt, er hätte nicht öffentliches Aufsehen erregen, sondern mit seinen Vorschlägen den üblichen Amtsweg betreten sollen. Aber Papa meinte: »Da hätte man meine Vorschläge ad acta gelegt. Jetzt werden sie diskutiert. Und wenn ich jetzt den Dienst quittieren muß, so kann ich mit dem Be wußtsein gehen, daß ich einer guten und nützlichen Sache freien Weg gemacht habe.«

Während dieser aufregungsvollen Tage im Elternhause fiel etwas Drückendes auch auf mein heimliches Liebesglück. Seit einer Woche hatt' ich keinen Brief mehr aus Regensburg erhalten. Und eines Abends saß ich im grünen Gartenhaus, dessen Weinlaub schon zu welken begann, und suchte ein paar tröstende Reime für meines Herzens Ungeduld. Da setzte sich die Mutter zu mir, schob mir zwei von ihr geöffnete Briefe hin und sah mich schweigend an. Ich wurde rot, daß mir die Ohren brannten. Und nach einer Weile sagte Mama: »No? Ist dir denn 's Zäpfle nuntergfalle? Red'! Was machst du denn mit dem geduldige, gutgläubige Mädle da?«

[263] »Wir haben uns lieb.«

»Sooo? Und du meinst wohl, mit dem Liebhaben ischt alles schon fertig? Denkst nit auch ein bissele weiter? Haben tust nix, als Papas ehrlichen Namen. Und heirate wirst einmal könne, wenn der heilige Josef wieder en braune Bart kriegt!«

Ich sagte trotzig: »Du warst doch auch sieben Jahr lang verlobt!«

»Freilich, ja! Aber ich und dein Vater, weißt, wir zwei sind aus einem dauerhafteren Jahrgang gewese. Dich kenn ich! Du? Und acht oder zehn Jahr lang aufs Äpfelkörble warte? Ach, du lieber Himmel! Und der weil soll das arme Mädle ihr ganze Jugendzeit versitze? Und gallig und runzlig werde?«

In Zorn und Kummer wollt' ich aufbrausen. Aber Mama legte den Arm um meine Schultern und sprach zu mir, in herzlicher Ruhe – und sprach immerzu, so lange, bis es im Gartenhäuschen stockfinster wurde. In ihrer warmen, natürlichen Art erörterte sie sehr ernste Dinge des Lebens und erzählte mir viel von schweren und quälenden Bitterkeiten ihrer eigenen, langen Verlobungszeit – von Dingen, die mit dem Herzen nicht viel zu schaffen haben und doch vom Leben [264] untrennbar sind. Dann nahm sie mich fest und zärtlich beim blonden Schüppel, rüttelte mich ein bißchen hin und her – sagte: »So!« – und ließ mich in der Finsternis allein.

Ich war der Mutter ein paar Tage gram. Erst später begann ich ein bißchen zu verstehen, daß sie es nicht nur gut mit mir meinte, noch besser mit dem Luischen, und daß sie mir in jener sinkenden Nachtstunde etwas Helles fürs Leben ins Herz geredet hatte. Dieses Reine und Natürliche, wie es die Mutter sah und fürs Leben notwendig hielt, begriff ich in meiner ersten Bestürzung nicht. Aber jene Stunde hat doch in meinem Leben nachgewirkt. Die Mutter sagte mir damals: Herz und Blut, die eine allzulange und widernatürliche Trennung nicht vertragen, müssen immer friedlich beisammen bleiben, wenn Liebe eine rechte und gesunde Sache werden soll; das Herz für sich allein macht Torheiten, die schön beginnen und mit quälenden Bitterkeiten enden; das Blut, ohne Führung und Zügel des Herzens, treibt Dinge, die abscheulich sind; Liebe, die das Wertvollste und der Kern des Lebens ist, kann auch das Dümmste und Häßlichste aller Dinge werden; bei der Liebe muß Treue sein; aber was richtig blühen soll, will nicht nur reine Sonne[265] haben, auch Erde und Tau; das Blut ist ein menschliches Ding, wird hungrig, will sich sättigen und muß dem Zwang der Natur gehorchen; drum sind die Brautschaften, die viele Jahre dauern, etwas Mörderisches, unter dem gerade die gute, gesunde und glücklichgeartete Jugend am schwersten zu leiden hat; nur selten starke Herzen kommen darüber hinweg, und auch sie nur dann, wenn sie die Hilfe der Trennung haben und eine Lebensarbeit besitzen, die sie ganz erfüllt; die meisten erliegen unter dem Worte, das sie einander gegeben, und wenn sie nach acht, neun Jahren zusammenkommen, sind sie entweder ›unsaubere Leut‹ geworden, oder sie sind verblüht, vertrocknet, verbittert und freudlos, und werden Väter und Mütter von Kindern, die keinen hellen Glanz mehr in den Augen, keinen munteren Tropfen Blut in den Adern haben.

– Heute kann ich das alles nur dem Sinne nach wiederholen. Hätt' ich doch die Worte meiner Mutter noch! Diese ruhigen, klaren, reinlichen Worte, die alles schwer zu Erörternde verschwiegen und dennoch alles Notwendige sagten, von allen Dunkelheiten des Lebens sprachen und dennoch hell und heiter blieben! Diese Worte, so, wie meine Mutter sie damals gefunden, wären eine [266] goldene Lebensbibel – nicht nur für die Jungen, mehr noch für die Alten. –

Als ich grüner, heißverliebter Bursch nach der ersten Erschütterung wieder ruhiger wurde, klaubte ich mir aus Mutters Worten vorerst heraus, was in den blühenden Kram meiner Liebe paßte. Wenn Papa und Mama die starken Herzen gewesen waren, um ›über alles hinüber zu kommen‹, warum sollte denn mein Herz nicht ebenso stark sein können? Herrgottdonnerwetter, wenn man eins so lieb hat, geht's doch leicht! Und das andere? Nein! Das existierte doch einfach gar nicht für mich! Was außer meinem lieben Mädel noch Frauenzimmer hieß – pfui Teufel! Und getrennt waren wir doch auch voneinander! Und eine richtige ›Lebensaufgabe‹ wollt' ich mir schon flink aus dem Dasein herauskitzeln! Es kann doch ein Mensch auch Glück haben! Und aus den acht Jährchen wurden sieben, oder sechse, oder gar nur fünfe? Ich konnte doch als junger Maschinentechniker irgend eine kolossale Erfindung machen? Und Geld verdienen wie Heu! Und unverblüht und unverbittert als ein Dreiundzwanzigjähriger hineinspringen in meine Seligkeit! Und Kinder kriegen mit glänzenden Augen und munterem Blut! – Und drei Kirchenbaulose hatt' ich doch[267] auch! Die hatt' ich als erste Kapitalsanlage bei der Heimreise zu München auf dem Bahnhof gekauft. Da kann man doch den Haupttreffer machen! So wasgab es ja doch im Leben! Warum sollte das nicht ebenso zu mir kommen können – wie damals die Goldamsel?

In solchen Träumen wurde ich bestärkt, als wenige Tage später eine Goldamsel in die Kanzlei meines Vaters geflogen kam. Kein goldgelber Vogel war's, nur ein grauer Brief. Aber ich kann euch die Freude nicht schildern, die dieser Brief in unser Haus brachte! Die Disziplinaruntersuchung gegen meinen Vater war beiseite geschoben. Und der Chef des Ministerial-Forstbureaus in München, der Ministerialrat Schultze, hatte gesagt: »Den? Entlassen? Nein! Den nehm' ich ins Ministerium. Dann soll er ausführen, was er vorgeschlagen hat!«

Um nach dem Beförderungsschimmel für diesen Weg meines Vaters eine Staffel zu bauen, wurde Papa zum Kreisforstmeister in Würzburg ernannt.

Ach, die frohen Tage, die nun kamen! Der Vater arbeitete vom Morgen bis nach Mitternacht in seiner Kanzlei wie ein Verrückter. Wenn er für fünf Minuten zum Essen kam, hatte er immer die Feder zwischen den Zähnen und dachte an [268] was anderes als an Knödel und Leberspätzle. Und die Mutter sang den ganzen Tag im Garten.

Als ich Ende September nach Augsburg übersiedelte, um als Volontär in die Riedingersche Maschinenfabrik einzutreten, wurde mir der Abschied von dem lieben, wieder friedlich gewordenen Welden und das Scheiden von dem schönen, grünen Tale meiner Kindheit fast ein Leichtes. Jetzt begann doch, wie ich glaubte, mein fester und gesunder Dauerlauf zum reinen Glück meiner Liebe und meines Lebens!

Ich band die blaue Leinenschürze des Maschinenschlossers um meine Hüften und hängte das Absolviaband und die rote Kappe an den Nagel.

– Und nun wollen wir uns doch ein bißchen betrachten, was ich in achtjähriger Studienzeit fürs Leben gewonnen hatte? Im Deutschen kannte ich die ›Form der Chrie‹ und verstand mich auf die ›Disposition‹ eines Aufsatzes, schrieb einen gespreizten Stil, machte nur noch hie und da einen Schreibfehler und konnte Verse drechseln, die zur Not vor meinem eigenen Urteil bestanden. Im Französischen hatt' ich schon eine comédie von Molière, im Englischen schon ein Kapitel aus dem Paradise lost gelesen, hätte mir aber in England oder Frankreich kein Mittagessen bestellen und [269] keine Zahnbürste kaufen können. Das bißchen Griechisch aus der Lateinschule war fast völlig verschwitzt. Und wie viele Tränen hat mich das in Neuburg gekostet! Im Lateinischen konnt' ich eine Abhandlung für die Kneipzeitung verfassen, verstand oder mißverstand die Schulklassiker, brauchte aber schon ein Lexikon für Catull und Properz, die ich außerhalb der Klasse las. In der Geographie wußte ich ungefähr, wo Wassertrüdingen und Buxtehude liegen, wieviel Einwohner Lissabon nach dem großen Erdbeben noch hatte, und welchen Weg die dreieckigen Marken vom Kap der guten Hoffnung machen müssen, bis sie nach Bayern kommen. In der Geschichte hatte ich mit Sicherheit die Jahreszahl 800, Krönung Karls des Großen, im Kopf behalten; was man sonst in der Schule unter Geschichte verstand, das mußte ich mir im Leben wieder abgewöhnen, um Geschichte verstehen zu lernen. Von Zoologie und Botanik will ich gar nicht reden; das ging dem Vogel nicht unter die Federn, dem Säugetier nicht unter die Haut, der Blume nicht in den Kelch. In Physik, Chemie und Mathematik bekamen wir nach den nötigen Anfangsgründen noch ein bißchen Hochschulpfeffer in die Nase geblasen, so daß wir später auf dem Polytechnikum glaubten, wir wüßten [270] schon was und könnten uns die Sache leicht machen – um nach einem halben Jahr mit Verblüffung zu bemerken, daß wir den Anschluß versäumt hatten.

Nun ja, was ich da sage, ist ein wenig übertrieben und karikiert. Aber im Kern ist's erschreckende Wahrheit. Acht Jahre lateinisches Gymnasium! Acht Jahre der wertvollsten, empfänglichsten Jugendzeit! Und fürs Leben hatten wir nichts gelernt! Nichts, nichts, nichts! Als nur das Wenige, das wiraußerhalb der Schule aufschnappen konnten, wenn man Augen und Ohren offen hielt und ein bißchen neugierig war. Im Tempel des Wissens hat man uns kein Wort vom Handwerk gesagt, kein Wort von Handel und Industrie, von Erwerb und Besitz, kein Wort von den primitivsten Begriffen des politischen und sozialen Lebens, kein Wort von den wichtigsten und notwendigsten Dingen des menschlichen Daseins! Hätte mich nicht meine glückliche Kindheit im Dorfe durch die Stuben der Handwerker geführt, ich hätte als Absolvent des Gymnasiums nicht gewußt, wie ein Türschloß oder ein Tisch entsteht, wie ein Stiefel genäht oder eine Hose geschnitten wird. Man kann mir entgegenhalten: die Erlangung solcher Weisheit wäre nicht der [271] Zweck des Gymnasiums. Aber der Zweck des Menschen ist es, so gut wie möglich mit seinem Leben fertig zu werden. Dabei unterstützt ihn diese lateinische Schule nicht, im Gegenteil, sie behindert ihn und drängt sein Leben rückwärts, statt es voranzubringen. Sagt mir nur: wie hätte solch ein achtzehn- oder zwanzigjähriger Absolvent des Gymnasiums, plötzlich vor die Not des Lebens gestellt, nach achtjährigem Studium einen an ständigen Groschen verdienen können außer dadurch, daß er wieder Unterricht in zwecklosen und halben Dingen gab! Oder er hätte sein Absolutorialzeugnis in die Ecke schmeißen müssen, um Schreiber, Taglöhner oder Schneeschaufler zu werden.

Ihr sagt mir: das ist vielleicht vor vierzig Jahren so gewesen? Aber ist es denn heutzutage um den Schulgewinn wesentlich besser bestellt? Heute, wo unsere Jungen neun Jahre ins Gymnasium rennen und zwischen A-b-c und Doktorexamen achtzehn Jahre auf der Schulbank verwetzen? Manches, nein, sogar vieles hat sich da schon zu wesentlichem Vorteil gewandelt. Aber das widersinnige Prinzip ist noch immer das gleiche, und noch immer sind die Erziehungszöpfe festgenagelt am Haken einer altmodischen, greis und [272] grau gewordenen Scholastik, die für die Lebensfreiheit das nämliche ist, wie der Aberglaube für die Religion. Nutzlose Zeitvergeudung bis zu einem Drittel der besten Lebensdauer, zwecklose Überbürdung bis zum Niederbruch aller schwächlichen Körper, geistiges Ermüden bei den Begabten, und beim Durchschnitt die Gleichgültigkeit und der Stumpfsinn! Auch heute noch ist das so, daß ein junger Mensch, der vom Gymnasium kommt, mit seinem zwanzigjährigen Leben nichts Ersprießliches anzufangen weiß, erst rasten, Luft schöpfen und sich schüchtern nach allen Seiten umsehen muß, bevor er das Leben von vorne beginnen kann – in einem Alter, in dem er ein naturgemäßes Recht hätte, schon mitten drin zu stehen in allem tätigen Trieb und fröhlichen Drang des Lebens.

Daß es so ist, das liegt nicht an den Lehrern, nur am schwer zu überwindenden Trägheitsmoment einer veralteten Methode, die belastet ist mit dem Drucke vergangener Jahrhunderte.

Unter dieser erblichen Belastung ist die Schule, statt ein Weg zum Leben zu sein, eine Würgerin der besten Jugendkräfte geworden, ein Hemmnis für den Beginn des Lebens. Viele erkennen das. Auch die Lehrer selbst. Und Hunderte von Stimmen diskutieren bereits die Frage, wie die Schule [273] gestaltet werden müßte, damit ein freigewordener Schüler froh, sicher und aufrecht hinausschreiten könnte ins Leben, um mit ungeschädigter und gesunder Kraft zu früher Tätigkeit und zu dem zu kommen, was wir Menschen als Glück zu bezeichnen pflegen.

Freilich, die Schule für sich allein, auch nach vernünftiger Wandlung, kann das nicht geben. Dazu wird auch ein gründlicher Wandel in mancherlei Dingen nötig sein, die wir heute unter die Begriffe Staat, Gesellschaft, Sitte, Moral, Kultur und Ehre rubrizieren. Dieser Wandel wird kommen, weil er kommen muß. Das hängt nicht von Hoffnungen und Widerständen einzelner Menschen und Klassen ab. Das ist eine Entwicklungsnotwendigkeit des Lebens, die – weil viele Menschen sie empfinden – bereits an der Arbeit ist, sich durchzusetzen. Die Beobachtungen und Gedanken der Menschen fliegen dem Leben nicht voraus, sondern schreiten hinter dem vorwärts drängenden Leben her. Das Leben ist eine wachsende Sache für sich selbst und gleicht einem jungen, kraftvollen Baum, der gerade dann mit erneuten und intensiven Kräften für die Blüte eines kommenden Frühlings zu arbeiten beginnt, wenn die Blätter eines altgewordenen Sommers zu sterben scheinen. –

[274] Der eigenartige, glücklich zu nennende Gang meiner Kindheit und Jugend hatte mir an ernsten, frohen und nützlichen Dingen des Lebens mehr gezeigt als den meisten meiner Gymnasialkameraden. Ich war reifer als mancher andere meines Alters. Und dennoch stand auch ich nun durch viele Wochen wie ein Hilfloser inmitten des rauschenden Arbeitsgetriebes, das mich in der großen Fabrik umgab. Auch ein Einsamer war ich, zwischen tausend Menschen. Alle standen mir ferne, keiner kam mir einen Schritt entgegen, obwohl ich zutraulich war und herzlich zu sein versuchte – ich liebte ja doch von jeher alles, was Handwerker hieß. Die Werkmeister waren höflich gegen mich, weil sie wußten, daß der alte Fabrikherr mit meinem Vater befreundet war. Doch aus ihrer Höflichkeit fühlte ich das Mißtrauen heraus. Und den Arbeitern des Schlossersaales, in dem ich meinen Platz und Schraubstock bekommen hatte, war ich unbequem; sie glaubten, in meiner Nähe nicht mehr ungeniert miteinander reden zu können; mit meinen hundert Fragen nahm ich den Akkordmonteuren die Zeit weg, mein Mangel an nützlichem Können bei meinen achtzehn Jahren machte mich vor ihnen despektierlich, und ich war für sie der lateinische Tagdieb [275] und der Brillenaffe, über den sie schlechte Witze rissen.

Da hätt' ich manchmal heulen mögen vor Wut. Und wenn ich früh um 5 Uhr aus dem Bett heraussprang, war's immer mein erster Gedanke: »Herrgott, wie viele werden mich heut wieder auslachen!« Doch ehe der Ärger und das Zähnebeißen in der Fabrik begann, brachte mir der erwachende Tag immer ein gemütliches Viertelstündchen.

Ich hatte fünf Treppen hoch bei einem Bäckermeister am Schmiedberg ein Dachzimmerchen gemietet. Den Morgenkaffee bekam ich unten im Kellergeschoß, in der mehligen Backstube. Da war's huschelig warm, die frischgebackenen Wecken dufteten prachtvoll, und die jungen Bäckergesellen waren vergnügte Burschen, denen ich auch die Teigpatzen nicht übel nahm, die sie mir bei lustigen Gefechten ins Haar oder in die Ohren schmissen. Manchmal versäumte ich da am grauen Morgen so viel lachende Zeit, daß ich unter Schweiß und Atemschnappen rennen mußte, um noch vor dem Glockenläuten die Fabrik zu erreichen. Zwischen einem Strom von Arbeitern, von denen die einen mißmutig und die anderen heiter dreinguckten, drängte ich mich zum Fabriktor hinein und nahm beim [276] Portier meine Präsenzmarke in Empfang. An der Gießerei vorbei, und an den Schmiedstätten und Drehersälen vorüber, ging's zum Monteurhaus und über eine schwarz gewordene Treppe in den Schlossersaal hinauf. Dieser Saal war eigentlich nur eine große viereckige Galerie, in der Mitte durchbrochen für die Kranenzüge und den Lauf der Transmissionsriemen. Mit dem Glockenschlag begann ein tosender Lärm, ein Pusten und Pfeifen der Dampfmaschinen, ein Geklapper und Gebrause der vielen, wirr durcheinander laufenden Transmissionen.

In meinem neuen Leben war das die erste Schulaufgabe: ein formloses Stück Eisen mit dem Meißel zu bearbeiten und einen mathematisch genauen Würfel herauszufeilen. Alle Handfertigkeiten, die ich mir in den Werkstätten des Holzwinkels angeeignet hatte, kamen mir hilfreich zustatten. Aber wenn fünf Flächen meines Würfels stimmten, war immer wieder die sechste schief. Und hatt' ich sie richtig zugefeilt, so stimmten die anderen fünf Quadrate nimmer dazu. Es war, um aus der Haut zu fahren. Und in den erlösenden Brotzeiten rochen Wurst und Bierkrügl immer nach Schmieröl. Von Tag zu Tag wurde mein Eisenwürfel immer kleiner, aber nicht richtiger. Ich [277] bekam abscheuliche Schmerzen in den Knien, in den Schultern, in allen Muskeln – an der linken Hand hingen mir von den fehlgegangenen Meißelschlägen immer die blutigen Hautfetzen herunter – und während ich meißelte und feilte, mußt' ich immer an mein Luischen denken und machte strophenreiche Sehnsuchtsgedichte. Eines Tages, als ich gerade einen sehr schwierigen Reim suchte, sagte der Werkmeister zu mir: »Wenn Sie immer zum Fenster hinausgucken, werden Sie's nicht weit bringen!«

Endlich, endlich war der Würfel fertig! Er warsehr klein geworden, bis er in allen Flächen richtig stimmte. Der faustgroße Eisenklotz war zu einem seinblinkenden Kristall zusammengeschwunden, den man ohne Beschwer an die Uhrkette hätte hängen können. Und wenn ich heute nach sechsunddreißig Jahren die Geschichte dieses unter Schweiß und Mühsal entstandenen Eisenwürfels überdenke, kommt es mir so vor, als wäre sie ein zutreffendes Gleichnis für das, was ich im Leben unter Optimismus verstehe. Optimist sein, heißt nicht: alle Dinge des Lebens schön und erquicklich finden, den Schatten negieren und nur die Sonne gelten lassen, das Dunkle rosig malen und das Grelle mild verschleiern, ein Unwahres konstruieren [278] und diese unbegreifliche, von Widersprüchen durchrissene Welt als den besten aller Sterne erklären. O nein! Wer Optimist sein will, muß sich mühen, alle Dinge des Lebens mit klaren und ruhigen Augen so zu sehen, wie sie sind; muß zu begreifen suchen, warum sie gerade so sein müssen und nicht anders sein können; muß verstehen lernen, daß die Dinge der Welt nicht um seinetwillen da sind, und daß sein kleiner Weg nur ein zufälliges Begegnen mit ein paar harten und sanften Ecken des Bestehenden ist; muß in sich die Gabe erziehen: die Schmerzen mit dem gleichen Maße werten zu können wie die Freude, den Verlust nicht gröber einzuschätzen als den Gewinn; muß vor allem erkennen, daß er irgendwelche Lebensrechte nicht für sich allein empfing, sondern daß ein gleiches Recht ans Leben auch jeder andere besitzt; drum muß er, gerecht gegen die anderen und nicht ungerecht gegen sich selbst, seine Daseinsforderungen umgrenzen und beschränken; und muß alles Wogende und Wirre seines Lebens zu einem Festen und Verläßlichen, zu einem Schönen und harmonisch in sich Geschlossenen formen können, genau so, wie sich aus einem formlosen und billig wertenden Eisenklotz mit Geduld und Mühsal eine feine, funkelschöne Kristallgestalt herausfeilen läßt, [279] auch dann noch, wenn die Hände sich aufs Meißeln und Feilen nicht sonderlich gut verstehen.

Ich hatte an meinem glatten, blinkenden Eisenwürfel so viel Freude, daß ich ihn im Feuer vergoldete und meiner Mutter zum Namenstag nach Würzburg sandte. Aber die Mutter bekam ihn nicht. Das Paketchen wurde ihr richtig zugestellt, doch der vergoldete Würfel hatte sich auf der Reise durch das mürbe Packpapier herausgebohrt. Und nun denk' ich mir gerne: daß mein kleiner goldener Würfel noch irgendwo in der Welt existiert; und daß er mich überleben wird; und daß er durch glücklichen Zufall in die Hände eines Menschen kam, dem er gefiel; und daß ihn dieser Genügsame in einen Glasschrank stellte, zu den Kaffeetassen seiner Großmutter und zu den Meerschaumpfeifen seines Großvaters; und daß ihm das kleine vergoldete Stücklein Eisen jedesmal eine stille Freude schenkt, so oft er es betrachtet; und daß es für ihn so etwas Ähnliches bedeutet wie ein rätselhaftes und geheimnisvolles Symbol des irdischen Lebensglückes.

Meine zweite Aufgabe war's: ein Zahnrad auszufeilen. Ein großes gußeisernes Rad ist auf zwei Seiten glatt abgedreht, und den im Guß ungleich geratenen Zähnen ist die Norm aufgerissen; [280] nun müssen die Zähne so ausgemeißelt und zugefeilt werden, daß sie alle in die gleiche Schablone passen. Zwei Räder verdarb ich, sie mußten wieder umgegossen werden. Das dritte gelang mir. Zur Aufmunterung nach dieser Plage bekam ich Lehrlingslohn: drei Gulden in der Woche. Mein erstes selbstverdientes Geld! Ich war sehr stolz an diesem silbernen Samstag. Und diese dreizehn Gulden im Monat waren etwas für mich! Denn die fünfundzwanzig Gulden, die ich monatlich von daheim bekam, ließen sich ein bißchen hart einteilen.

Um diese gleiche Zeit kam mir noch ein anderer Glücksfall: ich fand zu den Arbeitern des Schlossersaales ein kameradschaftliches Verhältnis. Sie zeigten einmal in einer Brotzeit ihre Athletenkünste und stemmten eiserne Räder und Transmissionswellen. Auf dem Boden lag solch eine abgedrehte Eisenwalze von mehr als einem Zentner Gewicht. Wer sie nicht in die Höhe brachte, wurde ausgelacht. Ich würgte meine nach Schmieröl duftende Knackwurst hinunter, ging hin und fragte: »Därf ich's probiere?« Gleich brüllten sie alle vor Vergnügen. Ich spuckte in die Hände. Und wenn mir die Adern am Hals zersprungen wären! Ichmußte die Welle über den Kopf hinaufbringen. Ganz rot wurde mir vor den Augen. Aber glücklich[281] brachte ich den eisernen Baum vor der Brust um die Kippe und stemmte ihn bis zur Armstrecke über die Haare hinauf. Von diesem Tag an betrachteten mich die Arbeiter wie einen ihresgleichen. Und einer von ihnen begann mich zu lieben. Es war ein vierzigjähriger, dickbärtiger Mann, der die große Bohrmaschine bediente. Nun schwatzten wir beide in den Brotzeiten immer miteinander; er erzählte gerne von seinem kleinen Vorstadthäuschen, von seiner Frau und seinen vier Kindern; wenn ich am Morgen kam, lachte er mir freundlich zu; und wenn ich bei einer neuen Arbeit ratlos wurde, war er immer gleich bei der Hand und riet und half. Seinen Namen weiß ich nimmer. Aber dankbar bin ich ihm noch heute.

Schritt um Schritt kam ich vorwärts, obwohl ich manchen Tag versäumen mußte. Es begann mich damals im Herbst ein ebenso wunderliches, wie höllisches Zahnweh zu plagen. Und ich hatte doch kerngesunde Zähne! So gesund, daß ich Messingdrähte abbeißen konnte. Der Zahnarzt untersuchte mich immer und schüttelte den Kopf und sagte: die Sache könnte nur kongestiv sein und käme von meiner Vollblütigkeit. Das mochte wohl stimmen. Wenn ich mir beim Meißeln einen Hautfetzen von der linken Hand schlug, bekleckerte [282] ich immer den ganzen Schraubstockplatz mit meinem roten Leben. Und häufig bekam ich so heftiges Nasenbluten, daß dieses dicke Getröpfel stundenlang in den Brunnen ging. Die Schmiede sagten mir immer, ich sollte ins Kühlwasser hineinbluten; das wäre gut für den Stahl.

Nach ein paar schlechten Tagen war immer alles wieder in Ordnung. Aber der Werkmeister glaubte nie recht an die komischen Leiden meiner Gesundheit und hielt sie für Arbeitsschwänzerei.

Ich kam zu den Eisendrehern in die Schmiede. Hier war's am schönsten. Beim roten Schein der Essenfeuer und zwischen den schwarzen Kerlen! Und an den Händen bekam ich Schwielen wie Bretter. Schließlich konnt' ich ein glühendes Stückchen Eisen gleich einem Ball in der Hand schupfen, ohne daß die Glut mich brannte. Nur ein bißchen flink mußte man das machen; sonst ging es durch.

Abend für Abend, wenn ich irgendwo in einem kleinen Wirtshäusl meine Milzwurst oder den billigen Kalbskopf verschlungen hatte, fiel ich wie ein schwerer Sack ins Bett. Manchmal an solch einem knochenmüden Abend schrieb ich noch an mein Luischen. Da mag wohl ein Briefchen zuweilen recht kurz und müde ausgefallen sein. Alles [283] Leuchtende meines jungen Glückes bekam einen trüben Schleier. Die Worte meiner Mutter wirkten nach. Und meine Kirchenbaulose spielten mir einen hämischen Streich. Sie wurden alle drei gezogen, eines mit zehn Gulden, das andere mit drei, das dritte mit zwei. So, Mensch, jetzt heirate bald, mit fünfzehn Gulden!

Da blieb mir nur noch der Rettungsengel einer genialen Erfindung. Ich stellte in meiner Dachstube einen Schraubstock auf, kaufte mir alle nötigen Werkzeuge, und Sonntag für Sonntag saß ich da und konstruierte und grübelte und baute Modelle. Doch wenn ich einen Einfall hatte, ging mir's immer, wie seinerzeit mit der ›Philippine Welser‹: es war mir schon ein anderer zuvorgekommen.

Ich glaube, daß ich trotz allem nicht zaghaft und mutlos geworden wäre. Aber es kam noch etwas dazu. Ein Doppeltes.

Zu Mittag aß ich in einem Vorstadtwirtshause zusammen mit acht oder neun jungen Technikern. Jung? Sie waren alle schon um die Dreißig herum. Und alle waren sie ›verlobt‹, ein paar schon zum zweiten und dritten Male. Und keiner konnte heiraten, keiner seinen eigenen Hausstand gründen. (Ich will es auch gleich sagen, daß ich [284] in späteren Jahren zwei von den Ehen dieser Verblühten noch gesehen habe; in der einen Ehe starb die gealterte ›junge‹ Frau im ersten Wochenbett; und die andere Ehe war ›gesegnet‹ mit schwer belasteten Kindern, unter denen eines zum Verbrecher wurde.) Und wenn diese Neun beim Mittagessen von ihren ›Aussichten‹ sprachen – und sie sprachen fast immer davon – dann hatten sie bittere Worte und verdrossene Augen. Nur, wenn einer zur Abwechslung eine gute Anekdote erzählte, wurden sie heiter.

Herr, du im Himmel! Wenn die Aussichten für mein Luischen und mich nicht besser waren als für diese neun Verlobten und ihre zum Trocknen aufgehängten Bräute – dann sah es trostlos aus um unser junges, zärtlich ersehntes Lebensglück!

Und dann noch dieses andere! All diese Neune waren, nach ihren Reden zu schließen, von tadelloser ›Anständigkeit‹ gegen ihre Bräute. Aber fast jeder hatte daneben ganz ungeniert so eine Sache mit einer Kellnerin oder einer hübschen Fabriksföhl! Und das schienen sie für etwas Selbstverständliches zu halten, sogar für etwas Notwendiges. Und meine Mutter forderte: daß Reinheit und Treue bei der Liebe sein müßten, oder es würde aus der schönen Liebe das Häßlichste [285] des Lebens! Herr Jesus, Jesus, wie soll man's denn machen? Was man liebt, das will und muß man heilig halten; und zehn, zwölf Jahre soll man warten; und das junge Blut will schon ungebärdig werden und plagt dich mit Nasenbluten, mit kongestivem Zahnweh und fürchterlichen Nächten! Wie Odysseus zwischen den beiden verschlingenden Strudeln baumelte, so hängst du, junges Menschenkind, zwischen der Verzweiflung deines ehrlichen Herzens und einer ruhelosen Pein deines eigenwilligen Blutes, zwischen der unvermeidlichen Lebensvernichtung und einer unausbleiblichen Scheußlichkeit! Muß das so sein? Warum denn? Merken denn die Menschen noch immer nicht, daß ihre hochberühmte Kultur und Moral eine ungesunde, verkrüppelte Sache ist, eine ekelhafte Heuchelei und Verlogenheit, etwas Unmögliches und Widernatürliches, eine Grausamkeit und Niedertracht? Und will denn der Staat, dieses Ungeheuer, nicht einsehen, daß er, wenn er solche Falschheit und Unnatur beschützt und züchtet, sich selbst am schwersten schädigt und sein bestes Leben erdrosselt? Daß er seine Wehrkraft entnervt, alles junge Wachstum lähmt, die Geburten erwürgt, alles Gesunde fesselt und vertiert, alle Erneuerung des Lebens mit Schmutz und Krankheit belastet? [286] Solche Gedanken wirbelten mir bei Tag und Nacht durch Hirn und Sinne. Und an mein Luischen schrieb ich müde, leere, verlogene Briefe, unter dem Druck der Vorwürfe, die ich mir um meiner Gedanken willen zu machen begann. Ich schalt mich ein treuloses, abscheuliches Luder – und hatte nur erst in abstrakten Bildern, nur in Träumen ›gesündigt‹.

In aller gesunden Jugend lebt der Wille zum Reinen, der Wille zum Rechten. Aber die Staatsordnung verwehrt es, die Kirche verdammt es, die Gesittung verbietet es! Und diesen drei wahnsinnigen Lebensmördern arbeitet die kupplerische Gelegenheit in die Hände. An jeder Straßenecke steht sie und lächelt und winkt. Aber nein! Nein! So billig wirft man sich nicht weg! Das tut man nicht! Nein, nein, nein, nein!

Aber essen muß man doch! Jeden Tag muß man essen – in diesem Wirtshaus, in dem die lustige, runde Zenz bedient. Und sie lächelt gerade dich am freundlichsten an. Und wenn sie bedient, dann tut sie es am liebsten neben deinem Sessel und reicht die Biergläser, die Bratenteller und die Salatschüsselchen immer über deinen Kopf hinüber und ist mit ihren runden Unerträglichkeiten immer an deinem Ellenbogen, an deiner Schulter, an deiner Wange.

[287] Natürlich, da bleibst du eines Tages von diesem unbehaglichen Tische fort, eine ganze Woche lang, und verschlingst deine billige Suppe an einem anderen Tische, bei dem das Mariele bedient, das ganz gewiß mit der Zenz nicht verwandt und dennoch ihre Schwester ist!

Und eines Sonntags während der Kirchenstunde steht plötzlich die Zenz, sein aufgeputzt und mit einem Henkelkörbchen am Arm, in deiner Dachstube und vor deinem Bett. Und möchte gutherzig wissen, warum man dich nimmer sieht, und ob du denn krank wärst? Und wenn's nichts anderes wäre als Nasenbluten und Zahnweh – Gott, da könnte man doch helfen! Ganz leicht!

Helfen? Warum nicht? Schließlich muß es ja doch einmal geschehen, heut oder morgen! Aber in aller Glut, die dich zittern macht, befällt dich plötzlich ein letztes Grauen, ein maßloser Zorn, eine so lausbubenmäßige Roheit, daß die gute, hilfsbereite Zenz als ein schwerbeleidigtes Frauenzimmer davonrennt. – Doch wenn die Zenz auf der Straße stehen bliebe? Und nochmal käme? –

Ich schildere da nicht nur die Qualen und Kämpfemeiner Jugend. Ich schildere die Pein und das aussichtslose Ringen von Millionen junger Menschen. Wenn die drei Gewaltigen des [288] Lebens – Gesellschaft, Staat und Kirche – ihnen nur ein bißchen helfen möchten, würden diese Ringenden auch Sieger sein, reinliche Menschen bleiben, in Treue und schönen Gluten nur umschlingen, was sie lieben, frohes Leben empfangen und gesundes, helles Leben erschaffen, Glück ersehnen und Glück verdienen. Aber sie müssen zerbrechen und ermüden, vertrocknen und verblühen, oder ›unsaubere Leut‹ werden, treulos und heuchlerisch die Nächte vom Tage trennen, aus Liebe und Genuß zwei ganz verschiedene Dinge machen, in der Liebe nach steinernem Ehrenkodex die mit Benzin gewaschenen Handschuhe tragen, im Genusse die gesunde und die beste Kraft ihrer Jugend verschütten in widerliche Fässer. So verlangt es die Kultur! –

In jener Weihnachtszeit, in der die gutmütige Zenz mein periodisches Zahnleiden kurieren wollte, betrieb ich mit Fleiß und Geduld eine Arbeit, die mir Freude war und mich dennoch quälte. Ich wollte meinem Luischen zeigen, was ich in der Fabrik schon gelernt hatte – und fabrizierte als Weihnachtsgeschenk ein zierliches Charivari aus allen Werkzeugen des Mechanikers: Hammer, Meißel, Feile, Zirkel, Zange, Winkelmaß und Schraubstock. Abend für Abend saß ich in meiner [289] Dachstube bis spät in die Nacht hinein und feilte aus englischem Stahl die winzigen, drei Zentimeter langen Dingerchen heraus. Zirkel, Zange und Schraubstock waren genau so beweglich wie die großen richtiger. Werkzeuge. Und als ich diese mühsame Arbeit endlich fertig hatte, war ich mutlos in meiner Liebe geworden, war müde meiner aussichtslosen Hoffnung auf ein Glück nach einem Dutzend hungriger Jahre.

Das kleine, stählerne Klunkerzeug vergoldete ich noch – doch nimmer im Feuer, wie einst meinen Würfel seligen Angedenkens – nur auf kühlem, galvanischem Wege. Diese mattfunkelnde Sache schickte ich dem Luischen zu Weihnachten.

Dann schrieb ich nimmer.

Wenn stolze Schiffe untergehen, geschieht es zuweilen, daß sie nicht ganz versinken. Aus der Brandung ragt noch die Mastspitze hervor. Und da kann ein erschöpfter Schwimmer sich halten, sich retten. Er ist der Gefahr entrissen, völlig unterzutauchen. Welle um Welle geht über ihn hin, doch immer kommt er wieder empor – und kann wieder atmen, rasten, neue Kräfte sammeln.

[290]
8.
VIII.

In mir schien alles, alles gestorben zu sein, was Denken heißt. Nichts war mir eine Erquickung, nichts ein Ärger, alles ein Gleichgültiges. Immer hing mir eine dumpfe Schläfrigkeit um das Gehirn herum. Zu jeder Stunde, ob es Tag oder Nacht war, konnt' ich mich hinlegen und binnen einer Minute in steinernen Schlummer fallen. Der Bäckerjunge, der mich früh um fünf Uhr zu wecken hatte, vermochte mich oft kaum aus dem bleischweren Dusel herauszurütteln – häufig hatte ich bei diesem langsamen Erwachen eine unklare Erinnerung an wüste, ganz unmögliche Träume – und manchmal, wenn der Lehrling glaubte, ich wäre munter geworden, schlief ich schon wieder, schreckte nach einer Weile unter dem Zug der täglichen Gewohnheit auf und kam zu spät in die Fabrik. Tagsüber war ich wie ein geduldig [291] ziehendes Tier bei der Arbeit. Aber nichts hatte mehr Interesse für mich. Ob ich es im Leben zu etwas bringen sollte, ob aus mir etwas werden würde oder nicht, das war für mich eine Frage geworden, die mir keiner Antwort wert erschien.

Aus diesem ruhigen Trott der Lebenswurstigkeit erwachte ich nur zuweilen an einem Abend, wenn ich heimkam in meine kalte Dachbude und auf dem Tische wieder eines von den rosafarbenen oder himmelblauen Briefchen fand, die den Poststempel jener Stadt an der Donau trugen und, weil sie ohne Antwort blieben, immer seltener kamen.

Da fuhr mir immer das Blut wie Feuer ins Gesicht. Und meine Hände zitterten, wenn ich das uneröffnete Briefchen an den Zirkel oder an eine spitze Feile spießte, um es über der Kerzenflamme verkohlen zu lassen.

Nach solcher Brandstiftung lag ich oft die halbe Nacht ohne Schlaf und in Schweiß gebadet unter meiner Bettdecke. Oder ich surrte wieder aus meiner Bude davon und rannte planlos durch die dunklen Straßen. Die tobenden Gedankenrevolten solcher Nachtstunden wurden zumeist auf der Brücke eines dumpfen Schlafes bis zum Morgen wieder still und müde. Nicht immer. Manchmal [292] wanderte das in der kalten Frühe mit mir hinaus in die Fabrik. Dann erfand ich vor meinem Schraubstock und beim Gerassel der laufenden Räder ein kleines, schwermütiges Liedchen oder entlud meine gepeinigte Phantasie in klingendem Schwulst – wie etwa: »Ich hasse dich, weil ich dich lieben muß!«

Und schließlich wird man stumpf und gleichgültig, ist für jede Ablenkung dankbar und begrüßt jede billige Zerstreuung wie ein Meteor der Lebensfreude.

Ich will erzählen, was damals meine ›Erquickung‹ war – ein Vergnügen, das mich wöchentlich zweimal für eine Nachtstunde glückselig machen konnte!

Ein paar Schulkameraden von ehemals hatten mich zu einem ›Tanzkränzchen‹ eingefangen. Das wurde eine sehr langweilige Sache, obwohl unter den zwölf Tanzjungfrauen jede einzelne ein überaus gutes Mädchen war. Und weil's bei mir mit der Liebe nichts Rechtes werden konnte, kam das Mitleid obenauf. Ich wurde der barmherzige Bruder aller Mauerblümchen. Wenn eine sitzen blieb, konnte sie mit untrüglicher Sicherheit auf mich rechnen. Sie tanzten fürchterlich, diese guten Mädchen. Aber dankbar waren sie; beim Kotillon [293] steckten sie mir die ganze Brust mit Schleifen voll; und ich wurde der Liebling aller Mütter und Tanten des Tanzkränzchens.

Unter den beschwingten Jünglingen war einer, der ganz wundervolle Hände hatte, schönere Hände, als ich sie je bei einer Dame gesehen. Er war Kerzenzieher. Dieser junge Mann erklärte mir, daß er seine feinen Pfoten von der jahrelangen Beschäftigung mit Paraffin bekommen hätte. Da unterzog ich nun meine schwielig gewordenen Hände vor jeder Tanzstunde einer energischen Paraffinbehandlung; bei mir half es nichts; meine Hände blieben grob und sehnig; der einzige Erfolg, den ich erzielte, bestand darin, daß die weißen, wasserblauen oder meergrünen Kleider der Mauerblümchen auf ihrem Rücken immer den Abdruck meiner ganzen Hand erschauen ließen; denn das Paraffin löste die Schlosserschwärze in den Schrunden meiner Epidermis. Die Mütter nahmen mir diese chemische Erscheinung nicht übel; sie verehrten mir weiße und perlgraue Glacéhandschuhe; aber ich zog sie nicht an; Handschuhe waren mir immer ein Greuel.

Das tröstende Vergnügen, von dem ich früher sprach, kam immer erst nach der Tanzstunde. Da zogen wir unser Sechse oder Achte, die zusammenhielten, [294] nach einer Kneipe, um hier die Stunde unseres Wohlgefallens heranzuwarten. Sie schlug um drei Uhr morgens. Der Brave, dem wir sie verdankten, war einer von den Tanzjünglingen, ein gutmütiges fideles Kerlchen, der einzige Sohn einer vermöglichen Witwe, die eine große Feinbäckerei besaß. Fünf Minuten nach drei Uhr rückten wir unter seiner Führung vor dem Haustor seiner Mutter an, schlichen über die Steintreppe ins Kellergeschoß hinunter, und dann begann durch einen langen finstern Gang ein Wettrennen nach der großen Backstube, aus der uns die wundervollsten Düfte entgegenquollen. Hier roch es noch viel, viel köstlicher als daheim bei meinem Grobbäcker, der nur schwarze Laibe und feste Semmeln aus dem Backofen herauszog und mich alles bezahlen ließ, was ich am Morgen in meinen Kaffee tunkte. Aber hier, beim einzigen Sohne der Feinbäckerin, war Gratismahl ohne Zensur und Beschränkung. Wie Tiger, wenn sie Zwergantilopen verschlucken, so schlangen wir körbchenweise die delikaten Kringeln, Schnecken, Törtchen, Datschis und Pasteten hinunter, warm und dampfend, wie sie aus dem Ofen kamen. Dabei trieben wir, schmerzferne und weltvergessen, allerlei heiteren Unsinn, spöttelten und hechelten mit den [295] lustigen Bäckergesellen und atmeten unter restlosen Glücksgefühlen diese heiße, duftende Luft. Mit den Bäckerburschen, die nackt in weißen, weiten Beinkleidern staken, trieben wir's in solch einer schreivergnügten Nachtstunde so toll und übermütig, daß die Gesellen sich zu wehren begannen, alle leeren Mehlsäcke über unseren schwarzen Tanzkränzchen-Monturen ausbeutelten und den Längsten unter uns, der einen Frack und Lackschuhe trug, vom Sessel in die Luft hoben und in einen riesigen, bis oben mit Teig gefüllten Backtrog hineinplumpsen ließen. Er ging unter, wie eine große Fliege in der Milch, und wäre beinahe in diesem zähen Kleister erstickt. Und wie er sich mühsam aus dem Teig herauskrabbelte, ganz weiß und von dicken Klunkern triefend – und wie er auf seiner Fährte allerlei ungebackene Striezeln, Brezeln und Kringeln zurückließ – das wäre ein Motiv für Wilhelm Busch gewesen. Wir anderen brüllten wie selige Narren. Und ein Nachspiel dieser Heiterkeit kam noch draußen auf der Straße, als wir im Laternenschein um den mit Teig Getauften herumhockten und mit Fingernägeln und Taschenmessern diese klebrige weiße Sache von seinem Frack und seinen schwarzen Hosen herunterzukratzen suchten.

– Ach Gott, wie wenig Humor ist im Leben [296] nötig, um ein gequältes junges Herz zu betäuben und das Brennen einer Wunde für Stunden und Tage vergessen zu machen! –

Allmählich kamen bessere, fast friedliche Zeiten. Was mir Liebe und Schmerz gewesen, schien völlig entschlafen – nun behagte mir das wunschlose Einsambleiben – und die Arbeit, die mich zu fesseln begann, ließ mich wieder gesund und heiter aufleben. In der Fabrik vertrauten sie mir ernstere Beschäftigung an, ich empfing mit Stolz an jedem Samstag den wöchentlichen Gesellenlohn von neun Gulden, konnte mich ausreichend füttern, konnte dabei sogar noch was ersparen, und bekam die wohlige Müdigkeit meiner stillen Abende lieb, an denen ich ein Lehrbuch der Mechanik oder sonst eine dicke Fachschwarte mit ins Bett nahm, um zu lesen, bis mir die Augen zufielen, oder bis die Kerze heruntergebrannt war.

Ich schrieb in dieser Zeit auch viel nach Hause – und von der Mutter, die zum Einstand in Würzburg mancherlei Hartes hatte durchmachen müssen, kamen wieder heitere Briefe als Echo meines seitenlangen Geplauders.

Damit ich beweisen könnte, was ich durch neun Monate in der Fabrik gelernt hatte, wurde mir zu Beginn des Sommers eine selbständige Arbeit [297] übertragen. Unter Beihilfe zweier Handlanger mußte ich als Jungmonteur die Dampfmaschine der Wahlschen Brauerei umbauen und neue Transmissionen montieren. Der Werkmeister sagte: »Ich fürchte, daß Sie dieser Sache noch nicht gewachsen sind. Nehmen Sie sich zusammen! Wenn Sie Schaden anrichten, muß die Fabrik ihn tragen.« Kreuz Teufel, da spuckte ich fest in die Hände! Und drei schöne Monate waren das! Immer sang und pfiff ich bei der Arbeit. Und Schaden hab' ich nicht angerichtet. Als der Werkmeister die fertige Arbeit übernahm, nickte er zufrieden. Das erzähl' ich nicht, um was Gutes über mich anzumerken. Ich erzähl' es einem Zusammenhang zuliebe, der mir wichtig erscheint. Damals in jenem fleißigen Sommer war ich neunzehn Jahr alt. Und ich will mit dieser Ziffer nicht von mir, sondern von der Jugend etwas sagen. In aller frischen Jugend steckt verläßliche Kraft. Diese gesunde Kraft wird sich immer bewähren, sobald man ihr ein Ernstes und Wichtiges zutraut, eine Verantwortung auf ihre Schultern legt. Dann streckt und strammt sie lachend ihre schlanken Glieder und versteht zu tragen. In den Dörfern, in den Stuben des Handwerks und im freien Kaufmannsstande weiß man das. Aber auf allen Wegen, [298] die durch hohe Schulen trödeln, begeht das Leben von heute die verbrecherische Torheit: die Jugend von aller Verantwortung fernzuhalten, sie von allen Lebensrechten fortzudrängen, sie zur Wagendeichsel und zum Hafersack erst zuzulassen, wenn sie durch erzwungene Trägheit entkräftet ist, durch Zeitvergeudung verdrossen und freudlos, durch Hunger und Warten mürb und müde wurde! –

Während der glückseligen Wochen, in denen ich pfeifend und singend auf den Malzböden und im Maschinentrakt des Wahlschen Bräuhauses freiherrlich schanzen durfte – in dieser Zeit geschah es, daß ich zum erstenmal eine sozialdemokratische Versammlung besuchte.

Von meinen beiden Handlangern war der eine ein ruhiger Mensch um die Dreißig, der gleichmäßig und verläßlich seine Arbeit tat. Ich hörte ihn niemals klagen, nie über eine Ungerechtigkeit des Lebens brummen. Wenn ich ihm eine von meinen Brotzeit-Knackwürsten abließ, sagte er sein ›Dank schön‹, aß sein schwarzes Kipfl zur Gratismaß, wickelte die Wurst in Papier und trug sie am Abend seinem kleinen Buben heim. Der zweite Handlanger war ein vierundzwanzigjähriger, flinker und wifer Bursch, noch ledig. Der mußte immer schwatzen, immer auftrumpfen und schwadronieren. [299] Alle paar Tage erzählte er von einem anderen Mädel. Und jeden Donnerstag oder Freitag pumpte er mich an und vergaß am Samstag das Heimzahlen. Schlucken konnte er wie ein Gußloch. Mit seiner Gratismaß war er bei der Brotzeit im Hui fertig, und dann soff er auch noch mein Freibier. Aber betrunken hab ich ihn nie gesehen – nur berauscht von seinen Weltverbesserungsplänen. Er hatte ein Maulwerk wie eine Sense, konnte sich den Verstand mit der eigenen Suada wirblig machen und biß bei jeder Brotzeit allen regierenden Monarchen die Köpfe herunter, besonders dann, wenn er mit seinem Preßsack fertig war. Er konnte theoretisch gegen die Mächtigen der Erde so grausam werden, daß ich ihm den Spitznamen ›Blutwürstl‹ gab. Noch viel gereizter, als gegen die gekrönten Häupter, war Blutwürstl gegen den Reichskanzler Bismarck und gegen die preußische Polizei, die sich gerade in jenem Sommer zum erstenmal ein bißchen bärbeißig gegen die Sozialdemokratie zu benehmen begann.

Doch von diesen Dingen wußte und verstand ich damals so wenig, daß Blutwürstls grimmige Reden gegen die Tyrannen und seine häufig sich widersprechenden Zitate aus Marx und Lassalle [300] nur komisch auf mich wirkten. So geschah es schließlich nur aus fideler Neugier, wenn ich mich eines Abends von Blutwürstl ›in unsere Versammlung‹ schleppen ließ.

Meine Empfänglichkeit für die Eindrücke dieses Abends befand sich in der denkbar ungünstigsten Verfassung. Von den Dingen, um die da geredet wurde, hatte mir mein bisheriges Dasein noch nichts gezeigt. Ich hatte nie den Stachel einer Not empfanden, unter dem Dache meiner Eltern war immer Sonne daheim, und an meinem eigenen Leben hatt' ich fast immer Freude gehabt, auch dann noch, wenn es mir Schmerzen brachte. Und im Dorfe hatt' ich nur jene Armut kennen gelernt, mit der sich die Zufriedenheit und ein frohes Lachen gut vertrugen. Einmal war nach Welden ein Schneidergesell gekommen, von dem sich das Gerücht verbreitete, daß er ein ›Sozi‹ wäre. Er mußte wieder fort, das ganze Dorf stand gegen ihn auf. Da draußen im Holzwinkel hielt man eine Verbesserung der Welt nicht für notwendig. Die Handwerker und Taglöhner verdienten da so viel und brauchten so wenig, daß sie jeder Not entrückt waren. Sie hatten sonngebräunte, lustige Gesichter. Und solche Stirnen, die heiter und zufrieden schienen, sah ich auch zu Hunderten in der [301] großen Fabrik. Daneben gab es wohl auch blasse Gesichter, vergrämte, kranke, mit traurigen Augen, mit erbittertem Blick. Mein Mitleid sprang immer gleich zu ihnen hin. Doch immer sah ich da nur einen einzelnen Fall, ein menschliches Unglück, nie eine leidende Masse, ein enterbtes Volk. An solcher Auffassung hinderten mich die Gegensätze, die es reichlich gab. In jener Zeit des industriellen Aufschwunges waren tüchtige Leute gut bezahlt. Es gab Akkordmonteure, die mit Überstunden täglich fünf, sechs Gulden und mehr verdienten. An Feiertagen machten sie Lustfahrten im Zweispänner und tranken Champagner, den ich noch nie gekostet hatte. Und jener theoretische Tyrannenwürger, der in mir das Verständnis für die sozialdemokratischen Ideen zu wecken versuchte – mein Blutwürstl – war aller Not des Lebens am fernsten. Er liebte, fraß und soff und pumpte, war bei aller politischen Erbitterung immer kreuzfidel und wirkte in seiner agitatorischen Tätigkeit eher abschreckend als gewinnend, nicht ernst, nur heiter.

Sein Charakterbild färbte wohl auf das Bild des Abends ab, zu dem er mich schleppte. Es blieb mir nur die Erinnerung an ein schwüles Gedränge. Auch weiß ich noch, daß in den langen [302] Reden dieses Abends sehr häufig der Name der Stadt Eisenach genannt wurde, und daß ich dabei immer an die Wartburg, an den Zauberer Klingsor und an Wagners Tannhäuser denken mußte. Erst ganz zu Ende der Versammlung sprang mir das Bild eines Menschen ins Herz und ins Verständnis. Bei der Diskussion erhob sich an einem Tisch ein schlanker, etwa fünfundzwanzigjähriger Mensch. Was er sagte, machte mich lauschen und zittern. Wovon er sprach, das weiß ich nimmer. Ich erinnere mich nur, daß manches in seinen Worten mit den innerlichen Kämpfen und Bitterkeiten meiner eigenen Entwicklung zusammenklang, mit meinen Forderungen nach einem reinen und gesunden Lebensrecht der Jugend. Bei irgend einem Worte – während die anderen ganz stille waren – schrie ich wie von Sinnen: »Bravo, bravo, bravo!« Da guckten sie alle lustig zu mir her und brüllten. Nur der junge Mensch, welcher redete, sah ernst zu mir herüber und wurde brennend rot. Er sprach sehr gut, sprach reines Hochdeutsch, sein Blick war eine heiße Flamme, und während er redete, zuckten seine schmalen, blassen Lippen immer wie ein Hasenschnäuzchen. Nicht nur als Mensch gefiel er mir, ich bekam auch Respekt vor ihm. Man sagte mir, daß er [303] ein Eisendreher wäre. Da hatte er doch nur die Volksschule besucht! Doch dieser junge Mensch im Arbeiterkittel besaß Bildung im besten Sinn des Wortes. Und jedenfalls wußte und verstand er von den ernsten und wichtigen Dingen des Lebens sehr viel mehr, als ich nach achtjähriger Gymnasialzeit.

Diesen jungen Eisendreher hätt' ich gerne kennen gelernt. Und Blutwürstl – der mir auf dem Heimweg durch die schöne Sommernacht die gründliche Abmurksung der Bourgeosie binnen drei Jahren in Aussicht stellte – versprach mir, diese Bekanntschaft zu vermitteln. Doch es kam zu keiner Begegnung, ich weiß nicht warum. Und als meine Arbeit in der Wahlschen Brauerei vollendet war, mußte ich von Augsburg Abschied nehmen, um zu Würzburg in den bunten Rock des Königs zu schlüpfen.

Ich freute mich heim zu den Meinen. Freude hat heilende Kraft. Und wieder kam etwas Helles und Frohes in mein Leben, als ich am leuchtenden Main dieses schmucke Städtchen sah, umschlungen von Rebenhügeln, die sich schon in herbstlicher Schönheit zu färben begannen, und gekrönt von der an eine Märchenburg erinnernden Festung.

Da droben, hinter diesen luftblauen Mauern, [304] will ich jetzt Soldat werden! Auf diesen Weinbergen will ich Trauben schmausen, und auf diesem leuchtenden Strome, der an der Heimat meiner Mutter vorüberblitzt, will ich alles treiben, was heiter und vergnüglich ist!

So nahm ich mir's in der ersten Stunde vor, noch eh' ich zu Würzburg aus dem Eisenbahnwagen heraussprang, um Vater, Mutter und Geschwister nach langer Trennung wieder glückselig zu umhalsen. Späterhin kam dann alles ein bißchen anders, als ich mir's vorgenommen hatte. Nur das erste erfüllte sich glatt: ich wurde Soldat und freute mich an Pallasch, Pferd und Sattel. Die Kunst des Reitens schmeichelte sich mir flink in Faust und Beine. Freilich war die Keckheit immer größer als mein Können. Weil wir die königlichen Rösser außerhalb der Dienstzeit nicht belästigen durften, pflegte ich mir an freien Nachmittagen beim Universitätsstallmeister eine arabische Schimmelstute zu mieten, die aus dem aufgelösten Marstall der Königin Amalie von Griechenland stammte. Ein entzückendes Rösselchen war's! Flink wie eine Schwalbe, leicht wie eine Sünde der Jugend! Nur ein bißchen kitzlig. Mit den Sporen mußte man vorsichtig sein. Oder man machte unfreiwillige Purzelbäume.

[305] Eines Abends verursachte mir das Schimmelche in solch einer kitzligen Stimmung ein paar von jenen Sekunden, die man als Ewigkeiten zu empfinden pflegt. Da hatt' ich einen Ritt nach Randersacker gemacht und hatte Most in jener Stufe des Weinwerdens gekneipt, die man als ›Federweiß‹ zu bezeichnen pflegt. Ich habe diesen Most nach Güte und Wirkung des öfteren besungen. Aus einem dieser Liedchen erinnere ich mich noch der Verse:


»Der junge Federweiß

Macht dir, wie jeder weiß,

Hirn, Blut und Leder heiß!«


Das schien mein Schimmelche damals beim Heimritt im abendlichen Dunkel mit Mißbehagen zu verspüren. Der flotte Trab verwandelte sich plötzlich in schnaubendes Rasen. Rote Lichter in der Finsternis, die schreiende Stimme eines Bahnwächters, und nun jäh vor der Brust meines Gaules eine Balkenschranke. Das Schimmelche – ein Parieren war nimmer möglich – machte einen wilden Satz über die Schranke hinüber und blieb wie versteinert mitten zwischen den Schienen stehen, während der Zug schon auf zwanzig Schritte mit großen Glutaugen durch den Abend heranbrauste. Drei Sekunden wurden mir zu einer [306] grauenvollen Ewigkeit. Mit beiden Fersen schlug ich dem Schimmelche die Sporen in den Bauch, keuchend flog es über die andere Schranke hinüber, und als ich das Pferd nach einer Weile auf den Wiesen parieren konnte, war der Eisenbahnzug schon wieder verschwunden. Und meine Mütze fehlte. Auf dem Bahndamm fand ich von ihr nur noch ein paar zerquetschte Tuchfetzen. Ich war völlig nüchtern geworden. Und während des weiteren Heimrittes, auf dem sich das Schimmelche wieder ganz manierlich verhielt, beschäftigte ich mich unter rieselnden Gänsehäuten mit der Frage: wie jetzt mein Köpfl aussehen würde, wenn es ihm ergangen wäre wie meiner Mütze. Dann mußte ich immer laut und schreivergnügt hinauslachen in die Nacht. Man gewinnt das schöne Leben nie so lieb wie in einer dunklen Stunde, in der man es fast verloren hätte. Und für das Schimmelche begann ich von diesem Tag an eine Zärtlichkeit zu empfinden, die mit meinem mager gespickten Portemonnaie in Kollision geriet.

Papa gab mir, was er bei seinem bescheidenen Beamtengehalte zu geben vermochte. Mit kluger Sparsamkeit hätt' ich mich wohl ohne Schulden durchschlängeln können; aber ich verstand mich nicht aufs Winden und Schlängeln, viel eher aufs Vorwärtstollen [307] mit breiter Brust. Und da gesellte sich zu dem teueren Schimmelche noch eine zweite geldfressende Gewalt: das Studentenleben. Einer von den Freiwilligen, die mit mir unter dem gleichen Rittmeister dienten, war Frankenbursch. Ich ließ mich ›keilen‹ und belegte auf der Universität das billigste Kolleg, ein medizinisches – Osteologie, die Lehre von den Knochen – um als Fuchs bei den Franken einspringen zu können. Bei dieser Inskription hab' ich das Innere der Würzburger Universität zum ersten- und letztenmal gesehen.

Der Vater schaute ein bißchen ungemütlich drein, als er mich eines Abends in Zivil und mit der apfelgrünen Kappe sah. Soldat und Korpsstudent – »Du, Bub, das ist für meinen Sack zuviel!« Aber Mama redete zu meinen Gunsten. »Geh, laß ihm doch die junge, scheckete Freud! Er wird sich die paar Knöpf, die er hat, schon richtig einteilen!« Ich versprach natürlich das Blaue vom Himmel herunter.

Als ich an diesem Abend zur Frankenkneipe wanderte, begleitete Papa mich in die Stadt – wir wohnten draußen vor dem Glacis, gegen die Weinberge hin – und während wir beide durch die dusteren Anlagen spazierten, setzte mir Papa [308] sehr ernst auseinander, daß die verwerflichste Eigenschaft eines jungen Men schen das Schuldenmachen wäre. »Was ich dir geben kann, bekommst du. Mehr darfst du um deiner Geschwister willen nicht verlangen von mir. Machst du Schulden, so mußt du sie späterhin selber bezahlen, wenn du zu Verdienst kommst. Frage dich also, ob ein paar versuitisierte Nächte das wert sind, daß du dein kommendes Leben mit drückenden Verpflichtungen belastest!« Mir wurde schwül unter dem dicken Haarschopf. Doch von meiner Augsburger Monteurzeit war mir ein nettes Sümmchen verblieben. So war ich fürs erste gedeckt. Und Vaters Predigt nahm ich nicht allzu schwer. Im Haus der Eltern hatt' ich wohl manchmal den unklaren Blick einer verschleierten Sorge gesehen, doch nie die Nähe der Not gefühlt. Daß es die große Lebenskunst meiner Mutter war, das Knappe zu strecken und aus einem dünnen Lappen einen warmen Mantel zu machen – dafür hatte ich bisher noch nicht die sehenden Augen gehabt.

Und da ging nun ein lustiges Leben los, bei dem mir der Himmel in Helle und Nacht voll klingender Geigen hing. Am Tag auf der Festung droben die vergnügte Soldaterei mit rasselndem Säbel und wiegendem Sattel. In der Mittagspause [309] der Fechtboden drunten in der Stadt; über die paar hundert Felsstufen des Festungsweges rasselte ich beim Mittagsläuten immer herunter wie ein Flüchtling, und um zwei Uhr ging's mit Heuschrecksprüngen wieder in die Höhe. Am Abend die Korpskneipe, oder eine Mostsuite nach Randersacker, eine Wagenfahrt nach dem lustigen Heidingsfeld. Nach Mitternacht ein flinker Schlaf von drei, vier Stunden. Und um fünf Uhr morgens wieder in Uniform der Dauerlauf zur Festung hinauf. Niemals ein Gefühl der Müdigkeit; immer war ich gesund wie ein Fisch im Wasser, alles vertrug ich, alles schlug mir an – und was manchem meiner Kameraden das Gesicht blaß machte und die Augen tiefer grub, das malte mir den heißen, fröhlichen Jugendbrand in den Blick und auf die Wangen. Mir zum Glücke hatte meine junge, kräftig erzogene Natur in sich ein paar feste Schranken, über die sie mich nicht hinüber ließ. Nach einer schweren Magenrevolte, die mir eine Virginiazigarre auf dem Gymnasium verursacht hatte, blieb ich durch meine ganze Studentenzeit ein mäßiger Raucher. Der Widerwille in meiner Physis sagte Nein, und ich mußte gehorchen. Diese gleiche Hartköpfigkeit meiner Natur erzwang mir auch das Gute, daß ich mich als [310] Korpsstudent nicht zum Trinker entwickelte. Bevor mir die Sinne vom Alkohol richtig zu wirbeln begannen, kam jedesmal der Augenblick, in dem ich um alle Welt keinen Tropfen mehr hinunterbrachte und den Bierkrug oder das Weinglas wie etwas Ekelhaftes von mir fortschieben mußte. Es ist in meinem ganzen Leben nur dreimal geschehen, daß ich über diese hemmende Schranke hinübertaumelte und ein schwer Betrunkener wurde. Zwei Buchstaben machen da einen wesentlichen Unterschied! Denn einTrunkener war ich immer, auf allen Wegen meines Lebens, bei Tag und Nacht, im Wachen und in meinen Träumen, in aller Freude und in jedem Schmerz.

Das Studentenleben ist schon so oft geschildert worden, daß ich dieses Kapitel überspringen darf. Das kam für mich auch nicht origineller, als es für hunderttausend andere schon gekommen. Nur daß ich bei diesem farbigen Mahl die Bissen noch flinker und heißer verschluckte, als die Jugend gemeinhin zu speisen pflegt. Alles Kleine wurde mir zum großen Ereignis, aller bunte Werkeltag zu einem malerischen Feste. Die Stunde auf dem Fechtboden war für mich immer ein Sturm von Hochgefühl und Seligkeit, das Liedersingen wurde mir Gottesdienst und Mysterium. Was Freundschaft [311] hieß, das nahm ich in jedem Einzelfalle, wie Pylades die Zärtlichkeit für den Orest. Und viele von jenen, die einst in Trunkenheit und Freude mit mir sangen: »Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt« ... viele von jenen haben mir herzliche Bruderschaft gehalten bis zum heutigen Tage. Mein Leben ist reich gewesen an treuen, wertvollen und verläßlichen Freunden. Ein paar kleine Irrtümer, die sich gelegentlich ergaben, dürfen da nicht als Gegengewichte zählen. –

Im fidelen Lärm der Kneipe war ich immer ein heißer Debatter. Bei allem Meinungsaustausch legte ich mit meiner kräftigen Kehle immer los wie ein schneidiger Rhetor. Nur beim Kapitel vom Weibchen konnte ich nicht mitreden. Noch immer, nun fast schon ein Zwanzigjähriger, war ich ein ungerupftes Hähnchen. Ich selbst begann das als eine unverzeihliche Sache zu betrachten und hatte weder Gefühl noch Verständnis dafür, daß die langbewahrte Verschlossenheit meines Blutes ein kostbarer Besitz meiner Jugend war, ein Brunnen meiner derben, unerschütterlichen Gesundheit, eine Verheißung für reiche Freuden meines kommenden Lebens. Ich selbst beschimpfte mich als ›schüchternes Rindvieh‹ und hätte diesen [312] unwissend behüteten Schatz meiner Jugend gerne um ein Linsengericht verschachert in jeder nächsten Nacht. In meinem Herzen war keine Sehnsucht, kein Wunsch und keine Wahl. In meinem Herzen war nichts. Nur in meinem bedrückten Gehirne war der Wille zu dieser ›Tat‹ immer drängender und heißer, je mehr ich mich meiner Abenteuerlosigkeit vor den klügeren Kameraden zu schämen begann. Doch so oft ich zur Donjuanerie einen kecken Anlauf nahm, war im entscheidenden Augenblick immer wieder dieses unüberwindliche Widerstreben da. Oder es erwachte in mir die Erinnerung an das dunkle Gartenhäuschen in Welden, der zitternde Gedanke an die Mutter. Die würde mir das doch gleich in der ersten Stunde an den Augen ansehen! »Herrgott und pfui Teufel! Nein!« Und immer auch dieses ganz animalische Grausen! War's aber nicht auch ein Wahnsinn und Irrtum der Natur: Mann und Weib gerade so zu erschaffen? Oder – war vielleicht gerade dieses Unbegreifliche eine von den höchsten Weisheiten des Weltenlenkers? Wollte er die Männchen und die Weibchen reinlich erhalten, bis er sie zwingen konnte, in Gesundheit und Freude Väter und Mütter zu werden? Wollte er sagen: Mensch, du darfst mit deinem Leibe nur dann genießen, [313] wenn du in deinem Herzen liebst – mit jener Liebe liebst, die aus Tieren Engel macht, alles Niedrige in ein Schönes verwandelt und jeden abstoßenden Schlupf des Lebens verzaubert in ein von ewigen Rosen bekränztes Himmelstor?

Meine schlaflosen Nachtstunden wurden sehr ergiebig an philosophischen Gedanken. Hunger und Liebe! Sie sind die Kleinkinderbrunnen der Weltweisheit. Hätten alle Menschen zu essen und gäb's keine ungestillten Wünsche des Blutes, dann wäre die Philosophie eine überflüssige Sache. Vielleicht auch die Religion. Und auch die Kunst. Aus den Leiden der Menschheit wachsen ihre schönsten Blumen. Man soll über Schmerzen nicht schelten.

Spät im Herbste lernte ich ein niedliches, schelmisch vergnügtes Mädel kennen, die Tochter eines gutsituierten Kaufmanns, der nicht weit von der Mainlände wohnte. Weil die Existenz dieser jungen Dame auf eine italienische Hochzeitsreise ihrer Eltern zurückzuleiten war, hatte sie den schönklingenden Namen Nannina bekommen. Ein leckes, munteres Ding! Und unternehmungslustig, gern aufgelegt zu jedem Streich, der nur halbwegs im Bereich des Möglichen lag. Spät in der Nacht, wenn ihre ahnungslosen Eltern schon in [314] den Federn lagen, stahl sie sich aus dem Haus und huschte zu mir in eine finstere Straßenecke. Es war schon kühle Zeit, schon die erste Dezemberwoche. Und jetzt, im sterbenden Herbste, lagen an der Mainlände allnächtlich viele von den großen Obstschiffen vertaut, die den Main und Rhein hinunterfuhren bis nach Holland. Alle größeren dieser Schiffe hatten kleine niedere Kabinen. Die Schiffer soffen immer die ganze Nacht in den nahen Kneipen. Und die stillen, dunkeln Schiffskabinen standen leer. Diese Entdeckung machte ich an einem mondhellen Abend, während ich, in Uniform, auf Nannina wartete. Und auf einem dieser Obstschiffe, das köstlich nach reisen Äpfeln duftete, fand ich ein feines Hüttchen mit einer Pritsche, auf welcher linde Decken lagen. Ich empfand ein Hochgefühl, das mich an Kolumbus denken ließ – er kann nach langer Irrfahrt die Küste Amerikas nicht freudiger begrüßt haben! Und als ein Viertelstündchen später Nannina zu mir in den Häuserschatten gesprungen kam, hob ich flink das zappelnde, kichernde Ding auf meine Arme. Im Saus mit meiner zarten Last hinüber durch das Mondlicht! Und hinein in das stille Hüttchen! Auf dem feuchten schrägen Verdeck wär' ich beinah der Länge nach hingeschlagen, weil ich über [315] meinen Säbel stolperte. Das gab was Erkleckliches zu lachen, ehe wir – zwei kleine Sklaven der experimentierenden Natur – dieses blinde, hungrige und dennoch ungeschickte Küssen begannen. Schon drohte die verhängnisvolle Stunde schwach zu werden. Da führ ein krachender Stoß durch das Apfelschiff, das plötzlich verdächtig zu schaukeln begann. Wir zwei Verzückten zuckten erschrocken auseinander, und als ich den Kopf zur Kabinentür hinausstreckte, drehte sich das lange Schiff gerade vom Ufer weg und in den Strom hinein. Mir zitterte das gewohnte schwäbische Wörtchen aus der wirbligen Seele: »Herrgottsaxe!«

Waren die Taue zufällig losgegangen? Oder hatte so ein verwünschtes Aas, das mich mit dem Mädel in die Kabine huschen sah, die Stricke aus Schabernack gelöst?

Ich merkte gleich, daß die Sache nicht unbedenklich war. Die steinerne Mainbrücke stand in der Nähe, und das Apfelschiff trieb querseits auf einen Pfeiler zu. Hinter meinem Rücken klang ein erstickter Laut Nanninas, während ich zum Steuer hinsprang und aus Leibeskräften zu schanzen begann, um das Schiff in gerade Fahrt und gegen die Mitte des Brückenbogens zu bringen. Nach wenigen Sekunden rann mir vor [316] Anstrengung der Schweiß übers Gesicht herunter. Mit knapper Not gelang mir der Kampf wider den hölzernen Drachen. Das Hinterteil des Schiffes stieß noch gegen den Brückenpfeiler, so tüchtig, daß ich fast einen Purzelbaum über den Steuerschaft hinüber ins Wasser gemacht hätte. Doch als wir die Brücke hinter uns hatten, war das Apfelschiff flußabwärts in schöner Fahrt.

Das Ruder wagte ich nicht auszulassen. Und vor der Kabinentüre stand Nannina im milchigen Mondschein, wortlos, und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Ich rief ihr zu: »Da brauchst du keine Angst zu haben! Ich bring dich schon hinaus!«

Wäre die Situation nicht so verwünscht gewesen, sie hätte romantisch wirken können. So eine feine, billige Mainfahrt im Mondschein! Die sanft vorübergleitenden Ufer mit silbernen Lichtern und tintenschwarzen Schatten! Und guck, da verschwanden schon die letzten Häuser von Würzburg? Und Nannina sang ein jammervolles Klagelied um ihren guten Ruf.

Ich arbeitete am Steuerruder wie ein hochbezahlter Flößer. Ein Viertelstündchen außerhalb der Stadt gelang es mir, das Apfelschiff aus dem glatten Strom gegen flachsandiges Ufer hinzudrängen. [317] Pumps! Jetzt saßen wir fest. Je wütender ich mit dem Ruder kochlöffelte, umso zäher wühlte sich der Kiel in den Grund. Langsam drehte sich der Apfeldrache um seinen Schnabel herum. Und dann rührte er sich nimmer. Zwischen uns und dem Lande lag noch stubenbreit das im Mondschein blinkende Wasser. Draußen am Ufer die schönste Straße, silbrig schimmernd zwischen schwarzen Stauden und Bäumen! Ich machte die Erfahrung, daß es Augenblicke gibt, in denen man sich nach einer festen Straße heißer sehnen kann als nach dem süßesten Himmelreich des Lebens. Während ich mit einer Stange den Grund des Wassers zu prüfen begann, verwandelte sich Nanninas Klage in bittres Weinen, bei dem sie nur noch dieses einzige Wörtlein fand: »Ach Gottche, ach Gottche, ach Gottche ...«

Ratloses Zuwarten machte die Sache nicht besser. Da mußte was geschehen! Ich sprang ins Wasser, das mir schwer in die Reitstiefel hineingluckste. Dieses Nasse und Kalte ging mir herauf bis zu den Hüften. »Komm, Schatz!« Vorsichtig watend trug ich das Mädel zum Ufer hinüber. Kein Zipfelchen ihres Rocksaumes wurde feucht. Ich hoffte für meinen Ritterdienst einen zärtlichen Dank zu ernten. Kaum aber fühlte [318] Nannina festen Boden unter den Füßen, da brach sie in jähzorniges Schelten aus und beschimpfte mich fürchterlich. Sie schien zu glauben, daß ich die Stricke des Apfelschiffes losgebunden hätte. Diesem schnöden Wandel einer guten Seele gegenüber war ich so perplex, daß ich eine Weile gar kein Wort herausbrachte. Und als ich endlich reden konnte, jagte das wütende Mädel schon auf der silberschönen Straße davon, der Stadt entgegen.

Nachdenklich, über die Rätselnatur des Weibes grübelnd, setzte ich mich in den Straßengraben, zog die Sporenstiefel herunter und goß das Wasser heraus. Meine hirschlederne Reithose war wie ein schlappender Schwamm. Und Herrgott, wo war denn meine Mütze, mein Säbel? Die lagen noch drüben auf dem Apfelschiff! Also nochmal durchs Wasser hin und her – diesmal barfüßig, um die teuren Stiefel zu schonen. Dann ein strammer Marsch, um trocken und warm zu werden. In einer Kneipe bei der Mainbrücke, im ›Wilden Mann‹, goß ich mir einen Schoppen Glühwein in die enttäuschte Jünglingsseele. Es ging auf die sechste Morgenstunde zu, als ich hinaufkam zum Festungstor. Und beim Mittagläuten, während ich über die steile Felsentreppe heruntersauste, konnte ich weit draußen auf dem schimmernden [319] Main einen kleinen schwarzen Klotz gewahren. Unser Apfelschiff! Und fünf weiße Käferchen wimmelten auf ihm herum: die Schifferknechte in Hemdärmeln.

Eine sehr verdrießliche Stimmung war in mir. Der hölzerne Drache, mit dem ich kämpfen mußte, hatte wohl an die hunderttausend reifer, duftender Äpfel in seinem Leib getragen! Und auch nicht einen einzigen hatt' ich angebissen.

Nannina, als ich ihr beim Sonntagsbummel in der Domstraße begegnete, schmunzelte lustig und sah mich freundlich an. Ihr rätselhafter Zorn war also verraucht, und vermutlich hatte ihr guter Ruf keinen fühlbaren Schaden erlitten. Doch gewitzigt war sie. Denn niemals wieder kam sie in nachtschlafender Zeit herunter zu den gefährlichen Obstschiffen.

Ich geriet um diese Zeit in chronische Finanzkalamitäten. Mein Augsburger Spargroschen war verbraucht, ich hatte Rückstände bei der Korpskasse und kleine Schulden bei Kameraden. Das wurde wie ein Stein, der mir die Rippen scheuerte. Und eines Abends, in huscheliger Dämmerstunde, vertraute ich mich der Mutter an. Trotz der Dunkelheit in der Stube sah ich, daß Mama erblaßte. »Bub! So tust du mich enttäusche!« Weiter [320] machte sie mir keinen Vorwurf. Doch ihre Hände zitterten, als sie die Tischlampe anbrannte. Aus ihrem braunpolierten Spiegelkästchen holte sie sechs oder sieben kleine Schächtelchen heraus, ließ das Geld, das sie enthielten, durch die Fingerspitzen gleiten, zählte und rechnete – und schob mir schließlich hin, was ich brauchte, um meine Schulden decken zu können. Sie sagte: »Papa darf nix wisse davon. Der Kummer tät ihm die Seel abdrücke.« Wortlos küßte ich die Mutter. Und ich glaube: dieser stumme Kuß war der heiligste Schwur, den ich je im Leben geschworen habe.

Ich nahm das Geld, rannte in die Stadt und bezahlte meine Schulden. Mir war zumute wie nach einem Bad. Gegen zehn Uhr kam ich wieder heim. Papa war ausgegangen. Die zwei jüngsten Geschwister lagen schon im Bett; meine Schwester Berta, die ein schlankes und hübsches Mädel geworden, nähte an einem Stücklein für ihre zukünftige Aussteuer; und die Mutter saß bei ihrem Haushaltungsbuch und rechnete, rechnete, rechnete. Und da sah ich etwas. Während die Mutter rechnete, rieb sie mit zwei Fingern der linken Hand immer wieder und wieder eine Stelle ihres Haares über der linken Schläfe – und an dieser Stelle sah ich in ihren dunkelblonden Strähnen einen [321] talergroßen Fleck, der zu ergrauen begann, obwohl die Mutter erst Mitte der Vierzig war.

– Viele Jahre später, als dieser Fleck in ihrem Blondhaar schon völlig weiß geworden, konnte die Mutter lachen drüber und heiter sagen: »Das ist mein Sorgeplätzle! Da hab ich viel hineingeriebe, aber wenig herausgekratzt.« –

Damals an jenem Würzburger Rechnungsabend, als ich dieses verfrühte Sorgengrau in meiner Mutter Haar zum erstenmal gewahrte, fuhr mir ein weher, quälender Schreck ins Herz. Ach, wieviel gute Vorsätze machte ich in dieser schlaflosen Nacht!

Neben den Sorgen, die das teure Leben in der Stadt gesteigert hatte, war Mutters einst so unverwüstliche Heiterkeit von einem nagenden Heimweh nach Welden schwer bedrückt. Sie fühlte sich in dieser Enge des städtischen Lebens nicht wohl, konnte das Schöne und Frohe von da draußen nicht vergessen: ihr großes und sonniges Forsthaus, ihren Garten mit den tausend Blumen, ihren rauschenden Wald. Wenn aber trübe Laune zu uns in die Stadtstube kam, dann war's doch immer die Mutter wieder, die als erste einen lustigen Sprung hinauf ins Helle machte und mit ihren drolligen Heiterkeiten uns alle wieder fröhlich stimmte.

[322] Ganz selig war sie darüber, daß ich es während der folgenden Wochen mit meinen guten Vorsätzen sehr gewissenhaft nahm. Ich wurde schrecklich solide, märchenhaft sparsam, besuchte nur zweimal in der Woche die Korpskneipe und verbrachte fast jede dienstfreie Stunde daheim. Und da gab es zwischen den dunklen, gräßlichen Tapeten der Stadtwohnung manchmal so gemütliche Abende, wie einst in der lieben weißen Stube zu Welden. Alle fidelen Geschichten, die wir da draußen im schwäbischen Waldwinkel erlebt hatten, wurden wieder und wieder erzählt, und wir lachten drüber, daß die Mutter schließlich unter vergnügten Tränen klagen mußte: »O Gott, o Gott, jetzt kann ich aber nimmer!« Nur schade, daß der Vater selten dabei sein konnte, wenn wir so lustig waren. Er arbeitete häufig bis Mitternacht und länger in seinem Bureau.

Zwischen Weihnachten und Sylvester gab es schöne, sonnige Schneetage mit grimmig kalten Nächten. Daß mir das scheinbar Belanglose dieser milden Mittagsstunden und dieser knirschenden Nachtfröste im Gedächtnis blieb, das hat einen bestimmten Grund.

In jenen schönen Schneetagen, so oft ich von der Festung zum Mittagstische heruntergelaufen [323] kam, begegnete mir auf den Glaciswegen zwischen den verschneiten Bäumen regelmäßig eine nette, freundliche Gouvernante, die einen bildhübschen, dreijährigen Knaben spazieren führte. Bei der dritten Begegnung lächelten wir beide, bei der vierten grüßte ich, und nach der fünften saßen wir plaudernd auf einer Bank in der goldenen Sonne, während das herzige Bübchen einen blauen Spielzeugschlitten auf dem Schneewege hin und her zog. Diese zutrauliche Gouvernante – ihren Namen weiß ich nimmer – stand im Dienste einer ausländischen Dame, die getrennt von ihrem Manne lebte und vor kurzer Zeit von irgendwoher nach Würzburg übersiedelt war.

Bei der sechsten Begegnung, am Neujahrstage, bewilligte mir die liebenswürdige Gouvernante für den Abend ein Rendezvous vor der Haustüre. Um neun Uhr war ich bestellt. Aber die Gouvernante kam erst um halb Zwölf herunter, als mir von der schauderhaften Kälte schon die Zähne klapperten und die Füße in den Reitstiefeln pelzig waren.

Es gibt einen Tafelscherz: Gefrorenes, in dessen hohler Mitte ein kleines Feuerchen brennt. Dieser Speise war ich zu vergleichen. Und Abend für Abend ging das so: ein paar Stunden mußte ich [324] schnattern und frieren, ehe das Feuerchen meines wirblig werdenden Blutes mich zwecklos marterte. Doch schließlich wirkte der Anblick meines geduldigen Leidens. In der Nacht des heiligen Dreikönigstages – (dem hohen Feste zu Ehren war ich in guter Uniform und trug den Tschako) – schmolz das Herz der Gouvernante in Mitleid hin. Sie faßte mich, der ich zwischen Frost und Gluten zitterte, plötzlich beim Handgelenke, zog mich in den finsteren Flur, drückte lautlos die Haustür zu und flüsterte: »Den Säbel mußt du festbinden, daß er nicht rasselt. Und die Sporen mußt du herunterschnallen und in die Tasche stecken!«

Ich schob den Säbel unter die Koppel, daß er sich nimmer rührte. Doch an den Sporen brachte ich die Schnallen nicht auf; so beinsteif waren mir die Finger in den hirschledernen Handschuhen gefroren. Nach ein paar nutzlosen Versuchen log ich in der Dunkelheit: »Jetzt hab ich sie im Sack!« Diese Lüge wurde mein Verhängnis. Ja, ja, es stimmt schon: man soll nicht lügen!

Im Schleichtempo ging's über zwei Treppen hinauf. Die brave Gouvernante führte mich, wie ein Schutzengel das ihm anvertraute Kind. Ganz leise, leise! Nur der Schnee, der an meinen Sohlen klebte, knirschte ein bißchen. Die Flurtüre war [325] augenscheinlich gut geölt. Nun standen wir in stockschwarzer Finsternis. Auf der Treppe hatte man doch noch die Hand vor den Augen gesehen. Hier sah man nichts mehr. Vorwärts, Schritt um Schritt, auf den Zehenspitzen! Jetzt eine leise Stimme: »Obacht! Da sind zwei Stufen!« Doch die Warnung kam schon zu spät. Beim jähen Niedertappen blieb ich mit dem Sporn im Läufer hängen. Ich stolperte und fahr ins Leere hinein, der Säbel wurde locker und rasselte, mein Helm flog davon, machte polternde Sprünge auf dem Boden – blumm, blumm, blumm – und klirrte energisch gegen eine Türe.

Ich wünschte, daß die Häuser ohne Dächer wären und daß ich Flügel hätte. Hinter mir ein erstickter Schrei, leises Kleiderrauschen und flüchtig enteilende Schritte. Ein paar Sekunden stand ich atemlos und wie versteinert. Mein Helm, der irgendwo im Schwarzen lag, wackelte noch immer wie ein Waschgeschirr auf einer Marmorplatte. Ich arretierte den Säbel, griff mit beiden Händen in die Finsternis und suchte den entflogenen Helm zu ertappen. Ich fand ihn nicht – weil das Luder gerade jetzt zu wackeln aufhörte. Wütend zischelte ich den Namen der Gouvernante, den ich heute nimmer weiß. Kein Laut gab Antwort.

[326] Ich stand allein auf schwarzer Flur! – Gouvernante, dein Name war Feigheit!

Da! Ein Lichtschein! Nah vor mir ging eine Tür auf. Und das flackernde Kerzenlicht in erhobener Hand, erschien eine junge, schöne Dame mit Papilloten im schwarzen Haar, bekleidet mit einem Schlafrock aus safrangelber Seide und duftend wie der Lenz im Mai.

Nur Augen und Nase hatt' ich, keine Stimme. Der Schreck schnürte mir die Kehle zu und ließ meinen Herzschlag aussetzen.

Im ersten Momente schrie die schöne, junge Dame ein bißchen. Doch gleich verlor sie alle Furcht, machte nur große, verwunderte Augen und sagte etwas mit heftiger und dennoch wohlklingender Stimme. Ich merkte sofort, daß sie französisch redete. Doch weil ich das Französische auf dem Gymnasium nach philologischer Methode studiert hatte, verstand ich kein Wort.

Nun redete mich die Dame in meiner Muttersprache an – sie sprach das Deutsche richtig, nur ein wenig langsam und mit fremdländischem Akzent.

»Was machen Sie hier?«

Statt ›hier‹ sagte sie ›hirrr‹.

Die Stiefelhacken aneinanderklappend, daß die Sporen klirrten, antwortete ich in verzweifelter [327] Ratlosigkeit: »Ich suche meinen Helm ...« Und weil ich aus Heinrich Heine wußte, wie man vornehme Damen tituliert, drum fügte ich noch dieses weltmännische Wort hinzu: »Madame!« Im gleichen Augenblick gewahrte ich meinen Helm, der neben dem Saum des safrangelben Schlafrockes funkelte. »Pardon, Madame!« Ich faßte den Flüchtling, wie ein Habicht das fette Rebhuhn ergreift. Dabei gewahrte ich, daß zwei winzige Füßchen nackt in grünen Pantöffelchen staken.

Die Dame betrachtete mich prüfend. »Wie haben Sie Irrren Helllem in meiner Wonnnung hirrr verilorrren?«

»Ich stolperte, Madame, und da fiel mir der Helm vom Kopf herunter.« Nun stand ich streng nach militärischer Vorschrift: in der linken Hand den Säbel, auf dem rechten Arm den Tschako. Doch es war mir schrecklich zu Mut. Und in meiner verstörten Seele brodelte nur immer der eine Gedanke: Wenn ich nur schon draußen wäre! Und dieser andere: Vielleicht ruft sie einen Polizeidiener und läßt mich auf die Wache führen?

Unbarmherzig fragte sie: »Wie sind Sie in meine Wonnnung hirrrein gekommen?«

»Ich glaube, durch die Türe, Madame?« [328] »Werrr hat Innnen die Tirrre aufgespirrrt?«

Die Wahrheit wollt' ich nicht sagen, eine vernünftige Lüge fiel mir nicht ein. Drum blieb ich stumm, sehr lange, sah die Dame immer an, und es mag wohl ein heiß um Erbarmen flehender Blick in meinen Augen gewesen sein, denn nach einer Weile sagte die schöne junge Dame sehr entschieden, aber doch nicht unfreundlich: »Spirechen Sie! Ich will das wissen. Aber kommen Sie hirrrein zu mirrr! Hirrr außen ist es kalt.« Ruhig trat sie in das Zimmer, unter dessen Türe sie gestanden.

Ich konnte mich nicht vom Platze rühren. Und heiße Tropfen rieselten mir über die Schläfen herunter.

Da klang es aus der Türe: »Nunnn?«

Die Augen schließend, tat ich einen tiefen Atemzug, riß die Lider wieder auf – und gehorchte. Von diesem Zimmer hab ich nicht viel gesehen. Verzweifelt sah ich nur immer die Dame an. Und von der Seite fiel mir etwas rötlich Schimmerndes in die Augen, als wäre da nebenan eine Stube, durch deren halboffene Tür ein rosafarbenes Licht herausglänzte. Und dieser starke Duft! Ich mußte an den Garten meiner Mutter mit den tausend Blumen denken. Und das feine [329] Sesselchen, auf dem die Dame als nächtliche Femrichterin thronte, hatte eine vergoldete Lehne. Auf ovalem Tischchen flackerte die schiefbrennende Kerze.

Die Dame deutete auf einen Stuhl – und ich verstand, daß ich mich setzen müßte.

»Nunnn erizälllen Sie mirrr alles! Aufrichtig und warrr! Aber wollen Sie nicht Irrren schiwerrren Mantel hirrrunternemmen? Hirrr ist es serrr warrrem.«

Nur warm? Wie in einem Backofen war es. Nach wenigen Sekunden meinte ich in einem heißen Bade zu sitzen. Doch ich schüttelte den Kopf.

»Ich kann nicht lange bleiben, Madame, ich muß jetzt gleich in die Festung hinauf.«

»Hätten Sie auch so filink in die Festung müssen, wenn Sie Irrren Helllem nicht verilorrren hätten?« Sie lächelte – natürlich aus Hohn. Und ich spürte, daß mir eine Blutwelle wie Feuer in die Wangen schoß. »Erizälllen Sie jetzt: Werrr sind Sie?«

Ich nannte ehrlich meinen Namen und sagte, daß ich die Universität besuche – (das war eine entschuldbare Übertreibung) – und daß ich gleichzeitig als Einjähriger diene.

Diese Aufrichtigkeit bei meinen Personalien [330] schien das Mißtrauen der Dame zu verscheuchen. Augenscheinlich merkte sie, daß ich für mich selbst keine Schonung begehrte und alle Sühne für die Untaten des Helmes ritterlich auf meine Schultern nehmen wollte. Das schien ihr zu gefallen. Und beinahe wohlwollend sagte sie: »Guttt! Erizälllen Sie!«

Jetzt hilf mir, heilige Phantasie! Bei diesem Stoßseufzer meiner bedrängten Seele kam mir auch der Gedanke, daß die Gouvernante doch wohl so schlau sein würde, draußen vor der Türe mein Gespräch mit der Dame zu belauschen, um dann ihre Aussage mit der meinen in Einklang bringen zu können. Drum begann ich mit sehr lauter Stimme: »Die Sache war so, Madame. Ich begegnete in den Anlagen mehrmals einem jungen Fräulein ...«

»Mit einem Knabbben?«

»Nein, Madame. Das Fräulein war immer allein. Und dieses Fräulein, wie ich ehrlich gestehen muß, gefiel mir. Das ist doch kein Verbrechen, nicht wahr, Madame?«

»Nnnein. Aber sagen Sie nicht immer Madame zu mirrr. Ich bin keine Hebbbamme. Sagen Sie Barrronnnin!« Während sie mir diese Lehre erteilte, begann sie mit zierlichen Fingern die [331] weißen Papilloten aus ihrem schwarzen Haar herauszudrehen und auf das Tischchen zu legen. Dabei fielen ihr die weiten safrangelben Seidenärmel bis zu den Schultern zurück. Die Dame hatte sehr schöne Arme. Und manchmal, wenn sie mit ihren ruhigen Kohlenaugen meinem verstörten Blick begegnete, schmunzelte sie ein bißchen. Vermutlich durchschaute sie meine plumpen Lügen und machte sich innerlich über mich lustig – und dachte: »Warte nur, du!« Dieser bange Gedanke ließ mich bei meiner Erzählung nicht in rechten Fluß geraten. Meine Sätze wurden, je lauter ich sie schrie, immer stottriger. Schließlich brachte ich aber doch eine Art von Zusammenhang in meine Fabel: ich hätte dem hübschen Fräulein nachgespürt, hätte herausgebracht, daß es in diesem Hause wohne – wobei ich mich allerdings auch getäuscht haben könnte – und hätte nun heute den Entschluß gefaßt, mich dem Fräulein in etwas auffälliger Weise bemerkbar zu machen. Und da hätte ich nun in der Nacht vor der Haustüre gewartet, bis ein Dienstmädchen herausgekommen wäre, um Bier zu holen. Mit diesem Mädchen hätte ich mich in ein Gespräch eingelassen und hätte nach dem Fräulein gefragt. Aber das Mädchen hätte mich entweder ganz falsch verstanden, [332] oder – kurz und gut, ich wäre da augenscheinlich an die falsche Türe geraten.

Als ich so weit gekommen war, unterbrach mich die Dame: »Warum schireien Sie so? Ich hörrre serrr guttt.«

»Verzeihung, Frau Baronin, ich bin das vom Exerzierplatz so gewöhnt.«

Die Dame lachte. Das machte mir neuen Mut. Und ich erzählte weiter: während das Dienstmädchen Bier holte, hätt' ich mich ins Haus herein geschlichen, hätte mich bei der Kellerstiege verborgen, hätte gewartet, bis es im Hause still und dunkel wurde – und dann wär' ich über die Treppe heraufgeschlichen und hätte an die Türe gepocht – zu meinem größten Bedauern an die falsche.

»Und wenn es nunnn die richtige Tirrre gewesen wärrre?« fragte die Dame. »Warrren Sie da vielleicht der Meinung, es wirrrde pa grrâce de Dieu gerade Irrr Firäulein kommen, kein anderer Mensch, und Innnen die Tirrre aufspirren? Und haben Sie vielleicht eriwartet, dissses Firäulein, mit dem Sie noch nie ein Wort gespirochen haben, wirrrde Sie gleich von der Tirrre weg mitnemmmen in irrr Bett?«

Ich brauchte über dieses verwunderliche Wort [333] keinen Schreck zu heucheln. Ganz ehrlich empfand ich ihn. Und stotterte: »Aber nein! Um Gotteswillen! Nein, Frau Baronin! Einen solchen Gedanken hab ich wahrhaftig nicht gehabt. Ich glaubte nur ... ich dachte ...« Noch mehr als die unerwartete Frage brachte mich das sonstige Verhalten der Dame aus dem Konzept. Sie hatte die letzte Papillote fortgenommen, schüttelte das stolze Haupt, und da war nun plötzlich eine dichte Lockenfülle wie ein schwarzer Heiligenschein um ihr schönes lachendes Gesicht herum. Immer lachte sie und war so schön, daß ich sie gar nimmer anzusehen wagte. Ich guckte nach allen Winkeln des Zimmers, ohne doch das geringste in diesem Raum zu sehen; und in meinem Soldatenmantel begann mir so schauderhaft heiß zu werden, daß mir der Atem fast verging.

Die Dame schlug mich mit einer Papillote auf die Hand und sagte lachend: »Sehen Sie mirrr in die Augen, junger Mann, und spirechen Sie die Warrrheit!«

Ich gehorchte und schaute der Dame in die schönen, funkelnden Augen. Aber wie sah die Wahrheit aus, die ich redete! Was ich da in meiner schwülen Beklommenheit zusammenstotterte, das wurde eine fürchterliche Konfusion, der bare [334] Blödsinn. Ich erklärte unter schweren Atemzügen: allerdings, von einem glücklichen Zufall hätte ich mir das erhofft, daß gerade das von mir gesuchte Fräulein zur Türe kommen würde, um zu sehen, wer da so spät noch klopfe; doch jede unlautere Absicht wäre mir fern gewesen, ich hätte nur den Plan gehabt, eine höfliche Ausrede zu gebrauchen, etwa: daß ich an die falsche Türe geraten wäre, und würde mich damit begnügt haben, dem Fräulein auf solche romantische Weise gezeigt zu haben, daß ich ihm zu Gefallen ginge.

In der Wendung, die ich da gebrauchte, muß eine mir unbewußte, komische Wirkung gelegen haben. Denn die Dame lachte, wie man bei einer wirksamen Anekdote zu lachen pflegt. Vielleicht hab' ich auch – obwohl ich mich bemühte, reines Hochdeutsch zu sprechen – in der Aufregung ein bißchen geschwäbelt. Dadurch mag meine verzweifelte Hypothese noch drolliger geworden sein. In der Hilflosigkeit, die ich dem heiteren Lachen der Dame gegenüber empfand, brachte ich mein Märchen nur mühsam zu Ende: daß mir die Tür geöffnet wurde; daß im Dunkel irgend jemand vor mir stand – daß ich einen leisen Schrei vernommen hätte – daß dieser Jemand erschrocken davongelaufen wäre – daß ich über die Schwelle [335] getreten, um eine Entschuldigung vorzubringen, und daß ich plötzlich meinen Helm verloren hätte, weil ich in der Finsternis gestolpert wäre. Ich atmete auf, als dieses Letzte gesagt war.

Die Dame lachte nicht mehr. Sie beugte sich in der safrangelben Seide und mit dem zitternden Lockendunkel langsam gegen mich her. Und sah mich schweigend an. Und lächelte schön. Und dann sagte sie freundlich zu mir, fast gütig: »Sie scheinen ein serrr braver junger Mann zu sein? Aber noch serrr unerfarrren? Wie?« Nun legte sie ihre Hand auf meinen Arm. »Ich sehe, Innnen ist serrr heiß. Wollen Sie nicht doch den Mantel hirrrunter nemmmen?«

Erschrocken sprang ich auf – (Warum erschrak ich denn nur so fürchterlich?) – und stammelte: »Nein! Ich danke! Nein! Jetzt kann ich auch nicht mehr bleiben. Jetzt muß ich fort. Ich muß auf die Festung hinauf. Wenn ich mich verspäte, bekomm ich morgen Kasernarrest.«

Sie erhob sich. »Nunnn ... das will ich nicht verischulden, daß Sie Sterafffe bekommen.« Mit zusammengezogenen Brauen dachte sie über irgend etwas nach. Dann schmunzelte sie und sagte leise, doch sehr gütig: »Werrr aber soll Sie jetzt aus dem Hause biringen? Irrr Firäulein ist [336] nicht da, Sie sehen. Und ich kann Sie doch nicht hinunterfirrren ... so!« Dabei machte sie mit der safrangelben Seide eine ganz sonderbare Bewegung. »Kommen Sie! Ich werrrde Innnen den Schilüssel geben. Und morgen biringen Sie mirrr den Schilüssel wieder zurück. Sie selbst! Am Abbbend, um sieben Urrr! Dann tirinken wirrr eine Tasse Tee zusammen. Werrrden Sie kommen? Ija?«

Ich verbeugte mich unter einem Wohlgefühl der Erlösung.

Die Dame mit der flackernden Kerze ging mir voran in den Flur hinaus, gab mir den Hausschlüssel und öffnete mir die Gangtüre.

Ich schlug die Sporen aneinander und verbeugte mich wieder. Und sagte flüsternd: »Gute Nacht, Frau Baronin! Ich danke sehr ... für alle gütige Nachsicht ...«

Während ich mich zur Türe hinausschob, nickte mir die Dame lächelnd zu und strich mir in einer Art von mütterlicher Zärtlichkeit mit der Hand übers Haar. –

Herrgott, wie war mir wohl, als ich draußen stand im Schnee! Ich sauste durch die kalte Nacht davon, noch immer schwitzend in meinem Mantel. Doch als ich heimkam in mein eisiges Stübchen, [337] war ein wunderlich verdrossenes Gefühl in mir. Warum denn nur? Mit dieser feigen Gouvernante war ich innerlich doch fertig! Ganz und gar!

Als ich im Bett lag, konnte ich nicht schlafen. Mir war so schwül, als hätt' ich noch immer meinen Mantel an. Und immer sah ich in der Finsternis die safrangelbe Seide und diesen schwarzen Heiligenschein um das schöne Gesicht herum. Aber durch scharfes Nachdenken brachte ich bald heraus, was ich von diesem Weib zu halten hatte! Herrgott, war das eine Schlaue! So einsam in der Nacht, hatte sie einfach Angst vor mir und meinem ungeschliffenen Säbel bekommen. Und drum wollte sie mir den Mantel herunterschwatzen, um mich festzulegen für den Polizeidiener. Und weil ihr das nicht gelang, und weil sie nicht den Mut hatte, Lärm zu schlagen, gab sie mir den Hausschlüssel und nahm mir das Versprechen ab, daß ich ihn selber wieder bringen müßte. Und wenn ich den Schlüssel morgen hinauftrage, kommt die Konfrontation mit der Gouvernante. Und die Polizei ist da. Und man nimmt mich hopp wegen Hausfriedensbruch mit sonstigen Reaten. Eine schöne Tasse Tee! Serrr guttt! Mit diesen slowakischen Aristokratinnen muß man vorsichtig sein! Serrr vorisichtig!

[338] Nachdem ich diesen Sieg als denkender Mensch erfochten hatte, konnte ich fest und ruhig schlafen, bis mich der Wecker für die Festung aus dem Schlummer rasselte. Und mittags, als ich aus dem Dienste kam, sandte ich der schlauen Dame den Hausschlüssel unter Kuvert durch einen Dienstmann zurück.

– Ach, ich war ein großer Esel! Wär' ich doch nur ein bißchen klüger gewesen! Damals! Ich glaube, mir wäre dann viel Häßliches erspart geblieben. Und sicher wäre mir der taumelnde Sprung aus dem Jünglingsalter in die Mannbarkeit, dieses Weheste und Süßeste des Lebens, viel schöner und ungefährlicher gekommen, als ihn mir die Wirklichkeit nur wenige Tage später bringen sollte. –

Noch in der Woche der heiligen drei Könige, eines Mittags, begegnete ich in den verschneiten Glacisanlagen dem allerliebsten Knaben wieder. Er hatte eine neue Gouvernante.

In mir erwachte das Erbarmen mit der anderen, die verschwinden hatte müssen, durch meine Schuld. Eine Art von pathologischer Revolte begann in meinem Gehirn. Ich glaubte immer an die verschwundene Gouvernante zu denken – und dachte doch immer nur an die Dame in der safrangelben [339] Seide. Es vollzog sich an ihr ein Läuterungsprozeß, wie ihn die Weltgeschichte bei der Weißwaschung des Tiberius erlebte. War meine safrangelbe Dame denn wirklich so ›schlau‹ gewesen, wie sie mir in meiner klugen Logik erschienen? Die Worte, die sie zu mir gesprochen, klangen in meiner Erinnerung immer gütiger und sanfter, immer wohlwollender und mütterlicher. – Mütterlich? – Ach, Unsinn! Die schöne Dame war doch sicher noch keine dreißig Jahr alt! Und überaus ehrbar mußte sie sein. Sonst hätte sie der Gouvernante nicht so flink und streng den Abschied gegeben! Mich aber hatte sie geschont! Mit meinem Leichtsinn und meiner ›unerfarrrenen‹ Jugend hatte sie Nachsicht empfanden! Bei solchen Gedanken, die mich durch Tag und Nacht begleiteten, bekam die Dame für mich allmählich einen wirklichen Heiligenschein, keinen schwarzen, einen goldstrahlenden! Und in meinem Herzen erblühte das große, schöne, reine Mitleid. Eine Dame, die, so jung und so schön, im Leben einsam geworden, mußte Schweres erlebt haben! Von ihrem Manne getrennt? Natürlich durch die Schuld des Mannes! Bei dieser Vorstellung sah ich einen Asiaten, unter dessen Bild man den Namen Tamerlan hätte schreiben können. Und [340] man weiß doch, wie diese ungebildeten und brutalen Rohlinge das Weib mißhandeln, beschimpfen und knechten! Und geduldig hatte die Dame das grauenvolle Zusammenleben ertragen, bis diese Hölle auf Erden über ihre Kräfte ging. Und da nahm sie ihr geliebtes Kind und floh. Wie viel Schreckliches muß eine Dame erfahren haben, die sich von Petersburg oder Moskau, von Czernowitz oder Lemberg bis nach Würzburg hin verzieht! Und hier lebte sie nun einsam und verlassen! Und war gütig und herzlich zu mir, obwohl ich den Frieden ihres Zufluchtsortes in abscheulichster Weise gestört hatte. Und statt ihr als getreuer und verläßlicher Freund meine Dienste anzubieten, hatt' ich ihr den Hausschlüssel durch einen Dienstmann zurückgesandt. Die Reue über diese Niedertracht bedrückte mich, daß ich ruhelose Nächte davon hatte.

Mein Mitleid war verzückte Liebe geworden, bevor ich es merkte. Und war kein reines Mitleid mehr! Ach, meine schöne, schöne Dame! Und diese süßen nackten Füßchen in den grünen Pantöffelchen! Und unter der safrangelben Seide hatte sie nur was Feines und Weißes getragen – sonst nichts – sie war doch, als mein Helm gepumpert hatte, in dem rotbeleuchteten Zimmer [341] aus dem Bett gesprungen, wie sie lag und schlief, und war nur schnell in diesen gelben Safran hineingeschlüpft. Und so stand sie vor mir! Immer wieder sah ich die seltsame Bewegung, die sie mit der zarten Seide bei den Worten machte: »Ich kann Sie doch nicht hinunterfirrren ... so!« Und dieser Duft, der von ihr ausgegangen! Nach acht Tagen war dieser Duft noch immer an meinem Soldatenmantel zu spüren, ganz fein und leise, süß und zart!

Rote Nebel woben sich mir um Gehirn und Blut. Bei allem Glauben an die unanzweifelbare Tugend meiner schönen Dame wurden in schwülen Nächten die Flüge meiner Phantasie verwegen und unbescheiden. Trüb verschwommene, gaukelnde Seligkeiten genoß ich und litt dabei doch schauerliche Qualen. Und das langbehütete Gut meiner gesunden Jugend wurde eine reife Frucht – zum Fallen reif. Und fiel auf keine schöne Wiese.

Während der zweiten Faschingswoche besuchte ich mit meinen Eltern einen Ball, bei dem sich alle vornehme Welt von Würzburg versammelte: Universitätsprofessoren und Korpsstudenten, Offiziere, Staatsbeamte und reiche Kaufleute. Auch meine schöne Dame war gekommen, anzuschauen [342] wie eine Göttin. Sie verursachte großes Aufsehen. Viele Frauen wurden grün und gelb vor Neid. Und ich konnte hören, wie sie klatschten: diese ›Person‹ gehöre nicht hierher; es wäre eine Impertinenz, sie eingeführt zu haben; und sie hätte sich schamlos dekolletiert; und ihr Schmuck wäre falsch. Ich hätte die Weiber, die so redeten, erwürgen können. Ein verzehrendes Feuer brannte in mir. Und immer wollt' ich mich meiner schönen Dame bemerkbar machen. Sie sah mich auch, sie muß mich gesehen haben! Doch sie erkannte mich nimmer, oder wollte mich nimmer kennen, sah über mich weg, als wär' ich Luft. Eine rasende Verzweiflung befiel mich – aber auch die Erkenntnis, daß ich dieses Fürchterliche selbst verschuldet hatte. Einer solchen Frau den Hausschlüssel durch einen Dienstmann zurückzuschicken, das war doch eine unerhörte Gemeinheit! Ach, wie gerne hätt' ich um Verzeihung gebeten. Doch es war nicht in ihre Nähe zu kommen. Ein Schwarm von jungen Herren und Offizieren war immer um sie her, wie Wespen um eine duftende Aprikose. Und einer dieser Offiziere sah mich an und sagte: »Einjähriger! Benehmen Sie sich etwas unauffälliger!« Na also, jetzt kam meiner seelischen Verzweiflung auch noch die militärische [343] Disziplin in die Quere! Ich wollte mich beruhigen, mich weltmännisch betäuben – und trank in meinem Leben die erste Flasche Champagner. Nein, ich war nicht betrunken, ganz gewiß nicht; aber der Schaumwein wirbelte mir doch wie ein Schwarm gefangener Käfer im Gehirn. Meine Mutter gab mir unauffällige Winke und sah mich in wachsender Sorge an. Und schließlich faßte mich Papa am Handgelenk und sagte streng: »Jetzt gehst du augenblicklich nach Hause! Ich will das nicht erleben, daß mein Sohn sich bei einem öffentlichen Feste ungebührlich benimmt!«

Ohne Widerspruch gehorchte ich – und ging – im Herzen die Verzweiflung, in meinem Blute das gepeitschte Verlangen und den halben Rausch.

Es war gewiß das Richtige, was der Vater tat. Und dennoch wär' es besser für mich gewesen, wenn er mich vom Balle nicht fortgeschickt hätte. Denn ich lief in dieser Nacht einer üblen Stunde in die Arme.

Reinheit! Du schöne, weiße, heilige Blume des jungen Lebens! Du Köstlichkeit ohnegleichen! Kein Tier verwüstet und vergeudet dich so blind und sinnlos wie der Mensch, von dem sie behaupten, daß er Geist und eine unsterbliche Seele hätte!

[344] Als mich vor dem Morgengrau der Wecker für die Festung aufrüttelte aus bleiernem Schlafe, kam mir die Besinnung. Ein namenloser Schreck befiel mich, eine brennende Reue, die Angst vor dem Blick der Mutter und die Scham vor meinen eigenen Augen.

[345]
9.
IX.

Nun kam eine tolle, verrückte Zeit. Die Zerknirschung darüber, daß ich ein verlorener Mensch wäre, beschwichtigte sich schon nach wenigen Tagen. Doch es blieb in mir die mit Zorn gemischte Trauer, daß für mich ein Widerliches geworden war, was ein Schönes hätte sein können. Eine ganze Woche brauchte ich, bis ich den Mut fand, der Mutter vor die Augen zu treten. Sie sah mir meine Verstörtheit an, befürchtete aber nur, daß ich wieder in Schulden geraten wäre. Von dieser Sorge konnt' ich sie durch die Versicherung erlösen, daß ich mit keinem Groschen in der Kreide stünde. Da wurde die Mutter wieder ruhig und heiter. Doch gerade dieser herzliche Blick und dieses frohe Lachen machten mich zittern bis ins innerste Leben und trieben mich aus dem Hause. Es litt mich nimmer daheim. Soldatendienst und [346] Fasching kamen mir zu Hilfe. Kaserne und Fechtboden hielten mich am Tage fest, und Abend für Abend rannte ich zu einem Balle, zur Korpskneipe, zu einem Tanzkränzchen, zu einer Maskerade oder zu irgend einem ›Kuhschwoof‹ in der Vorstadt. Nun war es aus und gar mit meiner Schüchternheit. Was sich an Genuß erhaschen ließ, das nahm ich. Liebe war nie in meinem Herzen, nur immer das Verlangen in meinem Blut, und wenn sich der kurze blinde Rausch der Sinne im Grau des Morgens ernüchterte, war auch immer wieder der Widerwille da, den ich meiner Natur nicht abgewöhnen konnte. In jeden Apfel, den ich pflückte, tat ich immer nur einen Biß; dann schob ich ihn wieder fort. Ich konnte nicht finden, was ich mir als »das Schöne« vorstellte. Und die guten gefälligen Dingerchen nahmen mir die flinken Erledigungen niemals übel, begriffen, daß ich so war und daß ich nicht anders sein konnte, weinten ein bißchen, seufzten schwer und blieben mir nach dem raschen Ende noch wunderlich gewogen.

Damals dauerte der Fasching, wenn ich mich recht erinnere, nur siebenundzwanzig Tage. Und die ersten acht Tage abgerechnet, hab' ich während dieser drei Wochen keine Nacht in meiner eigenen [347] Stube verbracht. Geschlafen hab' ich – ich weiß nicht, wann und wo. Zwischen vier und fünf Uhr morgens kam ich für ein paar Minuten heim, zog mich für die Festung um und rannte wieder davon, ehe der Tag zu erwachen begann. Vom Faschingssonntag bis zum Aschermittwoch gewöhnte ich mir das Schlafen völlig ab. Und dennoch sah ich immer aus wie das blühende Leben, war immer anzuschauen, als wär' ich gerade mit brennenden Wangen und hellen Augen von einem festen, erquickenden Schlummer aufgestanden.

Meine Gesundheit hatte nicht gelitten; sie war wie ein Brunnen, der sich nicht ausschöpfen ließ. Doch meine Finanzen waren nach diesen drei tollen Wochen in einer grauenhaften Verfassung. Bei Kameraden, Wirten und Geschäftsleuten stand ich so schwer im Schuldbuche, daß ein weiteres Borgen zur absoluten Unmöglichkeit wurde. An einem fürchterlichen Morgen addierte ich: zweiundsiebzig Gulden! Für mich eine unerschwingliche Summe. Aber bezahltmußte sie werden! Mich ein zweites Mal der Mutter anvertrauen? Lieber die Zunge entzweibeißen! Und so trat in mein junges Dasein die für mich höchst originelle Gestalt des Wucherers herein. Ein erfahrener Korpsbruder gab mir die Adresse, besorgte mir[348] ein Wechselformular und erklärte mir, wie es auszufüllen wäre. Der mir empfohlene Manichäer hatte den ominösen Namen: Lammberger. Ja, er verstand sich drauf die zwanzigjährigen Lämmer so fest zu bergen, daß sie viele, viele Jahre aus dem Pferche drückender Verpflichtungen nicht mehr herauskamen.

Eines Abends bei Schneegestöber fahr ich im Schlitten nach Heidingsfeld hinaus, wo Herr Lammberger wohnte. Sein altes Haus stand finster und lautlos in enger Gasse und unter dem niedergaukelnden Schnee. Ich mußte dreimal läuten. Die Glocke klang in der Tiefe des Hauses und hatte einen sammetschönen Hall. Es war überhaupt in dem ganzen Vorgang sehr viel malerische Stimmung. Im Haus ein lindes Schlurfen. Schwere Riegel klirrten, und sehr vorsichtig wurde die Tür geöffnet. Eine Kerze, deren Flamme von einer vorgehaltenen Hand verdeckt war, beleuchtete den reichlich gelöckelten Christuskopf eines nicht mehr jungen und noch nicht alten Mannes, schlank, ein bißchen wunderlich gebogen, mit schwarzseidenem Käppchen und in dunkelbraunem Rocke, von dessen Kragen ein breiter Fetzen lang über die Brust heruntergerissen war und in der Zugluft baumelte. Etwas Sanftes war in den dunklen Augen, die [349] mich aufmerksam betrachteten und entzündete Lider hatten – wie Augen, die nach vielem Weinen noch nicht trocken wurden. Und mit der schmerzlichen Milde, die in diesen Augen war, fragte der Mann: »Se wünschen?«

Den einen Fuß über der Schwelle, den anderen noch im Schnee der Gasse, sprach ich von meinem Anliegen.

Der Mann betrachtete mich klagend. »Se haben getroffen e schlechten Tag, mein Herr! Was e Geschäft ist, darf ich heut nicht machen. In der Nacht von gestern ist mer de liewe gute Mutter gestorben ... Se sehen ...« Dabei deutete er kummervoll auf den baumelnden Lappen seines Rockkragens. »Aber Gott ist gerecht und erwägt e jeden Umstand. Kommen Se herauf! Se haben e kostspielige Fahrt durch Nacht und Schnee gemacht.« Ein schwermütig bitteres Lächeln. »Und wer weiß, ob es e Geschäft is!«

Nach dieser dunkeln psychologischen Pointe kam wieder etwas Malerisches. Herr Lammberger schien ein bißchen asthmatisch zu sein; drum blieb er bei dem Weg über die steile Treppe hinauf alle paar Stufen seufzend stehen, machte prachtvolle Silhouetten hinter dem flackernden Kerzenlicht, hatte feine Goldlinien um Rock und Löckelchen, [350] und füllte mit seinem zitternden Riesenschatten die tiefen Räume. Nun ein großes, niederes Gemach, altertümliche Geräte, wunderlich geformtes Silber, und ein Duft, den ich im Leben noch nie geschnuppert hatte: halb wie Weihrauch und halb so wohlriechend wie gute Wurst.

Ein langer, prüfender Blick. Und Herr Lammberger sagte: »Ich hab Se schon oft gesehen beim Frühschoppen von de Herrn Franken. Aber Se sind nicht nur e Korpsstudent, mein Herr, Se sind aach en Offesier! Und auf en Offesier kann man e jedes Vertrauen haben.«

Ich mußte aus der Rocktasche des Herrn Lammberger ein Schlüsselchen herausgreifen, an einem alten Sekretär eine Lade aufsperren, von einem Häuflein Silbermünzen hundert Gulden herauszählen – dann auf drei Monate einen Wechsel über hundert Taler schreiben – das ›Popierche‹ in die Lade legen, absperren und das Schlüsselchen wieder in die Rocktasche des Herrn Lammberger gleiten lassen. Er hatte bei dem ganzen Geschäft keinen Finger gerührt.

Auf der klingelnden Heimfahrt durch das Schneegestöber war mir so ähnlich zu Mute wie damals, als hinter dem Schimmelche der brausende Eisenbahnzug über meine Mütze fuhr. Bis zum [351] folgenden Abend waren alle Schulden bezahlt, das gleiche Leben in Jubel und Qual ging wieder los, und bereits vierzehn Tage später mußte ich dem pittoresken Herrn Lammberger neuerdings einen Besuch machen. Diesmal bekam ich nur achtzig Gulden für hundert Taler auf zweieinhalb Monate.

Nun fragt ihr verständigen Menschen wohl: wovon, womit oder wieso ich diese zweihundert Taler im wunderschönen Monat Mai zu bezahlen gedachte? Ich muß bekennen, daß diese Frage erst vier Wochen vor Ablauf der Wechselfrist in meinem Gehirn erwachte. Doch als sie da war, wirkte sie verheerend. Das hätte beinah eine Katastrophe abgesetzt. Zur bedrohlichen Verschärfung meiner Lage las ich damals gerade Alfred de Mussets ›Rolla‹, dieses hinreißende Lied von einem zwanzigjährigen Wüstling, der sich nach einer letzten Freudennacht das Leben nimmt. Der Keim zum Selbstmord war in mir vorhanden, so oft ich in meiner fiebernden Pein an Mutter und Vater dachte. Es fehlte wahrhaftig nicht viel, und ich hätte dem Pariser Bruder Leichtsinn nachgemacht, was viele deutsche Jünglinge dem jungen Werther nach machen mußten. Ich glaube, daß die Sache nur durch meine mangelhafte Kenntnis [352] des Französischen verhindert wurde. Hat man ein Lexikon in der Hand, so fällt es schwer, nach der Pistole zu greifen.

Neben diesem Franzosen, den ich um so abgöttischer liebte, je schwieriger mir seine Lektüre wurde, arbeiteten auch zwei Deutsche am Ruin meiner letzten Gemütsruhe: Grabbe und Heine. Sie diktierten mir den Ausdruck und die Stimmung der Verzweiflungslieder, die ich in Menge zu dichten begann. Diese Gesänge entsprachen ganz und wahrhaft meiner innerlichen ›Zerrissenheit‹. Und dennoch paßten sie zu meinem wirklichen Leben wie die Faust aufs Auge. Aber ich konstruierte mir auch allerlei in Prosa, verfaßte ›Gedankensplitter‹, meißelte ›Marksteine einer neuen Philosophie‹ und redigierte ›Fastenpredigten‹ im biblischen Stil der allerungemütlichsten Propheten.

In dieser schwülen Zeit der literarischen Absurditäten – eine Zeit, in der ich reimen und schreiben mußte, weil ich meines Erachtens nimmer lange zu leben hatte, nur noch vierzehn Tage – in dieser Zeit ereignete sich mit mir ein psychischer Vorgang, seltsam und folgenreich.

Ich lief in einer Frühlingsnacht vor einer widerlichen Weibergeschichte davon. Und als ich durch den Würzburger Schloßgarten kam, stand [353] plötzlich in der Finsternis das liebe, schöne, süße Bild meines Luischens vor mir da, so zum Greifen wahr, als wären diese schwimmenden Farben etwas Körperliches und Lebendiges.

Das Leuchtende erlosch nach wenigen Sekunden. Und mehrere Tage war ich unter dem Anschein glücklichster Gesundheit ein schwerkranker Mensch, von der fixen Idee behaftet: es wären zwei Jahre gar nicht gewesen, und ich stünde noch im reinen Mai meiner ersten Liebe. Und plötzlich, über Nacht, machte alles in meinem Blut und Gehirn einen Purzelbaum. Das Luischen wurde mein ›treulos Lieb‹ und riß mir in jeder Mitternacht mit eiskalten Fingerchen das heiße, zuckende Herz aus den Rippen heraus. Und eine ähnliche, der Wahrheit widerstreitende Metamorphose machte meine schöne, safrangelbe Dame durch, die vor kurzer Zeit aus unerforschlichen Gründen Würzburg plötzlich verlassen hatte. Die geschiedene Frau verwandelte sich in eine unberührte Witwe, ich war ihr Hausfreund, sie liebte mich, doch ich konnte ihr mit bestem Willen den gewünschten Gefallen nicht erweisen, weil – nun, weil ich eben kein Herz mehr hatte.

Statt eines Testamentes vor meinem nahen Tode, schrieb ich eine Novelle: ›Der Mann ohne [354] Herz‹. In Stil und Ausdruck überheinrichte sie den Heine. Und im übrigen war's eine so wahnsinnige, total verrückte Sache, daß kein Lebendiger sie als die Arbeit eines mit Vernunft begabten Menschen genommen hätte. – Als ich 1882 einen Stoß von Manuskripten aus meiner Studentenzeit verbrannte, hab' ich's nicht fertiggebracht, auch den ›Mann ohne Herz‹ ins Feuer zu werfen. An dieser verdrehten Geschichte hing für mich zu viel Erlittenes, zu viel verrückte Süßigkeit und selige Pein, als daß ich sie hätte vernichten können. Ich publizierte die Novelle mit einem Dutzend Lieder aus jener Zeit und gab ihr als Rahmen die von mir erfundene Lebensgeschichte eines jungen, poetisch veranlagten Menschen, der aus unglücklicher Liebe wahnsinnig wird, ins Irrenhaus kommt, sich einbildet, daß er als Heinrich Heine in der berühmten Matratzengruft liegt, als Heinrich Heine einen neuen Romanzero dichtet und die Novelle ›Der Mann ohne Herz‹ verfaßt. – Die von mir aus dem Nichts gesogene Einkleidung meiner Würzburger Novelle erscheint als etwas Vernünftiges, als etwas Lebensmögliches; das wahre Menschheitsdokument meiner leidenden Jugend wirkt als das Unwahrscheinliche, als das Unmögliche und Widersinnige. Bei dieser Konstatierung [355] könnte man wieder einmal fragen: »Was ist Wahrheit in der Kunst?« – Ich selber vermochte das Manuskript dieser Würzburger Verzweiflungsnächte sechs Jahre später kaum noch zu entziffern. Bei diesem hastigen Gekritzel zwischen Exerzierplatz, Fechtboden, Stall, Studentenkneipe und wechselnden Betten, bei diesem fieberhaften Geschreibe vor flackernden Kerzenstümpchen oder im Zwielicht, veränderte sich meine Handschrift so schrecklich, daß jeder Buchstabe zu einer Beleidigung menschlicher Augen wurde.

Eine kleine Stilprobe aus diesem Testament meiner Jugend:

»Liebe? Welch ein Unseliger hat dieses böse, böse Wort erfunden? Kennt ihr die Mär von den gefallenen Engeln? Wer uns erzählte, daß der Hochmut sie zu Fall gebracht, der hat uns belogen. Sie fielen, da der böse Geist der Schöpfung in ihre lauschenden Ohren das Wort geflüstert: Liebe! Und da sie die Liebe im Himmel nicht fanden, zogen sie aus, die Liebe zu suchen, durchforschten nach ihr die Sphären und die Sterne, und als sie die Liebe gefunden, da merkten sie viel zu spät, wie tief sie in die Hölle geraten waren. Die armen, armen Engel! – Auch ich sollte die Liebe finden, und da ich sie gefunden, [356] träumte ich einen schönen, süßen Traum. Die Erde war das Paradies, darin sich die blutentwöhnten Tiger von Rosenknospen nährten – und ich – ich war der Herr und Gott über allem! O dieser Traum! Doch der Tag des Erwachens kam – wie für die Blumen der starrende Frost des Winters, wie für die Sonne das Grausen der Nacht, wie für die Erde das Ende kommen wird mit heulenden Posaunen, mit Flammen, mit stürzenden Bergen und fallenden Sternen.«

Es wird wohl ›Der Mann ohne Herz‹ seit dreißig Jahren nicht allzuvielen Lesern in die Hände geraten sein. Doch wer diese hirnverdrehte, in ihrer gereizten Lebensunerfahrenheit komisch wirkende und dennoch tragisch berührende Geschichte gelesen hat, wird auch raschhin glauben können: daß ich in jenen Würzburger ›Testamentswochen‹ nur noch um eines Zolles Breite entfernt war vom Selbstmord oder vom Wahnsinn. Und warum? Weil ich zweihundert Taler bezahlen sollte, die ich nicht besaß – und weil ich in einer halb betrunkenen Nacht etwas getan hatte, was ich immer wieder aufs neue als einen ›Greuel an meinem besudelten Leichnam‹ nachempfand und doch nimmer lassen konnte. Erbohrte Brunnen müssen springen. Vielen Pädagogen scheint das nicht bekannt zu sein.

[357] Aber schließlich wurde ich weder wahnsinnig, noch schoß ich mir eine Kugel durch den Kopf. Denn wie ich über Nacht ein Toller geworden, so wurde ich über ein paar Tage auch wieder ein in Gesundheit Lachender.

Zu meiner Hilfe geschahen damals drei Ereignisse, die ich als wahrhaftige Goldamseln in mein neu erquicktes Leben hereinfliegen sah. Den Anfang mit den tröstenden Gesängen machte der pittoreske Herr Lammberger. Er hatte vom Staatsanwalt einen mahnenden Fußtritt auf die dreihundertprozentigen Hühneraugen bekommen, kassierte seine ›Popiercher‹ nur mit größter Vorsicht ein, meldete sich gar nicht bei mir, ließ meine beiden Wechsel in der Sekretärschublade liegen, in die ich den ersten selber gelegt hatte, und machte, von einer kleinen höflichen Neugier im folgenden Winter abgesehen, sich erst nach Jahren wieder bemerkbar, als ich schon so viel verdiente, um dieses Strumpfloch meiner Jugend stoppen zu können.

Die zweite Goldamsel: mein Vater, nachdem er nur anderthalb Jahre Kreisforstmeister gewesen, wurde als Forstrat nach München ins Ministerium einberufen. Als er daran die Bedingung knüpfte, daß man, um seinen Umzug und Aufwand nicht materiell zu belasten, auch mich nach München [358] versetzen müsse, wurde dem Vater auch dieser Wunsch erfüllt. So bin ich in der deutschen Heereseinrichtung ein Kuriosum geworden: ein Einjähriger, der in zwei Städten und unter verschiedenem Kommando diente. – Für unsere Familie erschien Papas beschleunigte Beförderung als eine große Sache, als ein Lebensruck nach aufwärts, der sorglosen Behaglichkeit entgegen. Die Mutter lachte und zwitscherte wieder den ganzen Tag. Und der Vater sagte zu mir in seiner Freude: »Bub, jetzt kann ich dich auch ein bisserl aufbessern!« Der Vater mußte doch selber fühlen, daß er mir da was namenlos Fröhliches sagte; und dennoch guckte er verwundert drein, als ich wie ein Verrückter an seinem Halse hing und immer lachte, lachte und lachte.

– Vater! In jener Minute lachte ich mich über eine böse, finstere Tiefe hinüber! Und während dieses Lachens flatterte in meiner Seele schon der dritte Vogel mit goldenem Gefieder! Von allen dreien der schönste und süßeste! Wie dem Saulus die Erleuchtung, so war mir dieser Gedanke gekommen: »Jetzt machst du, wenn du nach München fährst, den Umweg über Regensburg, stellst dich vor dem grünen Hause unter das Fenster hin und guckst so lange hinauf, bis [359] das Luischen herunterschaut, und dann ist dein junges Leben wieder Reinheit, Glück und lachende Liebe!«

Ach, der selige Rausch dieser harrenden Tage, dieser letzten, reisenden Stunden! Das wurde mir eine Art von Religion! War Anbetung eines heiligen Feuers, das mich entsündigen sollte!

Wie schlug mir das Herz, als ich im Sonnenschein vor dem grünen Hause stand! Wie suchten und tranken meine Augen!

Und guck, da steht sie! Da droben am hohen Fenster! Und begießt ihre Blumen! Ein feines stilles weißes Gesichtchen zwischem dunklem Gelock. Noch immer trägt sie den ›Tituskopf‹ des Kindes von einst! Aber größer ist sie geworden! Oder sind die Blumenstöcke kleiner?

Jetzt hebt sie die Stirne. Sie hat mich gesehen. Und da scheint sie noch größer zu werden. Ganz deutlich kann ich gewahren, wie sie bei schärferem Schauen die dunklen Brauen zusammenzieht. Und jetzt – ihr liebes Gesichtchen ist nimmer weiß – und ich, auf der Straße, mit Pallasch und Tschako, ich salutiere mit dem Stolz des Gefreiten, der ich an Ostern geworden. Dann fort im Sturm! Und immer auf dem Domplatz hin und her. Mein Luischen wird ja kommen! Muß doch kommen! [360] Oder ich sterbe, ich springe vom Dom herunter, ich stürze mich in die Donau!

Ein leichter und flinker Schritt – ich wage mich nicht umzudrehen, das Blut gerinnt mir in allen Adern und rennt doch wie rasend durch meinen Leib – beinah zwei Jahre hab' ich diesen Schritt nicht mehr gehört, und dennoch erkenn' ich ihn wieder beim ersten leisen Klang!

Ich kann nicht grüßen, kann nicht sprechen. Und das Luischen, obwohl es im Schritt ein bißchen zögert, will an mir vorübergehen. Ich strecke die Faust und hasche mein Mädchen beim Handgelenk. Ein Blick, ein Lächeln, ein tiefes Atmen in gestillter Sehnsucht. Und alles ist gut! Alles, alles, alles! Was brauchen wir viel Worte? Die Freude, die eines am anderen kostet, leuchtet in unseren Augen. Und einundzwanzig Monate sind für uns, als wären es einundzwanzig Stunden gewesen. Gestern gingen wir lachend auseinander, und heute wandern wir lachend weiter, Hand in Hand. Die Trennung? War es denn eine? Und die Briefe, die nicht Antwort fanden? Wie war es denn nur? So dumm und komisch! Doch was kümmert uns das Vergangene? Alles Gewesene ist ein Selbstverständliches geworden, da die Gegenwart ein Festes und Klares wurde. So schreiten [361] wir beide durch die frühlingshellen Gassen hin und schwatzen und lachen, schweigen und träumen, zwei selige Menschen, die sich wiederfanden und nimmer voneinander lassen wollen – zwei Menschen, die sich lieben und füreinander geboren sind, zwei Menschenkinder im Glück, in Frohsinn und reiner Freude!

Hab' ich es recht erzählt, so müssen euch Tränen in die Augen kommen. Weil die Freude dieses glückseligen Wiederfindens etwas Trauriges war!

Hinter allem Glauben, Traum und Lachen dieses Tages, am Abend, als ich im Eisenbahnwagen saß und nach München fahr, da hab' ich dieses Traurige empfanden, das unsichtbar, doch Hand in Hand mit meiner Freude ging. Elf oder dreizehn Menschen saßen mit mir zusammengepfercht in einem Wagen dritter Klasse – ich in der Ecke beim Fenster. Immer guckte ich hinaus in das Dämmrige, Graue, das da draußen vorüberflog. Und dann kam es so, daß ich das Gesicht in die Hände stecken mußte, um meine Tränen zu verbergen. Ein altes Weiblein an meiner Seite fragte: »Herr junger Soldat, is Eahna wer gsturbn?« Ich schüttelte den Kopf. Das Weiblein fragte nicht weiter – die anderen im Wagen schwatzten lustig von Dingen, die mir ein Fremdes [362] waren – und während ich die Stirn an das kühle Fenster preßte, begann in meinem Herzen ein wehes und wildes Schreien. Was geschehen war an diesem Tage, das nannt' ich einen Betrug, ein Verbrechen. Wer war der Schuldige? Ich? Nein! Nein und tausendmal nein! Selber ist man nie der Schuldige – das ist eine von den großen Tröstungen, eine von den liebenswürdigen Gutmütigkeiten des Lebens. Die Schuldigen an dem heimlichen Schmerze dieses seligen Tages waren diese verkrüppelte und verlogene Kultur, diese heuchlerische Moral, diese ungerechte Verteilung von Reichtum und Dalles, dieses widersinnige Monstrum Staat, all diese mörderischen Daseinsgewalten, die eine Erneuerung des Lebens aus dem frischen Brunnen der Jugend verhindern und dieses Schöne unmöglich machen: daß junge Menschen in Reinheit leben können, bis sie aus Liebe sich finden, um Väter und Mütter zu werden in Freude, in Gesundheit und unbesudelter Kraft!

Während der Marter dieser Reise mußte ich immer an den jungen Eisendreher von Augsburg denken, an jenen Redner mit dem zuckenden Hasenschnäuzchen – und ich wurde so eine Art von Sozialdemokrat des Herzens und der Liebe. Dabei schied ich aber doch alles, was Sozialismus [363] bedeutet, energisch aus. Freie Liebe? Nein, pfui Teufel! Das würde den Menschen unter das Tier herunterdrücken, das nur Liebe kennt, die schöpferisch ist. Die Gesetze einer neuen Menschheitsordnung dürfen die Liebe nicht entwerten, sie nicht zu einem Alltagsbraten der gefräßigen Sinne degradieren – sie müssen die Liebe schützen, erziehen und begrenzen, müssen sie aus Niedrigkeiten erheben und zum Heiligen, zum Göttlichen steigern. Reinste Natur, das ist der höchste Gott. – So ähnlich formulierte ich im Gegrübel meiner Qual das ›Grunddogma aller gesunden Erneuerung des Lebens‹, deren Notwendigkeit mir überaus dringend erschien.

Nachdem mein bedrücktes Herz während der Marterstunden dieser Nachtreise sich in zornigen Bitterkeiten und wunderlichen Weltverbesserungsplänen ausgetobt hatte, schlug es wieder einen befreienden Purzelbaum zum sorglosen Lichte hinauf und freute sich des neugewonnenen Glückes. Auch brachten die ersten Münchener Tage so viel Schönes, daß mir die innerliche Erlösung in diesem tragenden Gewoge der großen Stadt kein allzu schwieriges Stücklein wurde. Ich liebte München vom ersten Morgen an, rannte gleich in alle Galerien, machte Bekanntschaft mit jungen Malern [364] und schwitzte fast Abend für Abend im Stehparkett des Haftheaters, das damals in der Hochblüte seiner künstlerischen Entwicklung stand. Auch im militärischen Dienste gab's eine amüsante Sache; zu München waren sie in der Jahresarbeit schon weiter voran als in Würzburg; es wurden mir als Gefreitem Dienstleistungen zugewiesen, die ich noch nicht kannte, ich mußte kleine Abteilungen kommandieren – und weil ich mich schämte, zu sagen, daß ich das nicht verstünde, mußte ich heimlich an jedem Morgen, bevor wir ausrückten, mein Pensum aus dem gedruckten Reglement herauskitzeln. Immer traf ich das Richtige.

Dann kam der Umzug der Eltern und Geschwister, das frohe Wiedersehen, und mit einem heiteren Familienfeste wurde die gemütliche Wohnung in der Schönfeldstraße eingeweiht. Sie lag dem Kriegsministerium gegenüber, bei dessen Bau mein Großvater Louis mitgewirkt hatte. Und aus dem Fenster meines stillen Hofzimmerchens konnte ich, über noch unverbaute Gärten hinüber, die Turmkuppeln der Frauenkirche sehen, deren Bauherr ein Ahne meines Namens war.

Welch eine feine, schöne, selige Sache: in Stern-oder Mondscheinnächten am offenen Fenster dieses Stübchens zu sitzen, das leise Rauschen der [365] schwarzen Bäume zu hören und lange Briefe und zärtliche Liederchen an mein Luischen zu schreiben!

Das Dichten war mir bereits zu einer Sache geworden, die ich mir nicht mehr abgewöhnen konnte. Auch begann ich mich heißhungrig in die Literaturen aller Zeiten und Völker hineinzulesen. Doch der Gedanke, aus der Schriftstellerei meinen Lebensberuf zu machen, lag mir noch immer ferne. Bevor er in mir lebendig werden konnte, mußte ich noch manchen Umweg machen – zuerst einen Weg am Tod vorbei.

Eines Abends, zu Anfang Juni, war ich mit einem Freunde im Kolosseumsgarten, war vergnügt und guter Dinge, schwatzte, debattierte und lachte – und hatte keine Ahnung, daß mich in der feuchten Kühle dieses Abends der damalige genius loci von München auf die Stirne küßte. Mir wurde plötzlich schwarz und blau vor den Augen, und halb bewußtlos fiel ich über den Sessel hinunter. Nach wenigen Minuten hatte ich mich wieder völlig erholt und wanderte in dieser Nacht noch stundenlang mit meinem Freunde unter temperamentvollen Kunstgesprächen durch die Gassen der Stadt. Am Morgen brachte ich die Beine nicht aus dem Bett. Der Doktor machte ein ernstes Gesicht, und in meinem Leibe begann es [366] heiß zu brennen. Es wurde kein richtiger Typhus, nur ein typhöses Fieber. Nach acht Tagen war ich wieder auf dem Wege der Besserung und durfte aufstehen. Bei der strengen Diät, die ich befolgen mußte, war ich immer hungrig wie eine Hyäne. Obwohl die Speisekammer und alle Küchenschränke vor mir versperrt wurden, eroberte ich doch eines Abends auf dem Kriegspfad meines knurrenden Magens eine altgebackene Semmel und verschlang sie. Am andern Morgen lag ich wieder in schwerem Fieber. Und jetzt war's ein richtiger Typhus. Ich erinnere mich an ein wütendes Bonmot meines Doktors: »Dieser junge Mann scheint kein Freund von Halbheiten zu sein, scheint alles gründlich erledigen zu wollen!« Um Haaresbreite ging es am Abschnappen vorüber. Und diesmal dauerte die Sache fünf Wochen.

Nach meiner Genesung, in den letzten Julitagen, bekam ich Rekonvaleszentenurlaub. Und eine Erholungsreise in die schwäbische Heimat führte mich einem silberig schimmernden Sommerfrieden entgegen – und einer Liebestragikomödie der seltsamsten Art.

Das kleine gute Pfarrherrle zu Hegnenbach hatte von meiner Erkrankung gehört und hatte mir als Genesungsheim sein ›friedsames Pfarrhöfle‹ angeboten.

[367] Starker Hilfen bedurfte meine Genesung nicht. Es tat da schon meine Natur das ihrige. Acht Tage, nachdem ich von dem Krankenbett aufgestanden, das beinahe ein Totenbett geworden wäre, hatt' ich schon wieder solch einen festen Brocken Gesundheit in mir, daß die Reise zum schwäbischen Holzwinkel für mich eine herrliche Sache ohne Ermüdung wurde. Etwas seltsam Stilles und Frohes war in mir, bei diesem köstlichen Wohlgefühl des erneuten Lebens. Auf sehnsüchtigen Gedankenwegen, die alle zum Luischen wanderten, brachte ich die etwas unmedizinische Schlußfolgerung zustande, daß Krankheit und Fieber alles Böse und Häßliche in mir verbrannt und ausgeschieden hätten, und daß ich ein ehrliches Recht besäße, mich als geläutertes, als ein von allen guten Mächten des Lebens pardoniertes und entsühntes Menschenkind zu betrachten. Ich hielt mich wieder fähig des reinsten Glückes, fühlte die Kraft und den Willen in mir, mich meines Glückes würdig zu machen. Und mit heiterer Süßigkeit träumte ich von dem grünen Sommerfrieden, der mich erwartete.

Bei der Omnibusfahrt von Augsburg nach Welden saß ich neben meinem Freunde aus der Dorfschulzeit, neben Nagelschmieds Domini auf dem Bock – ich in der Soldatenmontur, der Domini [368] im blauen Postillonsfrack, mit weißen Hosen und hohen Stiefeln. Ein munteres Schwatzen von vergangenen Zeiten. Und im Adelsrieder Forst, als die von der Sommerhitze ermatteten Pferde im Schritte gingen, nahm der Domini sein silbernes Posthorn und blies in den stillen Wald hinein:


»Mädle, ruck ruck ruck an meine grüne Seite,

I ha(n) di gar so gern, i ka(n) di leide ...«


Es ging auf den Abend zu, als wir das Wiesental der Laugna erreichten. Mich befiel ein zitterndes Erwarten. Ob ich jenen Duft wieder spüren würde? Den Duft von meiner Mutter Blumen?

Was ich erwartete, blieb aus. Freilich, die Mutter war nimmer in Welden. Aber pflanzen andere Mütter keine Blumen?

Als der Domini am Forsthaus vorüberkutschierte, mußte ich sehen, daß Haus und Garten meiner Eltern sich während zweier Jahre in eine wüste, verwahrloste Sache verwandelt hatten. Das tat mir weh. – Sind die Dinge des Lebens an sich ein Schönes? Oder werden sie es erst durch Hand und Wille des Menschen? Guter Boden für duftende Blumen ist immer da. Wenn sie nicht blühen, hat's nur der Mensch verschuldet.

Am Abend gab's wieder Heiterkeit, die an [369] liebe, schöne Zeiten erinnerte. Nagelschmieds Leopold, jetzt der Herr Postexpeditor, hatte das Fäßlerwirtshaus erworben und in ein ›Gasthaus zur Post‹ verwandelt. Und als es im Dorfe bekannt wurde, ›Oberferschtners Ludwigle‹ wäre als Soldat gekommen, gab's in der Post ein lustiges Gewimmel. Meine drei Getreuen aus der Schulzeit waren da, der Domini, der Maleralfons und der Lehrermuckt; zur Gitarre sang der Leopold seine fidelen Liedchen, und die große Stube war vollgepfropft mit freundlichen Leuten. Jeder wußte ein Stücklein aus meiner Kinderzeit zu erzählen, immer guckten sie alle zu mir herüber und lachten zu jedem Worte, das ich redete; aus allen Krügen mußte ich trinken, und jeder nippte von meinem Glas; und die ergraute Nagelschmiedsmammi stand vor mir da, hielt die Hände auf dem Bäuchlein übereinandergelegt, schaute mich immer an und sagte mit Lachen: »'s isch no älleweil 's Ludwigle!«

In schöner Sonnenfrühe fuhr ich nach Hegnenbach hinaus – und das war nicht eine Fahrt durch einen Wald, es war eine Reise durch tausend rauschende Erinnerungen. Nun öffnete sich ein kleines Tal mit hügeligen Wiesen und goldfarbenen Getreidefeldern. Ich sah den sonnblitzenden Lauf der Zusam hinter einem freundlichen Dörflein. [370] Neben braunen Ziegeldächern und grünlichen Strohfirsten streckte die kleine, baufällige Kirche, vom winzigen Friedhof umgeben, ihren zahnlückigen Turm zum blauen Himmel hinauf. Und nicht weit davon, ähnlich einem bescheidenen, zweihundertjährigen Herrensitz, erhob sich der mit Geißblattspalieren überwachsene Pfarrhof hinter einem hübsch gepflegten Blumen- und Gemüsegärtchen und zwischen vielen Obstbäumen, deren Stämme zum Schutze wider das Ungeziefer mit weißem Kalk bestrichen waren, und in deren Laub die reifenden Äpfel, Zwetschgen und Birnen hingen. Vor dem Zauntürchen erwarteten mich meine gutherzigen Gastfreunde: die kleine, frühgealterte Schwester des Pfarrers in dunklem Kleid und mit weißem, nonnenhaftem Häubchen – und dieser prächtige, schlanke, kleine, seine, nette und allerliebste Pfarrer, der schon ein Vierziger war und doch in allem Jünglingshaften seines Wesens und bei seiner flinken, zierlichen Gestalt noch immer aussah wie ein froh verlegener Alumnus. Er schloß mich an seine Brust, als wär' ich ihm der jüngere Bruder, und fand in seiner ersten Wiedersehensfreude nur dieses eine Wort: »Ja Ludwigle! Ja Ludwigle! Ja Ludwigle!«

Und dann dieses stille, friedliche, weiße Pfarrhaus[371] in seiner spiegelnden Reinlichkeit, mit den träumerischen Altväterstuben, mit seinen Heiligenbildern, Weihwasserkesselchen und Kruzifixen, mit den blumenbestellten Fenstergesimsen und dem blankgescheuerten Holzgerät, mit diesem feinen Sandgeruch an allen festen Dingen und mit dem schneeweiß gedeckten Tisch, auf dem die winzigen, weißglasierten Steingutschüsselchen nicht für hungrige Menschen, sondern für mäßig pickende Kanarienvögel berechnet schienen. Gleich bei der ersten Mahlzeit setzte mir der Pfarrer unter feinem Erröten auseinander, daß es bei ihm ›sehr einfach‹ zuginge. Mir sollte natürlich nichts fehlen, ich sollte essen, trinken und verlangen nach Herzenslust. Doch er müsse genügsam und ›unbegehrlich‹ sein, um jedes Jahr ein tüchtiges Stücklein Geld für das neue, schöne Gotteshaus ersparen zu können, das er seiner Gemeinde statt des alten, baufälligen Kirchleins ›einmal‹ erbauen möchte. Er führte mich auch gleich am Nachmittag hinüber zu dem Wiesenhügel, auf dem sich in zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren die neue Kirche erheben sollte. Vor der leeren Wiese leuchteten seine Augen so glückselig, als stünde die neue Kirche schon da mit funkelnden Fenstern und läutenden Glocken.

Wer ihn so sah, diesen kleinen Pfarrer mit [372] den frommen, gläubigen Traumaugen, der mußte ihn lieben. Im Dorfe nannten sie ihn: »ünser guets Männdle«. Und der Pfarrer konnte von seinen Bauern sagen: »I han koin schlechte Kerl im Dörfle.« Für alles, was echte Religion und redliches Leben heißt, war er ein wirksamer Prediger, auch wenn er schwieg. Ein guter und reiner Mensch ist der erfolgreichste Priester. Und das Pfarrle von Hegnenbach war von den Goldklaren und Seltenen des Lebens einer! Ich kann euch nicht sagen, wie wohlig, friedlich und froh mir an der Seite dieses lieben Menschen zu Mute wurde, gleich in den ersten Stunden! Bis zum Abend blieben wir plaudernd beisammen. Dann mußte er noch einen Kranken besuchen. Ich setzte mich in der schönen Dämmerung neben der Haustür des Pfarrhofes auf die hölzerne Bank. Und die träumende Stunde gab mir dieses Lied:


»Es ist ob Flur und Wald schon lange

Der Abendglocke Lied verklungen

Und hat mit seinem sanften Klange

Das müde Dorf zur Ruh gesungen.


Da steigt mit schwerem Flügelzuge

Ein Storch empor vom Wiesenbächlein

Und rastet vor dem Weiterfluge

Noch einmal auf des Kirchturms Dächlein.


[373]

Nun eilt er westwärts und verschwindet

Im dunklen Traum des Fichtenhages –

Und mählich, mählich nun erblindet

Das letzte matte Licht des Tages.


Nach heißer Sonne schwülem Brande

Kühlt nun die Nacht mit feuchten Händen

Des Pfarrhofs steinerne Verande

Und tränkt das Laubwerk an den Wänden.


Der Abendwind durchhaucht den Flieder

Und macht die Blätter wohlig beben;

Nachtfalter streifen hin und wieder

Die taubenäßten wilden Reben.


Nur aus der Nacht des Wiesengrundes

Das leise Zirpen einer Grille

Und fern das Bellen eines Hundes

Stört diese weihevolle Stille.


So stört den Frieden mir im Herzen,

Den ich in diesem Heim gefunden,

Nur leise noch ein letztes Schmerzen

Der fast vernarbten Lebenswunden.«


Das war ein menschliches Aufatmen, ein natürlicher Klang. Und nun erinnert euch an die trommelnde Unnatur meines Stiles in der Würzburger Testamentsnovelle ›Der Mann ohne Herz‹! Nur vier Monate lagen dazwischen. Darunter sechs Wochen lebensgefährlicher Krankheit. Alle Zeit des Leidens ist eine Zeit des Reifens für [374] menschliche Seelen. Und ich hatte wieder ein reines Glück gefunden, fühlte die Nähe eines guten Menschen – und empfand: nun bin ich selber wieder Mensch geworden. Im Pfarrhaus zu Hegnenbach bekam ich einen Wegweis nach der Straße hin, die ich später in allem gegangen bin, was mir Leben und Arbeit hieß. Bevor mir diese Straße klar und eben wurde, gab's freilich noch Umwege und düstere Buckeln in Menge – sogar in diesem Pfarrhof selber.

Ein lustiger Abend unter der kleinen, grüngeschleierten Hänglampe. Der Pfarrer sang mit seiner frischen Jünglingsstimme ein paar allerliebste alte Liederchen zur Gitarre. Ich hatte meine Flöte mitgebracht und pfiff die zweite Stimme. Um das Trio voll zu machen, kam noch der Lehrer zu Besuch aus dem Schulhaus herüber. Er war ein begabter Musiker, spielte alle Instrumente, am besten Geige und Klavier. Doch genießbar war er nur, wenn er musizierte; im übrigen war er eine ›schwankende Gestalt‹; unordentlich gekleidet, ein Freund von Gesprächen, die mein Pfarrle nicht leiden konnte. Im Pfarrhof war's natürlich mit dem Bekneipen nichts; da bekam der Lehrer nur sein einziges Krügelchen, punktum. Aber der steife, noch nicht völlig ausgegorene Wahnsinn des [375] Säufers tränte ihm schon aus den vorgequollenen Augen heraus. Daß er soff, das konnte man ihm nimmer verdenken, sobald man nur ein einziges Mal seine Frau gesehen hatte. Die war ein fürchterliches Dromedar, behandelte ihn niederträchtig und quälte ihn mit Eifersucht. Als junger, hungernder Hilfslehrer hatte er irgendwo diese um zwanzig Jahre ältere Vogelscheuche wegen ihres kleinen, hilfreichen Vermögens geheiratet; doch es wurde ihm jeder Bissen Brot in dieser kinderlosen Ehe mit Ekel und Galle gesäuert. Der Pfarrer, der sonst im Dorfe keinen Trinker duldete, verzieh diesem gemarterten Menschen auch den chronischen Suff; er half nur nicht dazu; wenn das einzige Krügelchen, das im Pfarrhof aufgetischt wurde, geleert war, dann mußte der Schulmeister Zitronenwasser mit Brausepulver trinken. Und die aufgeregten, immer gereizten Gespräche des Lehrers wußte das kleine Pfarrle mit ernsten Blicken zu dämpfen. Wenn die Blicke nicht mehr halfen, griff der Hochwürdige zur Gitarre und sagte: »Spiele mer wieder oins! Isch gscheiter, als daß mer keele Sachen anhöre müesse!« Und kaum hatte der Lehrer die Geige am Kinn, dann war er wieder ein anderer – einer, der mir gefiel. Er hatte Töne, die mich verwundert lauschen machten. Und [376] wenn er geigte, kollerte manchmal das Glitzerwasser seiner steifen Augen über den Bauch der Violine.

Bei den sprudelig heißen, meist in halben Sätzen explodierenden Gesprächen des Lehrers fiel es mir auf, daß er immer wieder von einer ›Frau Kommandantin‹ reden wollte. Der Pfarrer zog dann die Stirn in unbehagliche Falten und griff sehr hurtig nach der rettenden Gitarre: »Singe mer oins!« Ich hatte unklar die Empfindung, als ob da etwas Dunkles und Drohendes unter der halb gebändigten Oberfläche brodle. Und dennoch war's für mich ein lustiger, von heiterem Klang erfüllter Abend.

Mit diesem Lehrer hatt' ich in den nächsten Tagen ein paar heimliche Zusammenkünfte. Um meinem Pfarrle eine Freude zu machen, wollte ich mit dem Lehrer ein paar Stücke guter Musik für die Kirche einstudieren: Orgel und Flöte. Wir mußten mit dem Klavier studieren; die Orgel hätte der Pfarrer gehört, wenn er, sein Brevier betend, durch Felder und Wiesen wanderte.

Es war Ferienzeit, die Schulstube gähnte. An jedem Nachmittag war der Lehrer verschwunden. Da saß er drüben in dem drei Viertelstunden entfernten Dorfe Villenbach und soff – wie ich später erfuhr: aus unglücklicher Liebe zu dieser [377] ›Frau Kommandantin‹. Den ganzen Nachmittag fuhr die Lehrerin, dieses unstäte Weibsbild, wie eine Furie herum und lauerte. Ums Gebetläuten kam der Lehrer heim, meistens schwer betrunken. Dann gab es im Schulhaus fürchterliche Szenen. Je nach der Qualität des Rausches, wenn es ein stiller oder lauter war, prügelte entweder der Lehrer die Lehrerin, oder die Lehrerin den Lehrer. Am Morgen waren sie alle beide wieder ganz ruhig und trätabel. Und der Lehrer konnte prachtvoll musizieren.

Die Wohnstube des Schulhauses war grauenhaft verwahrlost. Doch es stand ein leidlich guter Flügel in diesem Dreck, ein altmodisches Instrument, dessen Klang an ein Spinett erinnerte. Wir studierten Gounods Ave Maria, das der Lehrer für Orgel und Flöte eingerichtet hatte, und ein Andante von Mozart. Am Sonntag, der einen goldschönen Sommermorgen brachte, kam in der Kirche die Überraschung für das Pfarrle. Die Hegnenbacher Bauern spitzten die Ohren. Und als der Pfarrer nach dem Hochamt aus der Sakristei heraustrat in den von Sonne überschimmerten Friedhof streckte er mir die Hände entgegen und hatte strahlende Augen: »Ludwigle! Heut hascht mer awer e schöne Freud gemacht. So süeß isch [378] mer 's Meßlese schon lang nimmer gwese!« Welch ein wundersames Ding des Lebens ist Dank in Freude! Und welch ein reicher Lohn für bescheidene Mühe!

Den ganzen Tag war der Pfarrer in festlich gehobener Stimmung. Dabei zog mich dieser kleine Mann mit dem großen Herzen zu sich hinauf, und ich vermochte ihm vieles nachzufühlen, was rein in seinem priesterlichen Wesen glänzte. Daß ich fromm sein konnte, das war, meinen zwanzig grünen Jahren zum Trotze, schon lange, lange her. Doch an diesem schönen, frohen Tage war wieder etwas dankbar Gläubiges in meiner tastenden Seele. Der klare Friede, der diesen makellosen Priester erfüllte, floß auf mich über und weckte in mir eine leise, wunderliche Sehnsucht, ein Heimweh nach den Himmelsgärten meiner Kinderzeit. Und am Abend, in der stillen weißen Pfarrstube, kam es zu einem merkwürdigen Gespräch. Ich erinnere mich, daß der Pfarrer nach seiner ›unbegehrlichen‹ Mahlzeit – ich allein aß alles auf – sich wohlig in die Ecke des harten Kanapees zurücklehnte, mich ansah und lächelnd sagte: »Den Mozart hör' ich noch älleweil! So was Schönes isch das gewese! Ludwigle, heut hascht mer viel guete Herze naufziehe helfe zum liewe Gott. Weischt, [379] fliege ka(n) koiner, der e Mensch ischt. E jeder braucht e kloins Leiterle, dees ihm aufwärts hilft. Und es gibt koi(n) anders Himmelsleiterle, dees so tragfeschte Sprößle hat, wie e guete Musik.«

So fing es an. Und ehe wir es selber merkten, waren wir mitten in einer Debatte über religiöse Dinge. Ich war wohl damals kein allzu grimmiger Leugner, nur eben ein junger Mensch, der zu denken begonnen hatte. Aber zwischen mir und diesem restlos gläubigen Priester, für den die Sonne von Jericho buchstäblich stillegestanden, und der mit Gottes Wort alle Forschungsresultate des menschlichen Geistes ruhig beiseite schob, in jeder Silbe der Schrift einen ewigen Berg und in jedem Glaubenssatze seiner Kirche eine unverrückbare Säule des Weltgefüges erblickte, den Himmel als eine Wahrheit des Lebens und die Hölle als Gleichnis eines in Reue brennenden Gewissens nahm – zwischen uns beiden war doch wohl eine so unüberbrückbare Kluft des Denkens, daß der gute Pfarrer mich erschrocken ansah und Tränen in den Augen hatte, als er stammelte: »Jesus, Ludwigle, ja tuescht denn du gar nix nimmer glaube?«

So schlimm war's nun aber doch wohl nicht. Und unter dem Eindruck des schönen Tages suchte ich nach einer Antwort, die den Pfarrer beruhigen [380] könnte, von der ich aber doch wohl forderte, daß sie ehrlich sein müßte. Bei den Seelenkämpfen meines letzten Neuburger Seminarjahres waren mir alle Bilder meines Schulglaubens zu wesenlosen Verschwommenheiten auseinandergeflattert; und dann hatte der Streit um die Infallibilität, der Anblick und die Wirkung der Weldener Pfarrhoftragödie, die Spötterzunge Heinrich Heines, die Lektüre kunterbunter Aufklärungsschriften und schließlich das eigene Denken diese Zerstörungsarbeit gründlich vollendet. Was kirchliches Bildwerk und religiöse Formel hieß, das war für mich erledigt. Dennoch war es nicht leer in mir. Mit festen Wurzeln saß mir das Goethesche Wort im Herzen: »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!« Ich faßte das unfaßbare Bild des Ewigen nach dem göttlichen Doppelgesicht in Werthers Leiden und betete die Hymne nach: Wer darf ihn nennen, Gefühl ist alles, Name ist Schall und Rauch. Und mein eigenes Denken sagte: alles Bestehende muß einen Urgrund haben, alles Leben einen Schöpfer, jeder Raum eine Mitte alle Zeit einen Keim des Werdens und eine Heimat der Ruhe. Und so wurde mir die Silbe Gott, ohne daß sie mir irdische Bilder gab, zum Anfang und Ende aller Dinge, zum Kern und zur Schale alles Lebens, [381] zum Rätselstrome des Unverständlichen, zum Quell aller Freude, zur Seele aller Schönheit, zum Brunnen aller Güte.

Wie ich das vor dem lauschenden Pfarrer in Worte brachte, das weiß ich nimmer. Aber der Blick der beiden Augen, die angstvoll und zärtlich an mir hingen, und die Stimmung des schönen Tages gab wohl den Glaubenssätzen, die ich da formulierte, ein wirksames Leben. Mit beiden Händen griff der kleine Pfarrer über den Tisch herüber, faßte meine Hand und sagte in Freude: »Aber schau nur, in dir ischt ja doch das Rechte! Nur falsche Wörtle hascht du! Und Umweg' tueschst du mache! Bloß ein bissele wenn du möge tätscht, so tät dich der liewe Gott zu sich hinaufziehe! Und aus em Saulus könntest du ein Paulus werde!« Und gar kein Leugner wäre ich, sondern ein ehrlich suchender Bekenner. Und in meinem Herzen hätte ich die frohe Liebe und das freudige Erbarmen, den Glauben aus Leben, das Mitgefühl für die Menschheit und den Willen zur Schönheit der Seele. Ich wäre nicht nur ein guter Christ, ich hätte ganz gewiß und wahrhaftig das Zeug in mir, aus dem man die guten Priester macht. »Wenn du möge tätscht! Kein Knöpfle müeßt dein Vater nimmer zahle für dich! Für [382] alles käm ich auf, tät dich studiere lasse, tät dich nach Rom schicke, daß du die Glaubensbäch am heiligste Brunne sehe kannst. Ludwigle, Ludwigle, was tätscht du für ein Prediger werde! Oiner, der vieltausend Mensche die Herze warm und das Leawe leichter macht! So red doch! Magst du? Magst du?«

Erst war ich bis zur Sprachlosigkeit verblüfft. Dann mußte ich lachen, als wäre das eine wahnsinnig komische Sache. Aber den kleinen guten Pfarrer schüchterte meine Heiterkeit nicht ein. Er hielt meine Hand umklammert, redete immer wärmer, immer eindringlicher. Er war kein Werber von jener billigen Art, die in den Pfarrhöfen der Dörfer zu wohnen pflegt und auf den Ehrgeiz der zweitgeborenen Bauernsöhne zu wirken weiß. In schöner Freude, die aus seinen ehrlichen Augen strahlte, kämpfte er um eine Hoffnung seines vertrauenden Herzens, kämpfte für seine, ihm heilige Kirche um einen Seelengewinn, an dessen Wert er glaubte. Sich selber nannte er ›ein armseliges Taglöhnerle im blühenden Garten Chrischti‹; in mir vermutete er die Kraft zu höherem Werke, vermutete, ich würde ›von den ganz Großen oiner‹ werden, ein Säender und Erntender auf Gottes weitem und herrlichem Acker. Mit gewinnenden [383] Worten, die ich ihm nicht mehr nachzuerzählen weiß, begann er mir das weiße Glück und den stillen Frieden seines gläubigen, in Gott beschlossenen Lebens zu schildern; alle Wege und Stege auf Erden waren ihm klare Straßen und feste Brücken; für seine Seele gab es keine Gefahr und keine Not; für alles Wehe hatte er einen Trost, für alles Schmerzende einen Helfer; seiner friedsamen Tage beste Freude war es, einem Leidenden die stützende Hand zu reichen, wieder hoffenden Glanz in müden Augen zu sehen, wenn er einem geplagten und zweifelnden Menschenkinde neues Gottvertrauen ins Herz hatte reden können. Und wie von einem wundersamen Mysterium, so sprach er mit leiser, bebender Stimme von jenem unsagbar Schönen, das ihm Herz, Gedanken und Blut durchzitterte, so oft er im Erwachen des Morgens die Messe las, vom Brot des Herrn speiste und den Wein des ewigen Lebens trank. Da sah er den Himmel offen, von dessen kommenden Seligkeiten er Tag um Tag einen erquickenden Strahl vorausgenoß.

Ich konnte nimmer lachen. Ich mußte lauschen und sinnen, mußte diesen kleinen, leise redenden Mann verehren und lieben. Bezwingend wob sich der Klang seiner Stimme um mein Herz, [384] eine dürstende Sehnsucht wurde lebendig in mir, und ein weißgeflügelter Priestertraum begann sich vor den Augen meiner Seele zu formen. Wäre nicht in meinem Herzen die neugeborene Liebe zu meinem Luischen gewesen – wer weiß, wozu ich mich in dieser Stunde entschlossen hätte?

»... Ludwigle?«

Ich schüttelte stumm den Kopf,

Er sah mich bekümmert an. »Aber geh, so red doch e Wörtle!«

»Nein! Ich glaub, Herr Pfarr, Sie überschätzen mich. Ich bin für so was nicht der richtige Mensch, bin keiner von den Genügsamen und Opferwilligen. Ich hab Freud an der Welt, in mir ist lebendiges Blut. Und ich weiß schon mehr, als vielleicht gut ist für mich.« Bei dieser Aufrichtigkeit brannte mir das Gesicht. »Da tät's Purzelbäum geben. Und wenn ich an den Pfarrer Andra von Welden denk ...«

»Jesus Maria!« Das gute kleine Pfarrle verfärbte sich. »Noi(n), noi(n), noi(n)! Um Gottes wille! Da tue lieber werde, was du magscht! Nur bloß koi(n) Geischlicher nit! Schlechte hawe mer eh scho gnueg!«

Eine geraume Weile saßen wir einander schweigend gegenüber. Dann mußte ich leise [385] fragen: »Hochwürden? Kann es ein Mann denn halten ... das?«

Über sein ernstes Gesicht glitt eine zarte, jünglingshafte Röte. »Büeble, da mag i nit rede drüber.« Ruhig sah er mich an. », Aber oins kannscht mer glaube, Ludwigle! Die Menscheleut denken von vielen Sachen, sie müeßten sein. Und es isch nit wahr. Nix im irdische Leawe isch so wichtig, daß man's nit vermisse könnt. Mit Gottes Hilf geht alles. Es muß der Mensch nur richtig wolle! Aber da fehlt's halt bei die meischte!« Schwer seufzend erhob er sich, und mit den Händen hinter dem schwarzen Talar, ging er ein paarmal durch die Stube hin und her. Nun blieb er beim Fenster zwischen den weißen Vorhängelchen stehen, nahm die Gitarre von der Wand und spielte ganz leis jene harfenden Akkorde aus dem Bachschen Präludium, das Gounod für sein Ave Maria entlehnte. »So, jetzt gehe mer schlafe!« Die Gitarre klirrte an der Wand. Er kam und legte mir die beiden Hände auf die Schulter. »I wünsch dir e friedsams Nächtle! Werd ebbes Rechts im Leawe, und alles isch guet! Und am beschte wird's sein, du vergischt alles, was mer heut gschwätzt hawe mitenand. Es isch mer halt wieder emal 's Her; mit'm Verstand davongloffe. Unser güetiger Herrgott [386] wird lache drüber.« Auch der Pfarrer lachte. Er strich mir mit der Hand übers Haar, zupfte mich ein bißchen am Ohr – und ging aus der Stube.

Ich schlief wie gesunde Jugend schläft. Dann kam ein schöner, taublitzender Morgen. Und von diesem Morgen an sagte ich Du zum kleinen Pfarrer von Hegnenbach, ohne daß wir Brüderschaft miteinander getrunken hatten.

Still, friedlich und heiter flossen die Tage hin. Von der überstandenen Krankheit war nichts mehr an mir zu merken. Ich konnte wieder rennen wie ein Windhund und Sprünge machen wie ein jagender Wolf. Auf jeden lockenden Baum mußte ich hinauf, über jedes Brückengeländer hinüber, und wo in der Zusam ein schöner Gumpen glänzte, mußte ich kopfüber hinein. Dann plötzlich, inmitten des schönen Sommerfriedens, kam dieser tragikomische Sturm. Ich bin nie abergläubisch gewesen. Aber damals kam es mir doch so vor, als hätt' ich mit meinem unvorsichtigen Wort von den Purzelbäumen des Blutes den Teufel an die weiße Wand des Pfarrhofes gemalt. Und Mozart baute die Brücke aus dem Idyll zur halben Tragödie.

Am zweiten Sonntag blies ich das Andante [387] wieder mit Orgelbegleitung in der Kirche. Und der Pfarrer wollte die Freude, die er dran hatte, auch anderen vergönnen, wollte mit meinem Flötenspiel ein bißchen Staat machen. Im nahen Villenbach war während der folgenden Woche ein großes Patrozinialfest mit Wallfahrt und Ablaß. Dieses Kirchenfest sollte ich nach des Pfarrers Wunsch durch das Andante von Mozart verherrlichen helfen. Zeitig am Morgen, nachdem das Pfarrle daheim in Hegnenbach die Frühmesse gelesen hatte, wanderten wir über die von Grummet duftenden Wiesen des Zusamtales hinüber nach dem auf freiem Hügel gelegenen Villenbach, der Pfarrer im schwarzen Festrock, ich in der Uniform und mit dem Flötenfutteral unter dem Arme, der Lehrer in einem vorsündflutlichen Frack und unter so wunderlichen und gereizten Redensarten, daß mich der Verdacht beschlich, er wäre zur Abwechslung einmal schon früh am Tage besoffen. Doch er hatte noch keinen Tropfen hinter die weiße Krawatte gegossen. Seine Gereiztheit, die nur in halben Sätzen redete, mußte seelische Ursachen haben.

Auf diesem Wege begegneten wir einem Menschen, den der Lehrer zu hassen schien. Inmitten der abgemähten Wiesen war ein Schafpferch aufgeschlagen. Und weil die Schafe auch an so [388] hohem Feiertage fressen wollten, konnte der junge Schäfer das Patrozinialfest nicht mitmachen, sondern mußte bei seiner Herde bleiben. Mit seinem Schäferhemde stand er wie eine blaue Säule im sonnigen Grün; eine prachtvolle, herkulische Gestalt; das derbe Gesicht nicht häßlich, nur ein bißchen stumpfsinnig. Und in diesem übermenschlich ausgereckten Körper war eine Art von natürlicher Grazie. Wenn der Schäfer mit der blitzenden Schippe eine Rasenscholle nach den ausgrasenden Schafen warf, das war immer eine wundervolle Bewegung. Und wie Hammerschläge klangen die kurzen Worte, die er dem schwarzen, ruhelos revierenden Hunde zurief.

Als der junge Schäfer uns drei gewahrte, wandte er sich ab und drehte uns den Rücken zu. Der Lehrer bekam ein krebsrotes Gesicht, während er in seiner elliptischen Redeweise knurrte: »So e Lackl, der ischt ... So e Saukerle, so e vermale ... Hö! Oha! Vor die Säu? Nit bloß vor die Säu! Se wisse scho(n) von de Perle, gell? De müessen an vor de Schaf un Hammel ...«

Der Pfarrer tat, als spräche der Lehrer Chinesisch. Und mir war's auch nicht drum zu tun, auf dieses unverständliche Geknurre aufzupassen Ich mußte schauen und schauen. Ein strahlender [389] Sommermorgen in lieblicher Landschaft; alle Dinge haben goldene Konturen vom Sonnenglanz; die Schatten sind so blau wie der Himmel ist; alle Nähe brennt in kraftvollen Farben, und alle Ferne hat ein zartes, fein verschleiertes Lächeln; überall zwischen kleinen Wäldern und zwischen den Ährenhügeln gucken versteckte Dörfchen heraus; auf allen Straßen, nah und ferne, kommen lange Wallfahrerzüge, schwarz und mit leuchtender Buntheit; ihr Stimmengewirre tönt wie ruheloser Grillengesang; rote Fahnen flattern gleich feuerfarbenen Schmetterlingen vor diesen Zügen her, und sie alle streben nach einem unsichtbaren Mittelpunkte und sind ein wunderliches Gleichnis für die sehnsüchtige Menschheit, die eine Heimat des verläßlichen Glückes finden möchte. Drei große Glocken fangen schön zu läuten an, alle Luft ist Hall und Summen, das Stimmengeschwirre dieser schleichenden Menschenzüge erlischt, alle redende Natur ist schweigsam geworden, die Bäche fließen stumm, die Bäume und Stauden bewegen sich lautlos im linden Sonnenwinde – nur diese Glocken tönen und singen.

Böller krachen; von dem Wiesenhügel, auf dem geschossen wird, fahren silberweiße Rauchringe, die immer größer werden, gegen die Sonne hinauf; [390] und ein Schwarm von Buben hebt sich mit feinen, flink veränderlichen Silhouetten vom leuchtenden Himmel ab. Die Gasse des Dorfes wimmelt von Menschen; die geputzten Weibsleute schieben sich vor den Buden umher, in denen Heiligenbildchen, Rosenkränze und Wachskerzen verkauft werden. Rings um die Friedhofmauer sind alle die roten Fahnen aufgestellt. Dann das Gedränge in der Kirche, die brausenden Orgelklänge, die wallenden Weihrauchwolken.

Es kostete Mühe, durch diese gestauten Menschenmassen zum Chor der Musiker hinaufzukommen. An der Brüstung bekam ich meinen Platz. Und die tausend gebeugten Köpfe da drunten, das war ein seltsames Bild. Die Predigt dauerte schrecklich lange. Als die Instrumentalmesse begann, wurde ich eingeladen, die Flötenstimme mitzublasen. Ich tat's. Und nach der Wandlung kam als Einlage das Mozartsche Andante. Um mit dem Orgelspieler Fühlung zu haben, drehte ich dem Kirchenraum den Rücken. Der erste Teil kam gar nicht übel heraus; im zweiten gab's eine Unsicherheit um die andere. Was hatte denn nur der Lehrer von Hegnenbach? Er rutschte wie ein Verrückter auf dem Orgelsitze hin und her, und wenn er einen flinken Blick auf das Notenblatt [391] geworfen hatte, drehte er immer wieder das verzerrte Gesicht nach rechts hinüber. In einer Pause, die ich hatte, guckte ich über das Notenpult. Und da sah ich – rechts da drüben in einem der drei Betstühle, die den Honoratioren von Villenbach zu gehören schienen – ein junges bildschönes Frauenzimmer knien. Und gerade, wie ich hinüberguckte, sah die schöne Person zu mir herüber, mit frommen Veilchenaugen. Das richtige Madonnengesichtchen à la Rokoko, weiß und rosig, mit Grübchen, wie von Watteau gemalt und durch ein Wunder zu holdem Leben erweckt. Eine zierliche Gestalt, schlank und dennoch lind gerundet, in einem weißen, zart geblümelten Kleidchen. Und über den schweren blonden Flechten saß ein Florentiner Strohhut, von dem sich zwei himmelblaue Bänder über den Rücken hinunterringelten. Sie gefiel mir sehr! Aber ich dachte weiter nichts dabei als nur das eine: Wie kommt solch ein feines Paradiesvögelchen unter die Hennen von Villenbach?

Das Andante ging zu Ende. Sehr schön muß die Sache nicht gewesen sein. Nach dem Hochamt sagte mein Pfarrle mit milder Kritik: »Bei mir drübe hascht es no viel besser blase.« Der Lehrer von Hegnenbach war wie ein Verstörter, [392] absentierte sich vom Festmahl der geistlichen Herren, das im Pfarrhof gehalten wurde, und sauste zum Bräuhaus hinüber. Auch ich war Festgast bei der geistlichen Tafel. Es war sehr feierlich. Man aß fünf Stunden, von elf bis vier Uhr. Der Nachmittagsgottesdienst unterbrach die Mahlzeit nicht. Es verschwanden nur zwei Kapläne. Zwischen den zwanzig runden Herren merkte man die zwei mageren Lücken nicht. Ich wäre gern ausgerissen, aber mein Pfarrle flüsterte: »Da mueß ma bleibe, dees tät die Herre beleidige.« Den anderen erschien es ohnehin, so früh', als wir beide uns um vier Uhr nach dem Kaffee verabschiedeten. Wir wollten heim, und der Pfarrer wollte den Lehrer mitlotsen.

Die Menschenfülle auf der Gasse hatte sich schon sehr gelichtet. Aber das Bräuhaus war überfüllt. Im Flur stand dieser Mordsmensch, dieser junge Schäfer mit seinem blauen Hemd, in der Hand einen Maßkrug, und seine stumpfen Augen stierten immer nach der Treppe hin.

Über diese Treppe mußten wir hinauf, um den Lehrer von Hegnenbach zu finden. Er saß im Honoratiorensaal; eine große Gesellschaft war bei ihm, an die dreißig Leute, Schulmeister und kleine Beamte mit ihren Frauen und Töchtern, zwei [393] Kapläne, drei Gendarmen, unter ihnen der ›Herr Kommandant‹, ein Mannsbild wie ein Stier, mit dickem Kopf und apoplektischem Gesicht, den Mund von einem wulstigen Schnauzer bedeckt, in den Augen einen unruhigen, mißtrauischen Zornblick; dieser Zorn schien dem Lehrer von Hegnenbach zu gelten, der schon tüchtig angesäuselt war und unter Geschrei und Gelächter sehr heikle Witze machte. Und neben dem Kommandanten saß jene schöne blonde Person in dem weißen, zartgeblümelten Kleidchen, das dem zierlichen Körper wie angegossen war – die ›Frau Kommandantin‹! Jetzt, ohne Strohhut, war sie noch viel hübscher. Und sie sah mich immer an, mit dem Blick eines Kindes, das sich wundert.

Der Lehrer von Hegnenbach war von seinem Sessel nicht wegzubringen. Mein Pfarrle, von der ganzen Gesellschaft bestürmt, mußte noch bleiben. Ich merkte, daß er's nicht gerne tat. Und dann saßen wir beide der Frau Kommandantin gegenüber. Sie sprach sehr höflich ein paar Worte zu uns. Doch in dem fidelen Lärm war das zirpende Stimmchen kaum zu verstehen. Auf ihrem Sessel sich zurücklehnend, blieb sie schweigsam und sah mich immer an, mit dem Liebreiz eines lächelnden Engels. Ich weiß nicht, wie es kam – aber ich [394] mußte mich ein bißchen ärgern, über diese Frau, und mehr noch über mich selbst. Und der Lehrer von Hegnenbach führte komische Reden, immer zu mir her und über den Tisch hinüber zu dieser bildschönen Person. Und plötzlich kam er auf den Einfall, Pfänderspiele zu veranstalten. Die Gesellschaft lachte dazu, und die jungen Leute klatschten Beifall. Er ließ sich von der Kellnerin eine Schürze geben und band sie vor seinen Schoß, um als Pfandmeister darin die Pfänder zu sammeln. Zuerst spielte man: »Es fliegt, es fliegt – der Ochs!« Bei diesem Spiel verloren zumeist die Herren. Ich mußte mein Zigarrenetui als Pfand geben, weil ich einen Floh hatte fliegen lassen. Dann spielte man ›eiskalte Totenhand‹. Der hirschlederne Handschuh des Herrn Kommandanten wurde in kaltes Wasser getaucht, mit irgend einer schwabbligen Sache gefüllt, zugebunden und unter dem Tisch herumgereicht. Wer ihn aus Schreck oder Ekel fallen ließ, mußte ein Pfand geben. Bei diesem Spiel verloren die Damen. Wenn sie unter dem Tisch die kühle, schlottrige Sache in die Hand bekamen, schrien sie wie am Spieß; es regnete Pfänder; und die Frau Kommandantin gab das goldene ›Bröschle‹ von ihrem schlanken Hals.

[395] Die Auslösung der Pfänder wurde durch den Kanon eingeleitet:


»Ach, wie schön ist's doch am A–a–bend,

Wenn zur Ruh die Glocken kli–i–ngen ...«


Das gab eine Harmonie, um alle Katzen auf die Dächer zu jagen. Und jetzt die Pfänderverteilung unter Gelächter und Gequiekse; man mußte Gedichte rezitieren, Lieder singen, Grobheiten sagen, Purzelbäume machen, auf dem Kopf stehen, über den Tisch laufen, Rücken an Rücken tanzen.

Nun brüllte der Lehrer mit dem Gesicht eines vergnügten Fauns: »Das leschte Pärle, was soll das leschte Pärle?« Und ohne die Vorschläge der anderen abzuwarten, schrie er: »'s leschte Pärle mueß Küßle geawe! Küßle geawe!« Der Kommandant wurde wütend, die anderen klatschten unter Gelächter.

Mein Zigarrenetui – und das Bröschle der Frau Kommandantin!

Ein vergnügtes Geschrei ging los, und der Lehrer von Hegnenbach machte Tanzbewegungen wie ein Indianer vor dem Marterpfahl seines Opfers. Die schöne Frau da drüben war aufgesprungen und lachte mit blinkenden Zähnchen. Ich wußte nicht recht, was ich tun sollte, hatte so [396] etwas wie Freude und ärgerte mich zugleich, war noch immer unschlüssig – ein lärmender Protest erhob sich gegen mein Verhalten – und da sprang ich über den Tisch hinüber. Doch bevor ich noch die Hände streckte, hatte mich das zierliche Weibchen schon um den Hals und küßte mich – wie Julia sagt: recht nach der Kunst! Ganz heiß überlief es mich. Wahrhaftig, ich hatte zu Hegnenbach den Teufel an die Wand gemalt! Wollte ihn mein kleiner, guter Pfarrer beschwören? So mürrisch, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, sagte er: »Jetz isch es aber gnueg! Jetzt gehe mer hoim.«

Der tanzende Indianer blieb.

Wir beide wanderten in der schwülen Abendglut über die Wiesen. Dabei plauderte mein Pfarrle so ruhig und heiter, als wäre nichts geschehen. Ich dachte nach Regensburg und hatte schwere Gewissensbisse. Doch schließlich beschwichtigte ich sie durch den Zwang der Situation und durch das bequeme Sprichwort: Ein Kuß in Ehren usw.

Am anderen Morgen war's wieder völlig ruhig in mir. In der Nacht hatte es ein Gewitter gegeben, und es regnete drei Tage. Am ersten schönen Vormittag wollte ich zur Zusam hinunter und mit der Wurfangel ein paar Hechte fangen.

[397] Ich trug meinen weißen Turneranzug und war ohne Hut. Als ich am Schulhaus vorüberkam, hörte ich prachtvolles Klavierspiel: eine Beethovensche Sonate. Diese Klänge zogen mich ins Haus. Im Flur sauste die Lehrerin, dieses alte Dromedar, mit furiosem Gesicht an mir vorüber. Und als ich in die Stube trat, saß der Indianer wie ein still Verzückter am Klavier, und neben seinem Sessel stand die Frau Kommandantin, mit dem Florentinerhut, ein rotes Sonnenschirmchen quer über den Rücken, in einem dünnen, blaßblauen Leinenkleidchen, das sich so knapp an ihren zierlichen Körper schmiegte, als wäre sie von den Hüften bis zum Hals hinauf nur blau bemalt.

Der Lehrer unterbrach das Spiel, sah zuerst mich, dann die Kommandantin an – und lachte wie ein Teufel im Volkstheater. Mir brannte das Gesicht. Aber das feine, blaue Weibchen kam nicht in Verlegenheit. Munter fing die Kommandantin zu plaudern an und erzählte, daß sie heut noch einen weiten Weg zu machen hätte. Sie müsse nach Welden hinaus. »Aber ...« mit den sinnenden Engelsaugen sah sie mich an, und das kirschrote Mäulchen schmunzelte, »durch den finschtere Wald durch tue i mi so viel fürchte. Ganz[398] alloinig! Es tät mer arg lieb sein, wenn i Begleitung hätt?«

Gleich sprang der Indianer auf und brüllte: »I geh mit, i geh mit.«

»Noi(n), noi(n), noi(n)!« Das zierliche Weibchen lachte heiter. »Da tät mer Uier Fraule d'Augen auskratze!« Wieder sah sie mich an. Und seufzte ein bißchen. »Mueß i mi halt doch alloinig auf'n Weg mache?«

Ich verbeugte mich. »Wenn der Frau Kommandantin mit mir gedient ist ...«

Sie nickte. »Nacher gehe mer aber glei!« Und da war sie schon bei der Türe. Der Lehrer stand ein Weilchen wie versteinert. Als ich aus der Stube ging, warf er sich unter verrücktem Gelächter vor dem Klavier auf den Sessel hin und trommelte fortissimo das Liedchen herunter:


»So leben wir, so leben wir,

So leben wir alle Tage ...«


Auf der sonnigen Straße guckte mich die Kommandantin lächelnd an, ohne was zu sagen. Ich stotterte: »Nur meinen Hut muß ich holen. Und andere Schuh muß ich anziehen.«

»Aber gell, e bissele flink!«

Mit langen Sprüngen sauste ich zum Pfarrhof [399] und hinauf in meine Stube. Wahrhaftig, es war kein Gedanke in mir, nur die physische Hörigkeit dieser abenteuerlichen Stunde. Aber meinem Pfarrle wollte ich nicht begegnen. Halblaut rief ich in die Küche hinein, daß ich über Mittag nicht nach Haus käme, vielleicht auch nicht über Nacht. Doch eh ich bei der Hausschwelle war, ging die Stubentür auf, und der Pfarrer stand vor mir. Seinen erschrockenen Augen war es anzumerken, daß er da draußen auf der Straße schon was Blaues gesehen hatte und den dunklen Zusammenhang erriet.

»Ich muß nach Welden ... aber ich komm schon wieder ... noch heut ...«

Er hatte in der einen Hand die Schildpattdose, in der anderen das farbige Taschentuch. So streckte er die Arme nach mir. »Geh, bleib dahoim!«

Ich sagte wie ein Schuldbewußter: »Jetzt kann ich nimmer!«

Der Pfarrer bettelte: »Ludwig! Bleib dahoim bei mir! Es isch besser!«

»Aber sie fürchtet sich halt durch den Wald hinaus, und ich will sie doch nur begleiten, dann komm ich gleich wieder heim. So eine kleine Gefälligkeit ...«

»Tuescht mir net au en Gfalle? Komm, sei[400] gscheit! Und bleib dahoim! Sonst hab i koi(n) Rueh nimmer! ... Gell, du bleibst?«

»Jetzt kann ich nimmer anders. Ich hab ihr versprochen, daß ich sie nach Welden begleite. Da kann ich mein Wort nicht zurücknehmen. Ich kann mich vor einer Dame nicht als Kind und Lügner ...«

»Dame? Ah so? Ah so? Und der Eahrestandpunkt wird rausdreht?« Der Pfarrer hatte glitzernde Augen. »I bin nur neugierig, wann die gscheite Welt emal draufkommt, was Eahr bei em Mannsbild isch?«

Ohne auf die philosophisch angehauchte Frage zu antworten, sauste ich zur Türe hinaus.

Nun werden die sittlich Verläßlichen unter dem männlichen Teil meines Leserkreises in Mißfallen über mich die Stirne runzeln. Und über mich sagen: »Er war eben ein haltloser Bursche, ohne Festigkeit, ohne Treue!« Die Entschuldigung des wirbligen Blutes lassen sie nicht gelten, und das tyrannische Spiel erschlossener Brunnen erklären sie als Fabel. Doch wenn sie mit eigenen Augen gesehen hätten, wie zum Fressen nett dieses zierliche Weibchen war – ich glaube, dann wär' es auch diesen treu Verläßlichen genau so ergangen wie mir! Auch sie hätten, nach des Pfarrers [401] philosophischem Worte, den Ehrenstandpunkt herausgedreht.

Ohne mich fromm machen zu wollen, darf ich bekennen, daß es mir gar nicht wohl ums Herz war. Aber mitgehen mußte ich. Mir wurde auch nicht freier und froher zu Mut, als wir beide so gemütlich durch den goldenen Mittag bummelten. Und vor dem Walde begann sogar ich mich zu fürchten, obwohl dieser Wald alles andere war, nur nicht finster. Er war sehr lustig, schön und sonnengrün. Der Fußweg zog fast immer durch Buchenjungholz, in dem die Vögel fleißiger sangen, als wir beide schwatzten. Und wenn der Pfad sehr enge wurde, ging das niedliche Weibchen bei unseren tröpfelnden Gesprächen langsam vor mir her, immer langsamer, ganz lind und wiegsam. Und immer wieder guckten diese lachenden Veilchenaugen über die blaue Schulter. Mit schimmernden Wörtchen begann das feine Frauenzimmer nach meiner schwül atmenden Jugend zu angeln. Doch mir klang noch immer die Stimme des Pfarrers von Hegnenbach im Ohr. Und als wär' ich ein alter, gewitzter Hecht, so schlenkerte ich die Angel immer wieder von mir ab, wenn sie sich einbohren wollte.

Als wir dann schließlich doch noch in düsteren[402] Hochwald kamen, übernahm ich die Vorhut und machte so flinke Schritte, daß der Frau Kommandantin ganz heiß wurde. Und ein bißchen ärgerlich sagte sie: »Jesses, Jesses, warum denn gar so huidle?«

Der Tag glänzte zwischen den hohen Stämmen herein. Und da machte ich eine merkwürdige Erfahrung an mir. Obwohl ich den Wald wie mein Leben liebte, begrüßte ich die freien Felder, als wären sie etwas Schöneres. Überall waren Leute beim Kornschneiden auf den Äckern; und auf einem nahen Weizenhügel glaubte ich die Nagelschmiedsleute zu erkennen.

Ich blieb außerhalb des Waldsaumes lachend stehen, nahm den Hut ab und trocknete die Stirne. Die Frau Kommandantin mit ihrem brennheißen Madonnengesichtchen sah mich schmollend an. Doch sie wurde gleich wieder heiter und sagte: »Geschtern hab i halt doch e Küßle kriegt!«

Nun war ich mutig. »Schade, daß wir nicht mehr im Wald sind! Sonst bekämen Sie jetzt gleich noch eines!«

Sie guckte mir sinnend ins Gesicht. Und ich kann nicht schildern, wie fromm und keusch ihre blauen Himmelsaugen erschienen, als sie sagte: »Mer könnte ja wieder umkeahre?«

[403] »Da drüben sind Nagelschmieds Leute, die haben uns schon gesehen.« Um zu beweisen, daß ich mich nicht getäuscht hätte, schrie ich einen Jauchzer zu dem nahen Weizenhügel hinüber. Drei Stimmen antworteten. Und Nagelschmieds Karlin kam vom Acker und ging mit uns beiden heim ins Dorf.

In der Poststube gab's eine gemütliche Mahlzeit, bei der wir immer Gesellschaft hatten. Nach dem Kaffee empfand die Frau Kommandantin die Notwendigkeit, sich ein wenig auszuruhen. Sie sagte: »I mecht mer's e bissele bequem mache.« Die Kellnerin mußte ihr ein Zimmer richten. Und die Frau Kommandantin sagte sehr laut: »So so? Nummer oins hab i!« Dann reichte sie mir zum Abschied das mollige Händchen. »Adjes ... derweil!« Sie hatte wieder die frommen, sanften Engelsaugen. Und merkwürdig, wie fest dieses feine Händchen meine grobe Pfote drücken konnte!

Was sollt' ich nun mit dem Nachmittag anfangen? Für ein Weilchen streckte ich mich in der Poststube auf das Ledersofa. Aber da quälten mich die Mucken. Dann stieg ich durch den Postgarten hinauf, der sich an den Theklaberg anlehnte und wie ein kleines Wäldchen war. Ich fand ein schönes Schattenplätzchen und legte mich nieder. Und kalkulierte ein bißchen, war mit meiner Konduite [404] sehr zufrieden und hatte den Wunsch: Wenn nur mein Pfarrle schon wüßte, wie überflüssig seine Sorge gewesen!

Aber was denn nur die Frau Kommandantin in Welden zu tun hatte? Jetzt verschlief sie den Nachmittag. Und am Abend konnte sie doch keine Besorgungen mehr machen?

Auch bei mir äußerte sich die Nachwirkung der Waldschwüle. In dem linden Gras und unter dem kühlen Schatten schlief ich ein. Als ich erwachte, ging es schon auf den Abend zu. »Herrgottsaxe!« Ich rannte durch den Garten hinunter. Auf halbem Weg begegnete mir die Frau Kommandantin. Sie sagte lachend: »Guck, da isch'r ja!« Unter schönen Bäumen setzten wir uns auf eine Bank. Das zierliche, blaue Weibchen sah mich schmunzelnd an und konstatierte ohne weitere Einleitung: »No, jetz wäre mer ja wieder in em Wäldle?« Ich kapierte nicht gleich, und da machte es die Frau Kommandantin wieder wie beim Pfänderspiel, legte den Arm um meinen Hals und küßte – recht nach der Kunst. Im Wirbel meines Blutes vergaß ich allen Stolz auf meine bisherige Konduite.

Doch plötzlich, inmitten dieser beginnenden Zärtlichkeit, hörten wir den von Augsburg heimkehrenden [405] Postillon durch die Dorfgasse herunterblasen:


»Mädle, ruck, ruck, ruck ...«


Die Frau Kommandantin erschrak ein wenig. »Jesses, der Omnibus!«

»Ach was, Omnibus ...«

»Geh, sei gscheit, mit'm Omnibus kommt ja mei(n) Ma(nn)! Der isch in Augsburg gwese! Und da hab i mer denkt, i könnt's e so mache, als ob ich ihn abhole tät.«

Mir verschlug's die Rede.

»Du Öxle, du! Wärscht naufkomme ins Nummer oins! Jetzt laß mi aus ... 's isch besser, du bleibst heroben im Garte. Der Meinig isch e bissele gächzornig und denkt si älleweil glei ebbes Schlechts. Aber morge, Nammittag um Drui, da komm i ins Buechewäldle hinter der Hegnebacher Kirch. Da tuescht warte, gell?« Ein Kuß. Und flink wie eine Rehgeiß huschte sie davon. Ich fand nicht gleich meine Gedanken zusammen. Mir war's, als hätt' ich einen Nagel durch die Stirne. Und etwas wie ein Gefühl des Grauens überrieselte mich. Eine verheiratete Frau! Nein, nein, nein!

Mir quoll ein Erleichterungsseufzer aus dem [406] Herzen, als ich das Paar nach einem Viertelstündchen in einem Einspänner davonfahren sah. Und ganz wohl war mir, als ich in der Abenddämmerung heimsauste zum Hegnenbacher Pfarrhof. Es wurde dunkel. Die kleinen Fenster leuchteten. Und mein Pfarrle stand wartend unter der Haustür. Noch eh' ich den Gartenzaun erreichte, klang schon seine beklommene Stimme: »Ludwigle? Kommst?«

»Bin schon da!«

Aus dem Ton dieser Worte schien er zu erraten, daß ... nun, daß seine Sorge unbegründet gewesen. Er lachte, als er mir die Hand gab. »No, Gott sei Dank!« So heiter und aufgeräumt, wie an diesem Abend, hatte ich den Pfarrer von Hegnenbach noch nie gesehen. Er sprach mit keiner Silbe von dem finsteren Walde, in dem man sich fürchten muß. Ich selber fing lustig zu erzählen an und berichtete aufrichtig, wie alles zugegangen war; nur die paar Küßle, die doch gar nicht ernst zu nehmen waren, übersprang ich. Die komische Rolle in dieser Fabel teilte ich mir zu. Es war in meiner Geschichte so etwas wie einsichtsvolle Selbstironie.

Als wir schlafen gingen, nahm das Pfarrle unter der Stubentüre meine Hand, besprengte mein [407] Gesicht mit Weihwasser und sagte ernst: »Ludwigle! Heut hascht en guete Schutzengel ghabt!«

Ich schlief wie eine Ratte bei Sonnenschein. Am anderen Morgen war ich kreuzfidel und dachte: »Ja, du Feine, renn du nur hinauf ins Buechewäldle!« Ganz unschuldig guckte dieser grüne Hain von seinem Hügel herunter über das Kirchendach. Und nach der Mahlzeit, um nur ja diesem verdächtigen Grün recht weit aus den Armen zu kommen, rannte ich zur Zusam hinunter und wollte fischen. Aber da kam nun wieder solch eine dunkle Sache des Lebens. Als die Turmuhr von Hegnenbach drei Viertel drei schlug, fischte ich noch immer. Doch meine Angelrute zitterte, ohne daß ein Fisch gebissen hatte. Und als ein paar Sekunden später auch die Villenbacher Glocke diesen gleichen Schlag verkündete, mußte ich die Gerte ins Gras werfen und wie ein Wahnsinniger gegen den steilen Hügel hinaufrasen, der das Buchenwäldchen trug.

Drei Uhr schlug's. Ich saß schon lange zwischen den Stauden versteckt und lauerte, auf welchem Wege sie kommen würde. Natürlich auf dem nächsten Wege, über die Wiesen her. Doch Viertelstunde um Viertelstunde verging, und sie kam nicht. Ich guckte mir fast die Augen aus dem Kopf.

[408] Und sah nur den jungen herkulischen Schäfer, der weit da draußen auf den abgemähten Wiesen langsam hinter seinen weidenden Tieren herschritt. Sein schwarzer Hund, gleich dem mephistophelischen Pudel, streifte in weiten Schneckenkreisen durch Saat und Stoppel. Es hatte schon vier geschlagen. Noch immer kam sie nicht. Und plötzlich sah ich da drunten bei der Zusam, wo meine Gießkanne war und meine Angelgerte lag, den Pfarrer und den Lehrer beisammen stehen. Der Indianer fuchtelte aufgeregt mit beiden Armen. Der Pfarrer drehte sich nach allen Seiten, und ich glaubte zu hören, daß er meinen Namen rief. Ich mußte aufspringen und wie eine geschleuderte Kugel über den steilen Feldhügel hinunterrasen – und schreien, daß die beiden mich hörten. Sie guckten auch gleich. Der Pfarrer winkte. Und mitten in meinem sinnlosen Gerenne, wo der Hügel am steilsten wurde, sah ich plötzlich weit da drüben auf einer Straße, die gegen den Buchenwald einen großen Umweg machte, ein feuerfarbenes Käferchen kriechen. Das war der rote Sonnenschirm der Kommandantin. Sie kam! Ich wollte stehen bleiben; aber mein Körper war im Schuß, ich überschlug mich, machte vier, fünf Purzelbäume und kugelte und rollte, bis ich drunten lag in der [409] linden Wiese. Erschrocken kam der Pfarrer auf mich zugelaufen: »Ludwigle, Jesus, hascht dir en Schade toa(n)?« Ich konnte lachen, als ich aufstand. Nur mein weißer Turneranzug sah ein bißchen maulwürfig aus. Sonst war mir nichts geschehen. Und während ich die Glieder streckte, konnte ich sehen, daß das rote Käferchen da drüben Kehrt gemacht hatte und gegen Villenbach hin verschwand.

Der gute kleine Pfarrer staubte mich mit dem farbigen Taschentuch ab. Und der Indianer, dessen steife Augen funkelten, führte aufgeregte Reden, bis der Pfarrer ganz erbittert zu ihm sagte: »Herr Lehr, jetz tuen S' emal schweige! Sie sehe doch, der Bueb isch da!« Er wandte sich zu mir und fragte ruhig: »Ludwigle? Wo bischt denn gwese?«

»Da droben im Buchenholz ...«

Der Lehrer brüllte: »Warte wölle? Jo? Warte wölle? Bis der Schatte kommt? Und bis d' Fisch besser beiße? Hurrjuh!« Er kreischte die Melodie: So leben wir, so leben wir ...

Mein Pfarrle kümmerte sich nimmer um den Indianer. »Komm, Ludwig! Jetzt bin i am Weg, und umkehre mag i nit, jetzt gehe mer nach Villenbach nei(n) und trinken e Krügle Bier. Bloß en [410] oinzigs. Nacher gehe mer hoim. Dei(n) Fischzulg kannscht in der Mühl da drüben ei(n)stelle.«

Während des Weges über die Wiesen blieb der Lehrer schweigsam. Doch immer wieder schüttelte er sich wie ein Krebs, der sich häuten will, und lachte gallig ins Blaue hinaus. Als wir nah an der Schafherde vorüberkamen, sahen wir nur die weidenden Tiere und den wachsam revierenden Hund. Den blauen, herkulischen Schäfer schien die Erde verschluckt zu haben.

Nun saßen wir in der großen, kühlen Stube des Villenbacher Bräuhauses. Die junge Wirtin leistete uns Gesellschaft. Und im Hui hatte der Indianer seine sieben Krügl drunten. Er schied ein jedes sorgfältig durch ein Schnäpsle vom anderen. Auch redselig wurde er, sprach aber nur in delphischen Orakeln.

Etwas Weißes blitzte an der offenen Stubentüre vorbei und kam zurück: die Frau Kommandantin in lichtem Kleidchen, mit einer Frivolitäten-Arbeit zwischen den Händen. Ihr Madonnengesichtchen lächelte sanft. »Oh, da isch ja Gesellschaft?« Sie trat über die Schwelle. Mir schoß das Blut ins Gesicht. Und der Indianer war aufgesprungen, holte die Gitarre hinter dem Ofen hervor, tänzelte um das zierliche Weibchen herum, [411] wie ein Hofnarr um seine Königin, und trommelte auf den Saiten einen Marsch, den man bei schwäbischen Hochzeiten zu spielen pflegte. Heiter lachend setzte sich die Frau Kommandantin zu uns an den Tisch. Und während sich der Pfarrer stumm mit seinem Schweizerkäs beschäftigte, begann der Lehrer aus dem Stegreif so bedenkliche ›Gstänzle‹ zu singen, daß die kichernde junge Wirtin immer die Hand vor die Augen hielt. Die Frau Kommandantin schien nicht zu hören und schwang mit flinker Geschicklichkeit das Fadenschiffchen.

Jetzt vermehrte sich die Gesellschaft. Es kam ein junger hübscher Gendarm, grüßte freundlich, legte seine fiskalischen Waffen ab, setzte sich neben die Frau Kommandantin und lachte immer. Dem Lehrer gingen die Liedertexte aus; und während er in jagendem Tempo immer den gleichen Alkordlauf klimperte, begann er mit seiner schrillen, gereizten Stimme in abgerissenen Sätzen zu reden, mit versteckten Bissigkeiten, bald gegen den jungen Gendarm, bald wieder gegen mich. Mir wurde die Sache zu dumm. In Zorn sprang ich auf. »Herr Lehr! Wenn Sie nicht augenblicklich das Maul halten, kriegen Sie von mir eine fürchterliche Schelle!« Mein Pfarrle verfärbte sich, die junge Wirtin verließ den Tisch, und im gleichen[412] Moment erschien der Herr Kommandant auf der Türschwelle. Seine Augen glusterten, sein Gesicht war zum Platzen rot wie das Gesicht eines Erstickenden, und so brüllte er gegen den jungen Gendarm herüber: »Warum machen Sie nicht Dienst? Sie Kerl!« Der junge Mensch wurde mauerbleich, nahm Säbel und Gewehr, ging wortlos aus der Stube, und als er verschwand, hörten wir die heisere Stimme des Kommandanten hinter ihm herschimpfen. Sanft und ruhig sagte das zierliche Weibchen: »Die Herre müesse verzeihe! Er hat ebe gar koi(n) Bildung nit!«

Der Lehrer kreischte: »Aber Fäuschi! Jo! Fäuschi hat 'r!« Er grinste mich an. »E Säbelstichle in Mage nei(n)! Oder e Kügele in Bauch! Dees könne Se kriege! Aber koine Küßle nimmer!«

»Bezahlen möcht ich!« Mein Pfarrle sprang auf und sprach hochdeutsch. »Ludwig! Jetzt gehen wir augenblicklich nach Hause!« Ich weiß nimmer recht, wie ich hinauskam unter den blauen Himmel. Als wir die Wiesen erreichten, sagte das Pfarrle: »Solche Sachen darfst du mir nicht mehr machen. Oder ich mag dich nimmer! Koi(n) bissele nimmer!«

Ich nickte.

»Gell? Siehscht es ei(n)?«

Ein Gefühl des Grauens war in mir, doch [413] auch ein Gefühl der Erleichterung. Jetzt war alles erledigt – für mich.

Noch ehe wir zur Mühle an der Zusam kamen, holte uns der tolle, schwankende Indianer ein. Er schleppte einen bauchigen, fünf oder sechs Maß haltenden Krug Bier mit heim nach Hegnenbach, um zu Hause des Seelentrostes nicht zu entbehren. Doch er brachte das Bier nicht über die Mühlenbrücke. Auf dieser Brücke riß ihm der Pfarrer den Krug aus der Hand, schüttete das Bier ins Mühlenwehr hinunter und stellte die entleerte Urne auf den Boden. »So, Herr Lehr! Jetzt hat's emal en End! Und wenn Sie von morgen an die abscheuliche Sauferei nit aufgeben, sukzessive, so behalt ich Sie koine vier Woche nimmer in meiner Pfarrei!«

Der Indianer rannte als ein schwer Beleidigter einsam voraus und schrie mit halben Sätzen allerlei dunkle Monologe in die sich purpurn färbende Dämmerung.

Ein stiller, schwüler Abend im weißen Pfarrhof.

Während ich Goethe las, ging der Pfarrer ruhelos durch die Stube auf und nieder. Einmal blieb er neben meinem Sessel stehen und streckte die Hände ins Leere. »Sagmer nur, Ludwig, sag mer nur um Gottes wille, was isch denn eigentlich [414] an so em Weibsbild? Daß sich die beschten Bäumlen vor ihm nunterbiege müesse bis in Dreck? Was isch denn an so einer Schlamp?«

»Ich weiß nicht. Es kommt halt so, daß manmuß!« Und weil ich mich bereits für sehr erfahren hielt – jedenfalls für viel erfahrener, als es der Pfarrer von Hegnenbach war – drum erklärte ich: »Alle Frauenzimmer haben das nicht. Aber manche.«

»Daß man muß?« Mein Pfarrle hatte große runde Augen. »Noi(n), noi(n), noi(n)!« Er schüttelte energisch den Kopf »Muß? Das isch bloß so e Schwächlingswörtle. Und gar koi(n) guets nit!« –

Am andern Morgen, als ich nach der Messe mit dem Pfarrer beim Frühstück saß, hörten wir draußen im Hausflur eine kreischende Weiberstimme und wieherndes Gelächter. Noch ehe wir aufspringen konnten, kam dieses Dromedar zur Türe hereingefahren, die Frau des Lehrers. In ihrem häßlichen Gesichte grinste eine derart bestialische Freude, wie ich sie in einem menschlichen Antlitz noch nie gesehen hatte.

»Jesus!« rief das Pfarrle. »Was isch denn?«

Das Weib fiel auf einen Sessel hin, schlug sich mit beiden Händen immer auf die Knie und [415] wieherte wie von Sinnen. Man wußte nimmer, ob das Freude war, oder die verdrehte Äußerung eines wahnwitzigen Schmerzes.

»So tuen S' doch rede, Frau Lehr! Isch dem Herrn Lehr ebbes gschehe?«

Unter schütterndem Gelächter brachte sie stoßweise die Worte heraus: »Recht isch ihm gschehe! Recht! Und heule tuet'r, älleweil heule, vorm Klavier tuet'r hocke und heulet wie e Kindle.«

»Heulen? Warum denn?«

»Zwege seiner Kommedantin. Geschtern am Abend hat der Kommedant den junge Schandarm verwischt und hat ihn halbert toatgschlage. Und heut in der Nacht isch d' Frau Kommedantin mit'm Schäfer durchgange. Mit'm Schäfer! Koi(n) Mensch weiß, wohin! Und jetz heulet der meinig, älleweil heule tuet'r! Wie e traurigs Kindle!« Und unter wieherndem Gelächter trommelte das Weib mit beiden Händen wieder auf ihre massiven Schenkel los.

Der Pfarrer schwieg. Auch ich blieb stumm und empfand ein wunderliches Gefühl von Übligkeit – als hätte mich auf dem unsicheren Boden des Lebens eine Art von Seekrankheit befallen.

Nun waren wir wieder allein. Das Pfarrle nahm eine Prise aus der Schildpattdose. »Ja, [416] ja, ja, der Schäfer wird halt au müesse habe! E netts Wörtle! E netts Wörtle, dees!«

Ich rannte aus der Stube, kam zu Mittag nicht heim und lag den ganzen Tag im Walde draußen – aber nicht im ›Buechewäldle‹.

Der Stolz auf meine gute Konduite, der mich im Weldener Postgarten noch ruhig hatte schlafen lassen, war mir gründlich vergangen. Während ich beim leisen Rauschen der Hochwaldsfichten an das Luischen dachte, umklammerte etwas Quälendes mein Herz. Es war doch wirklich nicht mein Verdienst gewesen, daß auch diesmal wieder der Eisenbahnzug des Lebens nur über meine Kappe gegangen war. Und immer, immer, immer mußte ich an des Pfarrers Lehre von den ›Schwächlingswörtlen‹ denken. Diese Lehre war einer von den hilfreichen Wegweisern, die ich aus dem Pfarrhof von Hegnenbach mit hinausnahm ins Leben. Man versteht nur die richtigen Wegweiser nicht gleich und muß immer wieder in die Irre laufen, bevor man ihnen glaubt.

Im Zusamtale gab es ein schreckliches Gerede um die durchgegangene Kommandantin. Wenige Tage später wurde ihr Mann disziplinariter versetzt. Und nach einer Woche beschwichtigte sich das Leutegeschwatz. Nur zwei Geschöpfe kamen nicht [417] zur Ruhe. Das eine war der Lehrer von Hegnenbach, der sich das Saufen abgewöhnen wollte und immer heulen mußte. Und das andere war der schwarze Hund des spurlos verschwundenen Schäfers. Keuchend revierte das Tier durch alle Dörfer, auf allen Straßen, Wiesen und Äckern. Immer wieder kam der Hund zur Herde zurück, die einen neuen Schäfer bekommen hatte – und rannte wieder davon. Immer hing ihm die rote Zunge geifernd aus dem jappenden Rachen. Jedem Fuhrmann, der einen blauen Kittel trug, geriet er mit der Schnauze an die Waden, jedem Weibsbild an die Röcke, wenn es eine blaue Schürze hatte. In der Abenddämmerung glühten die Augen des ruhelos umherjagenden Tieres wie grünbrennende Kohlen. Und weil man glaubte, der Hund wäre toll geworden, erschoß man ihn. – Wie seltsam, daß die Treue eines Geschöpfes so aussehen kann, als wäre sie eine schwere, für die Menschen gefährliche Krankheit! –

Noch ein paar schöne, friedliche Sommertage in dem lieben weißen Hause. Dann der schmerzende Abschied von meinem guten kleinen Pfarrer, der ein großer Mensch war – und den ich niemals wieder sehen sollte.

Ich war ein völlig Genesener. Aber bei allem [418] Frieden, den ich gefunden, bei aller gläubigen Hoffnung, die mich wieder erfüllte, zitterte doch manchmal in mir ein leises Bangen vor den dunklen Dingen des Lebens, vor den Dingen in mir selbst. Am schärfsten empfand ich das in der Stunde des Scheidens. Als ich im träumenden Hochwald bei einer Wegsteigung versonnen neben dem wackelnden Einspänner herging, sang mein bedrücktes Herz dem weißen Pfarrhaus von Hegnenbach ein schwermütiges Abschiedslied. Die erste und die letzte Strophe dieses nachdenklichen Liedes lautete:


»Leb wohl, du Haus des stillen Friedens, Leb wohl, du trautes Heim der Ruh! Mich treibt das starre Muß des Lebens Der Welt und neuen Leiden zu.«

[419]
10.
X.

Die ›neuen Leiden‹ meines jungen Lebens hatten vorerst ein sehr vergnügtes Gesicht. Daheim bei den Meinen, die sich in München einzuleben begannen, fand ich heiteren Himmel. Doch ich bedurfte noch mehr der Seelenstärkung. Einen Manöverritt vorschützend, benützte ich zwei dienstfreie Tage, um heimlich nach Regensburg zu reisen, meinem Luischen in die reinen Augen zu schauen und mir feste Widerstandskraft gegen die gefährliche Sache zu holen, die ich in meinem Hegnenbacher Abschiedsliedchen als ›Welt‹ bezeichnet hatte.

Dann kam ein Erlebnis, das mir neue Bilder der irdischen Schönheit erschloß und mich vor Freude ganz närrisch und verdreht machte. Als ich in den ersten Oktobertagen vom Militärdienst frei wurde, durfte ich meinen Vater bei einer Inspektionsreise ins Hochgebirge begleiten. Ich erinnere [420] mich noch, daß ich im Eisenbahnwagen, als ich diese blaugrünen, riesenhaften Steinwogen über die schwarzen Waldhügel herauftauchen sah, wie von Sinnen zu schreien begann: »Papa, die Berge! Die Berge! Die Berge!« Dieses Bild sprang mir mit solcher Kraft in die Seele, daß ich seiner Schönheit hörig blieb durchs ganze Leben.

Ich kannte bisher die Berge nur als ein fernes, blaues Märchen, zart und fein an den Saum des Horizontes gezeichnet, mit dem Himmel fast verschwimmend in eines. So hatt' ich sie manchmal an klarem Morgen gesehen, vom Münchener Exerzierplatz aus, im Sattel meines Pferdes; und dann hatt' ich immer ein paar Kommandorufe überhört und Kasernarrest bekommen.

Nun wurden die blauen Träume zu leuchtender Erfüllung. Und ich sah die Berge, als mein Fuß zum erstenmal ihre steinernen Hallen betrat, im Farbenzauber ihres herbstlichen Feiertagskleides, im Sammetgrün der steilen Fichtenwälder, in den flammenden Blutwogen der Buchengehege, mit dem lichten Goldgezack der Lärchen und Birken, mit den purpurnen Feuerflocken der Vogelbeerstauden, im reinen Weiß der steilen Wände, mit einer ersten silbernen Schneeblüte auf den hohen Gipfeln. Und all diese Schönheit war überglänzt [421] von einer klaren, milden Sonne, umflutet von lachendem Blau, durch das ein rätselsamer Flug von feinen, glitzernden Fäden ging. Vor diesem schimmernden Wunder der Natur begann in mir zu keimen, was mein Leben erfüllen sollte. Muß ich es Zufall nennen? Oder Glück? Wenn ich die Berge zum erstenmal gesehen hätte in einer grauen, frierenden Regenwoche? Was dann? Aber ich fand sie gerade in diesen einzigen Tagen, in denen sie schöner sind als in allen anderen fünfzig Wochen des Jahres. Wieder eine Goldamsel meines Lebens!

Acht Tage! Und jeder Tag eine Trunkenheit meiner Sinne. Der Vater lachte Tränen über mein ›verrücktes Gezappel‹. Und manchmal in der Nacht mußte er schelten: »So schweig doch endlich, daß man schlafen kann!« Vom ersten Zwielicht bis zum sinkenden Abend mußte ich rennen und klettern. Jede Stunde auf einem freien Gipfel war mir ein Ruhen am Herzen des Schöpfers, jeder Blick zu den funkelnden Sternen der Bergnächte ein staunendes Anbeten des Ewigen, jeder Ausguck zu blauen Weiten ein Lächeln über die Kleinlichkeiten des menschlichen Lebens. Einem Specht oder einem Haselhuhn konnte ich stundenlang im steilen Bergwald nachrennen; halbe Tage [422] lag ich geduldig vor den großen Ameisenhaufen, guckte diesem emsigen Gekribbel zu und träumte in die ruhelosen Rätsel dieses Kleinlebens die wunderlichsten Gedanken hinein. Ganz von Sinnen war ich, als ich das erste Rudel Gemsen sah; und ein unbeschreibliches Zittern durchrieselte mich in jener glühenden Abendstunde, in der ich zum erstenmal den Orgelschrei eines brünstigen Hirsches hörte.

Aller Glanz, der diese große Natur umschimmerte, warf in meinen Augen auch einen verklärenden Schimmer über die Gesichter und Gestalten der Menschen in den Bergen. Diese alten, klugschwatzenden Förster, die jungen, kecken Jagdgehilfen und die lachenden, gliederstarken Holzknechte wurden für mich zu heiteren Lebenskünstlern, zu frohen Weltweisen, zu ›Menschen, wie sie sein sollten‹. Ich sah in ihnen den ›besseren Schlag‹, eine Erfüllung des gesunden Naturwillens. Und jedes gemütliche Jägerhäuschen, jede verlassene Sennhütte erschien mir als Palast eines schöneren Lebens – schöner, weil es fügsamer dem Willen der Natur gehorchte. Der Arbeitsschmutz an den Händen und Hemden dieser ›Mannsbilder‹ war mir kein Wesentliches; die Sache, auf die es ankam, war der Glanz in ihren Augen, das Lachen [423] in ihren Herzen, der frohe Lebensklang in ihren Liedern und Jauchzern. Es ging mir wieder wie damals an jenem greulichen Oktoberfestmorgen im Wartesaal des Münchener Bahnhofes: alles Häßliche und aller Ekel wurde für mich überwogen und beiseite geschoben von der schmucken, fesselnden Schönheit, die ich finden und schauen durfte. Wer kann uns zwingen, die Stunden der Helle im Winter zu zählen? Ich zähle sie an Sommertagen: sechs Stunden Nacht und achtzehn Stunden Sonne. Auch bei der Rechnung der pedantisch Gewissenhaften, wenn sie den Wert eines ganzen Jahres mit Ziffern messen, kommt für die Sonne noch immer die bessere Quote heraus.

Glückselig, vom Reichtum der Eindrücke berauscht und mit Lebensfreude vollgesogen bis in die Kehle herauf, so kam ich nach München zurück. Und da fielen nun gleich zwei bedrückende Schatten über mein Lachen her. Den einen, der mich schwer verstörte, will ich späterhin bei gebotenem Zusammenhang erörtern. Den anderen bereitete mir die höfliche Neugier des Herrn Lammberger nach meiner Zahlungsfähigkeit. Sein Brief, der ein bißchen unklar adressiert war, geriet unter die amtliche Post meines Vaters. Nach einem Mittagessen – bei dem die Mutter den Vater immer [424] wieder in Sorge fragte: »Gustl? Was hast du denn? Ist dir nicht wohl?« – legte Papa einen Zettel in mein Zimmer: »Komm sofort auf mein Bureau!« Ich kam. Papa machte nicht viel Worte. Doch als ich seine müden, traurigen Augen sah, hätt' ich dem leichtsinnigen Huhn, das ich war, mit eigenen Fäusten den Hals umdrehen können. Der Vater gab mir einen Bogen Papier mit zwei Rechnungsexempeln – das eine war sehr kurz, das andere sehr lang. »Hier hab ich dir auf, geschrieben, wieviel mein Gehalt beträgt, und was ich für das Leben unserer Familie und für eure Erziehung zu leisten habe.« Diese Rechnung hatte ein Defizit von etwa zweitausend Mark. »Den Fehlbetrag muß ich durch Privatarbeit in langen Nächten verdienen. Schulden mache ich nicht, auch nicht um deinetwillen. Du siehst also, daß ich deinen Wechsel nicht bezahlen kann, auch wenn ich wollte. Ich will aber auch gar nicht. Fängt man das einmal an, so nimmt es kein Ende mehr. Erinnere dich, was ich dir in Würzburg sagte.« Vor meinen Augen schrieb Papa an Herrn Lammberger einen Brief des kurzen Inhalts: »Mein Sohn wird seine Schuld (mit den gesetzlichen Zinsen vom heutigen Tag an) begleichen, sobald er zu ausreichendem Verdienst kommt. Dafür bürge ich [425] als sein Vater.« Dann sprach er zu mir beinah die gleichen Worte, die Mama mir damals in Würzburg gesagt hatte, als ich das graue ›Sorgeplätzle‹ in ihrem Blondhaar gewahren mußte: »Ich will, daß deiner guten Mutter die Kenntnis von diesen abscheulichen Dingen erspart bleibt. Der Kummer würde ihr das Herz abdrücken!« Er fügte bei: »Daß du mir weh getan und mir die Freude an dir und deiner Begabung getrübt hast, das mache ich dir nicht zum Vorwurf. Es scheint, wenn man Vater ist, muß man manches schlucken lernen. Zum Vorwurf mache ich dir nur dieses eine, daß du dein eigenes Leben mit einem unsauberen Stein beschwert hast. Ein Versprechen für die Zukunft verlange ich nicht. Wenn du es brechen würdest, müßte ich schlecht von dir denken. Sieh zu, wie du durchkommst! Und ... plag dich ein bißchen, um mir wieder Freude zu machen.«

Ich plagte mich ehrlich. Damit der Vater wieder versöhnlich würde und wieder heitere Augen bekäme, begann ich auf dem Polytechnikum mit zähem Fleiß zu ziehen. Ich hörte alle mathematischen Fächer, Maschinenkunde, Reibungslehre, Mikroskopie, Maschinen- und Freihandzeichnen, Aquarellieren, Chemie und chemisches Praktikum, Physik und physikalische Übungen. Daneben nahm [426] ich französische, englische und italienische Sprachstunden. Meine Tage waren, mit einer Mittagspause, von 8 Uhr morgens bis abends um 7 Uhr belegt.

Chemie und Physik, die mir Schritt um Schritt einen tieferen Einblick in den Organismus der Natur gewährten, weckten in mir ein heißes und dauerndes Interesse. Und in beiden Fächern hatte ich Lehrer, die mein Herz gewannen: Erlenmeyer, der Chemiker, und noch mehr der Physiker Beetz. Der wurde für mich das Ideal eines Lehrers, in seiner klaren Ruhe, mit dem prachtvollen, fesselnden und zum Denken anregenden Vortrag, mit seinem hilfsbereiten Interesse für jeden strebsamen und fähigen Schüler – eine wissenschaftliche Erlösergestalt.

In allen übrigen Fächern merkte ich schon nach wenigen Kollegienwochen mit Bangen, daß in mir die Liebe zum technischen Beruf bedenklich verkühlt war. Meine Seele und meine Gedanken hingen an anderen Dingen. Doch wenn ich in den Nächten oft bis zum Morgen bei der Lampe saß und kritzelte und reimte, begriff ich noch immer nicht, daß sich hier eine Stufe meines Lebens formte. Meine Vorliebe für die Physik brachte das mit sich, daß ich vorerst nur dachte: du bist [427] zum Naturwissenschaftler geboren, mußt Physiker werden oder Astronom. Mit dem Vater wagte ich über diesen Zweifel an meiner Berufswahl nicht zu reden. Um seinetwillen zog ich energisch weiter an dem Strang, an den ich mich gebunden fühlte. Manches, wie das Zeichnen und Malen, machte mir auch Freude. In der Aquarellierstunde schwang ich mich zu dem Versuch auf ein Porträt meines Luischens zu malen – eine Photographie und das leuchtende Bild in meinem Herzen waren meine Vorlagen. Als Professor Sporrer zur Korrektur kam, sagte er verblüfft: »Wie kommen Sie denn auf den Einfall, das zu malen? Das ist ja die Lola Montez.«

»Nein, Herr Professor, das ist meine Braut.«

»Ooooh, da kann man gratulieren.«

Ich freute mich rasend über diesen ersten Glückwunsch, den ich zu meiner Herzenswahl empfing.

Zum Schluß des Studienjahres konnt' ich meinem Vater ein Zeugnis mit vier Einsern vorlegen. Und da war Papa wieder ganz der Alte, heiter und herzlich. Was doch ein paar so schlanke, römische Ziffern zuwege bringen! Und für die geistige Entwicklung eines jungen Menschen sind sie völlig belanglos. Papa wähnte mich um dieser Einser willen gut im Zug, und ich stand schon [428] heimlich mit Herz und Füßen auf einem anderen Boden.

Aus meines Vaters Berufsleben in diesem Winter blieb mir ein Wort in Erinnerung, das registriert zu werden verdient. Papa brauchte fast alle Sonntagvormittage dazu, um seine offiziellen Besuche zu erledigen. Von einem dieser Besuche bei einem hohen Beamten kam er lachend heim und erzählte, der Herr Staatsrat hätte zu ihm gesagt: »Herr Forstrat, Sie sind neu im höheren Dienst, und da will ich Ihnen einen guten, bewährten Rat geben. Wenn Sie einen schwierigen Akt bekommen, und Sie wissen nicht, wie Sie ihn erledigen sollen, dann lassen S' ihn ein halbes Jahr lang liegen. Bis Sie ihn dann wieder ansehen, hat er sich von selbst erledigt.« Ich besorge nur, daß Papa diesen klugen Rat nicht befolgte; er war einer von jenen Beamten, die sich – wie meine Mutter immer halb mit Lachen und halb mit Ärger zu sagen pflegte – ›für den Staat zerreißen lassen‹. An solche Meinung pflegte Mama die Frage zu knüpfen: »Und washat der Beamte davon? Den Notnickel im Hosensack und, wenn er's erlebt, die Hausnummer im Knopflöchle.«

Derartige Scherze hörte Papa nicht gerne.

[429] »O nein, Lotte! Er hat auch etwas anderes noch!«

»So? Was denn?«

»Das ruhige Bewußtsein redlicher Pflichterfüllung.«

»Dees Bewußtsein hab ich auch. Aber wenn ich mich abends niederleg und an Schuster und Schneider denk, so kann ich halt nimmer schlafen. Ja ja, Beamter! Weißt, was der Krenkl 1 gsagt hat? Mistbeeter gibt's viel, aber es kommt net aus jedem a Butterspargel raus!«

Mama begann sich den Münchener Dialekt schon ein bißchen anzugewöhnen. In allen wachsenden Sorgen des Haushaltes bewahrte die Mutter ihren unverwüstlichen Humor. Und wenn kein ›Späßle‹ mehr helfen wollte, um die ernsten Falten von Papas Stirne zu verscheuchen, griff sie zu diesem unfehlbaren Mittel: sie klappte den langen Chignon, der damals noch Mode war, mit einem flinken Kopfruck nach vorne. Das nannte sie ›den Raupenhelm aufsetzen‹, um für Gott, König und Vaterland zu streiten. Und Papa mußte lachen, ob er wollte oder nicht.

Der ›Sprung nach aufwärts‹, den die Eltern [430] in Papas Beförderung gesehen hatten, war vorerst nur ein scheinbarer gewesen. Der Umzug hatte viel verschlungen. Und das Leben in München, damals noch billig, war doch teuer für einen Beamten mit zwei großen und zwei heranwachsenden Kindern. Der Gehalt des Vaters war gegen die Oberförsterzeit um die Hälfte gestiegen, das Leben unserer Familie um mehr als die Hälfte knapper und ärmer geworden. Das Wenige fest zusammenzuhalten, dazu brauchte die Mutter ›eiserne Strickle‹; und neben dem einzigen Dienstboten mußte sie die halbe Arbeit im Hause selber tun, auch die grobe. Die Saiten ihrer Zither verrosteten, das Lesen in den geliebten Büchern hatte ein Ende. Nur dieses eine Unentbehrliche behielt sie noch immer bei: in der Dämmerung am Fenster zu spinnen, das auf die kleinen, fremden Gärten hinaussah. Und da blieb es ihr ewiger Seufzer: »Ach, mein Welden, mein Haus, mein Wald, mein Gärtle, ach, und meine Blumen!« Bei allen Seufzern war das ihre frohe Traumstunde, ihr nachgenießendes Glück.

Um Papa ein bißchen zu entlasten und mir mein Taschengeld selber zu verdienen, nahm ich im August am Starnbergersee eine Instruktorstelle bei einem Standesherrn an; ich sollte seinem [431] Jüngsten in der Mathematik zu aufrückenden Beinen verhelfen. Das brachte mir einen schönen Sommer zwischen rauschendem Grün und rauschendem Blau, mit dem duftigen Märchen der Berge in einer Ferne, die mir Nähe schien. Jeden Nachmittag um vier Uhr war ich Freiherr, rannte durch den prachtvollen Park, lag im Gras und machte Verse, fuhr in dem kleinen zu meiner Verfügung stehenden Kahn zum Fischen auf den See hinaus oder zur Künstlerkneipe hinüber nach Ammerland.

Innerhalb dreier Tage ging es mir da dreimal an den Kragen. Eines Abends, als ich vom Ammerland heimfuhr über den See, kam ein Gewitter mit schwerem Sturm. Meine leichte Zille gaukelte wie ein welkes Blättchen. Zuerst brach mir das rechte Ruder, dann das linke. Ich mußte das Sitzbrett aus dem Kahn reißen, um steuern und paddeln zu können. Wenn ich mit dem Hut das Wasser aus dem Boot schöpfte, trieb mich der pfeifende Wind immer wieder um die Hälfte des erkämpften Weges zurück. Ich brauchte sieben Stunden, fast bis zum hellen Frühlicht, um das Ufer zu gewinnen – und wäre wohl überhaupt nicht mehr herausgekommen, wenn sich nicht der Sturm vor dem grauenden Tage gelegt hätte.

Der Morgen brachte wieder heiteres Wetter.

[432] Weil ich am Abend kein Boot hatte und nicht rudern konnte, drum schwamm ich. Erst nur weit in den See hinaus. Dann dachte ich: Vielleicht kommst du ganz hinüber? Es gelang. Ich fühlte mich nicht sonderlich müde, rastete ein halbes Stündchen in der warmen Abendsonne und trat den Rückweg an, von dem ich bald zu wünschen begann, daß er Balken hätte. Herrgott, die Sache wurde mir sauer! Es kamen Momente, in denen ich viel an Regensburg denken mußte, nicht nur aus Luischen, noch mehr an die Donau und an den Feldwebel der Militärschwimmschule. Endlich konnte ich waten; aber das ging noch langsamer, als zuletzt das Schwimmen gegangen. Dritthalb Stunden war ich im Wasser gewesen, hin und her. Am Ufer fiel ich wie ein Klotz ins Gras. Und bis in die späte Nacht hinein mußte ich nackt zwischen den Stauden liegen, bevor ich mich wieder rühren, mich ankleiden und meine Stube suchen konnte, die sich im Ökonomiegebäude befand. Als Instruktor des jungen Herrn Baron, den eine Gleichung mit zwei Unbekannten sprachlos machte, wohnte ich nicht im Schlosse, sondern unter dem friedlichen Dache, unter dem die Bräuknechte und Stallmägde schliefen. Ich habe mich zwischen diesen braven Leuten sehr wohl gefühlt.

[433] Das schlimmste der drei Abenteuer begann mit dem nächsten Morgen, der einen fürchterlichen Sonntag einleitete. Trotz aller Müdigkeit war es für den Rest der Nacht nichts Rechtes mit meinem Schlaf geworden. Ich hatte mich schwer erkältet, nicht in der oberen Hälfte meines Lebens, nur in der unteren. Das gab Veranlassung zu häufigen Ruhestörungen. Am Vormittag ließ ich mir Opiumtropfen aus der Apotheke holen – denn ich war für Mittag, wie an jedem Tag des Herrn, zum Diner in das Schloß geladen – an den Wochentagen aß ich aus der Küche des Verwalters. Die Tropfen halfen. Ich nahm aber auch eine Portion, von der ich sicher war, daß sie gründlich und nachhaltig diese Revolte auf der Schattenseite meiner Natur beschwichtigen würde. Sorglos ging ich zum Diner. Doch was man servierte, wollte mir nicht schmecken. Am Nachmittag kroch ich ein bißchen duselig im Park umher, legte mich bald in die Federn, und als es Nacht geworden, krümmte ich mich vor Schmerzen. Eine schwere Opiumvergiftung. Meine Stube hatte keine Glocke. Ich taumelte aus dem Bett, wollte zur Tür hinaus und plumpste im Korridor auf den Boden hin. Eine kleine, nette, dicke Magd, die in einer nahen Kammer schlief, wurde wach, kam mit dem Kerzenlicht [434] gelaufen und erschrak, wie gute Herzen vor dem Leiden eines anderen Menschen erschrecken. Sie schleppte mich ins Bett, und weil sie der Meinung war, daß ›guate Milli‹ ein Universalmittel wider alles Giftige wäre, kochte sie mir einen festen Hafen voll heißer Milch. Ich verbrannte mir den Schnabel. Aber ich mußte schlucken, schlucken, schlucken – so lange schlucken, bis der heilige Ulrich sich erweichen ließ und meinen Magen umdrehte wie einen Handschuh, der gewaschen wurde. Am Morgen war ich wieder ganz leidlich in Ordnung. Als der Doktor kam, das leere Opiumfläschchen sah und die Zahl der Tropfen berechnete, die ich genommen hatte, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen: »Das ist einfach unglaublich, daß Sie noch leben! Sie müssen eine Natur haben wie ein Roß!« Zum Dank für meine Lebensrettung verehrte ich der guten Magd ein seidenes Halstuch mit Fransen. Das brave Mädel freute sich lachend über die blaue Seide, war aber ein bißchen verlegen und hielt es für notwendig, sich zu entschuldigen: »Im ersten Schrockn, heut Nacht, da hab i ganz vergessen, daß i übers Hemmed no ebbes anzogen hätt!« Ich in meinen Schmerzen hatte diesen Kleidungsmangel gar nicht bemerkt. Die Begriffe über Sittlichkeit sind unkontrollierbare [435] Subjektivitäten. Und ich tröstete das verlegene Frauenzimmer mit den Worten: »Geh, das macht nichts! Die guten Schutzengel auf den Heiligenbildln haben nie was anderes an als ein Hemd.« – In den Büchern, die ich späterhin geschrieben habe, gab ich manchem Mädel aus dem Volke den Blick und das Lachen dieser Magd.

Während der folgenden Wochen mußte ich meine sportlichen Verrücktheiten auf ein vorsichtiges Maß beschränken, um mich völlig wieder zu erholen. Dabei fand ich Zeit für viele Bücher, fraß mich wieder in die alte Lesewut hinein, und immer heißer setzte sich dieser Gedanke in mir fest: Literaturgeschichte zu studieren und die akademische Laufbahn einzuschlagen. Bei einer Stelle von Goethes Wahlverwandtschaften – welche es war, das weiß ich nimmer – faßte ich den Entschluß, aufrichtig mit meinem Vater zu sprechen. Das tat ich, als ich heimkam nach München. Papa erschrak und blieb lange schweigend am Fenster stehen. Dann sagte er: »Zwei verlorene Jahre! Das ist viel! Aber dein Verhalten im letzten Semester läßt mich hoffen, daß dieser Entschluß nicht aus Leichtsinn entspringt, sondern etwas Zwingendes ist. Wenn du also glaubst, auf diesem anderen Wege glücklicher zu werden ...«

[436] Ich umarmte den Vater, bevor er noch ausgesprochen hatte.

»Ja, ja! Literaturgeschichte! Das ist etwas recht Schönes! Aber hast du dir denn auch gesagt, daß du da sehr schweren Jahren entgegengehst? Ohne Vermögen, als notiger Privatdozent ... und zehn, zwölf Jahre oder länger kann's dauern, bis du Professor wirst?«

Nein! Das hatt' ich mir nicht gesagt. Und beim Gedanken an mein Luischen schoß mir alles Blut zum Herzen.

»Gelt? Jetzt erschrickst du selber!«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Papa, ich fürcht mich nicht. Wirst sehen, ich komm vorwärts. Ich kann doch auch als Privatdozent was verdienen, kann schriftstellerisch arbeiten ...«

Da war es nun zum erstenmal ausgesprochen: Schriftstellerei!

Und Papa lächelte ein bißchen. »Wenn du den Mut hast? Und das Talent dazu? Ich weiß nicht ... aber in Gottesnamen!«

Selig stürmte ich zur Mutter und warf mich an ihren Hals. Sie stammelte in Sorge: »Jesus, Bub, was machst du denn für Sachen? Ich hab' mir's aber allweil gedacht, daß es mit deiner Kritzlerei in der Nacht no emal en Unglück gibt!« [437] Dann kam ihre heitere Laune wieder obenauf »Na also, wenn du ein Dichter sein willst, so mach mir emal en Reim auf Apfelkuchen!«

»Den möcht ich gleich versuchen!« Das war kein Blitz meines Geistes, sondern die Pointe einer Anekdote, die uns Mama in der Kinderzeit oft erzählt hatte.

Nach den Scherzen der ersten Stunde wurde freilich noch an manchem Tage sehr ernst über diese Sache hin und her geredet. Und ein paar schlaflose Nächte gab's, bis ich Antwort vom Luischen hatte. Es kam ein zärtlicher Brief voll gläubigen Vertrauens. Das machte meine Freude ganz und fertig. Mein Mut bekam doppelte Sohlen. Ich dachte: »In zwei, drei Jahren hast du deinen ersten großen Erfolg! Und das Glück ist da!« – Die erste Hälfte dieses Gedankens erfüllte sich. Das Glück blieb aus, versank, war nirgends – und überall! –

Mit Eifer legte ich mich ins Geschirr meiner neuen Freude. Physik trieb ich weiter, aus Liebe zur Natur. Dazu hörte ich – über vier Semester verteilt – auf dem Polytechnikum: Deutsche Literaturgeschichte beiWilhelm Hertz; Lyrik und Drama bei Meggenthaler; Italienische Sprache bei Meloir; Deutsche Stilistik, Volks- und [438] Kunstepos, Rhetorisches Praktikum, Englische Literaturgeschichte, Altenglisch, Shakespeare und sein Werk, Französische Literatur, Voltaire und seine Zeit, Dantes Divina Commedia und Seminar für moderne Sprachen bei Rheinhardstöttner; – auf der Universität: Deutsche Literatur bei Bernays; Ästhetik und Goethe bei Carriere; Logik und Geschichte der Philosophie bei Prantl.

Unter diesen Lehrern fand ich nur zu Rheinhardstöttner ein starkes, persönliches Verhältnis; ihm hab' ich viel zu danken; er wurde mir ein väterlicher Freund, der mir über manche Klippe und Tiefe meiner Jugend, als sie bös zu gären anfing, mit Rat und Mahnung hinüberhalf.

Zu Wilhelm Hertz hatte mich meine Bewunderung für den feinwebenden, nur erst von wenigen gekannten Dichter hingezogen. Doch es war genußreicher, ihn zu lesen als zu hören. Auf dem Katheder war immer ein bißchen Müdigkeit in ihm, die sich auch seinen Hörern mitteilte. Es scheint, ein Dichter kann kein Professor sein, ein Professor kein Dichter.

Bernays konnte mich durch den Glanz seines Vortrages berauschen und daneben durch seinen delphischen Blick und seine legendäre Eitelkeit erheitern. Als ihm ein berühmter Chirurg den Vorschlag[439] machte, durch einen leichten Schnitt die schiefen Augenachsen parallel zu stellen, erwiderte Bernays: »Nein, Kollega, ich will den vielen Tausenden, die mich lieben, das ihnen teuer gewordene Bild nicht zerstören.« Bei allem Lächerlichen, das ihm anhaftete, war er ein starker, bedeutender Mensch, von dem eine Fülle geistiger Anregung ausströmte.

Carriere, der zu altern begann, war damals bereits der Ulkprofessor mit der unwillkürlichen Komik. Er pflegte im Kolleg über Goethes Faust als tiefgründiges Mysterium zu verkünden: daß auf den Ostersonntag der Ostermontag folgt. Und seine Ästhetik war Syrup mit Schlagrahm.

Prantl, der Philosoph, dozierte mit geistvoller Trockenheit. Das übertrug sich auf das Bild der Weisen und ihrer Systeme, von denen er sprach. Es war mir seine Geschichte der Philosophie nur ein funkelndes Gleichnis für die ruhelose, doch immer ungestillte Sehnsucht des Menschengeistes. Ein unbehagliches Mißtrauen gegen alle spekulative Philosophie hatte ich schon zur Hochschule mitgebracht. Und da konnte mich keiner fest umschlingen, weder Kant, noch Hegel, am allerwenigsten Schelling, von dem heute nur ein Münchener Monument noch behauptet, daß er ein [440] ›großer Philosoph‹ gewesen wäre. Bei Kant und Hegel fand ich neben allem blitzenden Geiste zu wenig Leben, zu wenig Blut. Am wärmsten konnte ich für Spinoza fühlen, doch auch für ihn nur in der lebendigen Umformung, die er bei Goethe gefunden.

Mit Schopenhauer, der mich fesselte, ohne daß ich ihm glauben konnte; mit Hartmann, der parodistisch auf mich wirkte; mit Darwin, den ich heiß verschlang, und mit Häckel, der mich Darwin begreifen lehrte – mit diesen vieren und anderen Neuen mußte man sich außerhalb der Universität privatim beschäftigen; sie waren damals für die Alma Mater noch seitwärtsliegende Größen.

Eine Reihe von Kollegien, die mich interessierten, mußte ich ›schinden‹, weil ich sie nimmer bezahlen konnte: Schwedische Grammatik und Frithjofsage; Sanskrit; Deutsche Geschichte; Nationalökonomie bei Haushofer; Mineralogie; Kulturgeschichte beiRiehl. Auch Dänisch trieb ich und übersetzte Hostrupps amüsantes Singspiel ›Eventyr paa Fodrejsen‹. Als ich bei dem Dichter anfragte, ob er mir die Verwertung dieser Übersetzung für die deutsche Bühne gestatten wolle, schrieb er mir einen saugroben, von Deutschenhaß erfüllten Brief.

Dieses Viele, dieses Vielfache durcheinander,[441] machte mir zuweilen das Gehirn ein bißchen rapplig, so daß ich ausspannen mußte. Manchmal half mir eine feste Tour ins Gebirge. Nicht immer. Und dann konnte ich wie ein wildes Füllen werden, das in Übermut nach allen Seiten ausschlug. ›Sich ausleben‹ – dieser Terminus war damals noch nicht im Schwang. Aber die Sache war die gleiche wie späterhin, nur war sie damals noch derber und gesünder als in den nachgeborenen Zeiten des Künstlercafés. Man wippte nicht als Übermensch die Asche von der Zigarette, sondern schlug mit der Faust auf jeden Tisch. Und Blut und Psyche gingen auch im Zustand hochgradiger Verrücktheit noch immer ihre geraden, natürlichen Wege.

Ich verdiente damals viel Geld – viel im Verhältnis zu dem bescheidenen Taschengeld, an das ich gewohnt war. Der wohlwollende Zufall hatte mir einen jungen, reichen Amerikaner beschert, den ich zum Eintritt ins Polytechnikum vorbereiten sollte. Das trug mir über ein Jahr lang jeden Monat 100 Mark.

Um die gleiche Zeit war die kleine Wohnung der Eltern für uns alle zu eng geworden. Mein heranwachsender Bruder brauchte sein eigenes Stübchen; wir beide konnten bei der Fahrigkeit unserer [442] Ellenbogen zwischen vier schmalen Wänden nebeneinander nicht arbeiten; so erbte der Bruder mein Hofzimmerchen, und ich, fern dem väterlichen Bereich, dem bändigenden Blick der Mutter entrückt, bekam meine Studentenbude draußen in der Stadt. Wenn ich bei solcher Ungebundenheit auch der Pflicht meiner Tage gehorchte, so war ich doch unumschränkter Herr meiner Nächte. Das tat mir nicht gut. Aber grob geschadet hat es mir schließlich auch nicht.

Mit harmlosen Studentennarreteien fing es an. Sie wären schockweise zu erzählen. Ein paar Pröbchen nur.

Der Monumentalbrunnen vor der Universität war in sommerlichen Nächten meine Badewanne. Wenn ich spät vom Hofbräuhauskeller heimkehrte oder mit den Eltern im ›Grünen Baum‹ an der Isar gewesen war und noch das Verlangen nach Erfrischung fühlte, zog ich mich in der Schattendeckung der Universitätsfontäne aus und plumpste ins Bassin, pritschelte und plätscherte, gurgelte und spritzte, spielte ›Wassermann‹, machte die späten Wanderer lachen und jagte einsam heimzappelnden Frauenzimmerchen einen panischen Schrecken ein.

Auf dem öden Platze war in der Dunkelheit nie ein Gendarm zu sehen. Einmal, als ich badete, [443] kam aber doch einer. Er war sehr empört über die ›Unfläterei‹, wie er mein Bedürfnis nach Reinlichkeit und Erquickung nannte. Im Nu hatte er meine Kleider unter dem rechten Arm, meine Stiefel in der linken Hand, retirierte aus dem Spritzbereich der Brandung, die ich im Bassin verursachte, fühlte sich als der Stärkere und sprach: »Sö! Genga S' aussi da!«

»Ich mag nicht.«

»Guat! Da nimm i halt 's Gwand mit auf d' Wach!«

»Sie werden öffentliches Ärgernis erregen, wenn Sie mich zwingen, nackt durch die Stadt zu laufen.«

»Herrgottsakra!« Ratlos stand er ein Weilchen im Dunkel der Nacht.

Weil mir meine Situation ein bißchen bedrohlich erschien, verlegte ich mich aufs Parlamentieren. »Wenn Sie meine Kleider wieder hinlegen und auf die Seite gehen, steig ich heraus und ziehe mich ruhig an.«

»Also! Meinetwegen!« Er legte die Kleider auf die Steinstufen des Brunnens hin und trat ein paar Schritte zurück.

»Ja, so geht das nicht! Ich kann doch nicht putzelnacket vor einem wildfremden Menschen aus dem Wasser steigen.«

[444] »Was? Schamgefühl wollen S' aa no haben? So narreter Saubartl! Hätten S' Eahna net auszogen!«

»Ich werde jetzt nicht über die Qualität meines Schamgefühls mit Ihnen streiten. Aber wenn Sie nicht auf die andere Seite des Brunnens hinübergehen, bleib ich im Wasser ... meinetwegen, bis es Tag wird.« Weil er sich weder vom Fleck rührte, noch Antwort gab, fügte ich bei: »Sie brauchen nur so lange da drüben zu bleiben, bis ich das Hemd anhabe. Dann schenier ich mich nimmer.«

Dieser Vorschlag schien ihm akzeptabel. Er dachte wohl: bis ich in Hosen und Stiefel käme, hätte er mich schon. Marschierte also im Bogen um den Brunnen herum – und als er drüben war, sprang ich aus dem Wasser, haschte das Bündel meiner Kleider unter den linken Arm, packte mit der rechten Hand meinen Hut und meine Stiefel und rannte mit den Sprüngen eines Marathonläufers gegen das Siegestor. Der Gendarm unter Flüchen und Keuchen hinter mir her. Im Schatten des monumentalen Tores schlug ich einen Hacken in die nahen Stauden und war gerettet. Denn der Platz, auf dem heute die Akademie der Künste steht, war damals noch wüste Heide mit allerlei Gebüsch.

[445] Das Baden im Universitätsbrunnen unterließ ich für längere Zeit. So beschneidet uns die Zivilisation alle kleinen, harmlosen Freuden des Lebens.

In einer sommerlichen Vollmondnacht, als ich mit meinem Kameraden von Schwabing durch die Ludwigstraße heimkehrte, gerieten wir in eine Debatte über die Architektur der Staatsbibliothek. Dieses Gebäude, das nach den vier Statuen der hellenischen Weisen vor seinem Portal als ›Palast der vier heiligen drei Könige‹ bezeichnet wurde, hat eine aus großen Quadern gebaute Fassade. Zwischen den Quadern des Sockels und der Mauerkanten befinden sich tiefe Fugen. Beim Anblick dieser im Mondlicht schwarz erscheinenden Leiterzeichnung kam ich auf den prachtvollen Gedanken, daß man an der Ecke der Fassade bis zum Dach hinaufklettern könnte, wenn man diese Quaderfugen als Griffe für die Hände und als Sprossen für die Füße benützt und dabei über die Kante des Gebäudes hinaufreitet. Man mußte nur zuerst auf die hohe, an die Fassade stoßende Mauer des Bibliothekgartens steigen; dann konnte die seine Kletterei beginnen.

Mein Kamerad begeisterte sich gleich für diesen Einfall, und wir wetteten: wer höher hinaufkäme.

[446] Beim ›Zipfeln‹ entschied das Los, daß ich den Anfang zu machen hätte. Ich klomm auf die Gartenmauer. Dann fing dieses Leitersteigen an. Die Sache machte mich schwitzen. Man mußte sich in den Quaderfugen mit Händen und Füßen tüchtig ›einkrallen‹. Und in der Höhe des ersten Stockes war ein Mauergesimse, um das man schwer herumkam. Doch über die Benediktenwand, die ich an Pfingsten bestiegen hatte, war's noch härter hinausgegangen. Ich stieg und stieg, kam bis an die Kante des Daches und brachte mich auch glücklich wieder herunter. Jetzt begann der andere die Kletterei. Als er zehn oder zwölf Meter hoch droben war, klang es auf dem Trottoir der Ludwigstraße: trabbi, trabbi, trabbi. Zwei Polizisten kamen gelaufen. Mein Kamerad, der droben im schönsten Mondlicht an der Mauer hing, hatte sie schon gesehen und rührte sich nimmer. Sein Filzhütl lag auf dem Pflaster; ich schob es flink in die Hosentasche. Jetzt waren die Polizisten da. Und fragten mißtrauisch: »Was is denn? Was gschieht denn da?«

Ich fuhr mit den Händen nach ihren Mäulern und flüsterte: »Um Gottes willen! Nur keinen Laut! Das ist ein Mondsüchtiger. Der ist wie ein Eichkatzl an der Wand hinaufgestiegen, ist [447] droben auf dem Dach spazierengegangen ... ich hab' alles ganz genau gesehen ... und jetzt will er wieder herunter.«

Der eine von den beiden glaubte gleich, der andere blieb mißtrauisch und wollte reden.

»Um Christi Barmherzigkeit! Nur keinen Laut! Der Mondsüchtige scheint ohnehin schon etwas gehört zu haben, weil er sich nimmer rührt. Wenn Sie jetzt noch ein einziges lautes Wort reden, wacht er völlig auf, fällt herunter wie eine Dampfnudel und ist mausetot. Dann haben Sie die Verantwortung. Ich bin Mediziner. Jetzt hab' ich Ihnen alles gesagt. Jetzt machen Sie, was Sie für richtig halten!«

Der eine guckte stumm zu dem Mondsüchtigen hinauf, der andere lispelte: »Herrgott, was tuat ma denn da?«

»Ich meine, Sie sollten sich ganz ruhig verhalten. Wenn der Mondsüchtige nichts mehr hört, wird er bestimmt herunterkraxeln und heim wollen in sein Bett. Wenn Sie damit einverstanden sind, werde ich auf die Mauer hinaufsteigen. Dann werde ich, wenn der Mondsüchtige herunterkommt, gleich seinen Puls fühlen, werde ihn aufwecken und so mit ihm sprechen, wie man als Arzt mit einem Mondsüchtigen reden muß.«

[448] Der Mißtrauische flüsterte: »Der is ja ganz anzogen! Wie a Gsunder! I hab mer sagen lassen, daß d'Nachtwandler allweil im Hemmed san?«

»Nicht immer!« versicherte ich mit wissenschaftlichem Ernst und stieg, von dem Gläubigen unterstützt, auf die Mauer.

Der Mondsüchtige kletterte achtsam über die Quaderleiter herab. Als er an meiner Seite war, faßte ich seine Hand und sprang mit ihm in den Grasgarten der Bibliothek hinunter. »Adieu, meine Herren! Einen schönen Gruß von den Nürnbergern!« Wir rannten davon. Hinter uns hörten wir noch die Stimme des Mißtrauischen: »Gelt, ja, i hab mer aber glei so ebbes denkt!« Eine Mauer und ein paar Gartenzäune mußten überkraxelt werden; dann waren wir in der heutigen Kaulbachstraße, die damals noch Gartenstraße hieß, und konnten ungefährdet einen lachenden Bummel im Mondenglanz des Englischen Gartens unternehmen.

Ein anderer Streich ist vorbildlich geworden und hat seit dreißig Jahren viele Nachahmer gefunden. Im Hof des Hauses, wo ich wohnte, wurde eine neue Senkgrube ausgemauert. Und in einer vergnügten Mitternacht hatte mein Kamerad [449] mich heimbegleitet. Als ich das Tor aufsperrte, sahen wir im Hausflur die großen, schweren Balken liegen, mit denen die neue Senkgrube gedeckt werden sollte. »Du! Komm! Jetzt nehmen wir so einen Balken und tragen ihn spazieren! Das wird fidel!« Wir hoben den klobigsten dieser Blöcke auf die Schultern und steuerten im Leichenträgerschritt der Ludwigstraße zu. Beim Königsdenkmal wurden wir arretiert. Obwohl wir alle Heiligen zu Zeugen dafür anriefen, daß der Ballen quasi unser Eigentum wäre, mußten wir ihn auf die Polizei tragen. Der Kommissär nahm unsere Personalien auf, ließ sich von der Wahrheit überzeugen, hielt den ›Versuch einer Kraftprobe‹ für keine gesetzwidrige Sache – und da wir nach Aussage unseres Häschers keinerlei Ruhestörung verursacht hatten, konnten wir nach Hause gehen, mitsamt unserem Balken. Natürlich machten wir einen Umweg. In der Maximiliansstraße wurden wir arretiert. Als wir wieder auf der Polizei erschienen, tauchte der verständige Herr Kommissär die Feder nicht mehr ein, sondern sagte zu unserem Ergreifer: »Lassen S' die Herren in Ruh! Die tragen bloß ihren eigenen Sparren spazieren.« In Freiheit schleppten wir unseren Balken weiter, natürlich wieder auf einem anderen Weg. Zwischen [450] Maffeistraße und Promenadeplatz wurden wir abermals hopp genommen, abermals auf die Polizei geführt. Jetzt lachte der Kommissär. Und sprach: »Meine Herren! Wissen S' was! I gib Ihnen an Gendarm als Begleitung mit. Da können S' Ihren Tremel ungestört umanand kutschieren, so lang wie S' mögen.« Wir gingen und gingen, der Gendarm gemütlich hinter uns drein – doch auf die Dauer war dieser ›sichere Spaziergang‹ keine lustige Sache mehr, und so trugen wir schließlich den Balken nach Hause.

Das heiterste von meinen Turnieren mit der heiligen Hermandad begann unter den Arkaden, angesichts der Rottmannschen Fresken. Da wanderte ich in einer schönen Mitternacht vom Cuso Maximilian meiner Bude zu und ging, den Weg kürzend, durch die Arkaden des Hofgartens. Bei gedankenlosem Schlendern kommt man zuweilen auf hirnverbrannte Einfälle. Statt meinen geraden Weg zu gehen, konstruierte ich um die Säulen des Arkadengangs herum eine Schlangenlinie. Ein Gendarm, der aus irgendwelchen, mir unbekannten Gründen schlechter Laune zu sein schien, trat plötzlich auf mich zu und sagte: »Sie! Machen Sie da koan Unfug! Gehen S' ruhig nach Haus!« Ich sah ihn schweigend an, gaukelte auf meiner [451] Schlangenlinie weiter, machte am Ende des Arkadenganges kehrt – und statt nach Hause zu gehen, was ich ohne die verwunderliche Intervention des öffentlichen Ordnungswächters wohl getan hätte, beschrieb ich meine Schlangenlinie wieder nach rückwärts, gegen die Residenz hin. Als ich an dem Gendarm vorüberkam, führ er wütend auf mich los: »Sie! Wann S' Ihren Unfug net augenblicklich abstellen, passiert Eahna was!«

Ich sagte ruhig: »So? Was denn?« – turnte im Schwung meines gewundenen Weges weiter, machte bei der Residenzmauer kehrt und wanderte in gemütlichen Serpentinen wieder den Arkadengang hinauf. Der Schlechtgelaunte vertrat mir den Weg: »Sie sind arretiert!«

»Soooo? Das ist aber merkwürdig! Na also, ich gehe ohne jeden Widerstand mit Ihnen.«

Schweigend marschierten wir Seite an Seite nach der Polizeiwache, ich zur Linken, er zur Rechten.

Bei der Feldherrnhalle sagte der Gendarm: »Also, meinetwegen, ich will die Sach auf sich beruhen lassen, unter der Bedingung, daß Sie jetzt ruhig hoamgengan.«

»O nein! Sie haben mich arretiert. Jetzt kommen Sie nur mit mir auf die Polizei! Was dort geschieht, das werden Sie ja sehen!« [452] »Ah, freili, ja glauben S' vielleicht, ich fürcht mi vor Eahna?«

»Das glaub ich nicht! Aber kommen Sie jetzt nur schön mit mir!«

»Ja, ja, i geh scho!«

Wir schwiegen wieder und marschierten. Als wir in der Theatinerstraße waren, sagte ich: »Sie, Herr Gendarm, die Sache wird sehr übel für Sie ausfallen. Ich habe nicht das Geringste getan, was Ihnen ein Recht gegeben hätte, mich zu arretieren. Sie haben einen Mißbrauch Ihrer Amtsgewalt begangen und haben mich widerrechtlich meiner persönlichen Freiheit beraubt.«

»So? No ja ... dös will i jetz grad amal sehgn ... wie's ausfallt.«

Wir wanderten und schwiegen. Als wir, schon nahe dem Polizeigebäude, zur Schäfflergasse kamen, packte plötzlich der Herr Gendarm mit der Linken seinen Säbel, mit der Rechten seinen Helm und rannte wie ein Dieb in das dunkle Gässelchen hinein.

Nach der ersten Verblüffung sprang ich hinter ihm drein und brüllte: »Halts ihn auf! Halts ihn auf!« Von allen Seiten kamen Leute gelaufen und wollten wissen, was denn los wäre. Ich gab keine Antwort, rannte nur und schrie immerzu:

[453] »Halts ihn auf! Halts ihn auf!« Da begannen auch die Neugierigen zu springen und zu zetern:

»Halts 'n auf! Halts 'n auf!«

Der Gendarm war nicht mehr einzuholen. Ich mußte zum erstenmal die Wahrnehmung machen, daß einer von der Polizei noch wesentlich flinker rennen konnte, als ich.

Vom Kapitel der Studentenstreiche kann ich mich nicht verabschieden, ohne vor der süddeutschen Polizei, um ihrer rein menschlichen Qualitäten willen, eine respektvolle Verbeugung zu machen. Für die Münchener Polizisten von 1875–81 war ich eine quälende Wanze. Doch ich weiß: wenn wir schnurrköpfigen Wildlinge von damals diese vielen Streiche nicht der heimatlichen Polizei, sondern der Berliner Schutzmannschaft gespielt hätten, da wären wir viel weniger glimpflich weggekommen. Bei uns zu Hause atmete unter der Polizeilarve doch immer wieder eine fühlende Brust. Das hab' ich erst neuerdings vor kurzer Zeit erfahren. An einem Faschingsdienstag, beim Kappenbummel auf der Maximiliansstraße, warf ich mit Knallerbsen. Ein Schutzmann trat auf mich zu und erklärte ernst: »So, Herr, dös is fei(n) verboten!« Ich sagte: »Sooo?« Und warf [454] ihm eine Knallerbse auf den Helm. Da lachte der Schutzmann und drohte mit dem Finger: »Sö san aber oaner! Und von Glück können S' sagen, daß heut Fasnachtsdienstag is!« Einen Lorbeer um die Pickelhaube dieses wackeren Mannes mit der großzügigen Humoristenseele!

Nach diesen lustigen Studentenstreichen darf man aber die Lebensfarbe meiner Universitätsjahre nicht beurteilen. Die Zeiten waren da nicht immer heiter. Graue Verzweiflungsstimmungen lösten die scharlachfarbenen Jubelstunden ab. Es war ein ruheloses auf und nieder zwischen Freude und Qual, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Das kam aus einem Widerspruch, dem meine Natur verfiel. Ich wollte in reiner Liebe meinem Luischen heilige Treue halten – und brachte dieses schöne Lebenskunststück mit dem redlichsten Willen nicht mehr fertig. Das Naturgesetz von den erschlossenen Brunnen war stärker als aller Wohlverstand meines Herzens. Immer wieder mußte ich an den klugen Pfarrer von Hegnenbach denken, doch auch immer wieder einem ›Schwächlingswörtle‹ des jungen Blutes gehorchen. Aber ich blieb in den Schlingen dieser dunklen Gewalt nie wehrlos hängen. Ich hatte, um ein Goethesches Wort zu variieren, wohl [455] selten die Kraft, einer liebenswürdigen Versuchung zu widerstehen, doch immer die Stärke, das Übel wieder von mir abzulösen, sobald die Reue mein Herz in ihren strafenden Gluten schmorte. Aber hatte ich das Gefühl: jetzt bist du erlöst – dann faßte mich gleich wieder eine neue Gefahr beim blonden Haarschopf. Das ist nicht nur bildlich gemeint, auch ganz buchstäblich. Für diese kleinen, zärtlich schenkenden Händchen hatte mein gesegneter Haarwuchs eine rätselhafte Anziehungskraft. Zwischen der Legende vom Simson und den jugendlichen Abenteuern, die in ruhelosem Wechsel neben meiner jungen Liebe einhergaukelten, ist ein mysteriöser Zusammenhang zu konstatieren. Wollte ich ruhigere Zeiten haben, dann mußte ich mir die Haare kurz abschneiden lassen. Aber man mag doch nicht immer wie ein geschorener Verbrecher herumlaufen.

Was ich heute lachend erzählen kann, das war vor dreißig Jahren eine Pein, über die ich zuweilen vor Wut hätte heulen mögen. Und manch ein grauer Morgen der Reue sah mich auch so: mit den Händen vor dem Gesicht, die Augen brennend von ehrlichen Tränen. Ein ganz abscheulicher Zustand war's: mein Herz geschieden von meinem Blut, und jeder Teil führte sein gesondertes [456] Leben. Ich litt unter diesem Zwiespalt so grauenhaft, daß seine psychischen Revolten für meine Lebensruhe und meine physische Gesundheit gefährlicher wurden, als es die Ursachen waren, aus denen diese seelischen Störungen resultierten. Solang ich vergnügt und sorgenferne drauflosjubelte, sah ich immer aus wie das blühende Leben. Doch wenn mich der moralische Katzenjammer zwischen heißen Zangen hatte, wenn ich meine guten Vorsätze zur Tat machte und ein paar Monate lang der anständigste und treueste Kerl von der Welt war, dann sah ich gewöhnlich so elend und miserabel aus, daß die Mutter in Sorge fragte: »Jesus, Bub, was ist denn mit dir?« Bei solcher Frage, als ich stumm den Kopf schüttelte, sagte Papa einmal mit zorniger Härte: »Ich kann mir's ungefähr denken!« Und dabei kam mir der Hund des Schäfers von Villenbach in Erinnerung, bei dem die Treue so ausgesehen hatte wie eine krankhafte und lebensgefährliche Sache.

Der Zwiespalt, unter dem mein Herz und Blut ohne Ruhe zitterte, färbte auch auf alles ab, was ich neben meinen fleißig und gewissenhaft betriebenen Studien literarisch zu arbeiten versuchte. Alles Größere blieb im Anfang oder [457] in der Mitte stecken, nichts brachte ich fertig zu Ende. Nur die kleinen Lieder, die der Stunde entsprangen, hatten immer ihre letzte Strophe. Und da konnten mir Abend und Morgen des gleichen Tages zwei Lieder geben, von denen jedes wie von einem anderen Menschen ersonnen schien: das eine ein frivoler Leichtsinnsklang, dessen Form unter dem Einfluß von Grisebachs Neuem Tannhäuser stand, das andere eine reine, zärtliche Sehnsuchtsklage, für die ich mir das Vorbild bei Goethe, Rückert oder Lenau holte.

Während ich Mussets kapriziöse Dichtung ›Namouna‹ zu übersetzen anfing, fraß ich mich mit heißer Gier in die orientalische Literatur hinein und konzipierte einen Liebesroman ›Medschnun und Leila‹, der ein hohes Lied der reinen, allen Lebensstürmen trotzenden Treue werden sollte. Nach dem dritten Kapitel warf ich diese unmögliche Sache wieder fort und begann, mit Freude und Selbstmarter, ein phantastisch-gruseliges Epos in Oktaven: ›Der Ring des Silvio‹. Der alte Stoff ist bekannt. Ich änderte ihn, wie meine Stimmung es verlangte, spickte ihn mit hundert Subjektivitäten meines eigenen Doppellebens und gab ihm eine schauerliche ›Gerechtigkeit‹, mit deren Bildern ich mich selbst bestrafte.

[458] Silvio, ein junger italienischer Edelmann, zu Gutem begabt, leichtsinnig, übermütig und vom Glück verhätschelt, verliebt sich als siebzehnjähriger Knabe in seine fünfzehnjährige Base Miranda, in das reine, zarte, süße Kind. Silvio, dessen Liebe tief und wahr ist, gewinnt Mirandas Herz. Sie tauschen in blühendem Frühling heimlich den Schwur der Treue. Mirandas Vater, der nur die Rechte des Alters gelten läßt, jedes Recht der Jugend als Wahn erklärt und aus egoistischer Zärtlichkeit die geliebte Tochter nicht verlieren will, weist Silvios Werbung ab. Um die klagende Sehnsucht in den Augen seines blassen Kindes zu trösten, willigt er in eine siebenjährige Prüfungszeit. Den Liebenden erscheint das schon als Besitz des Glückes. Miranda erblüht, ihr Harren ist träumende Freude. Silvios Geduld wird Kampf und Qual, sein Herz gehört in Liebe der erwählten Braut, sein Blut wird müde, wird schwach. Und da trinkt er in brennendem Durste von allen Bechern des Lebens. Er ist ein Zwiespältiger geworden: einer, der in Sehnsucht betet, und einer, der in unersättlichem Genusse lästert und flucht. In einer mondschönen Sommernacht, mit den Freunden von einem tollen Gelage heimkehrend, nicht betrunken, doch berauscht, findet [459] Silvio in einer Säulenhalle am Meeresufer ein Marmorbild der Aphrodite. Im Taumel seiner Sinne, in der Ekstase eines Verzückten, spricht er die schöne, steinerne Göttin an, singt das Lob ihrer ewigen Allmacht und reicht ihr als Dank und Opfer einen Goldring mit blitzendem Rubin.


»Du gabst mir viel! Gib alles! Gib das Höchstel

Dich selbst! Du meines Blutes süße Braut!

Du gabst dich Tausenden! Ich bin der Nächste!

Nimm diesen Ring – du bist mir angetraut!«


Silvio steckt den Ring an einen Finger der Marmorhand, die den Schoß des steinernen Bildes verhüllt. Einer der Freunde stammelt in Schreck: »Weh' dir, Verlorener!« Die andern lachen, bekränzen den Bräutigam der süßesten Göttin mit Orangenzweigen und führen ihn heim zu seinem Lager. Silvio erwacht am Morgen, geweckt durch die jubelnde Stimme seines Dieners: »Herr, dein Glück ist kommen!« Mirandas Vater, der die stillen Tränen seines Kindes nimmer zu sehen vermochte, hat eingewilligt in die Vermählung. Mit einem Freudenschrei springt Silvio vom Lager auf – wird bleich und zittert. Die Besinnung dessen, was in der Nacht geschah, ist wach in ihm geworden. Und die Reue zerfleischt sein Herz. Er stürzt wie ein Irrsinniger zum Meeresufer und [460] will den Ring von der Marmorhand der Göttin reißen. Das Gold sitzt fest, ist wie mit Feuer eingeschmolzen in den weißen Stein. Und die Göttin lächelt stumm und ruhig herab auf den zerstörten Menschen.

So weit war ich in sieben Gesängen gekommen. Achte sollten es werden. Der letzte blieb ungeschrieben. Es kam ein Riß in die Arbeit, weil mir die ›Gerechtigkeit‹ nicht mehr gefiel, mit der ich den Silvio und mich selbst bestrafen wollte.

Nach dem Plan, den ich gesponnen hatte, scheucht Silvio im Glauben an sein heilig erneutes Glück alle Furcht und Qual aus seinem Herzen. Stein ist Stein, nach allem dunklen Taumel kommt das Recht eines hellen Erwachens, das Gewesene ist vergangen, und kein Gott verzeiht die Sünden der Menschen so gerne wie der Gott des blühenden Glückes. Mirandas leuchtende Augen richten den Gebeugten auf, in dem aller Zwiespalt erloschen, Herz und Blut nun verbunden sind zu natürlicher Einheit. Die Vermählung wird gefeiert, die Geigen klingen, es duften die Blumen, Freude jubelt und Freude zittert, purpurne Dämmerung leuchtet, und über Rosenblätter geht der Weg des vermählten Paares zum Brautgemach.

[461] »Nur du und ich.« Nun jäh ein gelles Schreien:

»Herr Jesu Christ! Wer kam? – Wir sind zu dreien!«

Und dann sollten sich zwei steinerne Arme um Silvios Kehle klammern und sein Leben unter kalten Küssen erwürgen. Und das arme, schuldlose Mirandelchen sollte sein zwecklos gewordenes Dasein als trauernde Nonne beschließen.

Nein! Das ging mir, als ich bei meinem Epos zum achten Gesange kam, energisch gegen den subjektiven Strich. Ich selber wollte leben, wollte nicht erwürgt werden. Da durfte ich auch an meinem Helden kein allzu grausames Exempel statuieren. War er denn wirklich gar so schrecklich schuldig? Ich begann, unter dem Gedanken an mich selbst, den Kopf zu schütteln. Hätte Mirandas Vater, in dem ich den Widersinn der naturfernen Zivilisation zu personifizieren gedachte, etwas vernunftgemäßer und natürlicher gehandelt, dann wäre Silvio höchst wahrscheinlich ein ganz anständiger und reinlicher Menschensohn geblieben. Junge Sünde, die junges Leben ermorden muß? Solch eine steinerne Gerechtigkeit ist doch nicht notwendig. Wenn das Leben nicht pardonieren kann, dann soll die künstliche Verzwicktheit des Lebens die Menschen auch nicht versuchen über ihre Kraft. Es kann nicht jeder ein St. Antonius [462] sein, ganz abgesehen davon, daß man an die eisenfeste Tugend des heiligen Antonius gar nicht zu glauben braucht. Die Legende der Heiligen ist pädagogisches Märchen zu neun Zehnteln. Oder diese Heiligen müßten nichtMenschen gewesen sein. Und jedenfalls ist es ein sehr kluges Gesetz der Kirche, keinen Menschen heilig zu sprechen, bevor er nicht mindestens hundert Jahre lang tot ist. Nach hundert Jahren sehen sich die Dinge wesentlich anders an, als zwischen gestern und heute. Alle Ferne verklärt. Das weiß ich, der ich die Berge kenne. Man muß nur den nötigen Luftraum zwischen sich und dem Harten haben; dann mildern sich alle Schatten, während die Lichter sich erhöhen.

Also, ich warf – durch die von mir selbst konstruierte ›Gerechtigkeit‹ verärgert – den Ring des Silvio unvollendet in eine Schublade. Und nun wollte ich was Ernstes und Reales arbeiten. Ein Traum meiner Neuburger Seminarzeit erwachte wieder: Heinrich der Vierte, eine Trilogie! Mit Fleiß begann ich historische Studien zu machen. Die Teilung des Planes ergab sich aus der Geschichte. Erster Teil: Das Drama von Heinrichs Ehe, die Höflingswirtschaft, sein Kampf gegen den sächsischen Adel, Gewinn des Volkes [463] Aufdämmern der großdeutschen Idee. Zweiter Teil: Vereinsamung des Mannes, der ein Großes will; Scheitern seines Planes am Partikularismus der egoistisch und klein denkenden Fürsten, Kampf wider Rom, Gang nach Canossa. Dritter Teil: Der Vater im Zwiespalt mit seinen Söhnen, Heinrichs Untergang.

Während der Studien und Vorarbeiten zu diesem Plane spukte mir immer wieder die nur halb erledigte ›Gerechtigkeit‹ aus dem Ring des Silvio durch Hirn und Herz. Bei der Qual, die mir der unlösbare Zwiespalt meines Lebens immer neu bereitete, wollte ich die Möglichkeit eines solchen Zwiespaltes erforschen und begreifen. Ich fühlte: die Liebe meines Herzens ist ehrlich, tief und wahr. Wie konnte mein Blut dann andere Wege gehen? Was ist Liebe? Nur eine Sehnsucht aus dem Brunnen des Blutes? Ist Liebe auch bei den Menschen nichts anderes wie der von der Natur erzwungene Zeugungswille der Tiere? Dann wäre jede reine und heilige Zärtlichkeit des menschlichen Herzens ein Widersinn und ein Stück Unnatur? Nein, nein und nein! Meine Liebe war das Beste und Köstlichste meines Lebens. Liebe bei Menschen muß etwas anderes sein als jenes dunkle, wahllose Verlangen der [464] Tiere, etwas Schöneres und Höheres! Und jene Liebe beim ersten Blick, wie sie dem Luischen und mir ins Herz gefallen? War das nicht wie ein Sichfinden nach einer Sehnsucht seit Ewigkeiten?

Eine Stelle aus Platons Gastmahl setzte sich in meinen grübelnden Gedanken fest. Wie diese Stelle für Platon eine Perversität erklärte, so erklärte sie mir das Kostbarste des Menschenlebens: die Liebe als eine Erfüllung der ewigen Sehnsucht zweier Seelenhälften, die zueinander gehören, füreinander geschaffen sind, sich suchen und sich finden müssen, um göttliche Einheit zu werden. Ist das die Liebe, so muß sie unabhängig sein von allen Wirbeln des Blutes, unabhängig von allen äußerlichen Dingen, unabhängig sogar von der Schönheit oder Häßlichkeit der menschlichen Gestalt.

Aus solchem Gegrübel wuchs mir der Plan zu einem schwül verklausulierten Trauerspiel heraus, das den Titel ›Die Witwe von Alikante‹ haben sollte. Den Namen Alikante hatte ich auf der Landkarte von Spanien gefunden – weil ich eine Hafenstadt brauchte, die den maurischen Königreichen von Afrika gegenüberlag.

Zu Alikante lebt ein reicher Grande von altspanischer Denkungsart, stolz, mit einem Ehrbegriff, [465] der geschliffen ist wie ein Rasiermesser. Seine Tochter Dolores ist ein Juwel an Schönheit, Tugend und Liebreiz. Und in dieser Stadt Alikante lebt auch Don José, ein junger Edelmann, der bei tollem Leben und in zügellosem Genusse sein Gut und seine Jugend vergeudet, ein Geistesbruder des Rolla, ein Don Juan redivivus. José und Dolores sehen sich zum erstenmal bei einem heiteren Feste, und der beiden Herz ist Liebe beim ersten Blick – Liebe fürs Leben, jene ewige Liebe, die göttliche Einheit werden will. José, der sich der Farben seines bisherigen Lebens nicht zu entkleiden vermag, verführt die Geliebte; er handelt an ihr, wie er schon an hundert anderen getan. Das heimliche Bündnis wird entdeckt. Der alte Grande, in seiner Ehre tödlich verwundet, will vor Sonne, Gott und Menschen ausgleichen, was unter dem Schleier der Nacht verbrochen wurde. Er vermählt seine Tochter dem jungen Wüstling. Doch nach vollzogener Trauung läßt er den Bräutigam vor der Schwelle des Brautgemaches ergreifen und auf eine Galeere schleppen, die in See sticht, um gegen die Mauren zu kämpfen. Bei einem Seegefechte wird Don José durch den Hieb eines Krummsäbels schwer verwundet, stürzt über Bord ins [466] Meer und gilt für die Seinen als ein Verlorener, als ein Toter. Doch er wird gerettet. Maurische Fischer lösen ihn von einem treibenden Balken und bringen ihn als Gefangenen dem Bey von Tunis. In niedriger Sklavenarbeit rinnen ihm die Jahre dumpf und schwer dahin. Sein Äußeres altert und verändert sich zur Unkenntlichkeit. In seinem Inneren bleibt Eines jung und lebendig: die brennende, dürstende Liebe zu Dolores. Aber diese Liebe, die sich läutert im Elend, wird von nagender Eifersucht gemartert, da José das Bild des geliebten Weibes nach dem Bilde seines eigenen Lebens wertet. Wie könnte er, der niemals Treue hielt, an Treue glauben? An Treue über den Tod hinaus? Er muß doch für seine Gattin ein Versunkener sein! Und sie wird sich getröstet, wird ihre Hand, ihr Herz und ihren Leib einem neuen Gatten geboten haben. Josés Marter und Sehnsucht beginnt schon an halben Wahnsinn zu grenzen, als ihm ein neugefangener Spanier von der über den Tod hinaus getreuen ›Witwe von Alikante‹ erzählt, von ihrem Leid, von ihres Vaters Gram und Sterben, von dem Schleier, der nie ihr Gesicht enthüllt, von ihrem Kirchgang an jedem Mittwoch, den sie für den Todestag ihres Gatten hält, und [467] von dem Schwarm der Freier, die sich um die schöne Witwe sammelten, wie einst die Werber um das Weib des Ulysses. José zerbricht seine Ketten, nach zehnjähriger Gefangenschaft gelingt ihm die Flucht, und er kehrt nach Alikante heim, als Matrose, als Bettler.

Hier sollte mein Trauerspiel beginnen, das Schritt um Schritt neben allem Kommenden das Vergangene aufzurollen hatte.

An einem Mittwoch, zu Beginn der Messe, sitzt José, ein Bettler, vor dem Domtor von Alikante, durch die Leiden der Gefangenschaft und die Qualen seines Herzens so entstellt, daß ihn die eigene Schwester, die dem Bettler ein Almosen reicht, nicht mehr erkennt. Es kommen die Freunde seiner wüsten Nächte von einst, sie gehen an ihm vorüber, José ist ihnen ein Fremder. Nun kommt Dolores, um die Trauermesse zu hören, die für ihren versunkenen Gatten gelesen wird. José streckt die Hand und bettelt: »Gib, schöne Herrin, eine Gabe! Du bist reich. Mich hungert.«

Dolores steht beim Klang dieser Stimme betroffen, sie schlägt den Schleier zurück, um besser zu sehen.

»Herrin? Was sucht dein Blick in meinen Augen?«[468] Dolores schweigt, verhüllt das Gesicht und reicht dem Bettler eine Gabe. »Seit Jesus starb, sind alle Wunder tot.« Sie tritt in die Kirche, wendet unter dem Tor das Gesicht und schickt eine Dienerin zurück.

»Die Herrin möchte wissen, wie du heißt?«

»José.«

Diesen Namen trägt die Dienerin in die Kirche.

Es kommt der Schwarm der Freier. Ihre Reden fallen wie Feuer und Nesseln auf das Herz des Lauschenden. Während der Messe findet sich ein schwatzlustiger Invalide zu ihm, der an jenem Seegefecht auf der Galeere teilgenommen. In dieser Szene enthüllt sich für den Zuschauer ein Teil der Vorgeschichte. Auch der Invalide, der mit eigenen Augen den Don José im Meere versinken sah und die schwarze Botschaft heimbringen half nach Alikante, erkennt seinen Herren von einst nicht mehr.

»Bist du ein Blinder?« fragt José.

»Ich? Blind? Ich sehe wie ein Falk! Was lachst du?«

»Zwei Augen, die vom Weinen trüb geworden, die sahen besser noch als Falken sehn!«

Dolores, in Hast und schwer verstört, tritt aus der Kirche, noch ehe die Messe zu Ende ging.


[469]

»Der du den reichsten aller Namen trägst,

Du Wandersmann des Elends, sprich, wer bist du?«


José antwortet mit einem Märchen, das Wahrheit ist: ein spanischer Soldat, der gegen die Mauren kämpfte, verwundet und gefangen wurde, zehn Jahre Sklave war und nun entfloh.


»Und was begehrst du jetzt von deiner Heimat?«

»Mein Glück.«

»Bist du ein Mensch, der einsam ist?«

»Du stehst bei mir. Die andern kann ich missen.«

»Dann suche, was du Glück und Leben nennst,

In meinem Haus! Komm heute noch. Ich warte.«


Dolores eilt davon wie eine Fliehende, während die Domglocken zum Segen der Messe läuten und die Menschen aus der Kirche strömen. Und der Bettler jubelt:


»Ihr Wort war Güte nur. Ihr Blick war Liebe.«


Dieser erste Akt war in drei Nächten geschrieben. Dann kam ein qualvoller Kampf mit dem feuerspeienden Drachen des noch wirren Stoffes. Ich merkte bald, daß dieses Gegeneinanderlaufen des Kommenden und des Vergangenen weit über meine Neulingskräfte ging. Tagsüber, während ich meine Kollegien besuchte, dachte ich immer nur an dieses Brennende. In den Nächten zerkaute [470] ich den Federstiel und brachte nichts Rechtes mehr fertig. Hint' und vorne klappte mir die Sache nicht. Und manchmal gruselte mir vor dem Ungeheuerlichen, das da geschehen sollte: Liebe, die sich selbst auf die Folter spannt – Liebe, die ihr eigenes Leben erwürgt – und dazu Romantik, die (an Hernani und Ruy Blas geschult) sich auf den Kopf stellt und halsbrechende Purzelbäume schlägt.

José, bescheiden als Bürger gekleidet, wird von Dolores in ihrem Schlafgemach empfangen, an dessen Wand, über den Stufen einer kleinen Treppe, das lebensgroße Bild des Don José im Bräutigamsgewande hängt. Dieses Bild verhüllt die Türe des geheimen Ganges, durch den der Verführer von einst zu seiner heimlichen Freude schlich. Neben diesem Bilde der versunkenen Jugend steht José der Lebende, gealtert, doch mit erneuter Jugend in der flammenden Seele. Züge der Ähnlichkeit und hundert verräterische Worte führen Dolores dicht vor die Wahrheit hin, und dennoch erkennt sie das Wirkliche nicht. Sie liebt. Ihre Liebe ist hellsehend und blind zugleich. Dem gleichen Manne gehört ihr Herz mit der gleichen Liebe von einst. Zwischen der Vergangenheit, an deren Tod sie glaubt, und zwischen dem Leben der Gegenwart [471] beginnt eine trennende Mauer zu wachsen. José empfindet die Gefahr und will seinem Weibe die Wahrheit bekennen; doch immer wieder fällt ein Wort, das seinen Zweifel weckt, immer wieder geschieht, was seine Eifersucht in neues Glühen bringt, immer wieder findet er Ursache, die Liebe seines Weibes zu prüfen. Das Gegrübel und die Gedankenketten seiner Sklavenjahre werfen ihm Schlingen um Hirn und Herz. Zu Ende des zweiten Aktes, als Haushofmeister seiner Gattin, als halber Herr im reichen Besitztum seines Weibes, ist dieses arme Huhn der Selbstqual bei der Scylla und Charybdis angelangt: »Sie liebt mich wieder, und das ist ewige Treue, denn ich bin der gleiche, der ich war – aber nein, sie hält mich für einen anderen, und so ist ihre Liebe zur Untreue geworden!«

– Ach Gott, wie viele Flüche knirschte ich in die Qual dieser Arbeitsnächte hinein. Und ich begann es schon an mir selbst zu fühlen: daß Liebe und Reue, die unmäßig im Gegrübel sind, sich von der gesunden Natur entfernen und im Dickicht einen tragischen Wechselbalg gebären. Ich hatte die Empfindung: Wirf das schreckliche Zeug in den Winkel, mehr ist es nicht wert! Aber ich verbiß mich zäh in die Sache, nur weil sie schwierig wurde. –

[472] Einer nach dem andern in der Umgebung dieser beiden gequälten Maikäfer der Liebe und Schuld erkennt die Wahrheit: ein Neffe, ein Freund, die Schwester, ein Freier. Dieser letztere, weil er schwatzen will, muß stumm gemacht werden – (mir schwebte so was Ähnliches vor, wie der geistvolle Tod des Merkutio) – und muß über die Parkmauer ins Meer plumpsen, um sich in Fraß für die Fische zu verwandeln. Aus der Mörderstimmung, die dem Haushofmeister José in allen Fibern knistert, wächst ihm die ›große Szene‹ mit Dolores heraus, die Szene der letzten Prüfung. Um in Herz und Seele seines Weibes bis auf den tiefsten Grund zu schauen, weckt José in Dolores den Glauben: daß Don José noch am Leben wäre, als Gefangener des Bey von Tunis. Dem Irrsinn nahe, wirft sich Dolores an die Brust des Mannes, den sie liebt. Was kümmert sie der andere von einst, der in den Gärten von Tunis die Spargelbeete düngt! José erschrickt und beginnt zu merken, daß er das Kind mit dem Bade verschüttete. Er selbst hat nun zur Untreue gemacht, was reine und ewige Liebe war. Jetzt will er retten, was noch zu retten ist, will das Gewesene zu Hilfe nehmen, will seine Gegenwart als Vergangenheit maskieren. Er kleidet [473] sich zum letzten Akt in ein Gewand, wie es der Bräutigam von einst getragen, und will als Gatte zu seinem Weibe kommen, wie er einstens als Verführer zu Dolores kam – durch den heimlichen Gang, den das Bild verschließt. Die Rechnung dieses Denkers aus Liebe ist falsch und wird gefährlich. Dolores, gemartert vom Anblick des Bildes, das sich aus trauerndem Erinnern in eine Qual verwandelte, will diese freudenstörende Leinwand aus dem Rahmen reißen – die Leinwand fällt – aber das Bild des Bräutigams steht wieder da, lebendig und greifbar. Und Dolores stößt dem geliebten Mann den Dolch in die Kehle.

– Nein! – Mir graute vor den Bildern meiner eigenen Phantasie. Und was ich da machen wollte, drohte sich zu etwas völlig anderem auszuwachsen, als es werden sollte. Ich hoffte ein Lied der ewigen Liebe zu singen. Und hatte einen Kantus der menschlichen Hirnverdrehtheit angeschlagen. Ich wollte auf meine Pein ein poetisches Pflaster legen. Und hatte Salz auf meine Wunden gestreut.

Eines frühen Morgens, als die Sommersonne schön zu meinem Fenster hereinblinzelte, wurde mir die ungesunde Geschichte zu dumm, und ich [474] warf die verröchelnde Witwe von Alikante in die Schublade der abgelegten Kleidungsstücke meiner Seele.

Damals reiste mein junger, reicher Amerikaner, der mir monatlich hundert Mark getragen hatte, nach Amerika zurück – ich glaube: um die Hutfabrik seines Vaters zu übernehmen. Das Vorstudium für die polytechnische Schule war ihm so widerborstig geworden, wie mir die Witwe von Alikante. Und weil ich die hundert Mark pro Monat schmerzlich zu vermissen begann, mußte meine junge Kunst nach Brot gehen. Ich schickte Gedichte, Epigramme, politische Artikel, literarhistorische Essays und Kunstplaudereien an die Zeitungen. Die eine Hälfte kam zurück, die andere Hälfte blieb antwortlos verschollen.

Die Mutter sah mir meinen Kummer an den Augen an. Und Papa, der die Ursache meiner Trauer erforschte, sagte eines Tages: »Sind deine Sachen denn wirklich gar so schlecht, daß man dir alles zurückschicken muß? Laß mich doch einmal was anschauen!« Ich brachte ihm einen Schüppel Manuskripte. Und am anderen Morgen sagte Papa: »Das glaub ich schon, daß man dir alles zurückschickt! Dieses Buchstabengefuzel kann ja keine Katz nicht lesen

[475] Auf den Rat meines Vaters ging ich noch am gleichen Tage zu einem Kalligraphielehrer. Dann saß ich vier Wochen lang täglich zwei Stunden auf der Schulbank, lernte noch einmal schreiben wie ein Kind und bekam eine feste, deutliche Schrift, die noch heute das Wohlgefallen meiner Setzer ist.

Was mir die Zeitungen früher zurückgeschickt hatten, das wurde jetzt von den gleichen Zeitungen angenommen und niedlich honoriert. Als erstes größeres Schriftstellerhonorar bekam ich vom Bayerischen Landesboten für fünf ›Wanderbriefe aus Niederbayern‹ fünfzig Mark. Dafür kaufte ich mir eine silberne Zylinderuhr, die ich heute noch besitze, obwohl sie während des Restes meiner Studentenzeit ein paar längere Besuche im Pfandhaus machte.

[476]

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Fußnoten

1 Der Pferdehändler Krenkl, ein durch seine Derbheiten berühmtes Münchener Original aus der Zeit König Ludwigs I.

11.
XI.

Ein starkes Ereignis, das für mich beinah eine schwere Gefahr geworden wäre, trat in mein Leben herein, als – ich weiß nimmer recht: ob das Münchener Hoftheater oder Heinrich Laube in Wien – eine Preiskonkurrenz für ein Lustspiel ausschrieb. Ich machte mich gleich mit Dampf an die Arbeit und dachte an eine Intrigenkomödie im Stile von Scribe's ›Ein Glas Wasser‹.

Neben meinen literarhistorischen Studien betrieb ich damals noch immer die Physik als Lieblingsfach. Und eines Morgens, im Laboratorium, sagte Professor Beetz zu mir: »Da hab' ich jetzt einen Schüler bekommen, der aus etwas östlichen Bezirken stammt. Ein hochbegabter Mensch! Aber er wird schwer weiterfinden, weil es bei ihm an der Grundlage fehlt. Möchten Sie den Mann nicht ein bißchen in die Kur nehmen?«[477] Das tat ich gerne. Und am Nachmittage machte mich Professor Beetz mit dem Mann bekannt: Herr Siegfried Mundy. Er war ein paar Jahre älter als ich, um einen halben Kopf kleiner, breitschulterig, mit einer seltsamen Lässigkeit in allen Bewegungen. Im Leben schien es ihm nicht gut zu gehen; seine Kleider waren defekt, die Hosen hatten Fransen, die Stiefel waren schief getreten und hatten empörte Schnäbel. Sein Gang erinnerte an den Gang von Menschen, die viel in Filzschuhen gehen. Er stammte von irgendwo da drunten aus der Bukowina her und hatte in Czernowitz und Wien studiert. Gleich in der ersten Minute gewann er mich durch seine kluge Art, zu reden. Was er sagte, war gescheit und fein und hatte Glanz. Auf den breiten Schultern saß so etwas wie ein dunkler Musikerkopf, mit geistvollen und doch verträumten Augen, mit einem blassen feingeschnittenen Gesichte, das an Schumann erinnerte, auch ein bißchen an Napoleon. Ich ging mit ihm nach seiner Wohnung, um den Unterricht gleich zu beginnen. Er erzählte mir, daß er den Vater schon verloren habe, daß seine Mutter in sehr bescheidenen Verhältnissen lebe und ihm nur wenig geben könne. Die Zärtlichkeit, mit der er von dieser Mutter sprach, gefiel mir sehr. Das [478] war der Anfang unserer Freundschaft, die eine verhängnisvolle Sache wurde.

Der arme Kerl wohnte schlecht, sehr schlecht. Wir mußten die erste physikalische Repetitionsstunde in der Küche seiner Hausfrau abhalten, weil Mundy nur für die Nacht eine Bettstelle hatte, die am Tage von einem Nachtpostbeamten belegt war. Die weiteren Unterrichtsstunden hielten wir in meiner Wohnung ab, und Mundy, den ich bald Siegfried zu nennen begann, blieb schließlich vom Morgen bis zum Abend in meiner Bude, arbeitete da während meiner Kollegienzeiten für sich allein – (der wesentlichste Teil seiner Arbeit bestand darin, daß er meine Zigaretten rauchte) – ließ sich was Billiges aus einem nahen Wirtshaus holen, während ich über Mittag heimrannte zu meinen Eltern, und ging jeden Abend mit mir aus. Wenn die Kellnerin Rechnung machte, hatte Siegfried immer etwas Klagendes in seinen gescheiten Augen oder verließ für einige Minuten die Wirtsstube. Ich lachte dazu. Diese doppelten Fütterungskosten gingen auf die Dauer meinem ohnehin sehr mager gewordenen Geldbeutel hart ans klingende Leben. Doch was wäre die Freundschaft wert, wenn sie nicht tapfer standhielte in der Stunde, in welcher Gott nach dem Sprichwort am nächsten zu sein pflegt?

[479] Und Siegfried hatte nicht nur mein Herz ganz und gar erobert. Professor Beetz war Feuer und Flamme für seine Begabung. Und Professor Rheinhardstöttner hielt ihn für eine ›große geistige Hoffnung‹. Mein Vater und meine Mutter liebten ihn zärtlich; mit zwanzig Worten, in denen er gut und ernst von mir gesprochen, hatte er sie gewonnen, und nun vertrauten sie ihm, wie gute Christen dem Felsen Petri, hielten ihn für einen wirksamen Mentor meines Leichtsinns, für einen standhaften Schutzengel meiner quecksilbernen und unzuverlässigen Jugend.

Ich vermag das gar nicht zu schildern: welch ein Hochgenuß es für mich wurde, ihm die physikalischen Grundgesetze beizubringen. Bei jedem Kleinsten, das ich ihm zeigte, hatte er gleich weite Ahnungen, tiefe Intuitionen, scharfe Blicke in den Organismus der Natur. Es kam mir dann immer so vor, als wäre er der Lehrer und ich der Schüler, der andächtig zu lauschen hatte. Mit Vorliebe zitierte er die Verse des Geistes, der stets verneint. Es war etwas Voltairisches in ihm. Und wie er von Gott und Materie sprach, das hätte dem guten, frommen Pfarrer von Hegnenbach binnen fünf Minuten einen Schlaganfall verursacht. An Siegfrieds Weltanschauung gemessen, war ich ein Pietist.

[480] Jede Unterrichtsstunde endete mit einer leidenschaftlichen Debatte, bei der mich Siegfried immer stumm machte. Wenn er sprach, dann war er der protokollierte Sieger. Nicht nur mir gegenüber. Auch zu den Professoren konnte er mit seinem feinen Lächeln ein paar Worte sagen, bei denen die gelehrten Herren stutzig und nachdenklich wurden. Doch wenn er die Feder in die Hand nahm, und das war ein schwer begreiflicher Kontrast, dann kam in der Regel etwas wunderlich Unmögliches aufs Papier. Ich schrieb es dem Umstande zu, daß das Deutsche nicht seine Muttersprache war, und daß er nur Deutsch reden, nicht aber das Deutsche schreiben gelernt hatte. Manchmal guckte flüchtig was Asiatisches aus ihm heraus, das ich nicht näher zu definieren vermag. Es war mir so fremd, daß ich es nie begriff. Wenn ich mir da nicht mehr zu helfen wußte, pflegte ich zu sagen: »Jetzt bist du wieder ganz Tartar!« Er ließ dann lächelnd die schönen Zähne blinken und inhalierte mit tiefem Atemzug den Zigarettenrauch.

Was er im Leben werden wollte, verriet er nie. Er sagte: »Physiker, Meteorologe, Ingenieur, das sind doch nur so Worte für die kleinen Anwärter auf das staatliche Butterbrot. Mir ist es um ein Ganzes zu tun. Sei ohne Sorge, ich [481] mache meinen Weg.« Welchem Menschen hätt' ich glauben mögen, wenn nicht ihm!

Doch wie in der Physik, so hatte sein Schulwissen auch in anderen exakten Fächern bedenkliche Zahnlücken, die ich als sein Gratisinstruktor mit Ausdauer zu plombieren versuchte. Doch er wurde immer bald des ›trockenen Tones‹ satt, begann eine geistsprühende Debatte, bei der er über alle Gipfel und Tiefen des menschlichen Denkens sprang, oder legte sich rauchend auf mein Sofa und griff nach einem der orientalischen Literaturwerke, die ich stößeweis aus der Staatsbibliothek heimtrug.

An literarischer Belesenheit war er mir mächtig über – so schien es – und ganz gewiß auch an Sicherheit, Schärfe und Mut des Urteils. Er ließ im Bereiche der Weltliteratur nur wenige gelten: Homer, Confucius, Dante, Shakespeare, Cervantes, Voltaire, Molière, Goethe, Heine und Börne. Alles Spätere war ihm Stuß und geistige Ohnmacht. Und auch an den Großen, an den ihm Kongenialen, entblößte er mit dem Seziermesser seines Geistes so viele Schwächen, daß mir häufig eine Gänsehaut meiner gekränkten Ehrfurcht über den Rücken lief. Ich erinnere mich eines Wortes von ihm: »Weißt du, nur die ganz Großen dürfen sich das manchmal erlauben, ganz klein zu sein. [482] Der Durchschnitt muß Niveau bewahren.« Er war in den Literaturen aller Völker und Zeiten so erstaunlich beschlagen, kannte so viele hundert Bücher, von denen ich noch nie gehört hatte, und in allem, was ›Wortkunst der Menschheit‹ hieß, war er so ganz und tief zu Hause, daß ich gar nicht zu fassen vermochte, wie er bis zu seinen 25 Jahren diese Fülle der Belesenheit hatte erzwingen können. (Späterhin ist einer gekommen, auch ein Fünfundzwanzigjähriger, bei dessen Lektüre ich mich viel an Siegfried Mundy erinnern mußte: Weininger, der Verfasser von ›Geschlecht und Charakter‹.)

Manchmal, in meiner Bewunderung und bei aller redlichen Freundschaft für Siegfried, wurde ich seinem überragenden Geist und literarischen Wissen gegenüber ein bißchen eifersüchtig. Diese Eifersucht gab mir sogar eines Tages den abscheulichen Verdacht ein: daß er stundenlang mit vernichtender Kritik über ein philosophisches Werk spräche, das er gar nicht kannte. Aber ich setzte mir selber gleich wieder den dummen Kopf zurecht, sagte mir, daß Eifersucht auf geistige Superiorität eine ekelhafte Sache ist, und daß ich als schwadronierende Unkenntnis angesehen hatte, was tiefstes Verständnis eines fliegenden Geistes war, dem ich [483] nicht folgen, den ich nicht kontrollieren konnte. Ich machte meine häßliche Sünde wider den Geist durch doppelte Herzlichkeit wett, durch gesteigerte Freundschaft, die eine Art von brüderlicher Liebe wurde.

Und solche Liebe war notwendig, um Siegfried materiell auf Bord zu erhalten. Während unseres Zusammenlebens wurde seine Mutter immer ärmer, schickte immer weniger, schließlich nichts mehr. Da nahm ich Siegfried ganz zu mir. Ich hatte in der Schellingstraße eine nette Wohnung, mit gemütlicher Wohnstube und einer Schlafkammer, in der eine zweite Bettstelle ganz gut noch stehen konnte. Auch meine Eltern waren der Meinung, daß Armut nicht schände, und daß Siegfried ein wertvoller Mensch wäre, dem man helfen müßte. Papa erhöhte mein Taschengeld, ich gab dazu ein paar Stunden, leider einem Schüler, dernicht aus Amerika war – und da wollte der Faden für uns beide nicht reichen. Den Freund durfte ich nicht darben lassen. Also mußte ich versetzen, was belehnbar war, und mußte Schulden machen. Das letztere verursachte Schwierigkeiten, das erstere hatte seine Grenzen. Denn der Inhalt meines Kleiderkastens mußte jetzt für uns beide reichen. Und schließlich hatten Achilleus und Patroklos bei beginnendem Winter nur noch [484] einen Überrock. Für alle Schwierigkeit des Lebens gibt es einen Rat. Ich blieb zu Hause und arbeitete, Siegfried ging in meinem Havelock spazieren, um die für mich nötigen Bücher aus der Staatsbibliothek oder Zigarettentabak zu holen. Meine Eltern sahen in die bedenkliche Ökonomie unseres Dioskurenlebens nicht klar hinein – denn echte Freundschaft verbietet doch das: von einem Freund zu sagen, daß er gar nichts hat.

Ich fühlte mich reich belohnt. Man bedenke nur diese Fülle geistiger Anregung, die ich dem Freund verdankte! Und wie er es verstand, meinen Ehrgeiz zu reizen, meinen Fleiß zu steigern! Ein fleißiger Bursch, auch in den tollsten Zeiten meiner Universitätsjahre, bin ich immer gewesen, nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil mich das Erringen freute. Aber so rasend fleißig, wie während meines Zusammenlebens mit Siegfried, hab' ich selten gearbeitet. Der gute, treue Kerl trug bei grimmiger Kälte meinen Havelock halbe Tage lang spazieren, nur damit ich bei der Arbeit sitzen bleiben müßte und sicher vor jeder Störung wäre.

Und meine Eltern hatten wirklich recht: er war ein Schutzengel meiner Jugend. Und verstand es, temporär die Zwiespältigkeit meines Herzens und Blutes zu kurieren. Jedes nette Mädelchen, [485] das mich wirblig zu machen drohte, verleidete er mir durch die typische Redewendung: »Mich könnte so was Billiges nicht reizen!« Jedes Abenteuer, das sich anspinnen wollte, durchkreuzte er. Und zwar aus drei Gründen. Erstens: weil er nicht dulden dürfe, daß ich eine Gemeinheit wider mein Herz beginge; zweitens: weil das nachweisbar von der Arbeit ablenke; und drittens: weil er prinzipiell sehr gering von zärtlichen Freuden dachte. Er zitierte mit Vorliebe ein von mir übersetztes Gedicht Petöfis, darin es hieß:


»Hörst du die Wachtel rufen: Wigg di wigg?

Soll ich's in Menschensprache übersetzen?

Der Ruf bedeutet: Flieh das Weib!

Es schlingt die Männer in sich ein

So wie das Meer die Flüsse,

Um sie in seinem Rachen zu begraben.

Ein schönes Tier, das Weib,

Schön, doch gefährlich!

In goldnem Kelch ein Gifttrank!

Ich trank von diesem Tranke – –«


Wenn er zu dieser Stelle kam, dann wurde er immer sonderbar schwermütig. Einmal hatte er Tränen in den Augen. Ich verstand die Sache nicht und sagte verdrossen: »Hätt' ich nur das dumme Gedicht nicht übersetzt. Was du draus machst, das ist denn doch ein bisserl übertrieben! [486] So sind die Weiber gar nicht! Sie können doch so nett sein ...«

In Jähzorn auffahrend, unterbrach er mich: »Ichhasse die Weiber!«

»Geh, warum denn?«

Er wurde ruhig, ließ die Tartarenzähne blinken, wickelte eine Zigarette, und als sie brannte, machte er eine vornehm abweisende Handbewegung: »Wir wollen das gut sein lassen, solange wir von wichtigeren Dingen zu reden haben.«

Ja, wir hatten von Wichtigem zu reden, bei Tag und bei Nacht! Von unserem Preislustspiel!

Ich hatte zu Siegfried natürlich gleich in den ersten Tagen unserer Freundschaft von meiner ›Idee‹ gesprochen. Die Sache gefiel ihm. Er erklärte: »Du! Das machen wir zusammen!« Dieser Vorschlag schnürte mir ein bißchen den Hals zu, ich weiß nicht, warum – es war doch selbstverständlich, daß ich Ja sagte. Wir teilten uns also redlich in die Arbeit. Siegfried war, wie schon erwähnt, ein bißchen schwach als Held der Feder. Demnach blieb der ›handwerksmäßige‹ Teil der Sache mir allein überlassen. Ich saß die langen Winternächte am Schreibtisch, während Siegfried schlief. Und am Morgen, beim Frühstück, mußte ich ihm vorlesen, was die Nacht geboren [487] hatte. Nun kamsein Anteil an der Arbeit. Er kritisierte. Und nach leidenschaftlichen Debatten, bei denen wir brandrote Köpfe bekamen, änderte ich manches, was ihm nicht gefiel.

Unser Konkurrenzlustspiel sollte ›Der Preis der Waffenruhe‹ heißen, spielte in Stambul und setzte die abendländische Galanterie und Kultur in ein tragikomisches Gefecht gegen die morgenländische Poesie und Schlauheit. Bei der Suche nach Farben und Lichtern für diese östliche Schlauheit war Siegfried erklecklich findiger als ich. Immer verlangte er ›Lokalkolorit‹, lag zigarettenrauchend die ganzen Tage auf dem Sofa, las orientalische Dichter und exzerpierte jeden Satz und jeden Spruch, der ihm gefiel. In das Wort ›Bülbül‹ – zu deutsch: die Nachtigall – verliebte er sich bis zur Raserei. Und wär' es ihm nachgegangen, so hätte die Bülbül, die mir schrecklich wurde, in unserem Lustspiel hundertmal singen müssen. Ich hatte mich überhaupt mit Händen und Füßen gegen diese ›Exzerpte‹ zu wehren, die ich in unser Stück ›verweben‹ sollte. Gegen die Aufnahme von einem Dutzend kluger Sprichwörter, die Gemeingut der östlichen Völker waren ›hatt‹ ich nichts einzuwenden. Aber Siegfried wurde zum poetischen Shylock und wollte den persischen [488] und arabischen Dichtern das beste Fleisch pfundweis aus dem Leibe schneiden und für unser Lustspiel braten. Ich wurde schließlich wütend. »Nein! Stehlen mag ich nicht.« Er ließ die Tartarenzähne blinken. »Hat Shakespeare etwa nicht gestohlen? Man nimmt das Gute, wo man es findet, weißt du! Den Großen ist erlaubt, was den Kleinen verboten ist.«

Solche Kämpfe verzögerten die Arbeit. Um Zeit zu gewinnen, gab ich die zwei Instruktorstellen auf, die ich noch hatte. Dadurch bekam mein Geldbeutel die Auszehrung. Und Siegfried sagte: »Unter Entbehrungen kann ich nicht geistig schaffen. Jetzt steht alles auf dem Spiel. Da mußt du Geld besorgen. Dumußt! Das ist deine Pflicht.« Er forschte die Adresse eines Geldgebers aus und brachte mir ein Wechselblankett. Ich ließ mich bereden und schrieb meinen Namen drunter. Aber es fielen mir der Herr Lammberger und Papas Augen ein. Und drum warf ich das ›Popierche‹ in die Schreibtischlade.

Wir dichteten ›unter Entbehrungen‹ ein paar Wochen weiter. Ich konnte daheim bei den Meinen essen. Für Siegfrieds Gasthauskonto stand ich Bürge beim Wirt. Die Kreide wuchs bedenklich. Wirt und Hausfrau wurden ungeduldig. [489] Und plötzlich, eines Abends, hatte Siegfried sehr viel Zwirn, Banknoten und Gold. Seine Mutter schien in bessere Verhältnisse gekommen zu sein. Und ihr Sohn ließ mich an seinem Reichtum teilnehmen, wie ein König mit seinem Narren speist. Um diese Zeit begann etwas gegen Siegfried in mir zu kribbeln. Ich konnte mir diese wunderliche Verdrossenheit, die mich immer quälte, nicht er klären, machte mir zornige Vorwürfe und schalt mich einen schlechten, undankbaren Freund. So überwand ich's.

Als ich den letzten Akt des Lustspiels begann, war Siegfrieds Mammon zu Ende. Ein paar Tage später – er ging am Abend aus und kam nach einer Stunde heim – da hatte er schon wieder Geld! Mir wurde die Sache ein bißchen unheimlich, denn ich wußte diesmal genau, daß er von zu Hause weder Paket noch Brief bekommen hatte.

»Siegfried? Woher hast du das Geld?«

»Von wem soll ich es haben? Von meiner Mutter doch!«

»Das ist nicht wahr. Zu dir ist kein Briefbot gekommen.«

»Ich hab mir's auf der Post geholt.«

»Das stimmt nicht. Du bist so spät ausgegangen, daß die Post nicht mehr offen war.« [490] Er lachte. »Sieh nur! Die Unschuld spioniert!« Die asiatischen Zähne blitzten. »Also gut! Um deine komische Neugier zu befriedigen. Von Professor Rheinhardstöttner hab' ich's gepumpt.«

Ich erschrak, daß ich sprachlos war.

Er guckte spöttisch zu mir auf. »Mach dir keine Sorge, Kleiner! Von dir hab ich bei der Sache nicht gesprochen. Nur von mir. Und von meiner Arbeit. Rheinhardstöttner ist der Mann, der das begreift: daß ein starkes Talent nicht hungern darf, wenn es gedeihen soll. Er gibt mir, was ich brauche.«

Die Woche drauf war ›Der Preis der Waffenruhe‹ fertig. Im Groben. Ich machte mich an die stilistische Überarbeitung. Siegfried kümmerte sich nicht mehr viel um die Sache. Er sagte: »Mach du dieses Äußerliche nur allein! Feilen kannst du ja! Du warst doch Schlosser.«

Er war fast immer auf der Fahrt. Und in mancher Nacht blieb er aus, bis es Tag wurde, und schlief dann bis zum Abend. Von Professor Rheinhardstöttners ›Stipendium‹ hatte er sich nett ausstaffiert. Und dennoch trug er, wenn er ausging, fast immer meinen Havelock, meinen Hut, meine Wäsche, meine Schnürschuhe. Er nahm sogar meine Uhr, mein Portemonnaie und meine Brieftasche, [491] auf die mir das Luischen ein wundervolles Monogramm gestickt hatte, auf seine Wanderungen mit. »Weißt du, damit du bei deinem Leichtsinn nicht in Versuchung kommst, vom Schreibtisch wegzulaufen!«

Einmal, spät in der Nacht, während ich noch arbeitete, kam er taumelig heim, roch nach Champagner und hatte an seinen, nein, an meinen Kleidern ein ganz niederträchtiges Parfüm. »Mensch! Du stinkst ja wie ein Dachs in der Ranzzeit! Was hast du denn getrieben? Wo warst du denn?«

Er wickelte sich eine Zigarette und erzählte mir lachend – ich weiß nimmer, was – irgend eine verrückte Weibergeschichte, in der ein ›rothaariger Satan‹ vorkam.

Ich mußte ein bißchen verwundert dreingucken. »Sooo? Und was ist denn mit Petöfis Wachtel? Wigg di wigg?«

Diese Frage machte ihn ernst, fast melancholisch. Doch als er im Bette lag, fing er wieder zu lachen an.

Wenige Tage später war Siegfried eigentümlich erregt, ruhelos und scheu. Beim Inhalieren des Zigarettenrauches schob er auf sonderbare Art die Unterlippe vor. Kam er heim, so rannte er [492] gleich wieder davon. Es schien fast, als ginge er mir aus dem Wege. Das dauerte eine halbe Woche. Dann war er wieder in bester Laune, war ganz der Alte, der spöttisch Überlegene, der Wortschillernde und Geistfunkelnde.

Ich hatte während dieser Woche drei Akte von den fünfen unseres Preislustspiels ins Reine geschrieben.

Um diese Zeit war daheim bei meinen Eltern irgend etwas nicht mehr in Ordnung. Papa sah mich nimmer an, redete nie ein Wort mit mir, war blaß und hatte eine kummervolle Stirne. Einmal fragte ich: »Hast du was gegen mich?« Da stand er auf und ging wortlos aus der Stube. Und Mama warf mir einen zornfunkelnden Blick zu. Das gute Mutterle! Das mir doch sonst immer die Stange hielt durch dick und dünn! Und war jetzt immer gereizt und heftig gegen mich! Oder hatte Tränen in den Augen und drehte das Gesicht auf die Seite. Hundertmal trieb's mich: »So frag doch, was los ist!« Aber weil ich bei meinem Leichtsinn doch immer ein bißchen Butter auf dem Kopf hatte, traute ich dem schweigsamen Mysterium nicht, hielt ebenfalls den Schnabel und dachte: »Es wird schon wieder hell werden!« Doch dieses Dunkle blieb. Was da nur sein konnte? [493] Wenn ich über meine Lebensführung nachgrübelte, fand ich viel, was für die strengen und reinlichen Anschauungen meiner Eltern wie eine sehr verwerfliche Sache aussehen konnte.

Ich sprach mit Siegfried darüber. Der hatte aber immer etwas Wichtigeres zu reden. Die Preiskonkurrenz verursachte ihm Sorgen und Ungeduld. Daß wir den Preis gewinnen würden, daran zweifelte er nicht im geringsten. Aber bis da die vielen Stücke durch die Hände aller Preisrichter gehen, und bis die Gekrönten zur Aufführung kommen, darüber kann ein Jahr und mehr vergehen. »So lange kann ich nicht warten!« sagte er. »Ich reiche das Stück einfach ein, sobald es fertig ist. In vier Wochen wird es aufgeführt. Und alles ist gut! Alles! Alles!«

In einer bärenkalten Nacht – der Ofen war ausgegangen, und es hatte schon zwei geschlagen – machte ich einen schönen Schnörkel unter die Überarbeitung des letzten Aktes. Ich weckte Siegfried. Und während ich auf seinem Bette saß, fiel er mir in einer Exaltation um den Hals, die meine Freude noch übertrumpfte. Wir schwatzten lange, schmiedeten Zukunftspläne und bauten Luftschlösser, bis Siegfried sagte: »Jetzt leg dich schlafen! Morgen mach' ich schon alles. Ich gehe gleich [494] zum Hofschauspieler Richter. Der weiß schon von dem Stück.«

»Richter? Kennst du ihn denn?«

»Natürlich! Aber jetzt leg dich schlafen! Ich muß Ruhe haben, wenn ich morgen geistig frisch sein soll.«

Ich brachte das Schlafen nicht fertig. Während Siegfried schnarchte, stand ich wieder auf und schusselte in die stille Winternacht hinaus, um mein brennendes Köpfl kühl zu machen. Immer dachte ich aus Luischen, immer jubelte meine Seele: Jetzt kommt das Glück, jetzt können unsere Herzen göttliche Einheit werden! Dabei hatte ich Havelock, Rock und Weste offen. Und als ich eine Stunde später heimtrottete, fing ich zu niesen an. Am Morgen, als ich erwachte, waren Siegfried und die Reinschrift unserer Komödie verschwunden. Bei mir entwickelte sich einer meiner katastrophalen Katarrhe. Mittags, als ich heimkam zu den Meinen, fiel ich mit meiner Freude gleich zur Türe hinein! »Viktoria, unser Stück ist fertig!« In den schwermütigen Augen meiner Mutter sah ich ein helles, gläubiges Aufleuchten. Doch Papa sagte trocken, fast hart: »So? Nun, Herr Mundy wird ja das Seinige dazu beigetragen haben. Da ist auch Gutes zu hoffen. Aber du merke dir für deine [495] zukünftige Laufbahn, daß man meines Erachtens nie ein richtiger Künstler werden kann, wenn man nicht auch ein rechtlicher Mensch ist!« Ich guckte den Vater ein bißchen entgeistert an und wollte die absolute Notwendigkeit dieser pädagogischen Bemerkung nicht begreifen. Die Freude war mir gründlich versalzen.

Als ich verdrossen heimkam in meine Studentenbude, legte ich mich hustend und mit wahnsinnig gewordener Nase ins Bett. Erst am Abend tauchte Siegfried auf, sagte mir, daß Regisseur Richter schon bei der Lektüre des Stückes wäre, und dann rannte er gleich wieder davon. In der Nacht bekam ich Fieber, und am Morgen hatte ich eine so prachtvolle Halsentzündung, daß ich kaum mehr schlucken konnte.

Am Nachmittag brachte Siegfried unser Stück wieder heim. »Richter ist begeistert! Er wird sofort die Aufführung durchsetzen.«

»Siegfried!« Ich gurgelte die Worte heraus. »Lügst du nicht?«

Er sah mich an, wie der Riese den Zwerg, gab mir keine Antwort und setzte sich draußen in der Stube an den Schreibtisch. Durch die offene Türe konnte ich das Gekritzel der Feder hören. »Du? Was machst du denn?«

[496] »Striche. Und ein paar Szenen muß ich ändern, die du verkuhwedelt hast.« Er schloß die Schlafzimmertüre. Und in dieser Nacht arbeitete er fast bis zum Morgen. Und schlief dann draußen auf dem Sofa, um von meiner Halsgeschichte nicht angesteckt zu werden.

In der Frühe schickte die Hausfrau zu den Meinen: es ginge mir nicht gut. Und eine Viertelstunde später trat Mama an mein Bett. Sie war zornig erregt und doch in zärtlicher Sorge. »Raus! Und zieh dich an! Mein Kind bleibst du allweil. Ich bring dich im Dröschkle heim zu uns. Da hast du die richtige Pfleg!« Während der Fahrt im Wagen sprach sie kein Wort.

Dann lag ich daheim in meinem alten Stübchen, in meinem alten Bett, und obwohl der Schmerz meine Kehle würgte und das Fieber mich schüttelte, hatte ich ein Gefühl unsagbaren Wohlbehagens. Wenn nur Mama ein bißchen freundlicher gewesen wäre! Sie kam alle zehn Minuten, ließ mich gurgeln oder wechselte den Umschlag an meinem Hals. Und sprach nur, was mit der Pflege zusammenhing. Als sie wieder einmal die Sicherheitsnadel in den frischen Umschlag gesteckt hatte, nahm ich ihre Hand. »Mutterle? Warum bist du mir denn so bös?«

[497] »Das wirst du schon selber wissen!« Und mit Tränen in den Augen ging sie aus der Stube.

Mir fiel, wie der Volksmund sagt, das Zäpfle hinunter. Ich konnte nimmer fragen.

Am fünften Tage durfte ich aufstehen. Papa hatte in diesen fünf Tagen mein Zimmer nicht betreten. Und auch Siegfried hatte keinen Laut von sich hören lassen.

Als es mir schon wieder ganz leidlich ging, am Nachmittag des siebenten Tages, trat Papa in meine Stube. Sein Gesicht war mauerblaß. Mama stand mit ineinandergekrampften Händen unter der Türe, hatte verstörte Augen und stammelte: »Jesus, Jesus, was wird denn da schon wieder herauskommen!«

»Da ist von einem Dienstmann ein Brief für dich gebracht worden,« sagte Papa. »Die Sache hat mir nicht gefallen ... das ist eine Weibsbilderschrift. Ich habe den Brief aufgemacht.« Er reichte mir ein Blatt. »Was ist das?«

Ich sah eine ungelenke Zitterschrift. Und las: »Lieber Herr Ganghofer! Ich beschwöre Sie um Gottes willen, kommen Sie sofort zu mir! Anna Teuffer.«

Noch immer sah ich das mir völlig unerklärliche Blatt an, als Papa sehr heftig wieder fragte: »Was ist das? Ich will es wissen.«

[498] »Ich verstehe nicht, was das heißen soll. Und ich kenne keine Anna Teuffer.«

Der Vater wurde zornig. »Aber sie nennt dich doch beim Namen! Und sagt noch: lieb

Ich konnte Papas Aufregung nicht begreifen. Seiner unbegründeten Heftigkeit gegenüber stieg mir das Blut ein bißchen zu Kopf. »Wenn ich dir doch sage, Papa, daß ich keine Anna Teuffer kenne! Ich weiß nicht, was dieser Zettel bedeutet. Und daß diese rätselhafte Person mich lieb nennt, das ist noch lange kein Beweis gegen mich. Millionen Menschen sagen: lieber Gott. Und keiner kennt ihn.«

»Du ...« führ der Vater auf und faßte mich am Arm. Aber da sprang die Mutter zwischen uns beide und schrie: »Gustl! Jesus! Gustl! So schau den Buben doch an! Man sieht doch, daß er die Wahrheit sagt.«

Papa brauchte lange, bis er ruhig wurde. »Also, gut! Sobald dir der Doktor auszugehen erlaubt, wirst du diese Sache klar stellen.«

»Das tu ich noch heute, Papa. Jetzt gleich.« Ich zog meine Stiefel unter dem Bett heraus.

»Aber du Narr du!« schalt Mama. »Daß du dich wieder verdirbst und morge wieder hueschte muescht wie e Schloßhund!« Mir wurde ganz leicht ums Herz, als die Mutter schwäbelte.

[499] Papa war anderer Meinung. »Nein, Lotte! Laß ihn nur gehen! Gleich! Das tut ihm nichts. Und wenn er eine Woche lang hustet, so ist das viel weniger gefährlich, als daß wir zwei noch eine solche Nacht haben sollen ... wie die ganzen Wochen her. Laß ihn gehen!« Schwer atmend verließ Papa die Stube.

Die Mutter wickelte mich ein, als wär' ich sterbenskrank. Bevor ich ging, nahm sie meinen Kopf zwischen ihre Hände und sah mir in die Augen. »Bubele! Gsteh mir's ein! Hascht du jetzt die Wahrheit gesagt?«

»Ja, Mama!«

»Isch es aber auch wahr? Machscht du's net wieder wie in Welde beim Bachkätzelespfeifle?«

»Nein, Mutterle!«

»So geh in Gottesname! Da wird dir der kalte Wind drauße nix schade. Unser lieber Herrgott wird sorge dafür ... wenn du auch jetzt grad ein dumms Späßle über ihn gmacht hast. Glaub mir's, Bub, er ist lieb. Und ich kenn' ihn auch.« Sie küßte mich. »Na also, jetzt geh! Ich bin nur neugierig, was da rauskommt.« Das sagte sie nun ganz ruhig.

Auf der Straße wurde mir ein bißchen schwindlig. Aber das ging gleich wieder vorbei.

[500] Doch was nun machen? Etwas, das dunkel in mir wirbelte, schrie immer den Namen: Siegfried. Ich rannte zur Schellingstraße. Aber nein, nein! Auf halbem Wege kehrte ich wieder um. Und wußte: wenn Siegfried hinter dieser verschleierten Sache steckt, so sagt er mir wieder eins von seinen blinkenden Worten, und dann kann ich mir nimmer helfen und muß ihm wieder glauben. Es war notwendig, daß ich die Sache anders anpackte. Zuerst auf die Polizei! Und nach diesem Namen fragen! – Teuffer? Teuffer? – Es kam mir plötzlich so vor, als wäre mir dieser Namedoch nicht unbekannt, als hätt' ich ihn vor einiger Zeit gehört, oder gelesen. Was war denn nur mit einem Teuffer? Und dieser Zettel? Diese paar Worte? »Ich beschwöre Sie um Gottes willen, kommen Sie sofort zu mir!« Das war keine Redensart, das war der Schrei eines gequälten Menschenherzens. Papa hatte schon recht mit seiner Aufregung – ich selber fühlte, daß da eine schreckliche Sache die Augen aufmachen würde.

Im Auskunftsbureau der Polizei, als ich das Blättchen mit dem Namen Anna Teuffer dem Beamten hinreichte, sah der Mann, nachdem er gelesen, mich so merkwürdig forschend an, daß in mir etwas kribblig wurde.

[501] »Teuffer?« Er schien mich nach Kleidung und Aussehen taxieren zu wollen. »Nach der Anna Teuffer fragen Sie?«

»Wollen Sie gütigst Ihre Amtshandlung vornehmen!«

Er ging zu einem Regal und schlug ein dickes Buch auf »Ja, ja, stimmt schon, es gibt nur eine Anna Teuffer.« Er nannte eine Adresse, beim Polytechnikum draußen – und als er Straße und Hausnummer aufgeschrieben hatte und mir den Zettel reichte, sah er mich wieder so verdächtig an, daß ich aufbrauste: »Warum fixieren Sie mich so? Ich bin kein Verbrecher.«

Der Beamte kehrte sich schweigend um und sprach leise mit zwei anderen Herren des Bureaus. Als ich zur Türe hinausging, sahen die drei mir nach.

Eine quälende Aufregung befiel mich. Ich sprang in die nächste Droschke und fuhr da hinaus. Auf der Wohnungstüre war ein Porzellanschild: Teuffer. Ich läutete. Es kam von innen jemand zur Türe gerannt, als würde zu einem Schwerkranken der Arzt erwartet. Eine vierzigjährige magere Frau stand vor mir, vergrämt und verweint, mit brennroten Lidern, mit den Augen eines Geschöpfes, das etwas Entsetzliches gesehen.

[502] Diese Frau war mir fremd. Ich merkte auch an ihrem Blick, daß sie mich nicht kannte. Aber etwas an mir schien ihr aufzufallen, schien sie zu erregen. Immer starrte sie meinen Havelock an, und dann sah sie mir wieder verstört ins Gesicht.

»Sind Sie die Anna Teuffer?«

»Ja. Was wollen Sie?«

»Das muß ich Sie fragen. Sie haben mir doch geschrieben.«

»Ich? Ihnen?«

»Ja. Heute. Durch einen Dienstmann.« Ich gab ihr den Zettel.

Ihre Augen wurden starr und groß. »Jesus Maria, wer sind Sie denn?«

Ich nannte meinen Namen, nannte Titel und Wohnung meines Vaters.

Die Frau fing heftig zu zittern an. »Mar' und Josef! Wer ist denn nachher der andere

Es lief mir kalt über den Rücken. »Welcher andere?«

»Der mir helfen hat wollen ... Jesus Maria ... und den gleichen Überzieher hat er angehabt, und den gleichen Hut, und ... und ein Brieftaschl mit seinen Visitkarten hat er gehabt, und mit zwei goldenen Buchstaben drauf ...«

Mir wurde fast übel vor Aufregung. Sprechen[503] konnte ich nimmer. Ich zog meine Brieftasche heraus und zeigte sie der Frau.

»Jesus, Jesus, Jesus ...« Sie fiel im dunklen Flur auf einen Sessel hin und begann zu schluchzen, als hätte sie in diesem Augenblick ein schweres Unglück erlebt.

Ich suchte die Weinende zu beruhigen und führte sie in ein Zimmer, dessen Tür ich offen sah – eine bürgerliche Stube, die einigen Wohlstand verriet, mit einer kümmernden Palme in der Fensternische.

Es dauerte lange, bis die Frau zu reden vermochte. Aber was sie wirr durcheinanderschluchzte, verstand ich nicht.

»Werden Sie doch ein bisserl ruhig! Sagen Sie mir doch alles der Reihe nach, daß ich es verstehen kann.«

»Jesus, Jesus ... mein guter armer Mann! Sie wissen doch, der Teuffer ... den man unschuldig zum Tod verurteilt hat ...«

Nun wußte ich plötzlich, woher der Name Teuffer in meinem Gehirne war. Vor Monaten hatte ich diesen Namen in der Zeitung gelesen, in einem Mordprozeß. Dieser Teuffer – ein Makler, der auch Darlehen an Offiziere und Studenten vermittelte – war beschuldigt, in einer [504] Münchener Vorstadt, zu Haidhausen oder in der Au, einen Menschen ermordet zu haben, mit dem er bei einer Wirtshauskneiperei in Streit geriet. Die Sache war etwas rätselhaft; man konnte an die Unschuld Teuffers glauben, der auch leugnete. Auf Grund der wider ihn sprechenden Indizien wurde er zum Tode durch das Schwert verurteilt. Die Revision war noch unerledigt.

Und das abgehärmte, verstörte, schluchzende Weib, das da vor mir auf dem Kanapee saß, war die Frau des Mannes, auf den der Henker wartete.

Da kam nun – wie das Weib erzählte – vor Wochen ein Student, ein junger untersetzter Mensch, in meinem Havelock, mit meinem Hut, unter meinem Namen, mit meiner Brieftasche, mit meiner Visitenkarte, und wollte Geld von diesem Teuffer borgen.

»Ich hab' ihm gesagt, was los ist mit meinem Mann. Und hab' gleich weinen müssen.«

Und da sagte ›der andere‹: es wäre doch Malz und Hopfen noch nicht verloren, da wäre doch noch zu helfen. Man müßte nur die rechten Wege machen, dem König die Sache richtig vortragen, ihn günstig stimmen für ein Gnadengesuch. Freilich, das könnte nur einer wagen, der sehr [505] gut beim König stünde – sagte dieser andere – so gut zum Beispiel, wie sein Vater, der Herr Forstrat im Finanzministerium. Und erst vor wenigen Tagen hätte er, dieser andere, zufällig mit seinem Vater über den Fall Teuffer gesprochen, und sein Vater wäre von der Unschuld des Herrn Teuffer felsenfest überzeugt – und da wäre sehr viel nimmer nötig, um den Herrn Forstrat zu bewegen, daß er für diesen Unschuldigen etwas täte, etwas sehr Wirksames, etwas ganz Sicheres, bei Seiner Majestät unserem gnädigen König.

Die Frau sah mich mit dem Blick einer Verzweifelten an. »Ich müßt' doch meinen Mann nicht gern haben, wenn ich dem Menschen nicht gleich geglaubt hätt'. Daß die Leut lügen, weiß man ja. Aber so kann doch keiner lügen! Und da hab' ich ihm gleich Geld gegeben auf sein gutes Gesicht hin.«

»Wann war das?«

Sie nannte mir den Tag – am gleichen Tage hatte Mundy das viele Geld ›von seiner Mutter‹ bekommen.

»Und dann hat's lang gedauert, bis er wieder gekommen ist. Ich hab' gemeint, ich muß mir die Seel herauswarten. Und am Abend einmal, ganz spät, ist er dagewesen ...«

[506] Es war der Abend, an welchem Mundy das ›Stipendium‹ von Professor Rheinhardstöttner erhalten hatte.

»... und hat mir gesagt, sein Vater wär' zum König Ludwig nach Hohenschwangau gefahren und hätt' sich schier das Herz herausgeredet für meinen Mann.«

Und so kam dieser andere wieder und wieder, ließ sich immer Geld geben – und sagte das eine Mal: die Sache stünde glänzend – das andere Mal: der König hätte das Gnadengesuch schon unterzeichnet – das letzte Mal: jetzt wäre alles in Ordnung, und der Begnadigte käme schon in den nächsten Tagen wieder heim zu seiner Frau.

»Und allweil hat er gesagt: nur schön geduldig warten, nur still sein, nur zu keiner Menschenseel was sagen! Und nur ja nicht schreiben oder sonst was tun! Jesus, heilige Mutter, ich hab' vor Freud nimmer schlafen und essen können. Und heut in der Früh, da hab' ich vom Herrn Verteidiger einen Brief gekriegt ... Herr Jesus ... und in dem Brief da ist dringestanden, daß man die Revision verworfen hat, und daß ... mein Mann ... mein Mann ... geköpft wird.«

Ich kann das Gesicht nicht schildern, das ich bei diesen Worten vor mir sah.

[507] »Jesus, Jesus, da hab' ich mir nimmer anders helfen können. Und hab' geschrieben. An wen denn? Jesus! An wen? Was ist denn das alles? Wer ist denn der andre?«

Es war ein Gefühl in mir, daß ich hätte brüllen und irgend etwas zerschlagen mögen!

Als ich zur Ludwigstraße rannte, blieben auf der Straße die Leute stehen und sahen mich an. Im Bureau des Finanzministeriums fand ich den Vater nicht. Ich raste heim. In der dämmerigen Wohnstube – es wollte schon Abend werden – waren Papa und Mama beisammen.

In einer Aufregung, die mich zittern machte, stützte ich diese ganze fürchterliche Geschichte heraus. Papa schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie, wobei jede Silbe ein Wort für sich allein wurde: »Das ist doch eine namenlooose Gemeinheit! Dieser Kerl! So ein Kerl!« Dazu lachte Mama ganz eigentümlich, nervös und schrill.

Und nun kam auch gleich das andere an den Tag, dieses Dunkle in der Stimmung der Eltern während der letzten Wochen.

Papa nahm mich am Kittel, zog mich ans graue Fenster hin und sah mir in die Augen, mit einem Gesicht, vor dem ich schmerzhaft erschrak. »Ludwig? Kennst du einen Geldmann Käfer?«

[508] Mir fuhr es schwül unter die Haare. »Ja, Papa. Vom Käfer hab' ich im vorigen Monat was gepumpt. Weil wir Geld brauchten ... Mundy ... und ich. Was ich hatte, reichte nicht für uns beide. Am ersten habe ich den Betrag zurückbezahlt.«

»Das stimmt. Aber ... wie war das mit dem Wechsel?«

»Mit welchem Wechsel?«

Mama schrillte dazwischen: »Gelt, Gustl! Gelt, ich hab's gesagt!« Inzwischen sprang Papa zur Kommode hin und brachte mir einen länglichen Zettel.

Im grauen Licht des Fensters konnt' ich es gerade noch sehen: es war ein Wechsel über 280 Mark, von mir unterschrieben – und giriert von Siegfried Mundy. Mein Name, ja, das war wirklich meine Schrift! Der Zettel, den ich da in der Hand hielt, konnte nur jenes Wechselblankett sein, das ich vor Wochen auf Siegfrieds Zureden unterschrieben und dann in die Schreibtischlade geschmissen hatte, weil ich an den Herrn Lammberger und an Papas Augen dachte!

Mit diesem Wechsel hatte Mundy beim Herrn Käfer Geld geholt, ohne mein Wissen. Und hatte den Wechsel als Girant unterzeichnet. Dem Herrn [509] Käfer kam die Sache nachträglich etwas sengerig vor, und er ging zu meinem Vater. Papa bestellte Mundy zu sich ins Bureau und sagte: »Herr Mundy, mir ist gestern ein Wechsel gezeigt worden, auf dem zu meiner Überraschung auch Ihr Name steht?« Mundy machte er staunte Augen: »Mein ... Name?«

– Papa, der mir das am grauen Fenster erzählte, unterbrach sich: »Denk dir, Ludwig, wie mir zu Mut war!« –

Nach jener erstaunten Frage korrigierte sich Mundy sofort: »Ja, richtig, ja, ich besinne mich, ich habe den Wechsel giriert, weil mich Ludwig um diesen Gefallen gebeten hat. Ein Wechsel über 150 Mark, nicht wahr?« – Nein! 280 Mark. – »Richtig, ja ... das ist merkwürdig ... aber ich besinne mich jetzt ... ja, richtig, verzeihen Sie, Herr Forstrat, aber ich habe augenblicklich sehr viel wichtigere Dinge im Kopf Wenn Ludwig nicht zahlungsfähig sein sollte, werde ich den Wechsel einlösen. Bei einer Freundschaft, wie sieuns verbindet, ist das ja selbstverständlich ... man muß da manches in den Kauf nehmen.« Papa erwiderte: »Freundschaft ist eine schöne Sache, Herr Mundy, aber sie hat ihre Grenzen. Doch wie die Sache nun auch liegen mag, ich danke Ihnen!« [510] Und noch am gleichen Tage, zwei Monate vor der Verfallzeit, löste der Vater diesen ›unklaren‹ Wechsel ein. Und da standen nun Papa und Mama seit Wochen unter der drückenden Angst, daß ihr Sohn eine niederträchtige Sache verübt hätte, die Siegfried Mundy aus Freundschaft auf seinen breiten Buckel genommen.

Als Papa mir das am grauen Fenster erzählte, mußte ich schreien: »So ein Hund!«

Mama fing wieder schrill zu lachen an: »Aber gelt. Gustl! Ich hab's doch gesagt! Hab' ich dir's nicht gesagt!« Dann bekam sie einen Weinkrampf und bekam das nervöse ›Nackeln‹ in ihren Knien und Fersen. Ich saß neben ihr, hielt sie umschlungen, küßte sie immer und streichelte ihr Haar mit dem weißgewordenen ›Sorgeplätzte‹. Und ehe das ›Getrommel‹ noch völlig vergangen war, sagte die Mutter lachend: »Bub! Mein Bub! Heut zum Abend koch ich dir aber dein Liebstes! Dampfnudle mit em Vanillisößle!«

Und Papa reichte mir die Hand. »Ludwig! Wenn wieder einmal ... ich will's nicht hoffen ... etwas Unklares zwischen uns treten sollte, dann wollen wir nicht mehr schweigen, sondern uns offen aussprechen, gelt?«

»Ja, Papa!«

[511] Der Vater drückte meine Hand. »Ich hab' dir unrecht getan. Diesmal. Sag': Einmal ist keinmal. Und erinnere dich, daß du mir viel Ursache gegeben hast, wegen deines Leichtsinns in schwere Sorge zu geraten!«

– Mein Leichtsinn wurde auch durch diese Geschichte nicht kuriert. Aber zwischen meinen Vater und mich ist nie wieder etwas ›Dunkles‹ getreten. Ärger hab' ich ihm noch viel verursacht. Aber man sprach sich aus, ehe die Maus zu einem Elefanten wurde, und schuf wieder klare Herzlichkeit. So blieb es, bis Papa die guten, redlichen Augen schloß. –

Was sollte mit Siegfried Mundy geschehen? Die Polizei? Nein! Ich bettelte: »Laß ihn laufen, Papa!« Aber konfrontieren mußte man ihn, sein Geständnis festlegen. Und da durfte man ihm nicht Zeit lassen, einen seiner ›genialen Geistesblitze‹ zu ersinnen.

Während Mama in der Küche den Teig zu meinen Dampfnudeln klopfte, raffte Papa zusammen, was er an Geld im Hause hatte, und schickte das dicke Päckchen durch unser Hausmädel an die Anna Teuffer. Dann mußte das Mädel einen Brief zu Professor Rheinhardstöttner tragen: Der Herr Professor möchte Herrn Siegfried Mundy [512] für abends 9 Uhr auf unverfängliche Weise zu sich bestellen; wir beide kämen eine halbe Stunde früher.

Wir gingen schon um 8 Uhr – nach Mutters herrlichen Dampfnudeln! Sie hatten mir prachtvoll geschmeckt. Und dennoch fieberte ein Wehes und Bitteres in meinem Leben. Mir war bang auf den Augenblick, in dem ich diesem verlorenen Menschen ins Gesicht schauen sollte, den ich geliebt hatte wie einen Bruder – und der mich jetzt erbarmte, um seines Talentes willen.

Professor Rheinhardstöttner fiel bei der Geschichte, die er von uns zu hören bekam, aus allen Wolken.

Draußen wurde die Glocke gezogen.

»Er kommt.«

Als Siegfried Mundy in seinem neuen Anzug das Zimmer betrat und neben dem Professor auch meinen Vater und mich gewahrte, stutzte er ein bißchen. Und ein Zittern kam in seine Hände, als der Professor die Türe versperrte und den Schlüssel abzog. Ich trat auf den Wortlosen zu und sagte ihm alles in die Augen. Die Wechselgeschichte schien ihn nicht sonderlich aufzuregen, doch als ich den Namen Anna Teuffer nannte, wurde er weiß wie die Wand.

Er leugnete nicht, sagte nur die drei kleinen [513] Worte: »Na also ja!« Dann sah er die versperrte Tür an, ließ die Tartarenzähne blinken und machte in aller Gemütsruhe den Scherz: »Ich komme mir vor wie Napoleon auf St. Helena.«

Professor Rheinhardstöttner setzte das Protokoll auf. Das dauerte sehr lange. Papa und ich, wir saßen schweigend auf dem Sofa. Siegfried Mundy saß in der Mitte des Zimmers auf einem Sessel, wickelte sich eine Zigarette um die andere, aus meiner Tabaksdose, die er noch immer bei sich trug, und schob beim Inhalieren des Rauches auf eigentümliche Art die Unterlippe vor.

Wortlos unterzeichnete er das Protokoll und sah mich nimmer an. Als ihm der Hausherr die Tür aufsperrte, entfernte er sich rücklings, verbeugte sich lächelnd auf der Schwelle und sagte: »Guten Abend allseits!« Es war eine Persiflage des Grußes, mit dem ich in eine von Gästen besetzte Wirtsstube zu treten pflegte – an Abenden, an denen ich den Kalbsbraten oder das boeuf à la mode für meinen Freund Achill bezahlte.

– Ich hab' ihn im Leben niemals wieder gesehen. Zehn Jahre später hab' ich noch etwas von ihm gehört. Nichts Gutes. –

In der Nacht, als wir von Professor Rheinhardstöttner heimkamen, saß die Mutter lange an [514] meinem Bett, mit meinen Händen in ihrem Schoß, in Sorge um meine Gesundheit. Aber ich hustete nimmer, hatte keine Schmerzen mehr im Halse, war ganz gesund.

Am anderen Vormittage wanderte ich mit einem Dienstmann zur Dioskurenbude in der Schellingstraße, um ›diesen anderen‹ auszuquartieren. Wir fanden keine Arbeit mehr. Siegfried Mundy war verduftet, war mit dem Frühzug nach Wien gereist – hatte sich noch Geld von unserer Hausfrau gepumpt und hatte ihr das schriftlich gegeben: daß ich alles bezahlen würde. Und mit ihm selbst waren noch mancherlei andere Dinge verschwunden: mein neuer Reisekoffer, der Rest meiner Kleider, meine Wäsche, ein Pack meiner Manuskripte und auch die Komödie »Der Preis der Waffenruhe«, nicht nur die Reinschritt, auch der Entwurf und ein Stoß von Skizzen und Exzerpten.

Im Schüttelfrost meiner nackt gewordenen Poetenseele dachte ich: Vielleicht liegt das Manuskript des Lustspiels noch beim Hofschauspieler Richter?

Ich rannte hin. Der alte, seine, vornehme Herr empfing mich liebenswürdig, war nur ein bißchen verwundert. »Sooo? Also Sie haben an dem Lustspielauch mitgearbeitet? Warum haben [515] Sie denn da Ihren Namen nicht auf das Titelblatt geschrieben?«

»Aber der hat doch draufgestanden!«

»Nein!«

Ich stellte die Sache klar. Und fragte, um einen platonischen Trost zu gewinnen: »Ist es wahr, Herr Regisseur, daß Sie von unserer Arbeit so begeistert waren?«

»Begeistert?« Er lächelte wohlwollend. »Das ist doch ein ... wie soll ich sagen? ... ein etwas forcierter Ausdruck. Das Lustspiel hat mir nicht übel gefallen, als Anfängerwerk, als Talentprobe. Aber ein bißchensehr breit ist alles! Überladen mit Weisheiten, die nicht heiter wirken. Und für die Bühne meines Erachtens ganz unmöglich!«

Wie mit Wasser begossen trat ich auf die Straße. Und schüttelte mich. Na also, meinetwegen, mochte Mundy doch den wertlosen Dreck zu Wien in meinem Koffer haben! Kreuz drüber!

Aber mein Luischen? Und das nahe Glück? Und meine Luftschlösser? Die Erfüllung der ewigen Sehnsucht? Die göttliche Einheit der Liebe? Mir schossen schmerzende Tränen in die Augen.

Als ich in meine Studentenbude heimkam, saß der Dienstmann noch da, den ich ganz vergessen hatte. Er half mir in beiden Zimmern die Möbel [516] umstellen. Alles machten wir anders, als es war – damit ich das Gewesene leichter vergessen könnte.

Nun blieb ich allein. Und während ich im Sofawinkel hockte und vor mich hinsah ins Leere, dachte ich eine halbe Stunde lang sehr schlecht von der gesamten Menschheit.

Ich brauchte viele Wochen, bis es mir gelang, dieses Abscheuliche zu übertauchen. Aber hundert treue Freunde meines Lebens haben es reichlich wett gemacht, daß einer mich betrog. Und was Freundschaft heißt, blieb weiterhin auch für mich das Gleiche, was sie mir früher war: ein frohes und völliges Geben meiner selbst.

Wie ein Narr begann ich in den folgenden Monaten an meiner Doktordissertation über Fischart und Rabelais zu arbeiten. Und Arbeit half mir die gallige Erinnerung überwinden.

Doch als ich endlich die Enttäuschung leidlich verschmerzt hatte, kam ein neuer Schlag, der mich noch viel härter und tiefer traf.

Das Luischen schrieb mir ab.

Regensburg liegt nicht allzu ferne von München. Und die Kunde der Wahrheit hat zuweilen noch flinkere Beine als der spinnenfüßige Klatsch. Die Unsicherheit meiner zukünftigen Existenz – nun, da ich zum anderen Mal umsatteln, auf die akademische[517] Laufbahn verzichten und Schriftsteller werden wollte – war ganz gewiß für mein gläubiges Luischen nicht bestimmend, wohl aber für jene, auf deren Stimme das Luischen hören mußte. Aber die ›Zwiespältigkeit‹ meines Lebens, mein Gepritschel in heimlichen Gewässern warf bedenkliche Wellen. Die mögen wohl ihre Kreise von der Isar bis zur Donau gezogen haben. Auch mein sonstiges Tun und Reden war nicht immer, was gewissenhafte Menschen als ›einwandfrei‹ zu bezeichnen pflegen. Und das ging dem Luischen schließlich gegen Herz und Seele.

Ich will nicht schildern, wie es Schritt um Schritt so kam – und will um meiner selbst willen nicht zu beweisen versuchen, daß es so kommen mußte. Es genügt zu sagen: Einer ist bei Nebel und Irren von einem Berge heruntergestürzt, der schön war in der reinen Sonne. Man braucht nicht auch noch auszumalen, wie der arme Kerl von Felsstufe zu Felsstufe kollert, in der Luft sich überschlägt, alle Glieder blutig reißt und dann übel zugerichtet drunten liegt in der dunklen Tiefe.

Ja, mein Luischen schrieb mir ab.

Erst konnte ich diesen Brief nicht fassen. Ich hatte ihn aufgemacht wie die hundert anderen, in Freude, in der frohen Sehnsucht: süße und zärtliche [518] Worte zu hören. Ein ratloses Verwundern, ein atembeklemmender Schreck befiel mich. Ich konnte an dieses Unmögliche nicht glauben. Und meine erste Empfindung war wohl auch die richtige: »Was in diesem Briefe steht, das ist nicht Groll, nicht Zorn, nicht Verstoßung – es ist noch immer Zärtlichkeit und Liebe – doch etwas anderes noch dabei, das mir unverständlich ist!« Aber dann rann mir etwas Wirres und Graues um die nassen Augen. Und es ging mir wie den Liebeshelden in Tausend und einer Nacht, die bei allen süßen und schmerzenden Zuckungen ihres Herzens immer gleich in Ohnmacht fallen. Ich torkelte vor meinem Schreibtisch über den Sessel hinunter und blieb da liegen, ich weiß nicht wie lange. Als ich wieder zur Besinnung kam, ging ich in die Schlafstube und steckte den Kopf sehr ausdauernd in kaltes Wasser. Und taumelte auf die Straße. Und rannte irgendwohin – ich glaube, in den Englischen Garten.

Immer mußte ich an das stockfinstere Sommerhäuschen zu Welden denken – die leis und herzlich redende Stimme meiner Mutter klang in meinen Ohren – und immer, immer, immer wieder hörte ich diese zwei, mich quälenden Worte: »Unsaubere Leut!«

[519] Irgendwo, unter dichten Bäumen, setzte ich mich auf die Erde hin und nahm den brennenden Kopf zwischen die Fäuste. Und da begann ich, was mir geschehen war, als eine Strafe zu fühlen, die ich verdiente. Jählings schoß mir der Gedanke durch Hirn und Herz: »Vielleicht soll das gar keine Trennung sein? Kein Abschied für immer? Nur eine Mahnung der Liebe? Ein Aufrütteln zur Besinnung? Ein Hinweis zu reinlichen Wegen?« Aber dann schüttelte ich in Erbitterung gleich wieder den Kopf dazu. Mit Herzen, die heiß von Liebe sind, macht man auch der Moral zugunsten keine Experimente, wie mit kalten Fröschen! Und man reißt einem Menschen nicht gleich das Kostbarste und Wertvollste seiner Seele aus den Armen, nur um für seine etwas zweifelhafte Lebensführung eine pädagogische Parabel zu konstruieren.

Mit solchen und ähnlichen Gedanken, die ein bißchen angekränkelt waren durch die Schule Siegfried Mundys, wühlte ich mich in einen tobenden Jähzorn hinein. Irrsinnig rannte ich im sinkenden Abend umher, und als ich zu später Stunde heimkam in meine Bude, war es für mich eine ausgemachte Sache, daß ich diese Nacht nicht überleben könnte. Ich schrieb an Mutter und Vater, [520] schrieb an das Luischen und setzte in mein fragmentarisches Tagebuch, mit dem Datum dieser Nacht, die beiden Strophen:


»Immer hab' ich nur genossen,

Nie das Leben ernst bedacht.

Und nun harrt mit schwarzen Rossen

Mein der Schwager. Gute Nacht!


Immer nur mit offnen Armen

Stürmt' ich hin durch diese Welt.

Niemand soll sich mein erbarmen!

Wie man sündigt, so man fällt.«


Nun schmunzelt ihr wohl? Weil ihr wißt, daß ich noch immer lebe! Aber glaubt mir nur: es war eine grauenhafte Nacht! Eine von jenen Nächten der Ratlosigkeit, in denen verstörte Menschen sich erwürgen, weil sie den nahenden Morgen für eine unmögliche Sache halten. Den Faust retteten Engelschöre und das Läuten der Osterglocken. Mich kleinen Enkel der ewigen Sehnsucht hielt die letzte Zeile des obigen Sterbeliedchens im Leben fest. Denn als ich diese Zeile niedergeschrieben hatte, mißfiel sie mir schrecklich, wegen ihres altmodisch gezierten Sprachklanges und wegen ihrer banalen Tugendläpperei. Bei diesem Mißfallen schied sich in mir der kritische Poet vom[521] leidenden Menschen. Ich suchte nach einer wertvolleren Fassung dieses ›letzten Wortes‹, Stunde um Stunde verging, ich fand nichts Besseres, wurde beim Suchen müde und legte mich schließlich ins Bett.

Am Morgen verbrannte ich die zwei in der Nacht geschriebenen Briefe und ging ins Literaturkolleg, wie alle Tage.

Und ohne Überleitung steht in meinem Tagebuch, datiert um einen Monat später, dieses überfeilte Zitat aus dem 4. Kapitel von Fischarts Verdeutschung des Gargantua:


»Wilt du ein Tag fröhlich sein,

So gang ins Bad, so schmeckt der Wein.

Wilt du dann lustig sein ein Woch',

Spreng die Ader, auff Beyrisch doch,

Nemlich hintern Umhang gelegen,

Daß dir kein Lufft nicht gang entgegen.

Gefallt dir: sein ein Monatsfürst,

Schlacht Säu, friß und verschenk die Würst.

Wilt dann ein Jahr lang Freuden treiben,

So magst du auff gerahtwol weiben!

Aber wilt wol dein Lebtag leben,

So mußt dich in ein Kloster geben!«


Die Erde hatte mich wieder. Aber die vier Wochen, die schweigsam zwischen diesen beiden Tagebuchstellen liegen, waren zur Hälfte eine böse [522] Zeit, bis meine knirschende Erbitterung sich in stille Schwermut verwandelte, mit der ich dem verlorenen Glücke nachträumte und seinen Wert verstand.

Mehr als dreißig Jahre sind hingeronnen seit damals. Mit ruhigen Augen kann ich betrachten, was einst gewesen. Das Leben gab meinem jungen, törichten Herzen von allem Guten das Beste. Und als dieses Leuchtende zum anderen Mal versunken und erloschen war, da blieb, ohne daß ich es in den Narrenjahren meiner Jugend erkannte und empfand, von seiner reinen, köstlichen Schönheit noch immer ein leise mahnendes Flügelwehen um mich her. Ob bewußtes Gedenken oder unbewußtes Erinnern – immer war's wie eine unsichtbare Hand, die mich aufrichtete, wenn ich stürzte, mich zurückschob, wo die Wege häßlich wurden, mich nicht versinken ließ in Sumpf und Kot. Sie band mich fest an alles Natürliche und Gesunde, bewahrte meinem Leibe unvergeudet die frische Kraft und behütete mein Herz für ein Kommendes: für das feste, dauernde Glück meines reifen Lebens.

[523]
12.
XII.

Eine drückende Schwermut lag auf mir. Seit das zärtliche Liebesglück meiner Jugend erloschen war, schien aus dem Bau meines Lebens ein tragender Stein herausgefallen. Nur die Zähigkeit, mit der ich mich an die Arbeit klammerte, brachte mich fahrlos über die kritische Zeit der Verzweiflungsstimmungen hinüber. Nach einigen Wochen glaubte ich selber: Nun hast du's überwunden! Aber das war eine Täuschung. Dieses Versunkene, an dem ich in Traum und Wachen gehangen, stieg immer wieder aus der Tiefe herauf und sah mich mit klagenden Augen an – oder es zeigte mir ein helles Lächeln der Vergangenheit, ließ mich der wirklichen Dinge vergessen und machte mich träumen. So blieb's drei Jahre lang – bis ich in der gleichen Stunde, in der das Flammengewoge des Wiener Ringtheaters die Millionenstadt [524] an der Donau in Schreck und Aufruhr versetzte, das feste, dauernde Glück meines Lebens mit zitternden Armen umschloß. Und auch dann noch, neben meinem frohen und lachenden Lebensglücke, ging immer dieses leise, aus Wehmut und Dankbarkeit gemischte Erinnern einher. Was Leben heißt, das ist ein ruheloses Erzeugen, Töten und Wiedererschaffen. –

War meine Arbeit in jener Schwermutszeit eine ›Goldamsel‹? Das ist ein Wesentliches in meinem Dasein: wenn ich unterzugehen drohte, war mir immer eine freundliche Leiter nah, über deren Sprossen ich wieder in die Höhe kam. Und so hätt' ich auch in jener Krise meines arm und krank gewordenen Herzens keine heilsamere Arbeit finden können, als die glückliche Idee, die mir Professor Rheinhardstöttner für meine Doktordissertation gegeben hatte: eine vergleichende Studie zwischen Rabelais und Fischart.

Ich faßte die Sache als Deutscher mit etwas unwissenschaftlichem Lokalpatriotismus an und verkleinerte zugunsten Fischarts den Meister Rabelais, den ich heute wesentlich anders sehe als damals vor dreiunddreißig Jahren. Die Arbeit, die ich bei solcher Einseitigkeit schließlich zustande brachte, wurde späterhin von der wissenschaftlichen Kritik [525] sehr schlecht behandelt. Mit Recht. Ich selber denke heute noch viel übler von ihr als meine schärfsten Rezensenten. Und dennoch war diese Arbeit ein Wichtiges und Bedeutungsvolles in meinem Leben, ein glücklicher Fund. Denn Fischarts gesunder und derber Humor, die Innigkeit seiner Menschenliebe und das Versöhnliche seiner Menschenkenntnis wirkten auf mich wie kluge, sänftigende Predigten, die ein heiterer Priester in das Ohr eines Verzweifelten spricht. Fischart festete mein Rückgrat wieder, gab mir neue Liebe zu den Menschen, neuen Glauben an das Leben, Mut für neue Wege.

Daneben begann ich, halb noch meiner Schwermut gehorchend, Mussets Rolla zu übersetzen und konzipierte ein mondaines Epos »Alfred«, in dem ich das Schicksal eines Freundes, der aus Liebe für eine Verlorene zum Selbstmörder geworden, mit den Schmerzen meiner eigenen Seele zusammenwob:


»Schwinge, mein Herz, das Weihrauchfaß

Der alten Erinnerungen!

Gierig schlagen aus engem Gelaß

Die bläulichen Flammenzungen.

Bläulich wirbelt der Weihrauchduft

Zur Höhe – nun will ich senken

Singend hinab in die tiefe Gruft

Mein quälendes Gedenken.«


[526] Dieses Epos blieb Fragment. Nur drei Gesänge entstanden. Je stärker Fischarts blühender Humor auf mich einwirkte, je häufiger er mich lachen machte, umsomehr beruhigten sich diese gereizten Trauerklänge im Viervierteltakt.

An manchen Abenden, wenn die Stille meiner Bude lastend auf mir lag, suchte ich eine Gelegenheit, um mich so recht von Herzen auslachen zu können: ich besuchte Binders Volkstheater, wenn ein klassisches Stück gespielt wurde. Da konnte man Tränen lachen. Die vordersten Bänke waren immer dicht mit Studenten besetzt, die lustig mitmimten und den an Gedächtnisschwäche leidenden Schauspielern die fürchterlichsten Dinge und alle geflügelten Zitate der Welt soufflierten. Wenn in diesem Theater Goethe gespielt wurde, waren immer auch Homer und Shakespeare, Schiller, Grabbe, Wilhelm Busch und Saumüller auf der Bühne. Besonders der alte Direktor Binder verstand es mit fabelhaftem Geschick, alle aus dem Zuschauerraum abgeschnellten Zitate wie dicke Fliegen aufzufangen und seiner Rolle einzuverleiben. Als Mephisto verhörte er sich einmal; er trat mit dem Schatzkästlein in Gretchens Zimmer, roch natürlich gleich die Unschuld dieses Raumes und schnupperte wie ein Fuchs, der eine Wildente [527] fliegen sieht. Diese Nuance verleitete einen Zuschauer der ersten Bank, dem Direktor zu soufflieren: »Ich wittere Menschenfleisch!« Der alte Mime verstand nicht richtig, drückte die Faust auf den Magen, illustrierte sehr drastisch ein Unbehagen seiner Gedärme und sagte melancholisch: »Ja, ja, das bittere Menschenfleisch! Mir scheint, ich habe da wieder einmal des Guten zuviel getan. Denn gestern verschlang ich sieben Kardinäle als Hauptgericht und eine Nonne als Dessert!« Weil er mit seiner extemporierenden Prosa immer wieder den Anschluß an den Goetheschen Reim zu finden suchte, setzte er noch hinzu: »Dessert – Ja, solche Kost ist schwer!« Wir brüllten vor Vergnügen und klatschten Beifall.

Um diese Zeit geriet ich in eine Gesellschaft, die mich fesselte: in das sozialdemokratische ›Zeitgeist-Kretzel‹, das seine langatmigen Nachtsitzungen im Café Metropole abzuhalten pflegte. Durch Siegfried Mundy unseligen Angedenkens war ich mit einem jungen Rumänen, Marco Brociner, bekannt geworden. Das war ein netter, liebenswürdiger Mensch, der in München Philosophie studierte und von Heidelberg gekommen war, wo er das erste Kolleg gehört hatte, das über Schopenhauer an einer deutschen Universität gelesen wurde.

[528] Bei unserer ersten Begegnung, als er die enge Freundschaft zwischen Mundy und mir gewahrte, sah er mich verwundert an, und ein mädchenhaftes Erröten huschte über sein gescheites Gesicht. Als wir nach dem Kladderadatsch, den es mit dem Napoleon aus östlichen Bezirken gegeben hatte, einander wieder begegneten, erzählte ich ihm ein bißchen was von der Enttäuschung, unter der ich schwer gelitten hatte. Er gestand: »Ich habe mir gleich gedacht, daß Sie hereinfallen werden. Sie waren für den doch viel zu blond. Das hätt' ich Ihnen voraussagen können.«

»Warum haben Sie es dann nicht getan?«

Er bekam wieder jenes mädchenhafte Erröten. »Das kann man doch nicht!«

»Warum nicht? Eine Wahrheit, die begründet und nützlich ist, kann man doch immer sagen.«

Brociner lachte ungläubig und sah mich wieder so merkwürdig verwundert an. – Manchmal hatte er ganz eigentümliche Worte. Hätt' ich nicht bestimmt gewußt, welch ein gescheiter Mensch er ist, so hätt' ich ihn für ein naives Kind halten mögen. Eines Tages, als uns ein Schornsteinfeger begegnete, fragte Brociner allen Ernstes, so, wie man eine wissenschaftliche Frage erörtert: »Ganghofer, möchten Sie ein Kaminkehrer sein?« [529] Eine Stunde lang debattierte er über alle für einen Schornsteinfeger ›erreichbaren Lebenswerte‹. Und auf der Oktoberfestwiese, vor der Bude, in der die Heringe gebraten wurden, fragte er gedankenvoll: »Ganghofer! Müßten wir uns das gefallen lassen, wenn wir zufällig Heringe geworden wären?« Und beim Anblick eines Plakates mit der Aufschrift: »Vor Taschendieben wird gewarnt!« – sagte er nachdenklich: »Das ist doch sinnlos! Es sollte doch heißen: Taschendiebe werden gewarnt! Die sperrt man doch ein, wenn sie erwischt werden.« Sein rosenfarbener Sozialdemokratismus war an Kant und Schopenhauer geschliffen und hatte lyrische Einschläge. In allen Dingen war er eine ehrliche Natur. Nur wenn er ein hübsches Mädel verehrte, von dem er mir stundenlang vorplauderte, verschwieg er konsequent den Namen und die Wohnung seiner Angebeteten. »Sonst hätten morgen doch Sie das Mädel!« Er überschätzte mich.

Für den sozialdemokratischen »Zeitgeist«, der erst seit kurzem gegründet war, schrieb er satirische Sonntagsplaudereien, durch die er einen Münchener Polizeikommissär mit unerschöpflichen Scherzen über dessen rote Nase zur Verzweiflung brachte. Nach dem pseudonymen Verfasser dieser Späße [530] wurde von der Münchener Polizei gefahndet, wie man in Rußland einen gefährlichen Anarchisten sucht, und ich glaube, die sonst so gemütliche Hermandad der Weinstraße wurde nur deshalb so gereizt gegen die Partei des Zeitgeistes, weil die rote Nase des Polizeikommissärs kein ruhiges Stündlein mehr hatte.

Durch Brociner wurde ich mit den zwei Matadoren des Zeitgeistes bekannt. Der eine war der Buchdrucker, der das junge Blatt materiell über Wasser hielt, ein Erkleckliches für seine ehrliche Überzeugung opferte, mit Stoizismus für seine Gesinnung litt und sich sanguinisch aus Eingesperrtwerden gewöhnte. Der andere war der Chefredakteur, ein Ungar, der für Petöfi schwärmte. Er hatte einen geistvollen Kopf, war eine durch Lebensklugheit gedämpfte Feuerseele und betrieb die Theorie seiner Partei als ernste Wissenschaft, von deren Entwicklung er die Erlösung und das Glück der Menschheit erwartete. Dreimal in jeder Woche, nachmittags von vier bis sechs Uhr, verwandelte sich dieser feuerköpfige Weltumstürzler in einen chevaleresken Hofmann, bürstete den Zylinder, trug schwarzen Gehrock und schwarze Krawatte, zog perlgraue Handschuhe an und gab den königlichen Prinzen Unterricht in der ungarischen Sprache.

[531] Wir viere, zu denen sich noch ein paar junge Heißsporne gesellten, saßen viele Nächte im Café Metropole um einen kleinen Marmortisch und debattierten uns die Köpfe glühend. Meine Belehrung zur Sozialdemokratie gelang nicht recht. Ich hielt diese politische Bewegung für notwendig und nützlich. Aber schon damals, als Dreiundzwanzigjähriger, war ich der Meinung, daß ihre Vorteile für die arbeitende Masse bei einer bestimmten Grenze enden müßten: wenn die Steigerung der Lohnverhältnisse eine solche Preissteigerung der Ware und aller Lebensbedingungen herbeiführen würde, daß der Arbeiter um kein Merkliches besser dran wäre wie früher. Verständige Organisation, Unterstützungsvereine, Krankenkassen, Erweiterung der Schulbildung des Volkes, ausgiebige Ruhetage, Bibliotheken für das Volk, Vermittlung künstlerischen Genusses, den der Arbeiter ohne fühlbares Opfer erschwingen kann, und eine stramme Parteibildung, um solche Forderungen durchzusetzen – ja, da mit war ich restlos einverstanden. Im übrigen ließ ich mir nichts eintrichtern und nichts ausschwatzen und behielt meine eigenen Ansichten, von denen manche den anderen Debattern am Marmortische gefährlich und allzu radikal erschienen. Den schärfsten Widerspruch [532] erfuhr meine Meinung, daß es, statt den Arbeiter zu höherem Lohn zu bringen, viel nützlicher wäre, ihm zu sicherem Besitz zu verhelfen, der ihm, seinem Weib und seinen Kindern Lebensruhe und Freude brächte. Man müßte die Städte anders bauen, nicht in die Höhe, sondern in die Breite, müßte guten und flinken Verkehr schaffen, große und grüne Vorstädte formieren, in denen jeder Arbeiter und jeder kleine Beamte sein eigenes Häuschen erwerbenmüßte, mit drei, vier Stuben, mit einer netten Küche, an der die Frau ihre Freude hätte, mit einem hübschen Gärtchen, in dem die Kinder sich lustig balgen und die Mutter ihre Rüben aus eigenem Boden zieht. Fabrikbesitzer, Stadt und Staat müßten die Mittel aufbringen, um Millionen solcher Häuschen zu bauen, mit hundertjähriger Abzahlung, so daß die Familie des Arbeiters stabil würde, eine Heimat erhielte, und daß ihr das Wohnen unter eigenem Dach nicht höher zu stehen käme als der Zins in den freudlosen Mietkasernen der Städte. Dabei müßte das ein Selbstverständliches sein, daß Frau und Kind von jeder Fabrikarbeit ausgeschlossen würden. Das Weib müßte sich frisch an Aug und Leib erhalten, um ein Wohlgefallen des Mannes zu sein und gesunde Kinder zu kriegen.

[533] Und die Kinder müßten Zeit haben, sich zu strecken und zu entwickeln, frohe Menschen zu werden.

Das erschien als Utopie. Und es hieß: das wäre nicht zum Vorteil der Partei, der Besitzende wäre kein Kämpfender mehr, sondern ein Zufriedener.

»Aber, Herrgott, das soll ja doch erreicht werden! Was hat denn eure Partei für einen Zweck, wenn sie die armen Leut nicht zufrieden machen, nur in der Unzufriedenheit schüren will?«

Da kam dann der einheitliche Menschenwert und der große Ausgleich aufs Tapet, und es wurde mir das Bild eines Zukunftsstaates entwickelt, vor dem mir gruselte um der Unfreiheit willen, zu der jeder einzelne da gebunden und gefesselt wurde.

»Na, ich danke, in dem Staat möcht' ich nicht leben! Freiheit ist doch unser Bestes. Aber macht diesen Staat einmal, richtet ihn morgen genau so ein, wie ihr's heute träumt! Dann kommt übermorgen ein Starker, Willenskräftiger und Gesunder, wirft euch den ganzen Einheitskrempel über den Haufen, tausend Gläubige rennen hinter ihm her, und alles ist wieder, wie es früher war! Oder schlechter!«

Ich meinte, die Hilfe für die Masse müßte [534] man mit der Hilfe für den einzelnen beginnen, nicht umgekehrt.

Gleichheit aller Menschen, ja, gewiß! An Recht und Pflicht, und vor dem Gesetz. Aber der Begabte und Fleißige soll es im Leben doch weiter bringen können, als der Unbegabte und Faule. Es soll jedem Arbeiter frei stehen, nur acht oder zehn Stunden im Tag zu arbeiten, wenn ihm das so paßt, und wenn er damit die pflichtgemäßen Notwendigkeiten seines Lebens deckt. Doch er soll auch zwölf und sechzehn Stunden arbeiten können, wenn es ihm für sein Vorwärtskommen nötig erscheint und wenn es ihm Freude macht. Die Uniformierung der täglichen Arbeitsleistung nach einer bestimmten Stundenzahl entwertet den Fähigen und bringt den Unfähigen nicht in die Höhe, tötet den gesunden und schöpferischen Ehrgeiz, vermindert die Qualität der Arbeit und verursacht einen Rückgang der Kunstfertigkeit in allem Handwerk.

Man darf den Lebensbedingungen und der Gewinnmöglichkeit nicht eine Grenze nach aufwärts diktieren, nur eine Grenze nach abwärts. In einem zivilisierten Staate kann es Millionäre und Milliardäre schadlos geben, aber keinen Arbeitswilligen, der nicht Arbeit findet, keinen Esel, [535] der an fetter Krippe sitzt, keinen Bettler und keinen Hungernden. Dafür muß der Staat sorgen. Wer lebt und arbeitsunfähig ist, muß am Tage zu essen erhalten, muß reinlich gekleidet werden und zur Nacht sein Bett haben. Wer geboren wurde und arbeiten kann, der muß auch arbeiten, und es muß ihm gerechter Verdienst gesichert werden. Wer mehr lernt und mehr leistet als andere, soll auch besser entlohnt werden. Nicht nur die Kosten der Ausbildung, auch die Jahre, die man in längerem Schulgang verbringt, und die Mühe, die man an seine Schulung wendet, müssen als Kapital gelten, das, sobald es für den Staat nutzbar wird, vom Staat auch zu verzinsen ist. In der Stunde, in der ein junger Mensch in mannsreifem Alter von höherer Schule kommt und seinen Beruf antritt, muß er als Dienstgehalt und Bildungsrente so viel bekommen, daß es ihm möglich ist, einen Hausstand zu gründen und in frisch erhaltener Jünglingskraft ein glücklicher Mensch zu werden, ein froher Vater gesunder und lachender Kinder, die das neue Blut des Staates sind.

Woher der Staat die Mittel nehmen soll, um das alles zu machen?

Was sich da bisher als gut erwiesen, soll beibehalten werden: Gewinn des Staates aus [536] seinem eigenen Besitz (Verkehrsanstalten; Zölle; Waldwirtschaft; Jagdrecht; Bergwerksbetrieb, der ganz zu verstaatlichen wäre; Monopole über alle Bedarfsartikel, die im allgemeinen Interesse den Preisschraubungen durch die private Spekulation entzogen werden müssen; Staatsbanken; Versicherungswesen usw.) und maßvoll gehaltene indirekte Abgaben, die das Leben der Unbemittelten nicht fühlbar belasten. Hoch zu besteuern, bis zu einem Viertel des Einkommens, ist die Ehelosigkeit des Mannes nach Eintritt des heiratsfähigen Alters. Hoch zu besteuern ist aller Luxus und aller Lebensgenuß, den sich nur der reich Bemittelte verschaffen kann: Prunkpferde und Equipagen, luxuriöses Wohnen, überbequemes Reisen, kostbarer Schmuck und Kleiderluxus, Opulenz der Tafel, vornehme Hausführung und Überzahl der Dienstleute, Park- und Waldbesitz, privates Jagdrecht, jede Passion, die nur bei Reichtum möglich ist. Da der Staat jedem Bürger und jeder Bürgerin ein Minimum des Lebensbedarfes garantiert und den Kampf ums Dasein aus dem Menschenleben ausscheidet, ist aller Besitz und Erwerb, der das unbesteuerbare Mindestmaß übersteigt, in wachsenden Sätzen bis zur Hälfte des Einkommens zu besteuern. Es gibt Menschen, die ein Jahreseinkommen [537] von zwei Millionen haben. Können die nicht eine Million leicht abgeben? Wer den Staat um eine Steuer betrügt, dem soll zur exemplarischen Strafe alles genommen werden, was er über das Existenzminimum, über den eisernen Bedarf hinaus besitzt. Und ein Erbrecht soll es nur geben für das Blut der engsten Familie. Stirbt ein Besitzender und es sind nicht Kinder, Kindeskinder und Geschwister da, dann soll alles Erbgut dem Staate gehören. Alles, was Mitgift heißt und Männerkauf wird, soll verboten sein und als Verbrechen gelten. Bei jeder Heirat fällt alles persönliche Eigentum der Braut dem Staate zu. Handlungen gegen das Brautgesetz sind als Verbrechen, als Betrug wider den Staat zu betrachten und werden bestraft wie Unterschleif von Steuern. Das Weib soll gewählt werden um seiner selbst willen, nicht dem Geldsack zuliebe. So wird alles Krankhafte und Minderwertige von der Fortpflanzung ausgeschieden, und das schönste und gesündeste Weib wird den tüchtigsten der Männer wählen. Die Menschheit wird sich veredeln, wird an Lebensfreude und Lebenskraft gewinnen. Der atmende Unwert wird immer seltener werden, wird aussterben.

Gesundes Glück des einzelnen und Wertsteigerung[538] der Lebensgesamtheit – das sollen die Ziele aller Wege sein, die ein Kulturvolk beschreitet.

Diese Zukunftsarbeit muß schon beim Kinde beginnen. Zuerst muß es von jungen, kräftigen Eltern ins Leben gesetzt werden, gesund und wohlgebildet. Dann muß es Zeit haben, sich körperlich für das Leben zu formen. Kinder, deren Eltern durch ihren Beruf an die kahle Stadt gebunden sind, müssen jährlich mindestens vier Monate auf dem Land, im Walde leben. Der Staat hat ›Kinderparadiese‹ in den schönsten und gesündesten Gegenden seines Reiches zu schaffen. Hier gilt das Kind eines Arbeiters genau so viel wie das Kind eines Ministers. Buben und Mädchen leben da wie auch später in der Schule ganz so zusammen, als wären sie ein Geschlecht. Alles Natürliche wird natürlich genommen, und bei der von selbst sich bildenden Erkenntnis, daß nur das Ungesunde unsauber ist, wachsen die jungen Menschenkinder in Reinheit dem lachenden Leben entgegen.

Der unfühlbare Anfang der Schule – Lesen, erstes Rechnen, Stählung des Leibes, Gesang, Musik – muß den Charakter eines heiteren Spiels in Freiheit behalten. Die eigentliche Schule, das [539] Sitzen und feste Lernen, beginnt erst mit Eintritt des zehnten Lebensjahres. Drei Schulstunden am Morgen; der Rest des Tages muß Erholung sein, fesselnder Anschauungsunterricht in wichtigen Lebensdingen. Das heißt dann Volksschule und dauert drei Jahre. Die Erfüllung des notwendigen Pensums in dieser Zeit ist möglich, wenn kleine Klassen von fünfzehn bis zwanzig Schülern unter einem Lehrer gebildet werden, der seine Klasse durch alle drei Jahre zu führen hat. Für die Volksschule sind die besten Pädagogen mit reicher, umfassender Bildung auszuwählen. Ihre Lebensstellung muß eine so sorgenlose und unabhängige sein, daß sie ihrem wichtigen und schönen Berufe, aus Kindern Menschen zu machen, ungeteilt gehören können.

Nach der Volksschule tritt der Junge, welcher Arbeiter oder Handwerker werden will, in seine Lehrlingszeit – ein Dreizehnjähriger, der an Verstand und Körper reifer sein wird, als es heute die Fünfzehn-und Sechzehnjährigen sind, denen man im Alter von sechs Jahren das Gehirn erschreckte und den Rücken krumm bog. Es kommen zwei Lehrjungenjahre mit Lohn. Dann eine dreijährige Geselljungenzeit mit steigender Löhnung. Drei Vormittage der Woche gehören der Handwerkerschule, die nicht nur die Hände zu leiten, [540] auch den geistigen Horizont der jungen Leute zu erweitern hat. Es folgen, für die Achtzehnjährigen, zwei Jahre Militärdienst. Jeder Gesunde muß dienen, der Staat muß wehrfähig bleiben, Kampf gegen die Institution des Heeres ist Unsinn und Vaterlandsfeindschaft. Nach der Militärzeit ist der Arbeiter ein freier Mensch. Sein Lohn muß ausreichend sein zu sorgenlosem Leben. Heiratet der Arbeiter, wozu er mit zweiundzwanzig Jahren berechtigt ist, so erhöht sich sein Lohn durch staatliche Vorsorge zu einem Betrag, der für die Führung eines schlichten Hausstandes genügt. Für jedes Kind leistet der Staat einen Erziehungsbeitrag. Bei Gründung des Hausstandes ist der Arbeiter und Handwerker, dem ein Haussitz nicht erblich in jungen Jahren zufällt, gesetzlich verpflichtet, eigenes Dach und feste Heimat unter Staatshilfe auf hundertjährige Abzahlung zu erwerben. Der Sohn eines hausständigen Vaters soll, solange der Vater noch erwerbsfähig ist, Heimat und Dach bei Gründung eines Hausstandes für sich selbst beschaffen. Solcher Besitz darf nur vertauscht oder verkauft werden, um wertvolleren Besitz zu erwerben, die Lebenslage zu verbessern – oder wenn ein hausständiger Mann durch Erbschaft in den Besitz eines zweiten Hauses kommt.

[541] Für den Handwerker, der weitere Ausbildung nötig hat oder begehrt, kommen nach der Militärzeit zwei Gesellenjahre neben der Meisterschule. Mit dem zweiundzwanzigsten Lebensjahre ist seine Ausbildung vollendet. Der Mindergeschickte bleibt Handwerksgeselle unter der Leitung eines Meisters, der Befähigte gewinnt die Reife zur Meisterschaft und wird selbständig.

Die lieben kleinen Weiberchen, und zwar alle Gleichaltrigen, ohne Ausnahme, gehören nach der Volksschule an den Vormittagen dem Elternhause oder ihrem individuellen Bildungsbedürfnis; an den Nachmittagen haben sie durch zwei Jahre die Mädchenschule (für Handarbeit, Gartenpflege, Warenkunde usw.), durch weitere drei Jahre die Frauenschule zu besuchen, um alles zu lernen, was sie wissen und verstehen müssen, wenn sie Lebensgefährtinnen des Mannes, Hausfrauen und Mütter werden. Mit der praktischen Schulung während dieser fünf Jahre verbindet sich fortschreitender Unterricht in der Kunde des Lebensschmuckes, in der Pflege des weiblichen Körpers, in Tanz, Gesang, Musik und Kunstsinn, in der Fertigkeit, sich mit Einfachem geschmackvoll zu kleiden, eine Stube und eine Häuslichkeit zu einer Freude für Herz und Auge zu machen. Nach diesem Bildungsgange, [542] mit achtzehn Jahren, ist jedes Mädchen heiratsfähig. Vor diesem Alter darf kein Mädchen zu irgendwelcher Lohnarbeit verwendet werden. Und nach diesem Alter steht ihm, wenn es nicht gleich zur Ehe gewählt wird oder selbst der Ehe widerstrebt, nur die Wahl eines Berufes frei, der den Körper des Weibes nicht schädigt. Die dem Weibe widrigen Berufe sind gesetzlich festgestellt.

Bis zum 18. Lebensjahr sind Sohn und Tochter von den Eltern zu verpflegen, haben Tisch und Bett im elterlichen Hause. Ausnahmsfälle, in denen diese gesetzliche Bestimmung unerfüllbar wird, sind staatlich wie bei Erziehung der Waisen zu regulieren. Für den Besuch der Volksschule, wie der Mädchen- und Frauenschule, ist kein Schulgeld zu entrichten. Für Mädchen läuft der staatliche Erziehungsbeitrag – 200 Mark für jedes Kind – bis zur Erreichung des achtzehnten Jahres. Für die Lehrjungen im Alter von dreizehn und vierzehn Jahren verwandelt sich der Erziehungsbeitrag in den vom Staate zu leistenden Lehrjungenlohn von jährlich 360 Mark. Dieser Lohn erhöht sich für die Geselljungen im Alter von fünfzehn bis siebzehn Jahren jährlich um 120 Mark, die der Meister zu geben hat. Solche Entlohnung ist notwendig, um den Hausstand unbemittelter Eltern [543] zu entlasten, dem Bedarf an Arbeitern und Handwerkern durch die Anwartschaft auf frühzeitigen Verdienst ausreichende Kräfte zuzuführen, den Zudrang zu den höheren Schulen einzudämmen und die Entstehung eines Bildungsproletariates, das auf halbem Wege stecken bleibt, zu verhüten. Jeder Meister ist verpflichtet, zwei Lehrjungen ohne Lehrgeld anzunehmen und mindestens zwei Geselljungen in seiner Werkstätte zu beschäftigen. In Fabriksbetrieben dürfen Arbeiter unter 22 Jahren nicht angestellt werden. Als Fabriksbetrieb gilt jedes industrielle Geschäft, dessen Besitzer nicht die gleiche manuelle Handwerkstätigkeit leistet wie seine Arbeiter.

Der Geselljungenlohn von 720 Mark für jeden Achtzehnjährigen, wie der gleiche Jahresverdienst eines Mädchens mit Volksschulbildung, wenn es nach Beendigung der Frauenschule einen Beruf erwählt und zu erwerben beginnt, ist durch die gesetzliche Bestimmung gesichert: daß kein Arbeitgeber einen Arbeitenden mit geringerem Jahrlohn anstellen darf. Bei Dienstleuten, die von ihrer Herrschaft Wohnung und Kost erhalten, darf diese Leistung nicht höher als mit 360 Mark pro Jahr bewertet werden; somit beträgt der bare Jahrlohn für Dienstboten mindestens die gleiche Summe.

Alle Erhöhungen dieses Mindestlohnes regulieren[544] sich durch den Bedarf an Arbeitskräften und durch die Leistungsfähigkeit der Arbeitenden. Es sind staatliche Stellen für Arbeitsvermittlung einzurichten, an die alle Nachfragen und Angebote geleitet werden. So lange diese Staatsstelle dem Arbeitslosen eine Unterkunft zum Mindestlohn nicht verschaffen kann, hat sie ihn mit dem Monatsbetrag von 60 Mark zu soutenieren, unter der Berechtigung, ihn zu passanten Arbeitsleistungen zu verwenden, die vom Arbeitslosen ohne Widerspruch zu erfüllen sind.

Der Betrag von 720 Mark ist zugleich der vom Staat zu leistende eiserne Lebensbedarf für jeden durch Krankheit oder körperliche Gebrechen völlig Arbeitsunfähigen im Alter von über achtzehn Jahren, wie die Minimalpension für Kriegsinvaliden aus dem Arbeiterstande, der Ruhegehalt für bejahrte Arbeiter und Arbeiterinnen, soweit sie aus eigenem Erwerb eine Altersversorgung nicht besitzen.

Materielle Staatshilfe wird nur dem Bedürftigen geboten. Privater Besitz, dessen Ertrag dem eisernen Lebensbedarf entspricht, oder Erwerb, der diesen Betrag erreicht, entheben den Staat jeder Verpflichtung zur Hilfe. Wer nach Erreichung des heiratsfähigen Alters staatliche Hilfe empfängt, ist ohne politische Rechte. Solche Rechte genießen [545] mit dem zweiundzwanzigsten Lebensjahr nur die Freien, die sich selbst erhalten und von ihrem, den eisernen Bedarf übersteigenden Erwerbe dem Staate Steuer geben. Was vom Staate den Mädchen und Knaben bis zum achtzehnten Lebensjahre geleistet wird, ist gesetzlicher Anspruch des Kindes. Alle Staatshilfe in späteren Lebensjahren ist Darlehen, das nach Eintritt eigenen Erwerbes in Zuschlägen zur Steuerleistung zurückzuzahlen ist.

Jeder gesunde junge Mann von zweiundzwanzig Jahren ist heiratsberechtigt, ob er seinen Unterhalt selbst erwirbt oder staatliche Hilfe genießt. Der vom Staat zu leistende Hausstandsbeitrag – als eiserner Lebensbedarf der Ehefrau – beträgt 720 Mark. Jedes mittellose Arbeiterehepaar beginnt also seinen Hausstand unter eigenem Dach mit einem gesicherten Jahreseinkommen von 1440 Mark. Wie der Erziehungsbeitrag von 200 Mark für jedes Kind, so ist auch der Hausstandsbeitrag bis zu ausreichender Erwerbsfähigkeit des Ehemanns gesetzlicher Anspruch der vermählten Frau, nicht rückzahlbar, nicht steuerpflichtig. Der Staat hat grundsätzlich für den Abschluß der Ehe und für die Existenz des Kindes die Prämie zu leisten, die der Hausstands- und Erziehungsbeitrag bedeutet. Eine vermögenslose Arbeiterfamilie [546] mit vier Kindern besitzt also ihr eigenes Haus und ein jährlich durch den Staat gesichertes Einkommen von mindestens 2240 Mark. Es ist gesetzliche Bestimmung: daß kein Arbeitgeber einen verheirateten Arbeiter unter einem Jahrlohn von 1440 Mark anstellen darf. Durch Monopole hat der Staat dafür zu sorgen, daß der Preis der allgemeinsten Lebensmittel konstant und auch für den Vermögenslosen erschwingbar bleibt. In Zeiträumen von zwanzig Jahren sind die Ziffern der Mindestgehalte vom Staat zu regulieren und mit etwaigen Verteuerungen des Lebens wieder in Einklang zu bringen. Die Funktionen und Verpflichtungen der staatlichen Arbeitsvermittlungsstelle bleiben gegenüber dem verheirateten Arbeiter mit dem Anspruch auf einen eisernen Lebensbedarf von 1440 Mark die gleichen, wie gegenüber dem ledigen Arbeiter nach dem achtzehnten Lebensjahre.

Wie der Ledige nur bei steuerpflichtigem Jahreserwerb über 720 Mark, so tritt auch der verheiratete Arbeiter erst dann in den Besitz der politischen Rechte, wenn er ein selbstverdientes Jahreseinkommen über 1440 Mark versteuert und die Darlehen der Staatshilfe, die er nach dem achtzehnten Lebensjahre für seine eigene Person empfing, in Ratenzuschlägen zur Steuer zurückzuzahlen [547] beginnt. Ein Rückstand in diesen Abzahlungen und in der Steuerleistung hat eine Sistierung der politischen Rechte zur Folge. Wie einem Ledigen das Minimaleinkommen von 720 Mark, so kann auch einem verheirateten Schuldner weder sein Arbeiterhaus, noch der eiserne Lebensbedarf von 1440 Mark gepfändet oder genommen werden.

Ein Handwerker kann nur selbständiger Meister sein, so lang er ein politisch Freier ist und ein Jahreseinkommen von mindestens 2160 Mark besitzt, somit als lediger Mann einen Erwerb von mindestens 1440 Mark, als Ehemann einen Erwerb von mindestens 720 Mark versteuert. Die Erfüllung dieser Bedingung vorausgesetzt, verfügt ein Handwerkermeister, der Ehemann ist, vier Kinder besitzt, zwei Lehrjungen anzunehmen und mindestens zwei Geselljungen zu beschäftigen hat, über ein jährliches Minimaleinkommen von 2960 Mark. Für notleidend gewordene Meister tritt nicht mehr Staatshilfe, sondern Genossenschaftshilfe ein. Meister, welche den genossenschaftlichen Bestimmungen nicht genügen, verlieren die Meisterschaft und treten in den Gesellenstand zurück.

Nach den gleichen Grundsätzen werden die Existenzbedingungen in den höheren Berufen geregelt.

[548] Wer nach der Volksschule – sei's Junge oder Mädchen, es soll da kein Unterschied sein – das Recht zu höherer Lebensstellung erwerben will, kommt in die Mittelschule. Oder mag sie Gymnasium heißen! Diese Schule muß im ganzen Staate unitarisch eingerichtet sein und dauert fünf Jahre. Der täglich fünfstündige Unterricht wird nur am Vormittage gehalten. Am Nachmittage haben die studierenden Weibchen die Mädchen- oder Frauenschule zu besuchen, die studierenden Jungen gehören der körperlichen Ausbildung, der Musik, der Schulung in handwerksmäßigen Fertigkeiten, dem Anschauungsunterrichte durch Besuch von Werkstätten und Industriebetrieben. Keine Klasse darf mehr als zwanzig Schüler enthalten. Das Pensum des Gymnasiums ist von allem Überflüssigen und Entbehrlichen der bisherigen, veralteten Scholastik zu erlösen. Die Kenntnis der alten Sprachen ist auf ein für die allgemeine Bildung genügendes Maß einzudämmen, ihr exaktes Studium der Gelehrtenschule vorzubehalten. Dafür sind die modernen Sprachen – Englisch und Französisch, als Wahlfach eine dritte Sprache – in Methoden einzusetzen, bei denen man innerhalb dreier Jahre die fremde Sprache in praktisch verwendbarem Umfange sprechen und für geschäftliche Korrespondenz auch schreiben [549] lernt. Das wichtigste, eingehend zu behandelnde Fach ist das Deutsche, mit Schulung des Stiles, Literaturkunde und rhetorischen Übungen von der ersten Klasse an. Was weiterhin gelehrt wird, soll nicht den Charakter eines beginnenden Fachstudiums haben, nur allgemeine Vorbereitung für alle höheren Berufsarten sein, Basis für gesunde, universelle Bildung. Solche vorbereitende Fächer sind: allgemeine Geschichte, Geschichte der vaterländischen Politik, Geographie, Staatswesen, Geschichte der Religionen, Naturkunde, Elementarbegriffe der Physik und Chemie, Zeichnen, höhere Arithmetik, Geometrie, Grundbegriffe der Technik, kaufmännische Buchführung, Stenographie, Informationslehre über Handwerk, Handel und Industrie, Warenkunde, Hygiene, Kunst- und Schönheitslehre. Drei Jahreskurse dieser Schule sind obligatorisch für jeden Schüler und jede Schülerin. Das Repetieren eines Kurses ist ausgeschlossen; wer nicht vorwärtskommt, soll ein Handwerk lernen.

Der Unterricht ist so zu führen, der Lehrstoff so einzuteilen, daß der Schüler nach dem dritten, vierten und fünften Jahr vom Gymnasium weg zu bestimmten, eine Hochschulbildung nicht erfordernden Berufsgattungen abgehen kann, in diesen Berufen sofort verwendbar ist und gesetzlich geregelten [550] Minimalverdienst erhält: Handwerkerlehrlingslohn mit dem Zuschuß der für drei, vier, fünf Jahre fälligen Bildungsrente, die der jährlich wachsenden Geselljungenlöhnung entspricht. Die Schüler und Schülerinnen des Gymnasiums haben also, wenn sie nach dem dritten, vierten oder fünften Schuljahr zu den ihnen offen stehenden Berufen übertreten, das Recht auf Anstellung mit einem Minimaleinkommen von 720, 840 oder 960 Mark.

Für den Besuch der Mittelschule wird ein angemessenes Schulgeld geleistet. Alle Kosten dieser Schulzeit sind von den Eltern zu tragen. Für Waisen, wie für besonders befähigte Kinder unbemittelter Eltern sind Staatsstipendien vorgesehen. Ein solches Stipendium für die Dauer der Mittelschule muß jedem vermögenslosen Kind gewährt werden, das die für den Eintritt in die Schule vorgeschriebene Prüfung besteht und sich im Schulgang der folgenden Jahre oberhalb des Durchschnittes erhält. Die Schule ist streng zu führen, um für die höheren Berufe eine Auswahl der Begabtesten zu treffen. Nach dem dritten Jahr der Mittelschule ist das Recht zu einjährigem Militärdienst erworben, nach dem fünften Jahr das Recht zum Besuch der Hochschule mit offener Wahl für alle Berufe, wie [551] jetzt nach dem Absolutorium des Gymnasiums. Mit Ausnahme der militärischen Karriere stehen den studierenden Mädchen ebenso alle höheren Berufe offen, wie den jungen Männern, soweit diese Berufe nicht eine Tätigkeit verlangen, die dem weiblichen Körper nachteilig ist. Ein Mädchen, welches heiratet, darf nur Frau und Mutter sein, muß jedem anderen Beruf entsagen, auf alle bisher erworbenen Lohnrechte und Bildungsrenten verzichten. Es ist Gesetz: die Braut bringt nur sich selbst in die Ehe mit, sonst nichts. Der staatliche Hausstands- und Erziehungsbeitrag bleibt auch in den höheren Berufsklassen – mit Ausnahme der Offizierskarriere – der gleiche wie für den Arbeiter- und Handwerkerstand.

Die von der dritten, vierten und fünften Mittelschulklasse zu den offen stehenden Berufen Abgegangenen machen, nach einem praktischen Gehilfenjahre mit Gehalt, innerhalb des Berufes eine zweijährige Fachschule durch, unter jährlicher Erhöhung ihres Einkommens um den Zuschlag einer doppelten Geselljungenlöhnung. Es ist festes Prinzip für alle Berufe, daß die exakte Fachausbildung innerhalb des Berufes selbst und in besoldeter Stellung erworben wird – ähnlich, wie heutzutage die bereits besoldeten Offiziere die Kriegsakademie [552] besuchen. Der Fachschule gehören drei Vormittage mit vierstündigem und drei Abende mit zweistündigem Unterricht; die sechs Nachmittage der Woche und die drei übrigen Vormittage gehören der praktischen Berufstätigkeit. Alle Berufsgattungen, in denen sich eine ausreichende Fachbildung auf solche Weise nicht erzielen läßt, sind den Berufen beizuzählen, welche Hochschulbildung erfordern.

Mit dem neunzehnten, zwanzigsten oder einundzwanzigsten Lebensjahre erledigen die an die Mittelschule angeschlossenen Berufskategorien den einjährigen Soldatendienst. Nach dem Soldatenjahr sind sie freie Männer innerhalb ihres Berufes, mit dem zweiundzwanzigsten Lebensjahr zur Gründung eines Hausstandes berechtigt. Für sie entfällt der gesetzliche Zwang zur Erwerbung eines eigenen Daches; aber auch ihnen bleibt die Möglichkeit gewahrt, festen Wohnsitz unter Staatshilfe zu gewinnen. Ihr Eintritt in die politischen Rechte regelt sich unter erhöhten Gehaltsbeträgen nach den gleichen Bestimmungen, die für den Handwerker bestehen. Die Minimalgehalte – zugleich wieder Mindestbeträge der Invalidenpension und Altersversorgung – beziffern sich für die von der dritten, vierten oder fünften Mittelschulklasse Abgegangenen nach Erledigung des Soldatendienstes, [553] unter Zuschlag der doppelten Geselljungenlöhnung für drei Jahre, mit 1440, 1560 oder 1680 Mark, nach Gründung eines Hausstandes mit 2160, 2280 oder 2400 Mark. Die Familie eines subalternen Staatsbeamten sowie eines in freiem Berufe Angestellten ohne Hochschulbildung besitzt also nach Geburt des vierten Kindes ein staatlich gesichertes Minimaleinkommen von 2960, 3080 oder 3200 Mark, wovon der Betrag von 1440 Mark unversteuerbar ist. Funktionen und Verpflichtungen der staatlichen Stellenvermittlung bleiben, mit erhöhten Beträgen für den eisernen Lebensbedarf, die gleichen wie in den früheren Berufsordnungen. Rückstellung in eine geringer besoldete Berufsklasse ist ausgeschlossen. Der Minderbefähigte wird Zeit seines Lebens beim Minimalgehalte bleiben, der Begabte wird vorwärtskommen, Besitz erwerben.

Der Übertritt zur Offizierskarriere erfolgt nach der fünften Mittelschulklasse in gleicher Weise, wie bisher nach Absolvierung des Gymnasiums. Der Offizier ist im Verhältnis zu anderen Berufsgattungen von gleicher Vorbildungsdauer durch Zuschlag einer Offiziersquote höher zu besolden. Er stellt sein Blut und Menschenglück fürs ganze Leben in den Dienst des Landes. Und die Qualität seiner Lebensführung hat gesteigerten Anforderungen [554] zu genügen. Die Scheußlichkeit der Heiratskaution ist durch das Brautgesetz beseitigt. Den Ausfall gleicht der Staat durch den für Offiziersfrauen in doppelter Höhe zu bemessenden Hausstandsbeitrag aus. Der Sold für sich allein muß ausreichend sein für alle Lebensnotwendigkeiten des Offiziersstandes, um den Zugang zu diesem für die Sicherheit des Landes wichtigen Berufe unabhängig von privatem Besitz zu machen, ihn nur aus den begabtesten jungen Männern des Volkes rekrutieren zu können. Die Anzahl der jährlich in die Armee eintretenden Fähnriche ist gesetzlich festgelegt. Zwischen den Bewerbern wird die Auswahl durch strengste Prüfung der Kenntnisse, des geistigen Vermögens, der körperlichen Vorzüge und des persönlichen Menschenwertes getroffen. Unter Annahme einer Offiziersquote von 2000 Mark beträgt der Anfangsgehalt eines achtzehnjährigen Fähnrichs 2960 Mark, der Sold eines zweiundzwanzigjährigen, zur Gründung eines Hausstandes berechtigten Offiziers 3920, nach Abschluß der Ehe 5360 Mark. Für jedes Kind einer Offiziersehe leistet der Staat einen jährlichen Erziehungsbeitrag von 400 Mark bis zum achtzehnten Lebensjahre. Den Reiteroffizieren werden Pferde und Stallbedarf vom Staate geliefert. Der Fähnrichssold[555] von 2960 Mark ist zugleich die Minimalpension für invalid gewordene Offiziere und für Witwen der im Kriege Gefallenen. Die Reserveoffiziere treten für die Zeit ihrer Berufung zur Truppe in alle Soldrechte der aktiven Offiziere ein. Der Offizier genießt nach dem zweiundzwanzigsten Lebensjahr die gleichen politischen Rechte, ist wahlfähig und wählbar wie jeder andere Staatsbürger. Es wäre ein Verbrechen wider das Land, einen Beruf der sich aus den fähigsten jungen Männern des Staates zu rekrutieren hat, von der Mitarbeit am politischen Leben auszuschließen. Vom Sold des ledigen Offiziers sind 2960 Mark, vom Sold des verheirateten Offiziers 4400 Mark steuerfrei.

Wer nach Absolvierung der Mittelschule den Aufstieg zu den höchsten Zivilberufen erstrebt, dient zuerst als einjähriger Soldat und besucht dann die Hochschule, die in drei Jahren das für jeden Beruf notwendige theoretische Vorbereitungspensum zu erschöpfen hat. Nach dem dritten Jahrgang, also mit zweiundzwanzig Jahren, ist jeder Hochschüler berechtigt, einen Hausstand zu gründen, den gewählten Beruf in Freiheit auszuüben, oder staatliche Anstellung nach Maßgabe der notwendigen Beamtenzahl zu empfangen. Alle weitere Berufsausbildung hat auch hier innerhalb des Berufes zu [556] erfolgen. Wer Volksschulpädagoge, Mittelschulprofessor, Fachspezialist, akademischer Gelehrter oder Forscher werden will und durch besondere Auszeichnung im Schulgang hiefür befähigt ist, besucht dann noch, bereits in staatlicher Anstellung und als Mann zur Gründung eines Hausstandes berechtigt, die von drei bis zu sieben Jahren währende Gelehrtenschule.

Alle Kosten für die drei Jahre der Hochschulerziehung fallen zu Lasten der Eltern. Für Waisen, wie für besonders begabte Söhne und Töchter aus vermögenslosen Familien, sind auch hier ausreichende Stipendien vorgesehen, nach Prüfungen, die mit Auszeichnung zu bestehen sind. Die Schulnoten sind ein Wesentliches nur für die Zeit der Schule. Im Beruf entscheidet kein Schulzeugnis, nur die persönliche Leistung und Fähigkeit.

Jeder zweiundzwanzigjährige Hochschüler, welcher Staatsbeamter wird oder in einem freien Berufe Stellung nimmt, bezieht einen Mindestgehalt, der sich im Verhältnis zum Gehaltsanspruch der letzten Mittelschulklasse um die Bildungsrente für drei Hochschuljahre erhöht. Diese Rente, den höheren Kosten, der geistigen Arbeitsleistung der Hochschulzeit und der strengen Auswahl des fähigsten Menschenmaterials entsprechend, [557] besteht für jedes Jahr der Hochschule aus dem vierfachen Betrag der Geselljungenzulage. Ein absolvierter Hochschüler besitzt also zu Beginn seiner beruflichen Tätigkeit ein steuerfreies Minimaleinkommen von 2400 Mark, das sich bei Abschluß einer Ehe auf 3120 Mark erhöht. Diese Beträge bezeichnen auch wieder die unterste Grenze der Invalidenpension und Altersversorgung. Kein privates Unternehmen, keine städtische Verwaltung darf einen absolvierten Hochschüler unter diesen Gehaltsbeträgen in Stellung nehmen. Staatsbeamte empfangen diese Beträge als Anfangsgehalt. Für jene Hochschüler, die sich freien Berufen widmen, sind die Funktionen und Verpflichtungen der staatlichen Stellenvermittlung, mit erhöhtem Betrag des eisernen Lebensbedarfes, die gleichen wie für die vorausgehenden Berufsordnungen. Ärzte und Ärztinnen, deren notwendige Zahl für Stadt und Land gesetzlich festgestellt ist, beginnen ihre Praxis unter staatlicher Leistung des Minimalerwerbes. Der gesamte Landesbedarf an Berufsleuten mit Mittel- und Hochschulbildung bestimmt sich durch die Erfahrung, der Zugang ist durch Milderung oder Verschärfung der Schulforderungen so zu regulieren, daß dem Staate nicht übermäßige Lasten erwachsen, und daß dem Vorwärtskommen der [558] Leistungsfähigen durch allzu großen Andrang von Bewerbern keine ungerechte Schranke gezogen wird. Der Gewinn der politischen Rechte ordnet sich nach den gleichen Bestimmungen, wie sie für den Handwerker bestehen.

Die Gehaltsaufbesserungen und Beförderung der Offiziere, der Staats- und Stadtbeamten richten sich nach der gleichen Methode, wie sie bei privaten Unternehmungen üblich und notwendig ist: es entscheidet da nicht das Dienstalter, sondern die persönliche Leistungsfähigkeit. Der Staat kann ersprießlich mit sechzigjährigen Assessoren, Akzessisten und Assistenten arbeiten, doch er braucht zuweilen sehr notwendig einen dreißigjährigen Minister. Die Erhöhungen des Gehaltes sind so einzurichten, daß ein Staatsbeamter den seiner persönlichen Tüchtigkeit entsprechenden Höchstgehalt spätestens bis zu seinem fünfundvierzigsten Lebensjahr erreicht. Die Staatsbeamten sollen zu essen haben, so lange sie noch kräftig beißen können. Was sie jenseits der obersten Gehaltsgrenze leisten, soll dem zufriedenen Pflichtgefühl und dem frisch und froh gebliebenen Ehrgeiz entspringen. Wer Pflichtgefühl und reinlichen Ehrgeiz nicht besitzt, soll abtreten und den Arbeitsraum freigeben für einen Besseren.

Nach dem Minimaleinkommen der jungen [559] Männer und Mädchen mit Hochschulbildung (2400 Mark) ordnen sich alle materiellen Lebensrechte auch für die Hörer der Gelehrtenschule durch Zuschlag einer erhöhten Bildungsrente, die für diese Schule einheitlich ist, unabhängig von der Zahl der weiteren Schuljahre. Die Bildungsrente für den Besuch der Gelehrtenschule entspricht dem Betrag der Offiziersquote (2000 Mark) und wird zur Hälfte beim Eintritt in die Gelehrtenschule fällig, zur anderen Hälfte nach dem dritten Schuljahr.

Für alle Pädagogen, die eine Lehrtätigkeit an der Volks- oder Mittelschule anstreben, sind drei Jahre der Gelehrtenschule obligat. Unvermählte und kinderlose Männer können den Beruf des Pädagogen praktisch nicht ausüben. Wer Kinder mit Liebe zu Menschen formen soll, der muß am eigenen Herzen erfahren haben, was das heißt: Vater sein und ein Kind lieben.

Nach dem Abgang von der Gelehrtenschule, im fünfundzwanzigsten Lebensjahre – vermählt, mit einem Hausstandseinkommen von 5120 Mark, dem noch die Erziehungsbeiträge für die Kinder anzufügen sind – hat jeder pädagogische Novize eine dreijährige Lehrpraxis unter Aufsicht eines in langer Dienstzeit bewährten Schulmannes durchzumachen. Erst mit dem achtundzwanzigsten Lebensjahre [560] beginnt der junge Pädagoge die selbständige Lehrtätigkeit.

Zur Unterstützung der Schulmänner beim Unterricht der kleinen lieben Weibchen, in den Kinderparadiesen und in der Volksschule, werden unter den studierenden Mädchen, die sich dem pädagogischen Berufe widmen und eine ganz diesem Zwecke dienende Hochschulbildung erwarben, die Begabtesten und Gütigsten ausgewählt. Sie werden nicht durch Schönheit glänzen – sonst wären sie Frauen geworden. Doch in den Herzen und Seelen der Unschönen wohnt die tiefste, zärtlichste und beständigste Liebessehnsucht. Und ein Weib braucht selbst nicht Gattin und Mutter zu sein, um schön und heiß zu fühlen, welch kostbarer Lebenswert in einem Kinde blüht. Jedem Weibe, auch dem häßlichsten und einsamsten, gab die Natur dieses dürstende Wissen. Und die lehrenden Mädchen sollen auch als Unvermählte den Ehrentitel ›Mutter‹ führen. Sie werden treue, gütige Mütter von hundert, von tausend Kindern sein. Und das Kind, beim ersten Schritt in die Schule, die wie ein heiteres Spiel beginnt, wird in warme, zärtliche Augen schauen, wird Liebe fühlen, Liebe empfangen, und wird als erstes Wort unter fremden Gesichtern das [561] geläufigste seines jungen Lebens sagen können: Mutter!

Aus den Armen und Händen der jungen, gütigen Schulmütterchen kommen die Kinder ungeschreckt, vertrauensvoll, als Zehnjährige schon kräftig entwickelt, froh, gesund an Leib und Seele auf die unvermeidliche Holzbank, sind geistig reifer, fassen leichter, lernen freudiger und drängen flotter vorwärts als die abgezappelten Schulkrüppel der Vergangenheit. Der Prozentsatz der Unfähigen wird ein geringerer sein, weil das leibliche Material ein besseres und widerstandsfähigeres ist. Die Mittelschule wird leicht in fünf Jahren Umfangreicheres leisten, als bisher bei so viel überflüssigem Ballast von den leistungsfähig Gebliebenen in acht Jahren, von den Müden und Hinkenden in neun und zehn Jahren erzwungen wurde. Die jungen Männer kommen frischer zum Soldatendienst, heller und hoffnungsvoller zu frühem Beruf oder zur Hochschule – und vor allem: mit zweiundzwanzig Jahren, ob Arbeiter oder Akademiker, ist jeder junge Mensch ein fertiger und freier Mann. Er hat ein nahes Ziel vor Augen, ein sorgenloses und gesundes Lebensglück. Und da kann und muß von ihm verlangt werden, daß er Blut und Körper reinlich erhält bis zur Stunde [562] seiner schönen, unbeschmutzten Freude, bis zur Umarmung des jungen, blühenden Weibes, das er liebt, bis zu den heiligen Nächten, die ihn zum Vater machen.

Ein neuer, kraftvoller und reiner Hauch wird alles Leben durchströmen, aus dem gesunden Brunnen der Jugend werden Staat und Volk sich erneuern, veredeln und erhöhen. Seit vielen Jahrhunderten hat die Menschheit zu ihrem Schaden vergessen, was alle Erscheinungen der Natur uns lehren: daß das Leben für die Jugend da ist, nicht für das Alter – für Blüte und Frucht, nicht für die Zeit des Welkens. In einer Zukunft gesunder Natürlichkeit wird aber auch die Dauer der Jugend und ihrer Kräfte sich verdoppeln. Dann wird es den leis Ermüdenden leichter sollen, Platz zu machen für die Nachdrängenden. Und der gereifte Verstand der Alternden wird eine Säule für das nachwachsende Leben werden. Die Jugend darf begehrlich sein, das Alter muß sich bescheiden. Genuß des Lebens blüht dem Alter noch immer in schöner Fülle, vorausgesetzt, daß es seine wertvollste Freude in der zärtlichen Sorge für die Jugend erkennt.

Nach den gleichen Grundsätzen, nach denen der eiserne Lebensbedarf der Handwerker und Berufsleute staatlich gesichert wird, ist auch der [563] landwirtschaftliche Kleinbesitz zu regeln. Das bäuerliche Eigentum an Erde ist steuerfrei bis zum Ertrag des eisernen Lebensbedarfes. Was den übrigen Bürgern an Hausstands- und Erziehungsbeiträgen geleistet wird, das ist dem Bauer nach Möglichkeit an Land von entsprechendem Werte zu geben. Für die Kinder des Bauern ist der Schulgang der gleiche wie für andere Kinder. Auch Weib und Töchter des Bauern sind ausgeschlossen von jeder schweren Lastarbeit, die dem weiblichen Körper schädlich ist.

Um den Abzug der Arbeitskräfte vom Lande nach den Städten zu beschränken, ist die Besoldung der Bauernknechte in gleicher Höhe zu sichern, wie der Verdienst des Arbeiters in den Städten. Wie dem Arbeiter der Erwerb seines Hauses, so muß dem Bauernknecht für sich und seine männlichen Nachkommen der Erwerb einer eigenen Hube durch Kauf mit hundertjähriger Abzahlung ermöglicht werden. Wenn große Erbgüter von Besitzenden, nach denen keine Erben des engsten Blutes vorhanden sind, an den Staat heimfallen, sind diese Güter zu parzellieren und dem Verkauf an selbständig werdende Bauernknechte zuzuführen. Doch alles Waldland, das kluge Pflege verlangt und ein Lebensbrunnen für die Gesundheit des [564] Volkes ist, soll der Staat als Eigentum behalten, wenn es durch Erbfall in seinen Besitz gerät. Entbehrliche Wälder sollen gerodet und in Ackerland verwandelt werden.

Der Besitz eines Bauern besteht als unverkäuflich, so lange ein Sohn oder Enkel als bäuerlicher Erbe vorhanden ist. Erbberechtigt ist der älteste Sohn für den ganzen Besitz. Die jüngeren Söhne haben im Gut des Vaters Bett- und Tischrecht für Lebenszeit. Dieses Recht kann durch Beträge abgelöst werden, die sich nach dem Gutswerte richten, soweit er den eisernen Landbestand überschreitet. Ist der Besitz eines Bauern Tochtergut geworden, so hat bei Vermählung der Tochter, beim Heimfall ihres Gutes an den Staat, der von ihr gewählte Bräutigam das Vorkaufsrecht vor allen anderen Kaufbewerbern, wenn dieser Bräutigam nicht selbst schon Besitzer eines Bauerngutes ist. Es muß eine zärtliche Sorge des Staates sein, den bäuerlichen Besitz zu erhalten, die Zahl der Bauern zu vermehren. Erde ist ein ewiger Brunnen der Kraft.

Wie fruchtbare Erde, so ist das Blut alles Lebens eine schöpferische Macht. Drum muß es rein erhalten werden in seinen Kräften. Im Staate der gesunden Menschen ist die Liebe heilig, die [565] Ehe notwendig. Wer gegen die Liebe sündigt, begeht ein Verbrechen, das er büßen soll. Und von der Ehe ist ausgeschlossen, wer als Mann oder Weib am Gift der Liebe erkrankte, wer Verbrechen beging, wer mit unheilbarem Leiden behaftet ist, der Schwachsinnige, das Weib, das seinen Leib verkaufte, der Mann, der wider die Natur geartet ist. Diese Minderwertigen sollen einsam bleiben und erlöschen. Doch sie sollen Wohltat und Erbarmen genießen, nicht verachtet werden, sollen als Opfer und Märtyrer des kommenden Lebens gelten. Sie sind Schuldlose, an denen sich Torheit und Sünde vergangener Zeiten rächen.

Im Leben des Staates haben Mann und Weib nach Maßgabe ihrer Leistungen für das Land die gleichen Rechte, sind wahlfähig und wählbar. Nicht wählbar ist die Mutter eines Kindes, das sein achtzehntes Lebensjahr noch nicht erreichte. Weder wahlfähig noch wählbar sind Männer und Weiber, die nach den gesetzlichen Bestimmungen von der Ehe ausgeschlossen wurden.

Eine Wahlstimme besitzt jeder Mann, der als Soldat diente, vermählt ist und keine Staatshilfe genießt. Eine Wahlstimme besitzt jede Mutter von drei lebenden Kindern. Eine Wahlstimme besitzen alle Bürger und Bürgerinnen nach dem achtzehnten [566] Lebensjahr, wenn sie arbeiten und dem Staate Steuer leisten. Eine Wahlstimme steht jeder Ehefrau zu, deren an den Staat gefallener Brautbesitz einer Rente entsprach, für die sie als Unvermählte Steuer bezahlen müßte. – Eine Doppelstimme besitzen also: der Ehemann, der als Soldat diente und Erwerbssteuer leistet – und jede eheliche Mutter von drei Kindern, wenn ihr Brautgut ein versteuerbares Vermögen ausmachte. Allen übrigen Wählern und Wählerinnen steht nur die einfache Wahlstimme zu. Die Abgabe für Vermögen und ertragsfähigen Besitz irgendwelcher Art berechtigt noch nicht zur Wahlstimme des Steuerzahlers; nur jener Besitzende, der bis zum sechzigsten Lebensjahr auch arbeitet, selbst erwirbt und diesen Erwerb versteuert, ist wahlfähig mit einer Stimme.

Der parlamentarische Staat ist monarchisch. Die Zeit, in der gesunde Republiken bestehen konnten, ist längst vergangen. Im komplizierten Interessengetriebe des heutigen Lebens züchtet die Republik ungesunde Ehrsucht und unzuverlässige Gesinnung, macht zur Ungebühr die einzelnen mächtig über viele. Die Beständigkeit und das Ansehen des Staates soll sich verkörpern in einer auserlesenen Menschengestalt, in der Würde und Erscheinung des Herrschers. Im Hause des Landesfürsten gelten Eherecht, [567] Brautgesetz und Erbrecht in gleicher Weise wie für den Bürger. Erlischt die Generation eines Herrschers im erbberechtigten Stamme, so wählt das Volk einen neuen Landesherrn, dem es vertrauen, den es lieben kann.

Die Landesregierung besteht aus Gemeinde- und Stadtverwaltungen, Provinzialkammern, Reichstag und Reichsrat. Die Mitglieder des Reichsrates, in welchem Erwerb und Besitz, Wissenschaft, Armee und Kunst durch alle Berufsgattungen bei gleichwertiger Stimmenverteilung vertreten sein müssen, werden nach Vorschlag der Standes- und Berufsgenossenschaften vom Landesherrn auf Lebensdauer berufen. Die Entsendung zu allen übrigen Regierungskörpern des Landes erfolgt durch Wahl des Volkes. Alle Wahl ist geheim. Für die Führung politischer Ämter wird vom Staate keine Entlohnung geleistet. Nur den Unbemittelten aus dem Arbeiterstande wird bei Berufung zu politischen Ämtern der Erwerbsentgang vergütet. Offiziere und Beamte bleiben im Genuß ihres Gehaltes. Für Abgeordnete aus freien Berufen sind Erwerbsschädigungen, die ihnen aus politischer Tätigkeit erwachsen, durch die Berufsgenossenschaften auszugleichen. Die Ernennung der höchsten Staatsbeamten durch den Landesherrn ist wohl unabhängig[568] von der Zusammensetzung der politischen Parteien, aber die Minister sind dem Reichstag und Reichsrate gegenüber verantwortlich; ein parlamentarisches Urteil wider die Amtsführung eines Ministers muß mit Zweidrittelmajorität gesprochen werden.

Die Erziehung eines Volkes zu frischer Gesundheit, zu redlicher Menschenwertung und starker Heimatliebe, zu einem von Nahrungssorgen unbedrückten Da sein und zu klarer Lebensfreude ist auch eine Erziehung des Volkes zu festem Rechtsgefühl und zu reinlicher Lebensführung. Dieser pädagogische Gewinn und die Beseitigung des bittersten Kampfes ums Dasein wird die Zahl der Verbrechen vermindern, die Rechtspflege vereinfachen. Was Gefängnis, Zuchthaus oder Kerker heißt, ist abzuschaffen. Einen Menschen einzusperren, ist eine Scheußlichkeit; solche Strafe ist wider jeden erzieherischen Nutzen, macht den Bestraften krank und unkurierbar fürs Leben. Was Vergehen heißt, sühnbar und nicht entehrend ist, wird mit empfindlichen Vermögensbußen, mit zeitweiligem Entzug der politischen Rechte, mit Verlust der bürgerlichen Würden bestraft. – Unentziehbar, auch bei den schwersten Verbrechen, ist der ererbte Adelstitel; er ist ein Name wie jeder andere; und es darf nicht so erscheinen, als gäbe es eine Strafversetzung [569] des adeligen Verbrechers in den bürgerlichen Stand. – Jede straffällige Beleidigung eines Standes oder eines einzelnen ist durch Vermögensbußen, durch Schadenersatz an den Beleidigten und durch feierliche Abbitte vor der Öffentlichkeit zu sühnen. Grobe Verfehlungen um materiellen Vorteil ziehen den Verlust des gesamten Eigenbesitzes nach sich, für Vermögenslose die Stellung zu schweren und niedrigen Arbeiten bei Säuberung der Straßen und Kloaken. Schädigungen des menschlichen Lebens, die aus Leidenschaft, Irrtum oder Jähzorn entsprangen, müssen nach Schadenersatz und bei Entzug aller Lebensrechte gesühnt werden durch Übernahme lebensgefährlicher Arbeit (in Heizräumen der Schiffe, in Bergwerken mit schlagenden Wettern, bei Rettungsstationen für Schiffbrüchige); die tapfere Rettung zweier Menschen aus Todesgefahren gilt als Sühne. Schwere Verbrechen, an denen noch immer ein Entschuldbares ist, werden bestraft durch Verbannung zu abgeschiedenen Gemeinden der Lebenskranken und Verlorenen, mit Zwangsarbeit bei den mühseligsten Hantierungen – mit Aussicht auf Erlösung durch gutes Verhalten. Landesverrat, wie alle üblen Verbrechen, nach denen jede letzte Hoffnung auf Lebenserneuerung eines Verlorenen [570] ausgeschlossen erscheint, werden durch Verbannung nach unwirtbaren Inseln bestraft, unter der Möglichkeit, wüstes Land urbar zu machen, eine Erneuerung des Lebens in Hunger, Schweiß und Gefahr zu erringen. Infame Tücke, Verbrechen wider das eigene Blut, scheußliches Laster, Vertierung und völliger Verlust der Menschenwürde erfordern die Ausscheidung aus dem Kreise der Lebenden – nicht durch die Todesstrafe in der heutigen Form, kein Mensch darf Henker sein. Man wähle die Verurteilung zur unbewußten Selbsterlösung. Ein Weg, der nicht grausam ist, wird sich ersinnen lassen. Und kein zum Erlöschen Verurteilter soll das Urteil kennen, das über ihn gefällt wurde. Die Gerechtigkeit soll mitleidsvoll eine Wahrheit verhüllen dürfen, um einem verlorenen Geschöpfe die letzte Qual zu ersparen.

Die Rechtspflege muß alle Möglichkeiten erwägen, durch welche seelisch erkrankte Menschen wieder zu heilen wären. Gerechtigkeit, die nicht Erbarmen ist, wird schädlich für die Menschheit, wie eine mit dem Alpdruck vergangener Jahrtausende belastete Religion, die mehr den Teufel und die Hölle predigt als die Güte und den Frohsinn Gottes. Doch keiner Religion ist vorzuschreiben, was sie lehren soll. Alle Religion, wie alle Philosophie, [571] ist eine Bedürfnisfrage, deren Form und Inhalt sich regelt nach dem Herzens- und Geisteswert der Gläubigen. Es glaubt der Mensch, was er glauben kann; er fürchtet, was er fürchten muß, und hofft, was er zu hoffen wagt. Der gesündeste, freieste und reinlichste Mensch trägt immer den schönsten und gütigsten Gott in seiner Seele. Die Erziehung des Volkes zu froher Gesundheit wird auch eine Läuterung der Religionen werden. Die Religion ist frei neben dem Staate, der Staat muß frei sein neben den Religionen. Es können Religionsgemeinden gegründet werden wie Berufsgenossenschaften, wie philosophische Schulen. Der Staat hat da nichts dreinzureden, und umgekehrt ist's ebenso. Die Religion gehört in das Herz, in das Haus, in die Kirche, unter freien Himmel, aber nicht in die Schule, nicht in die Gesetzbücher des Staates. Der Zwang in religiösen Dingen erzeugt Heuchelei, befördert den Zweifel an Gott, den Haß wider jene, die sich seine Diener nennen. Eine Religion, welche Seelen zu werben hofft, muß sich um ihrer selbst willen frei machen von aller Zwangsbereitschaft eines unklugen Staates. Aber auch die Diener Gottes bleiben Bürger ihres Vaterlandes. Ihre Lebensführung darf keinem Gesetze des Staates widersprechen. Die [572] Verpflichtung zur priesterlichen Ehelosigkeit ist wider die gesunde Natur und darf vom Staate nicht geduldet werden, der um seines eigenen Lebens willen die Ehe und das Kind begehren und schützen muß. Und materielle Vorsorge, wie der Staat sie den Männern mit Hochschulbildung bietet, kann nur jener Priester für sich erwarten, der seine Bildung in den öffentlichen Schulen des Staates erwarb. Priester, die in anderen Schulen erzogen wurden, haben über den eisernen Lebensbedarf des Arbeitsunfähigen hinaus auf Vorsorge des Staates keinen Anspruch.

Von jeder materiellen Obhut des Staates, über den Mindestbedarf des Arbeitsunfähigen hinaus, sind auch ausgeschlossen: alle Gaukler, Schauspieler, Sänger, Musiker, Schriftsteller, Künstler und Dichter. Der Gaukler ist ein Überflüssiges; er mag aus seinem Leben machen, was ihm gelingt. Die anderen sind Schöpfer menschlicher Freude. Sie müssen freie Wege gehen, restlos freie Menschen sein, durch Tiefen steigen und über Höhen fliegen, in Kampf und Gluten ihr Können formen. Sie sollen leben von dem, was sie leisten und schaffen. Das geistige und künstlerische Eigentum ist vom Staate zu schützen, so lange jene leben, die es schufen. Nach ihrem Tode wird es Besitz des [573] Volkes, aus dessen geistigen Gütern sie ihr künstlerisches Werden ernährten. Doch solcher Besitz des Volkes soll nicht verschleudert werden, wie es seit Jahrhunderten geschah. In einem Staate kann es nicht herrenloses Land geben, also auch leinen herrenlosen Wert. Was nicht mehr Besitz eines Lebenden ist, wird Eigentum des Staates. Es soll durch Gesetz bestimmt werden: Alle herrenlos gewordenen geistigen und künstlerischen Werte, seit Anbeginn der menschlichen Kultur, sind Eigentum des Staates, in dem sie genützt und verwertet werden. Solcher Besitz wird dem Staate Milliarden bringen. Aber diese Erträgnisse sollen nicht zu beliebiger Verfügung des Staates stehen, nur wieder nutzbar werden zugunsten der Kunst, von der sie kamen. Es ist ein aus Staatsmännern, Volksleuten, Künstlern und Gelehrten gebildetes Kuratorium zu schaffen, das diesen ›Schatz der großen Geister‹ verwaltet, über die Unantastbarkeit der geistigen und künstlerischen Formen wacht und dem Volke für bescheidene Gegenleistung den Genuß des Edelsten vermittelt.

Bibliotheken und Lesestuben – Wärmestuben der Seele – sind in allen Städten und Dörfern zu begründen. Malerei und Skulptur sollen dem Volke nähergebracht, seinem Verständnis erschlossen [574] werden; man muß dem Volke den unkünstlerischen Kirchentrödel und das geschmacklose Hausgerümpel durch Vergleich mit wahrhaft Schönem verleiden, muß seinen Sinn für das Beste wecken, muß ihm gute Nachbildungen der edelsten religiösen Künste zugänglich und erschwingbar machen für seine Gotteshäuser, Nachbildungen der wertvollsten weltlichen Kunst für sein Haus und seine Stube. Früher einmal war Kunst auch zwischen den Wänden der Ärmsten. Das ist verloren gegangen, man muß es wieder finden. Und die Art, wie der Bürger, Handwerker, Arbeiter und Bauer sein Haus baut, muß nach guten Mustern vergangener Zeiten künstlerisch erneuert werden, so daß der Geplagte nach der Arbeit sich des Augenblickes freut, in dem er den Zaun seines Besitzes durchschreitet, die Schwelle seiner Stube betritt. So war's einmal. Fast ist es ein Märchen geworden. Doch manch ein Bauer unserer Berge weiß heute noch, was das bedeutet: Hausfreude! Und die es wissen, sind frohe Menschen.

Aus dem ›Schatz der großen Geister‹ soll man in volksreichen Städten Nationalbühnen errichten, die dem Theatererwerb nicht nachzulaufen haben, unabhängige Bühnen, die in musterhaften Darbietungen nur das Höchste der dramatischen [575] Kunst aller Zeiten pflegen. Der Preis der Plätze darf auch für den Ärmsten kein fühlbares Opfer sein. In weiter Umgebung solcher Städte sollen an Feiertagen billige Reisegelegenheiten eingerichtet werden, um allem Arbeiter-und Landvolk den Besuch von Mittagsspielen zu ermöglichen. Während der Frühlings- und Sommermonate sind von diesen Bühnen nach Dörfern und kleineren Städten wandernde Schauspieltruppen zu senden, die dem Volke, das nicht kommen kann, das Beste entgegenbringen. Ein Jahrzehnt solcher Kunstpflege: und das Volk ist besser, seelisch gesünder und froher geworden! Reine Kunst ist eine heilsame Korrektur des Lebens, ein mächtiger Zug nach aufwärtsführenden Wegen.

Und stabile und reisende Musikertruppen sollen formiert werden, die dem Volke Musik in bester Ausführung zu Gehör bringen, vorbildlich wirken, Schule machen und die Freude an der Musik und ihrer Pflege in jedem Haus beleben, in jedem Menschen erwecken. Musik ist eine Bändigerin des Tierischen, eine Trösterin bedrückter Herzen, eine Schöpferin des Frohsinns, eine priesterliche Erzieherin der Menschenseele. Gibt es Offenbarungen Gottes, so ist der belebte Klang eine solche, der beseelte Ton, der ohne Sprache von[576] allen Wundern und liebevollen Zärtlichkeiten des Ewigen redet. – Mensch! Vernimm eine frohe Weise – und dann fühlst du: Gott kann lachen! Und unter seinen unsichtbaren Schwingen wirst du ein Fröhlicher sein! –

Aus vergilbten Blättern meiner letzten Studentenjahre, aus Bruchstück gebliebenen Aufsätzen, aus flüchtig hingekritzelten Notizen und aus der Erinnerung hab' ich hier zusammengestellt, was ich als dreiundzwanzigjähriger Politiker von einer kommenden Zeit erhoffte.

Wenn ich am kleinen Marmortisch im Café Metropole solche Anschauungen äußerte, fand ich manchmal Zustimmung, häufig wurde leidenschaftlich gegen mich debattiert, und zuweilen wurde ich fürchterlich ausgelacht, als politischer Narr und bodenloser Phantast. Das erbitterte mich, machte mich rechthaberisch und bockbeinig, unbekehrbar in meinen Anschauungen. Und wenn ich heim kam in meine Schlafstube, vor Aufregung schwitzend, zapplig an Leib und Seele, dann lag ich oft bis zum Morgen wach und grübelte und rechnete für das Glück der kommenden Menschen. Jede Ziffer, die ich als gerecht erfand, jedes Zukunftsgesetz, an dem ich bosselte und formte, bis es mir gut und heilsam erschien, war getränkt mit der Pein und [577] Sehnsucht meiner eigenen, glücklos gewordenen Jugend. Ich begann diese freudeschaffenden Zahlen des ›eisernen Lebensbedarfes‹ zärtlich zu lieben, das Wort ›Bildungsrente‹ wurde mir eine köstliche Süßigkeit, und die ruhelose Marter meiner einsamen Nächte verwandelte sich für mich allmählich in etwas Notwendiges, in eine heilige Kraft, von der ich ein Erlösungswerk für die Menschheit mit untrüglicher Sicherheit erwartete. Es lag für mich etwas heiß Berauschendes in dem Gedanken: daß den noch Ungeborenen, für die ich grübelte und träumte, das ›Glück der Jugend‹ besser gelingen würde, als esmir geraten war!

Diese Ideen der ›Lebenserneuerung‹ nahmen mich so eisenfest in Anspruch, daß ich für Monate jeder anderen Arbeit vergaß. Und immer mußte ich aus mir herausschütten, was mein Herz zu einem Kürbis machte, für den die Brust zu enge wurde. Jeden meiner Kameraden, den ich erwischen konnte – in einer Wirtsstube, auf der Straße, in den Korridoren der Universität – jeden hielt ich an der Kittelfalte fest und redete andauernd auf ihn los, bis er sich plötzlich erinnerte, daß er einen notwendigen Gang zu machen hätte, zu dem er schleunigst verduftete. Der Geduldigste, den ich [578] um dieser Eigenschaft willen abgöttisch zu lieben begann – er besuchte das Konservatorium, hatte den sanften Namen Smolian und war ein tobendes Klaviergenie – dieser Geduldige wanderte Nächte lang mit mir bei Finsternis oder Mondschein durch die blühenden Gärten meiner ›besseren Welt‹. Dann plötzlich war dieser Ausdauernde in München nimmer zu finden. Es mußte mir genügen, daß ich selbst der einzig Gläubige blieb, den meine ›Thesen‹ gewannen.

Doch nein! Einen Viertelsgläubigen fand ich noch! In meinem Vater!

Ich erinnere mich eines Herbstnachmittages von wundersamer Milde. Zu München im Englischen Garten, in dem alle roten und gelben Bäume wie schönes Feuer leuchteten, ging ich mit Papa spazieren. Und da sprach ich von den brennenden Wirbeln, die in meinem Hirn und Herzen waren. Zuerst sagte der Vater wieder einmal: »Ach, geh, du Kamel!« Und fügte bei: »Zu solchen Dingen gehört doch Lebensreise und Erfahrung, die du noch nicht hast!« Aber dann hörte er aufmerksam zu und ließ mich mein Programm für den ›Staat der in Jugend Glücklichen‹ auskramen, ohne mich zu unterbrechen. Dann sah er mich freundlich an und sagte schmunzelnd: »Na ja, so ganz [579] sinnlos ist das nicht! Am besten gefällt mir dein Schulprogramm. Und das vom Schatz der großen Geister. Aber weißt du, bis so was wahr werden könnte, muß noch viel Wasser die Isar hinunterlaufen. Ja, wenn das einmal käme, daß man deine Welt der glücklichen Jugend einrichtet, dann möchte ich auch gern wieder jung sein! Und vorn anfangen! Das wär' schön!« Er schwieg. Auf seiner Stirne lagen zwei tiefe Furchen, und in seinen ernsten Augen blieb ein ziellos verlorener Blick. War's ein Rückschauen in die Kämpfe und Leiden seiner eigenen Jugend? In seine sieben Bräutigamsjahre? In die Sorgen seiner ringenden Beamtenzeit?

Er muß meiner Mutter in jener Nacht von unserem Gespräch was erzählt haben. Denn als ich am folgenden Mittag zur Mahlzeit heimkam, empfing mich Mama mit den heiteren Worten: »Oooh, 's Prophetle kommt! Jetzt sag mir gschwind, wieviel ich krieg in deinem Staat? Morgen muß ich ein paar Rechnunge zahle. Da könnt ich's brauche!« Sie packte mich lachend bei einem Schüppel meiner Haare. »Ach, Bub! Eh man die Welt ein bisserl besser macht, muß man 's Geldmänndle auf'm Häfele erfinden, das allweil voll ischt.« Und dann sagte sie ernst: »Aber hast schon[580] recht! Wer nie zum Bohren anfangt, kommt nie durchs Brettle durch.«

Eine unmeßbare Wassermenge ist seit jenem Tage die Isar hinuntergelaufen.

Vieles an meinen leidenschaftlich erfundenen Weltverbesserungsplänen von damals mag wohl jugendliche Torheit, halbe Lebenskenntnis und unerfüllbare Utopie gewesen sein. Doch mancher von den Träumen, die vor dreiunddreißig Jahren mein Gehirn durchfieberten, hat sich inzwischen zu praktischer Wirklichkeit verwandelt, oder ist auf dem Wege, Wahrheit zu werden. Und manches, was heute noch als ein Unmögliches erscheint, wird sich erfüllen in einer kommenden Zeit.

Mit dem Versuch, das Blut des Staates aus den Kräften der Jugend gesund zu erneuern, das Recht der Jugend ans Leben festzustellen und zu schützen, die Jugend früher zur Mitarbeit im Staate und mit unverbrauchter Frische zur Ehe zu bringen, die junge Liebe zu heiligen und das Werden des Kindes zu behüten – mit solchem Versuch wird wohl Frankreich den Anfang machen, wenn seine Armee in Friedenszeiten um ein Drittel zusammenschmolz.

Eine große und tiefe Menschenseele, ein fliegender Geist, der gebannt war in einen schwachen, [581] kranken und belasteten Körper, sang uns das funkelnde Lied vom Übermenschen. Dieses Lied wird Dichtung bleiben für alle Zeiten. Was es verhieß, wird nie Erfüllung werden – der Mensch ist Erde und wird Erde bleiben. Doch Erde kann blühen. Und das ist ein Erreichbares: die Menschen reinlicher, gesünder und ihres Lebens froher zu machen, als sie es heute sind.

Mit diesem Glaubenssatze will ich das ›Buch der Jugend‹ schließen.

Das ist kein Ende, nur wieder ein Beginn.

Mein junges Leben war ›frei‹ geworden. – Freiheit? – Es liegt im Wesen der Menschen, daß sie mit jeder Freiheit den Anfang machen: sie gründlich zu mißbrauchen. Das hab' ich besorgt. Sehr ausgiebig. Kaum hatt' ich nach Schwermut und Erbitterung das Lachen wieder ein bißchen gelernt, da drehte das Ringelspiel der süßen Lebensfreude mich ›Freien‹ sausend im Kreis herum und machte meine Sinne taumeln. Ich sagte damals immer: »meine sieben Sinne«! Als hätt' ich im Wirbel das vernünftige Zählen verlernt! Und kam ich halb zu Verstand, so ging die heuende Jagd nach Freude gleich wieder von neuem an. Ich meinte zu hellen Höhen zu klettern und verirrte mich zu dunklen Tiefen. Doch wo [582] die Wege allzu abschüssig wurden, war immer wieder die Schranke da, die mich von den gefährlichsten Purzelbäumen zurückhielt. War ich – um das Bild einer Würzburger Reminiszenz zu gebrauchen – auf die Schienen geraten, und brauste der Eisenbahnzug schon bedrohlich einher, dann machte das rasende ›Schimmelchen‹ meiner Natur doch immer wieder den flinken Sprung auf sicheren Boden. Und den klügsten aller Sprünge tat es in der grauenvollsten Nachtstunde meines Lebens. Wie damals auf der Bahnstrecke von Randersacker meine Soldatenkappe davonflog und unter die Räder kam, so verlor ich zu Wien in dieser Nacht des brennenden Schreckens, der Hunderte von Menschen ermordete, meinen Hut und meinen Mantel. Wo Mantel und Hut geblieben sind, das weiß ich nach achtundzwanzig Jahren noch immer nicht – ich weiß nur, daß ich im Höllenwirbel jener Flammen stunde das Beste und Wertvollste meines Lebens fand.

Das will ich im ›Buch der Freiheit‹ erzählen.

– Ein Kollegienheft aus jener Zeit, in der ich ein Doktor Eisenbart für die an Glücksverstopfung leidende Jugend zu werden hoffte, enthält neben literarhistorischen Notizen ein kleines, an den Rand gekritzeltes Lied, das mit den beiden Strophen schließt:


[583]

»Von aller Sehnsucht, die mit Klagen

Mein Herz und meine Seele quält,

Beginnt mein heißer Mund zu sagen

Und frägt nach allem, was nur fehlt.


Bang lausch' ich meinen eignen Worten,

Und durch das Dunkel irrt mein Blick –

Dahier ist Nacht – und Nacht ist dorten!

Doch wo die Ruhe? Wo das Glück?«


Das Leben gab mir freundliche Antwort auf diesen etwas gereizten Schrei einer schlummerlosen Nacht. Es sprach zu meiner suchenden Seele: »Glück ist an jeder Stätte, wo du es zu erkennen und festzuhalten vermagst! Und schöne Ruh ist überall, wo dein Wille sie erschaffen kann!«

Die Pessimisten mögen zuweilen ausreichende Ursache finden, um vom Leben zu behaupten, daß es keine erquickliche Sache wäre. Aber die Klügeren sind jene, die in gläubigem Optimismus sagen. »So laßt uns aus dem Leben etwas Schönes machen

[584]

Buch der Freiheit

1.
I.

Um die Zeit, in der mein junges Leben, frei' wurde und mit Herz und Blut jeder dämpfenden Verpflichtung entrann – um diese Zeit bekam ich ein Wort zu hören, das eindrucksvoll auf mich wirkte, obwohl es heiter und absichtslos gesprochen war.

Im Sommer, bei einem Ausflug an den Tegernsee, als ich die Blauberge besteigen wollte, hörte ich von der Rottachmühle herüber die Stutzen knallen. Das war hallende Musik, die mich anzog. In dem grünen Buchental zwischen Wallberg und Bodenschneid fand ich das Tegernseer Forstpersonal bei einem lustigen Scheibenschießen versammelt. Ich vergaß die Blauberge, vertrödelte den ganzen Tag, schwatzte an den Ladenschen mit den Jagdgehilfen, guckte zu den Scheiben hinaus – und wenn der weiß und rot gefleckte [11] Zieler da draußen den Spitzhut in die Luft warf, einen Juhschrei tat und Purzelbäume schlug, dann war immer eine Freude in mir, als hätt' ich selber einen Punkt geschossen.

Unter den Schützen war einer, dem mein besonderes Interesse gehörte, so ast er den Stand betrat und die schwere Feuerbüchse hob. Ein seines, altes Männchen. Schon weißköpfig, mit mehlgrauem Backenbart und Schnauzer. Der grüne Jägerhut mit der Spielhahnfeder war schief übers rechte Ohr gezogen, daß die Sonne beim Zielen dieses klare, schöne, junggebliebene und heiter blitzende Auge nicht blenden sollte. Das schlanke, alterszarte Mannsfigürchen stak in weiten grauen Hosen mit grünen Streifen und in einer Miesbacher Joppe, deren Rückenteil durch die Quetschwite hochgezogen war und vom Körper weg einen straffen Winkel machte. In dem durchgeistigten Gesichte dieses heiteren Greises war ein Mund, den man immer ansehen mußte. Man dachte dabei an Sokrates. Wenn er in seiner fröhlich ruhigen Weise sprach, wurden die Anderen still und horchten. Und wenn der Greis vor die Scheibe trat, war immer ein Gedränge von neugierigen und erwartungsvollen Schützen um den Stand herum. Der Alte schoß nicht[12] schlecht, obwohl seine Hände schon ein bißchen müd und zitterig waren. Häufig mußte er vor dem Schuß den schweren Stutzen absetzen und nochmal Atem schöpfen.

Nun trat er wieder in den Stand. Der Schuß krachte. Während der greise Schütz das rauchende Feuerrohr langsam sinken ließ, sagte er schmunzelnd: »Der, moan i, kunnt stecken!«

Draußen wirbelte ein Spitzhut in die Luft, ein Juhschrei klang und die zum Himmel gerichteten Beine des Zielers zappelten vor der Scheibe. »Gelt? In aller Mitten steckt 'r!« Ein fideles Geschrei um den Stand herum. Und als der Alte mit den heiterblitzenden Augen sich umdrehte, rief der Forstmeister: »No also! Es geht ja no allweil sauber hin!«

»Warum soll's denn net?«

»Weil's halt diemal schon a bißl wackelt.«

»Macht nix!« Und lachend das Hütl rückend, sprach der Weißkopf dieses Wort, das mir unvergeßlich geblieben: »Wackelt's aussi, wackelt's eini aa!«

Auch noch andere merkten sich diese tröstende Weisheit; sie wurde für alle Schützen und Jäger meiner heimatlichen Berge ein ewiges Sprichwort.

Wer dieses Sprichwort münzte? Wer dieser [13] lebenskluge Alte mit den schönen, frohen Augen war?

Der Dichter Franz von Kobell.

Den ich liebte, noch eh' ich ihn kannte! Und an den ich hundertmal im Leben denken mußte, jedesmal, so oft ich mich nach einer kleinen Wankelmütigkeit der Frau Fortuna mit seinem seinen Worte tröstete: »Wackelt's aussi, wackelt's eini aa!«

Den echten Goldgehalt dieses weisen Humoristenwortes lernte ich freilich erst in späteren Zeiten ganz erkennen. Für den Anfang – in jenen tollen Jahren meiner Freiheit, in denen ich mir alle paar Tage was zu verzeihen hatte – wurde dieses lachende Wort ein bequemer Trost für jeden schiefgegangenen Streich meines Leichtsinns.

Und da steigt aus der Vergangenheit noch ein anderer Kopf herauf, einer, dem ich auch am Ufer des Tegernsees zum erstenmal in die blauen Augen schaute – nicht weit von der Stelle, wo heute sein Denkmal steht. Damals war er ein Fünfunddreißgjähriger, im jungen Glanze seines frohen Ruhmes, in aller Kraft und Pracht und Frische seines Lebens. Einer mit der Sonne auf der Stirne! Ein heiter Sprühender! Dem kein Totenvogel das hätte prophezeien mögen: daß dieser lachende und dennoch quellentiefe Sänger schon [14] ein halbes dutzend Jährchen später ein Verstummter und ein ewig Schlafender sein würde.Karl Stieler!

Die Pächter unseres modernsten Geschmackes nennen es alte Mode und Verbrechen: etwas alsdeutsch zu bezeichnen, was uns heimatlich gefällt. Aber der war deutsch! Man kann es nicht anders sagen. Beim Anblick dieses festen und energischen Mannskopfes mit dem weichen Träumermunde, mit dem strahlenden Augenblau und der linden Goldwelle des Bartes, mußte man immer gleich an Wagenburgen denken, an rauschende Sängerharfen, an Eberspeere und an klirrende Brünnen.

Er hatte mich zu einer Flasche Wein geladen. Auch das war deutsch an ihm: daß er immer gleich ein bißchen bechern mußte, wenn er mit einem Zweiten beisammen saß. Und als er gegen mich jungen fremden Menschen so nett und herzlich wurde – mit einem seligen Schimmer in den Augen, denn er vertrug nicht viel und hatte immer gleich ein liebenswürdiges Schwipschen weg – da faßte ich mir ein Herz und sprach ihm ein paar von meinen Gedichten vor. Er klopfte freundlich meine Hand und sagte mit einem Ton, der nicht wehtun konnte: »Burscherl, Burscherl!Dös is [15] no nix! Drin is scho a bisserl was. Aberviel besser muaß alles no aussikummen!« Er begann mir auseinanderzusetzen, was er unter künstlerischer Form verstand, unter ›sauberem Ausbohren‹, unter ›Antreiben‹ und ›Fertigschmieden‹. Er sagte: »Plagen muß man sich mit jedem Wörtl! Aber wenn's dasteht, muß es ausschauen, als wär's aus dem Ärmel geschüttelt. Ja, mein liebs Burscherl! Form! Form! Dös hat seine Hackerln! Aber der Leser muß allweil glauben, als wär die Geschicht so leicht, daß er's grad so machen kann! Nur nix übertreiben! Reden und wirken muß das Einwendige. D' Form muß allweiluntertreiben. Jeds Wörtl muß Natur sein, wie 's Blattl am Baum. Aber was dahintersteckr! Was für Säft da steigen und schanzen müssen, bis jedes Blattl sauber und richtig an seinem Platzl steht.« Er schilderte mir, wie er selber in die ›Formschul‹ ginge, ein gutes Gedicht oder ein Stück Meisterprosa hernähme, um stundenlang an jedem Vers und an jedem Satze zu studieren, immer mit der Frage: »Warum hat es der da so gemacht und nicht anders?« Für solche Schule empfahl er mir Goethe, Goethe und Goethe, dann Platen und Paul Heyse, von dem er sagte: »Unter allen Lebenden kann's der am besten!« Dann mußt' ich [16] ihm wieder ein paar von meinen Gedichten hersagen, dramatische Fragmente, Prosasätze – und da nahm er jeden Satz und jeden Vers zwischen die Zangen seiner Kritik, zeigte mir jedes Loch im Ausdruck und stieß mit freundlichem Wohlwollen meine Nase auf jedes aufgeblasene Wort, auf jede sprachliche Dummheit. Während dieser vier Stunden, in denen wir drei Flaschen Rüdesheimer tranken, hab ich mehr von deutschem Stil profitiert, als in allen Jahren meiner Schulzeit.

Warum kann man so was Ähnliches nicht auf der Universität haben – wenn auch ohne Rüdesheimer? Man sollte nicht nur für angehende Journalisten und Schriftsteller, auch für alle künftigen Beamten, Juristen und Gelehrten auf jeder größeren Hochschule neben einem Seminar für stilistische Übungen eine Lehrkanzel für deutschen Stil errichten. Auf diese Kanzel müßte nicht eine akademische Lehrkraft, sondern ein hervorragender Stilist aus schriftstellerischen Kreisen berufen werden, um die reichen Erfahrungen seiner eigenen sprachlichen Entwicklung für die Stilschulung seiner Hörer nutzbar zu machen. Dann würden nach ein paar Jahrzehnten die satirischen Rubriken für sprachliche Ungeheuerlichkeiten des Juristen-und Beamtenstiles aus den Witzblättern verschwinden.

[17] Und ein Journalist und Schriftsteller müßte nicht erst ein Dreißig- oder Vierzigjähriger werden, bis er mit Eifer und Plage die fürchterlichsten Schulhörner seiner Sprache abzustoßen vermag und anfängt, einen appetitlichen Stil zu schreiben.

In den Wochen nach meinem Schultage bei Karl Stieler las ich wie rasend nur immer Goethe, Goethe und Goethe, dazwischen die Lyrik Platens, die von klarer Schönheit funkelnden Terzinen Paul Heyses – und mit allen Fühlern meiner geweckten Formsehnsucht tastete ich an dem Marmor seiner Novellensprache herum. Dann kam ich zu Adalbert Stifter, der mich ganz trunken machte, und zu Berthold Auerbach, der mich entzückte und durch viele, viele Nächte festhielt, obwohl die Freude, die ich an ihm hatte, immer gemischt war mit einer leisen ethnologischen Verwunderung. Die Schwaben des Schwarzwaldes mußten doch wesentlich andere Menschen sein als die Schwaben im schwäbischen Holzwinkel, den ich kannte! Freilich, auch in Welden und Hegneubach, in Zusamzell, Villenbach und Kruichen hatte ich manchen Bursch und Bauer kennen gelernt, der gescheiter als andere Menschen war, das Gras wachsen hörte und zuweilen ein ›Wörtle‹ zu sagen wußte, das an die sieben Weisen erinnerte. Aber so viel abgeklärte [18] Spinozisten, wie sie im Schwarzwald leben müssen, gab es im schwäbischen Holzwinkel nicht. Diese rein statistische Erwägung tat aber der künstlerischen Wirkung, die Auerbach auf mich übte, keinen Eintrag. Ich liebte seine Bücher, und mancher Ton, den er anschlug, rührte in mir an schlummernde Saiten.

Mit den Büchern wechselte wieder das Leben. Die Begegnung mit einem Dichter, den nur wenige kannten, und von dem ich selber noch gar nichts wußte, erschütterte mich tief. Und da taucht neben Kobells und Stielers gesunden Köpfen ein von Gram und Leiden zerrissenes Gesicht mit flackernden Wahnsinnsaugen aus der Vergangenheit herauf.

Marco Brociner, mein rumänischer Freund, erzählte mir wunderliche Dinge von einem verbummelten Poeten, einem Schweizer, der so hieß wie einer der Wächter unter dem Hute des Landvogts – Heinrich Leuthold. Ein Kranker, ein halb schon Irrsinniger! Dessen letzte lachende Lebensfreude darin bestand, mit der ›Stadtequipage‹ halbe Tag lang spazieren zu fahren! Diese Equipage – das war die für München neue Tramway, von der man als erste Strecke die Linie Schwabing-Theresienhöhe eingerichtet hatte. In solch einen himmelblau lackierten Wagen stieg [19] Heinrich Leuthold täglich ein, ohne die Fahrt zu bezahlen, und fuhr mit dem Vergnügen eines seligen Kindes ein dutzendmal die ganze lange Strecke hin und her, bis der Zufall einen Bekannten brachte, der den auf Pump reisenden Fahrgast auslöste, oder bis ihn der ungeduldig gewordene Kondukteur an die Luft setzte.

Eines Mittags fand ihn Brociner in der Goethestraße, betrunken, ohne Hut, in schmutzigen Kleidern, mitten in einem Schwarme schreivergnügter Kinder, die der Angezechte mit einem Regenschirm kommandierte wie ein Tambourmajor seine Trommler.

Und Abend für Abend hockte Leuthold im ›Polnischen Hof‹ an der Ecke der Heustraße, ließ sich freihalten von Nachbar Schuster und Schneider – die ›was Schönes‹ hören wollten – und bezahlte Nierenbraten und Emmentaler Käse mit dem Vortrag seiner Gedichte. Das sah ich mir einmal an. In der Wirtsstube saß eng gedrängt eine kleine Schar von Gästen um einen Stammtisch, den eine Hänglampe beleuchtete, verschleiert von den Wolken des Pfeifenqualmes – Droschkenkutscher, Dienstmänner mit den roten Kappen, behäbige Bürgersleute. Lustige Stimmen schwatzten durcheinander. Über die Körper der lärmenden [20] Gesellschaft streckte sich plötzlich ein langer Arm herauf, den der zurückfallende Ärmel bis zum Ellbogen entblößte, als trüge der Mann, dem dieser Arm gehörte, ein Hemd, das keine Ärmel hatte. Eine rollende, kauende Stimme: »Rrruhe, ühr meune Chünder!« Nun erhob sich ein hagerer Mensch mit einem hart und eckig geformten Gesicht, das verwüstet war von Leiden und Leidenschaft. Eine starke, seltsam verzerrte Nase. Um den breiten Mund, dessen Oberlippe einen zernagten Schnurrbart trug, grinste etwas Tierisches, weil der grobe Unterkiefer mit dem struppig abstehenden Knebelbart wie eine geballte Faust aus dem Gesichte hervortrat. Die Augen waren zwei irrende Flammen. Eine hohe, schöngewölbte Stirne verlor sich mit zwei scharfen Winkeln unter den kurzgeschorenen Büscheln des ergrauten Haares.

Das war Heinrich Leuthold, einst ein Hoffnungsstolzer, ein ›Krokodilbruder‹ von Geibel, Heyse, Bodenstedt und Hopfen – einer, von dem man erst nach seinem Erlöschen im Irrenhaus erfahren sollte, daß auch er ein Begnadeter war.

Er machte mit dem Arm solch eine große Bewegung, wie die Klara Ziegler sie als Medea zu machen pflegte. Und mit seiner tiefen, rollenden [21] Stimme begann er ein Gedicht zu rezitieren, eine prachtvolle Übersetzung der Longfellowschen Ballade vom Becher des Sachsenkönigs Wiklaf. Die Art seines Vortrages war nicht schön. Er sang in monotonen Rhythmen und betonte aufdringlich die Reime. Dabei wurde in seinem unverfälschten Schwyzerdütsch der ›König‹ zum ›Chönüch‹, das ›heilig‹ zum ›heulüch‹, und es gab ein ›fäschtlüches‹ Mahl und ›luschtüche‹ Mönche. Mit dem linken Arm auf den Tisch gestützt, streckte er den Hals nach vorne und hatte als einzige, den Vortrag begleitende Geste eine Kreisbewegung, die er mit dem rechten Daumen vor der Nase machte, als wollte er sich nach Bauernart bekreuzen. Fast war das ein grotesker Anblick. Man hätte lachen mögen. Aber Feuer schlug aus diesem Menschen heraus und zündete. Etwas Schmerzendes kramuste sich um mein Herz – halb war es Ehrfurcht, halb Schreck und Erbarmen.

Ein paar Tage später führte mich Brociner zu ihm. Das Recht zum Eintritt in die Klause dieses Dichters mußte ich mit einem Päckchen Zigaretten erwerben. Wer Zigaretten brachte, war für Heinrich Leuthold willkommen. Er wohnte bei einem in bescheidenen Verhältnissen lebenden Journalisten, der an diesem Verlorenen viel Gutes [22] tat. Je weniger der Mensch besitzt, um so barmherziger ist er. Wenn die Reichen schenken würden, wie die Armen geben, dann wäre schon längst keine Not mehr auf Erden.

Wir traten in eine richtige Bummlerbude. Auf einem Sessel mit zerrissenem Rohrgeflechte lag ein Rock mit umgestülpten Ärmeln. Auf der Kommode stand das Waschgeschirr; Handtuch und Seife daneben; und eine Weste, ein Papierkragen mit umgeschlungener Krawatte neben einer Weinflasche, in der eine niedergebrannte Kerze stak. Leuthold lag auf dem verwüsteten Bett, mit den Händen unter dem Kopf, in zerknittertem Hemd und schwarzer Hose, die Füße nackt.

Er nahm die Zigaretten, die ich brachte, und brannte sich gleich eine an. Dann kümmerte er sich nimmer um mich. Auch für Brociner, der höflich und liebenswürdig auf ihn einredete, hatte er nur ein paar mißmutig knurrende Worte. Dabei kratzte er fortwährend mit der großen Zehe an der Bettlade und passte in dicken Wolken den Zigarettenrauch vor sich hin.

Brociner blinzelte mir zu: Da ist nichts zu machen! Wir hatten eine schlechte Stunde getroffen – einen Vormittag, an welchem Heinrich Leuthold nüchtern war.

[23] Als ich beklommen, mit zugeschnürter Kehle, aus diesem Zimmer ging, sah ich mir das rahmenlose Ölgemälde noch einmal an, das an der weißen Mauer hing: der Kopf eines Dreißigjährigen, von Lenbach gemalt, mit blitzenden, geistvollen Augen, mit stolz geschwungenen Lippen, mit lebensfrohen und dennoch verträumten Zügen, mit einer hohen, gedankenreichen Stirn, um die sich das dichte, gelockte Haar gleich einem braunen Helme herumschloß.

Wie viel leuchtende Hoffnungen, wie viel brennende Träume waren unter dieser Stirne! Was blieb von ihnen? Was da knurrend und rauchpassend auf dem ekelhaften Bette lag und mit dem Zehennagel an der Lade kratzte?

Dann hab' ich Heinrich Leuthold nicht mehr gesehen.

Noch am gleichen Abend las ich, was im ›Münchener Dichterbuch‹ und in den, Fünf Büchern französischer Lyrik' von ihm erschienen war. Ich konnte in dieser Nacht nimmer schlafen. Alles brannte und zitterte in mir.

Ein Jahr später, als ich in Berlin war, erlag er in der Heilanstalt Burghölzli seinem Wahnsinn. Ein paar Wochen früher waren seine Gedichte erschienen, von Freunden gesammelt. Ein Buch nur! Dieses Buch wird bleiben.

[24] Ich konnte die zwei Köpfe nicht vergessen: diesen Kopf im zerwühlten Kissen und diesen prachtvollen Poetenkopf an der weißen Mauer.

Immer wühlten diese Fragen in meinem Gehirn: »Was ist Genie? Was ist Wahnsinn? Wer gibt das Helle? Wer verwandelt es in ein Dunkles? Wer erschafft den Wert? Und wer zerstört ihn wieder? Und warum?«

Ich kam zu abstrusen Hypothesen, in denen die Rätsel der Hypnose und Suggestion eine wunderliche Rolle spielten. Was damals unter meinem Haardach rumorte, das kann ich heute nicht mehr rekonstruieren. Ich machte es wie die spekulativen Philosophen, die alles aus der Innenwelt schöpfen und in der Außenwelt ihre Regenschirme nicht mehr finden. Wie ich ohne Kenntnis des Lebens die Welt verbessern wollte, so glaubte ich alle Mysterien der Psyche ergründen zu können, obwohl ich bislang nur die Gehirne von Rindskälbern und Rehböcken gesehen hatte.

Was Hypnose heißt, das spielte ein paar Jahre lang eine sehr bedrohliche Rolle in meinem Verstand. Und die Sache hatte so nett und lustig angefangen. Der dänische Hypnotiseur Hansen war nach München gekommen und gab Vorstellungen im Kolosseum. Die Münchener, denen die [25] Erscheinungen der Hypnose eine ziemlich neue Sache waren, regten sich schrecklich auf, und es bildeten sich zwei erbitterte Parteien: ob das Wissenschaft oder Schwindel wäre. Natürlich rannte auch ich ins Kolosseum und guckte neugierig zu, wie Hansen seine Medien traktierte, die sich zahlreich aus dem Publikum anboten. Schwindel war die Sache natürlich nicht. Bei vielen Medien mißrieten die Experimente, bei vielen gelangen sie. Es reizte mich, zu erfahren, ob Hansen auch bei mir was fertig brächte. Ich stieg mit vier oder fünf anderen, mir fremden Leuten auf das Podium, mußte mich auf einen Sessel setzen, bekam von Hansen eine blinkende Kristallkugel in die Hand, mit der Weisung, sie fest anzugucken und an nichts anderes zu denken als an den Glanz der Kugel. Das tat ich auch. Aber ich wurde nicht schläfrig. Hansen strich und fuchtelte mit seinen Händen, fixierte mich bocksteif durch seine scharfen, funkelnden Brillengläser – ich wurde nicht schläfrig. Er arbeitete an mir herum, daß ihm der Schweiß übers Gesicht herunterlief. Ich wurde nicht schläfrig. Und schließlich dacht' ich mir: »Warte, wenn's dir nicht gelingt, vielleicht gelingt mir die Sache!« Langsam ließ ich die Augen zufallen und hörte, wie Hansen triumphierend vor sich hinmurmelte: [26] »Oh! Also doch!« Er demonstrierte mich dem Publikum als stark widerstrebendes Medium, bei dem aber, da es nun durch Ausdauer doch bezwungen wäre, alle Experimente voraussichtlich ganz besonders gut gelingen würden. Er ließ mich gehen, stehen, hüpfen, mich drehen, ließ mich rohe Kartoffeln als reife Äpfel verspeisen, gab mir Wasser zu trinken mit der Suggestion, daß es Champagner wäre, und machte mich so ›total betrunken‹, daß mein Getorkel das Publikum zu wiehernden Lachsalven reizte. Er stach mir lange Radeln durch die Hände und in die Schenkel und behauptete, daß ich nicht den geringsten Schmerz verspüre. In Wahrheit tat es aber ganz abscheulich weh. Dann machte er mich, steif und legte mich quer über zwei Stühle, so, daß auf dem einen Stuhl nur mein Hinterkopf auf dem anderen nur meine Fersen lagen. Nun setzte sich der Triumphator auf meinen Bauch. Ein paar Sekunden hielt ich das aus. Dann sagte ich leis: »Herr Hansen, jetzt müssen Sie herunter, sonst knickt mir der Bauch ein, und ich lasse Sie fallen!« Sehr flink sprang er auf – das Gesicht, das er machte, konnt' ich leider nicht sehen, da ich noch immer die Augen geschlossen hielt. Er stellte mich schnell auf die Füße, blies mir ein paarmal ins Gesicht und [27] rüttelte mich am Arm. Ich spielte den Erwachenden. Herr Hansen hatte sehr große Augen und schien nicht recht zu wissen, was er denken sollte. Während das ahnungslose Publikum in stürmischen Beifall für den Hypnotiseur Hansen ausbrach, sagte ich: »Nicht wahr, Herr Professor, Sie nehmen mir den Spaß nicht übel? Ich wollte nur meine Muskeln und Nerven prüfen.« Er schien ein bißchen verlegen, nahm aber die Sache, wie sie gemeint war, schüttelte den Kopf, lachte, faßte meine Hand, führte mich vor die Rampe und sagte in seinem fremdländischen Akzent zum Publikum: »Das ist ein sehr gesunter, lustiker junker Mahn!«

Nach Hansens Abreise blieb in München eine hypnotische Epidemie zurück. In allen Familienzirkeln und Wirtsstuben wurde hypnotisiert und suggeriert. Mir gelang es sehr häufig, junge Mädchen in hypnotischen Schlaf zu versetzen. Ich brauchte nur ein bißchen zu streichen und ihnen fest in die Augen zu schauen, dann wurden sie blaß oder rot, seufzten tief und machten die Lider zu. Es bildete sich in mir die fixe Idee aus, daß mein Wille stärker wäre als der Wille anderer Menschen. Und das Gespenst der Hypnose rumorte sehr bedrohlich in meiner Phantasie. Doch als [28] von meinen Medien eines so fest entschlief daß ich es erst nach Anwendung von sehr viel kaltem Wasser wieder erwecken konnte, und als das Erwachen in einen nervösen, kaum zu stillenden Weinkrampf des Mediums überging, bekam ich vor dieser geheimnisvollen Wissenschaft einen heilsamen Schreck und machte für die Zukunft von der ›mir innewohnenden Willenssuperiorität‹ nur noch sehr vorsichtigen Gebrauch. Solche Fälle mit bedenklichem Ausgang hatte es auch anderweitig gegeben, die Zeitungen warnten vor Mißbrauch dieses Mysteriums der Natur, und man gewöhnte sich in München das Hypnotisieren wieder ab, wie man das fürchterliche Cri-Cri vergessen hatte, nachdem es für ein Vierteljahr zu einer Plage der Menschheit geworden.

Vom Kolosseum, das ich auch zu Varieté-Zeiten gern besuchte, wäre auch sonst noch manches zu erzählen. Ich erlebte da den Siegeslauf des ›kleinen Postillions‹ und des Debardeurliedes. »Ich bin so kitzlich, ich war noch niemals so kitzlich wie heutta!« Kokettierende Dummheiten erobern die Welt am leichtesten.

Einen Winter lang war ich Stammgast am Artistentisch des Kolosseums, dichtete für die Chansonettensängerinnen aktuelle Strophen und fühlte [29] mich nach Pariser Muster als Bohomien mit einer Vorahnung des Überbrettls. Wunderliche Existenzen und merkwürdige Menschen hab' ich da kennen gelernt. Alle waren sie von kindlicher, fast kindischer Heiterkeit – in einer Zeit, in der jeder Gaukler Abend für Abend mit seinem Leben spielte, weil es damals noch keine schützenden Netze und keine das Gruseln des Publikums dämpfenden Polizeivorschriften gab: die Luftgymnastiker machten ihre Flüge und Purzelbäume über den unbehüteten Köpfen der Zuschauer. Ein hübsches kleines Weibchen, die Frau des Signor Antonio, hätte damals im Kolosseum eines Abends beinah den Hals gebrochen. Nur mit zwei Fingern konnte ihr Mann, der in den Kniekehlen am schwingenden Trapez hing, sie nach einem dreifachen Saltomortale noch bei den Zehen erwischen. Das kleine Weibchen stieß einen gellenden Schrei aus, allen Zuschauern stockte der Herzschlag, aber Signor Antonio griff rechtzeitig mit der anderen Hand noch zu, erhaschte das Füßchen seiner Frau und sagte mit der Ruhe eines geborenen Berliners: »Soltanto freddo! (Nur kalt!)« Rasender Beifall. Und dann war das niedliche Weibchen am Artistentisch von überschäumender Fidelität und trank sich vom Sekte, den mein mit Moneten gesegneter [30] Freund berappte, ein nettes, lustiges Äffchen an. –

Bei aller Heiterkeit meines freien Lebens, das die Ellenbogen immer breiter auf den Tisch der Freude legte, wurde ich doch nie ein Zeitverschwender, sondern blieb ein fleißiger Mensch. Aber das war kein Verdienst, nur ein Zwang meiner Natur, dem ich gehorchen mußte. Hatte ich einen sonnenschönen Tag mit einer halben Nacht um die Ohren geschlagen, und kam ich heim in meine Bude, so zündete ich stets die Lampe an, blieb noch ein paar Stunden am Schreibtisch sitzen, arbeitete oder las was Tüchtiges. Damals gewöhnte sich mein Körper das an: wenig Schlaf zu brauchen. Fünf Stunden Schlummer im Durchschnitt genügten mir. Doch während dieser fünf Stunden war ich immer wie ein Bleiklotz, den kein Kanonenschuß lebendig machen konnte.

– In solch einer Nacht bekam ich früh um zwei Uhr, als ich noch am Schreibtisch saß, einen seltsamen Besuch. Es erschien bei mir ein Hoflakai, um für den König ein französisches Memoirenwerk aus der Zeit Ludwigs XIV. zu holen, das ich von der Staatsbibliothek entliehen hatte. Wenn ich mich recht erinnere, waren es die Briefe der Lavallière – oder was Ähnliches. –

[31] Die Studie über Rabelais und Fischart wurde, wenn auch kein gutes, so doch ein dickes Manuskript; meine Rolla-Übersetzung ging dem Ende zu; die Begegnung mit Leuthold, andere persönliche Erlebnisse und mein versunkenes Liebesglück begannen sich zu einem Romanstoff zu verdichten, in dem ich dem geprüften Liebespaar schließlich alles Glück vergönnte; viele Gedichte entstanden; und zu lyrischer Übung übersetzte ich manches von Musset, Béranger, Richepin, Stecchetti – natürlich auch Shakespearesche Sonette – denn die hat doch jeder einmal übersetzen müssen. Daneben pritschelte ich viel in Kunst, bildete mir ein, von Malerei was zu verstehen, und ärgerte mich grün und blau, wenn die Münchener Kunstvereinsbrüder die Bilder von Hans Thoma, die mir ein träumendes Entzücken gaben, gründlich mißverstanden und als komische Taferln erklärten. Damals war ja auch Arnold Böcklin für die große Menge noch ein Unentdeckter, und sogar Auguren schüttelten den Kopf zu der Leidenschaft des Grafen Schack für diesen sonderbaren Schwärmer, der, wie man zu sagen pflegte, »seine poetischen Naturstimmungen immer durch die unmögliche Staffage verpatzte«.

Auch der Theaterteufel hatte mich fest bei den Haaren. Für Kompromisse war ich da nicht zu [32] haben. Was mir gefiel, machte mich schreien vor Begeisterung, was mich abstieß, machte mich toben vor Wut. Und jede Vorstellung fand noch ein Nachspiel in den erbitterten Wortgefechten am Stammtisch des Café Metropole, bei denen jedes Thema immer wieder zu meinem ›Programm einer unabhängigen Nationalbühne‹ führte. Kam ich heim in meine Bude, so klebte ich den aus einer Zeitung ausgeschnittenen Theaterzettel in mein Tagebuch und schwelgte mich in verzückten oder vernichtenden Kritiken aus. Die letzteren wimmelten von schweren Injurien. Ein Glück, daß sie nicht gedruckt wurden! Sonst hätten die Tage meiner Freiheit brummende Zahnlücken bekommen.

Das Münchener Residenztheater hatte damals ein vorzügliches Ensemble. Besonders Shakespeare und Lessing wurden so glänzend gespielt, daß ich manche Vorstellung, die mir unauslöschlich in Erinnerung blieb, als ebenbürtig neben das Beste stellen konnte, was ich späterhin im Wiener Burgtheater sah. Meine besonderen Lieblinge waren Rüthling, Herz, Jenke, Possart, Häusser, die Dahn-Hausmann, die Ramlo und Marie Meyer. Auch im Gärtnertheater sah man Gutes. Neben dem alten Lang, der mit sieghaftem Humor zwischen den Werken Raimunds und Nestroys die [33] verstaubten Staberliaden lebendig erhielt, hatte sich für das heimatliche Volksstück eine glückliche Truppe zusammengefunden: die Hartl-Mitius, Hans Neuert, Albert, Brummer. Und neben ihnen standen ein paar Kleine, die, auf den richtigen Fleck gestellt, eine Art von Größe bekamen. Wie diese Leute das Leben des bayerischen Gebirgsdorfes nachspielten, das war so etwas wie Morgenröte der naturalistischen Theaterkunst. In der Heimat verstand und würdigte man das nicht recht. Erst der rauschende Erfolg eines Gastspiels dieser Truppe in Berlin mußte den Münchnern zeigen, was sie da besaßen. Mich machten diese Künstler in der Joppe weinen und lachen. Aber mir dämmerte noch mit keiner blassen Ahnung auf, was diese Leute zwanzig Monate später für mich bedeuten sollten. Mich zog es zu hohen Rossen hin – und unter dem Theaterzettel der ›Zwiderwurzen‹ steht in meinem Tagebuch von 1878 die Idee zu einem Trauerspiel ›Alcibiades‹ skizziert.

Alcibiades? Nicht als Politiker sah ich ihn, sondern als Gegensatz des Philistertums, als Helden des Lebens, als den Herren des prachtvollen Hundes mit dem gestutzten Schweife, als den Liebling des Sokrates, als den lachenden [34] Priester dessen, was ›heilige Natur‹ ist, und als Anwalt der gesunden Freude, den ich vor den Richtern des Areopags die Schönheit der Phryne enthüllen ließ. Nach homerischem Muster sollten die Olympischen da mitspielen und in Eifersucht und strafenden Zorn geraten, weil die Athener mit dem schönsten aller erdgeborenen Weiber ein Ähnliches beginnen, wie es die Franzosen trieben mit der Göttin der Vernunft.

Der Entwurf blieb im ersten Atemzuge stecken. Irgend etwas an ihm mißfiel mir. Es war in dieser Sache ein Widerspruch zu mir selbst, etwas mir Fremdes, das ich ankühlend empfand, ohne darüber ins Klare zu kommen. Aber ich begann für diese totgeborene Idee sehr eifrige ›Studien‹ im Leben zu machen. Mit diesem bequemen Terminus der Malerwerkstätte rechtfertigte ich in meiner Lebensführung mancherlei Dinge, die meinen Vater mißmutig und meine Mutter traurig machten.

Ach, diese Silbe: Weib! Vier Buchstaben nur! Und dennoch das größte und unerschöpflichste aller lebenden Worte!

Zuweilen war plötzlich wieder der alte Widerwille da, ein schmerzendes Besinnen, eine quälende Sehnsucht nach Verlorenem. In solchen Stimmungen [35] dichtete ich schwüle Warnungslieder an mich selbst –


»Durch meine Träume johlt und tollt

Der alte Höllenjubel,

Als ob er neu mich reißen wollt'

In seinen Freudentrubel.

Da klingt und singt es, girrt und lacht,

Da steigt's empor aus Grüften,

Im Mondschein flimmert's durch die Nacht

Von Brüsten und von Hüften.


Da wallt und wirbelt, wogt und winkt

Das Heer der weißen Arme –

Doch wenn im Ost der Tag erblinkt,

Verfall' ich neu dem Harme.

Da schleicht aufs neue mir ins Herz

Ein Schaudern und ein Ekel,

Und mahnend tönt durch meinen Schmerz

Das alte Mene tekel


Doch auf die Dauer wollte ›Eckart, der Altgetreue‹ das unbotmäßige ›junge Blut‹ nimmer ›hüten‹. Diese Gouvernantenverpflichtung wurde ihm vermutlich zu langweilig. Und so fand das Verlangen nach ›Betäubung‹, der Durst nach Freude, die Sehnsucht nach Genuß alle heimlichen Wege frei. Es kam mir da zustatten, daß ich – wörtlich und bildlich gemeint – meine [36] Haare seit geraumer Zeit nicht mehr hatte schneiden lassen. Ja, ganz im Ernste, mein Glück bei zärtlichen Abenteuern hing immer mehr als zur Hälfte an meinem Haar. Die Natur wird wissen warum. Ich weiß es nicht. Manchmal ärgerte mich das, und es erschien mir als Beweis für die Unzulänglichkeit meines persönlichen Wertes, daß ich, wenn ich mit Rücksicht auf die Sommerhitze kurz geschoren war, immer gewaltsame geistige Anstrengungen machen mußte, um weibliche Herzen zu erobern.

Da kommt mir ein wunderlicher Gedanke, eine Erinnerung aus Zeiten, in denen ich viel und aufmerksam die Bibel las. In diesem Buche steht Natürliches und Unmögliches, leuchtend Schönes und schwarz Entsetzliches, schwursichere Wahrheit und töricht Erfundenes. Die Novelle von der holden Ruth und jene von der klugen Esther hab' ich immer für wirkliches Leben gehalten. Doch als völlig unwahrscheinlich und lebenswidrig erschien es mir stets, daß Delila den Simson verriet. Ich glaube nicht an dieses verlogene Märchen, das Leben zeigte mir nie ein Gegenstück zu solcher Fabel. Die Tatsache, das Simson ein Jude und Delila eine Philisterin war, ist keine ausreichende Erklärung für jenes naturwidrige Verbrechen eines [37] Weibes. Laßt euch von den deutschen Soldaten aus 1870 und 71 erzählen, wie verläßlich und hilfsbereit die kleinen ›Feindinnen‹ in Frankreich waren! Die napoleonischen Garden erzählten ein gleiches vom Weibe aller besiegten Länder. Ob ein Weib zum Flattersinn oder zur Beständigkeit neigt – es weiß in Gehorsam und Treue doch immer eine Eigenschaft des Mannes zu werten: die Kraft. Vor Jahrmillionen hat die weise, um die Dauer ihres Lebens besorgte Natur diesen Spürsinn für den Wert der Kraft in das Wesen des Weibes mit Feuer eingeschmolzen.

Weib! Du wunderliche, von Rätseln quellende Silbe! Toren und Egoisten schelten und schmähen dich. Viele verkünden die Lüge, daß sie dich hassen. Ihr Haß ist nur maskierter Hunger, ist nur ein Klang aus dem alten Lied vom Fuchs und den sauren Trauben. Alle, die das Weib verdammen, sind unehrlich. Sie waren schlechte Spieler und wurden ärgerlich, weil sie nicht gewannen. Oder sie waren Kranke, die ein gesundes Weib nur pflegen mag.

Weib! Du lieblichste, du sonnenklarste aller Silben! Deine Rätsel sind nur schwimmende Schleier. Nichts an dir ist dunkel und unverständlich. Alles an dir ist helle Güte, frohe [38] Natur und lachendes Schenken. Nicht nur der heilige Brunnen bist du, aus dem ohne Unterlaß das neue Leben quillt. Du bist auch dem Leben geschenkt als eine erquickende Sonne, als eine Blume, die zu allen Jahreszeiten blüht und duftet, als Speise, die immer mundet, als ein süßer Trank für alle dürstenden Stunden, als eine farbig funkelnde Welle – nun kommt sie, leuchtet und lacht, stillt die Sehnsucht eines Verschmachtenden – und ist wieder fortgeschwommen. Wo schwand sie hin? Warum diese Frage? Schon ist die andere da. Und immer wieder, wieder und wieder eine neue Welle. Jede ist anders, und dennoch gleichen sie sich alle, in ihren besten Werten, in ihren schönsten Farben. Und singend schwimmen sie dahin im großen Strome des Lebens, der nach Millionen die Schiffe der ewigen Freude trägt.

Nur ein einzigesmal in jener trinkenden, wellenfrohen Zeit meiner Jugend geschah es, daß mich vor der Silbe Weib ein fürchterliches Grauen schüttelte.

Ich wanderte spät in einer sternschönen, lauen Sommernacht von einer lustigen Kneipe nach Hause. In einer langen, menschenleeren Gasse hörte ich außer meinem eigenen Schritt noch einen anderen klingen, der leicht und hurtig war. Da wird man [39] als Dreiundzwanzigjähriger immer ein bißchen neugierig. Ich streckte die Beine und holte die späte Wandersmännin ein. Sie war nett gekleidet, trug ein Strohhütchen und hatte einen dichten Schleier umgebunden. Ich kalkulierte: ein Ladenmamsellchen, das bei Verwandten war oder einer Freundin Elefantendienste geleistet hatte und nun einsam nach Hause wanderte. Ruhig ging das Mädel vor mir her, guckte nicht rechts und nicht links, schien meinen Schritt nicht zu hören, sich um meine Nähe nicht zu kümmern. In solchem Falle pflegt Münchener Jugend immer zu fragen: »Na, Fräulein, wohin denn noch so spät?« Die Einsame schwieg, drehte sogar das Gesicht auf die andere Seite. Ich ging gemütlich nebenher, schwatzte lustig und machte kleine Scherze, über die ein zwanzigjähriges Mädel schließlich immer ein bißchen zu kichern pflegt. Und hat ein Mädel nur erst gelacht, so dauert es nimmer lange, bis die erste Antwort kommt. Und dann fragt man nach dem Namen, nach Laden und Konfektion, und ob vielleicht das Herzerl gerade Vakanz hätte? Gewöhnlich lautet dann die Antwort: »Geh, Sie möchten aber viel wissen! Überhaupts, lassen S' mich in Ruh! Ich kann allein auch heimgehn! Die Antwort, die Gretchen dem Faust gegeben, [40] ist nicht nur ein unsterbliches Wort, sie ist in ihrer zweiten Hälfte auch eins von den Worten, die nicht aussterben.«

»Allein heimgehen? Aber zu zweit wär's doch netter, nicht?«

Die Richtigkeit dieser Tatsache konnte die späte Wandersmännin nicht bestreiten.

Weil sie stumm blieb, sagte ich: »Denken Sie nur, was einem jungen und vermutlich auch sehr hübschen Mädel in der Nacht alles passieren kann, wenn es allein nach Hause geht. Da kann irgend ein grober betrunkener Kerl daherkommen und ...«

»Ja!« stimmte sie zu, ohne mich ausreden zu lassen. »So was ist mir einmal passiert. Da ist mir einer begegnet, wie ich heim bin von meiner Frau Tant, so ein unverschämter Kerl! Und wie ich gsagt hab: Sie Kerl, Sie unverschämter, lassen S' mir mein Fried! ... was sagen S', da hat er zum schimpfen angfangt und hat mir eine runterghaut, der Flegel, daß ich acht Tag lang a gschwollens Gsicht umanandtragen hab müssen!«

Ich war natürlich sehr empört über ein derartiges Benehmen – einer jungen Dame gegenüber – und verhieß ihr für den Fall einer Gefahr meinen wirksamsten Schutz. Der Mann, der das Weib beschützt, ist eines freundlichen Zutrauens [41] immer sicher. Die meiner Hut Anvertraute wurde kameradschaftlich und duldete, daß ich ihr zur Erhöhung des Schutzes den Arm um die Hüfte legte. Aber je zutraulicher sie sich anschmiegte, umso energischer wehrte sie sich, wenn ich ihr den dichten Schleier, den kein Späherblick durchdringen konnte, in die Höhe schieben wollte. Diese Zwiespältigkeit des zugeneigten Körperchens und des abgewandten Gesichtes verschärfte sich so sehr, daß mir die Sache ein bißchen verdächtig erschien. Entweder war das eine mit hübschem Figürchen und häßlichem Gesicht – oder eine von den Heimlichen, die gerne trinken möchten und doch die Augen nicht zu zeigen wagen. Und manchmal sagte sie bei neckischem Geplauder ein paar Worte, die mich stutzig machten – Worte, wie sie ein nettes Münchener Mädel nicht zu sagen pflegt. Ich kannte mich da nimmer aus, dachte mir schon: »Sei vernünftig, laß das Frauenzimmer laufen!« Aber das Abenteuer unter dem Schleier lockte wieder, und das Blut wurde eigensinniger, als es der Verstand ihm hätte erlauben mögen.

Wir kamen zu einer dunklen Anlage. Links war die erleuchtete Straße, rechts lag der schwarze Schatten. Und das Mädel selber lenkte in dieses [42] Dunkel hinein. Und obwohl es unter den Bäumen stockfinster war, erwischte sie gleich eine Bank, ließ sich nieder und sagte mit leisem Lachen: »Da gfallt's mir, da kann man ein bisserl schwärmen!« Das Manöver war verdächtig, aber dieses Wort klang wieder harmlos. Es war von den Späßen einer, wie sie auch jenen relativ braven Frauenzimmern geläufig sind, die ein Student noch immer mit Überzeugung als ›anständig‹ bezeichnet. Aber weil mir die Situation nicht behagte, faßte ich das unbesonnene Menschenkind bei der Hand: »Geh, sei gescheit und komm, ein nettes Mädel setzt sich doch nicht in der Nacht auf so eine Bank hin!«

Sie ließ sich von mir fortziehen und sagte ein bißchen zögernd: »No also, ja, aber versprechen mußt mir, daß du daheim kein Licht net anzündst.«

Dieser eigentümliche Gedankensprung gab mir zuerst ein lustiges Lachen, dann ein nachdenkliches Schweigen. Irgend etwas stimmte da nicht. Und als wir in den hellen Schein der nächsten Laterne kamen, griff ich flink nach dem dichten Schleier der rätselhaften Dame. Sie wehrte sich wie eine Löwin. Aber der Schleier blieb mir in der Hand – und beim Laternenschein sah ich ein [43] junges, kallweißes Gesicht, dessen linke Wange von einer fürchterlichen Krankheit entsetzlich zugerichtet war. Das Grauen schüttelte mich, ich schleuderte von mir, was ich in der Hand hatte, und jagte wie ein Gepeitschter davon. Gar nicht erholen konnt' ich mich von diesem Schreck. Ich kam beim ›Grünen Baum‹ zur Isar, riß an der Floßlände die Kleider vom Leib und sprang ins kalte Wasser. Immer tauchte ich, immer wieder, und schlug mit den Händen ins strömende Wasser hinein, um dieses Schauerliche von meinen Fingern wegzuwaschen. Als ich zitternd aus dem Strom gestiegen, zog ich nur an, was ich am Leibe haben mußte, um heimlaufen zu können. In meiner Bude machte ich aus allem, was ich am Körper getragen hatte, einen Pack, schnürte ihn mit Spagat zusammen, warf das Bündel zum Fenster hinaus auf die Straße – und wusch mich wieder, immer wieder – und konnte während der ganzen Nacht kein Auge schließen. Erst im Grau des Morgens schlief ich für ein paar Stunden ein. Als ich erwachte, sprang ich gleich zum Fenster und guckte hinaus. Die Straße hatte schon Leben, das Bündel war verschwunden. Vielleicht hatte ein Gendarm den sonderbaren Fund auf die Polizei getragen? Da mögen sie sich über dieses [44] mysteriöse corpus delicti schön den Kopf zerbrochen haben!

Eine ganze Woche lang verließ mich dieses quälende Grauen nicht. Und ein warnender Merk dieser Nacht ist mir geblieben durchs ganze Leben. – Weib? – Auch dieser Silbe Weib muß ich dankbar sein. Sie wurde durch ihren nachwirkenden Schauder eine Wächterin meines gesunden Blutes und ließ mich, auch bei schreiendem Rausch der jungen Sinne, noch immer erkennen, wo die Zäune der Freude sind und wo die Grenzen des Genusses liegen müssen.

In späteren Jahren, als ich die dunklen Dinge des Lebens etwas ruhiger betrachten lernte und das Graue vom Schwarzen unterschied, kam mir die Vermutung, daß jene späte Wandersmännin gar nicht gewesen ist, was man ein ›vergiftetes Weib‹ zu nennen pflegt – sondern daß sie nur ein großes Feuermal auf der linken Wange hatte und ein beklagenswertes Geschöpf war, das sich am Tage von der Freude ausgeschlossen sah und drum die Freude der Gelegenheit in der Finsternis suchte. Diese Erkenntnis änderte nichts mehr an der heilsamen Wirkung, die ich empfunden hatte.

Damals, als ich noch unter dem guten Stern dieses Schauders lebte, ging ich durch Wochen [45] und Monate allem aus dem Wege, was Versuchung hieß. Und als der Sünder, der schlummerlos in jedem Manne lebt, wieder hungrig wurde, blieb ich penibel in der Wahl und handelte nach dem geistreichen Worte, das der versunkene ›Napoleon aus östlichen Bezirken‹ von jenen gesprochen hatte, denen er das Genie nicht zuerkannte: »Sie müssen Niveau bewahren!«

Diesem Niveau-Bewahren bei allem, was Abenteuer hieß, verdank' ich es, daß jede Erinnerung an das einst Gewesene mir ein liebenswürdiges, lächelndes Antlitz zeigt. Denk ich zurück an jene tollen Zeiten meiner ›Freiheit‹, so steigt kein Häßliches vor mir auf, kein Übles und Zweifelhaftes, das mich zur Reue zwingen müßte.

Stürme hat's freilich immer gegeben. Keine Liebe beginnt ohne Aufruhr, keine Liebe endet ohne Blitz und Krach. Diese Stürme sind das Beste an ihr. Es müssen nur die richtigen Erschütterungen sein, jagende Gewitterstürme, die wieder blauen Himmel bringen. Bei manchem meiner Freunde konnt' ich zum Ende jeder Liebe den chronischen Landregen beobachten, der alles Helle trüb machte, alle blühenden Gefilde eines akuten Glückes in schauerlichen Morast verwandelte.

Wie gerne seh' ich sie heraustauchen aus der [46] Vergangenheit, diese lieben, zärtlichen Köpfchen, die schwarzen, braunen und blonden!

Grüß dich Gott, Marie, du mein sanftes ›Himmelchen‹, du lieblichste von allen, du Gretchenschwester mit den blauen Augen und den Silberflechten! Du mit dem stillen Lächeln und dem selbstlosen Hetzen! Wie viel liebe Flüsterworte sprachst du mir an die Wange! Und all diese leisen, kostbaren Worte sind erloschen in mir. Nicht, weil ich das schlechte Gedächtnis der Undankbaren habe, nur, weil ich solch ein schreckliches Exemplar der Schöpfung bin: ein Mann! Von deinen Worten blieb mir nur eines lebendig – ein Wort, das du gar nicht zu mir gesprochen! Weißt du noch, wie meine dicke, kluge Hausfrau dich eines Abends um deiner lieben Torheit willen ins Gebet nahm, weil sie Mitleid mit dir hatte, die gute Seele! Weißt du noch, wie sie dir sagte, du solltest doch nicht so unvernünftig sein, solltest ein bißchen an dich selber denken, dein junges Leben nicht rettungslos an einen leichtsinnigen Menschen hängen, der dich nicht heiraten könnte und auch gar nicht diese Absicht hätte? Und da gabst du ihr mit deinem stillen Lächeln die Antwort: »Das macht nichts! Wenn er mich nur lieb hat!« – Aber halt! Da taucht aus dreißigjähriger [47] Tiefe noch ein anderes deiner lieben Worte heraus. Wir kannten uns sieben Tage. Ich wurde schon ungeduldig. Und da hast du energisch das blonde Köpfl geschüttelt. Wir sahen uns eine Woche nimmer. Und plötzlich, an einem Sonntagnachmittage, standest du in meiner Stube. Ich saß am Schreibtisch und machte große Augen. »Marie? Was willst denn du?« Deine sanften blauen Sterne wurden feucht, und schmerzlich, hilflos und dennoch zärtlich sahst du mich an: »Ich hab mir's überlegt. Wenn's halt nicht anders sein kann ... in Gottesnamen!« Ach, du gutes Mädel! Und weißt du noch, was ich dir eines frühen Morgens sagte: »Himmelchen, wenn ich einmal dem lieben Gott begegne, will ich einen rosenroten Heiligenschein für dich erbitten.« Da hast du so laut gelacht, wie ich dich sonst noch niemals hatte lachen hören. Mein Versprechen hab ich nicht gehalten. Seit damals bin ich dem lieben Gott schon viele hundertmal begegnet. Doch immer hatt' ich bei seinem Anblick so viel zu staunen, daß es mir gar nicht einfiel, etwas erbitten zu wollen, weder für andere, noch für mich. Sei mir um dieser Vergeßlichkeit willen nicht böse, du gutes Herz, und begnüge dich mit dem Heiligenschein des Erinnerns, in dem ich dich sehe! –

[48] Und du, Josephine? Umflossen von der schweren tintenschwarzen Mähne! Wo kommst du denn so unerwartet her mit deinem schusseligen Gang, der immer etwas zu versäumen fürchtete? Warum drehst du schon wieder so hurtig das schmale Gesicht nach allen Seiten, mit dieser, dummen Angst' in den schwarzen Kirschenaugen? Dein scheues Herz klopft ganz ohne Grund so närrisch. Wir beide sind allein, ganz ungestört. Und niemand sieht dich, als nur meine Freude! Aber weißt du, jetzt muß ich eine Gewissensfrage an dich stellen. Was hast du deiner braven Mutter auf dem Totenbett geschworen? »Das nie zu tun!« Jetzt sag mir, Josephinerl, wie ast schon hast du diesen Schwur – – Ich kann nicht weitersprechen, der schwarze Kobold hält mir mit der linken Hand den Mund zu und fährt mir mit der andern Hand ins Haar, erwischt einen festen Schüppel und zieht, daß ich schreien muß in lachendem Schmerz. Du Lustige! Wirst du gleich auslassen! Schnell! Und dreh dich um! Und guck! Da kommt deine klassische Namensschwester, die Josa mit den klingenden Worten, die sie alle vom Theater entlieh, zu dem sie gehen wollte. Und als sie von dir was hörte – oder von einer Anderen? ich weiß es nimmer! – da [49] sagte sie eines Abends mit dem Zornblick einer beleidigten Göttin: »Sie haben eine Adalgisa, ich will nicht Ihre Norma sein!« Und kam doch in der Nacht, vergaß der tragischen Akzente, sprang in das Fach der Sentimental-Naiven, glaubte nur noch an sich selbst und war ein allerliebstes herziges Mädel! –

– Kleine ›Mignon‹! Du Feine, Zierliche! Du braune Tochter des Südens! Oder war deine Großmutter eine Zigeunerin? Eine Bajadere? Du mit der lüsternen Tugend und den harmlosen Satansaugen! Mach' diese Augen zu! Wende sie weg von mir! Du weißt, ich kann diese Augen nicht sehen, ohne toll zu werden! –

– Und du, in deiner Hoheit, du herb Verschlossene! Ich schwor: dich hätte keine irdische Mutter geboren, Albrecht Dürer zeichnete deinen strengen Leib, Platon hauchte ihm die Seele ein, und Orpheus, der dich mit seinem jüngeren Bruder verwechselte, vererbte dir diese wundervolle Stimme, die wie purpurner Sammet glänzte. Meine Gleichnisse waren ein bißchen anachronistisch; aber sie stimmten. Und wenn du so langsam sprachst, dann mußte ich immer ungeduldig seufzen und mußte gucken, ich weiß nicht wohin. Doch wenn du sangst, dann hörte ich alle schönen [50] Glocken des Lebens klingen, mußte das Gesicht in die Hände drücken und mußte weinen. –

– Flink, Melanitscha, bringe den wirksamen Gegensatz! Laß dein goldenes Lachen schimmern! Du kapriziöse Freundin meines phlegmatischen Freundes, dessen Vater viele Weinberge sein eigen nannte! O du Gefährliche du! Graziöseste aller Heimtückerinnen, niedlichste aller Schlangen, die mit Seide zu rascheln lieben! Weißt du noch, wie du mich Ahnungslosen eines Abends batest, ich möchte die Rolle des Gretchens mit dir studieren? Wie eine ernste, heilige Sache hab' ich das genommen. Und plötzlich tauschtest du die Rolle, um mir als glühende Eboli sehr spanisch zu kommen. Donnerwetter, da mußte ich kühlen Kopf behalten, nachdem ich ihn für fünf Minuten verloren hatte! Aber wahr ist's, Melanitscha, mit dir hätt' ich acht Tage lang sehr glücklich werden können – wenn deine junge Mutter, die ich immer für deine ältere Schwester hielt, nicht diese fürchterliche Gewohnheit gehabt hätte, stundenlang mein Haar um ihren Finger zu drehen! Das hat mich aus deiner ergötzlichen Nähe vertrieben. –

– Und du, mein Dorle, deren tief erschrockene Seele sich in das gütigste Herz verwandelte! Auf [51] welche wunderliche Weise wir uns kennen lernten, das hab' ich dir erst erzählen müssen, als wir uns schon ein paar liebe Stunden kannten. Droben in den Bergen war's, an einem idyllischen See, zu seiner Sommerszeit. Und Vollmond war in jener Nacht. Ich hatte einen lyrischen Anfall und bummelte nach Mitternacht in diesem milchigen Schein, während alle Häuser still waren und alle Menschen schliefen. Nur der See sang aus der Tiefe des Tales sein leises Rauschen herauf zu mir, und durch die Hollerstauden und Haselnußbüsche ging ein zirpendes Geflüster. Und da stand neben grasigem Fußweg ein schmuckes, niedliches Haus, ein Bauernhaus, das ein Städter umgemodelt hatte zu seinem Sommersitz. Ein ebenerdiges Fenster war offen. Der Mond schien unschuldsweiß in eine reizende Stube hinein. Und da drinnen stand ein nettes weißes Bett, und auf weißem Kissen ruhte mit gelöstem Haar ein schlummerndes Köpfchen auf rundem Arm. Nicht wahr, da gab's doch keine zweite Möglichkeit? Jeder junge, lustige Mondscheinwandler hätte da ganz das gleiche getan, hätte die Nagelschuhe von den Füßen gestreift, wäre leise, ganz leis in die reizende Kammer hineingestiegen, hätte lautlos das Fenster zugemacht und das Rouleau heruntergelassen, [52] um den vorwitzigen Mond von seiner Neugier zu kurieren.

Schon dein Erwachen, Dorle, war eine Zärtlichkeit. Nur deine Rede war ein halbes Sträuben – diese merkwürdige Flüsterrede: »Aber, Herr Leutnant! Aber, Herr Leutnant!« Dann verstummte dein Mund unter Küssen. Ich hätt' es für überaus unzweckmäßig gehalten, dir zu sagen, daß ich nicht der Herr Leutnant wäre. Und als du friedlich schlummertest in meinen Armen, schien es mir auch völlig überflüssig, das vorsichtige Pochen zu beachten, das sich an der Fensterscheibe vernehmen ließ. Ach Gott, wie kommen doch zu hoher Sommerszeit die Tage so früh! Schon um die vierte Morgenstunde konnte das grüne Rouleau, das eine Schäferin mit dem Hirtenstab zwischen zwei wolligen Lämmchen zeigte, den zudringlichen Dämmerschein des erwachenden Morgens nimmer aus der Stube sperren. Was jetzt? Man hält ein schlummerndes Mädel an seiner Brust – wie soll man da Reißaus nehmen und verschwinden? Probieren muß man's. Aber da schlugst du gleich die Augen auf und wolltest lachen. Dein halbes Lachen verwandelte sich in fassungslosen Schreck. Und mit verstörten Augen sahst du mich an: »Um Gotteswillen, wer [53] sind denn Sie?« Doch du warst ein kluges, einsichtsvolles Mädchen, das sich mit dem Unabänderlichen freundlich abzufinden wußte. Und wenn ich späterhin nach dem ›Herrn Leutnant‹ fragte, sagtest du lachend: »Der kann meinetwegen General werden!« Ich weiß auch, du bist eine brave tapfere Frau geworden, die ihren Mann in Ehren hielt und ihre fünf Kinder auf behagliche Lebenswege brachte. –

Wer kommt? Wer kichert in der duftenden Stille des Erinnerns? Wem gehören die seinen zärtlichen Stimmen? Gaukelt der Reigen versunkener Heiterkeiten noch immer weiter? Ach, Kinder, Kinder, wie soll ich denn von euren guten Herzen erzählen? Ich weiß doch eure Namen nimmer! –

Und die ganz Vergessenen? An denen alles erloschen ist, nicht nur der Name! Auch die Erinnerung an das Lachen und an die Freude!

In mein Tagebuch aus jener Zeit, unter dem Datum des 18. Septembers, ist eine rotviolette Fahrmarke des ›Münchener Stadt-Omnibus‹ eingeklebt, mit der Nummer 855. Der rosenfarbene Zettel ist mir doch sicher nicht wegen des wunderlichen Zusammentreffens dieser Nummer mit meinem Geburtsjahr 1855 wert geworden. Neben dem Zettelchen stehen die französischen Verse:


[54]

»Avez-vous vu en Barcelone

Une Andalouse, au sein bruni,

Pâle comme un beau soir d'automne ...«


Was war das? Ich weiß es nimmer. Es muß eine seine, reizvolle Sache gewesen sein! Sonst hätte sie mich nicht an Alfred de Musset erinnert.

Und viele kleine Lieder, gute und schlechte, zärtliche und zürnende stehen in diesen vergilbten Tagebüchern. Bei der Hälfte dieser Lieder frag' ich mich umsonst, an wen sie gerichtet waren. Sie klingen noch, doch sie erzählen nimmer. Groll oder Freude, Leid oder Lachen – alles versunken, alles vergessen! Wir Männer sind doch schreckliche Kerle! Nicht undankbar. Doch unverzeihlich schwach an Gedächtnis!

Und dieses Lied? Eine Novemberweise. Und beginnt mit dem linguistisch rätselhaften Verse:


»Sie sprach zu mir:

Ick liebe Dir!«


Richtig, ja – November 1878 – damals war ich nimmer in München. Da war ich schon in Berlin.

Laßt mich Abschied nehmen von der Heimat und ihren lachenden Freuden, von ihren grünen Bergen und ihren freundlichen Kindern! Sei um [55] mich her, du gaukelnder Reigen des Gedenkens, tretet zu mir mit versöhnlichem Lächeln, ihr Frohen und Träumerischen, ihr Lieblichen und Gütigen! Und reicht mir noch ein letztes Mal die kleinen, schenkenden Hände! Ich will sie streicheln in Dankbarkeit.

Weib! Du wundersamste, du himmelhellste aller Silben!

Hätt' ich die Herrlichkeit des Lebens, die Güte und Weisheit des ewigen Schöpfers nie verstanden vor dem Bild eines tauenden Morgens, eines brennenden Abends, einer sternschönen Nacht – ich würde den Wert des Lebens, die humorvolle Langmut und jedes holde Wunder des Ewigen ausreichend geahnt und empfanden haben vor dem Sonnenblick eines liebenden Weibes.

[56]
2.
II.

Mit meinem Abschied von München verwebt sich ein märchenhaftes Sommernachtsbild, das so leuchtend in meiner Erinnerung steht, als lägen zwischen jenem Erlebnis und heut nur wenige Wochen, nicht über die dreißig Jahre.

Wir waren eine Kompanie von etwa zwanzig ›Brüdern und Schwestern‹. Jeder und jede hatte irgendwas mit der Kunst zu schaffen und hielt sich für ein Genie in der ersten Blüte stürmischer Entwicklung. Mit zwanzig Jahren gerät man leicht in die Gefahr, Kunst und Lebenssehnsucht miteinander zu verwechseln. Und wir alle waren vollblütige, lebenshungrige Jugend mit heißen Seelen, erfüllt von quirlender Daseinsfreude. Junge Komponisten und Musiker, Sänger und Sängerinnen aus allen Klassen des Konservatoriums; angehende Schauspieler und Schauspielerinnen, [57] deren Talent zumeist nur in der getreuen Nachahmung aller Absonderlichkeiten ihrer Lehrer: Possart, Rüthling und Richter bestand; junge Poeten, die sich als Neuerer und Befreier, erschienen, weil sie über Geibel, Freitag, Dahn und Bodenstedt räsonierten und ihre Muster bei den Franzosen holten, bei Musset und Richepin; und junge Maler, die gegen Piloty gereizt waren, alles Erfolgreiche als Dreck und Schmieralie bezeichneten, die ›braune Sauce‹ des akademischen Ateliers verdammten und die ›Natur‹ so malen wollten, wie sie war, nicht wie der ›Philister‹ sie auf der Leinwand zu sehen wünschte – aus solchen Elementen rekrutierte sich unser ›freier Jugendbund‹, der bei kameradschaftlichem Du und bei ›gemeinsamen Kunstinteressen‹ wie Eisen zusammenhielt. Jeder und jede fühlte sich als Ausgangspunkt einer neuen Zeit, einer neuen Kunst, einer edleren Qualität des Lebens; jeder und jede trug in sich die selbstherrlich verliehene Anwartschaft auf Lorbeer und Unsterblichkeit. Und wo sind nun diese Stürmer und Erlöser, diese Hoffnungsvollen von damals? Nur wenige von ihnen haben sich im wirren Wogengang des Lebens leidlich obenauf gehalten als tüchtige, brauchbare Menschen, als ehrliche, gewissenhafte Künstler. Die meisten [58] sind versunken, verschollen und vergessen, an Enttäuschungen gescheitert, in das einst vermaledeite Philistertum zurückgerutscht, oder zerbrochen in Leichtsinn und Elend, erloschen in Gräbern, auf denen kein Marmor kündet, daß hier einer in Staub und Friede schlummert, der auch einmal mit Stolz und Jubel schrie: »Anch'io!«

Aber damals! Dieses heiße Leben in Jugend! Das Atmen in einer Sonne, die nicht unterging! Das frohe Jagen nach hohen Zielen, die umnebelt waren, und die man doch zu sehen meinte! Dieses brennende Hoffen, dieses unerschütterliche Glauben an sich selbst und an die Freunde, die man liebte! Wie schön ist das gewesen!

Wir alle waren immer der heiligen Überzeugung: was wir trieben, das wäre ›Kunst‹. Doch was in uns zuckte und zitterte, aufbrannte und verglühte, träumte und schrie, begehrte und verwarf – es war im Kern nichts anderes als das Kleine und Große des ewig Menschlichen, das in aller Jugend tobt und hundert Masken hat. Komödien und Tragödien der Liebe gingen da mit und neben der ›Kunst‹ immer hin und her, zumeist als Hauptsache, dann wieder als ein ›Erledigtes‹ und ›Überwundenes‹. Diese aufregungsvollen Wechselspiele der Herzen und des Blutes dauerten [59] nie länger als ein paar Tage, schlimmsten Falles ein paar Wochen – Zeit genug für Sehnsucht und Irrtum, für Faustische Verzückung und Mephistophelische Erkenntnis, für glühende Liebeslieder und gereimte Sapphische Oden, für schwärmerische Mondscheinständchen und rasende Phantasien auf geduldigem Klavier, für Wertherstimmungen und Kotzebuesche Verzweiflung, für geplante Doppelselbstmorde und erlösendes Gelächter. Und kam man ›zur Vernunft‹, hatte man's ›niedergerungen‹, so war man wieder gut Freund und Kamerad, wurde Vertrauter und Schutzengel bei den akuten Herzensnöten der anderen.

Unsere heilige Versammlungsstätte – unter der Woche Abend für Abend, an Sonntagen vom Mittagsmahl bis zur Mitternachtsstunde – war die ›Rosenau‹ in Schwabing. Ein Münchener Apotheker, dessen auffallende Ähnlichkeit mit König Ludwig I. zu allerlei unkontrollierbaren Gerüchten Anlaß gab, hatte sich mit erklecklichem Vermögen zur Ruhe gesetzt und hauste zu Schwabing in dieser Villa Rosenau, inmitten eines großen prachtvollen Parkes, der reich war an hundertjährigen Bäumen, an labyrinthisch verschlungenen Gebüschen, an heimlichen Lauben und an glühenden Rosen, die zur Abendzeit einen berauschenden Duft [60] in die kühle Dämmerung hauchten. Für die Spiele hirn- und herzverdrehter Jugend das richtige Milieu! Der freundliche, gutmütige Hausherr übte gegen die zwanzigköpfige Schar von uns ›Brüdern und Schwestern‹ eine verschwenderische Gastfreundschaft. Das tat er aus Zärtlichkeit für seine Tochter Moxi, welche Schauspielerin werden wollte, sich zu einer Sarah Bernhardt zu entwickeln versprach und die temperamentvolle, kapriziöse, quecksilberig zappelnde Seele unseres freien Jugendbundes war: ein zartes, hyperschlankes Mädchen, innerhalb jeder Minute himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, nervös bis zu ruheloser Qual, Täubchen und Medea, mit den Augen einer ekstatischen Heiligen, mit einer rotblonden Lockenfülle, die sie zu den ungeeignetsten Zeiten auflösen und schütteln mußte, weil sie immer behauptete: jedes Härchen wäre für sie ein ›gräßlicher Schmerz‹. Wo sie ging und stand, da war Theaterboden für die Maxi, und alle festen Dinge der Umgebung, auch die banalsten, wurden zu Kulissen ihrer wechselnden Illusionen. Jede innerliche Regung, jede nüchterne Tätigkeit ihres Lebens wurde bei ihr zu enthusiasmierter Schauspielerei, nicht zu billiger und heuchlerischer Komödianterie, immer zu gesteigertem Erleben, zu vertieftem Empfinden, zu [61] einer stilvollen Sache, in der bei aller Verrücktheit doch stets eine Art von redlicher Wahrheit steckte. In der Kirche war sie ganz Maria Magdalena; auf der Straße gab sie sich je nach der Stimmung des Augenblicks als vornehme, unnahbare Dame oder als deren Widerspiel; in der Nähe von Kindern wurde sie Baby, und zwischen bejahrten Leuten markierte sie das Großmütterchen. Ihr eigener Vater erzählte lachend, daß die Maxi nicht nur im Schlafe Theater spiele, sondern auch im stillsten und einsamsten aller Kämmerchen mit Vehemenz und Begeisterung den Abschied der Jungfrau deklamiere oder den grausigen Monolog der Lady Macbeth, die ihre Hände nicht mehr weißzuwaschen vermag. Jede Wendung des Gespräches gab der Maxi Anlaß zu einem schauspielerischen Exempel, unter freiem Himmel genau so wie unter Dach, und bei der Mahlzeit konnte sie zwischen Renken und Nierenbraten in Verzückung aufspringen, die Fensternische als ›Zwinger‹ erklären, sich mit gelöstem Haar auf die Knie werfen und Gretchens Gebet – O neige, du Schmerzensreiche, zum Fensterkreuz emporklagen, so inbrünstig und verzweifelt, daß uns Hörenden die Tränen auf die Servietten tröpfelten.

»Kinder? Kinder?« pflegte Papa Apotheker [62] in solchen Momenten zu fragen. »Habts schon amal an so an Narren gsehen?« Dabei war in seinen Augen ein Blick der glücklichsten Zärtlichkeit.

Der Ton, den die Maxi anschlug, gab das Stichwort für unser Echo in der schönen Rosenau. Immer wurde gemimt und stilvoll geflunkert, man inszenierte, probierte und führte auf, improvisierte eine Oper, eine Stegreifkomödie, oder trieb auf andere Weise künstlerischen Radau, musikalisch oder deklamatorisch, ernst oder heiter. Und so kamen wir eines Tages auf die von uns als klassisch und genial erkannte Idee: Shakespeares Sommernachtstraum bei Vollmondschein im Park der Rosenau aufzuführen, selbstverständlich ›in höchster künstlerischer Vollendung‹, doch ohne Publikum, ganz für uns allein, als ›Fest und Weihe‹, als ›Kunst für die Künstler‹. Die Besetzung ist meinem Gedächtnis halb entschwunden. Aber die Maxi war natürlich Titania im offenen Haar und wählte den Oberon, den sie haben wollte. Den Puck spielte die ›kleine Fischer‹, die ein paar Jahre später als Aschenbrödel im Gärtnertheater die Münchener entzückte. Mein blonder Freund, der ›lange Oskar‹, gab den Demetrius. Mir hatte das aus Männlein und Weiblein gemischte Regiekollegium den Lysander zugeteilt. Wer Hermia [63] und Helena waren, weiß ich nimmer; ich weiß nur noch, daß ich verliebt war in alle beide, ein Umstand, der dem zärtlichen Farbenwechsel meiner Rolle mit temperamentvollen Wirklichkeiten zu Hilfe kam. Ein feines Orchester hatten wir natürlich auch.

Während ich die Rolle lernte, befand ich mich in so zappelseliger Erwartung, daß mir für einige Wochen sogar meine brennenden Weltverbesserungspläne, mein Schulprogramm und meine heißgeliebten Ziffern des ›eisernen Lebensbedarfes‹ eine minderwichtige Sache wurden. Schon jede Vorbereitung entwickelte sich zu einer zwischen dunstendem Kunsteifer und ausgelassenem Frohsinn baumelnden Köstlichkeit. Diese Kostümproben! Aller Faltenwurf der weißen und bunten Stoffe wurde gewissenhaft ausprobiert, und es ging da zu wie in der Werkstätte eines griechischen Bildhauers. Um der Aufführung halb und halb den Charakter einer Improvisation zu wahren, wurden die Szenen der einzelnen Gestaltengruppen gesondert einstudiert, und im Parke einigten wir uns nur beiläufig über die Verteilung des Raumes: hier der Hain des Theseus, hier der Sauerkohlgarten und die Hütte der Rüpel, hier das Rosenreich und die Tanzwiese der Elfen. Das spielerische Zusammenfinden der Gruppen wurde der [64] Eingebung des Augenblicks überlassen. Szenerie: der ganze Park mit der Villa Rosenau als Burg des Theseus im Hintergrunde. Beleuchtung: Pechfackeln im königlichen Hain, zwei alte Laternen in der Rüpelgegend, der lautere Vollmondschein im Paradies der Elfen.

Mit Hangen und Bangen harrten wir dem Wetterglücke der bedeutungsreichen Vollmondnacht entgegen. Sie brachte einen stahlblauen Himmel mit blitzenden Sternen, die langsam im wachsenden Mondschein erloschen. Ein Rosenduft, der den Atem der jungen Brüste beklommen machte. Fern das Leben der Straße, und hinter den Bäumen die Nachtröte der Stadt wie der Widerschein eines großen Freudenfeuers. Leise Musik, von der man nicht wußte, woher sie kam. Das Glutgezitter und das Rauschen der Pechfackeln. Und als im schwülen Rosenduft die ersten Strahlen des Mondes milchig hingluten über die leise flüsternden Kronen der Linden, trat der purpurne König mit der goldfunkelnden Königsbraut und dem bunten Gefolge aus dem Palaste in den Hain heraus.


»Nun rückt, Hippolyta, die Hochzeitsstunde

Mit Eil heran –«


Was Theseus noch weiter zu sagen hatte, das[65] stimmte nicht mit der natürlichen Beleuchtung dieser Nacht. Es gab auch im Verlaufe der Aufführung zwischen Szenerie und Dichtung noch viele, viele Widersprüche, von denen einer den anderen überpurzelte. Aber das störte uns nicht in unserer schwimmenden Kunstbegeisterung, in unserem froh durch die Mondnacht tollenden Jugendrausch. Man deklamierte, daß man heiser wurde, sprang und rannte, daß die fallenden Schweißperlen im Mondschein glitzerten. Um sich zwischen silbernem Licht und schwarzen Schatten zu finden, und um die leeren Wege dieses Irrens und Suchens mit helfenden Worten zu füllen, improvisierte man, wie der Augenblick es gab und wie Begeisterung, Humor und guter Wille den Einfall fertig brachten. Wäre von den Zutaten und Geistesblitzen, um die wir den ›Sommernachtstraum‹ bereicherten, nur ein blasser Schimmer hingedrungen bis zur Kirche von Stratford, die glücklicherweise weit entfernt von Schwabing liegt – Shakespeare hätte sich im Grab herumgedreht. Sehr oft! Er hätte eine ruhelose, qualvolle Nacht gehabt. Aber was wir da in Mondschein und Rosenduft mit trunkenen Sinnen gaukelten – für uns, für unser junges Blut und unsere jungen Torenherzen war es blühende Schönheit, ein Rausch von Freude, [66] das Mysterium einer attischen Nacht, ein Glänzen heiliger Kunst, ein frohes Gewirbel von Jugend, ein Unvergeßliches, von dessen Wert mir in dreißig Jahren keine Farbe verblaßte. Und als das Spiel, das wir wie leuchtende Wirklichkeit genommen, sein Ende fand – als dieses Vollmondmärchen versank, in dem uns Licht und Schatten, Sinn und Worte, Sehnsucht und Pein, Zärtlichkeit und Küsse zu heißem Leben geworden – und als der dünngekleidete Oberon, der vor Schnupfen immer niesen mußte, seinen Segen gesprochen hatte:


»Elfen sprengt durchs ganze Haus

Tropfen heil'gen Wiesentaus!

Friede sei in diesem Schloß,

Und sein Herr ein Glücksgenoß!

Nun genung!

Fort im Sprung!

Trefft mich mit der Dämmerung!« ...


da saßen und lagen wir, alle noch in den Kostümen, bis zum Erwachen des Tages rings um die Pfirsichbowle und schwatzten und lachten, ließen die Gläser klingen und waren glückselige Menschenkinder, die sich auf ihre ›künstlerische Leistung‹ einen goldenen Stecken einbildeten. Männlein und Weiblein wollten, als es Morgen wurde, gar nicht heraus aus den bunten Tüchern; man wäre am liebsten im [67] safranfarbenen Chiton und in der blauen Chlamys über die Schwabinger Landstraße und durch das Siegestor zur stillen Bude heimgewandert, um


»... in das Licht hineinzuschlafen,

So weit wir in die Nacht hineingewacht.«


Nur ein paar von den Brüdern und Schwestern des Rosenauer Jugendbundes hab' ich im späteren Leben wiedergesehen. Ihr anderen von damals? Ihr Heißen und Frohen, ihr trunkenen Gaukler jener märchenschönen Sommernacht? Wo seid ihr? Wo, um mit Oberon zu fragen ›treffen‹ wir uns wieder? – In der ›Dämmerung‹? – Gibt es im Dunkel ein Sichfinden? Wer es im Licht versäumte, hat es versäumt für immer. Horaz ist nicht mein Liebling. Aber eines von seinen Worten lieb' ich: Carpe diem!

– – Und dann fort von München. Noch war's kein Abschied, nur eine Ferienreise, eine mehrwöchentliche Fußwanderung, zuerst nach schwäbischer Gegend, dann durch die ganze Länge der bayerischen Berge hin, vom Watzmann am Königssee bis zur Mädelegabel im Allgäu. Unersättlich trank ich die grünen und blauen Bergbilder in mich hinein, ohne zu ahnen, daß ich da für die Arbeit meines Lebens sammelte.

Bei kühlwerdendem Herbste der letzte Abend [68] im Elternhaus, in dem kleinen, engen Wohnzimmer, wo noch ein paar von den alten, lieben Geräten aus der weißen Forsthausstube von Welden standen. Mutters Spinnrad bei den kümmernden Blumen in der Fensternische. Und auf dem Tisch die in Ehren grau gewordene Petroleumlampe, die ich vor einundzwanzig Jahren zu Kaufbeuren, beim ersten Abenteuer meines Lebens vom Tische heruntergeworfen hatte. An ihrem zinnernen Fuße waren noch Beulen davon zu sehen. Und seit ein paar Jahren sprachen die Eltern schon immer von dieser notwendigen Sache: eine Hänglampe kaufen zu müssen, einen neumodischen Rundbrenner.

Du alte Lampe! Die mir an jenem letzten Abend im Elternhause zum letzten Male brannte! Wie vielen neugierigen Kinderfragen im huscheligen Zwielicht glänztest du! Wie viel hundert Stunden hab ich gedankenlos oder träumend hineingeguckt in dein kleines, ruhiges Flammenherz? Auf wieviel Heiterkeiten von uns Sechsen, die wir zusammenhielten wie die Kletten, gossest du deinen milden Schimmer! Wie viele Sorgen auf der ernsten Stirne meines Vaters beschienest du! Und wieviel leise tiefe Geschichten hättest du Wissende erzählen können von den stillen Tränen und vom [69] hellen Lachen meiner Mutter? Alte Lampe! Daß ich dir eine dankbare Hymne singe, das verdientest du dir ehrlich. Und ich sah dich nimmer. Denn als ich wieder heimkam aus der Fremde, warst du verschwunden, altes Blech geworden, und warst, ich weiß nicht wo – vielleicht hatte ein Münchener Zinngießer deinen verbeulten Fuß schon umgeschmolzen zu Maßkrugdeckeln! Und die fabulöse Hänglampe war da, der neumodische Rundbrenner, der ein bißchen heller leuchtete, doch immer rußen wollte, wenn die Mutter in Gedanken war und nicht aufpaßte.

Aber damals an jenem letzten Abend glänzte die gute alte Schimmertante noch freundlich über drei blonde und zwei graue Köpfe hin. Eine Lücke war schon in unseren Kreis gerissen. Der Bruder war nimmer da. In seiner Begeisterung für die deutsche Marine hatte er's durchgesetzt, daß er Schiffsjunge werden durfte. Nun schwamm er auf weiter See nach Kalifornien. Und so oft der Herbstwind nur ein bisselchen am Fenster rüttelte, tat die Mutter einen schweren Seufzer. Wurde der Wind zum Sturm, dann wußten wir immer, daß die Mutter bald sagen würde: »Ach Gott, ach Gott, was wird der arme Bub wieder harte Zeit haben auf'm wilde Meer da drauße!« [70] Und wenn sie das gesagt hatte, bewegte sie die Lippen lautlos weiter, während sie spann oder häkelte. Dann wurde sie wieder fröhlich. Auf ihren Herrgott konnte sie sich verlassen. Das wußte sie. Doch an jenem letzten Abend vor meiner Reise hörte sie den Wind nicht, der aus Fenster pochte. Das Herz einer Mutter hat Stunden, in denen es seine Liebe nicht teilen kann undeinem Kinde ganz gehören muß.

Die zwei Schwestern waren daheim, die eine noch halb ein Kind, das auf dem neuen Pianino Schumanns ›Fröhlichen Landmann‹ mit etlichen Schwierigkeiten spielte – die andere ein großes, schlankes Mädel mit einem verschlossenen Traum im Herzen. Die beiden nähten am letzten Abend noch etwas für mich. Auch die Mutter stichelte ruhelos, hatte immer nasse Augen und war dabei doch immer lustig. Ununterbrochen schwatzte sie mit mir, und jede ernste Lehre, die sie mir gab, bekam ein drolliges Schwänzchen. »Gelt, Bub, sei fleißig ... ein faules Zwergele frißt mehr, als ein fester Ries' verdiene kann! Gelt, Bub, sei nett und manierlich, daß die Berliner net sagen: der muß eine schöne Raffelhex zur Mutter haben! Und gelt, Bub, tu mir sauber bleiben an Leib und Seel ... schau, der Dreck isch noch [71] lang nit das Beschte vom Leben!« Wie der Blick war, mit dem sie mich ansah bei diesen Worten, das kann ich nicht erzählen. So reich ist meine Sprache nicht.

Dabei schrieb und rechnete der Vater, rauchte sparsam an seiner Zigarre, war still und ein bißchen mißmutig. Er hatte seine Einwilligung zu meinem ›Berliner Jahr‹ nur zögernd gegeben. »Arbeiten und was werden kann man doch überall,« meinte er, »wozu braucht man denn da gerade das heiße und teure Berliner Pflaster?« Aber Berlin war doch jetzt für uns Junge ›der große Boden‹. Ich dachte immer: Bist du in Berlin, dann bist du schon in der Höhe. Drum wurde die Stunde, in der mein Vater Ja sagte, für mich zu einer schreienden Seligkeit. Und der Glanz der großen Dinge, die mir da kommen sollten, ließ auch am letzten Abend keine schwermütige Stimmung in mir erwachen. Während der Vater schweigsam blieb und die Mutter mit feuchten Augen immer plauderte, strahlten in meinen Träumen die Luftschlösser der Zukunft mit goldenen Fenstern.

Am anderen Morgen reiste ich ab – Postzug, dritter Klasse – im Gelbbeutel meinen ersten Monatswechsel von hundertzwanzig Mark [72] und die Kollegiengelder, in der Handtasche ein ›Fressaliopackerl‹, das schwer von Knackwürsten und Butterbroten war, im sein gefüllten Koffer meine Zukunftslose: die fast vollendete Doktordissertation, die Rolla-Übersetzung, ein paar hundert Gedichte, sozialpolitische Aufsätze, dramatische Entwürfe und die ersten Anläufe zu einem ›psychologischen Roman‹, der ›etwas ganz Wildes und Neuartiges‹ werden sollte. Auch drei Empfehlungsbriefe hatte ich: einen an die Bayerische Gesandtschaft in Berlin, den ich niemals abgab, an den Reichstagsabgeordneten Schauß den zweiten, der mir einen merkwürdigen Abend bescheren sollte – und an den Dichter Hans Hopfen den dritten, der mir eine Stunde unbehaglicher Scham verursachte.

Ich fuhr hinaus in das herbstliche Land, wie Columbus ins rauschende Meer. Doch die Hochflut meiner frohen Stimmungen erfuhr gleich nach den ersten Stunden der Fahrt einen schweren, schmerzenden Dämpfer, als die Kondukteure schrieen: Regensburg, Regensburg, Regensburg!


Ich ziehe vorbei der alten Stadt

Und grüße leise die Mauern.

Im Winde gaukelt ein welkes Blatt.

In mir ein wehes Schauern.

[73]

Vom Dome das graue Türmepaar

Winkt her über Dächer und Gassen –

Es sah mit an, wie selig ich war,

Eh' mich mein Glück verlassen.


Mein braungelocktes, blauäugiges Glück.

Das Glück meiner jubelnden Lieder!

Wohin nun wend' ich den heißen Blick,

Und wo nun sind' ich es wieder?

Ich ziehe vorbei, weiß kannt, wohin –

Ins Leben? Zu meinem Grabe?

Ich weiß nur, wie verlassen ich bin,

Und was ich verlassen habe.


Ein Schönes, Reines und Zärtliches stieg empor aus dem grauen Schleiern der Vergangenheit. Ach, diese rasselnden Stunden, die ein Jagen durch fremde, leeren Weiten waren! Ich saß den ganzen Tag wortlos hineingedrückt in meinen Coupéwinkel, hatte kein Auge mehr für die Bilderflucht der Reise und hielt noch immer für Seelenschmerzen, was schon Hunger war. Es kam eine lange, fürchterliche, schlaflose Nacht, mit Selbstvorwürfen und allen Purzelbäumen einer ziellos gewordenen Sehnsucht. Nicht, weil mein Magen knurrte, nur um ein bißchen Abwechslung in die finstere Monotonie zu bringen, fraß ich in einer halben Stunde alle Knackwürste und Butterbrote auf, die mir die Mutter mitgegeben hatte.

[74] Das machte mich ein bißchen ruhiger, und schließlich fielen mir die Augen zu. Als ich erwachte, sah ich einen grauen, nebeligen Morgen, sah weite, ebene, kahle Felder und gewahrte ein paar kümmernde Föhrenwäldchen. Über die trübverschleierte, kreisende Ferne gaukelten riesenhafte, schwarze Spinnen hin: die Flügel der Windmühlen. Quälendes Heimweh befiel mich, ein Zweifel an allem Kommenden. Wie kann denn das Leben reich sein in einer Landschaft, die so arm ist an schönen Dingen? Und jetzt diese vielen nüchternen Häuser zwischen gelben Dämmen und Mulden – wie eine Ansiedlung zur Ausbeutung gewaltiger Sandgruben – um Gotteswillen, das konnte doch unmöglich mein Berlin sein? Das große, ersehnte, verheißungsvolle Berlin?

Es war nur die Gegend von Lichterfelde. Und dann in der Ferne ein Meer von Dächern, verschleierte Kuppeln, umnebelte Türme. Ich reckte mich mit halbem Leibe zum Fenster hinaus, und vor Aufregung schlug mir das Herz herauf bis in den Hals. Ein schrecklicher Barackenbahnhof. Doch nun ein Gewimmel von Menschen, eine Fülle des Lebens, ein Strom von Bildern, ein brausender Lärm – die Großstadt, die Kaiserstadt, die Pulsstätte des Deutschen Reiches! [75] Ich hatte mein Gepäck auf dem Bahnhof gelassen, war in eine Droschke gesprungen und ließ mich hineingondeln in dieses neue, große Leben. Unter den Linden stellte ich mich auf eigene Füße, bummelte gleich eine Stunde lang, frühstückte im Café Bauer – von dem ich schon wußte, daß es der Versammlungsort der literarischen Jugend wäre – und dann gab ich einem Zuge meiner politischen Sehnsucht nach und rannte zum Opernplatz, zum Haus des Kaisers, zum berühmten ›Eckfenster‹. Doch den Gefallen, sich am Fenster zu zeigen, konnte Kaiser Wilhelm Weißbart mir nicht erweisen. Es war nach jenem wahnwitzigen Verbrechen eines Narren, in der Zeit nach dem Robilingschen Attentat – der Kaiser, von den Folgen seiner Verwundung noch nicht genesen, war ferne von Berlin, zur Nachkur in Wiesbaden.

Auch Bismarck und Moltke begegneten mir nicht, obwohl ich die ganze Mittagszeit vor ihren Türen patrouillierte. Komisch, wie wenig man in Berlin zu sehen bekam! Es war nur ein Trost, daß man wußte: alles Große ist da!

Am Nachmittage ging ich auf die Zimmersuche und rannte dabei in mein erstes Abenteuer hinein, ohne was davon zu merken. Ich haue einen schönen Schreck von der Sache.

[76] Natürlich wollte ich ganz im Herzen der großen Stadt wohnen, um nur ja nichts zu versäumen, wenn irgend etwas Wichtiges los wäre. Weil ich aber auch an die Grenzen meines Geldbeutels denken mußte, faßte ich Zutrauen zu einem schmalen, alten, sehr bescheiden aussehenden Haus in der Friedrichstraße, ganz nahe bei den Linden. Reben der Haustüre hing ein Zimmerzettel. In dieser alters-grauen Schaluppe konnte doch eine Mansarde nicht gar so teuer sein? Ein Fräulein, das mir im finsteren Korridor begegnete, war sehr freundlich und führte mich in den ersten Stock hinauf zur Hausfrau. Diese Hausfrau, die eine Vorliebe für heftige Wohlgerüche zu haben schien, war eine noch nicht alte, aber auch nicht mehr junge Dame in rotem Schlafrock, sehr schön frisiert, von auffallend hübschem Teint, fast ein bißchen puppenhaft. Schade, daß sie so dick war! Aber hatte ich denn was Komisches an mir? Die Dame, während ich mit ihr verhandelte, lachte immer so merkwürdig. Und die Hälfte von dem, was sie in ihrem flinken Berliner Dialekte redete, verstand ich nicht. Wir wurden einig, obwohl ich den Preis der Mansarde – dreißig Mark, die ich für den ersten Monat gleich vorausbezahlen mußte – ein bißchen hoch fand. Aber man kann in solchem Falle doch nicht mehr [77] Nein sagen, kann wegen zehn Mark eine liebenswürdige Dame nicht kränken. Das Zimmerchen unterm Dach gefiel mir, obwohl es ein bißchen sonderbar aussah, wunderlich mädchenhaft. Und das heftige Parfüm der Hausfrau, das man in dem ganzen alten Hause roch, war auch hier oben im vierten Stocke noch zu spüren. Ich riß die Fenster auf Dann fuhr ich zum Bahnhof, um mein Gepäck zu holen. Bei Anbruch der Dämmerung war ich wieder daheim. Zwei Dienstmänner schleppten meinen Koffer über die vier steilen, ausgetretenen Stiegen hinaus. Fast auf jeder Treppe begegnete mir eine junge elegante Dame, die das Haus verließ. Wie seltsam, daß in dem alten, schäbigen Mauerkasten so vornehme Leute wohnten! Und was Merkwürdiges war mit diesen zwei Dienstmännern. Unhöfliche Kerle! Ganz eigentümlich guck (en sie mich an und schienen nicht viel Gutes von mir zu halten – vielleicht, weil sie merkten, daß ich kein Berliner war, also nach ihrer Meinung wohl ein minderwertiges Geschöpf Gottes. Ich gewann bei dieser Gelegenheit keinen guten Eindruck von den Verstandskräften und Gemütsqualitäten des Berliner Volksschlages.

Als ich allein war, packte ich aus und richtete mich häuslich ein. In meinem Koffer fand ich [78] eine gutriechende Schachtel mit allerlei seinen, verspeisbaren Dingen und einen Zettel der Mutter. »Lieber Bub! Da hast du noch was von daheim, daß dir die erste Mahlzeit in der Fremd ein bissele besser schmeckt!« Jetzt brauchte ich nimmer auszugehen, konnte zu Hause bleiben. Wie gemütlich war das: so behaglich im neuen Quartier zu sitzen, mit Genuß zu beißen und zu schlucken, immer heimzudenken und an den Luftschlössern meiner Zukunft zu bauen! Und immer zu wissen: rings um mich herum ist das grandiose Berlin, das Werden und Wachsen einer großen, aufwärtssteigenden Zeit!

Die Zigarette brannte und machte mit ihrem blauen Qualm dieses schreckliche Hausparfüm unfühlbar. Angenehm empfand ich die lautlose Stille, die im Hause herrschte. Da wird sich's sein arbeiten lassen! Und um auch den ersten Abend noch gut zu benützen, nahm ich meine Rolla-Übersetzung zur Durchsicht vor. Die wollte ich gleich in den nächsten Tagen zu Paul Lindau tragen, der eine begeisterte Monographie über Alfred de Musset geschrieben hatte und den deutschen Rolla für ›Nord und Süd‹ doch sicher mit Wonne und Handkuß annehmen würde! Auf welches Honorar ich wohl rechnen durfte? Na, so fünf, sechs hundert Märkerchen [79] werden schon herausspringen! Und das gibt dann ein herrliches Leben in Berlin! Theater an jedem Abend!

Gegen Mitternacht merkte ich bei der Arbeit, daß es im Hause nicht mehr so still war wie in den: Abendstunden. Manchmal eine lustig-kreischende Mädchenstimme. Dann ein lautes Gelächter von einem halbdutzend Menschen. Jetzt die Töne eines Klaviers, ein schmachtender Walzer, der überschlug in einen rasenden Galopp. Ich dachte: irgendwo unter mir da drunten wird Gesellschaft sein, und jetzt werden die Leutchen nach dem Souper ein bißchen vergnügt.

Weil's mit der Arbeit nimmer vorwärtsging, wollt' ich mich aufs Ohr legen. Ich spürte auch die dreiundzwanzigstündige Eisenbahnfahrt des Bummelzuges recht merklich in den Knochen. Schon war ich dran, mich auszukleiden. Da ging im dritten Stockwerk des Hauses ein fürchterlicher Spektakel los, der aus einer Stube herauskam auf den Korridor. Ich hörte ein schrillendes Weibergekreisch und das Zorngebrüll eines betrunkenen Mannsbildes. Weil ich dachte, da drunten gibt's irgend ein Unglück, nahm ich meinen festen Hakenstock und sprang auf die Treppe hinaus.

Was ich da gewahrte, jagte mir einen Schreck [80] ein, der mir den Hals zuschnürte. Durch den steilen Treppenschacht konnte ich auf den Korridor des dritten Stockes hinuntersehen, der von einer trübbrennenden Lampe kaum erhellt war, doch grelle Lichtstreifen aus den offenen Türen rötlich erleuchteter Stuben bekam. In diesem Licht- und Schattengewürfel bewegte sich mit Geschrei und Geschimpfe ein balgender Knäuel von drei Mannsleuten und einem halben Dutzend Weibsbilder. Und aus schwarzen Ecken oder aus hellen Türen kamen noch immer neue Damen herbeigesprungen. Sie hatten sehr wenig an. Eine von ihnen trug nur schwarze Strümpfe und einen gelben Kapothut. Und die heftig duftende Hausfrau im roten Schlafrock erschien, debattierte in einer Sprache, von der ich kein Wort verstand, schrie wie ein amtlich entrüsteter Unteroffizier und begann mit einem langen japanischen Fächer fürchterlich auf das Haardach eines betrunkenen Menschen loszudreschen.

Als ich nach dem ersten Schreck ein bißchen zur Besinnung kam, stand ich in meiner Stube, hatte hinter mir die Türe versperrt und hielt in der linken Faust den Schlüssel, in der rechten meinen Stock. Jetzt begriff ich, in was für eine Art von Haus ich blinder Esel da geraten war.

[81] Mir grauste vor diesem mädchenhaften Zimmer. Und nun verstand ich das komische Schmunzeln dieser Hausfrau bei der Wohnungsmiete, verstand den sonderbaren Blick und die Unhöflichkeit der beiden braven Dienstmänner.

»Raus, raus, raus, raus!«

Im Hui quetschte ich alles, was ich ausgepackt hatte, wieder in den Koffer hinein. Dabei wurde es drunten ruhig; und in dieser halben Stille hörte man neuerdings ein Lachen, eine trällernde Stimme und wieder dieses zärtlich vergnügte Klavier. Um zwei Uhr morgens war ich reisefertig. Mein Koffer war verschlossen, meine Reisetasche zugeschnürt. Ich sperrte das Zimmer ab, nahm den Schlüssel mit mir und rannte ins Café Bauer. Hier blieb ich, bis es Tag wurde. In der Französischen Straße fand ich ein Zimmer, war froh, bei ordentlichen Leuten unterzukommen und fragte in der Eile gar nicht nach dem Preise.

Aber wie sollte ich jetzt mein Gepäck aus dem Hause der wohlriechenden Dame mit dem roten Schlafrock ohne Skandal herausbringen? Ich kam zu der Einsicht, daß das Menschenleben Augenblicke besitzt, in denen man die Polizei wie eine sehr löbliche und segensreiche Institution empfindet. Als Hilfesuchender wandte ich mich an einen [82] Schutzmann. Der Brave war zuerst ein wenig mißtrauisch und guckte mich an wie ein Untersuchungsrichter. Glücklicherweise sah ich bei der Ecke der Lindenpassage meine beiden Dienstmänner stehen. Die mußten jetzt her und Zeugenschaft darüber ablegen, daß ich erst am verwichenen Abend, da drüben' eingezogen war. Als die Sache sich völlig geklärt hatte, lachten die drei sehr ausgiebig auf meine Kosten. Und der wackere Schutzmann unter Assistenz der beiden Dienstleute nahm meinen Zimmerschlüssel und befreite meine sieben Zwetschgen aus dem Duftbereich der schönfrisierten Patronin. Er brachte mir sogar die dreißig Mark zurück. Doch ich hätte um keine Not der Welt diese drei Goldstücke wieder angerührt. Sie dufteten – wenn auch nur in meiner Einbildung, die ich wie eine quälende Pein in der Magengrube verspürte. Und wer bürgte denn dafür, daß es meine drei Goldstücke waren? Nein, nein, nein!

Der Schutzmann sagte: »Ick darf das Jeld nich behalten. Wat soll ick denn damit machen?«

»Was Sie wollen! Mir ist das wurst.«

Ich vermute, daß er die dreißig Mark zu wohltätigem Zweck verwendete. Und ich hab' ihm ein dankbares Gedenken bewahrt. Um dieses wackeren [83] Mannes willen dachte ich nun wesentlich besser von der Polizei als bisher. Während eines langen Semesters hab ich der Berliner Schutzmannschaft aus Dankbarkeit keinen bösen Streich gespielt, wenigstens keinen unverzeihlichen. Es ist kein Mensch so verstockt, daß ihn ein reiner Glanz des Lebens nicht zu helleren Überzeugungen bringen könnte.

Im neuen Quartier gab's einen neuen Schreck. Ich hatte in meiner schusseligen Alteration und in meiner Abneigung wider heftige Wohlgerüche kein, Zimmer' gemietet, sondern einen ›Salon‹, dessen monatlicher Mietpreis, wie ich erst jetzt erfahren sollte, sechzig Mark betrug. So war mein Monatswechsel innerhalb vierundzwanzig Stunden auf dreiundzwanzig Mark zusammengeschmolzen. Da mußten – es ging nicht anders – die Kollegiengelder dran glauben. Meinem Vater konnte ich doch weder die Geschichte vom ›Salon‹, noch weniger meiner Mutter die dunkle Historie der roten Dame mit dem japanischen Fächer erzählen. Ich schrieb also heim, daß ich – unbegreiflich, wie – eine Hundertmarknote verloren hätte. Es ist eine psychologisch bemerkenswerte Tatsache, daß man um guter Motive willen die bösen Mittel heiligen kann, ohne Jesuit zu sein. Papa ersetzte [84] die verlorene Note wieder und schickte dazu einen kurzen Brief, in dem er meine Mitteilung nicht im geringsten bezweifelte, mir nur den Rat gab, mit Geld und Geldeswert in Zukunft vorsichtiger zu sein.

Vom ›Zauber der Großstadt‹ hatte ich fürs erste genug. Ich wurde ein fleißiger Student, büffelte fest für mein Doktorexamen und schwänzte während des Monats November nur selten eine Kollegienstunde. Auf der Universität hörte ich Geschichte der Philosophie bei Zeller, neuere Philosophie bei Althaus, Philosophie seit Kant bei Harms, Literatur von 1250–1515 und Literatur von 1805–1832 beiScherer, Literatur des Dreißigjährigen Krieges und Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts beiGeiger und zur Aufbügelung meiner politischen Kenntnisse auch ein Kolleg über ›Völkerrecht‹ beiRubo. Denn manchmal baute ich in meinen Träumen an dem Luftschloß: Politiker von Fach zu werden und mich ›jung in den Reichstag wählen zu lassen‹, um mein soziales Programm und meinen ›Staat der in Jugend Glücklichen‹ durchzusetzen. Liebe Torheit der jungen Jahre! Aber lächelt nicht über sie. Wenn sie nicht wäre, käme das Alter nicht zu seinen verdienstvollen Weisheiten.

Aus meinem Berliner Kollegienheft von 1878[85] erseh' ich, daß Professor Rubo in seinem Kolleg über Völkerrecht predigte:


»Jeder Staat gegenüber dem anderen besitzt das Recht auf gegenseitige Achtung. Jeder Staat ist berechtigt, vom anderen zu fordern:

1. Achtung seiner Existenz.

2. Achtung in Bezug auf seine Staatseinrichtungen.

3. Achtung in zeremonieller Hinsicht.

4. Achtung in Bezug auf die sittliche Würde des Staates, d.h. jeder Staat ist berechtigt zu verlangen, daß ein anderer seinen Erklärungen Glauben beimesse.«


Wenn Professor Rubo damals Wahrheit predigte, dann gibt es heutzutage – von der ›Achtung in zeremonieller Hinsicht‹ abgesehen – kein Völkerrecht mehr. Aus dieser anscheinenden Tatsache will ich aber keinen Vorwurf wider die Menschheit erheben. Es gibt doch auch ein Professorenrecht, d.h. jeder Professor ist berechtigt, von seinem Hörer das Kollegiengeld zu verlangen. Er kriegt es aber nicht immer. Und ich muß bekennen, daß ich ad hoc ein schlechtes Gewissen habe, trotz der prompt ersetzten Hundertmarknote.

Papa hatte schon recht: das Berliner Pflaster war nicht nur ›heiß‹, es war auch ›teuer‹.

[86] Um meinen notleidenden Geldbeutel zu schonen, bezog ich ein sehr billiges Zimmer, weit da draußen, wo Berlin ein Ende nahm. Damals! Heut sieht diese Gegend anders aus, alles ist da Großstadt geworden. Aber damals sagten sich in der Charitéstraße die Berliner Katzen gute Nacht, und von meinem Fenster konnte ich über weite, kahle Sandflächen hinausträumen, auf denen sich die ersten Viaduktbogen der Stadtbahn zu erheben begannen, die das ferne Charlottenburg mit Berlin verbinden sollte.

Das dreieckige Stübchen, das ich in der Charitéstraße Nummer 1 – eine Nummer 2 besaß die Straße nimmer – gefunden hatte, war allerliebst und anheimelnd. Es biedermeierte. Ein Lederlehnstuhl, den man nie ansehen konnte, ohne an eine Großmutter mit weißen Schmachtlocken zu denken. Und der Schreibsekretär war ein völlig unergründlicher Organismus von Klappdeckeln und Schubladerin. Und in dem alten, ungeheuren Bett hatte ich zuweilen die mollige Sensation, als schliefe ich in einer riesigen, mit Daunen ausgepolsterten Ofenröhre. Und die Hauspatronin duftete nicht und hatte keinen roten Schlafrock, hatte immer eine blaue Schütze vor dem dunkelbraunen Kleid, war die alte, kleine, wohlgenährte Frau Henkel, [87] lachte freundlich und gutmütig, hatte das Herz auf dem rechten Fleck und in den Adern ruhiges, gesundes Bürgerblut aus Altberlin. Und getreulich hielt sie, was sie mir beim Einzug versprach: »Sie sollen's so jut haben bei mich, det Sie jlooben, Sie wären bei Muttern zu Hause.« Nur eine strenge Bedingung stellte sie: »Mä'chens mitbringen, nee, so wat jibt's nich bei mich!« Diesem Hausparagraphen wurde ich gerecht, und da fand ich an der kleinen, dicken Frau Henkel einen verläßlichen Schutzengel meines Berliner Winters.

Die Treue dieses freundlichen Hausgeistes wurde sehr bald auf eine harte Probe gestellt. Für die ›verlorene‹ Hundertmarknote kam so was Ähnliches wie ein Strafgericht des Schicksals. Doch bevor ich den Jammer dieser Tragödie singe, muß ich von zwei Lustspielszenen berichten.

Ich hatte meinen Empfehlungsbrief beim Reichstagsabgeordneten Schauß abgegeben. Der liebenswürdige, geistreiche, nur ein bißchen spöttisch veranlagte Herr Landsmann nahm mich mit zu einem parlamentarischen Kneipabend. Ich zitterte, voll der großen Erwartungen. Es kam aber wesentlich anders, als ich mir die Sache ausgemalt hatte. Meiner grünen Jugend wegen hielt man eine Vorstellung für überflüssig. In einer gemütlichen [88] Extrastube, um eine lange Tafel herum, saß ein Dutzend politisch berühmter Männer. Ich wußte aber von keinem, wer er war, hatte keinen noch gesehen. Herr von Schauß hatte mich an der Mitte der Tafel an seine Seite genommen wie ein braves Hunderl, das zwischen Menschen auf einem gleichberechtigten Sessel sitzen durfte. Das Gespräch war anregend, aber nicht übermäßig politisch. Heiße Köpfe, die nach der Arbeit verkühlen und sich ausruhen wollten – die tobende Rednerschlacht, die um das Sozialistengesetz geschlagen worden war, lag hinter ihnen. Sie waren müde. Aber manchmal im Verlaufe des ruhigen Abends hörte ich doch ein seines, kluges, interessantes Wort. Und dann fragte ich leise: »Bitte, Herr von Schauß, wer ist das?« Bald stillte er weine Neugier, bald führte er mich durch sarkastische Bemerkungen in die Irre, ließ mich raten und deuten und lachte vergnügt, wenn ich in meiner politischen Unerfahrenheit komisch danebengriff. Und als an der Tafel das Gespräch gerade verstummte, sagte er laut, für alle Anwesenden hörbar: »Na also, junger Freund, wenn Sie bei Ihrer Neugier sich auch noch zu einem feinen Menschenkenner entwickeln wollen, dann suchen Sie einmal zu erraten, wer und was der Herr [89] da ist, der uns gegenübersitzt. Natürlich ist er ein großer, genialer Politiker, sonst dürft' er zu uns nicht herein.« Alle an der Tafel lachten, auch der schwerkorpulente Herr, der uns gegenübersaß. »Also, schauen Sie ihn einmal recht scharf an! Sein politisches Farberl werden Sie schwerlich erraten. Wir sind auch noch nicht draufgekommen, obwohl wir da doch ein bisserl mehr Übung haben wie Sie!« Wieder dieses heitere Gelächter an der Tafel.

Und der Schwerkorpulente sagte in Gemütsruhe: »No freilich, gar so durchsichtig bin ich nicht, wie es Ihnen grad passen möcht.«

Die Heiterkeit der Stimmung erhöhte sich noch. Mir brannte das Gesicht. Und Herr von Schauß sprach lustig weiter: »Betrachten Sie diesen Unergründlichen nur recht genau! Seine klingende Seele ist unentschleierbar. Ein Bild von Sais. Aber suchen Sie wenigstens zu erraten, welchen bürgerlichen Beruf der Rätselhafte ausübt. Ist nicht alles an ihm Gemütlichkeit, Herzensgüte, Frieden und Ruhe? Schaut er nicht aus, als wäre ihm eine Maß Hofbräuhaus viel wichtiger als das Wohl und Wehe des sehr teuren Vaterlandes? Schaut er nicht aus, als könnte man ihn um den Finger wickeln? Wenn sein ausgiebiges [90] Embonpoint einem solchen Versuch nicht widerstreben würde! Wie schwer taxieren Sie ihn? Drei Zentner? Das ist zu wenig. Man könnte an Martin Luther denken ... Sie sind doch Goethekenner? Nicht? ... na also: Hat sich ein Bäuchlein angemäst', et cetera! Und das Köpfl muß man anschauen! So was Gsundes! Da könnt man doch drei Prälatentopf draus machen! Und diese wohlwollenden Handerln! Man ist doch fest überzeugt, daß sie nur geben können, nicht nehmen!« An der ganzen Tafel ein schallendes Gelächter. »Und so was von Fingerln! Kurz, aber dick! Na, was glauben Sie, daß dieser Rätselhafte sein kann? Ein friedsamer Bräumeister? Meinen Sie? Oder ein wohlgenährter Bäck aus Feldmoching? Ja, was Heimatliches muß er schon haben für Sie!«

Ich war in namenlose Verlegenheit geraten und sah mit stehenden Augen an dem Spötter hinauf.

Da sagte Herr von Schauß: »Strengen Sie Ihr Köpfl nicht an! Sie erraten's nicht! Das ist der neue Finanzminister von Bayern.«

Ja! Wie der Reichstagsabgeordnete Schauß den Exzellenzherrn von Riedel da geschildert hatte, so ähnlich sah er aus. Das hinderte aber nicht, [91] daß er ein hervorragender Staatsmann war, der seiner Heimat zum Segen wurde, und dazu ein prächtiger Mensch – was er schon dadurch bewies, daß er zu dem etwas derben Spaß gemütlich und mit Nachsicht der Taxen lachte. –

– Als der Herbst noch milde war, lernte ich im Tiergarten eine junge Gouvernante kennen, ein richtiges schnodderigfideles Berliner Kind, das mir späterhin sehr amüsanten Unterricht im Spreeländer Dialekt erteilte. Sie machte es dabei wie die Lateinprofessoren, welche die Lehre von der Konjugation mit amo beginnen – »Ick liebe dir!«

Eines Morgens, der blau und sonnig leuchtete, saßen wir im Tiergarten bei gelbem Blätterfall auf einer grünen Bank. Vor uns in der Reitallee erschien ein eleganter Sportsmann auf feurigem Goldfuchs. Einer in jenen Jahren, die man die besten nennt, breitschulterig, nicht allzu groß, aber eine feste, schneidige Gestalt, das interessante Gesicht durch einen rötlichen Spitzbart verlängert. Das Gouvernantchen kicherte: »Det is mein Verehrer!« Sie selbst umgrenzte den Sinn dieses Wortes: der elegante Reiter suche bei seinen Spanerritten gerne die Bank auf, wo sie mit den Kindern wäre, grüße freundlich, verhielte das Pferd und schwatze lustig mit ihr.

[92] Die Sache sah ungefährlich aus. Ich hatte aber doch die Witterung eines Nebenbuhlers. Der Übermutsteufel saß mir gleich im Genick – und als der stramme Reiter herankam und vertraulich grüßte, zog ich parodistisch den Hut bis auf den Boden, und nachdem ich mich wieder aufgerichtet hatte, schlang ich zur Dokumentation meines Besitzrechtes den Arm um den Hals der Gouvernante und küßte sie auf den verdutzten Schnabel. Der Reiter schaute sehr verwundert drein. Lachend rief ich: »Ja, ja, es ist schon so!« Und küßte das Mädel noch einmal. Als ich das erledigt hatte, verschwand der Reiter in gestrecktem Galopp.

Ein paar Tage später gab ich meinen Empfehlungsbrief bei Hans Hopfen ab. Ich wurde in das schöne, ernste Studio des Dichters geführt. Auf dem Schreibtisch lag ein Manuskript, eine bis zur Hälfte beschriebene Seite. Etwas wie erfurchtsvoller Schauer rührte sich in mir. Ich hielt geduldig auf der Stelle aus, auf der ich stand; doch ums Leben gern hätt' ich den letzten Satz gelesen, den der berühmte Dichter da geschrieben hatte. Und neben dem Schreibtische stand eine wundervolle Marmorbüste seiner schönen verstorbenen Frau.

Hans Hopfen kam. Und der Dichter, der [93] da nun vor mir stand, das war jener elegante Reiter auf dem feurigen Goldfuchs! Ich glaubte vor Scham in den Boden versinken zu müssen und dachte dabei mit Gewissenspein an die gute Lehre meiner Mutter: »Bub, sei nett und manierlich!« Auch Hopfen schien mich wieder zu erkennen. Erst sah er mich mit seinen blitzenden Augen schweigend an, dann schmunzelte er ein bißchen und lud mich zum Sitzen ein. Vom Tiergarten schwieg er; ich natürlich auch. Heiter und herzlich sprach er mit mir und behielt mich eine ganze Stunde. Die Qual meiner Verlegenheit mag es verschuldet haben, daß mir von dieser Unterredung keine Silbe im Gedächtnis blieb. Nur das letzte Wort bei der Türe hab' ich mir gemerkt. Hopfen reichte mir da die Hand und sagte lächelnd: »Adieu, lieber Ganghofer! Ich kenne Ihren Vater und schätze ihn sehr. Und kann ich Ihnen was nützen, so dürfen Sie in jeder Stunde zu mir kommen. Aber besser, als die Hilfe von Fremden, ist's immer, wenn man selber die Ellbogen tüchtig rührt. Sie sind ein junger, fester Kerl! Glück auf! Jung sein, das ist was Schönes. Aber auch der langsam Alternde hat noch ein paar Rechte ans Leben, ernste und heitere. Die Jugend, die nie denken kann, daß sie [94] auch einmal älter wird, negiert das leicht. Und manchmal auf nicht sehr liebenswürdige Weise. So was kann wehtun. Ich besorge, Sie werden das später auch einmal an sich selbst erfahren. Na, bei Ihnen hat's noch lange hin! Adieu! Und auf Wiedersehen! Ich habe mich sehr gefreut!«

Mit einem unbeschreiblichen Gefühl der Begossenheit trat ich auf die Straße. Und während meines ganzen Berliner Winters fand ich nimmer den Mut, bei Hans Hopfen die Glocke zu ziehen. Erst in späteren Jahren, als er neu vermählt war, sahen wir uns wieder, in München, im Gebirge, am Starnbergersee. Jede Stunde, die er mir schenkte, wurde für mich zu einer wertvollen Freude. Er blieb mir freundlich gewogen, bis er die blitzenden Augen schloß. Und meine Flegelei vom Berliner Tiergarten gehört zu den wenigen Dingen meines Lebens, die ich bereue.

Als ich von jener pädagogischen Qualstunde bei Hans Hopfen heimkam in meine Bude, verbrannte ich den noch unabgegebenen Empfehlungsbrief an den bayerischen Gesandten. Man kann niemals ahnen, wie solche Besuche ausfallen!

Und nun will ich von jener rächenden Schicksalstragödie berichten, die mich fast für einen [95] ganzen Monat vom Berliner Leben völlig ausschied und mich in meiner dreieckigen Bude zum knurrenden Eremiten machte.

Am 5. Dezember hielt Kaiser Wilhelm, noch immer nicht völlig von seinen Wunden genesen, feierlichen Einzug in Berlin, um die Regierungsgeschäfte wieder zu übernehmen. Die ganze Stadt war auf den Beinen. Fahnen und Flaggen wehten um alle Dächer und Fenster, die grauen Straßen waren verwandelt in leuchtende Farben. Über die Länge der Linden hin, vom Brandenburger Tor bis zum kaiserlichen Schlosse bildeten die Turner und die Berliner Studentenschaft Spalier. Ein Jubel, der wie brausender Sturm, wie das Echo rollenden Donners war! Man hatte Tränen in den Augen und schrie seine deutsche Freude aus tiefster Seele heraus, als hinter den funkelnden Spitzreitern die offene, sechsspännige Kaiserkarosse vorüberrollte und dieses ehrwürdige weiße Haupt die jubelnden Menschen grüßte.

Der Kaiser trug den rechten Arm noch in schwarzer Binde. Da mag die Begeisterung der Menge dem kaum Genesenen mühsame Minuten bereitet haben. Liebe ist immer egoistisch. Und eines der selbstsüchtigsten Dinge des Lebens ist die tobende Zärtlichkeit der Massen. Bei Tücherwehen [96] und Hüteschwenken ging ruhelos ein dichter Regen von kleinen Lorbeerzweigen und Kornblumensträußchen über den Wagen hin, den geduldig lächelnden Kaiser unter Blau und Grün beinah begrabend. Und wie eine schwarzgraue Riesenwoge, anbrandend gegen Bäume und Häuser, drängte die Menge, als der Wagen mit seinem Gefolge von Prinzen und Fürstlichkeiten verschwunden war, über die Linden dem Opernplatz entgegen. Eine vieltausendköpfige Menschenmasse stand hier dicht gedrängt, jeder einzelne fast unbeweglich eingekeilt. Mit wühlenden Ellenbogen hatte ich mir einen günstigen Ausguck auf dem Sockel einer Laterne erkämpft. Der nie verstummende Jubel wuchs immer zu mächtigem Rauschen an, so oft der Kaiser sich auf dem Balkon oder am Eckfenster zeigte. Man sang die ›Wacht am Rhein‹, sang ›Heil dir im Siegerkranz‹ und ›Deutschland, Deutschland über alles‹ – und wie diese vielen Tausende von singenden Stimmen ineinander wogten, mit verschiedenem Takt in die Ferne schwammen, sich verloren, sich fanden und wieder auseinander gerieten, das hatte bei allem dröhnenden Lärm was Geheimnisvolles, war ergreifend zu hören und bekam doch auch in brüllender Dissonanz zuweilen einen komischen Zug. Den erfaßten [97] die witzlustigen Berliner gleich, die mich umstanden. Und inmitten aller Begeisterung gab es sehr häufig Gelegenheit zu lustigem Gelächter. Könnte man solch ein Sprühfeuer des Volkswitzes nur im Gedächtnis behalten! Aber nach allem johlenden Vergnügen war immer gleich der ehrliche Jubel wieder da, wenn die Menschenmenge einen von ihren politischen Lieblingen gewahrte. Man sah den Kronprinzen Friedrich und den Prinzen Friedrich Karl, sah den dunklen schmächtigen Moltke mit dem blassen Erzgesicht und sah die siegreichen Fahnen defilieren. Vor den Augen des Volkes war eine große Zeit für kurze Stunden wieder aufgeschlagen wie ein bewegliches Bilderbuch. Nur die weiße Riesengestalt des Fürsten Bismarck war nicht zu sehen. Der Kanzler lag, ein Leidender, in Friedrichsruhe. Und die Berliner sagten, der Ärger mit dem Reichstag hätte ihm die Galle krank gemacht.

Ich hielt auf dem Posten meiner Neugier bis zum Abend aus, bis der große Platz sich schon zu leeren begann und die ersten Lichterschlangen hinglitten über die illuminierten Häuser. Unter den Linden wollte ich mir nach dem durchhungerten Tage was Stärkendes kaufen. Aber da fuhr [98] mir ein kalter Schreck durch die schiefgedrückten Knochen. Mein Portemonnaie war weg – mit meinem ganzen Vermögen, mit den achtzig Mark, die von meinem Dezemberwechsel noch übrig waren! Ich klopfte mich ab vom Hals bis zu den Stiefeln. Weg war's. Wie ein Dachshund, der seinem geliebten Herrn nachspürt, schnüffelte ich suchend im Leutgewühl unter den Linden hin und her. Weg war's! Vor dem matt erleuchteten Eckfenster des heimgekehrten Kaisers suchte ich in Spiralen den ganzen Opernplatz ab. Nichts zu finden. Ich hatte kein Auge mehr für die ausbrennenden Glanzwunder der Illumination, sondern rannte auf die Polizei, auf das Fundbureau. Der Beamte suchte mich durch die Mitteilung zu trösten, daß es nicht nur mir allein so ergangen wäre, und daß mich für die Zukunft eine zujeknöppte Tasche vor ähnlichem Mißgeschick und vor langen Fingern bewahren würde.

Im Herzen noch eine letzte Hoffnung, rannte ich durch den festlichen Glanz des Abends heim. Vielleicht hatte ich das Portemonnaie zu Hause liegen lassen? Schweißtriefend langte ich in meiner dreieckigen Bude an und suchte, suchte, suchte. Weg war's. Die gute Frau Henkel in ihrem Erbarmen fing gleich zu weinen an. Ich fluchte.

[99] Noch am gleichen Abend schrieb ich an die Eltern und berichtete das bittere Malheur.

Nach drei Tagen – inzwischen hatte meine silberne Uhr mich leidlich ernährt – kam ein kummervoller Brief der Mutter und von Papa ein Zettel jenes gelblichen Aktenpapiers, das ich kannte. Auf diesem Zettel stand in der festen Handschrift meines Vaters der berühmte Vers:


»Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht,

Und wenn er auch die Wahrheit spricht.«


Die ›verlorene‹ Hundertmarknote und Professor Rubo, der mir gratis das Völkerrecht dozieren mußte, waren gerächt. So waltet das grausame Schicksal. Von dem man immer behauptet, daß es ähnlich wie die Themis blinde Augen hätte.

Vaters poetische Antwort hatte auf der Kehrseite des Zettels noch diese prosaische Nachschrift: »Sieh zu, wie du durchkommst! Vor dem 1. Januar kriegst du nichts! Machst du Schulden, so mußt du sie selbst bezahlen.«

Ich saß als ein zernichtetes Menschenkind im Lederlehnstuhl meiner dreieckigen Bude und starrte feuchten Blickes und ratlos auf die vielen leeren Schubfächer des Biedermeiersekretärs. Und [100] Frau Henkel brachte beim Anblick meines stummen Jammers die blaue Schürze nimmer von den Augen.

So endete für mich der Begeisterungsjubel des 5. Dezembers.

Was tun? Seit Zeus diese beiden geflügelten Worte sprach, haben schon Millionen Menschen sie ihm nachgesprochen in Stunden ratloser Sorge.

Von einem Universitätskameraden borgen? Dann mußte ich im Januar bezahlen und kam abermals zu kurz. Bücher verkaufen? An Büchern hatte ich nur, was ich zur Arbeit unentbehrlich brauchte. Stunden geben? Wo findet man gleich was? Und da muß man in hundert Gassen herumrennen, schleift die Stiefel durch und wird doppelt hungrig. Und ich brauchte meine Zeit für meine Arbeit.

Lyrische Gedichte verkaufen? Welches Rindvieh gibt was dafür? Und meine Rolla-Übersetzung mußte ich erst ins Reine schreiben.

Es blieb kein anderer Ausweg, als einen Teil meiner Garderobe zu versetzen. Dazu mußte ich aber meine Garderobe erst wieder haben! Denn ich hatte sie aus Freundschaft und der Kunst zuliebe weggeborgt bis auf den einen Anzug, den ich trug. Am Wallnertheater, wo damals der [101] lustige Helmerding noch spielte, hatte ich als ›naiven Liebhaber‹ meinen Münchener Freund, jenen blonden ›langen Oskar‹ vorgefunden, der beim Rosenauer Sommernachtstraum den Demetrius spielte. Oskar mimte nun fast täglich in einer anderen Rolle und brauchte dazu eine abwechslungsreichere Garderobe, als sein Koffer sie aufwies. Was Neues konnte er sich nicht kaufen, weil er bei einer Gage von hundert Mark ohnehin immer in Geldschwulitäten war. So borgte ich ihm aus meinem Kleiderkasten, was er brauchen konnte. Und merkwürdigerweise konnte er alles brauchen, obwohl er um einen halben Kopf länger war als ich. Aber nun mochte der lange Oskar seine naiven Liebhaber meinetwegen im Hemde spielen – ich brauchte meine Garderobe, um essen zu können. Als ich zu ihm kam, wollte er heim Klang meiner Stimme die Zimmertüre nicht aufsperren. Mir wurde schummerich, wie der Berliner zu sagen pflegt. Und als ich mir den Eingang mit rührendem Appell an die heiligen Pflichten der Freundschaft erzwungen hatte, gab mir der lange Oskar meine Röcke, Westen und Hosen in einer Form zurück, in der ich sie mit der hohlen Hand umschließen und transportieren konnte: in Gestalt von sieben Versatzzetteln. Das blonde [102] Ungeheuer sah bei meinen Vorwürfen bekümmert drein und wies mir zu stummer Entschuldigung ein völlig leeres Portemonnaie. Nur ein Uhrschlüssel war drin, der zu einer Uhr gehörte, die der lange Oskar schon lange nicht mehr hatte. Das Ende dieser aufregungsvollen Szene war, daß wir alle beide lachten. Doch es gibt ein Lachen, das schmerzlicher ist als die heißeste Träne der Pein.

Jetzt war mein Jammer erst ganz und fertig geworden. Die gute Frau Henkel hätte mir gern geholfen. Aber sie war in mehr als bescheidenen Verhältnissen und mußte selbst jeden Knopp dreimal umdrehen. Sie wollte mir jeden Morgen das Frühstück geben, am Abend den Tee, mit heißem Wasser nach Belieben, ein Butterbrot dazu, und ›vor dem Neetichsten‹ borgte sie mir zehn Mark.

Das Mittagessen? Ein Traum! Eine Fatamorgana! Und gerade damals stand ich in einer Epoche des jugendlichen Heißhungers, in dem ich fünf Portionenboeuf à la mode mit Knödeln auf einen Sitz verschlingen konnte.

Nochmal an die Mutter schreiben? Mein Elend mit rührenden Farben malen? Ein so gutes Herz die Mutter hatte – aber was Papa nicht haben wollte, das tat sie nicht. Vor dem [103] ersten Januar durfte ich auf Geld nicht rechnen. Aber eines wußte ich: am 24. Dezember wird eine große, große, große Schachtel kommen, so groß, um mit ihrem Inhalt sieben Holzknechte für eine Woche satt zu machen.

Glaubt mir: ich habe mich als kleiner Junge nie so zitternd auf das liebe Christkindl gefreut, wie ich mich damals als dreiundzwanzigjähriges Mannsbild nach diesem 24. Dezember sehnte.

Na also! Etwas anderes blieb jetzt nicht mehr übrig, als mich vom 9. bis zum 24. Dezember mit Geduld und Beharrlichkeit durchzuhungern. Und um so was zu erleben, reist man von München nach Berlin! Sehnsucht der Jugend! Was bist du? Manchmal ein großer Unsinn.

Franz von Kobells tröstendes Sprüchlein fiel mir ein: »Wackelt's aussi, wackelt's eini aa!« Dabei kam ich zur ruhigen Überzeugung, daß diese ›Prüfung‹ vielleicht ein gar nicht zu scheltendes Erlebnis werden könnte. Erstens würde ich jetzt sehr viel zu Hause bleiben – mit Ausnahme der Kollegstunden fast immer. Und da kann man arbeiten wie ein Narr! Dann hatte ich doch jetzt auch die Gelegenheit, aus eigener Erfahrung kennen zu lernen, was ›Hunger‹ ist – nicht Hunger, der immer zu essen findet, sondern Hunger, dem aussichtslos [104] die Schwarten krachen. Und das war doch für einen jungen Poeten, der das Leben von allen Seiten kennen lernen soll, eine sehr nützliche, instruktive Sache. Alles im Leben hat sein Gutes. Man muß es nur richtig ansehen.

Ein paar Rächte nach durchhungerten Tagen brauchte ich, um die Rolla-Übersetzung ins Reine zu schreiben. Dann trug ich das seingeschriebene Manuskript – ich besorge, ein Freitag war's – zu Paul Lindau und schwor darauf: jetzt bin ich gerettet! Ich wurde nicht vorgelassen. Doch mein flehender Blick schien dem jungen, bildhübschen Dienstmädchen, das mir diese Botschaft verkündete, rührend aus Herz zu greifen. Es ließ die Flurtüre halb offen, verschwand – und in der schmalen Türspalte erschien ein hurtiger Mannskopf mit dunklem Kraushaar, mit einer Feder in der Hand und mit fabelhaft gescheiten Augen hinter den Gläsern eines großen Hornzwickers, der schräg auf einer kräftigen Nase ritt. Ich stand vor dem Autor der berühmten ›harmlosen Briefe eines deutschen Kleinstädters‹, vor dem Allmächtigen der ›Gegenwart‹.

Er sagte mit rasender Schnelligkeit: »Ich kann Sie nicht empfangen, ich habe Redaktionsschluß. Was wollen Sie? Rasch!« [105] Mir schnürte das Tempo dieser Worte die Kehle zu. »Ich habe ...«

Weiter kam ich nicht. Paul Lindau hatte das Manuskript in meiner Hand erspäht. Er nahm es. »In Gottesnamen! Geben Sie her! Man wird Ihnen schreiben. Adieu!« Die Türe fiel ins Schloß und drinnen wurde ein Schlüssel um gedreht oder eine Kette eingehakt – es war ein Geräusch, das an den schweren Augenblick erinnerte, in welchem Adam das Paradies verlassen mußte.

Aber ich dachte: »Wenn er nur ein bißchen ins Manuskript hineinguckt! Dann liest er schon weiter. Und nach zwei, drei Tagen hab' ich Brief und Honorar!«

In brennender Sehnsucht wartete ich an jedem Morgen auf die Post. Tag um Tag verging. Paul Lindau blieb so schweigsam, wie Moltke sein konnte. Und niemals wieder hab ich mein Manuskript gesehen. Wenn im Hause Paul Lindaus nicht von Zeit zu Zeit ein großes Reinemachen in herrenlosen Manuskripten abgehalten wurde, muß er meine Rolla-Übersetzung von 1878 noch heute besitzen. Ein Dutzend Jahre später, während ich zur Eröffnung des Lessingtheaters in Berlin war, erzählte ich ihm an einem lustigen Abend im Hotel de Rome diese Geschichte unserer [106] ersten Begegnung. Er lachte. Doch als ich ihm schilderte, welch' schmerzhafte Wirkung sein Schweigen auf meinen knurrenden Magen übte, sagte er ernst und herzlich: »Ach Gott! Sie Ochse! Warum haben Sie mich denn nicht angepumpt!« – Die besten Gedanken kommen immer zu spät. Und die redlichste Hilfsbereitschaft der Menschen bleibt in den dringendsten Fällen ein Treppenwitz.

Ich hungerte. So ausgiebig, daß ich den Hosenriemen, den ich damals nach bayerischer Sitte trug, an jedem Morgen um ein Löchelchen engerschnallen konnte. Dabei brachte ich meine Doktordissertation zu Ende und begann ein Theaterstück zu schreiben, meiner knurrenden Stimmung entsprechend nicht etwa eine gallige Tragödie, sondern ein romantisches Lustspiel in Versen, für das ich den Stoff jener mit Siegfried Mundy verschwundenen Preiskomödie aus der Versenkung herausholte.

Während meiner zweiten Hungerwoche, die ich mir durch die Skandierung fünffüßiger Jamben verkürzte, lernte ich ein paar prächtige, waschechte Urberliner kennen. In den Berliner Wirtshäusern brauchte man das Brot nicht zu bezahlen, Stulle und Weißbrot gingen gratis drein. Und da besuchte ich an jedem Vormittag um die elfte und zwölfte Stunde herum eine Weißbierkneipe in der [107] Schumannstraße – nahe der Friedrich-Wilhelmstädtischen Operettenbühne, die sich später in das gloriose Deutsche Theater verwandelte – ließ mir für zwanzig Pfennige eine ›kühle Blonde‹ reichen, in der eine Zitronenscheibe schwamm, und fraß dazu den ganzen Brotkorb leer, manchmal auch das Körbchen eines unbehüteten Nachbartisches. Ich wurde ein Dorn für die Augen des Wirtes, tat aber immer, als sähe ich diese mißmutigen Blicke nicht. Der Gedanke lag nahe, jeden Tag einen anderen Wirt mit meiner uneinträglichen Kundschaft zu beglücken. Doch jene Weißbierkneipe in der Schumannstraße hatte für mich einen lustigen Haken, der mich festhielt. An einem Fenstertische versammelte sich hier alltäglich eine kleine Gesellschaft von alten wohlgenährten Berliner Herren zum Frühschoppen: Meister des Handwerks, Kaufleute der Vorstadt, bescheidene Rentiers. Und manchmal erschien auch der alte, saftvolle Komiker Scholz. An diesem Stammtisch der Ureingesessenen ging es so fidel und gemütlich zu, daß ich auch als unbeteiligter Außenseiter nicht aus dem Lachen herauskam. Die Unterhaltung, die ich da mit anhörte, wurde zuweilen ein bißchen derb. Aber ich stammte doch aus einer Heimat, in der man ebenfalls nicht zimperlich war. So konnte mich der [108] trieblustige Genius loci aus der Heimat der kühlen Blonden nicht verdrießen. Ich lachte mit, so oft die Herren des Stammtisches Ursache zum Lachen hatten. Es gab da typische Redensarten, wie sie in Bayern die Tarockspieler haben. Aber diese Scherze waren lange nicht die besten. Das Hübscheste flatterte immer aus dem flinken, durch alle Tagesgeschichte springenden Diskurs heraus. Wie seine Wiesel hüpften die drolligen und spöttischen Worte auf, an denen ich nie was Anmaßendes spürte, nie was Aufdringliches. Es war echter, rechter, gesunder Humor. Die Getreuen dieses Stammtisches waren nicht nur sehr kluge Männer, sie waren auch feste, klare, bei aller Spottlust heiter versöhnliche, gutherzige und wohlwollende Menschen, die mir gefielen – mehr noch: die ich zu lieben begann.

Eines Mittags sah der Wirt mich freundlich an, obwohl ich just die lange Stulle meines Tisches erschreckend verkürzte. Und von den Herren des Stammtisches guckten immer wieder ein paar zu mir herüber. Plötzlich fragte einer: warum ich denn immer so allein säße, und ob ich nicht lieber Gesellschaft hätte? Dann sollte ich mich doch zu ihnen setzen. Ich trug meine kühle Blonde hinüber. Die Herren machten mir in [109] ihrer Mitte Platz und schoben mir gleich die drei Brotkörbe des Stammtisches hin. Lachend merkte ich, daß sie meine brotgefährliche Zwangslage erraten hatten. Aber man sprach nicht davon. Und als die Herren aus meinem Zungenklang den Süddeutschen heraushörten, wurden sie riesig nett. Dieses gleiche freundliche Entgegenkommen, eine fast an Zärtlichkeit grenzende Vorliebe für den Deutschen aus dem Süden, hab' ich späterhin immer wieder erlebt, nicht nur in Berlin, überall in Norddeutschland. Wenn es auch umgekehrt so wäre, und wir Bayern hätten alle verständige Ursache dazu, dann müßte dauernd der lieblichste Völkerfrieden innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches wohnen. Komm' ich heute nach dem Norden, so wirkt ja wohl auch mein Name ein bißchen mit und die Art meiner Arbeit, um mir freundliche Gesichter zu gewinnen. Aber damals, als junges Nichts, in meinem Berliner Studentenjahr, da erfuhr ich das schon so: man brauchte in einem Hause, das ich betrat, und in einer Gesellschaft, in die ich hineingeriet, nur zu wissen, aus welcher Heimat ich kam, und ich wurde herzlich aufgenommen, freundlich behandelt, fast verhätschelt. Die Stammtischherren der Weißbierkneipe in der Schumannstraße machten den Anfang [110] damit. Und reizend war der gemütliche Takt, mit dem sie meiner unerörterten Hungersnot zu Hilfe kamen. Offenkundig bot mir keiner was an, den kostenfreien Brotkorb ausgenommen. Sie taten immer so, als bestellte ich mir nur deshalb nichts, weil mein bayerischer Magen an die Berliner Küche nicht gewöhnt wäre – es gab da auch wirklich ein paar Dinge, vor denen mir gruselte, zum Beispiel Kaltschale und Chokoladesuppe. Und da machten die Herren hartnäckige Versuche, mich ›für die Berliner Kochkunst zu gewinnen‹, bestellten sich allerlei feinduftende Spezialitäten ihrer heimatlichen Frühstücksküche und nötigten mich, recht ausgiebig davon zu kosten. Ich gabelte von vielen Tellern so viele Bröckelchen weg, daß es fast immer eine ganze Mahlzeit ausmachte. So ging es Tag für Tag, dieser lachenden Herzlichkeit gegenüber, kostete' ich ohne ein Gefühl der Scham, schluckte mit Appetit, empfand verschwiegene Dankbarkeit, spielte aber stolz den Heuchler und sprach: »Ja ja, freilich, sehr gut! Aber ich bin's halt net gwöhnt. Portionweis brächt i so was net nunter.« Die Herren erlebten aber doch den Triumph, mich als völlig Bekehrten zu sehen. Denn nach dem ersten Januar, als in meinem neugekauften Geldbeutel wieder angenehme Hochflut [111] war, kam ich in jeder Woche ein paarmal zum Frühschoppen in die Schumannstraße, bestellte doppelte Portionen, schluckte fest mein Eisbein und andere Berliner Köstlichkeiten runter und amüsierte die Tafelrunde mit bayerischen Späßen und mit gesunden Schnaderhüpfeln, über die meine lieben Altberliner dicke Tränen lachten.

Die Gesichter und Gestalten dieser zehn freundlichen Menschen sind mir so deutlich im Gedächtnis geblieben, daß ich sie noch heute zeichnen könnte. Und begegnet mir jetzt zuweilen auf Reisen, im Hotel oder im Gebirge eine von den nicht seltenen Radau-Schnauzen aus Neuberlin, dann denk' ich mir immer: »Quassel du nur! Du machst mich nicht irre. Du bist ja gar kein Berliner. Die richtigen Berliner, die echten, kenn' ich doch!«

Nach der Frühschoppenstunde in der Schumannstraße kam mir daheim in meiner dreieckigen Bude der Abendtisch, den die gutherzige Frau Henkel mit Tee und Butterbrot auf Kreide deckte, immer wie seufzende Armut vor. Die brave Frau trug auch das Ihrige dazu bei, um diese schwermütige Armeleutstimmung noch grauer zu machen. Wenn sie die breitgeschnittene Butterstulle und das viele heiße Wasser brachte, drehte sie immer gleich das Gesicht auf die Seite, damit ich die [112] rinnenden Bächlein ihrer Rührung und ihres Erbarmens nicht sehen sollte.

Ihren Butterflößen, wie den Brotkörben und Kostproben der Weißbierkneipe zum Trotze, wurde ich bis zum 23. Dezember sehr mager, wurde leichter um ein Dutzend Pfunde. Wie wäre mir's erst ergangen ohne meine freundlichen Nothelfer? Ich hätte mit dem Suppenkaspar im Struwwelpeter konkurrieren können.

In zitterseliger Spannung sah ich den 24. Dezember anbrechen. Er verging. Die große, große, große Schachtel blieb aus. Und es kam ein einsamer, dunkler, trauriger Weihnachtsabend, einer, der begossen wurde mit den Tränen eines dreiundzwanzigjährigen Heldenjünglings. Ich schämte mich vor mir selbst, aber ich mußte heulen und konnte mich nur mit dem Gedanken trösten, daß auch die großen Heroen bei Homer nicht ohne Tränen sind. Und die gute Frau Henkel heulte mit, ganz herzzerbrechend. Dieser nassen Tragödie der Gottverlassenheit folgte ein Satyrspiel. Ich geriet mit meiner braven Hausfrau in einen schreienden Zank, weil sie sagte: »Nee, wat müssenSie aber ooch vor 'ne unjemietliche Olle haben!« Über meine Mutter ließ ich so was nicht sagen. Und die voreilige und unzutreffende Meinung der Frau[113] Henkel konnte ich bald durch überzeugende Beweise widerlegen. Denn die Schachtel – viel größer noch, als ich sie mir erträumt hatte, traf am 27. Dezember ein, war rechtzeitig in München aufgegeben worden und hatte sich nur bei dem Weihnachtsrummel auf der Post verspätet. Ich führte um die Schachtel herum einen Indianertanz meiner Freude auf, und die dicke lachende Frau Henkel schlug vor Staunen die Hände über dem Kopf zusammen, als sie diese Lawine von Backwerk sah, diese Kaskade von Knackwürsten und geselchten Ripperln, diesen Stoß von Wäsche, den neuen Anzug und ganz zu unterst in der Schachtel das siebenmal petschierte Kuvert mit dem Januarwechsel und einer Hundertmarknote als Weihnachtsgeschenk.

»Nee, so wat, na aber so wat! Nee, wat haben aber ooch Sie vor'n herzensjutes Muttchen!«

So – berliggo berloggo – ändern sich die Anschauungen der Menschen.

Noch am gleichen Tage holte ich die, Theaterkostüme des langen Oskar' und meine silberne Uhr aus ihrem Pumpverließ und vergönnte mir einen kreuzvergnügten Abend.

Mit dem Datum des 28. Dezember steht nach [114] einer dreiwöchentlichen liedleeren Pause wieder ein Liebesgesang in meinem Tagebuch:


Ein Blick in dein Auge, ein einziger Blick

In dein fröhliches, lachendes Auge,

Und selig entschieden war mein Geschick, usw.


Jubelnde Daktylen! Aber wer war die Dame? Alles Erinnern schweigt. Das war wohl keine sonderlich glühende Sache, und sicher keine unglückliche, denn nach diesem Liede zeigt mein Tagebuch wieder eine vierwöchentliche Lücke ohne zärtlichen Herzensschrei.

Die Wogen des Berliner Lebens nahmen mich Reichgewordenen auf und begannen mich zu schaukeln. Ein leidenschaftliches Theatergerenne und ein als Wichtigkeit empfundenes Literaturgepritschel nahm seinen Anfang. Die Geschehnisse kamen jagend heran, eines ums andere, bunt, verwunderlich, sonnenhelle, schattendunkel, fröhlich, tragisch und grotesk. Euch werden sie lächeln und lachen machen – ich empfand sie als großes Erleben.

[115]
3.
III.

Eine der ersten Großtaten meines neuen, frischgefüllten Portemonnaies war die Erwerbung eines Zylinderhutes. Dieser Kauf war eine Trutztat; man ist als Dreiundzwanzigjähriger immer gerne zum Schillerschen in tyrannos bereit. Ich wollte die Angströhre als Mutrohr gebrauchen, wollte kulturell wirken, gegen eine Berliner Unsitte ankämpfen. Man hatte mir gesagt, daß man zu Berlin in der Neujahrsnacht auf der Straße keinen Zylinderhut tragen dürfe. Der Hut würde eingetrieben, der Träger des Hutes geprügelt. Drum kaufte ich mir den Zylinderhut, sagte: »Jetzt bin ich neugierig!«, setzte die schwarze Kanone auf und ging um Mitternacht unter den Linden spazieren. Wer mir begegnete, brüllte: »Hut, Hut, Hut, Hut!« Ich wurde aber weder geprügelt, noch wurde mir der schöne Zylinderhut eingetrieben.

[116] Freilich, der linke Ärmel meines Überrockes wurde bedenklich in der Naht gelockert, und schließlich hatt' ich eine offene Weste und nur noch einen halben Hosenbund, den der heimatliche Riemen gerade noch ausreichend festzuhalten vermochte. Bis zu meinem neuen Zylinderhute kamen sie nicht hinauf. Da waren meine Fäuste und mein Hakenstock dazwischen, mit dem ich die Hochquarten der Regenschirme auffing, als wäre der Platz vor dem Brandenburgertor ein Fechtboden. Glücklich und ziemlich unversehrt brachte ich den »Hut, Hut, Hut« gegen 1 Uhr morgens wieder heim in die Charitéstraße. Dieser Sieg wieder die Narretei der Jahreswende machte mir eine so rasende Freude, daß ich daheim den Zylinderhut auf den Lederlehnstuhl legte und mich draufsetzte. Das vertrug er nicht. Er war eine Leiche. Und lachend schlief ich ins neue Jahr hinein.

Der Januar begann mir unter dem Zeichen des Theaters. Jetzt, da ich mir seine Galerieplätze leisten konnte, rannte ich fast jeden Abend zu irgend einer Vorstellung, bald in klassische Luft, bald in die heitere Vorstadt. Auf der Wilhelmstädtischen Bühne war wenig los, immer ›der kleine Herzog‹ mit dem Tenoristen Swoboda und der [117] ›Doktor Klaus‹, hinter dem ›die Lachtaube‹ kam, mit der entzückenden Ernestine Wegner, mit Georg Engels und Blencke. Auf den Brettern des Residenztheaters, dessen Stern die Claar-Delia war, wurden hundertmal ›die Fourchambaults‹ gegeben, und dann gastierten Friedrich Haase und die Niemann-Raabe in ›Mademoiselle de Belle-Isle‹. Prachtvoll war es damals in der Oper: Wachtel, Niemann, Betz, die Mallinger, Lilli Lehmann, die Tagliana! Stimmen wie Götterkehlen. Und Niemann ein Schauspieler, wie ich außer dem Münchener Kindermann auf den Brettern der Oper keinen mehr gesehen habe, welcher Mensch und Künstler so ganz gewesen wäre. Vom ›Himmel‹ der Kgl. Oper trug ich viele schöne Trunkenheiten mit heim in meine dreieckige Bude.

Im Kgl. Saaltheater gastierte damals während des ganzen Winters eine französische Truppe, die mir in ihren schauspielerischen Äußerlichkeiten gefiel, ohne mir sonderlich zu imponieren. Sie wurde von Presse und Publikum auf das herzlichste kajoliert. Wie man da über den Rhein hinüberklatschte und linde Pflaster auf brennende Wunden legen wollte, das hatte was Unerquickliches. Ich liebe die Franzosen. Aber ich mag's nicht sehen, daß der Deutsche gar zu gern ein französischer [118] Affe ist. Mit der Kraft sind wir weiter gekommen, als mit der gutmütigen Liebedienerei. Man merkt das in Elsaß-Lothringen, das heute undeutscher ist als je. Und damals in Berlin war's guter Ton, nett gegen diese französischen Komödianten zu sein. Ein hoher deutscher Adel und die Finanzaristokraten füllten den Saal der Franzosen, applaudierten mit Wohlwollen und ließen im Kgl. Schauspielhause Schiller, Goethe und Kleist vor leeren Logen spielen.

Freilich, da gaben sie die ›Frau ohne Geist‹, bis sie ganz verdummte. Und allzu glänzend wurde auch in klassischen Stücken nicht gemimt. Es fehlte dramaturgisch ein schöpferischer Kopf eine formende Faust. Nach der Ernennung eines Bühnenleiters machten da mals die Berliner den Witz: »Bei der Wahl eines neuen Direktors ist das Schauspielhaus auf den Deetz gefallen«. So hieß der neue Direktor; und Deetz bedeutet im Berliner Dialekte so viel wie Kopf, Aber eine geniale Frau konnte man hier sehen, den weibgewordenen Humor: die alte Frieb-Blumauer. Und tüchtige Künstler waren da: Ludwig, Berndal, Liedtke, Oberländer und der junge Kahle, die Klara Meyer und Frau Haverland. Es strebte nur im Rahmen des Ganzen das Einzelne manchmal [119] auseinander. Was Regie und Bild der Szene betraf, machte auch die Erinnerung an das Gastspiel der Meininger das Urteil anspruchsvoll. Dieses Auferstehen von kulturgeschichtlichen Vergangenheiten im Bühnenbilde, der harmonische Zusammenklang und das Abgestimmte, die prachtvolle Führung der Massen in der Komparserie, das hatte mich gepackt und begeistert wie jeden anderen, obwohl es mir so vorkam, als stünden die schauspielerischen Kräfte nicht auf verblüffender Höhe. Mit einer einzigen Ausnahme. Ich sah den Fiesko. Ein kleines mageres Kerlchen, kaum zwanzigjährig, das den Bourgognino spielte, gewann mich beim ersten Klang seiner Stimme und warf mir mit seinen Glutaugen heißes Feuer in die Seele – Josef Kainz – dessen schlechte Nase und mangelhafte Waden damals von Publikum und Kritik viel deutlicher erkannt wurden als sein umschleiertes Genie, das alle Schleier schon zerreißen wollte.

Bei diesem Namen fällt mir etwas ein. Außer den Bühnen, von denen ich schon gesprochen, hatte Berlin noch ein Theater, das ich über alles liebte. Der Zoologische Garten war's. Halbe Tage verbrachte ich in den Winterhäusern der Raubtiere, bei den Dickhäutern, bei den Affen und Vögeln.

[120] Direktor dieses unerschöpflichen Theaters war damals Bodinus. Wenn er zwei wilde Bestien in ihrer Paarungszeit zusammenließ, teilte er das seinen Freunden durch eine kleine Zeitungsannonce mit: »Heute Tiger.« Oder: »Heute felis leo.« Dann kamen sie, um die ungezähmte Natur bei ihrem schöpferischen Werke zu belauschen. Und als sich dieser Direktor vermählte, ließ ein Lustiger unter seinen Freunden die kleine Zeitungsannonce erscheinen: »Heute Bodinus.« So erzählte man in Berlin. Ob's wahr ist, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, daß Bodinus, als ich ein leidenschaftlicher Stammgast des Zoo wurde, schon graue Haare hatte.

Mit der gleichen Zärtlichkeit und nachdenklichen Neugier, wie den Zoologischen Garten, liebte ich das Berliner Aquarium und ganz besonders seinen Star: den klugen Aujust, einen an Drolerien und ernsten Rätseln unerschöpflichen Schimpansen, der seinen großen Käfig mit einem Spielgefährten teilte, mit dem Hunde Flock.

Warum mir das jetzt einfiel? Vor einem Jahrzehnt verbrachten Kainz, Karlweis und ich ein paar unvergeßliche Wochen miteinander in Bordighera. Eines Abends, bei der Sektpulle in meinem Zimmer, kam ich auf jene Berliner Zeit zu [121] sprechen, auf den Zoo, auf das Aquarium. Und nannte die Namen Flock und August.

»Oooh!« sagte Kainz, in dessen Augen es zärtlich aufblitzte. Und da saß er auch schon zwischen den Lehnen des Fauteuils, mit kurzen Beinchen, mit langen Armen, mit dem Gesicht und den Bewegungen des klugen Aujust, mit gerunzelter Stirne, mit diesen rätselvollen, schwermütigen Urweltsaugen. Er mimte eine wohlschmeckende und eine widerliche Mahlzeit, zeigte das groteske Zerrspiel mit seinem Kameraden Flock und wurde wieder der stille, nachdenkliche Beobachter, der die vor dem Gitter stehenden und vorüberwandernden Aquariumsgäste betrachtete. Deutlich war es in seinen Augen und Mienen zu lesen: jetzt kommt ein alter langweiliger Herr, jetzt ein boshafter Junge, jetzt ein hübsches fürchtsames Kind, mit dem er barmherzig spielen möchte, und jetzt ein junges Weib, dessen Schönheit und Geruch ihn reizte. Kein Possenspiel. Was wir da zu sehen bekamen, das war eine tiefe Tragikomödie aus Urweltstagen, genial illustrierter Darwinismus. Während wir lachen mußten, daß uns die Tränen kamen, ging von dem Zorn und Hohn, von der Sehnsucht und Trauer dieser rätselvollen Ewigleitsaugen ein Schauer aus, der uns erschütterte. [122] Eine stumme, schauspielerische Leistung, die den Vergleich mit jedem klingenden Werte aushielt, den uns Josef Kainz auf dem Theater zu bieten wußte. Theater? Sprach ich von Theater und Schauspielerei? Es war mir so, als hätt' ich von einem starken, seltenen Menschen gesprochen, dessen allzufrühen Verlust wir Lebenden nie verschmerzen werden, die wir ihn sahen in der Fülle seiner sieghaften Kraft und seines leuchtenden Glanzes.

In den Theaterwochen meines Berliner Winters fand sich auch ein Weg, der mich selbst auf die Bretter führte. Die Berliner Studentenschaft plante eine klassische Vorstellung zugunsten eines Genesungsheimes für kranke Lehrerinnen. Auf dem schwarzen Brette war zu einer Versammlung eingeladen. Ich besuchte sie. Erst wollte man Coriolan geben. Ich sprach dagegen und riet zu Schillers ›Tell‹, bei dem die jugendliche Begeisterung halbwegs zu ersetzen vermag, was dem Dilettantismus an theatralischem Können abgeht. Mein Vorschlag wurde angenommen, man wählte mich in das Aktionskomitee, und nun begann eine lustige Theaterschwimmerei, deren vielseitige Beschäftigung mich dem Kollegienbesuch entfremdete. Ich habe bis zu meinem Abschied von Berlin [123] die Hörsäle meiner Professoren nur ab und zu noch gesehen.

Für die Aufführung erwarben wir das seit einiger Zeit verkrachte Nationaltheater, und sein beschäftigungslos gewordener Direktor Paul Borsdorff, ein Possart dritter Güte, übernahm die Regie. Zur Besetzung der weiblichen Hauptrollen wurden beliebte Künstlerinnen gewonnen, die Claar-Delia als Armgart, Frau Haverland als Stauffacherin, die Klara Meyer als Berta. Eine Woche ging darüber bin, bis aus dem Schwarm der studentischen Bewerber die Geeignetsten für die männlichen Rollen ausgewählt waren. Mußte man einen als unbrauchbar zurückweisen, so gab es Kränkungen und Galle, Grobheiten und Feindschaften. Unter den Refüsierten waren nur wenige, die mit Humor zu der Einsicht kamen, daß es für das irdische Glück nicht notwendig wäre, Theaterblut zu haben. Eine fürchterliche Sache war's mit dem Bewerber um die Rolle des Rudenz. Denkt euch einen langknochigen Jüngling, der mit endlos scheinenden Armen gaukelte wie eine Windmühle mit ihren Flügeln. Und diese Windmühle sächselte. Aber der Jüngling war von einer rasenden, zähneknirschenden Begeisterung. Es brannte auch so [124] etwas wie Talent aus seinen immer rollenden, immer verstörten Augen heraus. Und wir merkten, daß er zitterte vor ehrgeiziger Sehnsucht und die Ablehnung wie einen Mord empfanden hätte. Na also, in Gottesnamen!

Den Chor der frommen Brüder übernahm der akademische Gesangverein. Und um nettes ›Volk‹ auf die Bühne zu bringen, machte ich den Vorschlag, fünfzig oder lieber noch hundert hübsche junge Mädchen aus der Berliner Gesellschaft zur Mitwirkung als Statistinnen einzuladen. Das wurde mit Jubel ausgeführt. Wir gewannen dadurch mit Sicherheit ein zahlreiches Publikum von Müttern, Vätern, Tanten und Onkeln. Und gleich bei der ersten Probe, im Duster des Zuschauerraumes und im seinen Zwielicht hinter den Kulissen, ging, die Paare nach Dutzenden gerechnet, ein Flirten los, daß es rasselte. Man friert bei aller Kunst, wenn nicht Hand in Hand mit ihr die schöpferische Liebe geht. Beim Dilettieren ist das eine noch viel notwendigere Sache als auf der ernsten Höhe rechter Kunst, für die doch schließlich auch der Jubel des Herzens und die Pein der Sehnsucht immer die tiefsten, die unerschöpflichen Brunnen erschließt.

Im Dämmerdunkel jener Theaterproben wurden[125] Künstler geweckt. Talente aufgerüttelt, Kräfte gehoben, Lebensketten geschmiedet, aber auch schwächliche Existenzen vernichtet, schwache Herzen gebrochen. Oder man fand sich lachend zusammen, erkannte, daß man nicht weinen wollte, ging lachend wieder auseinander und war dem Leben dankbar für eine vierzehntägige Glückseligkeit. Aus den Schleiern des Erinnerns an eine frohe, rasch entflammte Zärtlichkeit steigt lächelnd eine zierliche Gestalt herauf, ein seines Köpfchen mit nachtschwarzer Haarkrone und mit flinken, neugierigen Kinderaugen. Ein achtzehnjähriges Dingelchen, dessen Seele, aus Wachs und Ambra gegossen, jedem lockenden Reiz des Augenblickes bildsam entgegendrängte – Sulamith, die nicht wußte, wo der Weinberg war, und doch die Trauben gern gekostet hätte.


»Dank' ich deinen süßen Küssen

Mit dem Fluche böser Tage?

Kind, in dir ist Durst nach Wissen,

Den ich nicht zu stillen wage.«


Jeder Blick dieser erwartungsvollen Augen war ein Verschenken ohne Grenzen. Aber das völlig Unbehütete, das furchtlos Unkluge dieses jungen Lebens schob mir in einer Zeit, in der ich [126] von Ibsen noch nichts wußte, die Fischbeine der Verantwortung ins Gewissen. So hatte die Sache keine andre schlimme Folge als ein Schock lyrischer Gedichte, die in meinem Tagebuch verblieben.

Bei einem heimlichen Spaziergang durch den Tiergarten wurden wir von feuchtem Schneegestöber überfallen. Die kokette Kleine, die ein bißchen frühlingshaft gekleidet war, bekam so nasse Strümpfe und Schuhe, daß sie in diesem Zustand den Heimweg zu Mutter und Vater nicht wagte. Da blieb nichts anderes übrig, meine dreieckige Bude mußte als Trockenstube dienen. Ehrlich bat ich die gute Frau Henkel, mich bei hellem Tag für eine Stunde von jenem strengen Hausgesetze zu entbinden, das da lautete: ›Mä'chens mitbringen? Nee!‹ Und wirklich, die brave alte Seele macht eine Ausnahme und erlaubte mir ›dem Fräulein am warmen Ofen die Schuhe trocknen‹ zu dürfen. Die Kleine, als sie meine Bude betrat, guckte so flink herum wie ein Vögelchen, das bei Sturmwetter in ein falsches Nest geriet und sich dennoch gleich wie zuhause fühlt. Dann mußte sie im Lederlehnstuhl sitzen, der bei der Ermordung des Zylinderhutes mein Mitschuldiger von unten her geworden war. Ich saß [127] vor ihr auf dem Boden und wärmte an meiner Brust die kühlen und dennoch rosigen Füßchen, während die dünnen Schuhe und die seidenen Strümpfe in der Ofenröhre dampften.

So pflegen frivole Romane zu beginnen. Der meine endet hier. Nach einer Stunde, die eine sehr starke war, erschien Frau Henkel, um sich höflich zu erkundigen, ob die Schuhe des Fräuleins schon trocken wären? Sie waren mehr als trocken, waren angebrannt. Und aus den seidenen Strümpfen fielen nußgroße Löcher heraus wie aus mürbem Zunder. Frau Henkel hatte, ohne daß wir's merkten, zu fleißig im Ofen nachgelegt. Klein-Sulamith bekam auf dem Heimweg wieder nasse Füße, mußte während der Tell-Aufführung ununterbrochen in der stilwidrigsten Weise niesen und schneuzen und war ein paar Tage drauf verschwunden, war zu einer märchenhaften Tante gereist, ohne Abschied von mir nehmen zu dürfen.

Ich hatte den Trost meines reinen Gewissens. Doch dieses stolze Hochgefühl wurde mir späterhin durch unerquickliche Erwägungen getrübt. Ein Dreiundzwanzigjähriger pflegt sich das immer post festum als Verbrechen gegen die Rechte der Jugend auszudeuten, wenn er, unter unwillkürlichem Zwang, einem lieben Mädel gegenüber ein anständiger [128] Junge blieb. Eine Registrierung meines Tagebuches behauptet:


»Mensch, du warst ein großer Esel!

Zwischen Immenstadt und Wesel

Und auch weiter nördlich zu

Lebt kein größerer wie du!«


Schließlich beschwichtigte ich diese peinvolle Selbsterkenntnis durch die Hypothese, daß ich damals, als die Trauben reif waren, unter dem Banne von Dingen stand, die in meinem Kopfe wichtiger waren, als die kleine dumme Liebe in meinem Blut.

Damals war ich scharf in literarisches Fahrwasser geraten. Bei den Vorbereitungen für den Wilhelm Tell hatte ich ein paar Mitglieder des akademisch-literarischen Vereines kennen gelernt. Und da sprang ich ein mit Beinen, Herz und Seele. Präses war Berthold Litzmann, heut Universitätsprofessor in Bonn, der Schöpfer eines geistvollen, fesselnden Buches über Goethes Faust. Unter den Mitgliedern waren der ernste Höniger, der schneidige Liman, der an Versen unerschöpfliche Lyriker Max Stempel. Aus dem A. L. V. waren die Brüder Heinrich und Julius Hart hervorgegangen; sie begründeten die Bremer Monatshefte[129] und sangen in ›Weltpfingsten‹ und ›Sansara‹ neue Klänge. Alter Herr des Vereines war der Schauspieler Kahle. Und unser Ehrenpräsident und Dalailama war Ernst von Wildenbruch. Seine gerade, feste, offene und wohlwollende Art gewann die jungen Herzen beim ersten Blick, auf den ersten Handschlag. Wer ihn persönlich kennen lernte, hat sein zähes, eisernes Schaffen niemals mißverstanden. Immer gab er sich selbst, bei der Arbeit wie im freundschaftlichen Verkehr. Und wir Junge von damals, wir glaubten an ihn und sahen in ihm den Großen, der sich zu strecken begann. Er hatte sich auch durch die Heldengesänge ›Sedan‹ und ›Vionville‹ schon einen Namen gemacht. Doch seine erste dramatische Arbeit, die wir begeistert verschlangen – der ›Mennonit‹ – und dann auch die ›Karolinger‹, wurden ihm von allen Bühnen zurückgeschickt. Keine Enttäuschung verbitterte ihn, immer blieb er stark, froh und zuversichtlich. Damals schrieb er am ›Harold‹, den er uns vorlas. Und aufmerksam hörte er die heißen Debatten an, die um das Werk geführt wurden. Zehn Jahre älter als wir Junge, hatte er für uns ein brüderliches, fast väterliches Empfinden, hatte für jeden Interesse, für jeden Geduld, für jeden ein ermunterndes Wort und ein Gefühl [130] der Hoffnung, die oft Sorge wurde. Zu meinem Münchener Freunde Marco Brociner, der nun auch in Berlin flanierte, sagte Wildenbruch eines Tages sehr ernst: »Dieses junge Roß Ganghofer macht mir schweren Kummer.« Dabei konnte er doch während der langen Sitzungen des A. L. V. gerade über mich am meisten lachen. Er war einem derben Spaß nicht abhold, und sein breites, schütterndes Lachen hatte was Gesundes und Behagliches.

Von Ernst von Wildenbruch wird noch weiteres zu erzählen sein. Ein glücklicher Einfall, den Berthold Litzmann hatte, wurde für Wildenbruchs Aufstieg als Dramatiker zu einer nützlichen Staffel.

Inzwischen begann im Rationaltheater durch fleißige Proben, bei denen der cholerische Direktor Paul Borsdorff brüllte wie ein Stier von Uri, der Äpfel Wilhelm Tells schön langsam reif zu werden. Und wie für junge Liebe, so wurde die Tell-Aufführung auch eine redliche Kupplerin für junge Freundschaft. Ich fand zwei prächtige Kameraden, die mir treue Freunde blieben durchs ganze Leben: der sinnierliche, arbeitsfeste Karl Mühling, der einen schwungvollen Stauffacher auf stramme Beine stellte – und der junge Mosse, mein verläßlicher ›Max der Kleine‹. Der spielte den [131] Itel Reding und brachte mit seinen drolligen Fragen, unter deren ernstem Klang sich immer eine aufreizende Ironie verbarg, den Direktor Borsdorff zur Verzweiflung. Bei der Stelle ›Ich kann die Hand nicht auf die Bücher legen‹ unterbrach er während der Probe den stelzenden Jambenklang und fragte: »Herr Direktor Borsdorff? Ich möchte gern verstehen, was ich spreche. Warum sind die Bücher, auf die ich pflichtgemäß meine Hand zu legen hätte, augenblicklich nicht vorhanden?«

Borsdorff grübelte. »Schiller hatte sie vermutlich nicht nötig. Drum ließ er sie weg. Das ist dramatische Ökonomie.«

»Ssso? Aber wenn ich eine subjektive Vermutung aussprechen darf, dann sind diese abgängigen Bücher beim Antiquar.«

Da brüllte Paul Borsdorff wieder mit rotem Kopf und versuchte uns klar zu machen, daß Kunst eine Sache wäre, die man ernst und heilig zu nehmen hätte. »Glauben Sie, mein Theater ... (Es war aber schon nicht mehr das seine!) ... ist ein Vergnügungsstall für Jokusse?«

In der Zeit dieser Proben erfuhr ich gelegentlich, daß weit draußen in einem Vorstadttheater ein Stück des neu aufgetauchten Wiener Volksdichters [132] Ludwig Anzengruber gegeben würde, von dem ich noch nichts gelesen, nichts gesehen hatte. Doch als ich, um diese geistige Lücke zu füllen, eines Abends in die Vorstadt hinauskam, wurde ›Dorf und Stadt‹ von der Birch-Pfeiffer gespielt. Man hatte den ›Pfarrer von Kirchfeld‹ nach zwei schlechtbesuchten Vorstellungen wieder abgesetzt. Mir ist das nicht aus literarhistorischen Gründen in Erinnerung geblieben, nur deshalb, weil ich in der gleichen Nacht, während ich von der Birch-Pfeiffer nach Hause wanderte, ein kleines Abenteuer erlebte, das einen bösen Ausgang hätte nehmen können. Es rieselte sein in der Nachtkälte, und spiegelndes Glatteis bedeckte die Straßen. Man mußte kleine, vorsichtige Schritte machen. Als ich die menschenleere, schlechtbeleuchtete Luisenstraße hinunterging und schon in die Nähe meiner schiefen Bude kam, hörte ich in der Stille der Nacht einen Wortwechsel, eine grobe lachende Mannskehle und eine ängstliche Mädchenstimme. Meine Vermutung traf auch das Richtige, und ich steuerte, so flink es bei dem Glatteis möglich war, auf die zwei dunklen Gestalten los.

Damals las man häufig in den Zeitungen von nächtlichen Attacken auf ›alleingehende Damen‹. Hübsche Frauen und junge Mädchen, wenn sie [133] sich gegen einen solchen Angriff verteidigen wollten, wurden brutal mißhandelt, durch Fauststöße ins Genick zu Boden geworfen. Die Presse pflegte das in Apostroph als, berechtigte Eigentümlichkeit des Berliner Mob' zu bezeichnen.

Zu einer solchen Szene kam ich. An der Ecke des Charitogartens riß sich ein Mädel in dunklem Kapuzenmantel aus den Fäusten eines Mannsbildes los und kam auf mich zugeschlittert. Aus dem Kapuzenschatten, in dem nur ein kreideblasser Fleck zu sehen war, klang eine von Tränen erstickte Stimme heraus: »Ach, mein Herr, ich bitte, helfen Sie mir doch! Dieser Mensch läßt mir keine Ruhe, und ich muß in die Apotheke, was holen für meine Mutter.«

»Ja, Fräulein, gehen Sie nur, ich halte den Kerl schon auf.«

Die Arme auseinanderlegend, deckte ich den Weg des auf dem Glatteis davongaukelnden Mädels. Der andere stand vor mir, und als ich ihn nicht weiterließ, fing er zu räsonieren an, seine Rede mit Ausdrücken spickend, deren Sinn mir dunkel blieb, obwohl ich in der Kenntnis des Berliner Dialektes schon einige Fortschritte gemacht hatte. Mit groben Stößen puffte er gegen mich an. Ich gab den Weg nicht frei, weil ich [134] hinter mir noch immer den trippelnden Schritt des Mädels hörte. Mein Widersacher stellte das Schimpfen ein, wurde stumm, und während er mit der Linken an mir zerrte, sah ich, daß er mit der Rechten etwas aus seiner Tasche riß. Ich dachte: Wir sind doch nicht in Niederbayern? Und hielt die Waffe meines Gegners für einen Hausschlüssel, von denen es damals in Berlin sehr große gab. Da mußte ich flink sein. Bevor der andere mit dem Schlüssel losboxen konnte, hatte er eine Gesunde hinter dem Ohr. Er taumelte auf dem Glatteis und machte Räder mit den Armen wie ein Seiltänzer, der vom gespannten Draht zu stürzen droht. Das wirkte komisch, ich mußte lachen. Und sagte: »Weiter drüben stehen Sie besser, da ist Sand gestreut.« Nun führ er wieder auf mich los. Mit beiden Fäusten stieß ich zu. Und während ich an meiner linken Seite einen Glitsch wie von einem fehlgegangenen Streich des vermeintlichen Hausschlüssels fühlte, machte der dunkle Held einen Purzelbaum auf das Glatteis hin und streckte die Beine in die Luft. Von dem Mädel war nichts mehr zu sehen. Da konnt' ich den Weg nun freigeben. Ehe der Geplumpste wieder auf die Füße kam, war ich um die Ecke herum und schlitterte heim zu meiner dreieckigen [135] Bude. Am anderen Morgen kam die gute Frau Henkel jammernd zu meinem Bett. Was denn mit meinem Havelock passiert wäre? Der hatte von der linken Schulter bis zur Tasche herunter einen glatten Schnitt. Auch der Kittel, den ich drunter getragen, war noch durchgeschnitten bis auf das Futter. Eine kleine Gänsehaut fröstelte mir über den Nacken. Da hätte nicht viel gefehlt, und es wäre mein Name bei der Tell-Aufführung nimmer auf dem Theaterzettel gestanden.

Ich hatte mich, als Mitglied des Aktionskomitees, um keine Rolle beworben. Dennoch mußte ich mitspielen. Es gab nämlich mit dem windmühlenflügeligen Darsteller des Rudenz eine Katastrophe. Was aus seiner Seele herausbrannte, war unleugbar Glut und Rasse. Schloß man die Augen, so empfand man den Klang des Talentes, allem Gesächsel zum Trotze. Aber diese mittelalterliche Holzschnittmimik, dieser eckige Zugmechanismus der Arme und Beine, diese rollende Entrücktheit der Augen – wer das mitansah, bog sich vor Lachen. Nein, wirklich, es ging nicht! Als wir dem Ärmsten das mitteilen mußten, rührte uns die Empfindung, daß wir einen seelenvollen jungen Mann steinunglücklich gemacht hatten. Der in Verstörtheit Trauernde hieß, wenn ich mich recht [136] erinnere: Ludwig Wüllner. Ob das der berühmte Balladensänger gleichen Namens von heute war? Ich weiß es nicht.

Wer sollte nun den Rudenz spielen? Wir fanden keinen andern. In der Not mußte ich einspringen, während der Nacht vor der Generalprobe die Rolle büffeln und die zärtliche Szene mit Berta von Bruneck als einsames Huhn markieren. Klara Meyer, die Darstellerin des edlen Fräuleins, schwänzte auch die einzige Probe, die sie uns zugesagt hatte. Und so stand ich als ohrenfeuchter Dilletant vor der Aufgabe, in der Vorstellung die Szene des Rudenz und der Berta ohne Probe mit einer gefeierten Künstlerin zu spielen, die ich außerhalb der Bühne noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte. Mir war sehr schwül, als es am 27. Januar auf den Abend zuging. Aber schließlich dachte ich: mit ein bißchen Frechheit wird's schon gehen.

Ein Haus – bei einer Dilettantenausführung dürfte man mit einiger Berechtigung sagen: zum Brechen voll! Wir jubelten: tout Berlin wäre da. Und ich, in meiner engen Garderobe, schwitzte vor Aufregung. Und hergerichtet hatten sie mich! Fürchterlich! Ich stak in einem grasgrünen Samtkostüm. Und kleinlöckelig hatten sie mir die vielen [137] blonden Haare gebrannt, daß ich aussah wie ein Laubfrosch mit einer Schneckenperücke. Als ich, für die Bühne fertig, in den Spiegel guckte, sah mir eine jammervolle Puppenfratze entgegen, und ich hatte die Empfindung: Jetzt trifft mich der Schlag.

Verzweifelt fragte ich den Friseur: »Um Gotteswille, mueß denn dös so sein?«

Er sagte: »Allemal! Det is seit anno Tobak so bei'n Rudenz jewesen. Aber wenn Se so schwäbisch reden, det wär 'ne neue Nüangse.«

In der Aufregung schlug bei mir das Schwäbische noch immer durch. Und mit dieser Anmerkung traf der Friseur einen kritischen Nagel auf den Kopf. Bei dem Darstellertausch für diese Rolle hatte unsere Aufführung statt eines sächsischen Rudenz nur einen schwäbischen gefunden – keinen besseren.

Meine Szene kam. Und hätte mich nicht der Inspizient noch rechtzeitig abgefangen, so wär ich mit dem Zwicker auf die Bühne gerannt, das schwarze Schnürl hinter dem Ohr. Der Kulissenwachtmeister nahm mir den in Silber gefaßten Anachronismus von der Nase. Nun war ich auch noch kurzsichtig. Von den Zuschauern in dem großen Hause sah ich nur viele, viele kleine, rötliche [138] Kleckse auf dunklem Hintergrund. Dieses Unbestimmte machte mir Mut. Sieht man keinem ehrlichen Menschen in die Augen, dann ist man williger zu bösen Taten.

Wie aus einer Pistole geschossen, so kam es mir aus dem hämmernden Herzen herausgefahren:


»Freileun, jätzt endlüch fünd' ich eich alleun!«


Aber wo war meine Berta? Ich sah sie nicht. Vermutlich trug sie ein Jagdkleid? War also ebenfalls grün? Ich guckte nach allem, was auf der Bühne grün war. Ach, dieser schweizerische Bergwald hatte schauderhaft viel grünes Zeug! Da hieß es: Glück haben oder daneben greifen! Ich glaube, daß ich in meiner Ratlosigkeit ein heimliches Stoßgebetlein zum heiligen Antonius stammelte, der fürs Finden gut ist. Ich suchte und suchte, sprach immer Verse dabei, und endlich setzte ich mein Vertrauen auf eine grüne Säule, die sich ein bißchen zu bewegen schien.


»Jetzt oder nüe,

Ich mueß den teiren Augenblück ergreufen!«


Gott sei Lob und Dank! Sie war es. Wenigstens hatte ich was Lebendiges zwischen den Händen. Die Augen ließen mich im Stich, alles [139] schwamm vor meinem Blick. Aber die Seligkeit des Gefundenhabens klang aus meiner Stimme. Denn nachträglich erklärte ein Kritikus: relativ am besten hätte ich die Freude des ersten Wiedersehens mit dem Fräulein von Bruneck zur Geltung gebracht.

Das klare Bewußtsein begann mir zürückzukehren, während ich meine Berta am Arme festhielt, den sie mir immer zu entziehen suchte. Indes ich stürmisch deklamierte:


»Wer bin üch,

Daß üch den kiehnen Wunsch zu eich erhäbe?«


hörte ich meine Berta verdrießlich flüstern: »Drücken Sie nicht so! Geben Sie die Hände weg!«

Da wurden meine schwimmenden Blicke plötzlich sehend. Und dicht vor meiner Nase entdeckte ich zwei große, graue, prachtvolle Mädchenaugen, deren Iris wundersam gezeichnet war. In dieses Herrliche starrte ich perplex hinein. Theater, Publikum, Schiller, Rudenz, Rolle, alles war im Nu vergessen, und nur noch diese beiden rätselschönen Augen waren da. Das Fräulein zischelte: »So sprechen Sie doch!« Ich wollte reden. Aber was? Auch nicht ein einziges Wort meiner Rolle fuhr mir ins gelähmte Gehirn. Vom Souffleur [140] verstand ich keinen Laut. Doch zu sprechen fing ich an – nach einer Pause, die dem Publikum kaum aufgefallen, aber mir wie eine Höllenqual und Ewigkeit erschienen war – ich redete, sprach immerzu, sprach Vers um Vers, Jamben eigener Fechsung – – Unsterblicher, verzeihe sie mir! Es ist nicht auszumalen, wie die Sache geendet hätte, wenn nicht die gewandte Künstlerin auf den Einfall gekommen wäre, mir ein Stichwort ihrer Rolle zuzuflüstern. Das brachte Licht in mein Gehirn, mit einem Schlag war alles Vergessene wieder da, und nach einem Übergang, den ich flink erhaschte, lief die Sache plätschernd weiter im besten Fahrwasser – ich hatte glücklich wieder heimgefunden zu Friedrich Schiller. Nach Schluß der Szene, hinter den Kulissen, sagte Berta von Bruneck: »Da schwitzt man Blut!« Ich hatte nur Wasser ausgedunstet. Aber reichlich! Meine gebrannten Locken waren glattes Haar geworden. Im Zwischenakt wollte der Friseur sie wieder träufeln. »Nein! Ich danke!«

Die Szene von Geßlers Tod hatte rauschenden Erfolg. Hier wirkten die vierhundert jungen Menschen auf der Bühne, die gut dressierte Masse, die prächtigen Stimmen des akademischen Gesangvereins, das stürmische Gefühl dieses Volkes von [141] Zwanzigjährigen, der Pulsschlag von Begeisterung in dieser Jugend – und am meisten der große Dichter, dessen Werk nicht umzubringen war. Auch die Rütliszene und der Schuß nach dem Apfel hatten starke Wirkung geübt und reichen Beifall gefunden.

Das Brausen des Erfolges hob und trug uns alle. Auch mich. Jetzt war ich Rudenz, weinte an der Leiche des edlen Attinghausen wirkliche Tränen, die mir die Schminke von den Wangen wuschen, hätte schlagen, stechen und morden können für die Freiheit der Schweiz und jubelte aus brennendem Herzen das Wort:


»Und säht ühr leichten die wüllkommnen Flammen

Dann auuf die Feunde stirzt wü Wedddrstrahl

Und brächt den Pauu der Türrrranneu zusssmmn!«


Die Aufführung wurde anerkennend von der Presse besprochen. Mir hielt ein Kritiker – wenn ich mich recht erinnere, war es Blumenthal ›der blutige Oskar‹, der beim Tageblatt das scharfe Richtschwert schwang – mit Wohlwollen die historische Tatsache vor, daß Rudenz, der Uli, von Geburt kein Schwabe gewesen wäre.

Trunken vom Erfolge, inszenierten wir auch noch einen Siegesfrühschoppen. Und um die [142] Mittagszeit, als die meisten von uns schon ein bißchen angestochen waren, kam die Nachricht, daß die Vorstellung am Abend wiederholt werden müßte. Trotz einem verschwenderischen Gebrauch von kaltem Wasser brachte ich bis zur Stunde, in der sich der Vorhang hob, den Spiritus nicht mehr völlig aus dem Kopf heraus. Wie mir, so ging es auch anderen. Das wurde eine gräßliche Geschichte. Kaum eine Szene ging vorüber, ohne daß ein Malheur passierte. Das Publikum kicherte viel. Und ich, als kreuzvergnügter Rudenz mit glattgewässertem Haar, ich wurde im vierten Akt so überzärtlich gegen den toten Herrn von Attinghausen, daß ich ihm den angeklebten Weißbart von der Wange riß. Der Leichnam des edlen Mannes sagte plötzlich mit vernehmlicher Stimme: »An!«

Nach einer Trunkenheit von Jubel, Begeisterung und schöner Freude solch ein Satyrspiel wider Willen! Wir hatten einen bösen Katzenjammer davon – viel mehr noch von der Reue über die Mißhandlung unseres geliebten Dichters, als vom Alkohol.

Aber schließlich lachte man wieder. Jugend muß immer wieder lachen. Oder sie wäre nicht Jugend. Und weil ich schon gerade vom Lachen [143] rede, muß ich die kleine Geschichte eines schier endlosen Gelächters erzählen. Wir saßen, unser Fünfe oder Sechse, eines Abends in einem Restaurant der Dorotheenstraße und debattierten mit heißen Köpfen und kochender Leidenschaft über Heinrich Heine. Am Nachbartische saß ein einsamer Herr, der immer aufmerksam zu uns herüberhorchte. Das Bewußtsein, einen verständnisvollen Zuhörer zu haben, beflügelte unseren Geist. Wir sprachen von der Matratzengruft, vom Rückenmarksleiden des armen Lazarus, der ein singender Schwan bis mm letzten Hauch seiner Schmerzen blieb. Damals begann man die Idee der Vererbung zu popularisieren. Und nun debattierten wir mit glühendem Eifer darüber: ob Heines Leiden ein selbstverschuldetes gewesen wäre? Könnte das nicht auch so sein: daß alles, was man von seiner ausschweifenden Jugend und seinem leichtfertigen Lebenswandel zu erzählen pflegt, nur Schwindel und Lüge, posthum ersonnene Fabel ist? Von vielen seiner Lieder weiß man doch, daß die dichterische Fiktion das größere Mutterrecht an ihnen hatte, als das wirkliche Erleben. Heine ein Wüstling? Klatsch, Klatsch! Mangel an Menschenkenntnis! Blödsinn! Und pietistische Mieselsucht! Auch der übelste Sünder ist nie so sündhaft, wie [144] es ein Dominikaner von jedem anständigen Kerl vermutet. Und Heinrich Heine? Der gesungen: Du bist wie eine Blume! Aus hundert seiner leidenschaftlichen Lieder blicken die Traumaugen eines schüchternen Knaben heraus. Ein seiner Geist! Blitzend, schillernd! Ein Spötter, gewiß! Spott ist Zorn der Guten, Empörung der Besseren. Ein vornehmes Herz, eine verläßliche, starke Mannesseele! Denkt an sein Lächeln im Leiden, an die treue Sorge für seine Frau, an sein sonniges Scherzen mit der Mouche! Und der soll das Mark seiner Knochen vergeudet haben in den Gossen des Lebens? Dann hätte er nicht so gegen Platen gesungen. Ein Fremder allem Schmutz und Ekel ist er gewesen! Rein und redlich, wie jeder Begnadete! Und muß das unverdiente, grausame Schicksal erleben, daß sein Körper vergiftet war vom Blute krankhafter Geschlechter! Eine Ahnenreihe von Krämern, Geizhälsen und Schacherböcken! Und alles, was die Natur ihnen vorenthielt an Geist, an Schönheit des Hetzens, an Glanz der Seele – das alles sammelt sie verschwenderisch in diesem einen glückselig-unglückseligen Enkel! Und kann es nicht hindern, daß alles, was an giftiger Lauge durch die Venen der Ahnen sickerte, nun verzehrend und mörderisch, [145] rachsüchtig und boshaft zusammenströmt in diesem reinen Gefäß, in diesem kostbaren Gebein, im heiligen Herzen dieses Letzten, der aus der Tiefe plötzlich aufstieg als ein Gipfel! Und stürzen mußte wie eine gigantische Tempelsäule! Verbrennen wie Nessus! Solch ein Anfang, und dieses Ende! Welch ein ruchloses Schicksal! Ein Mord ohnegleichen!

Wir schwiegen in Erschöpfung, durchbrannt von den Bildern unserer Phantasie, durchrieselt von dem Grauen, das uns anhauchte aus unseren eigenen Worten.

Und da beugte sich dieser einsame Nachbar, den wir völlig vergessen hatten, plötzlich gegen uns her, macht mit dem Zeigefinger eine drollige Stopselzieherbewegung und spricht: ›Nun ja! Aber dieses, mein' ich, können die jungen Herren doch wohl mit gutem Gewissen nicht behaupten, daß Heinrich Heine sanitär vernünftig gelebt habe?‹

Wie Öl war dieser Satz geflossen.

Erst waren wir stumm und starr. Dann schrien wir los. Wir lachten, kreischten und brüllten, daß sich ein Radau der Gäste gegen uns erhob und daß wir das Lokal verlassen mußten. Stillen konnten wir dieses krampfhafte Gelächter nicht.

[146] Der tobende Sturm in unseren jungen Herzen! Und dann der kalte Wasserstrahl dieses greisenhaften Wortes: sanitär vernünftig! Das war ein Kontrast, der das Zwerchfell in eine rasselnde Trommel verwandelte.

So lang die Straße war – wir brüllten und schrien noch immer, als sie schon zu Ende ging.

›Sanitär vernünftig!‹

Und dann lachte man sich einsam heim! Und hätten wir, was Philistertum bedeutet, noch nie gewußt –jetzt wußten wir's!

›Sa, sa, sa, sanitär vernünftig!‹

Ich lachte noch in meiner Bude – immer sah ich diesen Stopselzieherfinger kalt an Heinrich Heines glühende Stirn tippen – und ich lachte, lachte, lachte noch in meinem Bett.

Kein Schlaf. Als ich des Lachens müd geworden, kam eine wachende, nachdenkliche Nacht. Und es formten sich während dieser Nachtstunden mancherlei Bilder für den Roman, den ich schon zu München begonnen hatte, und der ›eine wilde Sache‹ werden sollte.

Am andern Morgen begann ich wie rasend zu arbeiten. Doch es dauerte sechs Jahre, bis aus jenen Berliner Manuskriptblättern die ›Sünden der Väter‹ herauswuchsen.

[147] Arbeitsabende waren auch immer Abende, in deren Stille mich das Heimweh drückte. Aber da hatte ich einen süßen Trost. Der Segen der großen Weihnachtsschachtel war so reichlich ausgefallen, daß ich bis in den Februar hinein noch ›Leckerle‹ und ›Pfeffernüßle‹ zu knuspern hatte. Wenn mich das Heimweh plagte, holte ich mir was aus dieser Schachtel. Und während ich biß und schluckte, hatte ich immer das sichere Wissen: jetzt ist die Mutter da. Ich hörte ein helles Lachen, hörte eine leise, zärtliche Stimme, aus der es auch immer ein bißchen wie Sorge klang. Zu einer Leidenschaft wurde mir das: an dieser Schachtel zu riechen. Es war unglaublich, wie sie heimelte. Und als in einer solchen Heimwehnacht der letzte süße Bissen verschluckt war, blieb ich lange mit geschlossenen Augen in meinem Lederlehnstuhl sitzen und reimte ein kleines Lied an meine Mutter. Immer war es mir das Beste meines Lebens: mich als Kind zu fühlen bis jenes andere, schönere kam: mich Vater zu wissen.

Aber die Abende, an denen es mich in meiner dreieckigen Bude festhielt, wurden immer seltener. Das ›nette Volk‹, das bei der Komparserie unserer Tell-Aufführung mitgewirkt hatte, [148] öffnete mir die Türen vieler Familien. Und da gab's dann Einladungen zu den Bilsekonzerten, Rendezvous beim Schlittschuhlaufen auf dem Goldfischteich, musikalische Teestunden, Kränzchen und Hausbälle in endloser Folge. Ich war ein leidenschaftlicher Tänzer. Vom ersten Geigenstrich, vom ersten Klimperton des Pianinos hielt ich bis zum grauenden Morgen durch, Tour um Tour, und jede Tour vom ersten bis zum letzten Takt. Meine Leidenschaft für den Tanz war eine wunderlich geschlechtslose Sache. Zärtlichkeiten beim Tanze? Das kannte ich nicht. Ich verlangte von meinen Tänzerinnen nur, daß sie Schwung hatten, daß sie ausdauernde Beine und langen Atem besaßen, und daß sie selber eine objektive Freude am Tanz empfanden. Und am liebsten war mir der Tanz in kleiner Gesellschaft, bei der sich dieses froh Beflügelte aus lachender Stimmung und von selbst ergab. Diese feierlichen und steifen Hausbälle waren mir ein Greuel – auch ohne die stereotype Hummermayonnaise, mit der man mich verjagen konnte, und ohne die ewigen Lachsbrötchen, die mich zur Verzweiflung brachten.

Mir stak das so von Kindheit auf im Blute: daß man in einer kleinen netten Familie nichts anderes machen soll, als was sich natürlich einfügt [149] zwischen die engen Mauern des Hauses. Festlichkeiten in Räumen, die sich für Feste eignen, habe ich immer gerne gesehen. Aber jeder Widerspruch zwischen Wollen und Können, zwischen bürgerlicher Möglichkeit und vornehm tuender Sehnsucht war mir immer unbehaglich und wirkte komisch auf mich. Ich konnte bei solchem Pflanz und Mumpitz nie in festliche Stimmung kommen, mußte immer lachen, war immer gereizt. Die Bosheit war nie von meinen Eigenschaften eine. Aber bei solchen Gelegenheiten erwachte sie in mir.

Ich erinnere mich mit Gruseln eines ›Hausballes‹, den ich damals erlebte. Und ich erzähle diese Geschichte wirklich nicht, weil sie groteske Linien hat. Sie soll ein kulturelles Ausrufungszeichen bekommen, soll ein Appell sein an den guten Geschmack des Bürgertums.

Die Komödie spielte im Hause eines höheren Beamten, zu dem man Herr Rat sagte. Es war eine bildhübsche Tochter da, eine korpulente und asthmatische Mutter. Vier kleine Zimmer, völlig ausgeräumt. Damit man sich doch ein bißchen umdrehen konnte. Denn hundert Gäste waren geladen. Und natürlich kamen die Damen in großer Toilette, die Herren in Frack und weißer [150] Binde. In einem der vier Zimmer standen drei Skattische für die alten Herren; in einem anderen, vorerst noch abgesperrt, war das kalte Büfett installiert; in zwei aneinanderstoßenden Zimmern wurde getanzt; das Pianino stand auf dem Korridor, der auch als Wandelbahn für die erhitzten Pärchen diente, und dessen lange Wand eine Sesselreihe in allen Stilarten hatte, vom Rokokotaburett bis zum dreibeinigen Küchenstuhl. Wo der Korridor sich in die Tiefe des Hauses verlief, war er durch eine geblümte Gardine abgesperrt. Im ehelichen Schlafgemache legten die Herren ab – unter allerlei ›unpassenden Scherzen‹. Im Zimmer der Tochter schlüpften die Damen aus ihren Pelzen und Mänteln. Man konnte aus diesem Zimmer immer ein wunderliches Gekicher hören. Eine Dienstbotenkammer mit Klopfbalkon war als Rauchsalon und Bierstübchen eingerichtet.

Solange nur zwanzig und dreißig Leute da waren, sah die Sache sehr sein und stilvoll aus. Ein ununterbrochenes Vorstellen und Verbeugen. Früh Gekommene hörten dutzendmal die gleichen Namen. Schon jetzt war die Hausfrau aufgeregt und ruhelos. Immer schwerer ging ihr Atem. Und die beiden Dienstmädchen, welche Tee und Konfekt servierten, hatten kongestive, abgehetzte [151] Gesichter; man konnte es ihnen an den bösen Augen ansehen, daß sie am folgenden Morgen kündigen würden.

Ein paar Minuten nach 8 Uhr war das Gewühl ein komplettes. Die alten Herren setzten sich gleich zu ihrem Skat. Man transpirierte schon, noch ehe man zu tanzen begann. Bei der Polonaise kam man nicht vom Fleck, und es wurde da immer lustig kommandiert: ›Auf der Stelle! Rührt Euch!‹ Im Anfang erhöhte dieses Ellenbogengefühl die Lustigkeit; hart stieß man sich niemals an; immer geriet man in linde Gegend. Aber schon während der ersten Rundtänze, die für jedes Paar ein behindertes Kreisen auf beschränktem Flecke wurden, begann ein aufgeregter Drachenkampf zwischen der Jugend, die Lust haben wollte und überall unter den Vorhängen die Fenster aufriß, und zwischen der Hausfrau, die ihre üppig entblößten Freundinnen vor Schnupfen bewahren wollte und die Fenster immer wieder schloß. Die Sache entwickelte sich zu einem boshaften Gesellschaftsspiel. Alle paar Minuten kreischte eine ängstliche Frauenstimme: »Es zieht, es zieht, es zieht!« Dann kam die Walze der Hausfrau wieder in aufgeregtes Rollen. Jugend und Alter wurden erbitterte Feinde. Nur die [152] grauköpfigen Herren saßen ruhig und zufrieden bei ihrem Skat.

Fürchterlich war dieses Gequietsche des Pianinos. Der Klavierspieler, als man ihm Vorwürfe machte, verteidigte heftig seine Kunst und schob alle Schuld auf das Instrument. Da müsse etwas nicht in Ordnung sein. Als man den Klavierkasten öffnete, wurden verschiedene Fremdkörper gefunden, die vom letzten Hausball her noch zwischen den Hämmern und Saiten hingen: ein Handschuh, ein Spitzentüchelchen und eine Serie von Zigarrenstummeln.

Um halb elf Uhr wurde die versperrte Flügeltüre zum Büfettraum geöffnet. Und unter Hurra und Hallo begann eine Bewegung der Massen, die dem Sturm auf eine Festung glich. Was man eroberte, mußte man, von Gewühl umkeilt, in der Luft verschlingen. Die Gesellschaft glich einem Schwarm von Gauklern, mit Tellern und Gläsern über den Köpfen. Alle verstanden sich nicht aufs Balanzieren. Man bekleckerte seinen Mitmenschen mit italienischem Salat, übertüpfelte die Ausladungen der Damen mit Mayonnaise und ließ ihnen das in Suppe zerfließende Gefrorne auf die Kleider tröpfeln. Nur die alten Herren bekamen Teller und Gläser in das Spielzimmer [153] getragen und blieben – als das einzig Feste in diesem lärmendem Aufruhr – zufrieden und seelenruhig bei ihren Wenzeln sitzen. Im Büfettraum tobte der Kampf der Hungernden und Durstigen eine Stunde lang. Wer sich ein Plätzchen an der vom Gedränge schief gerückten Tafel erkämpfte, nützte die Gunst des Augenblickes aus und stützte flink, bevor das Schicksal ihn wieder ins Ungewisse schleuderte, ein paar Gläser schaumlosen Bieres hinunter oder ein paar Kelche von diesem Sekt, welcher Luftblasen so groß wie Erbsen von sich gab.

Dieses eilfertige und gierige Verschlingen und Schlucken führte zu akuten Folgen. Wer sich im Korridor befand, konnte immer wieder ein Damenpärchen gewahren, das möglichst unauffällig durch jenen geblumten Vorhang zu verschwinden suchte. Die Grenze dieses Vorhanges durfte kein Männerfuß überschreiten. Es hätte ein Engel des Schamgefühls mit weißem Lilienschwert vor diesem geblumten Vorhang Wache stehen und alle Unberufenen verscheuchen sollen. Und dennoch wurde gerade die Stätte vor diesem Schleier der Geheimnisse von allen Kavalieren des Hausballes beharrlich und mit zunehmendem Eifer aufgesucht. Denn dicht vor diesem Vorhange war eine Türe. Wer [154] sie öffnete, tat es immer nur um einen schmalen Spalt, der knapp zum Durchschlüpfen ausreichte. Diese Türe führte zu einer dämmerig erleuchteten Garderobekammer. Der Lichtmangel, der hier herrschte, war nicht Sparsamkeit; er war eine Konsequenz wohlweislicher Überlegung. In diesem Raume konnte man eine ingeniöse Erfindung der kultivierten Großstadt kennen lernen. Mitten in dem leeren Raume zwischen den hohen Kästen war eine lange hölzerne Bank plaziert. Sie war sehr hochbeinig, viel höher als eine gewöhnliche Bank. Und auf dieser Holzbank standen in exakter Reihe ein Dutzend – wie soll ich sagen? – ein Dutzend Urnen der fluktuierenden Lebensasche. Diesen architektonischen Aufbau nannte man die ›Seufzerbrücke‹. Unleugbar eine höchst sinnreiche Institution. Nur ein bißchen gefährlich! Und in später Stunde, bald nach der Mitternachtsglocke, gab's auch richtig eine schreckliche Katastrophe. Ein Jüngling stieß bei einem gaukelnden Ruck in diesem Dämmerscheine gegen die Seufzerbrücke und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie fiel. Ein fürchterliches Klickeradoms! Während aus der düsteren Rätselhöhle dunkle Schlangen in den Korridor herausgeschossen kamen, erhob sich ein wirres Geschrei und Gelächter. Jetzt liefen sogar die Skatbrüder [155] mit den Karten in der Hand zur Türe und guckten wißbegierig in den Korridor hinaus. Der war im Nu so leer geworden, wie der Marktplatz nach dem Warnungsschrei: »Der Löwe kommt!« Nur der Pianist blieb auf verlorenem Posten zurück; er war erschrocken auf den Klaviersessel gesprungen und zog mit übertriebener Vorsicht sogar noch die Frackschöße in die Höhe. Das hübsche Töchterchen des Hauses weinte vor Scham, die Hausfrau glich einer Entseelten, renitent verweigerten die beiden Dienstmädchen das notwendige Werk der Hilfe, und der Hausherr, mit den Skatkarten in der Hand, beschimpfte den unbekannten Missetäter als brutalen Rohling. Neben dem Bilde dieser schauerlichen Situation die Sprache des schreienden Kontrastes: Große Toilette mit Perlenschnüren und blitzenden Steinen! Ordensbändchen, Frack und weiße Binde! Schliff der Großstadt! Sublime Kultur!

Von diesem unterbrochenen Opferfest der menschlichen Freude zog die männliche Jugend unter lachender Kalauerhetze ins Caféhaus. Dann verteilte man sich zu einer Studienreise durch Berlin bei Nacht. Ich geriet mit einem lärmenden Schwarm in die Antonssäle. Sie waren der Rendezvousplatz der Berliner Dreiviertelswelt. Weiblicher [156] Leichtsinn, der sich der wechselnden Sünde freut, ohne ein steuerpflichtiges Geschäft aus ihr zu machen, mischte sich hier mit richtiger Demimonde. Die Farben ihres die Nächte fressenden Lebens hatten nie viel Anziehendes für mich. Bei den Gesprächen, wie sie auf solchem souterränen Bummel üblich waren, mußte ich schweigen, weil mir die Kenntnis der termini technici fehlte. Und konnte man auch diesen Frauenzimmern gegenüber niemals völlig vergessen, daß sie doch immer noch Frauen blieben – und wollte man deshalb nett und höflich mit ihnen plaudern, so erschien man läppisch und blamabel. Ich blieb da der unverbesserliche Provinzler, bei dem die Großstadt kein erzieherisches Resultat zustande brachte. Genuß, den nicht eine Spur von Wohlgefallen und Neigung auf besseren Boden heben konnte, galt mir nie als wünschenswerte Sache: auch existierte für mich zwischen Liebe und Portemonnaie keine chemische Affinität, und so blieb ich für eine Verführung ungelehrig, die mir als höchsten Trumpf in die Ohren flüsterte: »Ick habe lauter eejene Möbel!« In dieser Beziehung wurde und blieb Berlin für mich eine solide, ungefährliche Stadt. Aber jener Nachtweg durch die Antonssäle wurde mir dennoch etwas höchst Interessantes. Ich sah [157] bei dieser Gelegenheit ein wahres Mirakel von einem Menschen, dessen Bild unverlöschbar in meinem Gedächtnis haftete. Es war ein kleiner, knalldicker, jüdischer Vortänzer, der beim Cancan so unglaubliche Sprünge und Pirouetten machte, als wäre er ein menschgewordener Gummiball von vier Fuß Durchmesser. Mannshoch schnellte er sich in die Luft, sprang mit horizontal gespreizten Beinen über große Frauenzimmer weg, ohne ihre Hutfeder zu streifen, ließ unter dem fliegenden Kugelbauch mit rasender Geschwindigkeit die kleinen Füße zappeln und kanonierte dazu im Takte der Musik mit seinem Chapeau claque. Jeder Sprung dieses beflügelten Fettballons erschien wie ein Widerspruch gegen die Gesetze der irdischen Schwerkraft.

Neben diesem Bilde taucht noch die Erinnerung an eine andere ›Ball-Erscheinung‹ heraus. In den ersten Februartagen kamen schwere Schneestürme. Berlin war wie in weiße Watte gewickelt, war unwegbar geworden. Während dieser weißen Tage saß ich viel daheim in meiner dreieckigen Bude, mit einer ausregungsreichen literarischen Arbeit beschäftigt. Ich sammelte meine lyrischen Gedichte unter dem anspruchsvollen Titel ›Vom Stamme Asra‹ zu einem Bändchen. Dieser Titel hatte was Unzutreffendes. Ich hatte wohl, wie [158] ich glaubte, schon viel geliebt, war aber noch niemals dran gestorben. Um nun diesen Titel, in den ich zärtlich verliebt war, einigermaßen zu rechtfertigen, gab ich der Anordnung meiner Gedichte einen novellistischen Zusammenhang: harmlose Jugend, erste Liebe, Verlust des reinen Glückes, Untreue der Geliebten, Schmerz und Verzweiflung, stumpfes Ermüden, Aufbrennen des Lebenshungers, Trunkenheit im Genusse, Ernüchterung, Ekel und Reue, verlorener Sohn, das Ende, der kalte ›Schwager mit den schwarzen Rossen‹. Punktum! Wo in diesem Zusammenhang zwischen den aus wirklichem Erleben heraus gewachsenen Liedern eine unbequeme Lücke klaffte, wurde flink was Ersonnenes eingeschoben. Ja, ich wurde während dieser Schneegestöbertage zu einem großen Wüstling in Versen! Und was von echten Lebensliedern nicht in den Kram meiner Idee paßte, das ließ ich weg.

Ein vernünftiger Verleger hätte dieses Bändchen natürlich nie genommen. Aber ich hatte einen gläubigen Freund, der immer sagte: »Teufel, jetzt muß doch endlich mal was 'rrraus von dir! Mit Dreiundzwanzig! Denk doch an Alexander den Großen!« Und um mich vorwärts zu treiben, versprach der gute, leichtsinnige Kamerad, mir das [159] Geld für die Druckkosten zu borgen. Also! Los! An einem Sonnabend, um die Dämmerung, lag das säuberlich geschriebene Manuskript vollendet vor mir. Und weil ich als echter Asra nun endlich gestorben war, wollte ich mir einen vergnügten Abend machen, zog Frack und weiße Binde an und verließ meine dreieckige Bude, um draußen zu Charlottenburg im Flora-Etablissement eine Redoute zu besuchen. Als ich auf die Straße trat, umwaberte mich ein weißes Gewirbel. Durch die lange Luisenstraße hinauf war keine Droschke zu finden. Endlich, beim Brandenburger Tor, entdeckte ich eine. Der Kutscher, wie ein weißer Schneemann, saß regungslos auf dem Bock.

»He! Kutscher! Flink! Ich will nach Charlottenburg.«

Er drehte das Gesicht. »Ick nich!« Den Schnee von sich abschüttelnd, hüllte er sich wieder in seinen Kragen.

Erst schimpfte ich, dann mußte ich lachen und konnte dem klugen Berliner diese Entscheidung bei solchem Wetter nicht verdenken.

Na, schließlich kam ich doch nach Charlottenburg hinaus. Auf dieser Redoute gab's eine Sensation. Eine seine, schlanke, prachtvoll gewachsene Tänzerin, als weißer Pfau maskiert, erregte [160] fieberhaftes Aufsehen. Immer war ein Schwarm von Verehrern und Sehnsüchtigen hinter dieser wundervollen Erscheinung her. Man konnte sich aber auch kaum was Schöneres denken als diesen weißen Pfau. Auf der reichen, kunstvollen Frisur der mit Silber gepuderten Perücke saß der zierliche Pfauenkopf mit dem nickenden Federkrönchen. Das Gesicht war mit weißen Seidenschleiern dicht umhüllt – daraus schloß man: eine Frau, die um keinen Preis erkannt sein will, eine Dame aus der hohen Gesellschaft, oder eine berühmte Bühnenkünstlerin? Ein schöner schlanker Hals, feingeformte Schultern, im Ausschnitt des Kleides das dezente Rätsel einer zarten Brust. Das weiße Atlasleibchen saß wie angegossen. Weiße Lederhandschuhe verhüllten die Arme bis zu den Achselspangen. Ein kurzes, gepufftes Seidenhoschen nach Art der spanischen Herrenmode aus dem 17. Jahrhundert. Die zierlich modellierten Beine in silbrig schimmernden Seidentrikots. Und von den Hüften rauschte nach rückwärts eine lange, weiße Atlasschleppe hinunter, locker überfallen von einem Halbrad weißer Pfauenfedern. Jeder Schritt war zierlich, jede Bewegung von vollendeter Grazie. Ein Bild, das auch im härtesten Männerherzen ein akutes Entzücken erwecken [161] mußte! Und zu tanzen verstand dieser weiße Pfau, daß man an die Primaballerina der Oper dachte. Wer die geheimnisvolle Schöne für ein paar Walzertakte eroberte, war glücklich. Mir gewährte sie ein Zipfelchen Mazurka durch die Hälfte des Saales. Dabei sprach zu mir ein seines, hohes Stimmchen, das, im Ton ein bißchen verstellt, mit großer Flinkheit Französisch parlierte, bis einer der Ungeduldigen mir die schöne Tänzerin entführte. Bei jedem Rundtanz hatte der weiße Pfau ein Dutzend Hospitanten und tanzte bei Quadrille und Lancier jede Figur mit einem anderen. Der Herrenschwarm, der ruhelos auf den Fährten des seinen Vogels war, vergrößerte sich von Stunde zu Stunde. Und in Hoffnung und Sorge wurden Wetten abgeschlossen, ob der weiße Pfau sich demaskieren oder um Mitternacht vom Ball verschwinden würde.

Endlich der Tamtamschlag, auf dessen Geheiß alle Masken fallen mußten. Und da gab's einen schreienden Aufruhr. Der weiße Pfau verschwand nicht aus dem Saal. Er demaskierte sich inmitten eines neugierigen Gedränges. – Ein Mann! – Als die Schleier fielen, kam ein erhitztes, apfeldickes Friseurpuppengesicht mit bläulichen Bartstellen zum Vorschein. Das Gesicht [162] des jungen Menschen glänzte in der dummen Freude seines Ballerfolges. Doch erschrocken guckte er drein und zwitscherte mit unbehaglicher Fistelstimme, als dieses aufgeregte Schreien und grobe Schimpfen der Enttäuschten, der Geärgerten und Wütenden begann. Alle Frauenzimmer lachten vergnügt; und eine mit lustiger Stimme schrie: »Det is die Rache des Kindes!« Unter Geschimpf und Püffen wurde der weiße Pfau aus dem Ballsaal hinausgedrängt – und dann erzählte man: der arme Vogel wäre draußen in der Damengarderobe noch unbarmherzig geprügelt worden.

Das Leben setzt mit raffinierter Kunst die schärfsten Kontraste nebeneinander. Ein paar Tage später, inmitten eines sibirischen Winters, schmolzen warme Südwinde und lachende Sonne innerhalb weniger Stunden diese lastenden Schneemassen spurlos von den Dächern und Straßen fort:


Der Frühling ist kommen

Über Nacht ins Land,

Her übers Meer von fernem Strand

Auf unsichtbaren Kähnen.

Die Häuser haben die Schlafmütz abgenommen,

Und von den Linden tropfen die Freudentränen,

Weil der Lenz gekommen.


[163] So sang ich am 6. Februar. Und am folgenden Tag, in dieser lachenden Frühlingssonne, kam mir ein großes Erlebnis. In meinem Tagebuch ist um ein leeres Blatt herum ein Lorbeerstab gezeichnet, und inmitten des leeren Blattes steht:


Heute, den 7. Februar,

nachmittags 3 Uhr 55 Minuten

den

Reichskanzler Fürst

Bismarck

vor dem kaiserlichen Schlosse

mit eigenen Augen gesehen.


Was ich bei der Niederschrift dieser Worte empfand, das brauch' ich nicht zu schildern. Jeder Lebende weiß, was Jugend fühlt, wenn sie einem Heros begegnet.

Ein paar Tage später, am 12. Februar, sah ich die Auffahrt zur Eröffnung des Reichstages. Zwei Stunden hatte ich schon auf gutem Posten ausgehalten, als das Anrollen der Equipagen und Droschken begann. Der Polizeileutnant, hinter dem ich stand, zeigte mir den Präsidenten Forckenbeck, den Freiherrn von Stauffenberg, Treitschke, Richter, Bamberger, Lasker, Bebel und die kleine Perle von Meppen. Am Hochrufen und Hüteschwenken [164] merkte man schon von weitem, daß der Kaiser, der Kronprinz und Bismarck kamen. Mit allem Temperament gesunder und kräftiger Jugend jauchzte ich meine Begeisterung aus der Seele heraus. Bismarck sah mich im Vorüberfahren an und lachte – als wäre in ihm der Gedanke: »Der hat eine feste Gurgel.«

Krösus der Erde! Wo bist du? Versuch' es, mir diesen Blick abzukaufen! Du Bettler!

Während der folgenden Wochen machte ich ein paar Versuche, Karten für eine Reichstagssitzung zu bekommen. Doch wenn man erwartete, daß Bismarck sprechen würde, war für einen unprotegierten Sterblichen nichts zu kriegen. Zu einer anderen Sitzung zog es mich nicht. Die wirtschaftlichen Nüchternheiten, um die man sich damals im Reichstag zankte, waren keine Angel, an die das Herz der Jugend sich hängen konnte. Ich begann auch von der Politik ein bißchen abzurücken. Die Nachwehen des russisch-türkischen Krieges, der Krieg in Afghanistan, Mac Mahons Sturz und Gambettas Wahl zum Präsidenten der französischen Kammer, die Pest in Rußland und der Kaffernkrieg nach der Niederlage am Tugelafluß – das alles war mir wie fernes Marionettenspiel. Sogar mein soziales Programm [165] begann zu verstauben. Doch daß ich bei diesem Theatergerenne und Literaturgeplänkel nicht völlig der Politik entfremdet wurde, wenigstens der heimatlichen nicht, das beweist eine Tagebuchnotiz vom 21. Februar. Sie lautete:

»Vorgestern, wie in der Zeitung gelesen, apostrophierte der ›patriotische‹ Abgeordnete Dr. Sigl den König von Bayern, den bayrischen Staat und seine Minister mit diesen geflügelten Worten: ›Die katholische Kirche hat Dynastien, Reiche und Völker verschwinden sehen. Sie wird auch noch bestehen, wenn von euch allen kein Mensch mehr etwas weiß. Der Vatikan braucht nur zu wollen, und der bayrische Staat und was dazu gehört mitsamt seinen Ministern purzelt über den Haufen.‹ – – Nicht schlecht! Und das nennt sich eine thronerhaltende Partei! Wittelsbach, werde hart! Volk, wann gehen dir die Augen auf!«

Es erscheint mir heutzutage nicht unnützlich, sich dieser Ansicht eines Wortführers der bayerischen ›Patrioten‹ von 1879 zu erinnern. –

Ein paar Tage, bevor ich diese Notiz in mein Tagebuch kritzelte, sah ich wieder einmal vor mir die Augen einer ungewissen Sache, die Leben oder Tod bedeuten konnte.

Bei einer Abendkneipe des A. L. V. war es zu [166] einer heißblütigen Debatte gekommen. Über was wir da stritten, das weiß ich nimmer. Aber ich muß wohl im Dienste meiner Überzeugung ein bißchen ausfällig und sehr grob geworden sein. Denn am anderen Morgen wurde mir von zwei Kartellträgern und Vereinsbrüdern eine Säbelmensur gebracht. Ich war perplex, wußte schon nimmer, was ich am Abend vorher in der Hitze des literarischen Gefechtes räsoniert und geschrien hatte. »Aber! Kinder! Was wollt ihr denn da von mir? Das ist doch verrückt. Unter Freunden wird man doch noch glatt von der Leber weg reden dürfen. Macht doch keinen Unsinn!«

Der eine sagte: »Willst du vielleicht kneifen?«

Mir wurden die Lippen kalt. »Nein. Aber bevor ich mit dem anderen rede, habt ihr zwei von mir jetzt eine Pistolenforderung unter schweren Bedingungen. Adieu!«

Von dem Bild der beiden, als sie gingen, blieb mir nur in Erinnerung, daß der Kleinere von ihnen prachtvolle Röhrenstiefel trug, die meinen Neid erweckten und mich an meine Gymnasistenschulzeit, an meine Wanderungen von Augsburg nach Welden erinnerten.

Bis zum Abend des zweiten Tages war alles abgeredet. Die Verhandlungen wurden im Café [167] Bauer geführt. Die beiden Pistolenmensuren sollten am nächsten Vormittag in Neustadt-Eberswalde erledigt werden.

Mein Leichtsinn blieb obenauf Aber schließlich, bei der Lampe in meiner stillen Bude, wurde mir doch ein bißchen schummerich, so oft ich heimdachte. Zwei Pistolenmensuren in einer Stunde? Läuft die erste glücklich ab, so geht doch sicher die zweite schief. Ein schöner Unsinn, das! Aber es war nicht anders zu machen.

Ich schrieb an Papa. Und schrieb an die Mutter. Beim Schreiben dieses Briefes mußte ich häufig aufstehen und im Zimmer herumgehen, bis ich die Ruh wieder fand. Bevor ich die beiden Briefe versiegelte, küßte ich ihre Überschriften.

In meinem Tagebuch stehen, von jenem Datum, die beiden Strophen:


Die Sonne steigt, die Sonne flieht

Und bringt uns Stund' um Stunde.

Das Leben kommt, das Leben zieht

Und schlägt uns Wund' um Wunde.


Die Freude ist wie rares Gold

Inmitten dunkler Leiden –

Ob auch die kalte Lippe grollt,

Das Herz muß sich bescheiden.


[168] Unter diese kontemplativen Verse schrieb ich mit fünf Zeilen mein Testament. Es lautete:

Das Manuskript meiner Gedichtsammlung

Vom Stamme Asra ist zum Binden beim

Buchbinder Reibedanz in der Luisenstraße.

Meine Rolla-Übersetzung ist noch immer

in Händen Paul Lindaus.


Sehr erstaunt war die gute Frau Henkel, als ich um halb zwölf Uhr nachts und mitten im Monat meine Rechnung verlangte – und auch bezahlte. Diese schwerbegreifliche Sache erklärte ich ihr so:

»Ich bin für morgen in einen Spielklub eingeladen. Drum will ich vorher meine Schulden bezahlen. Wenn ich dann morgen Pech habe und den letzten Knopf und alles bis aufs Hemd verliere, wird niemand geschädigt.«

Erst hielt mir Frau Henkel im gehäkelten Unterrock eine lange Predigt über die Verwerflichkeit des Hazardspiels. Sie dachte aus ›Kümmelblättchen‹. Aber dann versprach sie mir:

»Ick halte Sie de Daumen. Passen Se mal uff, da jewinnen Se!«

»Ich danke Ihnen. Ja. Tun Sie das! Vielleicht hilft es. Sie sind eine liebe brave Frau! Gute Nacht!« [169] Ein paar Minuten bummelte ich noch zwischen den schiefen Wänden meiner Stube umher. Dann gab ich die zwei versiegelten Briefe in mein Tagebuch, ließ am Biedermeiersekretär den Schlüssel stecken und legte mich ins Bett. Nach einer Viertelstunde schlief ich. Fest!

Marco Brociner, der mein Sekundant war, mußte mich wecken, als er früh um halb 8 Uhr kam, mich abzuholen.

Während ich mich wusch und ankleidete, stand er am Fenster und guckte hinaus ins neblige Grau.

Ich war fertig und sagte: »So!«

»Alles in Ordnung?«

»Alles.«

Wir tranken zusammen Kaffee. Brociner war ein bißchen blaß. Doch er plauderte heiter und ablenkend.

Ich wollte der Frau Henkel auch diese doppelte Portion Kaffee noch bezahlen. Aber sie sagte: »Nee, nee, nee! Berappen tun Se den Kaffeee man, wenn Se bei's Spiel wat Ordentliches jeklaut habn. Erst det Jeschäft und denn det Verjniejen.«

Nun gingen wir.

Auf der Schwelle guckte ich mich um. Ob [170] ich meine liebe, dreieckige Bude wohl wieder sehen würde?

»Na freilich, ja!«

In gruselige Spannung und in Sorge um mein bißchen Wohlergehen vermag ich jetzt niemand zu versetzen. Man weiß doch: ich lebe. Und daß man noch lebt, ist schließlich immer das Beste an den Geschichten, die man von sich selbst erzählen kann.

[171]
4.
IV.

Ich schilderte, wie ich nach Kaffee und Butterbrot zum Kampfe schritt. Und da mag es nun romantische Seelen geben, die mich als sicheren Schützen und als kaltblütigen Helden bestaunen möchten. Ich muß sie enttäuschen – Wahrheiten enttäuschen immer. Ich kann nicht Mut und Blut und Seelenruhe schildern, kann nur von einem lustigen Tag und einem Abend mit schwer verdorbenem Magen berichten.

Wir fuhren schweigend zum Bahnhof mein Sekundant und ich. Als wir den Wartesaal betraten, waren meine Gegner mit ihren zwei Sekundanten schon vorhanden. Sie saßen an einem runden Marmortisch. Wir alle waren Duzbrüder des A.L.V. Nun taten wir, als hätten wir uns nie gesehen. Nach ritterlicher Sitte pflegt man sich erst auf dem Kampfplatze zu begrüßen.

[172] An einem anderen Tische saß der Unparteiische mit dem Arzt. Die beiden guckten sehr würdevoll drein.

Weil bis zum Abgang des Zuges nach Neustadt-Eberswalde noch Zeit war, frühstückten wir nochmal: Frankfurter Würstln mit Meerrettich. Doppelte Portion! Erstens hatte ich wirklich Appetit, und zweitens kalkulierte ich: vor einer Pistolenmensur mit Genuß zu speisen, das macht einen guten Eindruck. Da den ken sich doch die anderen: der denkt nicht ans Sterben! – Sehr schneidig biß ich in die Würstln hinein. Nicht nur beim Hazardspiel und in der Liebe, auch bei Ehrenhändeln muß man mit Psychologie arbeiten.

Während ich schmauste, fiel mir ein eleganter Herr auf mit Zylinder und grauer Hose. Der ging immer so merkwürdig im Wartesaal hin und her und guckte so eigentümlich. Und dieses Gesicht? Wo hatt' ich nur dieses Gesicht schon gesehen? Richtig! Bei der Auffahrt zur Reichstagseröffnung. Der Polizeileutnant! Der mir die kleine Perle von Meppen gezeigt hatte. Und im gleichen Augenblick, als ich ihn wieder erkannte, ging er rasch auf meine beiden Gegner zu und sprach sehr höflich mit ihnen. Sie bekamen kreideweiße Gesichter und sahen sehr erschrocken drein.

[173] Und wie die Ölgötzen blieben sie sitzen, während der Herr mit dem Zylinderhute rasch zu uns herüberkam. Er fragte: »Die Herren Ganghofer und Brociner?«

»Ja.«

»Sie sind verhaftet. Ich ersuche Sie, mir ohne Aufsehen zu folgen.« Er winkte zum anderen Tisch hinüber. Und dann ging er neben uns Sechsen her und führte uns in ein Amtszimmer des Bahnhofes. Halb war ich perplex und halb empört. Der Herr, der seinen Zylinderhut weggelegt hatte, zog die Handschuhe aus; von uns sieben war er der einzige, der welche hatte. Er sprach: »Ich bedauere, die Herren Sekundanten einer Leibesvisitation nach Waffen unterziehen zu müssen.«

»Na,« dachte ich aufatmend, »da wird er sich schneiden!« Denn wir sollten die Waffen erst draußen in Neustadt-Eberswalde von einem Corps der Forstschule bekommen. Sehr harmlos begann ich Aufklärungen über diese ›unmotivierte Verhaftung‹ zu fordern, sprach von Irrtum und Mißgriff der Polizei und hoffte noch immer, daß wir da entwischen und unser grimmiges Ehrenwerk vollenden könnten. Der Herr Polizeileutnant schien gar nicht zu hören, daß ich sprach. Aufmerksam griff [174] er den Sekundanten meiner beiden Gegner in alle Taschen und unter die Westen. Brociner, als die Visitation bei ihm begann, war unerklärlicherweise das verkörperte Bild eines belasteten Gewissens. Krampfhaft hielt er den Rock zusammen und beteuerte: »Ich habe nichts, ich habe nichts, ich gebe mein Ehrenwort, daß ich keine Waffe habe!«

Ich mahnte: »Lieber Freund, was liegt denn dran, wir sind doch keine Verbrecher, der Herr wird seinen Irrtum einsehen, lassen Sie sich doch in aller Gemütsruhe visitieren!«

Er blickte kummervoll zu mir auf »Mir ist das nicht angenehm ...« Und krampfhaft zog er wieder die Rocksäume übereinander.

Es schoß mir ein erschrockener Gedanke durch den Kopf. Um Gottes willen, er wird doch nicht irgendwas Verfängliches von seinen russischen Freunden oder aus dem sozialdemokratischen Lager in der Tasche haben? Dann wird er hopp genommen und aus Deutschland abgeschoben! Während ich grübelte, wie ich durch einen glücklichen Einfall die Aufmerksamkeit des Polizeibeamten ganz auf mich allein lenken könnte, klagte Brociner in wachsender Erregung: »Ich gebe mein Ehrenwort, ich gebe mein Ehrenwort ...«

»Soooo?« sagte der Leutnant in der grauen [175] Hose triumphierend. »Aber ich fühle doch hier eine Pistole!«

Brociner, mit der Miene eines in sein Schicksal ergebenen Menschen, sträubte sich nicht länger gegen die Enthüllung dieses Geheimnisses. Und aus seiner Brusttasche zog die flincke Hand des Polizeibeamten eine kleine Kognakbulle in Form eines Bocksbeutels heraus. Nun mußten wir alle lachen. Nur der Leutnant in der grauen Hose war ein bißchen verlegen. Doch er faßte sich rasch und gab meinem mädchenhaft errötenden Freunde das Kognakfläschchen mit einer höflichen Verbeugung zurück: ›Sie hatten wohl für das blutige Schauspiel dieses Morgens eine kleine Herzstärkung nötig?‹ Er nahm den Zylinderhut. ›Die Herren Sekundanten brauche ich weiter nicht zu behelligen. Die Herren Gegner muß ich ersuchen, mit mir zum Polizeipräsidium zu fahren.‹

Das wurde unter dem Dache des geschlossenen Viersitzers eine unerquickliche Kutschiererei.

In dem grauen Hause der staatlichen Ordnung nahm uns ein sehr würdevoller Polizeirat ins Gebet. Es war nichts mehr zu leugnen, nichts mehr zu bekennen. Die Polizei wußte schon alles. Meine beiden Gegner hatten auf ihrer Bude ein bißchen laut von unserem Unternehmen [176] gesprochen, die Hausfrau hatte gelauscht, alles erschnappt, und die dumme Urschel war schnurstracks auf die Polizei gelaufen. Und nun ließ uns der Polizeirat diese Alternative: entweder sofort in Untersuchungshaft zu wandern, oder uns vor seinen Augen auf Ehrenwort zu versöhnen. Als leidlich vernünftige Menschen zogen wir alle drei das letztere vor und verließen mit gutem Humor und als neu vereinte Freunde den Polizeipalast. Die Sekundanten erwarteten uns beim Tor. Nun lachten wir alle sechse, und lustig wirbelte in uns die Freude des unbeklecksten jungen Lebens. Natürlich hielten wir gleich ein lukullisches Versöhnungsmahl, zu dem wir den netten Herrn Polizeileutnant einluden, welcher Schultze hieß.

Wir schmausten mit Genuß und becherten lustig. Brociner wurde wegen der ›Pistole‹ ein bißchen gehänselt. Er lachte dazu, nahm mich unter den Arm und sagte herzlich: ›Ja, ich habe mich schrecklich aufgeregt. Die ganze Nacht hab ich kein Auge zugemacht, und in der Früh war mir elend. Sie wissen doch, wie ich Ihren Vater und Ihre Mutter verehre. Und Ihnen bin ich doch gut. Aber ich weiß doch, was für ein Krawallkäfer Sie sind! Ich habe schreckliche Angst [177] um Sie gehabt. Und Wildenbruch auch. Dem hab ich schon Botschaft geschickt, daß alles gut abgelaufen ist.‹

Aber ganz gut lief die Sache doch nicht ab. Unsere Bowle war stark wie ein Ochse. Und wir becherten wie die Bürstenbinder, begossen unser unversehrtes Leben immer wieder mit einem Ganzen. Im Viertelsrausche feierten wir unseren, neuen Freund Schultze' mit langen Reden. Dieses sechseckige Zutrinken warf den Tapferen aus dem Sattel des dreibeinigen Wirtsstubengaules. Um vier Uhr lag er – ich will nicht behaupten, daß er unter dem Tische lag – aber irgendwo lag der Polizeileutnant. Und blieb da liegen.

Als ich heimkam in meine schiefe Bude, umarmte ich die gute Frau Henkel und las die an Vater und Mutter geschriebenen Briefe nochmals, bevor ich sie verbrannte. Dabei wurde ich völlig nüchtern. Und jetzt – diesen wehen und ungeschickten Worten gegenüber, die ich da in das Herz meiner Mutter hineingeschrien hatte, und bei den Bildern, die aus diesen Worten vor mir auftauchten – jetzt führ mir die verspätete Aufregung in die Eingeweide wie ein Messer, das sich siebenmal in mir umdrehte.

Am Abend war Friedensfeier im A. L. V.

[178] Ich konnte nicht heiter werden. Mir war nicht wohl. Ich hielt dieses Wühlende in mir für einen schwer verdorbenen Magen. Die Freunde rieten mir als Gegenmittel saure Rollmöpse an. Gehorsam verschluckte ich zwei von diesen schauerlichen Essigschlangen. Sie wirkten verhängnisvoll. Mit Symptomen, wie sie der Seekrankheit schwersten Kalibers voranzugehen pflegen, stieg ich in eine Droschke. Unter den Linden begann die Katastrophe. Sie dauerte bis weit hinunter in die Luisenstraße.

Dann schlief ich wie ein Stein. Bis zum anderen Nachmittag.

So sehen die Tragödien der Jugend aus, wenn das Schicksal einen Schattenstrich dabei vergaß. Diese Vergeßlichkeit wirkt wie das wohlwollende Lächeln einer Sphinx. Auch die große, steinerne Bestie hat Humor. Man braucht ihn nur ein einziges Mal in ihren Augen gesehen zu haben, dann glaubt man für immer dran, und ihr Antlitz verliert die Züge des Schreckens.

Während der folgenden Wochen blieb ich viel daheim, schrieb fleißig an die Mutter und arbeitete fest. Bei den Gedankenspielen, die mir jenseits einer überbrückten Tiefe kamen, drängten sich mir zwei neue Stoffe auf: ein heiteres Epos, [179] ›Der Trinker von Ro thenburg‹ – die Geschichte jenes braven Bürgermeisters, der nicht durch berserkerische Tapferkeit, sondern durch einen gesunden, imponierenden Schluck seine bedrohte Stadt vor der Vernichtung rettet – und eine Tragikomödie ›Nero‹, in der ich zwischen rauchenden Blutbächen die humoristischen Linien an einem Wüterich der Weltgeschichte finden wollte.

Neben diesen Arbeitsplänen kam für mich eine wunderliche, ausregungsvolle Zeit: der Druck meiner Gedichte. Es war ja von mir schon mancherlei in Zeitungen erschienen. Aber ich selber hatte dieses journalistische Geplänkel nie recht ernst genommen. Erst jetzt begann ich aus dem Wundertopf der Druckerschwärze richtig Blut zu lecken. Dieses Gleichnis hinkt, es stimmt nicht in der Farbe. Doch sein Sinn ist zutreffend. Der Anblick des ersten Korrekturbogens hat für eine dreiundzwanzigjährige Poetenseele etwas Berauschendes, auch etwas Gefährliches. Aus diesen sechzehn Seiten ruppigen Papieres, aus den mystischen Tüpfelaugen dieser schwarzen, winzigen Kobolde quillt etwas Rotes und Brennendes heraus, etwas unheimlich Dampfendes. Zum ersten Male steht ein dunkler, unbekannter Name scharf und deutlich gedruckt auf dem Anfangsbogen eines [180] werdenden Buches! Es erwachen da Gefühle, wie sie heutzutag ein Mensch empfinden muß, der das Fliegen lernt. Vorerst eine Trunkenheit, bei der man kein präzises Schauen mehr fertig bringt. Doch im schwimmenden Rausche dieser wunderlichen Freude kommen klare, herzbedrückende und halswürgende Minuten. Da hat man hell und schmerzend die Empfindung: Jetzt spielst du mit deinem Leben; was dich erhöhen oder vernichten wird, liegt nicht in der Kraft deines Willens, nur im Kern des in dich gelegten Wertes, den du selbst nicht zu erkennen, nicht zu bestimmen vermagst; du stehst vor dem Zinken eines Scheideweges, von dem der eine Pfad zur Höhe, der andere zu Enttäuschung, Lächerlichkeit und Verzweiflung führt, und da springst du mit geschlossenen Augen los, ohne zu wissen, ob du festen, steigenden Boden unter den Füßen behalten oder ins Leere purzeln wirst.

Nach der Ratlosigkeit solcher Stimmungen ist immer gleich der hoffnungsduselige Glaube wieder da. Man wird gedruckt! Das heißt: jetzt fängt eine neue Epoche der Menschheit an, eine Umwälzung aller Dinge, die man als deutsche Kunst und Literatur bezeichnet. Ja! Das glaubt man! Bei dreien oder vieren, welche deutsche Verse [181] schrieben, kam es auch so. Bei tausend anderen, die es glaubten, war es ein Irrtum. Da zählt der meine nicht als eitles Verbrechen mit, nur als heitere Notwendigkeit. Könnte man im ›Anfang aller Dinge‹ solchem Irrtum nicht verfallen, dann begänne man seinen Weg auf dem Boden der Kunst als Lump, als Heuchler und ekelhafter Macher – oder als etwas Schlimmeres noch: als bewußter Dilettant.

Schöner, berauschender Glaube! Dieser Glaube an sich selbst! Doch bevor ich noch den letzten Korrekturbogen erledigt hatte, war dieser Glaube zerstört, zerrieben, zerbröselt. Im Manuskripte hatten mir die meisten dieser Lieder und Gesänge sehr gefallen. Doch während ich die Korrekturen und Revisionen las und Vers um Vers immer wieder vornahm, wurden mir diese Gedichte immer schrecklicher. Ach, diese fürchterlichen Tage und Nächte vor der Platte meines Biedermeiersekretärs! Die gute Frau Henkel wollte sich's gar nicht ausreden lassen, daß ich an einer schweren, ›det Jehirne anjreifenden‹ Krankheit litte. Ich erinnere mich, daß ich spät in einer Nacht, als die brave Seele mir wieder einmal mit Kamillentee kam und mich ins Bett schicken wollte, verzweifelt schrie: »Aber liebe, liebe Frau Henkel! [182] Ich bin nicht krank! Sie sehen: ich dichte doch nur!« Das hielt sie fürnoch gefährlicher als Nervenfieber und Gehirnerweichung.

Ich änderte, hobelte und feilte mit zäher Verbissenheit. Ging der Revisionsbogen fort, dann war ich überzeugt: »So ist es gut!« Erhielt ich den gedruckten Bogen, dann war das Zähneknirschen der Verzweiflung wieder da.

Schließlich bekam ich von der schlummerfernen Ruhelosigkeit dieser ›Korrekturnächte‹ wirklich einen schweren Klaps an meiner sonst sehr festen Gesundheit. Frau Henkel triumphierte als Prophetin. »Wenn ick et nich jesagt hätte! Nu haben wir die Bescherung!« War es nur ein Nervenchok? Oder war's eine Lungenentzündung? Denn ich mußte bei kühler Nacht in der Glut meiner Qual immer alle Fenster aufreißen. Die Sache ging an 42° Fieber vorbei.

Nach zwölf Tagen war ich wieder leidlich in Ordnung. Während der Rekonvaleszentenwoche – im frühen Frühling, der schüchtern grünen wollte – erlebte ich ein liebes kleines Abenteuer, einen Extrakt-Roman in drei Stunden und drei Kapiteln: Sichfinden, Beisammensein, Abschied für immer.

Um Frühlingsluft zu trinken, war ich an einem [183] milden, zauberblauen Tag zum Wannsee hinausgefahren. Es ging auf den leuchtenden Abend zu. Zwischen Stauden, an denen die Knospen dufteten, und zwischen dem leise glucksenden Wasser ging ich am Ufer so hin –


»Und nichts zu suchen,

Das war mein Sinn.«


Und plötzlich steht in der Abendglut ein junges hübsches Mädel vor mir, scheint erschrocken und erfreut, sieht mich mit großen herzlichen Augen an und lächelt.

»Bitte ... sind Sie nicht der Herr, der mich in der Nacht einmal, vor einem Vierteljahr, in der Luisenstraße gegen einen abscheulichen Menschen beschützte?«

Findlingskinder, mit denen es das Schicksal gut meint, pflegen ein charakteristisches Muttermal zu besitzen, mit dem sie alles Nötige beweisen können. Mein Havelock besaß eine zweispannenlange Naht, die das Werk einer Berliner Kunststopperin war. Man muß ein Einsehen haben und darf es mir nicht verübeln: daß ich am schönen, von dem kommenden Lenz und einer sinkenden Sonne umgluteten Wannsee mit dieser kunstvollen Naht ein bißchen renommierte. Das Mädel war zu nett! [184] Und köstlich war es, zu sehen, wie sich in diesen zwei braunen Mädchenaugen eine kleine, bedeutungslose Sache zu einer großen Tat verwandelte. Je häufiger ich versicherte: »Das war doch gar nicht der Rede wert!« – um so stattlicher wurde der Held aus jener Nacht mit dem Glatteis. Der liebe Gott bekam einen seinen Dank für mein glücklich verschontes Leben. Und der Havelock wurde eine verehrungswürdige Reliquie. Ich mußte dem guten Mädel eine halbe Stunde lang zureden, bis es den Entschluß zu fassen vermochte, sich irdisch auf diesen heiligen Havelock hinzusetzen, weil man auf dem Schweinfurter Grün des kurzen, feuchten Frühlingsgrases wirklich nimmer länger sitzen konnte, ohne einen katastrophalen Schnupfen zu riskieren.

Frau Henkel, in der Sorge um mein kaum geleimtes Wohlbefinden, hätte im gehäkelten Unterrock die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und wäre wieder Prophetin geworden. Doch die tauende Frische dieses Frühlingsabends brachte meine von Apoll geschmälerte Gesundheit vorwärts, statt ihr zu schaden.

Drei Stunden – in glühendem Glanz, in blauer Dämmerung, die letzte unter dem Schimmer winziger Sterne! Diese drei lebenden Stunden waren wie drei Strophen eines leise träumenden [185] Frühlingsliedes – eines jener kleinen Frühlingslieder, von denen Heinrich Heine sagte, daß sie ›klingen‹.

Ein Erschrecken vor der Dunkelheit, die das Mädel nicht hatte kommen sehen; ein Denken an die Mutter, die irgendwo da droben saß, von wo Musik herunterdudelte; ein letzter, dankender Kuß, zwei pressende Arme um meinen Hals – und nun das leichte Rauschen eines Kleides, das ich in der Finsternis schon nimmer sah.

Ach, Gott! Drei Stunden! Und das Wichtigste hatte ich völlig vergessen! Ich wußte noch gar nicht, wie das Mädel hieß. Der Frühling hatte uns beiden nicht soviel Zeit gelassen, um nach ›Stamm und Art‹ zu fragen oder uns in die Rolle des Richters hineinzufinden, der sich angelegentlich nach den Personalien erkundigt. Während dreier Stunden hatte das liebe Mädel zwei Namen: ›Sie‹ und ›Du‹ – geradeso, wie ich. Alles Weitere erschien uns nebensächlich. Und so, wie sie waren, jene drei Stunden, so waren sie schön.

Ein Weilchen blieb ich noch auf meinem braven Havelock sitzen, die Arme um das Knie geschlungen, und blickte über das schwarze Wasser hinaus, auf dem die Spiegelbilder zweier Sterne wie erlöschende Flämmchen gaukelten. Ich wußte [186] nicht klar und richtig, ob ich da ein Liebes und Köstliches nur geträumt, oder ob ich es wirklich erlebt hatte? Wirklich?

Was war das? Ein Märchen, wie das Leben sie ersinnt?

Für alle Fälle war es ein Beweis dafür, daß es unleugbar eine schöne und dankbare Sache ist, die Unschuld zu beschützen.

Wir beide sahen uns niemals wieder.

Lang ist's her. Aber gestorben ist die Unschuld vom Glatteis in der Luisenstraße gewiß noch nicht. Für ein frühes Sterben war sie viel zu nett und zu gesund. Und da seh' ich jetzt ein Bild. In Berlin, oder in Potsdam, oder in Spandau, oder irgendwo lebt eine fünfzigjährige Frau. Hat Mann und Kinder. Ihr Leben ist ruhig, klar und selbstverständlich. An vergangene Dinge denkt sie wenig. Die Gegenwart ist ihr wichtiger. Nur jedes Jahr einmal, wenn um den Frühlingsanfang herum ein leuchtender Abend versinkt – und es brennt im dämmerigen Zimmer noch kein Licht – dann denkt diese fünfzigjährige Frau an etwas Vergangenes und sieht einen stillen dunklen See. Und lächelt.

Ihr Mann wird neugierig. »Warum lachst du?«[187] »Mir ist was eingefallen.«

»Was denn?«

– Und da möcht' ich nun gerne wissen, welche Antwort sie auf diese Frage gibt? Erraten kann ich's nicht. Drei Stunden waren nicht ausreichend, um diese liebe, dankbare Frauenseele so gründlich kennen zu lernen.

Was ist doch das Leben eine bunte Sache! Gleich neben der leisen Geschichte vom Wannsee steht die Erinnerung an die große Aufregung der Berliner über das neu erfundene Asphaltpflaster. Man konnte da immer Droschkengäule liegen sehen, die man nur mühsam wieder auf die zitternden Beine brachte. Die Volksseele kochte von heißer Barmherzigkeit für die armen Tiere. Wenn sich um solch eine gefallene Stute zweihundert empörte Menschen sammelten, konnte man sie über die Mißwirtschaft der Berliner Polizei ganz fürchterlich klagen hören. Und die Droschkenkutscher! Was die erst sagten! Da konnte man den Berliner Dialekt in seinen tiefsten Tiefen studieren. Die Zeitungen debattierten über die Sache. Und die Polizei hielt es für nötig, etwas zu tun, ließ Architekten, Rennstallbesitzer und Tierärzte als Sachverständige vernehmen und versandte beruhigende Communiqués an die Journale. – Und [188] neulich, als ich in Berlin war, räsonierte ein Kutscher über eine Straße, die noch nicht mit Asphalt gepflastert war: weil sich der arme Gaul so schrecklich plagen mußte, um den Wagen über diese ›Berje von Iranit‹ hinüberzubringen. – So ist's überall, nicht nur in Berlin. Und in allen Dingen. Das Leben wandelt sich immer zum Besseren. Nur die Menschen bleiben immer die gleichen. Mögen die Dinge des Lebens sein, wie sie wollen – zuerst schimpft der Mensch. Dann kann's weiter gehen.

Eine lebhafte Erinnerung ist mir an den Tag geblieben, an dem ich in einer Berliner Zeitungsredaktion das neu erfundene Lüdtge'sche Telephon zu sehen bekam. Mir lief die schöne Gänsehaut eines wundersamen, prachtvollen Grauens über den Rücken und durch die Seele, als ich in diesen kleinen, sonderbaren Apparat hineinlauschte und plötzlich klar und deutlich die Stimme eines Menschen reden hörte, von dem ich nicht wußte, wo er war. Man sagte mir: der Mensch, der mit dieser geisterhaften Stimme sprach, befände sich nicht nur in einem anderen Zimmer, sogar in einem anderen Haus. Unglaublich! An jenem Tage war ich sehr stolz auf das siegende Genie der menschlichen Wissenschaft.

[189] Während der letzten Aprilwochen, als die bulgarische Fürstenkrone geschmiedet wurde und die Besetzung von Bosnien sich vorbereitete, gab es in unserem A. L. V. einen Kampf, der uns wesentlich wichtiger schien als die politischen Seifenbläsereien ›hinten, weit, in der Türkei‹. Wir liebten Wildenbruch und glaubten an ihn. Die Ablehnung, die seine Dramen von allen Theaterdirektoren erfuhren, wirkte auf uns wie eine persönliche Beleidigung, wie ein Verbrechen wider die heiligen Werte des Lebens. Und unser Präses Berthold Litzmann hatte eine schöne, kühne Idee: Man muß die Aufführung eines Wildenbruchschen Werkes erzwingen; muß der Menschheit nur einmal zeigen, wer Wildenbruch ist und was er kann; dann macht sich alles Weitere von selbst; die Theaterdirektoren sind blinde Hafen, aber das Publikum hat Verstand und Urteil.

Der Same, den Litzmann streute, wurde nach vielen Schwierigkeiten und Hemmnissen zu einer prächtigen Ernte. Für die Aufführung wurde wieder, wie beim ›Wilhelm Tell‹, das kaltgestellte Nationaltheater gemietet. Die ersten Proben hielt man auf der Dilettantenbühne eines vorstädtischen Wirtshauses. Zur Darstellung hatte man die Sektierer-Tragödie ›Der Mennonit‹ gewählt. Die [190] Rollen wurden mit jungen, arbeitsfreudigen Schauspielkräften besetzt, zu denen sich noch ein paar Mitglieder des A. L. V. gesellten. Wildenbruch führte selbst die Regie. Ein Neuling auf den Brettern! Und zeigte doch gleich beim ersten Versuch die Kraft und Ruhe eines erfahrenen Theatermannes. Und zäh wie Eisen blieb er. Kein Hindernis entmutigte ihn, keine Verschleppung machte ihn müde. Ein paarmal stand es auf der Kippe, daß die Sache ins Wasser zu fallen drohte. Aber Wildenbruch und Litzmann hielten das mühsam Werdende aufrecht. Der bedeutungsvolle Abend brachte ein erschreckendes Defizit, doch einen großen künstlerischen Erfolg. Die Darstellung war gerade ausreichend, um nicht zu schaden; doch ehrliche junge Begeisterung glänzte in diesem halben Können. Sie half auch mit. Aber den starken und nachwirkenden Sieg erfocht der Dichter für sich allein. Von den paar hundert überraschten Menschen, die sechs oder sieben Bankreihen füllten, wurde Wildenbruch immer wieder mit hellem Jubel herausgerufen. In der Norddeutschen Allgemeinen, die für die Theaterdirektoren eine maßgebende Stimme war, stand eine begeisterte Kritik. Wildenbruchs tapferer Apostel Berthold Litzmann hatte sie geschrieben. In dieser Kritik, die der Welt[191] einen neuen Mann verkündete, war eine Figur des Stückes als ›Gemisch aus Frömmelei und Wollust‹ bezeichnet. Ein wirksamer Terminus für die Zeit des Prozesses contra Marpingen! Die Theaterdirektoren begannen nach Wildenbruch und seinen Werken zu fragen. Der Weg, den dieser Starke und Redliche über die deutschen Bühnen machte, nahm seinen Anfang mit jenem 22. April 1879.

Nach diesen Tagen freudiger Begeisterung für das Werk eines anderen kam für mich selbst ein bitteres Ernüchtern. Mein Buch erschien. Ein schweres Postpaket brachte mir fünfzig gebundene ›Freiexemplare‹. Sie standen als hoher Posten in der Rechnung; ein bißchen unsichtbar; es war mit ihnen wie mit der Kopfbedeckung des Bürgermeisters von Bischofshofen. Der hatte im Gemeindekonto einen Hut verrechnet, den ihm der Wind bei einer Amtshandlung davonwehte. Der Bezirksamtmann von Berchtesgaden sagte: »Sie, das geht nicht, das ist ein privater Posten! Der muß heraus.« Nach acht Tagen kam die neue Rechnung, und der Bezirksamtmann sagte befriedigt: »Na also, jetzt ist ja der Hut draußen!« Da lachte der Bürgermeister von Bischofshofen: »Der is schon noch drin! Aber Sie finden ihn halt nimmer!«

[192] Heute kann ich lachen über den Mißerfolg, den die Publikation meiner Studentengedichte bei mir selbst erzielte. Aber damals war ich einen Tag lang wie ein Irrsinniger. Schon von außen war das Bücherl schrecklich anzusehen. Die eine Hälfte der Freiexemplare war blitzblau gebunden, die andere maikäserbraun. Und als ich erst las! Seit jener Stunde weiß ich, was Kongestionen sind. Dieses fertige Buch stand mir nun wie eine halbwegs fremde Sache gegen über, über die ich ein zutreffendes Urteil fand. Ich merkte, daß ich da ein paar Schock unreifer Pflaumen meiner Seele in die Welt hinausgeschickt hatte.

Mit diesen Freiexemplaren, die mir den Aufenthalt in meiner dreieckigen Bude verleideten, wollte ich so rasch wie möglich aufräumen. Bei jeder Wanderung ins Café, bei jedem abendlichen Ausgang nahm ich ein halb Dutzend Bändchen in allen Taschen mit, den einen Tag die maikäserbraunen, den anderen Tag die zwetschgenblauen. Und wo ich einen Menschen erwischte, dem ich ein Exemplar ins Herz stoßen konnte, fing ich gleich zu widmen an: »Meinem treuen, innig geliebten Freunde ...« War ich mit der Widmung so weit gekommen, dann mußte ich immer fragen: »Wie heißen Sie?«

[193] Eine Woche brauchte ich, bis ich den Mut fand, ein Exemplar an Vater und Mutter zu schicken. Mit Herzklopfen öffnete ich fünf bange Tage später die Antwort. Papa, der bei aller Güte sonst sehr strenge war, urteilte überraschend milde und wünschte mir neben vielen ernsten Ratschlägen guten Erfolg auf dem begonnenen Wege. Aber die Mutter! Diese sonst so nachsichtige, zärtliche Mutter schrieb: »Ein paar von deinen Verslen haben mir nicht übel gefallen. Aber die kreisen zwischen dem anderen Zeug herum, wie die einschichtigen Johanniskäferlen im Kleiensack. Bubele, der Goethe hat's besser können, wie er noch so jung war wie du. Doch es muß ja nicht jeder ein Goethe sein, sonst hätt der eine nicht so viel Wert, wenn's neben ihm noch ein paar Dutzend gäb. Deswegen mußt du also das boädische Herzle nicht gleich in die Hos fallen lassen. Talent, glaub ich, hast du schon. Jetzt schau halt auch, daß es raus kommt. Für dasmal ist es drinne blieben. Und eines im Ernst, mein Bub, mit solche abscheulige Sachen wie von deinem verlorenen Sohn – gelt, der ist doch ein Sauhirt gewesen – und mit fuselnackichte Weibsbilder und schlechte Madgers darfst du mir nimmer kommen. Bist du denn so? Gelt, nein? Warum lügst du[194] denn nacher? Bloß wegen der Renommaschi bei den Kaffeehausbrüderlen? Die machen dich nicht zum Dichter, wenn du nicht selber einer bist. Bloß mit Schweinpriesterverslen fliegt man noch lang nicht zum Musenbergle naus. Das Leben hat dunkle Winkelen, und ein Dichter muß auch reden davon. Der Goethe hat's auch getan. In seinen Büchlen ist alles drin. Trotzdem kann man sie jedem jungen Mädgen in die Hand geben. Die wo glauben, man könnt's nit, sind große Oxen. Weißt, ein Dichter bloß für die verheiraten Leut, das ist schon keiner. Wenn ein Dichter die richtigen Wörtlen hat, darf er von allem reden und zu jedem Menschenkind. Aber können muß er's, weißt. Du kannst es noch nicht. Schau nur, in Goethes Fischer ist doch auch das feuchte Weib drin. Da wird sich keiner denken, daß sie eine nasse Krinolin anhat. Man weiß doch auch, daß sie nackicht ist. Aber wie appetitlich ist das gesagt. Und jetzt schau deine Verslen dagegen an! Und nacher mach in Zukunft bloß, was du kannst, und gib dich wie du bist. Freilich, was weiß ich denn viel von Kunst und Künstlerei. Aber ich sorg, das wird nie ein richtiger, der feuerfarbicht sein will, wenn er grün ist, und allweil anderst ausschauen will, als ihn Gott hat wachsen lassen. [195] Vielleicht sagst du jetzt, deine dumme altmodische Mutter versteht da nichts davon. Vielleicht hast auch recht, es gibt viel Fortschritt, den ich nit mitmache mag. Aber schick mir nur einmal ein Büchle von dir, das gut ist, nacher versteh ich es schon.«

Dieser Brief tat mir weh bis ins Blut. Und dennoch mußt' ich ihn küssen und dieses linde, bläuliche Blatt an die schmerzenden Augen pressen. Erst viele Jahre später erfuhr ich, daß Papa und Mama sich damals lange miteinander besprochen und sich dann in die Rollen geteilt hatten: der Vater schrieb mir ohne Vorwurf, was mich ermuntern konnte – und die Mutter mußte mir das Harte schreiben, das in ihren Worten leichter für mich zu hören war.

In der Stimmung, die mir hinter dem Brief der Mutter verblieb, kam es mir ganz überraschend, daß über das ›Büchle‹ ein paar sehr wohlwollende Kritiken erschienen. Die hab' ich mir nicht aufgehoben. Nur eine – die schlechteste unter den abfälligen klebte ich als Menetekel in mein Tagebuch. Sie war in einem Berliner Blatt erschienen und lautete:

»(Befriedigte Dichter.) Es muß eine Befriedigung seltener Art für gewisse Menschenkinder[196] sein, durch das Medium der auf eigene Kosten gedruckten sogenannten Gedichte sich, auch ein Dichter' zu fühlen. Soll man sie au sérieux nehmen und mit der Entrüstung des vom heiligen Dichterberuf erfüllten Philologen gegen sie zu Felde ziehen? Oder soll man sie zum Amüsement gelangweilter Frauen, wie dies jetzt Mode ist, coram publico totschlagen? In beiden Fällen würde man, wie Graf Andrassy sagte, mit Kanonen nach Spatzen schießen. Zu diesen Gedanken bringt uns ein Buch: ›Vom Stamme Asra‹, Gedichte von Ludwig Ganghofer. Eine Kritik vertragen diese Gedichte nicht. Um dies aber zu beweisen, wollen wir eine Leistung auch hier verewigen. Herr Ganghofer singt:


Es ist aller bösen Begier

Dein Blick ein Trank aus Lethe;

Mein Auge hängt an dir

Andächtig im Gebete.


Mir schafft deiner Wimper Schlag

Von Wunsch und Sorge ledig

Der Sehnsucht jüngsten Tag!

Wie ist mein Gott so gnädig!


Gewiß, sehr hübsch, namentlich wenn der Leser Schwung der Seele zur Genüge hat, um dem ›Tiefsinn‹ des Dichters folgen zu können.«

[197] Ich vermag die kummervolle Geschichte meines ersten Buches nicht zu beschließen, ohne zum Kontrast auch eines merkwürdigen Erfolges zu gedenken, den das ›Büchle‹ mir eintrug. Diese Geschichte ist vielleicht auch ein kleiner Beitrag zur Psychologie des weiblichen Herzens.

In der Luisenstraße war eine Konditorei, in der ein nettes, braves Mädel Verkäuferin war: das Klärchen. Ich war nicht der einzige, in dem die Sehnsucht erwachte, da ein bißchen Egmont zu spielen. Aber der kleine schlagfertige Käfer mit den klugen Blitzaugen und dem dunklen Lockenköpfl war unnahbar. Die Lauen, die keine Freude an der Ausdauer hatten, ließen sich bald abschütteln. Außer mir verblieben noch drei Hartnäckige. Und weil keiner dem anderen den Platz räumen, keiner dem anderen die Gelegenheit zu einem Vorteil lassen wollte, vereinigten wir uns mit freundlichen Gesichtern in der Hinterstube der Konditorei, die am Abend Weinstube wurde, zu einer vierköpfigen Skatgesellschaft. Wer die Karten ausgeteilt hatte, konnte immer ein paar Minuten mit dem Klärchen schwatzen und sein Glück versuchen. Aber zwei Minuten genügten nicht, um dieses stählerne Herz zu schmelzen. Und bis beim Geben neu die Runde an einen kam, hatten schon wieder [198] die drei anderen fest an der Süßholzstange geraspelt. Aus Liebe saßen wir da die ganzen Tage, und im Spieleifer – der immer heiß erwachte, sobald das Klärchen schlafen ging – schlugen wir auch noch manche Nacht um die Ohren, in der ein wifer, flinker Konditorjunge uns schlummerlos bediente. Aber so ging die Sache nicht weiter. Wir sahen das alle Viere schließlich ein. Und so beschlossen wir: daß die Göttin Fortuna darüber entscheiden sollte, welchem von uns Vieren als einzig Bleibendem das Feld zu überlassen wäre: jenem, der bei einem Dauerskat als Erster auf + 1000 käme. Mißtrauen und Eifersucht verschärften die Sache noch. Genau 1000 mußte man haben. Kam man darüber hinaus, so mußte man wieder verlieren, um mit einem entsprechend zählenden Spiel das Tausend präzis zu erreichen.

Wir spielten Tag und Nacht und nährten uns dabei mit Kuchen, Krapfen, Schokolade, Schinkenbrötchen und gespritztem Wein. In der zweiten Nacht, zur Vertreibung des Schlafes, wurde immer wieder ein gewürzter Knickebein verschluckt. Wir spielten, spielten, spielten – volle siebenundvierzig Stunden. Keiner konnte das glatte Tausend erwischen. Immer ging es wieder drüber oder drunter. Und hatte man das richtige Spiel, so [199] fuhr die Eifersucht eines anderen mit der höheren Reizung dazwischen. Endlich, noch eh' die achtundvierzigste Stunde geschlagen hatte, wurden wir des zwecklosen Unsinns müde, trollten uns aus einem Kampf ohne Sieg nach Hause und krochen in die Klappe. Jetzt schlief ich neunzehn Stunden. Und erwachte mit einem relativ vernünftigen Gehirn. Und sagte: »Mach' doch diesen Wahnwitz nicht mehr mit! Das Klärchen ist ein braves Mädel! Aussichtslose Sache! Schenk ihr zum Abschied dein kleines Buch, schreib eine nette Widmung hinein, und dann adieu!«

So geschah es am anderen Vormittag. Und als das Klärchen mein himmelblaues Goldschnitt verbrechen in der Hand hatte und die Widmung las, wurde das seine, nette Gesichtl plötzlich feuerrot bis unter die dunklen Haare.

Erstaunt und doch noch ein bißchen mißtrauisch sah mich das Mädel mit weiten Augen an. »Das haben Sie gedichtet?«

»Ja.« Ich sprach, wie eines Mannes Rede sein soll.

Und da wird das unnahbare Klärchen leinenweiß über Stirn und Wangen hin, ein Zittern kommt in die schlanken Hände, die das Buch umklammern – und so beugt sich das Mädel über [200] den süßen Tortentisch zu mir herüber und spricht: »Heut am Abend geh ich mit Ihnen.« Und sagt mir auch gleich, wo ich am Abend auf sie warten sollte.

Es war in der dritten Maiwoche. Schon herrliches Wetter. Der Abend ein bißchen schwül.

Klärchen hatte sich zierlich aufgeputzt. In einer offenen Droschke fahren wir nach Charlottenburg hinaus. Das schweigsame Mädel hielt mich immer bei der Hand und sah mich an wie ein unbegreifliches Wunder.

In der Flora speisten wir nett und gemütlich. Und doch war mit dem Klärchen eigentlich nichts Vernünftiges zu reden. Das Mädel wollte immer nur wissen, wie man dichtet. Und schweren Kummer hatte das gute Kind darüber, daß es am Tage bei dem unruhigen Geschäft und neben den drei Skatbrüdern nur soviel Zeit gefunden hatte, um in das Buch ein bißchen hineinzuspitzen. Aber am Morgen! Da hätte sie Zeit zum Lesen! »Jotte, Jotte, wie ich mich da drauf freue!« Sie berlinerte kaum merklich, hatte nur so ein paar dezente Jottchens.

Und wie schade, daß nicht Mondschein wäre! Da könnte man schwärmen, und da müßt' ich ihr in der ›blassen Selene‹ was vordichten.

[201] »Kind! So was kann man doch nicht machen, wie man Zigarrenspitzen abbeißt. Aber schwärmen kann man doch auch, wenn der Mond nicht scheint.«

Wir spazierten in den großen Florapark hinaus. Die Nacht hing still und dunkel über den jung belaubten Bäumen. Im Park ein paar verlorene Lichter. Und zu den Laubkronen, die nah bei der hohen Mauer standen, warfen die Straßenlaternen einen matten Schein hinaus.

Nun saßen wir auf einer Bank. Ganz tief im Park. Und schwärmten. Als wir uns erhoben, lag unter den Bäumen eine brütende Finsternis. Da brannte keine Laterne mehr. Weil es schon zwei Uhr morgens war. Wie doch beim Schwärmen die Zeit verfliegt! Auch am Florasaal waren alle Fenster schwarz. Alle Tore und Türen standen verriegelt und versperrt. Da half kein Schreien und kein Rütteln. Und rings um den Park herum eine drei Meter hohe, glatte Mauer. Wir waren Gefangene. Das Klärchen fing ein Jammern und Klagen an, daß mir unwillkürlich das Würzburger Äpfelschiff unseligen Angedenkens in Erinnerung kam. Was machen? Ich selber wäre wohl über die hohe Mauer flink hinübergekommen. Aber das Klärchen in dem [202] hübschen neuen Kleid? Die Ärmste hielt schon jetzt immer das Taschentücherl unter das Kinn, damit ihr die salzigen Tränen nicht auf die seinen Stickereien tröpfeln sollten. Erst suchte ich einen Baum, der zwei feste Äste über den Bord der Mauer streckte. Dann spürte ich was aus, um das Klärchen einen Meter hoch an der Mauer hinauszubringen. Bei einer Fontäne waren bemalte Gnomen aus Terrakotta. Einer trug einen großen Fliegenschwamm als Hut. Der tischhohe Zwerg wog einen festen Zentner. Ich schleppte ihn hinüber zur Mauer, hob das Klärchen auf den Fliegenschwamm, und dann kraxelte ich über Baum und Äste zum Mauersaum. Als ich, auf den schiefen Ziegeln kniend, mich hinunterbückte, konnte ich knapp die beiden Hände des Mädels fassen. Ich zog sehr vorsichtig, um nicht durch einen Rutsch das Gleichgewicht zu verlieren – ein Akrobat hätte diese Prozedur als ›große Arbeit‹ bezeichnet. Gott sei Lob und Dank – das Klärchen war auf der Mauer! Aber Schwindel bekam es und mußte sich gleich niedersetzen. Lachend sprang ich auf die Straße hinunter. »Spring nur! Ich fang dich auf.« Lange mußte ich ihr zureden, bis sie den Mut fand, mir in die Arme zu plumpsen. Nun lachten wir alle beide.

[203] Eine Droschke, die wir erwischten, brachte uns nach Berlin in die Luisenstraße. Das Klärchen schlüpfte zum Haustor hinein. Drei Uhr war's. Aber die Glastüre der Konditorei war noch schimmerig. Und richtig, im Hinterstübchen saßen die drei Skatbrüder noch beisammen. Sie sahen mich mißtrauisch an, obwohl sie wußten, daß unser Klärchen schon seit 9 Uhr abends schlummerte. »Wo warst du denn?« Doch eh' ich was zu schwindeln anfing, brüllten sie fürchterlich los. Diese gottverfluchten Gartenbänke, die im Frühling frisch gestrichen werden! Mein heller Sommeranzug hatte sich in ein grüngestreiftes Zebra verwandelt.

Am anderen Mittag hatte das Klärchen meine Gedichte noch immer nicht gelesen – weil die zwei hübschen Augen immer weinen mußten um das neue Kleid.

Wir blieben wohl gute Kameraden. Aber das schwärmerische Mädchen ging nie wieder mit mir. Doch eines Tages fragte mich das gute Kind in allem Ernste, ob Friedrich Schiller, als er schon ein gedruckter Dichter gewesen, auch einmal über eine so hohe Mauer geklettert wäre?

»Nein, Mädel! Kraxeln kann ich besser.«

Dann kamen Tage, die mir halb wie ein Atmen [204] in der Heimat waren, Tage, die mein Leben zu einer ungeahnten Wendung führten.

Am 5. Juni begann auf der Friedrich-Wilhelmstädtischen Bühne das Gastspiel der bayerischen Volksschauspieler vom Münchener Gärtnerplatztheater.

Ein Münchener Kaufmann, Herr Deppe, hatte den Einfall gehabt, den Berlinern zeigen zu wollen, was diese blauweißen Künstler zu leisten vermochten.

Und da muß ich nun, bevor ich wieder von meinen eigenen Leben erzählen kann, ein Kapitel Münchener Theatergeschichte erörtern.

Das Ensemble der bayerischen Dialektschauspieler von damals bildete sich im Laufe von anderthalb Jahrzehnten zu einer künstlerisch so vollkommenen theatralischen Erscheinung aus, daß ihm in der Geschichte der deutschen, der volkstümlichen Schauspielkunst ein dauernder Platz gesichert ist.

Jeder Aufschwung, jede Glanzperiode, jede eigenartige Neuerung auf dem Boden der Schauspielkunst, sei es nun der klassischen oder der volkstümlichen Schauspielerei, läßt sich auf irgend eine literarische Strömung, auf das Erscheinen eines genialen Bühnendichters oder Theatermannes zurückführen. [205] Doch auf die Entwicklung des Münchener Dialekt-Ensembles aus dem Ende der siebziger Jahre trifft diese Regel nicht zu. Es ging nicht aus der Hand eines Regisseurs hervor, der gewußt hätte, was er da herausbildete. Die Entwicklung dieser Truppe hängt auch nicht mit dem Auftauchen eines sieghaften Bühnendichters oder dem Erscheinen einer neuen dramatischen Spezialität zusammen. Bauernkomödien und bayerische Dialektstücke wurden in dem von Karl geleiteten ›Isartor-Theater‹, auf dessen Brettern Hans Neuert als jugendlicher Liebhaber neben der neu auftauchenden Geistinger wirkte, und in dem von einer Aktiengesellschaft erbauten ›Volkstheater am Gärtnerplatz‹ auch früher gespielt, bevor sich noch das Münchener Ensemble in dieser Eigenart gebildet hatte. Man spielte die lustigen Komödien Prüller's und die biederen Stücke des unglücklichen Müller, der, von Erpressern gehetzt, auf der Roseninsel des Starnbergersees durch Selbstmord endete. Es war jener Müller, für dessen ›Haberfeldtreiber‹ ich mir in Welden die nackten Waden hatte wichsen lassen. Und Hermann von Schmid, der populäre Erzähler, in dessen Adern jedoch kein ausreichendes Theaterblut rollte, hat seinen ›Tatzelwurm‹ und die ›Zwiderwurzen‹ erst [206] dramatisiert, als das Münchener Ensemble in seiner eigenartigen Vollendung schon fertig gebildet war.

Ein Zufall führte diese Truppe zusammen, der Zufall, daß sich Mitte der siebziger Jahre an dem durch einen Krach aus einem Aktienunternehmen zur Hofbühne gewordenen Gärtnertheater eine kleine Schar von Schauspielern und Schauspielerinnen zusammenfand, die, ganz tüchtige Darsteller für die üblichen Aufgaben, ihre besten Wirkungen erzielten, wenn sie im freien Fluß des angebornen Dialektes ihre Heimat spielen und sich selber zeigen konnten. Nur dieser Zufall führte allmählich zu einer Bevorzugung der Dialektkomödie, und aus bescheidenen Anfängen wuchs langsam dieses künstlerisch vollendete Ensemble heraus, dem allerlei Halt- und Leidensstationen nicht erspart blieben. Die ›Bauernspieler‹ galten nicht viel im Bureau des Theaters und bezogen erbärmliche Gagen. Direktor Lang, ein Schwärmer für Ausstattungsstück und Operette, war ein Gegner des Dialektstückes, und erst die wachsende Vorliebe des Publikums für die heimatlichen Klänge, und die liebenswürdigen Kassenrapporte der glänzend gespielten ›Zwiderwurzen‹ milderten einigermaßen seine Antipathie gegen die ›gemslederne Komödie‹. In der Heimat freute man sich [207] der schönen und heiteren Sache, ohne recht zu wissen, daß man an dieser volkstümlichen Kunstgattung in ihrer seltenen Vollendung etwas Besonderes und Auserlesenes besaß.

Mit der meisterhaften Darstellung der ›Zwiderwurzen‹ begann der Ruf dieses Ensembles über München hinauszuwachsen. Alle an der Isar einkehrenden Fremden, die Norddeutschen, und besonders die Berliner, schwärmten für diese Bauernspieler, die man nur kurzweg die ›Münchener‹ zu nennen anfing. Dieser klingende Ruf, den sie in der Fremde gewannen, brachte Herrn Deppe auf den glücklichen, nur leider für ihn selbst nicht sehr ersprießlichen Einfall, Impresario zu werden und die ›Münchener‹ während ihrer Ferien für ein Gesamtgastspiel in Berlin zu engagieren. Hans Neuert, Albert, Hofpauer, Brummer, Podbertzky, Fräulein Schönchen, Frau Hartl-Mitius, Fräulein Beck, Frau Reschreiter und ein Dunend Mitglieder des Chorpersonals zogen bei aufbrennender Sommerhitze an die ›grüne‹ Spree. Sie brachten drei Stücke: die ›Zwiderwurzen‹, den von Neuert aus einer Dorfgeschichte von Messerer herausgebosselten, Schlagring ›und die, Gundl von Königssee‹, welche Bonn (der ›Miris‹ der Fliegenden Blätter) nach einer epischen Dichtung [208] von Julius Grosse fürs Theater zugeschnitten hatte.

Man nahm die Münchener in Berlin mit offenen Armen auf, noch ehe man gesehen hatte, daß sie auch große Künstler waren. Vorerst wußte man nur, daß sie aus Bayern kamen. Für die Berliner Presse genügte das, um die Gäste herzlich zu begrüßen. Ich las diese wohlwollenden Ankündigungen der Journale. Dabei pochten mir alle Pulse, in denen ein Feuerchen von beginnendem Heimweh zuckte.

Ein Juni, sengend und brennend! Eine Hitze, die aus den Theatern gemiedene Höllen machte. Am ersten Abend des Gastspiels war das Haus der Friedrich-Wilhelmstadt kaum zu einem Drittel gefüllt. Von dieser kleinen Schar waren noch viele Köpfe auf die Kritik und auf neugierige, Leute vom Bau' in Abrechnung zu bringen.

Der Abend brachte einen großen, schauspielerischen Erfolg. Es war nur eine Stimme über die meisterhafte Ausbildung dieser Truppe, über diese hinreißende Naturtreue der Darstellung. Man konnte Tags darauf keine Zeitung in die Hand nehmen, ohne von ungeschminkter Natur, von frischem Erdgeruch und von der unverfälschten Bergluft zu lesen, welche die Münchener nach [209] Berlin gebracht. Frau Hartl-Mitius, die Schönchen, Hans Neuert und Albert wurden als Künstler ersten Ranges anerkannt. Die Harmonie des Ensembles verglich man mit der Kunst der Meininger.

Über die Hoffähigkeit des Dialektes auf dem Parkett der hohen Kunst wurde ein bißchen scholastisch debattiert. Eine vornehme Zeitung erklärte, daß in diesem Falle nur das eminente schauspielerische Können die erfolgreiche Ausnahme rechtfertige, daß aber prinzipiell dem Dialekt eine Berechtigung auf der Bühne nicht zuzuerkennen wäre, dem süddeutschen Dialekte ebensowenig, wie dem plattdeutschen.

Solche Debatten ergaben sich aus dem halben Wohlgefallen, mit dem man die dramatisierte Dorfgeschichte der ›Zwiderwurzen‹ entgegennahm. Sie hatte bei der Kritik einen schweren Stand. So begeistert die Presse den Schauspielern entgegenkam, so umglimpflich sprang sie mit den Stücken um, welche die Münchener gebracht hatten. Nicht viel besser als der ›Zwiderwurzen‹ erging es dem ›Schlagring‹, und grausam wurde die ›Gundl von Königssee‹ behandelt.

Neben der Bullenhitze, die damals im Juni herrschte, wurde der Mißerfolg der Stücke mitschuldig [210] an dem bösen finanziellen Resultat jenes Gastspiels. Abend für Abend gähnte den braven Künstlern ein leeres Haus entgegen, und Herr Deppe, der Impresario, zeigte ein trostloses Gesicht.

Meine Begeisterung für die heimatliche Sache ließ mich den persönlichen Verkehr der Künstler suchen. Landsleute schließen sich in der Fremde leicht aneinander an, und so ergab es sich bald, daß ich für Hans Neuert und Albert den Cicerone bei mancherlei Wanderungen durch Berlin und durch die schöne, seit dem 1. Mai eröffnete landwirtschaftliche Ausstellung machte, und daß ich im Hotel Müller, wo die Münchener abgestiegen waren, fast täglich mit den Freunden aus der Heimat an gemeinsamer Tafel saß. Der schwer begreifliche Widerspruch zwischen dem großen künstlerischen Erfolg und dem schlechten Besuch der Vorstellungen war für uns ein ruheloses Thema debattierender Unterhaltung. Am Tage nach der Premiere der, Gundl' saßen wir mittags wieder zusammen. In trüber Stimmung wurde das Verdikt der Presse besprochen, die an dem armen Königsseer Madl kein gutes Haar gelassen hatte. Man debattierte hin und her, und im Laufe des Gespräches sagte ich, daß die ›Münchener‹, um künstlerich voll gewürdigt zu werden, [211] ein anderes, ein neuartiges Repertoire haben müßten. »Ihr quält euch nutzlos mit diesen dramatisierten Dorfgeschichten ab, die auf dem Theater zäher Gummi bleiben. Ihr braucht gesunde, vollblütige Stücke, gut gearbeitet, mit neuen Stoffen, die man frisch herausholt aus dem wirklichen Volksleben, mit neuen, originellen Figuren, die in Humor und Ernst eurer künstlerischen Individualität entsprechen und in Farbe und Linien von der gleichen heimatlichen Naturtreue sind, wie euer meisterhaftes Spiel. Solche Stücke müßt ihr haben. Dann wird sich Aufgabe und Arbeit in eurer Kunst zu einem harmonischen und wertvollen Ganzen verbinden.« So was Ähnliches sagte ich. Und sprach sehr lange, brachte Beispiele, erörterte volkstümliche Probleme, die mir neu und für die Bühne dankbar schienen, und schilderte charakteristische Figuren, denen ich bei meinem Bergwanderungen begegnet war. Alle, die an dem langen Tische saßen, stimmten mir zu: »Ja, richtig! Aber woher diese neuen Stücke nehmen? Wer soll uns so was machen?«

Die Tafel wurde aufgehoben. Und am Nachmittage war ich sehr überrascht, als mich Herr Deppe, der Impresario der Münchener, in meiner dreieckigen Bude besuchte und mir den Antrag [212] machte, ›solch ein Stück, wie ich es gemeint hätte‹, für die Münchener zu schreiben. Zuerst sah ich den Mann mit großen Augen an. Dann schüttelte ich lachend den Kopf. Ich hatte noch nie eine Zeile Dialekt geschrieben. Und nun gleich ein ganzes Stück? In einer Mundart, die für mich als Schwaben halb wie eine fremde Sprache war? »Verehrter Herr Deppe, das geht doch nicht, das kann ich nicht!« Er meinte: einen Versuch wäre die Sache doch wohl wert; im nächsten Frühjahr gedenke er das Berliner Gastspiel zu wiederholen und garantiere mir die Aufführung meines Stückes. »Nach Ihren Erörterungen hab ich den Eindruck, daß da nichts Unbrauchbares herauskommt. Wenn Sie wollen, mach' ich jetzt gleich mit Ihnen den Vertrag.«

Es überlief mich heiß. Der Weg zur Bühne, der für Anfänger immer ein Weg durch Dornen ist, war da für mich verwandelt in eine bequeme, sichere Straße. Aber ich dachte an das Wort meiner Mutter: »Bub, in Zukunft mach' nur, was du kannst!« Und ich wollte doch auch ein bißchen, höher' hinaus, wollte auf den Kothurn und Soccus steigen, nicht in die lederne Bauernhose schlüpfen. Mein ›Lustspiel in Versen‹, die ›wilde Sache‹ meines Romans, mein ›Trinker von Rothenburg‹ [213] und mein tragikomischer Nero bauten feste Zäune um mich herum. Und was – du barmherziger Himmel! – was sollte denn aus meinem Doktorexamen werden, wenn ich jetzt anfangen wollte, oberbayerische Schnaderhüpfeln zu singen?

Der Schweiß brach mir aus den Schläfen. Ich sagte: »Nein!« Herr Deppe zog ab. Und die Sache schien erledigt.

Drei Wochen hatten die Münchener vor leeren Häusern gespielt. Erst während der letzten Tage des Gastspiels, als der Ruf dieser einzigartigen Künstler sich in Berlin herumzusprechen begann und das Wetter ein bißchen schlechter wurde, besserte sich der Besuch. Bei der Abschiedsvorstellung gab es Jubel und Kränze. »Wiederkommen! Auf Wiedersehen!«

Nun waren sie fort. Wie ein Vereinsamter kam ich mir vor. Und spürte, daß mir ein Körnchen, welches keimen wollte, ins Leben geworfen war. Es stiegen Bilder und Dinge herauf die ich im schwäbischen Dorf gesehen hatte. In stiller Nachtstunde kam der alte Lehnhardt aus dem Weldener Armenhaus und hatte mir bald was Ernstes und bald was Heiteres zu sagen. Neben dem Lehnl stand meine Großtante, die Staatsrätin Knapp, in der die Liebe nach einer Ohrfeige entbronnen [214] war, die der ernste, zurückhaltende Freier einst dem wilden, rassigen Mädel zum Ausgleich für eine herausgestreckte Zunge applizierte. Wie oft hatte die Mutter uns Kindern diese seine Geschichte aus der Familienchronik erzählt! Und wenn im Odenwald ein Freier das trutzige Mädel hauen konnte, das er lieb hatte – warum sollte im bayerischen Ammerwald nicht ein trutziges Mädel den Burschen ohrfeigen können, von dem es geliebt wurde? Ganz deutlich hörte ich den festen Klatsch. Und sah ein Dutzend lustiger Leute, denen ich in den Bergen begegnet war, und hörte sie lachen – und plötzlich war um mich her eine Stille, in der sich schmerzend mein geprügeltes Herz zusammenkrampfte. Und meine von Zorn bebende Stimme klang genau so wie die Stimme des Herrn Albert aus der Truppe der Münchener: »Halt, Loni! Und net von der Stell! Bis i dir gsagt hab, was i dir sagen muß!« ....

Die gute Frau Henkel dachte gleich wieder an eine Lungenentzündung. Ihre Sorge wegen meiner schlaflosen Nächte blieb mir psychisch eine ferne Sache. Meine Seele war nimmer in Berlin. Sie saß auf einer Felsnase der Kobelwand oder guckte von der Weglalm, die ich als Student einmal erstiegen hatte, hinunter ins Ammergauer Tal.

[215] Alles kam und fügte sich zusammen, ich selber wußte nicht, wie. Nach vier oder fünf Tagen war das Gerippe des ›Herrgottschnitzer‹ in den Gelenken. Fleisch und Blut gab ich von mir dazu.

Da kam ein ernster, sorgenvoller Brief meines Vaters. Was denn mit meinem Doktorexamen ware? Und ob ich etwa Anlagen hätte, ein arbeitsscheuer Kaffeehaushocker zu werden? Und ob es denn wirklich wahr wäre, daß ich seit Weihnachten kein Kolleg mehr besucht, mich an der Universität für das Sommersemester gar nicht mehr inskribiert, also wieder ein Jahr verloren hätte?

Ein zähneknirschender Katzenjammer befiel mich. Und die Selbsterkenntnis schrie mir ins Gewissen: »Wirklich, Kerl, du verbummelst und verfaulst! Mach' Ernst einmal!«

In Berlin ging's nicht. Ich hing da an zu vielen Stricken, die mich hin und herzogen. Eines Morgens fiel ich zum Abschied dieser freundlich glänzenden Perle des Berliner Bürgertums, dieser guten, wehmütig gerührten Frau Henkel um den Hals, schob das Reue und Unsichere, das mich während der letzten Tage befallen hatte, energisch von mir weg – »Unsinn! Fertig! Schluß!« – und fuhr nach Halle hinüber, um mich da vier [216] Wochen einzuspinnen für eine irrsinnige Büffelei auf mein Doktorexamen.

Während dieser vier Wochen hab ich von Halle nur den Marktplatz mit der Rolandsstatue, das Hallorenviertel und ein paar schöne Abendstimmungen bei einsamen Kahnfahrten auf der Saale gesehen. Und nur das Bild eines einzigen Hallenser Menschenkindes ist mir in Erinnerung geblieben: die kleine, nette, wunderliche Köchin der alten Dame, bei der ich wohnte. Man denke nichts übles! Dieses Mädchen hieß Minna. Sie ging vorüber – um mit Schiller zu sprechen; doch, meine' Minna war sie nicht. Das brave Mädchen redete ein mit kleinen bunten Fähnchen aufgeputztes Hochdeutsch, verwechselte manchmal mir und mich wie der alte Wrangel und gab so drollige Worte aus reiner Seele heraus, daß ich es für nötig erachtete, ein Dutzend dieser klassischen Volksdokumente in meinem Tagebuch festzuhalten.

Die brave Minna verhätschelte mich. Eines Tages fragte ich, woher es denn käme, daß sie mir so gut wäre?

Ihre Augen glänzten. »Ach, Sie gehen so intensiv die Treppe herauf«

Ein andermal fragte ich: »Minna, warum besuchen Sie denn nie den Tanzboden?« [217] »Ooooh, ich habe edlere Freuden.«

Ein feines Rot färbte ihre Wangen. Und ich mußte erklären: »Minna, Sie sind ein hübsches Mädchen.«

»Ach, sagen Sie das nicht mehr zu mich, es schadet meiner Konstitution.«

»Es heißt mir, Minna, nicht mich

»Ooooh, das macht nichts. Das steht eben nicht in meiner Grimmatik. Deswegen komme ich doch durch die Welt. Wenn ich nur ein wenig Französisch und Englisch kann.«

Manchmal zog ich sie ein bißchen auf. Dann sagte sie immer: »Ach, bitte, machen Sie sich leinen Luxus mit mich. Überlassen Sie das den Unwürdigen!«

Die Dame, bei der sie diente, sagte zu ihr: »Minna, gehen Sie nach der Musikalienhandlung und holen Sie ›Ich liebe dich herzinniglich‹ von Gumpert.«

»Nein, nein, das tu' ich nicht, das sag ich nicht, da sind alle die jungen Herren im Geschäfte. Schreiben Sie mich es auf!«

Für mich sollte sie aus der Buchhandlung Jean Pauls Titan holen. Sie brachte die Antwort: »Der Buchhändler hat mich gesagt, einen Roman ›Die Damen‹ von Sankt Paulus gibt [218] es nicht. Aber der Herr Buchhändler läßt Sie sagen, der heilige Paulus hätte brieflich Korinthen bestellt.«

Als ich Ende Juli von Halle fortging, beschenkte mich Minna mit ihrer Photographie, auf deren Rückseite sie geschrieben hatte:


»Kommst du einst an meinem Grabe,

Kommst du meiner Asche nah,

Wo ich meine Ruhstatt habe,

So verweile du allda!

Schreibe an des Grabes Rand:

Diese hab ich auch gekannt!«


Ich sagte: »Minna, Sie sind doch sonst ein sehr lustiges Mädchen. Warum machen Sie auf dem Bild so ein ernstes Gesicht?«

»Sehen Sie, der Pornograph hat immer an mich gedreht und gemacht. Das gefällt mich nicht, das paßt mich nicht, da kann ich ihm nicht freundlich schauen.«

Mit schönen Worten bedankte ich mich für das Bild.

Und Minna sprach: »Da habe doch ich mir zu bedanken, weil Sie ihm nehmen. Aber ich geb es Ihnen gerne. Weil Sie einer von den treuen, seelenvollen Menschen sind, die mir nie [219] angelogen und mich immer die Fremdwörter richtig gesagt haben!«

– Gute Minna! Ich hoffe, du liegst vorerst noch wärmer, als man in einem Grabe liegt. Doch siehe, deinen Wunsch hab ich erfüllt. Hier steht es:


»Diese hab ich auch gekannt!«


An einem der letzten Julitage war ich in Leipzig, um mich zum Doktorexamen anzumelden und meine Dissertation einzureichen. In Leipzig konnte man mit sechs Universitätssemestern promoviert werden. Das siebente und achte Semester, das von anderen Universitäten für das Wettrennen um den Doktorhut verlangt wurde, hatte ich in Berlin verschustert.

Ich habe Berlin, so sehr das Heimweh an mir zog, nicht leicht verlassen. Diese Stadt, die mir gastlich gewesen und mich lachend hatte leben lassen, war mir lieb geworden.

Aber die Bilanz meiner Entwicklung? Nicht nur meinem Vater, auch mir selbst erschien sie mager. Was hatte ich erobert und gewonnen in diesem Jahr? Damals war ich der Meinung: Nichts!

Dieser Gedanke machte mir bei aller Heimfreude[220] die Reise nach München ein bißchen bänglich.


»Seid mir gegrüßt, ihr gelben Felder,

Ihr ersten meines Heimatlands,

Gegrüßt, ihr abenddunklen Wälder,

Du meiner Heimatsterne Glanz!«


Am anderen Morgen saß ich in der kleinen Stube meiner Mutter.

»Ein festes Mannsbild bist du geworden!« sagte Mama, während ihre zitternde Hand durch meinen Haarwald streifte. »Aber ›s Geld für das teure Berlin, mein‹ ich, ist nausgschmisse gwese? Gell?«

Papa war sehr wortkarg.

Von meinen Gedichten sprach man nicht. Das war eine noch bösere Kritik als jenes Berliner Blatt sie über den ›Dichter auf eigene Kosten‹ geschrieben hatte.

Nicht diese stumme Kritik würgte mir so atemraubend den Hals zu. Mich quälte, was ich sehen mußte. Ach, wie grau und mager war die Mutter geworden! Sie sagte: das käme davon, weil sie immer mit den Zähnen zu tun hätte.

»Ja, ja,« nickte Papa, »mir scheint, der eine Zahn ist in Berlin ein bisserl hohl geworden, und der andere schwimmt auf dem indischen Meer [221] herum, seit drei Monaten wissen wir nimmer, wo?« (Es war um die Zeit, in der mein Bruder irgendwo da draußen in der Welt den Skorbut und das gelbe Fieber überstand und dann in einem chinesischen Theater beinah erstochen worden wäre, weil er über eine Zopftragödie hatte lachen müssen. Ein Glück, daß er einen Revolver bei sich hatte! Sonst wäre er aus der gelben Bude nicht mehr lebendig herausgekommen. – Um solcher Dinge willen werden die Mütter grau, auch wenn sie noch gar nicht wissen, daß diese Dinge geschehen sind. Mütter ahnen, Mütter haben das zweite Gesicht. Eine rechte Mutter sein, bedeutet: sich fühlen als ein Stück Natur, mit geheimnisvollen Nerven, mit sensiblen Herzensfäden, die jedes leis durch die Erde rinnende Zittern spüren und von ihm Gefahr besorgen für die Kinder.)

So oft die Hand der Mutter mich streichelte, war in mir die quälende Frage: »Hast du in Berlin was getan, was schlecht oder unsauber war, ein Schreck für die Mutter?« Durste ich antworten mit einem Nein? Oder mußte ich mich mit einem Ja ins Gesicht schlagen?

Ich konnte nimmer von Berlin erzählen. Und ein paarmal sagte Mama: »Geh, Bub, so hock doch net alleweil da wie e Stock!« Sie begann [222] ihre lieben, Späßle' zu machen. Aber ich konnte nicht heiter werden.

Man schlachtete kein Kalb an diesem Tage. Aber zu Mittag bekam ich Rehragout mit Knödeln und Dampfnudeln mit Vanillesauce. Und an diesem Abend war die alte Lampe nimmer da, und der neumodische Rundbrenner stank die kleine Stube voll, weil die Mutter mich immer anguckte und auf die neue Erfindung nicht aufpassen konnte.

[223]
5.
V.

Während der folgenden Wochen blieb ich viel daheim und büffelte bis zur Verblödung für mein Examen. Manchmal ging ich ins Theater, oder las ein neues Buch, schrieb ein paar kritische Aufsätze für die Bremer Monatshefte und ließ da auch meine Rolla-Übersetzung erscheinen, deren Urmanuskript noch immer, in Händen Paul Lindaus' war.

In den abendlichen Dämmerstunden jener Sommertage entstanden allerlei Bruchstücke zum Trinker von Rothenburg. Zwischen die von Eisen rasselnden Lieder eines Pappenheimers ist ein Theaterzettel in mein Tagebuch hineingekleistert: Götterdämmerung. Ich kannte von Wagner nur den Tannhäuser, der mich fest geschüttelt hatte, und den Lohengrin, den ich nicht recht vertrug und als blaues Tschindadra bezeichnete. Fast wär' ich ins [224] Lager der Antiwagnerianer geraten. Man kommt sehr leicht in die Gefahr, ein Gegner von Dingen und Menschen zu werden, die man nicht kennt. Doch unter dem Theaterzettel der Götterdämmerung steht in meinem Tagebuch:


»Groß ging ich hin, mit scharfer Kraft

Gerüstet zu kritischem Strauße –

Und gab mein Herz in willige Haft

Und kam als Zwerg nach Hause.«


Nach solcher Erkenntnis spürt man immer zwei schiebende Fäuste hinter seinen Schultern. Ich arbeitete Tag und Nacht, so ruhelos, daß die Eltern mich fortschickten auf eine kleine Erholungsreise. Vierzehn Tage kroch ich in der alten Stadt an der Tauber durch alle Mauerwinkel und Wallgänge, um Studien für meinen Trinker von Rothenburg zu machen. Mondschein versilberte die Romantik der träumerischen Herbstnächte, in denen die Trauben reisten.

Und dann, im späten Oktober, die Fahrt nach Leipzig zum Doktorexamen. Ein Vetter, der sich als junger Gelehrter an der Leipziger Universität habilitiert hatte, chaperonnierte mich in liebenswürdigster Weise auf dem Marmorboden der Wissenschaft, auf dessen reiner Glätte ich meinen [225] Schritt nicht völlig sicher fühlte, trotz der Büffelei des vergangenen Vierteljahres. Mein lieber, freundlicher Vetter! Heute klingt sein berühmter Name durch alle Welt des Wissens. Ich möchte mich solcher Verwandtschaft gerne rühmen, habe aber doch nicht recht den Mut, meines Vetters Namen zu nennen. Denn ich muß da, wenn ich bei der Wahrheit bleiben will, eine kleine Geschichte erzählen – nicht, wie man Präsident wird, nur, wie man schwer aus einer Droschke herauskommt. Es gibt aber Leute, die den Humor des Lebens nicht immer verstehen. Und die könnten – wenn ich auch bei allen heiligen Eiden mich allein mit jeder Schuld belade – von meinem Vetter, von diesem ernsten, berühmten Gelehrten, sagen wollen: »Mitgegangen, mitgehangen!« Der falsche Buchstabe in diesem Sprichwort ist kein Druckfehler. Bis zum Gewandhaus ging der Vetter mit. Dann fuhren wir. Doch ich merke, daß ich den Ereignissen vorgreife.

Also, an jenem Samstag den 25. Oktober 1879, nachmittags um drei Uhr, lotste mich mein freundlicher Vetter zu Leipzig unter herzstärkendem Zuspruch ins Examen.

»Du,« sagte ich, bevor wir die Halle der Universität betraten, »wenn alles gut abläuft ... morgen [226] ist Sonntag ... da machen wir morgen einen lustigen Ausflug. Mit Mädchen.«

»Mit Mädchen?«

»Natürlich, mit Mädchen, sonst wär's ja doch nicht lustig.«

»Ja, ja, da hast du gewiß recht. Aber ... ich kenne kein Mädchen. Wenigstens keines, das mit uns einen lustigen Ausflug machen würde. Ohne die Frau Mama. Und so eine willst du doch vermutlich nicht mithaben?«

»Du, das ist eine ganz seine, wissenschaftliche Logik! Aber da sei nur ohne Sorge! Ich kriege schon ein Mädel. Und für dich auch eines.«

»Meinst du?«

»Natürlich! Und dir überlasse ich das nettere. Du bist doch schon Privatdozent. Und ich bin morgen vielleicht noch gar nicht Doktor. Verdienst muß gelten im Leben. Du kriegst die Nettere. Und weißt du, ich hab mir das jetzt gerade besser überlegt. Wir machen den Ausflug morgen für alle Fälle. Auch wenn ich durchsause. Man hängt sich doch wesentlich lieber auf, wenn man vorher noch ein paar gemütliche Stunden erlebte.«

»Das ist unlogisch.« Mein Vetter lachte. »Da findet man Gründe, die gegen das Aufhängen sprechen.«[227] »Sehr richtig! Da wird also morgen der lustige Ausflug eine verläßliche Garantie für mein Weiterleben. Gelt, du machst mit? Einen Menschen muß man doch immer retten, wenn man kann.«

»Selbstverständlich! Aber wie willst du denn das anstellen? Mit den zwei Mädchen? Du bist doch fremd hier in Leipzig.«

»Das schadet nichts.«

»Und du hast ja auch gar keine Zeit mehr. Bis sechs Uhr dauert dein Examen. Und um sieben Uhr sind wir zum Souper bei Waibler geladen.«

»Erlaub mir! Eine Stunde! Eine Stunde hat doch sechzig Minuten.«

»Meinem Vetter erschien die Sache plötzlich nicht ganz geheuer ... Mensch? Du wirst doch nicht etwa ...«

»Keine Angst! So was mag ich auch nicht. Zwei ganz nette, tadellose Käfer müssen das sein. Fidel. Aber anständig.«

»Da bin ich wirklich neugierig.«

Wir betraten den heiligen Boden der Wissenschaft und machten ernste Gesichter.

In dem Zimmer, in das ich geführt wurde, roch es gut nach alten Büchern mit Lederbänden. In der Mitte ein grün gedeckter Tisch. Herüben ein Sessel und drüben ein Sessel.

[228] Mir hämmerte das Herz ein bißchen. Aber schließlich wurde ich ruhig. »Es wird schon gehen!« Ich hatte doch die drei Fächer gewählt, in denen ich relativ am besten beschlagen war: Literaturgeschichte, alte Philosophie und Physik. Eine etwas wunderliche Zusammenstellung. Sie ergab sich aus meinem doppelten Schulweg. Ich glaube, weil Literaturgeschichte und Physik so wenig zueinander paßten, hielten sie mich in Leipzig für einen ›welchen Promotionsbruder‹ – und drum waren der Philosoph und der Physiker sehr mißtrauisch gegen mich.

Der erste Examinator kam. Der Literarhistoriker. Ein seiner Gelehrtenkopf, schön im Alter, mit klaren, wohlwollenden Augen. »Nun«, sagte er, »ich habe ja bereits aus Ihrer mit Fleiß gearbeiteten Dissertation ersehen, daß ich Sie gar nicht mehr zu examinieren brauche.« Dabei schmunzelte er ein bißchen. »Es kann sich also zwischen uns beiden nur um eine kollegiale Unterhaltung handeln. Ich vermute wohl, daß Sie nicht eigentlich ... im strengsten Sinne des Wortes Gelehrter werden wollen?«

»Sehr richtig, Herr Professor!«

»Was wollen Sie werden?«

»Schriftsteller.«

[229] »Ein sehr bescheidenes Wort. Es gibt ein stolzeres: Dichter. Sind Sie Lyriker?«

»Nein!«

Der Herr Professor lächelte zu der Energie, mit der ich dieses Wort aus mir herausgestoßen hatte. »Also Dramatiker?«

»Ja ... vielleicht ...«

»Nun, da könnten wir ja miteinander darüber plaudern, wie die Kunstform des Dramas entstanden ist?«

Ich atmete auf Darüber ließ sich was sagen. Ich sagte sehr viel. Kam sogar auf die Indianertänze zu sprechen, als auf eine mimische Entwicklungsstufe, deren unartikulierte Erregungslaute embryonal als Urformen der dialogisierten Szene zu betrachten wären.

»Ein sehr guter Gedanke!« warf der Professor freundlich ein. »Es wäre nur in Rechnung zu ziehen, daß um die Zeit, in welcher die Kunstform des Dramas entstand, Amerika noch nicht entdeckt war. Aber Sie dachten hier vermutlich an das englische Ausstattungsstück, das während des letzten Jahrzehnts von Amerika herüber stark beeinflußt wurde.«

Mir verschlug es den Atem. Denn ich merkte nun, wie er mich wissenschaftlich einschätzte.

[230] »Im übrigen haben Sie mir sehr viel Anerkennenswertes gesagt, obwohl ich Ihre Anschauungen nicht immer teilen konnte. Denn ...«

Und da hielt er mir nun für den Rest der Stunde einen prachtvollen, fesselnden Vortrag über die Geburt des griechischen Dramas, bei der aller Jubel und Schmerz des Lebens, aller Zorn und das Lächeln der Götter Paten waren.

Freundlich reichte er mir die Hand. »Es war mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Und es freut mich, Ihnen sagen zu können, daß Sie bei mir recht gut bestanden haben.«

Der liebe, famose, gütige Mensch! Als er zur Türe hinausging, dachte ich über die Gattung homo sapiens viel zärtlicher, als eine Stunde früher.

Nun kam der Philosoph. Kühl, ruhig, persönlich völlig unbeteiligt. Das war meines Erachtens auch ganz richtig so. Ein Philosoph muß immer außerhalb der Dinge stehen und den Menschen gegenüber eine gewisse Distanz bewahren, deren Würde jede Vertraulichkeit entfernt. Nun kann man auf dem Gebiete der alten Philosophie von den Eleaten bis zu den Eklektikern doch mancherlei fragen, was ein leidlich instruierter Kandidat zu wissen verpflichtet ist. Aber wer nicht gerade Spezialist für die Epoche der Neuplatoniker [231] und ihrer stoischen Vorläufer ist, möge sich jetzt ausmalen, was das heißt: ein dreiviertelstündiges Examen über Marc Aurel. Was man da weiß, kann ausreichen für 10 Minuten. Aber noch eine weitere halbe Stunde lang wurde dieser unglückselige Römer mit meinem Schweiß beträufelt und auf dem Roste meiner heißen Pein gebraten. Schließlich war er geschmort bis auf die Knochen. Ich aber auch.

An ein wohlwollendes Abschiedswort des Philosophen kann ich mich nicht erinnern.

Der Physiker erschien. Ein flinkes, zähes Männchen mit strengen Augen. Ich verstand gleich, daß dieser Blick mir sagte: »Gehörst du herein, dann gut! Gehörst du nicht herein, dann hinaus mit dir! Aber ich will dich prüfen bis auf die Nieren. Was du weißt, wirst du zeigen können.« Die Augen eines Gelehrten haben das Recht, so zu sprechen. Aber wenn man Kandidat ist, spürt man dabei was Kaltes unter der Frackweste. In 45 Minuten hetzte mich dieser Examinator durch das ganze Gebiet der Physik. Gerade dem blieb ich keine Antwort schuldig. Gott sei Dank – und meinem unvergeßlichen Physikprofessor Beetz in München! Was man von einem Lehrer empfing, den man liebte, das sitzt! [232] Um 6 Uhr wurde mir feierlich eröffnet, daß ich mein Examen bestanden hatte. Wie ein froher Rausch war es in mir, als ich langbeinig in den Abend hinaussprang, der mir noch schöner dünkte, als ihn das klare Wetter machte.

Ich telegraphierte nach Hause: »Herzlichen Gruß – Doktor Ludwig Ganghofer.« –

Punkt 7 Uhr erschien ich bei Fritz Waibler. Er war artistischer Direktor bei der Leipziger Illustrierten, ein Aschaffenburger Jugenfreund meiner Mutter.

Der Vetter war schon da. Zuerst ein Glückwunsch. Dann die neugierige Frage: »Hast du die zwei Mädchen für morgen?«

»Natürlich.«

»Nette?«

»Du wirst ja sehen!«

Eine vergnügte Mahlzeit. Um mein Gedeck herum lag ein Lorbeerkränzl mit goldenen Beeren. Von dieser fröhlichen Tafelstunde ist mir ein Gesprächsthema in Erinnerung geblieben. Man sprach vom Schnarchen. Und Tante Waibler klagte: »Ach du lieber Gott, mein Fritz schnarcht, daß ich manchmal in der Nacht verzweifeln möchte. Wecken will ich ihn nicht. Er muß doch schlafen. Aber schrecklich ist das!« [233] Und ich: »Tante, da weiß ich ein Mittel. Jeder Schnarcher ist in einer einzigen Nacht von diesem Übel zu kurieren. Das hab ich in der Kaserne gelernt.«

»Allgütiger Himmel! Wie denn?«

»Sehr einfach. Wer schnarcht, liegt auf dem Rücken. Fängt er zu sägen an, so gibt man ihm a tempo mit den Fingerspitzen einen flinken, leichten Klaps auf die Magengrube. Sofort hört er zu schnarchen auf. Fängt er nach einer Weile wieder an, dann wiederholt man diesen Klaps. So vier- oder fünfmal. Dann ist er kuriert.«

Fritz Waibler lachte in seiner mainländerischen Behaglichkeit. Und Tante jubelte: »Wahrhaftig? Das probier ich noch heute Nacht! Ist's aber auch wirklich wahr?«

»Natürlich! Zwischen Magengrube und Gaumen bestehen doch sehr intime physiologische Zusammenhänge. Durch die kurz und flink applizierten Klapse ist die Magengrube subjektiv sensibel geworden. Sie ist gelehrig wie ein junger Hund, der pünktlich bestraft wurde, wenn er nicht stubenrein war. Ganz genau erfaßt das Witterungsvermögen der Magengrube die Wechselwirkungen zwischen Schnarchen und Klaps. In dem Augenblick, in dem der Gaumen schnarchen will, [234] denkt sie: ›Aha, jetzt kommt das wieder!‹ Sie wird nervös und telegraphiert auf der Nervenleitung durch die Gehirnzentrale zum Gaumen hinauf: ›Du da droben, laß das sein, sonst krieg' ich's da herunten!‹ Und der Gaumen gehorcht. Weil er aus Erfahrung weiß, daß ihm die Magengrube, wenn er sich mit ihr verfeindet, sehr unangenehm werden kann.«

Das Ehepaar Waibler und mein Vetter lachten vergnügt. Und immer wieder jubelte die Tante: »Heute nacht probier' ich's! Noch heute nacht probier' ich's!«

Um die probate Kur nicht allzu lange hinauszuschieben, wanderten mein Vetter und ich um 11 Uhr davon.

Auf der Straße fragte er gleich: »Du? Ist das wahr?«

»Mit dem Schnarchen?«

»Nein. Mit den Mädchen. Hast du sie wirklich?«

»Wenn ich dir doch sage!«

»Und wirklich? Sind sie nett?«

»Sehr nett!«

»Alle beide?«

Ich schwieg ein Weilchen. »Du wirst die Wahl haben.«

[235] »Aber wie hast du denn das nur gemacht?«

»Das sag' ich dir morgen.«

»Und wo treffen wir die Mädchen?«

»Vor dem Gewandhaus.«

»Wie weißt du denn als Fremder, wo das Gewandhaus ist?«

»Ich weiß das gar nicht. Aber die Leipziger Mädchen wissen es. Ich weiß nur, daß es in Leipzig eine berühmte Sache gibt, die Gewandhaus heißt. Da hab ich die Mädchen hinbestellt. Und mich kannst jadu hinführen. Nicht?«

Im Hotel, Schlag Mitternacht, dachte ich mit Lachen: »Jetzt kuriert die Tante Waibler den Onkel Fritz!« Dann schlief ich – nicht wie ein König, denn die meisten Könige schlafen nicht gut, sie schlafen um so schlechter, je mehr sie Könige sind. Ich schlief in dieser Nacht wie ein Bauer, der seine Ernte goldschwer in der Scheuer hat.

Am anderen Morgen, der einen sonnigen Sonntag brachte, holte mich mein Vetter ein paar Minuten vor elf Uhr ab und führte mich zum berühmten Gewandhaus.

Vor diesem Gewandhaus warteten einundzwanzig nette junge Mädchen auf uns beide.

Mein Vetter war perplex. Aber die Lösung dieses zweiundvierzigäugigen Jugendrätsels war [236] eine sehr einfache. Ich hatte drei Viertelstunden Zeit gehabt, war durch die Grimmaische Straße gelaufen – durch die Straße mit den meisten Läden. Und wo ich in einem Laden ein hübsches Mädel sah, ging ich hinein und sagte wahrheitsgemäß: »Fräulein! Ich heiße so und so, bin aus München, hier in Leipzig fremd, habe heute mein Doktorexamen gemacht und möchte das morgen mit einem lustigen Ausflug feiern. Haben Sie nicht Luft, den Ausflug mitzumachen? Mich würde das sehr freuen!«

Im Dutzend waren ein paar chokiert, die anderen lachten verständig und sagten Ja. Es ist schon so: mit der Wahrheit kommt man am weitesten.

Von den Einundzwanzig, die uns vor dem Gewandhaus erwarteten und nichts voneinander wußten, wurden zwei über die große Gesellschaft ärgerlich und rannten davon. Neunzehn Lustige blieben uns und verstanden den harmlosen Spaß. Ich nahm sechs Droschken, verlud die kichernde Jugend, und dann fuhren wir nach Eutritzsch hinaus, in die Gosenschenke, die fast so berühmt ist wie das Gewandhaus. Dicht bei Eutritzsch lauerte in der Völkerschlacht die französische Kavallerie. Auf diesem historischen Boden hielten [237] wir an langem Tisch fidele Mahlzeit, tranken ungestöpselte Gose mit Sekt, ließen ein paar Musikanten kommen und tanzten wie lustige Narren bis in die Nacht hinein.

Bei der Heimfahrt unter den funkelnden Sternen stockte plötzlich die Droschkenkolonne, und es gab ein grillendes Gelächter und Geschrei. Ich saß im letzten Wagen und sprang heraus. »Um Gotteswillen, was ist denn los?«

In der ersten Droschke, in der ich meinen gelehrten Vetter mit den drei hübschesten Mädchen verladen hatte, war der Boden durchgebrochen.

Wir lachten, wie nur sorglose Jugend lachen kann. –

Na also! Jetzt war ich Doktor der Philosophie! Und ein bißchen Mediziner war ich auch: Fritz Waibler schnarchte nicht mehr in dieser Nacht. –

Als ich heimkam nach München, schmunzelte Papa zufrieden. Und Mama hatte eine ganz unbeschreibliche Freude über den großen lateinischen Papierbogen, über das Doktordiplom des Ludovicus Ganghofer, das in einem roten Samtfutteral gegen Staub und Ungeziefer geschützt war. Sehr stolz war die Mutter auf die wissenschaftliche Note: cum laude. Mama war nämlich der Meinung, [238] daß man besser als ›mit Lob‹ nicht doktorieren könnte. Ich unterließ es, die Mutter über diesen zärtlichen Irrtum aufzuklären.

Und eines Nachmittags, zufällig, bei einem Bummel, trat ich ins Café Maximilian. In einer Ecke, hinter einem mit Zeitungen beladenen Marmortische, saß Hans Neuert. Wir begrüßten uns, und als wir beisammen saßen, sagte Neuert: »Sie haben damals in Berlin so verständnisvoll über unser Repertoire gesprochen. Was Sie damals sagten, das ist mir viel durch den Kopf gegangen. Ich schreibe jetzt an einem Stück für unser Ensemble. Darf ich Ihnen den Stoff erzählen? Und wollen Sie mir dann ganz aufrichtig Ihr Urteil sagen?«

»Aber gern. Schießen Sie los!«

Neuert fing zu erzählen an. Das Stück hieß: ›Der Prozeßhansl‹. Zwei Bauern liegen im Streit um einen Acker, über den die Eisenbahn gebaut werden soll; die Handlung des Stückes spielt durch zwanzig Jahre. Männer werden Greise, Kinder werden Leute; natürlich, ein Bauernprozeß ist eine Sache, deren Ende schwer zu erleben ist, ein halbes Menschenalter geht darüber hin; inzwischen heiraten sich zwei Liebespaare übers Kreuz, und aus jedem Ehepaar muß der unbequeme Teil heraussterben, [239] damit sich die Richtigen am Ende kriegen können.

Ich schüttelte bedenklich den Kopf. »Das einzig Gute an dieser Geschichte ist der Titel. Der wäre wert, daß man ein neues Stück dazu erfände. Alles andere scheint mir unbrauchbar. Jeder Federstrich an diesem Stoff ist verlorene Arbeit. Das ist kein Stück, nicht einmal eine Novelle, nur ein Gummischnürl, sehr lang, aber dünn.«

Neuert schien von meinem offenen Urteil nicht sehr angenehm berührt. Aber er konnte meine Gründe nicht widerlegen. Wir plauderten weiter. Ich sagte lachend: »Wissen Sie, daß Herr Deppe damals in Berlin bei mir war?«

»Ja. Der ist sehr betrübt von Ihnen zurückgekommen.«

»Ich kann so was nicht machen. Aber zu denken hat mir die Sache doch gegeben. Und plötzlich waren Bilder da, Figuren, Szenen.« Ich begann zu erzählen.

Neuerts Augen wurden immer größer. Und plötzlich griff er mit beiden Armen über den Tisch herüber und packte meinen Arm. »Aber Mensch! das ist ja famos! Das wär ja doch so ein Stück, wie wir's brauchen! Und dieser Lehnl ist [240] eine Roll, wie für mich noch nie eine geschrieben worden ist. Dasmüssen Sie machen! Mensch! Das wär ein Verbrechen, wenn Sie das liegen ließen!«

Ich blieb unentschlossen. Und dachte: »Natürlich, ein Schauspieler, der sieht eine gute Rolle, und da muß alles gut sein.«

Aber Neuert ließ nicht locker, bevor er nicht meinen Handschlag hatte. »Die Hauptsach steht. Sie brauchen das nur hinschreiben. Was dann praktisch fürs Theater noch fehlt, das bossel ich schon hinein.«

Auf dem Heimweg reute mich die Sache wieder. Mein Trinker von Rothenburg? Mein Roman? Mein Lustspiel in Versen? Mein Nero? Aber mein Handschlag war gegeben. Und am Abend, bei der Lampe, in meinem kleinen Studentenstüble von ehemals, legte ich mir ein Packerl vom gelblichen Aktenpapier meines Vaters zurecht. Und dachte: »Na also, in Gottesnamen, mach es halt! Dann bist du die sekante Geschichte los und hast wieder freien Weg.« Ich begann zu kritzeln.

In der Nacht kam die Mutter noch zu mir in die kleine Stube. »Spät ist's, Bub, geh doch schlafe!«

»Bald, Mutterle!«

[241] Sie guckte mir über die Schulter. »Was machst du denn da?«

»Ach Gott, so, ich probier halt ein bisserl was.«

»Bub? Tust du da nit wieder die kostbare Zeit vertrödle?«

»Vielleicht, ja.«

Sie führ mir mit der Hand durchs Haar. »Geh, so werd doch endlich einmal ein bissele gescheit! Jetzt bist du Doktor der Philosophie. Da hat man doch auch Verpflichtunge.«

Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte in dieser Nacht die ersten Szenen des Herrgottschnitzers wieder in den Papierkorb geworfen. Aber es war ein Beharrungsvermögen in mir, das sich stärker erwies als jeder Zweifel und Widerwille. Ich mußte schreiben. Tag und Nacht Und tat es ohne Kopfzerbrechen, gab nur, was von selber kam.

Was da werden wollte, sproß aus schlecht beackerten Schollen. Es war bei uns in der Heimat aller Boden der Kunst ein bißchen steril geworden. Wenig Neues wuchs. Und war ein Neues irgendwo in der Ferne aufgegangen, so wußte man nicht viel davon. Heute rennt jedes neue starke Wort und jede feste künstlerische Tat mit Blitzesschnelle durch die Welt. Damals war [242] es anders. Dem Rachwogen großer politischer Ereignisse gegenüber war die Kunst eine minder wichtige Sache geworden. Tauchte irgendwo ein wertvoller Klang auf so gingen seine Schallwellen langsame Wege. Im politisch ruhigeren Österreich waren sie damals uns Deutschen auf literarischem Boden voraus. Es waren von Rosegger schon ›Heidepeters Gabriel‹ und die ›Schriften des Waldschulmeisters‹ da. Aber ich hatte von diesem Neuen noch keine Zeile gelesen, kaum seinen Namen gehört. Und hatte noch nie ein Stück von Anzengruber gesehen. Man hörte seinen Namen aus der Ferne, wie die Namen Berg und Costa von der Wiener Lokalkomödie. Der Erfolg des Pfarrers von Kirchfeld aus dem Anfang der siebziger Jahre war schon lange verebbt, beinahe vergessen. Und wie hätten die deutschen Bühnen sich für Anzengruber mit gerechter Schätzung seines Wertes begeistern sollen in einer Zeit, in der ihn die Wiener selbst schon wieder fallen ließen, dem Doppelselbstmord und dem Vierten Gebot mit ratlosem Verwundern gegenüber saßen und den Ledigen Hof, das Jungferngift und die Trutzige als mißratene Kinder erklärten? Noch viele Jahre später, als man überall schon wußte, wer Anzengruber war, sagten die Münchener Dialektschauspieler [243] von ihm und seinem Werk: »Dös is ebbes Fremds für uns, dös liegt uns net!« Die Münchener Volksbühne hatte auch späterhin nie einen guten Wurzelsepp oder Steinklopferhans. Der funkelnden Kraft Anzengrubers, seiner ätzenden Satire und markanten Schärfe kam die behagliche Eigenart der Münchener nicht willig entgegen. Versuchten sie sich an ihm, so blieb es immer eine halbe, gekünstelte, unlebendige Sache. Das ist kein Vorwurf für diese Schauspieler. Sie konnten nicht aus der heimatlichen Haut heraus, in der sie staken. Und wieviel klassische Anzengruberspieler hat es denn in Wien selbst gegeben? In vierzig Jahren fünf oder sechs, Martinelli an ihrer Spitze – Künstler, die als Menschen der Eigenart dieses Dichters kongenial waren und seine Gestalten auf der Bühne mit sich selbst erfüllen konnten. An Anzengrubers Schaffen war nie etwas volkstümlich Typisches. Er hat auch eigentlich nie das wirkliche Volk geschildert, weder das Wiener Volk, noch das Volk der Berge, noch den Bauer überhaupt – es war doch auch sein Dialekt etwas von ihm selbst Erfundenes. Ein geborener Dichter, schuf er neue Bilder und Gestalten aus seinem eigenen Fleisch und Blut Und diese Gestalten waren sieghaft, weil ihr [244] Schöpfer ein starker und tiefer Mensch war. Aber für die heitere Behaglichkeit der Münchener Dialektschauspieler, die auf der Bühne auch im Zorn noch Reserven der Gemütlichkeit behielten, welche lebten und leben ließen – für die heimatliche Eigenart dieser Schauspieler blieben die Anzengruberschen Gestalten immer fremdsprachige Wesen. Klang und Farbe der bayerischen Heimat kamen in diesen Schauspielern dem Andersgearteten nicht entgegen. Diese Heimatskünstler wurden groß bei den bescheidenen Aufgaben, die sie vorfanden – sie spielten Prüller, Schleich, Müller und Schmid.

Das waren die Muster, die ich vor mir sah, als ich begann. Ich wollte diesen Mustern weder nachgehen, noch hatte ich den bewußten Ehrgeiz, über sie hinauszuklettern. So richtig wußte ich selber gar nicht, was ich da machte. Ich nahm, was kam – und gab, was ich besaß. In neun Tagen und Nächten warf ich, was wie von selbst sich bildete, auf dieses gebliche Aktenpapier meines Vaters hin, wie man eine Gelegenheitssache aus dem Ärmel schüttelt, oder wie man bei lachendem Spiel einen Ball schleudert, den man nicht gewogen, und von dem man nicht ahnen kann, wie hoch er steigt und wohin er fliegt.

Die Kugel, die da ins Rollen kam, riß mein [245] ganzes Leben hinter sich her. Aber damals hielt ich selber nicht sonderlich viel von der Sache und guckte verwundert drein, als Hans Neuert mich in der Freude über mein Geschreibsel umarmte. Er hobelte die etwas kantige Sache als theatralischer Praktiker zu, stillte die Lücken und Sprünge mit lustigem Episodenwerk – und so wurde das Stück vom Gärtnerplatztheater zur Aufführung angenommen. Der Regisseur Skikt, den ich auf Neuerts Rat als höflicher Theaternovize besuchte, sagte zu mir: »No ja, viel is net dran. Die jungen Leut glauben halt allweil, sie können's besser. Aber no, drei- oder viermal wird's schon gehn.« Das war kein gutes Prognostikon. Aber was hatt' ich denn zu verlieren? Ich lachte.

Dieser Winter hatte daneben mit einer schönen Sache begonnen, die mir das Blut viel heißer machte als der ganze Theaterkram. Zur Belohnung für mein Doktorexamen hatte Papa mir eine Jagderlaubnis im Hochgebirg erwirkt. Und der Forstmeister von Tölz nahm mich zur Gemsbrunft mit nach Fall. Er gab mir gute Lehren. »Nur ja nichts Schlechtes schießen! Einen Gemsbock heimbringen, der nicht schußbar ist, das gilt im Königreich Bayern als Staatsverbrechen.« Und zum Jagdgehilfen Gasteiger, der mich führen[246] sollte, sagte er: »Gelt, passen S' mir auf! Der ist zum erstenmal auf der Gemsjagd. Daß er keine Dummheiten macht! Sie sind verantwortlich.« Der Gehilfe nahm es mit der Verantwortung sehr ernst. Schon beim Aufstieg schimptte er: »Teifi, da hüat i liaber an Sack voll Flöh als so an narrischen Schüppel, wia Sö oaner san!« Die Bergfreude rumorte in mir. Und natürlich war ich auch, echt' kostümiert: Hemd mit offener Brust und kurze Hose mit nackten Knien bei Schnee und 5 Grad Kälte. An den Füßen schwer genagelte Flöße, die mich drückten, und auf dem Buckel eine geliehene Büchse. Am zweiten Tage sahen meine beiden Knie wie geschälte Blutorangen aus, von denen es immer rot heruntertröpfelte. Aber sein war's! Freilich, der Gasteiger schimpfte: »Himi Sakra, wann S' net gscheid san und dös verruckte Außihupfen über d'Latschen und d'Wandln net guat sein lassen, bind i Eahna meiner Seel an a Feichten oni, bis Eahna 's narrische Bluat a wengl küahler weard!« Immer mußte ich lachen, oder schreien, oder rennen und verrückte Sprünge machen, oder tief atmen und staunen. Meine Seele genoß, wie die Heißhungrigen schlingen. Die Schönheit der Berge wurde für mich zu einem gesteigerten [247] Wunder des Lebens, die Jagd zu einem fröhlichen Dolmetsch der Natur. Ich begann der Natur gegenüber anders zu sehen, anders zu hören, anders zu fühlen als früher. Was mir früher leblose Schönheit gewesen, begann sich jetzt für mich zu verwandeln in schönes Leben – nicht nur deshalb, weil dieser merkwürdige Gasteiger, wie von Gott und Mensch und Gemsbock, auch von jedem Stein, von jedem Latschenbusch und jedem Baum die Lebenswörter zu gebrauchen pflegte: er möcht, er will, er tuat, er denkt, er sagt. Und als wir beide nach wundervollen Tagen, die mir wie blankes Silber meiner Jugend waren, den alten kapitalen, 70 Pfund schweren Gemsbock, den ich nach zwei unverantwortlichen Fehlschüssen mit der dritten Kugel gestreckt hatte, ins Tal hinunterbrachten, lagen im Zwirchgewölb des Försterhauses die beiden lausigen Schneider, mit denen der Forstmeister von Tölz zwei bayerische Staatsverbrechen begangen hatte. Herrgott, wie selig und stolz ich damals war! Der lange Förster Sagenbacher hielt es stir dienstliche Pflicht, den Forstmeister ein bißchen grün zu waschen, und brummte: »Mei', a Zuafall halt! Die jungen Heuschniggl haben halt allweil Schwein auf der Jagd, grad so wia in der Liab; 's guate [248] Zuig rennt eahna zua wie bsessen. Und nacher bilden sie si' ein, sie können's besser! No ja, in der Liab kon's ja mögli sein. Aber auf der Jagd san mer no allweil die Alten liaber.«

So hab' ich das gleiche Wort von den Jungen, die es besser zu können glauben, in diesem gleichen Winter zweimal zu hören bekommen.

Und der Gasteiger, als er mir zum Abschied die braune Tatze herbot, sagte lachend: »A Viech mit Haxen san S' freili! Aber kommen S' bald wieder! Ich hab mi sei' guat unterhalten! Is scho wahr!«

Meinen Gemsbock kaufte ich natürlich und nahm ihn mit nach München. Und nun denke man sich das Aufsehen, das ich verursachte, als ich an einem der ersten Dezembertage mit offener Brust und mit nackten Knien stolz meinen Gemsbock im Rucksack vom Bahnhof durch die Kaufingerstraße und über den Residenzplatz zur Schönfeldstraße trug!

Beim Kriegsministerium begegnete mir, der geheime Kommerzienrat aus der Schönfeldstraße', ein merkwürdiger alter Herr, der seit einiger Zeit in der Nähe unserer Wohnung häufig zu sehen war. Er schaute mir mit sonderbarer Verwunderung nach. Dabei drehte er nicht nur den [249] Kopf, sondern drehte langsam die ganze massive Figur herum und blieb so auf der Straße stehen, die beiden Hände mit dem leise pendelnden Spazierstock hinter dem Rücken. Ein wuchtiger Stahlkopf mit weißem Seemannsbart und funkelnder Brille. Wer war dieser fremde alte Herr? Niemand kannte ihn. Für einen reisenden Kaustuann sah er zu vornehm aus, für einen reichen Privatmann viel zu ernst und zu gescheit. Er war immer sehr elegant gekleidet, fast modisch, trug unter dem straff sitzenden Winterrock eine helle Hose, auf dem weißen Bärenkopf einen taubengrauen Zylinder mit schwarzem Band. Und wenn er den Winterrock offen hatte, sah man im Knopfloch seines schwatzen Gehrockes ein mehrfarbiges Ordensbändchen. Drum nannten wir ihn den geheimen Kommerzienrat.

Als ich mich bei der Haustür nochmal umguckte, sah ich, wie der merkwürdige alte Herr zu meinen Anblick ernst den Kopf schüttelte, als wäre in ihm der halb erstaunte, halb barmherzige Gedanke: »Das ist ein Narr!«

Auch Papa sagte so was Ähnliches, als ich mit meinem Gemsbock heimkam. Und die Mutter schlug vor meiner etwas ruppig aussehenden Beute die Hände über dem Kopf zusammen: »Jesus, [250] Bub, das alte zähe Luder kann ja kein Mensch nit fresse.« Die mißliebigsten Glieder der Verwandtschaft wurden mit Schlegeln, Bügeln, Wanteln und Ziemerstücken beschenkt. Freilich mir zuliebe behielt die Mutter auch ein kleines Stück für uns. Bei der Mahlzeit mußten die anderen immer in den Zähnen stochern. Und die Mutter sagte: »Der hat Flaxe wie eiserne Stacheldräht!« Doch mir hat dieser Braten geschmeckt, so köstlich, daß ich den auserlesenen Hochgenuß gar nicht zu schildern vermag. Das ist ein Fluch aller Schriftstellerei: man muß das Beste immer ungesagt lassen, weil man dafür nicht die ausreichenden und richtigen ›Wörtlen‹ hat.

Wie ich die Gemsjagd genommen hatte, so nahm ich in diesem Winter mein junges freies Leben in der Stadt. Und fast an jedem Sonn- und Feiertag schwitzte ich irgendwo da droben im Schnee der Berge. Ein unglaublich gesunder Winter war's. Durch volle fünf Monate steht in meinem Tagebuch kein Liebeslied, keine lyrische Raserei des Blutes. Das freudige Hängen an der Natur und jede sportliche Kameradschaft mit ihr ist wirksamste Pädagogik zu reinlichem Leben. Was heutzutag in unserer zwanzigjährigen Jugend lebendig wird an Naturfreude, an Vorliebe für[251] Sommerspiel und Wintersport, das soll man pflegen, schützen und fördern. Es wird ein gesünderes Geschlecht erziehen. Das Milieu meiner Jugend hat mir dieses Gesunde, Schützende um dreißig Jahre früher gegeben, bevor es Mode und dann verständige Schule wurde. Und schon vor fünfundzwanzig Jahren, als ich von München nach Wien übersiedelt war, ließ ich mir ein Paar Skier aus Norwegen kommen und sauste im Wienerwald mit Bauch und Nase gegen die Bäume, bis ich mit den langen Hölzern das Ausweichen lernte.

Gerade jener ›lieblose‹ Winter von 1879/80 war einer der fröhlichsten, meiner Jugendzeit. Kam ich lachend und erfrischt, in Schnee und Sonne braungebrannt, von einer winterlichen Bergtour heim, dann wurde mir die Woche zu einem harmlos vergnügten Purzelbaum. Die Heiterkeiten wimmeln da in meiner Erinnerung so wirr und zahlreich durcheinander, daß ich Einzelnes nimmer zu haschen, nimmer herauszuholen vermag. In jenem Winter wurde auch die Münchener Schlaraffia gegründet. Sie brachte malerisch fidele Nächte, brachte Freundschaft, die sich mit Kunst verbrämte. Und mein Vater nahm mich gerne mit in seine geliebte Schwadron der Pappenheimer, in eine prächtige, heitere Herrengesellschaft, in [252] der sich Aristokraten und Bürger, Gelehrte und Kaufleute, Beamte, Offiziere und Künstler zu einem selten harmonischen Kreis vereinigten. Auf der Miniaturbühne dieser Schwadron machte ich mich als Festspieldichter nützlich oder trat als Schauspieler auf, als Flötenbläser, als Kunstschütze, als Minnesänger, als Clown, oder als Ballerine in Trikot und in kurzen Tarlatanröckerln.

Wie eine frohe, farbige Sache steht mir ein Jugendfest bei Paul Heyse in Erinnerung. Heyse, der Achtziger, ist schon ein bißchen grau geworden. Aber ich seh' ihn noch immer mit dem braun gehelmten Olympierkopf von damals, mit den blanken Augen und dem Lächeln seines Wohlgefallens an der Freude der Jugend, die er in sein Haus gerufen hatte. Spätere Jahre brachten mir die Freundschaft des Dichters als wertvolles Geschenk, zu einer Zeit, da sein Werk schon ein Jahrzehnt mein Führer und Lehrer gewesen war. Vielleicht nur noch Maupassant gab mir technisch und stilistisch so viel Vorbildliches wie Paul Heyse. Vor mancher Seite seiner Bücher, auf der ich einen erregten Vorgang geschildert fand, konnte ich halbe Tage lang sitzen und nachgrübeln, wie er das fertig brachte: mit den ruhigsten Worten die stärkste Bewegung zu schildern.

[253] Es steigt noch ein anderes Dichterbild aus jener Zeit herauf: Hermann Lingg. Ich hatte ihn ausgesucht, weil's mich sehnte, ihn kennen zu lernen. In dem kleinen Häuschen der Nymphenburgerstraße fand ich den früh gealterten Dichter mit dem prachtvollen, Ehrfurcht erweckenden Löwenhaupt zwischen engen, mit Büchern tapezierten Wänden. Er war sehr freundlich. Und saß in einem Lehnstuhl, die Beine mit einer wollenen Decke umwickelt. Immer rieb er die kalten Hände, während er sprach. Und beklagte sich über das kränkende Unverständnis, dem seine Völkerwanderung begegne. Immer war in seinen Augen ein suchender Blick, der mich schmerzte. Und als ich wieder draußen war in der Februarsonne, blieb's noch lange wie ein drückender Alp auf mir. Es quälte mich die Frage: »Der ist doch ein Würdiger ... wie wird esdir ergehen? Wird was werden aus dir? Oder wirst du unten bleiben? Oder halb in die Höhe kommen? Und wirst du dann auch im Lehnstuhl sitzen? Und frieren? Und klagen müssen über den Undank der Welt?«

Mir war's ein erlösendes Aufatmen, als ich dann wieder einmal bei Karl Stieler saß – (jetzt hatte er einen seinen Pfälzer, der wie Veilchen und Rosen duftete) – und als ich dieses frohe, [254] weltgläubige Lachen wieder hörte, wieder in diese heiter blitzenden Augen sah. Er wollte mir auch gleich wieder nützliche Schule halten. »No also, nur unscheniert raus mit die Liederln!«

»Da hab ich ein Haar drin gefunden. Jetzt mach ich keine mehr.«

Ein bißchen war's gelogen. Denn ich hatte ein kleines Mondscheinlied gemacht. Ich rede nur von ihm, weil es eine Strophe enthielt, in der, vor dreißig Jahren schon, ein Grundwort meines Lebens ausgesprochen war:


»Und sind' ich nah das Schöne nicht,

So such' ich's in der Ferne,

Und glänzt die Erde manchmal nicht,

So glänzen doch die Sterne.«


Aber die Stunden, in denen die Erde mir nicht glänzen wollte, waren selten. Und nicht nur voller Sterne hing mir der Himmel, auch voller Geigen. In jenem Karneval kam ich wieder einmal drei Tanznächte nicht ins Bett. Daß ich am Tage nicht schlief, das ist doch selbstverständlich. Die Tage muß der Mensch benützen. Und nach einem zweiundsiebzigstündigen Wachen und Lachen besuchte ich am Faschingsdienstag vormittags 11 Uhr – um nur ja nichts zu versäumen – die Karnevalsaufführung des Hoftheaters.

[255] Doch ehe der Vorhang hochging, schlief ich schon. Und als der Billeteur mich weckt, war ich der letzte und einzige ›Zuschauer‹ in dem entleerten, bereits verdüsterten Haus. »Sie«, sagte der Brave in dem blauen Tressenrock. »jetzt müssen S' aber heimgehn! Wissen S', länger als a Stuck dauert, därf man im Hoftheater net schlafen.«

Und bald darauf ein unerhörtes, ein Herz und Seele schüttelndes Erlebnis! Die Uraufführung von Ibsens Nora im Residenztheater. Dieses Stück ist niemals wieder auf einer deutschen Bühne besser gespielt worden als damals in München. Das war ein Vollendetes. Und versank. Und wird niemals wiederkommen. Eine glückliche Fügung – das Wort Zufall wäre minderwertig – hatte am Residenztheater eine Schar von Künstlern versammelt, unter denen sich für jede Gestalt des Stückes der beste, der vollkommene Darsteller fand. Frau Ramlo spielte die Nora, und sie blieb die einzige klassische Interpretin dieser Rolle – die Dahn-Hausmann gab die Frau Linde, Possart den Dokter Rank, Häusser den Krogstad. Und Herr Knorr, sonst ein sehr mäßiger Schauspieler, war mit dem Aplomb seines Äußeren, mit seiner hohlen Schwäche der geborene Helmer, in dem er die Rolle seines Lebens fand.

[256] Gegebene Natur und meisterhaftes Können vereinigten sich in dieser Aufführung zu einer Harmonie und Wirkung ohnegleichen.

Ich hatte einen Platz auf der kleinen, mit fünfzig Menschen dick angepfropften Galerie über der Königsloge. Was ich hörte und sah, umklammerte mir das Herz, schnürte mir die Kehle zu, machte mich schwitzen und frieren, machte mich zittern in allen Fibern meines jungen Lebens. Ich fühlte: Da ist ein Neues, da ist ein starker und grandioser Mensch, der Tiefen aufreißt und Höhen zeigt, in Zorn verdammt und doch in Hoffnung begnadigen möchte, Morsches vernichtet und Würdiges erbauen will, die Menschen aufwärts zieht aus Schlamm und Ekel, und für die Zukunft des Lebens klare, reinliche Straßen weist.

Nach dem zweiten Akte – nach der Tarantellaszene neben dem geplünderten Christbaum – stürzte ich aus dem engen schwülen Raum in den Korridor hinaus, setzte mich auf den glatten Boden hin, vergrub das Gesicht in die Hände und brach in Schluchzen aus. Leute standen um mich herum. Keiner lachte, keiner sprach. Und dann preßten sie sich schweigend wieder hinein in diesen engen Theaterkäfig. Einer, ein junger Mensch, beugte [257] sich zu mir herunter und flüsterte: »Es geht wieder an.«

Während des letzten Aktes stand ich ganz hinten im Winkel, konnte die Bühne nimmer sehen, konnte nur noch die Stimmen der Schauspieler hören, die offenbarende Stimme des Dichters. Und als Herr Knorr als Helmer seine letzte, ratlose und doch von einer Hoffnung durchzitterte Frage gestammelt hatte: »Das Wunderbare?« – und als der Schlag einer schweren Türe dröhnte, die sich schloß – und als der Vorhang herunterging, war dumpfe Stille im ganzen Haus. Mir hämmerte das Herz bis in den Hals herauf An allen Gliedern war ich wie versteinert. Jener junge Mensch redete mich wieder an. Er sagte: »Ich weiß nicht ... aber ich glaube, das Stück ist aus?«

Langsam und still verließen die Menschen das Theater. In der Garderobe sahen die Leute einander komisch an. Einen hörte ich fragen: »Haben Sie das verstanden?« Ein anderer sagte: »Schade! Wenn das Stück nicht diesen unmöglichen Schluß hätte ...«

Ich rannte in die Nacht hinaus, rannte stundenlang in den Straßen herum.

Und am andern Nachmittag – ein Donnerstag[258] war's – begann das literarische Gezänk im Caféhaus. Immer wieder hieß es: ein realistischer Photograph, ein unfruchtbarer Negierer; Gestalten, die als Wahrheit beginnen und dann Hohn und Lüge werden; Beleidigung der Gesellschaft; Cynismus gegen die Heiligkeit der Ehe; Nora, diese hysterische Person, die weder Weib noch Mutter ist; und dieser widersinnige Schluß, dieses undramatische Fragezeichen.

Ganz rasend machte mich das. »Seid ihr denn blind? Der? Ein Realist? Ein Verneiner? Das ist doch einer, der die Menschen liebt! Seit Goethe war kein solcher Bejaher mehr da! Ein Idealist vom reinsten Wasser! Was ihr Realismus an ihm nennt, das ist doch nur eine äußerliche Form, ein Kappl, das er aufsetzt, weil es ihm grade so paßt. Und dieser Schluß ist doch der einzig richtige! Es kann keinen anderen geben. Dieser Schluß ist ein Aufrütteln. Ibsen schreit vom Theater herunter: ›Menschheit, hier ist das Problem deiner Entwicklung zur Höhe, jetzt such' es zu lösen an dir selbst! Ich, der Dichter, zeige dir den Weg. Gehen mußt du ihn!‹«

Die Köpfe wurden heiß. Wo man hinkam in diesen drei Tagen, überall der Streit um den Schluß der Nora.

[259] Und am Sonntag, daheim beim Mittagessen, bekam ich eine Karte, die mich fiebern machte. Frau Rüthling – die Gattin des beliebten Schauspielers, der einem unheilbaren Leiden entgegendämmerte – galt in jener Zeit als die Aspasia von Isarathen. Ihr Haus war der literarische Salon von München. Und nun schrieb sie mir: »Heute können Sie bei uns ein Erlebnis haben. Henrik Ibsen wird kommen.«

Ich konnte dieses Große kaum erwarten und war am Nachmittag der erste in dem mit Kunstschätzen vollgepfropften Salon der Frau Rüthling. An die zwanzig Leute erschienen. Aufregendes Warten. Die Hausglocke bimmelt. Er kommt! Alle schweigen. Die Türe geht auf Und wer steht da? Mein, geheimer Kommerzienrat aus der Schönfeldstraße'! Zuerst gab's mir einen Stoß. Ich erholte mich wohl gleich. Aber so kann's gehen, wenn man den Wert der Menschen nach Äußerlichkeiten taxiert!

Ibsen blieb nicht lange. Er schien sich auf dem Präsentierteller äußerst unbehaglich zu fühlen. Und redete sehr wenig, mit einer hohen langsamen Stimme. Fing eine Dame von der Nora zu schwärmen an, dann sprach er sehr ängstlich vom Wetter. Sein Abschied war wie eine Flucht.

[260] Damals, bei dem Sturme, den die Nora in mir aufrüttelte, vergaß ich beinah meines eigenen Stückes. Und dachte ich dran, so war's mir eine Unbehaglichkeit. Ich empfand zu deutlich die Distanz zwischen meinem unreifen Versuch und diesem Meisterhaften und Neuen, dessen Wert ich heiß empfand.

Man hatte mit der Inszenierung des Herrgottschnitzers schon begonnen. Frau Hartl-Mitius spielte die Loni, Frau Schönchen die Traudl, Neuert den Pechlerlehnl, Albert den Herrgottschnitzer, Hofpauer den Geißbuben, Brummer den Muckl. Und der ›alte Lang‹ wirkte noch in einer kleinen Episode mit. Ich kümmerte mich nicht viel um die Inszenierung. Als ich auf Neuerts Drängen endlich zu einer Probe kam und hinter den Kulissen der berühmten Schönchen vorgestellt wurde, fragte sie: »Wo bleibt denn Ihr Herr Papa?«

»Mein Papa? Warum? Soll er denn kommen?«

»Schaut er sich denn bei der Prob sein Stück net an?«

»Aber das Stück ist doch von mir.«

»Von Ihnen?« Die Schönchen guckte verwundert mich jungen blonden Menschen an; und [261] ich sah noch viel jünger aus, als ich war. »Ah, so was! Von Ihnen? Ja wie alt sind denn Sie?«

»Bald fünfundzwanzig.«

»Bald? Können Sie's schon nimmer erwarten?« Die Schönchen lachte. »No, passen S' auf, später, da geht's gschwinder. Da heißt's nacher allweil:schon!«

Der Abend der Aufführung kam – dieser 11. März 1880. Papa tröstete mich immer, wie in Sorge, daß es mir übel ergehen könnte. Und die Schwestern kicherten, so oft sie mich ansahen. Nur Mama, die sich zuerst gegen den Besuch der Aufführung heftig gesträubt hatte, war voll des besten Glaubens, aber schrecklich aufgeregt – so aufgeregt, daß sie Opiumtropfen nehmen mußte. Lachend sagte sie: »Sonst muß ich am End aus deiner Komödi raus, wenn's grad am allerschönste wird.«

Die Eltern gingen früher ins Theater als ich. Mir pressierte die Sache nicht. Ich las noch was. Und versäumte den ersten Akt. Auch im Theater befiel mich keine Spur von Aufregung, eher ein Gefühl des Unbehagens – ich kam mir hinter den Kulissen sehr überflüssig vor.

Das Stück gefiel.

[262] Und als da draußen dieses Plätschern und Rauschen war, faßte mich jemand bei der Hand und zog mich hinaus auf die offene Bühne. Das grelle Licht der Rampe blendete meine Augen. Immer wieder. Ein halbdutzendmal war ich schon da draußen gewesen und hatte noch immer nichts gesehen. Als man mich wieder hinauszerrte, sagte ich zu mir: »So schau doch einmal richtig hin!« Und da sah ich nun plötzlich das weite Haus, diese große, von Menschen wimmelnde Höhle. Die vielen weißen zappelnden Hände hatten etwas Komisches. Und als ich die vielen kleinen dunklen Punkte in den tausend gelblichen Gesichtern sah, befiel mich die Empfindung, als griffe mir eine gefährliche Faust an den Hals. Hinter den Kulissen sagten sie alle: das wäre ein schöner Erfolg. Aber ich konnte zu keiner rechten Freude kommen.

Auf der Straße, neben dem Bühneneingang, fand ich die Eltern, die mich erwarteten. Vater und Mutter schienen die Rollen getauscht zu haben. Papa war froher Laune und lachte: »No also, es ist ja ganz gut abgelaufen.« Mama war still und nachdenklich. Aber sie hängte sich in meinen Arm ein, während wir in der Nacht zwischen vielen Menschen heimgingen. Immer[263] wieder, vor und hinter und neben mir, konnte ich Worte hören, die mich merken ließen, daß diese fremden Menschen im Theater fröhlich gewesen waren. Nun begann ich auch etwas Warmes und Frohes in mir zu fühlen. Und ich mußte die Mutter fragen: »No, Mutterle, warum bist du denn so schweigsam? Hat's vielleicht dir nicht gefallen?«

»Doch, Bub,« sagte sie leis, »ich glaub, du hast da was ganz Ordentliches gemacht. Jetzt mußt du dich aber zusammennehmen und schauen, daß du ein bisserl weiter kommst.«

Ich begleitete die Eltern bis zur Haustüre, küßte Mutter und Vater, und ging ins Café Paul, wo die Schauspieler waren. Hier wurde ich lustig. Es gefiel mir, daß Hans Neuert und ich so nett gefeiert wurden.

In meinem Tagebuch von damals steht kein Wort über den Ausgang der Premiere, keine Zeile über den Herrgottschnitzer. Nur der Theaterzettel des ersten Abends ist eingeklebt.

Man gab das Stück alle paar Tage, immer bei gutem Besuch. Und wurde ich in dieser Zeit irgendwo mit Namen vorgestellt, dann bekam ich häufig die Frage zu hören: »Sind Sie vielleicht verwandt mit dem Autor des Herrgottschnitzers?« Kam es auf, wie nah ich mit ihm verwandt war, [264] so hieß es gewöhnlich: »Nein! Den hätt ich mir aber älter vorgestellt!« Dabei geriet ich in ein unbehagliches Dilemma. Entweder war das Stück so gescheit, daß man es einem jungen Hund mit grünen Ohren nicht zutraute – oder es war so altmodisch, daß man keinen jungen Pulsschlag drin verspürte. Bei meinem Mangel an Eitelkeit neigte ich dieser letzteren Ansicht zu und wurde von dieses Gedankens Blässe ein bißchen schmerzlich angekränkelt.

Eines Nachmittags im sonnigen März besuchte ich mit der Mutter den Salvatorkeller auf dem durch Millionen Räusche berühmt gewordenen Rockherberg. Nicht weit von unserem Platze war ein Tisch mit Studenten. Einer der jungen Leute erkannte mich und trank mir zu: ›Prost Herrgottschnitzer!‹ Ein Getuschel am Tisch da drüben. Dann begannen sie alle im Takt mit den Krugdeckeln zu klappern und sangen immer das gleiche Wort: ›Herrgottschnitzer, Herrgottschnitzer, Herrgottschnitzer ...‹

Der ganze Saal, in dem ein paar tausend Menschen waren, begann aufmerksam zu werden, und der Kanon pflanzte sich fort von einem Tisch zum andern: ›Herrgottschnitzer, Herrgottschnitzer, Herrgottschnitzer ...‹ [265] Mama lachte, daß ihr die Tränen kamen. Mir war bei diesem Radau nicht recht gemütlich und ich wollte Reißaus nehmen. Aber gleich hatten mich ein paar Studenten und zwei himmelblaue Kürassiere beim Wickel. Auf festen bayerischen Schultern wurde ich unter dem Hallo von zweitausend Menschen durch den Saal getragen. Und Mama, die bei jedem Spaß immer gleich dabei war, hatte einen drolligen Einfall, tänzelte hinter mir her, kopierte die ›Frau Rat‹, zog im Menuettschritt den Rock auseinander und knickste bei jedem Tisch: »Ich bin die Mutter Ganghofers.« Das war heiter und parodistisch gemeint. Aber heimlich funkelte doch auch ein bißchen Stolz im Herzen meiner guten Mutter.

Und am Abend, als wir in der Frühlingsdämmerung heimwanderten, alle beide vom schweren Salvator und von dem lustigen Triumph ein bißchen angeschwitzt, tat die Mutter plötzlich einen von ihren brunnentiefen Seufzern und sagte: »Ach, Bub, wenn ich jetzt noch wisse tät, ob der ander auf'm Weltmeer drauße guts Wetter hat, da könnt ich heut mit'm liebe Herrgott ordentlich zfriede sein!«

Dann kam eine beklemmende Enttäuschung. Der Besuch des Stückes in München begann [266] sehr bald abzubröseln. Nach der 17. Aufführung verschwand es vom Repertoire. Und mit Ausnahme von ein paar kleinen Provinztheatern kümmerte sich keine Bühne drum.

Wäre nicht wegen eines zweiten Berliner Gastspiels der bayerischen Volksschauspieler schon alles abgeschlossen gewesen – wer weiß, ob die Münchener jetzt, nach dem Versagen des Stückes in der Heimat, noch den Mut gefunden hätten, das Berliner Wagnis zu erneuern. Aber alles war kontraktlich schon festgelegt. Sie mußten reisen. Doch ohne den Herrn Deppe. Den hatte sein glücklicher Einfall vom vergangenen Jahr auf eine schmale Bank gesetzt. An seine Stelle trat ein neuer Impresario. Der konnte nun eine zehnjährige Ernte von dem klingenden Samen halten, den Herr Deppe in unsicheren Boden gesät hatte.

Die Münchener hatten diesmal in Berlin nur ein einziges neues Stück: den Herrgottschnitzer. Am ersten Abend gab's einen stürmischen Erfolg, der Tag für Tag einen ganzen Monat lang das Haus bis auf den letzten Stehplatz füllte. Die Anerkennung der Presse war einstimmig. Ich selber machte große Augen zu dem freundlichen Wunder, das die Berliner Kritik mir da zu erleben gab. Und am 7. Juni 1880 schrieb Berthold [267] Auerbach an Jakob Auerbach: »Gestern sah ich ein Stück der Münchener Schauspieler, der Herrgottschnitzer von Ammergau, ein Stück ganz im Dialekt, auch in den Empfindungen voll warmer Naturlaute und überhaupt ganz naturalistisch, dabei aber mit geschickten theatralischen Kontrasten und auch einigem theatermäßigem Aufputz. Ich konnte erst lang nach Mitternacht zur Ruhe kommen, so bis ins tiefste regte mich diese neue Fassung des Volkslebens auf. Es ist offenbar, es ist ein Schritt weiter geschehen, als ich wagte oder vielleicht auch konnte. Dennoch glaube ich, daß meine Haltung und Fassung mehr der Dauer der Kunst entspricht.«

Als die Münchener heimkehrten zur Isar, wurde der Herrgottschnitzer im Theater am Gärtnerplatz wieder hervorgeholt und über hundertmal gespielt. Er war in Berlin zu Beinen gekommen, mit denen er über alle Bühnen wanderte, bis nach Amerika und Australien. Ein bißchen lebt und zappelt er noch heute. Aber viel Staub der wechselnden Zeiten ist ihm auf Kopf und Herz gefallen. Vor dreißig Jahren nahm man ihn als naturalistisch, heute wird er unter die Schmachtlappen eingereiht. Alles Urteil in künstlerischen Dingen ist eine Relation der Zeit, in der es sich [268] bildet. Unter Doppelsichtigen muß der Einäugige zum Blinden werden. Und dann kommen wieder die Seher mit den leeren Augenhöhlen. Die wissen alles am besten.

Nach der ersten staunenden Verdutztheit begann ich mich damals meines Erfolges langsam zu freuen. Und für die bescheidenen Verhältnisse, an die ich gewöhnt war, verdiente ich so reichlich, daß ich eines Abends daheim in der kleinen Stube sagte: »Mutterle, wenn das so weitergeht, dann bau ich nächstes Jahr ein seines Haus für uns alle!«

»No, no, no, werd nur nit übermütig!« Die Mutter lachte. »Unser Herrgott wird schon der Gais das Schwänzle net gar z'lang wachse lasse.«

Mama war eine von jenen Prophetinnen, deren Weisheitssprüche sich zu erfüllen pflegen. Ein paar Monate später gehörte der Herrgottschnitzer einem Agenten. Der verdiente mit dem Stück ein großes Vermögen. Ich hatte nichts. Aber ich war ausreichend gesund, um über die Suppe lachen zu können, die mein Leichtsinn mir eingebröckelt hatte. Und Reue? Nein! Torheiten, die man einsieht, braucht man nicht zu bereuen. Sie erweisen sich fürs kommende Leben als nützliche Dinge. Wäre die Goldamsel des [269] Herrgottschnitzers nicht gerade noch rechtzeitig aus meiner kleinen Stube in einen fremden Käfig geflogen – wer weiß, vielleicht wäre ich bei diesem ungewohnten Schwimmen im schnöden Mammon zum unverbesserlichen Verschwender geworden, zu einem Verbrecher wider die beste Kraft meiner Jugend? Sorge und Schulden – die plötzlich da waren, ich wußte nicht wie – erzogen mich zu einem zähen Arbeiter und schließlich zu einem relativ vernünftigen Exemplar der Schöpfung. Alles hat sein Gutes. Der Gang meines Lebens lehrte mich an diese Wahrheit glauben.

[270]
6.
VI.

Bevor ich wieder eine Staffel fand, die mich aufwärts brachte, kam ein wunderlich reiches und dabei doch leeres Jahr. Es brachte mir keinen Fortschritt auf künstlerischem Boden. Der erste, mühelos gepflückte Erfolg begann mich ein bißchen zu beschwipsen, und lachend biß ich in alle Birnen des Lebens. Bei diesem ruhelosen Gegaukel von Heiterkeiten wurde mir auch die Arbeit zu einem leichtsinnigen Räderschlagen ohne Ziel. Ich war nicht faul. Aber das früher Begonnene verstaubte, und Neues wollte nicht klar und richtig in mir aufbrennen. In dem ›Abstecher‹, den ich mit dem Herrgottschnitzer auf das Gebiet der volkstümlichen Literatur gemacht zu haben meinte, konnte ich den Weg meiner kommenden Zeit noch nicht erkennen, immer wieder war die ehrgeizige Sehnsucht nach der ›höheren Richtung‹ da, und dann lockte wieder[271] der heimatliche Boden, auf dem mir der erste Erfolg wie ein flinkes Lachen gekommen war. Mein Roman schlummerte, der Trinker von Rothenburg und mein tragikomischer Nero fielen völlig aus mir heraus, ich schrieb zwei Einakter, die ich wieder in den Papierkorb schmiß, und brachte ein romantisches Lustspiel fertig, das vom Münchener Hoftheater angenommen, doch glücklicherweise niemals aufgeführt wurde. Und zu Neuerts gutem Titel ›Der Prozeßhansl‹ ersann ich ein neues Volksstück, das was Tüchtiges hätte werden können, aber nach gutem Anlauf in konventioneller Halbheit stecken blieb.

Bei diesem Schwanken, Irren und Trödeln gab mir der Zufall wieder einen gelinden Stoß nach jener Seite hin, der die Arbeit meiner späteren Jahre sich zuwenden sollte. Die Reichelsche Buchdruckerei in Augsburg machte mir den Vorschlag, den Erfolg des Herrgottschnitzers ›auszunützen‹ und die Handlung des Stückes in eine Dorfgeschichte für den Königskalender umzuschmelzen. Zuerst lachte ich und riß den höflichen Brief in Fetzen. Aber dann kam es so, daß bei der Einschätzung des Herrgottschnitzers mein junger, unbekannter Name ein bißchen beiseite geschoben wurde. Hans Neuert war ein erfolgreicher Dramaturg,[272] ein gefeierter und beliebter Künstler. Ihm traute man das Beste zu, mir nichts. Über die Ausschaltung, die ich da erfuhr, ärgerte sich Neuert selbst viel mehr als ich. Er war und blieb mir ein guter Freund, der mir immer redlich zuerkannte, was meines Blutes war.

Und da wurde mir die Augsburger Anfrage zu einer guten Gelegenheit, um dokumentieren zu können, was ich am Herrgottschnitzer als mein bescheidenes Eigentum bezeichnen durfte. Im Juni, während die Münchener mit dem Herrgottschnitzer in Berlin gastierten, war ich eine Woche lang zu Gast bei Verwandten in Niederbayern und pirschte auf Rehböcke. Während der freien Stunden, die mir die schönen Tage bewilligten, schrieb ich in einer blühenden Geißblattlaube von Schloß Baumgarten den Herrgottschnitzer als Dorfgeschichte.

Ich nahm das gar nicht als Arbeit, nur als eine Eigentumserklärung, die im Königskalender unter meinem Namen allein gedruckt werden sollte und dann ihren Lebenszweck erfüllt hätte. An künstlerische Seelenkämpfe aus jenen hurtigen Kritzelstunden in der Geißblattlaube weiß ich mich nicht zu erinnern. Mir ist von jener Juniwoche nur das Gedenken an sorglos heitere Tage und [273] die Erinnerung an eine groteske Fischergeschichte im Gedächtnis geblieben.

Ich angelte gern. Und gleich am ersten Abend in Schloß Baumgarten fragte ich meinen Vetter, ob da nicht irgendwo in der Nähe ein gutes Fischwasser wäre? Die Antwort lautete: »Kein Schwanz weit und breit!« Aber Tags darauf, bei einem ziellosen Sonnenbummel, fand ich zwischen Dorf und Wald drei alte, dick mit Schilf und Wasserblumen überwachsene Weiher. Und bei der wabernden Mittagshitze sah ich zwischen Röhricht und Krautgeschling die knollfetten Rücken bemooster Karpfen aus dem schwarzen Wasser lugen. Es war in diesen Weihern seit so viel Jahren nicht mehr gefischt worden, daß auch der Schloßherr selber nimmer wußte, ob es in diesen ›Froschlac ken‹ noch Fische gäbe. Das war nun was für mich: einen zappelnden, silberblitzenden Schatz zu heben, dessen die lebenden Menschen sich nimmer entsinnen konnten! Ich rannte gleich ins nächste Bauernhaus, holte eine Sense, mähte aus jedem Weiher für einen Angelplatz das Schilf heraus und knetete aus Honig und Schwarzbrot eine Kirrung für die scheuen Karpfen, die vor der Sense Reißaus genommen und sich im Schlamm verkrochen hatten. Beim Hufschmied hämmerte [274] und feilte ich eine englische Stoppnadel zu einer seinen Angel aus, und am Abend flocht ich mit vielstündiger Geduld eine prachtvolle Angelschnur aus den hundert Fäden, die ich aus meiner blauseidenen ›Künstlerkrawatte‹ herausgezogen hatte.

Im ersten Morgengrau und gleich beim ersten Angelzuck hob ich aus dem geheimnisvollen Wunderwasser einen Karpfen heraus, so groß und schwer, daß er sich in der Gießkanne gar nicht unterbringen ließ. Unter der Dachtraufe des nahen Bauernhauses sah ich einen tischhohen Wasserbottich stehen. Den rollte ich zum Weiher. Und dann ging's los: hinein mit der Angel, heraus mit dem Karpfen! Man weiß, was Schönheitsrausch bedeutet. Aber hier gab's einen Karpfenrausch, dessen herzklopfende Sensationen mir nur ein passionierter Angler nachzufühlen vermag. Bis neun Uhr vormittags hatte ich ungefähr einen Zentner Karpfen gefangen. Und ich mußte diesen geradezu märchenhaften Sportgenuß nur deshalb beenden, weil die Karpfen im Wasserbottich schon mit solchem Gedränge durcheinanderwimmelten, daß man kaum noch mit der Hand dazwischenfahren konnte. Und den schlüpfrigen Bottich umwitterte in der heißwerdenden Sonne ein Schuppenduft, der sich zu einer Unerträglichkeit auswuchs.

[275] Aber noch immer verlor ich die Freude an dieser grandiosen Sache nicht. Ich mußte nur für die weiteren Fischzüge Plan im Bottich schaffen. Die zwei schwersten Kerle wurden aus dem Faß herausgehoben. Mit den mächtigen Zappelschwänzen unter den Armen rannte ich bei brütender Sonne über den Schloßberg hinauf In der Küche gab's einen fidelen Jubel meiner beiden jungen Baschen und aller Mägde. Auch die Tante schmunzelte beim Anblick der ausgiebigen Fastenspeise. Der Onkel aber besaß empfindsame Nasenflügel und schalt: »Pfui Teufel! Fort damit! Die stinken ja nach Moos, wie die Pest vor Wien nach Türken!«

Ich ließ natürlich auf meine Karpfen nichts kommen. »Den Moosgeruch kann man doch in fließendem Brunnenwasser auslaugen!« Aber als ich die zwei Riesenkarpfen in den spiegelklaren Brunnentrog setzte, drehten sie die weißen Bäuche nach oben und bezeigten nicht die geringste Luft mehr, reines Wasser zu schlucken und ihren muffigen Lebenscharakter in lauterem Element zu purifizieren. Sie hatten im Schlamm gelebt, waren an den Dreck gewöhnt und mußten sterben, als sie appetitliche Schönheit erleben sollten. Kultur bedeutet nicht immer einen Segen. Statt daß die beiden Karpfen gebraten wurden, warf man [276] sie unter Gefühlen der Empörung auf den Mist, den die Frühlingssonne umglänzte.

Und als ich hinunterkam zu meinem Bottich, konnte ich schon auf hundert Meter die Türken riechen. In dem warm gewordenen Wasser des großen Fasses pritschelte kein Schwänzl mehr. Ein jammervolles Sonnensterben hatte da begonnen. Nur weiße Bäuche waren zu sehen. Von den vielen Verschmachteten zuckten ein paar noch mit den Kiemen. Diese Hoffnungsvollen warf ich wieder in den Schlamm des Weihers. Mit den anderen rannte ich hausierend von einem Bauernhof zum nächsten: »Wer mag Karpfen? Wer mag Karpfen?« Lachend und mit beiden Händen griffen die Bäuerinnen zu. Doch am Abend, als die mörderische Sonne rot hinunterschwebte, lagen auf jedem Misthaufen des Dorfes ein paar von den unglückseligen Opfern meines märchenhaften Fischzuges.

Und während der nächsten Tage, als ich in der Geißblattlaube meine erste Dorfgeschichte vollendete und sehnsuchtsvoll den Wohlgeruch der Alpenflora schilderte, war auf eine Viertelstunde rings um Schloß Baumgarten her ein Fischgeruch, so grauenvoll, daß er jede wohlerzogene Nase zur Verzweiflung brachte.

[277] Ich habe in meinem ferneren Leben niemals wieder einen Karpfen gegessen. Doch es blieb mir von der grotesken Fischgeschichte für kommende Zeiten nicht nur dieses taedium cibi, sondern auch ein pädagogisches Erinnern. Ich begann mißtrauisch gegen das Übermaß zu werden. Und wenn die leicht zu fangenden Fische sich allzu bedenklich mehrten, kam in einer Stunde des Widerstrebens immer die Warnung: »Du, sei vorsichtig, da karpfelt's ein bisserl!«

Es begann auch mit der Rückkehr nach München ein Jahr, in dessen Verlauf ich ein Schutzmotto von solch einer prophylaktischen Wirkung sehr nötig hatte. Denn die liebeleere, die herrliche Zeit führte in mir zu einer jähen Solarisation. Die Amateurphotographen, welche wissen, daß sich auf einer sensiblen Schicht, die man allzulang der reinen Sonne aussetzt, Schwarz in Weiß und Weiß in Schwarz verwandelt, werden verstehen, was ich mit diesem aus der Chemie herbeigeholten Fremdwort über die damalige Wandlung meines Lebens sagen möchte.

Und so muß ich nun schon wieder von einem tollen, blutheißen Purzelbaum meiner Jugend erzählen, auf die Gefahr hin, daß bibelfeste Kritiker meines Lebenslaufes sagen werden: man müßte [278] mir viel verzeihen, usw. usw. Soll die Geschichte meines Lebens eine nützliche und hilfreiche Sache werden – und das ist die einzige Absicht, die mich leitet – so muß ich ehrlich bei der Wahrheit dieses Lebens bleiben, von dem ich weiß, daß es trotz allem Räderschlagen unkompliziert und fröhlich war.

Als kleiner Junge, im Dorfe, hatte ich immer ein rasendes Vergnügen an jenen Drehorgelmännern, die mit gemalten Moritaten herumzogen und dazu ihre unzensurierten Lieder sangen. Aus einem solchen Volksliede, dessen Held eine höchst verwerfliche Erscheinung war, kann ich mich noch heute an zwei Strophen erinnern. Diese beiden Strophen adaptiere ich hiemit zu persönlichem Gebrauche, zeige unverblümt mit dem erzieherischen Haselnußsteckerl die Moritaten meiner Entwicklung auf und singe:


Also knüpfte dieses junge Laster,

Blindlings taumelnd auf der Lebensbahn,

Bald im Dorf, bald auf dem Großstadtpflaster

Ein verbotenes Verhältnis an!


Ja, er frevelte sehr viel beim Lieben,

Übte schlecht das sittliche Gebot,

Aber seht – er ist gesund geblieben,

Bis an seinen, nun schon nahen Tod!


[279] Was man unter Gesundheit versteht, und was zur Erhaltung der Gesundheit dringend erforderlich ist, erschien mir von je als eine sehr wichtige Sache. Und damals, im Sommer 1880, bei passioniertem Sportbetrieb und bei strotzendem Lebensbehagen, wurde ich mit mehr Temperament als Sachkenntnis zum glühenden Vorkämpfer einer Lebensnotwendigkeit, die seit einiger Zeit begonnen hatte, eine Wissenschaft zu werden. Man wird erraten, daß ich die Hygiene meine. Dabei spukten auch wieder die alten Weltverbesserungspläne in mir. Und so beschwor ich bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit sehr lebhafte Debatten, in deren Verlauf ich harte Dinge über die unverständige Kinderpflege und Kindererziehung im Bürgertum zu sagen hatte, über Grammatikzöpfe und Schulblödsinn, über gesundheitswidrige Knechtung der Jugend, über Mangel an ausgiebiger Bewegung und Körperpflege, über sinnwidrige Ernährungsmethoden, über hirnverbrannte Prüderie und ekelhafte Kraftvergeudung usw. Bei diesen Debatten liebte ich drei Worte. Sie lauteten: ›Schulwege zur reinen Mutter Natur‹, ›notwendiges System einer verstandesgemäßen Egoistik‹ und ›gesunder, durch Lebensvernunft begrenzter Animalismus‹. Gerne sagte ich: »Es [280] ist unmöglich, Mensch zu bleiben, wenn man nicht in dringender Stunde das Recht in Anspruch nehmen darf ein gesundes Tier zu sein!« Oder ich sagte: »Mensch? Was heißt das: Mensch? Auch wir sind Tiere, nur leider solche mit schwächeren Sinnen und Kräften. Die Maus hört besser, der Maulwurf tastet seiner, der Adler sieht schärfer, der Fuchs wittert verläßlicher und der Floh springt im Verhältnis ungefähr dreitausendmal höher als wir. Und mit unseren mangelhaften Lebensbehelfen, die wir Sinne und Fähigkeiten nennen, wollen wir das Ding an sich erforschen und Gottes fabulösen Mantel mit der Elle messen. Unsinn! Wir müssen uns genügsam auf das beschränken, was innerhalb der Grenzen unseres Lebens möglich und erreichbar ist: Gesundheit, menschliche Kraft, besonnene Freude, klar verstandenes Glück und als Sonntagsbraten einen schönen Traum, der ins Blaue schwimmt.« Oder ich sagte: »Was durch den Mund eingeht, verunreinigt das Herz nicht, spricht der Prophet, der der mildeste unter allen Menschen war. Dabei vergaß er nur leider, daß, was durch den Mund eingeht, die Muskeln härtet oder entkräftet, das Gefühl verweichlicht oder stählt, die Gedanken müde macht oder befeuert. Und wie das Eingegangene[281] durch die zwei verschleierten Tore des Lebens wieder hinausgeht, davon hängt es ab, ob uns das Leben ein leichtes Lachen wird oder eine zermalmende Pein!«

Eine solche Debatte gab es eines Abends bei Hans Neuert, nachdem wir beide die von mir ersonnene Handlung des Prozeßhansl miteinander erörtert hatten. Meine Gegner bei diesem Meinungskampfe waren der heitersarkastische Freund, seine redlich für alles Höhere eingenommene Gattin und ein schöngeistiger Leutnant, der als interessante Persönlichkeit bezeichnet wurde, weil eine berühmte Schauspielerin des Hoftheaters um seinetwillen alle Phosphorköpfe eines Zündholzpackerls verschluckt hatte – glücklicherweise ohne beklagenswerten Erfolg. Es gab schon damals Leute, welche schlechte Streichhölzer fabrizierten. Der gewissenlose Fabrikant, der den Phosphor mit irgend einer blauen Sache verfälschte, verdient im ruhmvollsten Kapitel der Münchener Theatergeschichte eine dankbare Erwähnung als Lebensretter eines großen Talentes.

Ich hatte bei meiner hygienischen Debatte einen schweren Stand gegen die vereinigten Gegner. Doch in der Hitze des Gefechtes überschrie ich sie alle drei. Sie bekamen Sukkurs. Es war als [282] Gast noch eine junge schöne Schauspielerin zugegen, die ihr Engagement an einem Provinztheater verlassen hatte und sich einen Ferienmonat vergönnen durfte, bevor sie ihre neue Stellung hoch droben im Norden antrat. Wir beide waren im Alter nicht weit auseinander. In ihrer Erscheinung war sie ganz vornehme Dame, sehr elegant, hatte dabei das Herz eines guten, scheu nach Schönheit dürstenden Kindes und den klaren, heiteren Verstand eines normalen gesunden Weibchens. Lange lauschte sie schweigend der erregten Debatte, runzelte nur manchmal mißbilligend und schmerzhaft die feingeschwungenen Augenbrauen. Doch plötzlich war sie in eine grollende Medea verwandelt und legte mit aller Empörung einer schönen Frauenseele gegen mich los:

»Nein, nein, nein! Das ist fürchterlich! Da geh ich nicht mehr mit! Glauben Sie vielleicht, der herrliche Monolog des Wilhelm Tell wäre nicht entstanden, wenn Schiller zwei Tage früher ein unverdauliches Gemüse gegessen hätte? Oder wollen Sie mir beweisen, daß mein ideales Denken und Fühlen abhängig wäre von der Qualität des Rindfleisches, das mir im Hotel vorgeseht wird? Nein, nein, nein! Wie kann man solche Anschauungen vertreten? Phantasie und[283] Seele sind denn doch etwas anderes als der Magen.«

»Über die Seele will ich nicht mit Ihnen streiten, mein verehrtes Fräulein. Entweder haben wir keine, oder sie muß auch im Magen wohnen. Aber was die Phantasie betrifft ... nach den neuesten physiologischen Forschungen ist der Brunnen der Phantasie nicht im Gehirn, sondern in den Eingeweiden zu vermuten. Die müssen also gesund sein, wenn die Phantasie nicht krank werden soll.«

Meine schöne Gegnerin beschuldigte mich in flammender Entrüstung der Unanständigkeit. Die Debatte wurde immer gereizter und entwickelte sich, während meine drei früheren Gegner sich in lachendes Publikum verwandelten, zu einem leidenschaftlichen Wortgefechte zwischen uns beiden. Wenn meine Widersacherin gegen meinen ›prosaischen Materialismus‹ mit Gründen nicht mehr aufzukommen vermochte, bekam sie nasse Augen und klagte in Zorn: »Nein! Nein! Das ist entsetzlich, das ist einfach entsetzlich!«

So kämpften wir bis in die zweite Morgenstunde – bis der schöngeistige Leutnant schläfrig wurde. Ein Wagen war um die späte Zeit nicht mehr zu bekommen. Ich mußte meine schöne [284] Gegnerin, die in München nicht ortskundig war zu ihrem weit entfernten Hotel begleiten. In den nachtstillen, menschenleeren Straßen spann sich unsere heftige Debatte weiter. Ein paarmal lief mir die empörte Feindin in Zorn davon. Doch bei der nächsten Straßenecke wußte sie nicht, ob rechts oder links, und weil ein befragbares Menschenkind nirgends zu erspähen war, mußte sie trotz Zorn und Empörung wieder warten, bis ich sie einholte.

Vor dem Hoteltor sagte sie mit schwerem Ärger: »Ich hoffe, wir beide werden einander nicht mehr begegnen. Mit Ihnen könnt ich mich nicht vertragen. Solche Anschauungen? Nein, nein, nein, nein!«

Höflich ihren Zorn überwindend, reichte sie mir ›zum Abschied für immer‹ die Hand. Wir wünschten einander gute Nacht. Und plötzlich hingen wir Hals an Hals geklammert. Mit dieser überraschenden Wendung waren unsere hygjenisch-philosophischen Meinungsverschiedenheiten ein für allemal beigelegt.

Als das liebe, prächtige Mädel vier Wochen später nach verschiedenen Aufschubstelegrammen endlich reisen mußte, um auf den Brettern ihres neuen Wirkungskreises als Antrittsrolle die Jung-München [285] zurück, als ratlose Waise eines begrabenen Glückes. Ein paar Wochen später kam ein dürstender Brief, mit einem entzückenden Bild der Viola in ›Was ihr wollt‹. Und da war es um mich geschehen. Ich packte meinen Koffer, heimlich, und kutschierte eines brennheißen Nachmittages zum Bahnhof, zu einer Reise ins Blinde, ins Dunkle und Unberechenbare. Die Fahrt ging über Augsburg. Und als der Zug zur Lechbrücke kam, durch deren eisernes Sparrenwerk ich einst die Geßnersche Idylle mit der für das Elsbethle geschriebenen Widmung.


»Reden, Handeln, Tun und Wandeln

Zeigt der Menschen Wesen nicht ...«


hinausgeschleudert hatte ins Leere, da erinnerte ich mich plötzlich des fürchterlichen Schuppendunstes jener vielen, in der Sonne gestorbenen Karpfen von Schloß Baumgarten.

Und in mir ein Schrei der Besinnung: »Mensch? Was machst du da? Du zerstörst dein Leben! Und dazu noch ein anderes! Sei vernünftig! Schluß! Es karpfelt!«

In Augsburg stieg ich aus. Weil ich mit dem grauenvollen Abend nichts Besseres anzufangen [286] wußte, besuchte ich das Sommertheater im Schießgraben, wo sie mit jubilierender Aufführungsziffer den Herrgottschnitzer gaben. Ein halb schon verkrachter Direktor hatte sich mit dem Stück wieder aus dem Wasser gehoben.

Das Haus war so dick besucht, daß man für mich einen Stuhl in den dunklen Hintergrund einer Loge stellen mußte. Das Publikum jubelte, obwohl die Aufführung eine ganz entsetzliche war. Im zweiten Alte – Dekoration: die Weglalm – wurde ich ganz rasend über eine Kuhglocke, mit der sie zur Erhöhung der Lokalfarbe unablässig hinter den Kulissen bimmelten. Zum Verzweifeln war's! Und jedes knalldicke Ammergauer Mädel, das auf die Bühne kam, erweckte in mir das Bild der seinen, schlanken, süßen Viola in Shakespeares ›Was ihr wollt‹. Aber wenn dann die Sehnsucht in meinem Blute brüllte: »Rindvieh, so reife doch!« ... dann war auch immer wieder der abschreckende Duft der gestorbenen Karpfen da.

– Zwanzig Jahre später, in Innsbruck wollt' ich eines Abends ins Theater gehen. Man gab die Zärtlichen Verwandten. Vor dem Theaterportal studierte ich den Zettel. In der Rolle der komischen Alten fand ich den Namen meiner einstigen [287] Gegnerin bei jener hygienischen Debatte. Sic transit gloria amoris! Einst die Viola! Und jetzt die komische Alte! Nein! Das hab ich mir nicht ansehen mögen. Ich kehrte wieder um. Will ich völlig bei der Wahrheit bleiben, so muß ich gestehen, daß ich keine Träne im Aug' zerdrückte. Es war in mir nur ein wunderlich schmerzendes Lachen. Und im Hotel erlebte ich einen jener Zufälle, die unglaublich sind. Ich sagte zum Kellner: »Bringen Sie mir irgend etwas, was fertig ist.« Er fragte liebenswürdig: »Vielleicht einen Paprikakarpfen mit Nockerln?« Dann erschrak er über mein Gesicht. Ich besorge, daß er mich für einen Irrsinnigen hielt. –

Von Augsburg fuhr ich damals mit dem letzten Nachtzug nach München zurück. Die Meinen hatten nichts von meiner kleinen Reise gemerkt, die beinahe eine so große geworden wäre, daß ich den Rückweg nimmer gefunden hätte. Während der folgenden Tage fragte meine Mutter sehr häufig: »Bub, was hast du denn?«

»Nichts, Mutterle! Ich denk nur so über Verschiedenes nach.«

»Na, Gott sei Lob und Dank! Weil du nur endlich zu denken anfangst!« Sie lachte. »So lang er denkt, der Mensch, ischt er nie verlore!«

[288] Heitere Kameradschaft tröstete mich. Damals war Konrad Dreher als junger Komiker ans Gärtnerplatztheater gekommen. Man kennt ihn heut als einen Wohlbeleibten, den auch Julius Cäsar gern in seiner Nähe geduldet hätte. Vor dreißig Jahren war der ›Konradl‹ eine magere Hopfenstange mit wehender Künstlerkrawatte, der typische junge Dachs, von dem man, wenn er sich näherte, zuerst nur die große Nase sah. Diese Nase war sein ruheloser Kummer. Seinen Arm unter den meinen klammernd, sagte er einmal mit weher Trauer: »Weißt, Ludwigl, innerlich bin ich ein tragischer Held! Aber mit so einer Nasen! Da mußt halt Komiker bleiben! Es hilft nix! D'Leut lachen halt allweil!« Er glaubte in allem Ernste, daß ein klassischer Liebhaber an ihm verloren ginge. Und bei unseren Wanderungen durch die einsamen Gründe des Englischen Gartens deklamierte er mit heißer Inbrunst die großen Reden des Romeo, des Melchthal, des Mortimer, des Don Carlos und des Uriel Acosta. Mit der Antwort des Uriel auf seine Verfluchung als Jude machte Konrad Dreher bei einer Sippung der Schlaraffia den Versuch, als klassischer Rezitator die ersehnte Anerkennung zu erzwingen. Er wollte tragisch wirken. Doch als [289] er bei diesen dröhnenden Jamben zu der Stelle kam:

»Ihr dürft mir fluchen ...«

da brach die ganze Korona in ein brüllendes Gelächter aus. Und Konrad Dreher, von der heiteren Gunst des Augenblickes fröhlich überwunden, schloß seine ernste Deklamation mit dem lustigen Extempore:

»... Denn ich bin und bleibe ein Hebräer!
In Gottesnamen!«

Von nun an ließ er die Rede des Uriel immer nur als fidele Nummer los und begann sich in das Schicksal zu fügen, daß die Natur ihn zu einem die Menschen von der Trauer erlösenden Komiker gebildet hatte. Wir beide wurden gute, feste Kameraden. Und seinen drolligen Erlösungskräften muß ich dankbar sein. Sie brachten mir in einer Zeit, in der mich eine dumpfe Melancholie bedrohte, das helle, freie, sorglose Lachen wieder bei.

Im gleichen Sommer schloß ich eine herzliche, fürs ganze Leben ausdauernde Freundschaft mit einem anderen jungen Künstler des Theaters, mit Richard Alexander, der am Gärtnerplatz neben Konrad Dreher als Liebhaber und Bonvivant die Gunst der Münchener gewann. Er war ein Mensch und Künstler von quellender Jugend, mit [290] bezwingendem Charme und klarem Lebensmut. Im gesellschaftlichen Verkehr merkte man ihm niemals den Schauspieler an; da war er von liebenswürdigem Ernst, konziliant, vornehm, sein, immer à quatre épingles. Und stand er auf der Bühne, so ging etwas Wohliges, etwas Ruhigmachendes von ihm aus. Neben aller Ergriffenheit des Zuschauers, die Alexander in ernsten Rollen zu erzielen wußte, blieb immer ein leises, eigentümliches Schmunzeln, das den Ernst seiner Wirkungen wunderlich schmackhaft machte. Drum sagte ich eines Tages zu ihm: »Du, ich glaube, daß du eigentlich als Liebhaber und Held deinen Beruf verfehlst. Ich glaube, daß in dir das Zeug zu einem ganz großen Komiker steckt.«

Dieses Urteil kränkte ihn. Er war der Meinung, daß ich zu wenig von ihm halte, die Qualität seiner künstlerischen Begabung unterschätze.

Ich sagte: »Nein! Die Leute zur Rührung zu zwingen ist leichter, als die Menschen in Freude lachen zu machen. Der Humor ist das Größere als die Tragik. Und alle ganz großen Dichter, Homer, Shakespeare, Goethe, sind Humoristen gewesen.«

»Nach deiner Definition wäre Schiller kein [291] großer Dichter. Der macht die Menschen nicht lachen.«

»Das ist ein Irrtum. Schiller als Mensch hatte Humor. In seinem Leben steht der Humor breitspurig neben aller Tragik. Schiller ist nur leider nicht alt genug geworden, um den Humor seines Lebens und Leidens auch groß hinüberzuheben in seine Kunst. Aber denk an seine Anfänge, an den Spiegelberg, an den Mohren im Fiesko, an den Hofmarschall Kalb! Und den lang ausgesetzten Versuch, Humor zu zeigen, hat er im Wallenstein wieder aufgenommen. Wäre Schiller um zwanzig Jahre älter geworden, er hätte sich als einen der größten Humoristen aller Zeiten erwiesen. Drum wünsch ich dir ein langes Leben, Richard! Dann wirst du einer der größten Komiker der Gegenwart werden!«

»So? Weißt du was ... steig mir auf den Buckel hinauf!« (So schreib' ich jetzt; doch er drückte sich im Ärger wesentlich anders aus.)

»Na also, schau, du bist ein Humorist! Mit einem einzigen Wort vermagst du dem ernstesten Gespräch eine heitere Wendung zu geben.«

Wir debattierten auch sonst sehr gerne, über wissenschaftliche Fragen, über Gott und Seele, über die letzten Rätsel des Lebens und der Welt.

[292] Und eine solche, aus dem Nichts geborene Debatte hätte uns zwei treu und herzlich Verbundenen beinah in Todfeinde verwandelt.

Wir wanderten miteinander zum Passionsspiel nach Oberammergau. Unser ganzer Vorrat an Eleganz befand sich in den Rucksäcken hinter unseren Schultern. Fein war's! Zwei junge, feste, frohe Menschen, in Freundschaft Herz an Herz geschmiedet, und so hineinzuwandern in die blauen und grünen Berge! Auf dem Hinweg, zwischen Murnau und Ammertal, überkletterten wir das Hörnle, weil es mein Wahlspruch war: der nächste Weg geht immer über die Berge, nicht um die Berge herum. Aber diesmal trog mich meine Devise. Statt um zwei Uhr nachmittags kamen wir abends um sieben Uhr in Oberammergau an. Wir gerieten in einen grauenvollen Platzregen, vor dem wir gerade noch rechtzeitig Schutz in einer Jägerhütte auf der Kuppe des Berges fanden. Und beim Abstieg verirrten wir uns trotz meiner touristischen Spürnase – das heißt, den nächsten Weg fand ich da wirklich; es war aber auch der dreckigste, ein Viehweg, auf dem wir manchmal bis über die Knie herauf in Morast versanken. Bei der Ankunft in Ammergau sahen wir so schauderhaft aus, daß wir in jedem Hotel, an [293] dessen Tor wir klopften, unerbittlich abgewiesen wurden. Schließlich, als die Nacht schon sinken wollte, fanden wir Unterkunft bei einem braven Mann, der im Sommer Maurer und im Winter Herrgottschnitzer war. Wir bekamen eine winzige Stube mit einem Lederkanapee und einem Bett. Eine Stunde brauchten wir, bis wir den gröbsten Bergschlamm von unseren Hosen und Joppen heruntergekratzt hatten. Dann mischten wir uns in das wunderliche Dorftreiben, bei dem man die Haare der in Kurzledernen umherwandelnden Apostel mit der Elle hätte messen können. Und wir beide dachten während des ganzen Abends heimlich immer dieses Eine: »Welcher von uns zwei Müden wird wohl das Bett bekommen?«

Als wir in der Mitternachtsstunde heimwanderten, sagte Richard: »Weißt du, wir sind doch gute Freunde, wir wollen uns doch wegen des lumpigen Bettes nicht zanken. Ich meine, wir lassen das Los entscheiden.«

»Gut! Zipfeln wir!« Ich machte flink an mein Taschentuch einen Knoten, hielt dem Freunde bei einer Laterne trübem Schein die zwei verhüllten Zipfel hin und dachte: »Ich krieg schon das Bett!«

Nein! Er gewann es. Und war darüber sehr guter Laune.

[294] Seufzend streckte ich mich in der Herrgottschnitzer-Herberge auf das knollenharte Lederkanapee. Und Richard in seinem herrlichen Bette sagte immer: »Aaah, wie schön!«

Der Mond schien ein bißchen ins Zimmer herein. Ich konnte nicht schlafen. Dieses verfluchte Kanapee!

Auch Richard drehte sich immer hin und her. Ich vermutete: vor Behagen. Dann fragte er: »Du? Hast du dich beim Hauswirt erkundigt, wo man da hin muß?«

»Nein! Da wirst du schon suchen müssen.« Bei dieser Antwort durchzuckte mich ein Hoffnungsschimmer.

Und richtig, nach einer Weile steht er auf brummt ein »Scheußlich!« in den Bart, den er als Schauspieler nicht hatte – und geht zur Türe.

Kaum ist er draußen, fahr' ich vom harten Kanapee auf und bin mit einem Sprung in dem herrlichen Bett da drüben. Ich jauchze in meiner Seele und strecke die müden Beine. Im gleichen Augenblick saust Richard wieder in die Stube herein, wirst sich längelang auf das steinerne Kanapee – sagt: »Dich kenn ich doch!« – und lacht dazu wie ein Seliger des Lebens.

Nach fünf Minuten begriff ich, warum er [295] lachte und aus welchen Erwägungen er mir die Eroberung des Bettes nicht übelnahm. Ich begann zu fluchen: »Himmel, Herrgott und Haberstroh! Wie viele haben denndich in dem gottverwünschten Bett gebissen?«

Er jubelte: »Hundert! Mindestens!«

Wer da jetzt an Flöhe denkt, muß als wohlwollender Optimist bezeichnet werden. Und seit damals ist mir, wenn Freunde teilen, die schlechtere Hälfte immer die liebere. Man kommt besser dabei weg. Und ich sagte mir damals: »Du hast also doch wieder Glück gehabt, denn du hast ganz richtig das Bessere herausgezipfelt.« Und wenn mir späterhin etwas schief ging, dachte ich zu meinem Troste gern an das Kanapee von Oberammergau. Es wurde zu einem Erziehungsmotor für meinen Optimismus, bei dem ich mich der Unzufriedenheit entwöhnte.

Der folgende Morgen – früh um vier Uhr, beim ersten Schimmer, waren wir alle beide schon auf den Sohlen – brachte einen schwülen, zwischen Regen, Sonne und Wolken wechselnden Tag. Das Passionsspiel wirkte mächtig auf uns, obwohl wir auf den ungedeckten Plätzen in der einen Viertelstunde nasse Köpfe, in der anderen glühende Schädel hatten. Damals vor dreißig Jahren war [296] diese schöne Sache von Ammergau viel naiver als heutzutage, hatte noch Linien und Farben von der barocken Inszenierung vergangener Zeiten. Die Kreuztragung Christi, das schlichte Bild dieser edlen, duldenden Würde, steht mir noch heute lebendig vor Augen. Und nach der Kreuzigungsszene, während des Würfelspiels der Landsknechte, rollte und dröhnte ein Gewitter mit flammenden Blitzen über die von grauer Trauer verhüllten Berge hin. Man wurde naß bis auf die Haut und regte sich nicht und hatte ein Gefühl von Gottes brennender Nähe. Der stärkste von allen Künstlern und Priestern heißt Natur.

Für die zweite Nacht fanden wir glückselige Unterkunst in einem bißfreien Hotel. Und Richard, in der Erinnerung an die vergangene Nachtmarter, erhob wider mich den literarischen Vorwurf: »Siehst du,ganz naturalistisch bist du in deinem Bauernstück doch nicht gewesen. Bei deinem Herrgottschnitzer gibt's keine Wanzen.«

Am nächsten Morgen, unter schöner Sonne, wanderten wir los: durch Graswang, wo der ›Herrgottschnitzer‹ spielt, vorüber an Linderhof, wo König Ludwig II. sein stilles, verschlossenes Lebensmärchen träumte, und durch den Ammerwald zum Plansee.

[297] Und in diesem Ammerwald entstand jene gefährliche Debatte. Ihr Bericht mag illustrieren, was zwei vernünftige Menschen fertig bringen, wenn die latent in ihnen steckende Torheit zu akutem Ausbruch kommt. Nicht nur zwei Menschen! Zwei Freunde! Die einander lieb haben!

Wir marschierten im Ammerwald, zwischen den Geierköpfen und dem Säuling, an einem Wildbach entlang. In diesem Bache schwamm ein handgroßes Stück Holz auf hurtig gaukelnden Wellen. Wir kamen bei diesem Anblick auf physikalische Gesetze zu sprechen.

Der eine von uns beiden behauptete: »Dieses Holz kommt schneller vorwärts als das Wasser; erstens schwimmt es so schnell wie das Wasser; zweitens wird es durch Wind und Wellendruck noch vorwärts gestoßen; Geschwindigkeit a + b = c, also größer als die Geschwindigkeit des Baches, schneller als das Wasser.«

Der andere behauptete: »Nein! Dieses Holz bleibt hinter dem Lauf des Wassers zurück. Erstens schwimmt es primär nur so schnell wie das Wasser. Zweitens wird es durch Reibung, durch Gegenstoß der Wellen und Luftwiderstand aufgehalten. Geschwindigkeit x – y = z, somit kleiner als die Geschwindigkeit des Baches, langsamer als das Wasser!« [298] Bei der stundenlangen Debatte über diese wissenschaftliche Streitfrage gerieten wir in solchen Eifer, in solche Hitze, in solchen Zorn, daß wir uns schließlich mit den unverzeihlichsten Worten schwer beleidigten. Bei meinem Temperamentskoller war ja so was immer möglich. Aber auch Richard, der Ruhige, der Vornehme, der liebenswürdig Konziliante, entbrannte zu solchem Jähzorn, daß er tobte wie ein Berserker. Seitdem ich an ihm dieses unmöglich Scheinende erlebte, besitze ich ein versöhnliches Verständnis für die wunderlichen Zornblasen, die bei Meinungskämpfen hochgelehrter Herren zuweilen aufzutauchen pflegen.

Wir beide hätten uns damals entweder lebensgefährlich an den Hälsen gepackt oder wären als erbitterte Todfeinde auseinander gegangen – wenn nicht der liebe, verständige Himmel wieder einmal ein Einsehen mit zwei hirnverbrannten Menschenkindern gehabt hätte. Während wir brüllten und einander unsere wissenschaftlichen Wutausbrüche an die Nase schrien, merkten wir nicht, daß, wie bei schauerlichen Szenen auf dem Theater, auch hier in der Wirklichkeit des Lebens ein fürchterliches Gewitter aufzog. Wir merkten nur jählings, daß uns der Himmel das kalte Wasser wie aus Fässern über die Ohren goß.

[299] Ein Wolkenbruch!

Binnen fünf Sekunden waren wir eingeweicht bis auf die Haut. Unsere Rucksäcke mit ihrem Inhalt waren wie vollgesogene Schwämme, zentnerschwer. Wie wir später konstatierten, schwammen sogar die Markstücke in unsern Geldbörsen.

Unser blutdürstiger Gelehrtenstreit war zu Ende. Plötzlich! Wir sahen einander unter triefenden Hüten an. Und lachten. Und waren versöhnt. Und lachend rannten wir durch diesen rauschenden Brunnen der Lüfte hinunter zum Plansee.

Im Hausflur des Gasthauses zur Forelle blieb ein Bach hinter uns. Wir bekamen ein Zimmer mit zwei Betten. Einer mußte dem andern die Wäsche vom Leibe herunterziehen – selber brachte man dieses Klebende nimmer los von der Haut. Dann saßen wir nackt in den Betten, auf türkische Manier, hatten ein Tischerl zwischen uns und spielten Pikett, bis die blaugesottenen Forellen kamen und bis unsere Kleider drunten über dem Herd wieder trocken wurden. Die Kellnerin, die uns bediente, lachte sich bucklig vor Vergnügen.

Und dann am Abend, in Reutte, sahen wir das wundervollste Alpenglühen, das ich jemals in den Bergen erlebte.

Der Abend war schon dunkel, der Himmel schwer[300] bewölkt. Nur gegen Westen brannte eine purpurne Luftscharte. Und plötzlich begann eine steile Wand wie Blut zu brennen, wie in Glut, die von innen heraus den Fels durchquoll. – Was die Reisenden in den Bergen als Alpenglühen zu bezeichnen pflegen, ist nur hübsche, farbige Abendbeleuchtung. Die kann man häufig sehen. Aber solch ein ganz Schönes und Tiefes ist, wie im Menschenleben, auch selten in der Natur. Immer kommt es nur nach schwerem Aufruhr. Kommt zwischen dem versunkenen Tag und der näherschleichenden Nacht. Es ist wie ein brennendes Lied der Verlassenheit, ist glühendes Erinnern an Schmerz und Schönheit, die verschwunden sind. – Alpenglühen des Lebens? Das ist niemals in jungen Herzen, nur tief in den Seelen von Gealterten, die noch nicht müde sind. –

Seit dreißig Jahren, so oft ich die zwei Silben Reutte höre oder schreibe, seh' ich dieses brennende Wunder der Natur, das ich damals an jenem dunklen Abend erlebte.

Am folgenden Tag, in Hohenschwangau – wir beide waren noch immer ein bißchen feucht – trafen wir Freunde in der ›Alpenrose‹, verhockten bei herrlicher Sonne den ganzen Nachmittag in der Wirtsstube und spielten Gottes Segen bei Cohn.

[301] Dieses gleiche, teufelshaarige Spiel hat einige Wochen später meinen Herrgottschnitzer aufgefressen bei Putz und Stingel.

Es wurden damals im Sommer 1880 im Münchner Hoftheater die von Possart mit künstlerischem Verständnis, mit diplomatischem Geschick und einem Riesenmaß von Arbeit inszenierten Mustergastspiele abgehalten. Was künstlerischen Rang und Namen auf der deutschen und österreichischen Bühne hatte, war als Gast geladen. Es kamen Friedmann, Krastel, Lewinsky, Robert, Sonnenthal, die Wessely, die Straßmann und die Wolter aus Wien, Barnay aus Hamburg, Dettmar und Haase, die Ellmenreich und Ulrich aus Dresden, Förster aus Leipzig, Wentzel aus Stuttgart, Lange aus Karlsruhe, Holthaus von Hannover, Berndal, Krause, Oberländer und die Frieb-Blumauer aus Berlin. Dazu die Sterne des Münchner Hoftheaters: Possart, Rüthling, Herz, Rhode, Häußer, Jenke, Marie Meyer, die Dahn-Hausmann und die Ramlo.

Man war in München fieberhaft gespannt auf dieses künstlerische Turnier der Auserlesenen. Es gab auch herrliche, ereignisvolle Abende mit rauschenden Beifallsstürmen. Aber es blieb doch fast hinter jeder Aufführung ein leises Unbehagen [302] zurück, eine ungestillte Sehnsucht nach künstlerischer Einheit. Die verschiedenen Stilarten der Schauspielerei strebten eher auseinander, statt zu einem Ganzen zusammenzufließen und sich einheitlich zu beseelen.

Nur die wundervoll ausgeglichene Darstellung des Clavigo mit Sonnenthal, Possart, Barnay und der Wessely war Schönheit aus einem Guß und stieg empor zu einer künstlerischen Höhe, auf der kein Wunsch ohne Erfüllung blieb. Noch heute, nach dreißig Jahren, wenn ich an diese Vorstellung denke, hab' ich das Gefühl, als stünde ein leuchtender Wundergarten der Kunst vor mir offen.

Die anderen, an Figuren reicheren Werke konnten trotz der großen Auswahl an Theaterberühmtheiten nicht so gleichwertig besetzt werden wie der Clavigo. Und da kam es dann immer so, daß der Stärkere den Schwächeren an die Kulisse drückte, um für sich allein als Sieger durch die Lampen zu gehen. Und der Dichter bekam dabei einen Faustschlag ins Genick, einen Stoß in die Herzgrube. Doch inmitten eines zerrissenen Ensembles sah man hinreißende Einzelleistungen. Possart als Oktavio, Fritz Krastel als Mar Piccolomini, die Ramlo als Franziska, Häußer als Illo, die Wolter [303] als Lady Macbeth, Sonnenthal als Hamlet, die Frieb-Blumauer als Daja und der schon kranke Rüthling als Wilhelm Tell schossen bei diesem Wettbewerb um den großen Preis der Schauspielkunst den goldenen Vogel ab. Einen Sensationserfolg hatte Friedmann, der als Vorläufer der naturalistischen Schauspielerei den Isolani im Dialekte seiner östlichen Heimat sprach.

Das Café Maximilian war zum Theatercafé ernannt. Hier fand man sie alle, die berühmten Mimen aus Osten, Norden und Westen. Es war eine große Ehre für einen kleinen Sterblichen, wenn er an dieser leuchtenden Tafel seinen Kapuziner schlürfen durfte. Hier wurde ich eines Nachmittags mit dem Dichter Martin Greif bekannt. Nun ist er einer der Seligen. Damals trug er wegen der Sommerhitze zwar keinen Hemdkragen, dafür aber einen dicken, blauwollenen Schlips um den Hals. Und ich erinnere mich, daß er zu mir gläubig Aufhorchendem sagte: »Als Dramatiker bin ich noch nicht voll gewürdigt. Aber als Lyriker stehe ich bereits auf ewigem Boden. Man wird nach meinem Tode von meinen Gedichten zurückgreifen auf meine Dramen.« Und eines Abends, als ihm ein etwas unglücklich aussehendes Bratenstück vorgesetzt wurde, sagte er mit milder Klage [304] zur Kellnerin: »Ist das ein Nachtmahl für einen Menschen, der den Hermelin um die Seele trägt?«

Mehrere Jahre später, als ich einen Sommer am Starnbergersee verbrachte und bei sengender Hundstagshitze nach München mußte, begegnete mir Martin Greif auf dem von Sonne wabernden Bahnhofplatz, mit einer kleinen Handtasche, und wieder um den Hals jenen dicken, blauen Schlips.

»Wohin denn, Herr Greif?«

»Nach Italien.«

»... Jetzt?«

»Ich habe eine Francesca da Rimini im dritten Akt. Und da möcht ich noch etwas italienischen Himmel hineinbringen.«

Er hatte bei seiner kindlichen Naivität mancherlei Wunderlichkeiten an sich, manche, über die man lächeln mußte, doch keine, die einem anderen Menschen weh getan. Erst in der Zeit seines schwer erträglichen Leidens wurde er gallig, mißtrauisch und ungerecht.

Damals, vor dreißig Jahren, im Café Maximilian, hielt er sich immer zu den Wienern, aus Dankbarkeit. Denn ein Wiener, Ludwig Speidel, hatte ihn der Welt nach dem Corfiz Ulfeldt als den neuen Schiller proklamiert. – Nun hat Martin Greif die Augen geschlossen, ohne daß die [305] Welt noch recht darüber ins Klare kam, ob er ein Großer oder ein Kleiner war. Muß das immer nach pedantischem Maßstab festgestellt werden? Gilt es als Verbrechen, Lerche zu sein, weil der Schwan den stärkeren Schrei besitzt? Genügt es nicht, von einem Klingenden zu wissen, daß er auch einer ist? Und ein Klingender ist Martin Greif gewesen, wenn er sich zuweilen auch gründlich versang – einer von jenen, die das tiefe, schöne Dürsten in sich tragen. Jetzt hat es ihm eine kühle Hand gestillt.

Von den Großen der Kunst, um die in jenen Sommertagen der Lorbeer des Lebens duftete, sind nur ein paar Eherne noch übrig. Viele, viele sind schon hinuntergesunken ins ewige Schweigen. Fast alle. Das Gedenken an jene rauschenden Abende wird zum Bild eines von Zypressen umwogten Friedhofes, aus dessen Grüften die Erinnerung leuchtende Geistertänze heraufbeschwören kann.

Und an die großen Bilder von damals hab' ich als kleines Possenspiel mein eigenes Erleben anzuhängen. Zwischen ihm und den Mustergastspielen war ein wunderlicher Zusammenhang. Unter den auswärtigen Mimen befand sich einer, mit dem ich befreundet war – einer, der neben den Musen [306] auch die mitternächtige Fortuna als Göttin gelten ließ. Gleich am ersten Tag erkundigte er sich bei mir, ob in München nicht irgendwo Gelegenheit wäre zu einem niedlichen Jeu? Ich wußte Bescheid. Das Wiener Restaurant in der Dienerstraße war Schauspielerkneipe und wurde zu einer Spielhölle der Mimen. Hier wurde durch Gottes Segen bei Cohn so manche künstlerische Existenz zerbrochen. Und Glückspilze, die beim Theater schlechte Gagen hatten, verdienten sich da die Mittel zu behaglicherem Leben. Ich selber hatte nie eine besondere Passion für das Hasardspiel, gustierte aber doch zuweilen um der Kameradschaft willen ein bißchen mit und kam mit leidlich blauen Augen davon.

An diesen Spieltisch führte ich den glücksüchtigen Mimen. Die Liebe schien ihm gewogener zu sein. Denn beim Spiel ließ er die Haare mitsamt den Wurzeln. Er wurde so fürchterlich gerupft, daß er sich nach Schluß der Mustergastspiele das Geld für die Heimreise borgen mußte. Ich glaube, die einzige Münze, die er vom Münchener Theatertournier nach Hause brachte, war die goldene Ludwigsmedaille für Kunst und Wissenschaft.

Und mir – zur gerechten Strafe dafür, daß [307] ich den Elefanten seines Mißgeschickes gemacht hatte, mir er ging es noch viel übler. Ich hatte mir aus gastlicher Gefälligkeit den Besuch des gefährlichen Tisches angewöhnt. Auch sonst lebte ich damals ein bißchen sorgenferne drauf los, brauchte viel, verborgte noch mehr, was ich niemals wiedersah – und so bestand eines Abends der Rest meines Barvermögens aus vierhundert Mark. An diesem Abend kam es an dem heimtückischen Tisch zu einer Bulle von elfhundert Mark. Jeder Spieler dachte vermutlich im stillen: »Das wäre jetzt was für mich!« Ich selber dachte naturgemäß nicht anders, nahm mir aber vor, nur auf ein ganz verläßliches Blatt zu setzen. Und ich bekam das verläßlichste, das allerbeste des Spiels: drei Säue – der Münchener sagt nicht: Aß. Ein Glücksfall ohnegleichen! Grün-Aß, Eichel-Aß, Schellen-Aß! Etwas Heißes stieg mir in die Ohren. »Kinder, da kann ich doch nicht anders!« Mit solch einem phänomenalen Blatt mußte man die Bank halten. Sonst hätte man das Glück beleidigt. »Also! Rrrraus!« Große Spannung der Korona Der Bankier schlug um. Es kam der Herz-Siebener, das schlechteste Blatt der vierten Farbe. »Futsch!« Am Tisch ein kurzes Schweigen. Dann allgemeine Empörung [308] gegen diese boshafte Niedertracht der rollenden Göttin. Nur der Bankier schmunzelte.

»Das ist aber doch ein Hundepech!« Ich lachte, legte meine vierhundert Mark auf den Tisch und schrieb über siebenhundert Mark einen Bon. Der mußte bis zum andern Abend bezahlt werden.

Ich schlief in dieser Nacht so gut und fest wie immer. Die Bagatelle brauchte ich mir doch nur am nächsten Morgen bei meinem Theateragenten zu holen.

Damals hatte ich, seit dem Erfolg des Herrgottschnitzers in Berlin, eine hübsche Junggesellenwohnung: großes Arbeitszimmer mit kleiner Schlafstube, in der unter karmoisinroter Lampe ein persischer Teppich über einer Roßhaarmatratze lag. So was galt Anno 1880 für chic und mondain.

Am Morgen ließ ich mir einen Dienstmann an mein Bett holen und schickte ihn zu meinem Agenten. Ich bekam die Antwort: »Die letzte Abrechnung ist Ihnen zugegangen, neues Inkasso ist noch nicht eingelaufen.«

Papa war gerade verreist. Ich lief zur Mutter: »Kannst du mir's geben?«

Mama bekam, was sie einen ›schönen Schreck‹ zu nennen pflegte. »Aber, Bub? Eine Forsträtin [309] soll siebehundert überflüssige Mark im Schächtele habe? Bist du denn verrückt?« Dann kam die ernste Predigt, die ich verdient hatte – mit dem beherzigenswerten Schlußsatze: »Hin ist hin, Anna Maria Fiedlerin! Aber um Gotteswille, merk dir's für ein andersmal!«

Also wieder zum Agenten! Um Vorschuß! Doch der Agent hatte eine geschäftliche Norm: er gab keine Vorschüsse. »Prinzipiell nicht!« Dagegen hatte er die merkantile Gewohnheit, Stücke notleidender Autoren zu kaufen. Diese Gewohnheit mißfiel mir. Ich schüttelte den Kopf und lief wieder heim zur Mutter.

Sie sagte: »Bub, so warte doch die paar Tag, bis der Papa heimkommt. Der kann dir's vielleicht geben.«

»Bis zum Abend muß ich bezahlen.«

»Aber du kannst doch dem Spielratzeler sagen, daß er bis in drei Tagen sein Geld bekommt. Das muß ihm doch um's Himmelswille recht sein!«

Mit dieser vernünftigen Logik hielt Mama die Sache für geordnet.

Aber die Kultur besitzt ein vieldeutiges Wort. Es lautet: »Ehr im Leibe.« Hinter diesem Worte verbirgt sich ein großes Mißverständnis des Lebens. Es ist eines von jenen Worten, die man nur [310] selten so nimmt, wie man sie nehmen sollte. Es drückt wie glühendes Eisen, wenn es locker wie eine Feder liegen dürfte – und man nimmt es als leichten Hauch, wenn es pressen und messen sollte wie schweres Blei.

Ich war der Meinung, daß ich jenen Tag nicht überleben könnte, wenn der Bon bis nachts um zwölf Uhr nicht berappt war.

Am Nachmittag verkaufte ich den Herrgottschnitzer um eintausendvierhundert Silberlinge. Höher konnte der Theateragent den Wert meines Anteils an dem erfolgreichen Stück mit dem besten Willen nicht taxieren. Sein Irrtum machte ihn zum vermögenden Manne.

Mein Irrtum machte mich zu einem jungen Hund mit geschorenem Fell.

Und wie es mir ergangen ist, so erging und ergeht es vielen auf den ersten Stufen der Kunst. Ist diese Möglichkeit eine zulässige? Eine moralische?

Es stimmt: ich schloß diesen Handel nach freiem Willen und freier Überlegung. Gegen den Käufer, der dabei zu Vorteil kam, ist kein Vorwurf zu erheben. Es hat mir auch nicht viel geschadet. Ich habe diesen Narrenstreich meiner Jugend durch Arbeit wieder ausgeglichen.

[311] Aber auf dem Boden schöpferischer Kunst haben viele, die höher zu bewerten sind als ich, durch eine solche Torheit der jungen Jahre ihr ganzes Leben schwer und rauh und mühsam gemacht, wenn nicht völlig zerbrochen.

Freiheit des Verfügungsrechtes? Ein schönes Wort, fast so schön wie ›freier Wille‹. Aber darf ein Hausbesitzer mit seinem Hause machen, was er mag? Da redet die Stadt ihm drein, mit Recht! Darf ein Bauer mit seinem Walde treiben, was er will? Da redet der Staat ihm drein, mit Recht! Und nur ein Künstler soll die praktischen Werte dessen, was er geistig schuf aus Unüberlegtheit oder Leichtsinn verschwenden und verschleudern, zerschlagen und zerstören dürfen? Ohne daß der Staat ein Recht hätte, da mitzureden?

Ist es nicht denkbar: daß Gesetze geschaffen werden, die den Wert des geistigen Eigentums auch gegen seinen Schöpfer schützen? Gesetze, die solche Käufe unmöglich machen oder sie doch so erschweren, daß der Zwischenhandel in der Kunst lieber auf sie verzichtet, statt in riskante Lage zu geraten?

Es würden durch solchen Schutz die jungen Schriftsteller, Künstler und Musiker wohl manchmal verwünschten Ärger zu erleben bekommen.

[312] Aber das schadet ihnen nichts. Ich glaube sogar, daß es ihnen nützlich wäre. Ein paar verdrießliche Kampfmonate würden da belohnt werden durch sorgenlose Jahrzehnte, in denen es einem jungen Talente möglich würde, seiner blühenden Reise unbehindert entgegenzuschreiten.

Und sollte kein Gesetz da helfen können, so müssen die Berufsgesellschaften den Wandel zum Vernünftigen bringen.

Ich habe damals an jenem Abend meinen Bon berappt. Aber niemals wieder hab ich Hasard gespielt. Im klirrenden Saal von Monte Carlo kann ich stundenlang den Irrsinn und die dunstende Angst der Spielratten betrachten, ohne daß ich in die Versuchung gerate, fünf Franken zu setzen.

Als nach erledigter Katastrophe der Vater heimkam, gab es unbehagliche Tage im Elternhaus. Niemand machte mir Vorwürfe. Papa sagte nur wieder einmal nach langer Pause: »Du Kamel!« Aber es blieb ihm eine Furche auf der Stirn. Und Mama, wenn ich heimkam, wurde immer auffallend schwatzlustig und spielte alle Register ihrer sprichwörtlichen Späße. Ich fühlte, daß die Eltern mir die Reue über meinen Torenstreich erleichtern wollten. Und diese Reue war [313] doch gar keine sonderlich brennende Sache. Ich erledigte sie mit dem Wort der Mutter: »Hin ist hin, Anna Maria Fiedlerin!« Aber die schonende Güte der Eltern bedrückte mich. Schließlich riß ich aus und rannte in die Berge, nach Fall an der Isar. Und hier kam ich gleich wieder zu einer prachtvollen Sache, die mich völlig tröstete. Ich schoß meinen ersten Hirsch, einen Zwölfender. Wie das zuging, hab' ich in der Geschichte vom Egidius Trumpf erzählt.

Sonnenschöne Tage beim Rauschen der Bergwälder. Dazu die gemütlichen Abende zwischen den lustigen Jagdgehilfen, bei Zither und alten Liedern, bei wunderlichen Geschichten und derben Jägerspäßen. Und allerlei seltsames Erleben zwischen Sommertal und Höhenschnee. Der kurzlederne genius loci faßte mich fest beim blonden Schopf. Es formten sich die Anfänge zum ›Jäger von Fall‹. Und ein Abend nach lauem Regen bescherte mir ein bläulich glimmendes Wunder im Wald. Als ich in der Dämmerung von der Rehpirsche heimkehrte, begannen Tausende und Tausende von Glühwürmchen zu schwärmen. Der Moosgrund schien von unzählbaren Funken zu brennen, alle Stämme und Zweige waren behangen mit diesem mystischen Licht, in Kurven und [314] Schlingen schwirrten die seinen Lichterchen durch die dunkelnde Luft – und schließlich war ich selber wie eine wandelnde Fackel, denn hundertfältig klammerte sich dieses zarte Glimmen an meine Hände und Arme, an Schultern und Brust, an meine Beine, bis hinunter zu den Schuhen. Ich wußte: dieses seine, rätselhafte Glühen ist Sehnsucht und Lockung der Liebe. Seltsame Bilder des Lebens und der Freude wogten in mir, und ein unbeschreiblicher Rausch der Sinne durchrieselte mich. Jeder Atemzug war mir eine Süßigkeit.

Dabei ein brennendes Sehnen, ein Dürsten nach Erkenntnis. Die Liebe der Hero und des Leander? Und das träumende, fliegende, suchende Feuer dieser Winzigkeiten? War da ein großer Unterschied? Und Goethe in seiner taumelnden Qual um Friederike von Sesenheim? Und solch ein verflogenes Fünklein auf meinem Joppenknopf? Waren sie alle beide nur Spielzeug, Liebling oder Stiefkind der zwingenden Natur? Götter und Tierchen des Augenblicks?

Etwa vierzig von diesen zärtlichen Lichterchen brachte ich heim in meine dunkle Stube. Ich klaubte sie wie leuchtende Beeren von meinem Körper ab, sammelte sie alle in meinen Hut, öffnete die beiden Fenster – und während ich, [315] bei wachen Augen träumend, in den kühlen Kissen lag, schwül atmend, schwebten sie in glimmendem Reigen aus dem Hut hervor, gaukelten leuchtend durch den Raum der Stube und taumelten lautlos durch die offenen Fenster hinaus in die rauschende Hochlandsnacht.

Gegen Morgen kam ein schweres Gewitter. Zwei Tage goß es in Strömen. Erst der dritte Abend machte sich wieder schön. Bei Anbruch der Dämmerung lief ich sehnsüchtig in den Wald hinaus. Nur wenige Funken schimmerten im Moose, nur wenige Lichterchen flogen im Dunkel. Es war wieder so wie sonst. Die kleine brennende Liebe war millionenfach gestorben in zwei nassen Tagen. Hat solches Sterben auch eine Klage? Wir Menschen hören sie nicht. Weil wir schlechte Ohren haben? Nein! Wir würden solche Klage auch nicht vernehmen, wenn wir die scharfen Ohren der Fledermäuse hätten, die den Flug eines Dämmerungssalters so deutlich zu hören scheinen, wie wir Menschen von heute das Propellersausen eines lenkbaren Luftschiffes unterscheiden.

Die Tiere leiden und sterben schweigend. Das Klagen und Jammern ist eine Erfindung der Menschen. Tiere können das Stöhnen lernen, wenn wir Menschen sie quälen. Doch stumm ertragen [316] sie, was die Natur ihnen auferlegt an irdischen Unerläßlichkeiten.

An jenem märchenhaft glimmenden Abend im Faller Bergwald fing es für mich an, daß ich mich eins zu fühlen begann mit allem großen und kleinen Leben der Natur.

Durch Tage und Wochen blieb ich ein Verträumter, der wenig reden wollte, nur immer schauen und lächeln mußte.

Bei der Heimkehr nach München, im Herbste, fand ich einen Kummer und eine Freude. Einer ging, den ich liebte, und einer kam, den ich lieben lernte. Freund Richard zog von München fort, aus Wiener Stadttheater. Und Josef Kainz begann in München als Mortimer. Mich faßte er gleich an Herz und Nerven. Beim Publikum war der Eindruck ein geteilter; man bezeichnete als Manier, was der ringende Beginn seines großen Könnens war. Mit Romeo bezwang er viele Widerstrebende; die anderen meinten, daß man als Romeo eine griechische Nase und schön gedrechselte Beine haben müßte. Mit dem Gratiano erfocht er einen lachenden Sieg. Und dann brachte der bis zur Brutalität realistische Valentin im Faust wieder eine mit Ärger gemischte Verblüffung, die sich erneuerte, als Kainz in der Rolle [317] des Melchthal ein junger Bauer mit einer Flamme in der Seele, aber mit genagelten Schuhen an den Füßen sein wollte. Das ging doch nicht! Die Kurzlederne gehörte in die Bauernkomödie, nicht in die Klassizität des Wilhelm Tell. Das Publikum blieb widerhaarig, und auch gewiegte Theaternasen wurden irr in der Witterung für diese aufstrebende junge Kraft, die nach Wahrheit im Schönen rang. Ein paar falsche Besetzungen kamen dazu, man drängte ihm Rollen auf, die seiner Art widersprachen. In einem modernen Gesellschaftsstücke mußte er eine Rolle des erkrankten Rüthling übernehmen – der schwarze Gehrock saß ihm wirklich nicht gut – und da wurde er angeblasen wie ein lächerlicher Nichtskönner. Tags darauf kam ich zu ihm. Seine Augen brannten: »Na? Gestern? Was?« Ich glaubte ihn trösten zu müssen: »Da können Sie doch lachen drüber! Ein paar Jahre, und Sie sind der größte Schauspieler Deutschlands!« Er schob das dünne Haar aus der Stirn und sagte zähneknirschend: »Das weiß ich. Aber warten müssen, bis es auch die anderen merken, das ist hart. Und langweilig!«

Einer von den ersten, die es merkten, war König Ludwig.

[318] Im Zusammenhang mit diesem von Trauer und Mythe umwobenen Namen taucht aus meiner Erinnerung das Bild eines auf rauschender Begeisterung schwimmenden Abends herauf, mit dem die Münchener das Wigelaweia-Geläster von ehemals ausglichen. Im Hoftheater wurde bei festlich beleuchtetem Hause der Tristan gegeben. Und in einer Loge des ersten Ranges wohnte Richard Wagner der Aufführung bei, die eine Stunde länger dauerte als sonst. Diese Überstunde war Jubel und Jauchzen von tausend Verzückten. So hab' ich nie ein Volk seinen sieggekrönten Fürsten feiern sehen, wie die Münchner an diesem Abend den Meister mit der dunklen Sammetmütze umdonnerten. Aus den Rängen schienen die Menschen mit vorgebeugten Leibern sich herunterwerfen zu wollen, und das Parkett war anzusehen wie eine schwarz und farbig brandende See, über deren Gebrüll zu Hunderten die kleinen weißen Segel flatterten: die den Meister grüßenden Taschentücher. Und wie lange war es her, daß viele, viele von diesen Begeisterten noch die höchste Blüte des menschlichen Geistes in jenem Spottvers eines Münchener Witzblattes erkannten:


»Wigala wogala weia,

Bleib i auf der Schaukel, so muaß i speia!

Wigala wogala wack,

Fall i abi, so brich i 's Gnack!«


[319] Was ist Hohn auf die neuen Klänge eines ringenden Kunstwerkes? Was ist Jubel über erkannten Wert? Auch Tod und Leben unterscheiden sich nicht viel deutlicher voneinander. Alles ist Mutter und Kind – eines gebiert und begräbt das andere. Um mit Menschenaugen richtig sehen zu lernen, müßte das Märchen von Methusalems Alter Wahrheit werden für jeden Atmenden.

[320]
7.
VII.

Aus dem Spätherbste 1880 erinnere ich mich einer wühlenden Erregung, die mich erfüllte, als ich im Kunstverein die ersten Radierungen von Max Klinger sah – und eines schmerzenden Staunens, das mir das Gastspiel der greisen, schon siebzigjährigen Adelaide Ristori brachte. Sie spielte grauenhafte Stücke: eine fürchterlich zugerichtete Maria Stuart, eine zu rührseligen Bildern zerhackte Marie Antoinette und eineElisabetta regina d'Inghilterra, in der die gekrönte Meisterin der Liebe und des Hasses für den krassesten Vorstadtgeschmack frikassiert war. Und inmitten dieses theatralischen Kehrichts stand die Ristori als greise Priesterin einer versinkenden Kunst, als lächelndes Kind und unsterbliches Weib, als klingende Sphinx, als ein Schauer, den man wie schöne Zärtlichkeit empfand.

[321] Und dann, im Winter, unter dem Regiment der Narrenkappe, am 19. Februar, verwandelte sich eine Stunde fröhlichen Lebens zu einem grauenhaften Trauerspiel der Jugend. In Kils Kolosseum hielten die Kunstakademiker ihr Faschingsfest ab, das eine heitere Reise um die Welt illustrierte. Alle wilden Völker waren da zu fidelen Sitten dressiert. Rings um den großen Saal, in dem sich viertausend vergnügte Men schen durch eine einzige Türe versammelt hatten, wimmelte es von lustig bevölkerten Wigwams, Kralen, Pfahlhäusern und Laubhütten. Richt weit von dieser einzigen Tür – im Säulengang, der den Saal umzog – hatte die Bildhauerschule des Professors Max Wiedemann eine Eskimotruppe installiert, unter den niederen Dächern zweier Schneehöhlen, in denen Hofbräu als Tran verschluckt und Heringe auf rußendem Ölflämmchen gebraten wurden. Es sah sehr malerisch aus: wie diese heiteren Zottelmännchen sich im rotbraunen Zwielicht drängten, Gesicht und Hände glänzend von Fett, in dicken, täuschend aus Werg und Watte nachgemachten Eisbärengewändern, mit ›wasserdichten‹ Schellackringen um Hals, Handgelenke und Fußknöchel.

Gelächter und Stimmengewirr. Den überfüllten Saal durchrauscht die Fatinitzaquadrille, [322] Champagnerpfropfen knallen wie die Gewehrschüsse eines Vorpostengefechtes, der Frohsinn wird turbulente Mitternachtsstimmung, wird toller Rausch des ausgelassenen Übermutes, und im Zuge der heißgewordenen Luft bewegen sich diese schreienden Farben an den Wänden: die komischen Schildereien, die Wimpel und Fähnchen, die Festons und Girlanden, der künstliche Rosenfrühling und dieser verschwenderisch angebrachte Papierschmuck.

Aus der kleineren Eskimohütte prasselt eine fidele Lachsalve heraus. Was war denn los? Ach, nur so eine kleine Dummheit, die ein bisserl gefährlich hätt' ausfallen können! Auf der Heringstonne, die als Tischchen diente, ist eine Talgkerze umgefallen, und das purzelnde Flämmchen streift die Ärmelzotten eines Eskimo. Ein jähes Aufleuchten. Doch zwei junge, keck zugreifende Hände ersticken flink den aufzüngelnden Schein. Und nun lacht man über den kleinen Schreck. Die Talgkerze wird wieder angezündet, mit aller nötigen Vorsicht natürlich. Aber einer unter diesen weißgrauen Zottelbären – ein junger Berliner – will die heitere Stimmung nicht mehr finden. »Nee« sagt er, »hier is es nich jemietlich, ick jehe!« Er tritt aus her Eskimohütte. Hinter ihm ein gellender Schrei, ein grelles Auflodern. Brüllend rennt [323] eine schlanke, drei Meter hohe Flammensäule aus der Hütte heraus. Der junge Berliner wird ohnmächtig vor Schreck und kollert lautlos unter eine Bank. Ein Dutzend Zottelmänner springen aus den Hütten heraus, wollen helfen, schütten Bier und Champagner in diese schlanke, sich drehende Feuersäule. Viele, die das sehen, halten es für einen verwegenen Künstlerjux. Ein Kluger schreit entrüstet: »Was sind denn das für dumme Witze?« Da lodert eine zweite Flammensäule gegen die Decke des Säulenganges hinauf, eine dritte, vierte, fünfte. Drei Zottelmänner, die Feuer gefangen, wälzen sich auf dem Boden und ersticken die Flammen. Neun junge Menschen brennen lichterloh – und wie sie schreien in ihrem Schmerz, das hört sich an wie tolles Gelächter. Ein Märchen der Geschichte, die Mythe von den brennenden Fackeln des Nero, ist grauenvolle Wahrheit geworden. Und Tausende von den fröhlichen Menschen im überfüllten Saale wissen, sehen und hören nichts von diesem herzzerdrückenden Schauspiel. Das Schmerzgelächter erstickt unter dem Lärm der tausendstimmigen Heiterkeit, im Rauschen der Musik. Zwischen diesem Lichtgewoge, Farbengewirr und Laternengeflacker fällt der Schein der schlanken Feuerspindeln, die sich in der Ecke [324] des Säulenganges zusammendrängen, schon über zwanzig Schritte hinaus nicht mehr auf Werg und Watte brennen schnell – das Geloder ist schon wieder erloschen, noch ehe die Zunächststehenden, die das Entsetzen wortlos machte, zu dieser einzigen Türe flüchten können. Kreischende Stimmen beteuern bei der Türe: »Nichts, nichts, es ist nichts geschehen, es ist alles schon vorbei, nur Ruhe, Ruhe, Ruhe!« Bei der Türe, wo sich die Menschen zu stauen drohen, schreit das einer dem andern zu, und jeder glaubt es. Das Lachen und der Lärm im Saale verliert keinen heiteren Atemzug, die Musik mit Geigen, Pauken und Tschinellen wirbelt weiter, und das bunte Fest bleibt jubelnde Freude ohne Störung. Feuerwehrmänner und Sanitätsgehilfen haben wollene Decken, Türvorhänge und Tischtücher um diese schwarzen, mageren Gestalten gewickelt, die auf dem Boden liegen oder noch stehen, gehen, taumeln und nur noch eine schwer zu enträtselnde Ähnlichkeit mit jungen Menschen besitzen. Man trägt die leise Wimmernden und die völlig Stummgewordenen aus dem Saal, durch diese einzige Türe hinaus. Jener junge Berliner erwacht aus seiner Ohnmacht; ihm ist nichts geschehen, er ist gerettet; zitternd stiert er in das Dunkel der [325] zwei leergewordenen Eskimohütten. Und Vierzig, Fünfzig, Hundert verlassen das heitere Fest – wer zuerst diese lodernden Flammensäulen und dann diese schwarzen Pakete sah, redet kein Wort mehr. Das Entsetzen hat die Kehle der Wissenden gewürgt – sie gehen bleich und schweigend davon, mit dem Gedanken: Was ich weiß, das müssen doch auch die anderen wissen!

Jedem, der durch diese einzige Türe hinausgegangen, wird die Rückkehr in den Saal verwehrt, um eine Panik zu verhindern, um ein noch größeres Unglück zu verhüten.

Im Korridor und in der Garderobe liegen die Verkohlten und noch Lebenden auf Bänken und Tischen. Junge Ärzte suchen Hilfe zu bringen. Ein grauenvolles Bild! Wer es im Vorübergehen sehen muß, wendet sich mit geschlossenen Augen ab.

Von den Zwölfen, die man nach der Klinik brachte, starben neun noch in der Nacht und während der folgenden Tage. Nur drei kamen mit dem Leben davon, um Entstellte oder Krüppel zu bleiben.

Das heitere Fest der Ahnungslosen, die im Saal geblieben, dauerte bis in die fünfte Morgenstunde.

[326] Während des Vormittags durchsickerte das Gerücht von diesem Schrecklichen die Stadt. Und am Abend lasen es die Münchener in der Zeitung: daß blühende Jugend, in der reisenden Kraft des Lebens, mit Talent beglückt, mitten in Lust und Freude verglühen und verkohlen mußte.

Einer von diesen schwarzen Toten hieß Otto Emmerling, war ein reich Begabter und hatte kurz vorher bei einem Wettbewerb der Akademiker den ersten Preis und ein Reisestipendium für Italien bekommen. Nur dieses Fest seiner Freunde wollte er noch mitmachen, dann in das gelobte Künstlerparadies unter dem ewigblauen Himmel wandern.

Die Trauer lag auf der erschrockenen Stadt wie ein drückender Alp. Doch bei allem Schreck empfand man ein tröstendes Aufatmen. Glückliche Zufälle, aus wirbelndem Leichtsinn und sprachlosem Entsetzen, aber auch aus Barmherzigkeit des Lebens geboren, hatten ein noch größeres Unglück verhütet. Ein Unglück, dessen Grauen sich nicht ausdenken ließ! Wäre in dem überfüllten Saal eine Panik entstanden, oder hätte das Feuer der lebenden Fackeln die Überfülle dieses papierenen Schmuckes erfaßt, um die einzige Türe mit Flammen zu sperren, so hätte man die Opfer an Zerdrückten [327] und Erstickten, an Verbrannten und Verkohlten nach Hunderten, vielleicht nach dem Tausend zählen müssen.

Durch viele Wochen brachte ich den Schauder dieses Bildes nicht mehr los. Ich redete mir immer vor: »Von zwei Übeln ist doch das kleinere geschehen! Ist das nicht ein Beweis für das Erbarmen und die Verläßlichkeit des Lebens? Und was da geschehen ist – nun liegt es hinter schweren, unbeweglichen Schleiern. Solch ein Furchtbares erlebt der gleiche Mensch nicht zweimal. Freilich, ein Neues war auch das nicht! Ben Akibas Weisheit ist nicht zu bestreiten. Alles kommt wieder. Aber seit dem Feuerdrama der ›Wilden Männer‹ am Hofe Karls des Wahnsinnigen mußte ein halbes Jahrtausend vergehen, bevor solch ein Entsetzliches in München sich wiederholen konnte. Sei ruhig! Solch ein Schreckliches wirst du nicht mehr erleben müssen!«

Das psychische Grauen, das sich in mir nicht beschwichtigen wollte, verursachte eine merkwürdige Erscheinung an meinem Körper. Ich bekam auf beiden Wangen und am Halse viele kleine Blasen – ähnlich den Bläschen, die man an den Fingern bekommt, wenn man sich mit dem von einem Streichholz abspritzenden Phosphor [328] verbrannte. Die Bläschen sprangen auf und wurden kleine Wunden, die nicht heilen wollten. Unser Hausarzt erklärte die Sache als Haarwurzelentzündung und verordnete mir eine Salbe. Aber die Geschichte wurde immer schlimmer. Ich wanderte von Arzt zu Arzt, keiner konnte mir helfen, jeder sagte was anderes.

Damals verkehrte ich am Biertisch mit einem jungen Mediziner, der ein begabter Mensch, aber ein wunderlicher Schwadroneur war. Er äußerte oft mit dem Anschein von Wissenschaftlichkeit so verrückte Dinge, daß man sich krumm darüber lachte. Und eines Abends sagte er zu mir: »Jetzt weiß ich, was Ihnen fehlt. Sie sind gar nicht krank. Was Sie haben, ist nur eine physische Reflexerscheinung Ihrer psychischen Sensibilität. Das ist so etwas Ähnliches wie bei den Stigmatisierten. Körper und Seele sind docheine Sache. Seelische Freuden haben Heilwirkung für körperliche Leiden. Psychische Qualen und Defekte verwandeln sich in körperliche Unbehaglichkeiten und umgekehrt. Ich bin überzeugt, daß jeder Geizhals an chronischer Vorstopfung leidet. Wer zur Verschwendung neigt, muß von fliegenden Diarrhöen geplagt werden.«

Ich lachte. Denn bei mir stimmte das ein bißchen.

[329] »Ihr Zustand,« sprach er weiter, »ist mir wieder ein Beweis für meine Anschauung. Seit Wochen reden Sie von nichts anderem, als von diesen verbrannten jungen Künstlern. Das grauenvolle Schicksal dieser armen Teufel peinigt Sie in tiefster Seele, so schwer, daß Sie jetzt selber Brandwunden im Gesicht haben.«

Ich hielt natürlich diese paradoxe Diagnose für einen schlechten Witz. Und fragte lachend: »Was müßte ich dann nach Ihrer Meinung tun, um geheilt zu werden?«

»Nicht mehr an diese verbrannten jungen Menschen denken. Dann wird es aufhören. Oder ...«

»Was?«

»Sie müßten sich selber eine schwere Brandwunde beibringen. Das würde dann auch helfen. Durch Ablenkung.«

»Ich danke!«

Der Zustand meines Gesichtes wurde von Tag zu Tag schrecklicher. Schließlich konnte ich nicht mehr ausgehen, mich nicht mehr vor Menschen blicken lassen. Eitel war ich nie. Aber man will doch appetitlich und menschenwürdig aussehen. Ich wurde rasend vor Wut. Und schließlich nahm ich verzweifelt meine Zuflucht zu einem Gewaltstreich. An die sinnlose Diagnose jenes jungen [330] Äskulaps hinter dem Biertisch dachte ich nimmer; ich hoffte nur, daß eine gründliche Desinfektion meines wunden Gesichtes sich als nützliche Sache erweisen müßte. Ging also in die Apotheke, kaufte mir einen Liter rektifizierten Alkohol, goß ihn daheim in die Waschschüssel, kratzte alle Wunden auf, daß sie bluteten, und wusch mir das rote Gesicht mit diesem reinen Spiritus. Die Wirkung war fürchterlich. Durch fünf Minuten glaubte ich im siedenden Pech der Hölle zu sitzen. Ich wurde halb ohnmächtig und lag dann wimmernd auf meinem Bett, bis ich einschlief Am Morgen, als ich aufwachte, roch es in meinem Schlafzimmer wie in einem anatomischen Kabinett. Ich hatte gleich die Vorstellung von vielen Spiritusgläsern mit kleinen, komischen Figürchen. Und als ich mein Gesicht betastete, war da eine schöne glatte Sache. Ich empfand keine Spur von Schmerz, fühlte nur am Hals und im Gesicht ein leises Spannen, sprang aus dem Bett, guckte neugierig in den Spiegel – und lachte vergnügt. Alles, was Tags vorher noch Wunde gewesen, war mit einem glatten, seinen, rosenfarbenen Häutchen überzogen. Eine Woche später war ich vollständig geheilt und hatte an Hals und Wangen eine neue tadellose Haut ohne Narbe.

[331] Trotz des mirakulösen Erfolges möchte ich diese Spirituskur keinem zweiten Menschen empfehlen.

Der Wunsch, mich körperlich wieder frisch zu machen, trieb mich in die verschneiten Berge. Es fehlte nicht viel, und ich wäre von dieser Erholungstour nimmer heimgekommen. Bei Partenkirchen war's. Kein Führer hatte mich begleiten wollen, weil, wie sie sagten, der Schnee ›so lahnig‹ wäre. Ein junger Bursch, der sein Leben um zehn Mark lachend feil hielt, war schließlich mitgegangen. Auf halbem Wege wurde er ernst und verbot mir das Jodeln.

Mit den Schneereifen war untertags nimmer viel zu machen, wir mußten sie auf den Buckel nehmen. Der Schnee, der am kalten Morgen leidlich getragen hatte, wurde in der milden Sonne klebrig.

Als wir einen hohen steilen Hang nicht weit unter dem von Schneewächten überwellten Grate traversierten, kam plötzlich die ganze weiße Gegend rings um uns herum ins Rutschen. Ich sagte: »Herrgottsakra!« Und der junge Führer kreischte: »Aufhupfa! Und schwimma!«

Ich hupfte auf. Und schwamm. Und bevor ich noch ein Dutzend Schwimmbewegungen gemacht [332] hatte, waren wir schon ein paar hundert Meter unter dem Steige. Immer flinker ging's. Zwei mächtige Schneewogen purzelten über uns weg. Dann waren wir drunten, ganz drunten, staken zu oberst als Weinbeeren auf einem mächtigen Schneepudding, bis unter die Arme eingepökelt in diese weißgraue Masse, wir beide etwa zwanzig Meter voneinander entfernt. Hut, Bergstock und Schneereifen, alles beim Teufel! Wie das zugegangen war, das weiß ich nicht. Es war kein anderer Gedanke in mir gewesen, als nur der eine: »Schwimmen, schwimmen, schwimmen, damit dich der Schnee nicht überwirft!« Späterhin hab ich bei zwei bösen Abstürzen im Gebirge die gleiche Erfahrung gemacht: man denkt nichts und hat keinen Schreck, man will sich nur halten; und liegt man drunten, so weiß man nicht, wie's zugegangen ist. Der Schreck und das Nervenzittern kommen immer erst hintendrein.

Mein junger Führer, der sich schon fluchend aus dem zähen Schneefutteral herauszuzappeln begann, rief zu mir herüber: »Fait ebbes?« (»Fehlt was?«)

»Ja! Meine Zigarettendose kann ich nicht finden.«

Nach ähnlichen Ereignissen war es zur Beruhigung [333] meiner Nerven immer das erste, daß ich mir eine Zigarette wickelte, die ich mit einem Grisebachschen Wort die weiße Tochter Moskaus zu nennen liebte.

Und hatte ich so den Anhauch der Todesnähe gefühlt, dann pflegte als Kontrastwirkung das gesteigerte Verlangen nach heißen Zärtlichkeiten des Lebens in mir zu erwachen. Nach meiner Rückkehr in die Stadt wurde ich in ein tolles Drauflosleben hineingewirbelt, bei dem sich meine ohnehin schon mit einem Minuszeichen versehene materielle Bilanz erschreckend nach abwärts bewegte. Ich geriet in einen heiteren Freundeskreis, der die Sektfrühstücke als tägliche Gewohnheit pflegte.

Daneben begann ich in zappelnder Kunstsehnsucht eine ruheloses Rennen zu den Werkstätten der Maler. Alles, was man bisher als künstlerische Prinzipien beschworen hatte, kam damals ins erste Wanken, und ein Umschwung bereitete sich vor. Die einen blieben fest und überzeugungstreu auf erprobtem Boden stehen, die anderen irrten und suchten.

Einen starken, fürs ganze Leben nachwirkenden Eindruck gewann ich von einem Atelierbesuche bei Fritz August Kaulbach, der ein großes, fast vollendetes [334] Frauenporträt auf der Staffelei hatte. Ein Dreißigjähriger, stand er schon auf der Schwelle seines Ruhmes, mit einem Können, welches träumen und staunen machte. So fesselnd wie als Künstler, ebenso anziehend wirkte er in der festen Harmonie seines persönlichen Wesens auf mich. Seit jenem Atelierbesuche vor dreißig Jahren ist das so in mir geblieben: wenn vom Typus künstlerischer und menschlicher Vornehmheit gesprochen wurde, hab ich immer an Kaulbach denken müssen.

Rotwangige Ruhe und heitere Klarheit fand ich in Franz Defreggers Haus und Werkstätte, moderne Sensation bei Piglhein, in dessen Atelier und Leben sich Kunst mit luxuriöser Bohême vermischte. Leibl machte Aufsehen durch seinen rasch überzeugenden Verismus, und der einsiedlerische Poet Hans Thoma begann im Kunstverein verstanden zu werden und Anerkennung zu finden. Neben ernsten Kämpfern standen mit lachender Zufriedenheit die Unveränderlichen. Lossow strichelte an den vom französischen Rokoko angehauchten Bildern seines ›Götterdekame rone‹, und Ferdinand Wagner, der Makartino von München, glänzte mit seiner schönen Frau auf allen Künstlerfesten durch originelle Kostüme.

[335] Ein Eigenartiger und mit bitterer Zähigkeit Ringender war der junge Trübner. Die Münchener ›Kunstkenner‹ nannten ihn den Quadratlmaler, weil er mit breitem Pinsel viereckige Farbtupfen herb auf die Leinwand setzte. Sein Atelier füllte sich mit unverkäuflichen Bildern. Arbeiten, die zwanzig Jahre später als hohe Werte ausgerufen wurden, standen da als verstaubte Winkelhüter herum. Eines Tages sagte Trübner zu mir: »Jetzt muß ich doch einmal aufräumen und alles auf den Mist werfen.«

»Schenken Sie mir was! Mir gefällt's. Ich nehm es.«

»Gern. Suchen Sie sich was aus!«

Lange schwankte ich zwischen der großen, als Deckengemälde gedachten ›Wilden Jagd‹ und der kleinen, brutal verwegenen und dabei doch träumerisch zärtlichen ›Kentaurenhochzeit‹. Am liebsten hätt' ich diebeiden Bilder genommen. Und ich hätte sie auch bekommen. Aber so unverschämt wollt' ich doch nicht sein. Ich begnügte mich mit dem kleineren Bilde, das ich nun seit dreißig Jahren besitze. In Zeiten der Sorge verkaufte oder versetzte ich, was ich an Wert besaß; dieses Bild ist nie von meiner Wand gekommen.

In jenem Frühjahr 1881 spannen sich auch [336] herzliche, in fester Treue ausdauernde Lebensfreundschaften an, mit Max Bernstein, um den sich die dramatische Muse mit der Justitia raufte, und mit Felix Philippi, der bei aller Berliner Schwertmäuligkeit sich als geborener Freund und als herzensguter, durch dick und dünn verläßlicher Kamerad erwies. Er wußte damals noch nicht recht, ob er Schriftsteller werden oder Musiker bleiben sollte. Als Pianist mit verblüffendem musikalischem Gedächtnis war er ein Schüler Hans von Bülows und als solcher natürlich auch ein frenetischer Wagnerianer. Eines Tages, auf seiner Bude in der Maximilianstraße, von mittags zwei Uhr bis spät in die Nacht hinein, spielte er mir ohne Pause auf dem Klavier die ganze Tetralogie der Nibelungen vor, Rheingold, Walküre, Siegfried und Götterdämmerung. Ich lag auf dem Divan, rauchte hundert Zigaretten und trank ein dutzendmal schwarzen Kaffee, den ich in einer kleinen Maschine selbst bereitete.

Nach Mitternacht fragte Felix der Unermüdliche: »Willst du zur Abkühlung noch was aus dem Holländer hören?«

»Nein! Danke! Ich bin zufrieden!«

Seit damals hab ich jedesmal, so oft ich den Trauermarsch der Götterdämmerung hörte, die [337] leisen Symptome einer Kaffeevergiftung in mir gespürt. Die Erinnerungsfähigkeit mißhandelter Magennerven scheint noch viel sensibler zu sein als das Reminiszenzvermögen der glühendsten Begeisterung.

Während hundert Dinge mein quirlendes Interesse weckten, stand ich abgekühlt und mißtrauisch der eigenen Arbeit gegenüber. Es war mir völlig gleichgültig, daß der Prozeßhansl seit Monaten im Archiv des Gärtnertheaters schlummerte, weil man für eine wichtige weibliche Rolle keine passende Darstellerin hatte. Eines Tages ließ Direktor Lang mir sagen: nun hätte er was Brauchbares gefunden.

Am gleichen Mittag, unter der heiter funkelnden Sonne des letzten Apriltages begegnete ich auf dem Residenzplatz einer sehr jungen Dame. Viele Leute sahen ihr nach. Ich mußte stehen bleiben, um sie zu betrachten. Sie ging in Eile, wie Kinder gegen den Sturm schreiten, frisch, mutig und heiter. Ein schlankes, sein modelliertes Figürchen in himmelblauem Seidenkleid mit weißen Spitzen. Unter dem reich gebänderten Strohhut lachte ein rundes, rosiges Gesichtl mit Grübchen in den Wangen, mit vergnügten Augen. Als sie an mir vorüberging, flatterten die blauen Hutbänder [338] gegen mich her. Es war kein Wunsch in mir. Ich sah das Mädel nur eben so an, wie man in Freude ein liebliches Bild des Lebens betrachtet.

Auch ein alter Herr war stehen geblieben. Er nickte mir lachend zu und sagte: »Ein netter Kerl!«

Den folgenden Morgen ging ich zum Gärtnertheater hinunter, um mich nach der ›Brauchbaren‹ zu erkundigen. Der Direktor sagte: »Sie ist eine Anfängerin, aus der Provinz. Aber sie sieht gut aus, und ich glaube, sie hat Talent. Wenn Sie die Rolle mit ihr durchnehmen, wird's wohl gehen.«

Ich ließ mir die Adresse geben und machte mich gleich auf den Weg.

Nun stand sie vor mir, in einem dunkelroten Hauskleid. Aber ich sah eine andere Farbe.

Es war die Himmelblaue vom Residenzplatz.

Und sie gab mir gleich einen Beweis ihrer schauspielerischen Gewissenhaftigkeit. Die Rolle, die man ihr vor drei Tagen geschickt hatte, wußte sie schon auswendig, Wort für Wort.

Wir fingen sofort zu studieren an, sehr ernst und energisch. Wenn es sich um die Kunst handelte, gab's bei mir keine Flausen – so behauptete [339] ich. Aber bei der zweiten Lektion wollte die Sache nicht recht vorwärts. Ich atmete schwer und riß das Fenster auf. Der junge Mai war schwül. Und bei der dritten Unterrichtsstunde waren wir ein Hetz und eine Seele.

Es begann ein grünes, lachendes Frühlingsglück. Sonne, die ohne Schatten war – Frohsinn, der keiner Sorge dachte.

Weil sie mich in der ganzen Art ihres Wesens und ihrer heiteren selbstlosen Fügsamkeit an jenes gute Gretchen aus dem Reigen meiner letzten Studienzeit erinnerte, gab ich ihr den gleichen Namen: »Himmerl!«

Und sie war auch eines – ein Himmelchen, in dessen blauer Seligkeit nie eine Wolke aufzog. Nur eine einzige unliebsame Eigenschaft hatte sie: ihre Mutter war eine Kulissenmama von beklemmendem Zuschnitt. Aber was ging mich die Mutter an! Ich sah sie selten. Und die mißmutigen Augen, die sie machte, kamen auch viel zu spät.

Die ersten Proben zum Prozeßhansl gewannen die Rosenfarbe meines frohes Glückes. Himmerl machte seine Sache sehr gut. Alles andere war mir vorerst noch gleichgültig. Und war die Probe erledigt, so fahren wir in einem zottelnden [340] Einspänner zur Stadt hinaus, schmausten irgendwo in einem Dörfl und waren vergnügte Kinder.

Nur schade, daß eine heikle Arbeit, zu der ich mich hatte bereden lassen, mir viele Stunden meiner blauen Freude nahm. Für eine militärische Jubiläumsfeier im Hoftheater sollte ich ein den Abend füllendes Festspiel schreiben, in dessen letzten Akt die lebenden Bilder mit dem begleitenden Texte von Hermann Lingg sich einfügen mußten. Es war eine Arbeit, um zu verzweifeln. Ich hatte der würdigen Gelegenheit Rechnung zu tragen und wollte doch jeden byzantinischen Klang vermeiden. Und das Gehirn zerbohrte ich mir, um in diesen festlichen Ernst auch ein Bröselchen Humor und heiteres Lachen hineinzubringen. Ich half mir mit einer Soldatenfigur aus der Biedermeierzeit, mit einem gutbayerischen Bauernjungen, der sich durch Tapferkeit vom gemeinen Soldaten zum Offizier aufgeschwungen hat, die goldenen Epauletten trägt, aber dabei doch ein Bauer bleibt: der Leutnant Christian Kapp. Solche Soldaten gab es. Aber es war eine Torheit von mir, für eine Jubiläumsstimmung bei théâtre paré ein Stück ehrlicher, aber derber Wirklichkeit schildern zu wollen. Das rächte sich. Doch während der Arbeit hatte ich keine Vorahnung [341] der Bombe, die da über meinem Haardach platzen sollte. Ich freute mich meines Einfalls, schuftete fleißig drauf los und dachte: »Was mir nicht allzu sein aus der Feder kommt, das werden schon Joseph Kainz, die Ramlo und Meister Häusser zu gutem Glanz aufbügeln.« Diese drei Künstler standen mir für die Hauptrollen zur Verfügung.

Bei dem Hin- und Hergerenne zwischen der Hölle meines Schreibtisches und dem Himmel meiner Liebe kam ich selten heim zu den Meinen. Eines Nachmittages erwischte mich Mama in der Ludwigstraße und hielt mich lachend beim Ohrlappen fest. »No, du? Dich sieht man ja gar nimmer! Aber gut muß es dir gehe? Wenn's dir schlecht ging, da wärst du schon lang gekomme!« Sie sah wohl die Zerknirschung und Reue in meinem Gesicht, denn sie fing gleich lustig vom Recht der Jugend zu reden an. »Schau, wir kränken uns nit! Wenn's dir nur gut geht! Was flügg ist, muß naus zum Nestle. Ich und dein Vater sind auch nit daheim gebliebe. Und die Gschäftlen, die man als jung nit gemacht hat, sagt der Judd, die macht man als alter nimmer.«

Sie ließ sich vom Fortgang der Proben erzählen, und als sie merkte, daß ich selber der [342] Premiere mit einiger Beklommenheit entgegensah, bekam sie vor Aufregung gleich das ›Zwicken‹, wie sie jene Nervosität in den unteren Gründen zu nennen pflegte. Mama – um an die wunderlichen Hypothesen jenes jungen Äskulap hinter dem Biertisch zu erinnern – Mama war eben eine Verschwenderin an Liebe.

Je mehr der Prozeßhansl auf den Proben eine feste Sache wurde, um so mißtrauischer guckte ich drein. Der Stoff war gut, die Hauptfigur dankbar – und Freund Neuert spielte diese Figur mit überzeugender Kunst. Aber die Logik der Handlung verlangte einen letzten Alt von unbarmherziger Grausamkeit, verlangte eine Sache, von der man damals sagte: »Auf dem Theater ist so was nicht möglich.« Und so hatte ich mich zu einem unkünstlerischen Kompromiß mit der Gemütlichkeit bereden lassen. Jetzt, da der Schaden nimmer zu ändern war, sah ich es ein, nicht nur aus eigener Erkenntnis, sondern weil mir nun auch die aufrüttelnden Vergleiche zu Gebote standen.

Ich hatte während dieses Frühjahrs, nachdem der Prozeßhansl schon fertig war, Anzengrubers Pfarrer von Kirchfeld und den Meineidbauer gesehen. Von der Bühne herab, bei unzulänglicher Darstellung, wirkten die beiden Stücke nicht allzu [343] erregend auf mich. Ich meinte das übliche Volksstück mit allem bisherigen Theaterapparat zu sehen, mit Entreeliedern, Couplets und Aktschlußmusik. Aber ich erkannte doch auch, daß inmitten dieses Verbrauchten große neue Gestalten standen, Kinder aus Seele, Fleisch und Blut eines starken Menschen, eines Dichters. Die rechte, richtige Wirkung faßte mich erst, als ich Anzengruber für mich allein zu lesen begann, und als ich den Gwissenswurm kennen lernte und die Kreuzlschreiber, dieses klassische deutsche Lustspiel. Ich rannte wie ein Narr herum, bedrückt von der Selbsterkenntnis: »Herrgott, was für einen Schmarren hast du gemacht!«

Noch ein anderer faßte mich an Herz und Hals: Peter Rosegger, von dessen ersten Werken damals eine Lieferungsausgabe erschien, die Schriften des Waldschulmeisters, Sonderlinge aus dem Volk der Alpen, Heidepeters Gabriel. Rosegger war mir näher als Anzengruber, wirkte wärmer und farbiger auf mich, vertrauter und verständlicher, mit dem Duft und Anhauch meiner eigenen Heimat. In schlaflosen Nächten verschlang ich mit einem Zittern von Freude diese schlecht gedruckten Hefte. Und damals erwachte in mir die Sehnsucht, nach Wien zu gehen, wo Anzengruber war, und von wo man nicht weit bis zu Rosegger [344] hatte. Das Gruseln, das ich bei solcher Lektüre vor meiner eigenen Anfängerei empfand, verbitterte mir sogar die Freude, die mir das Himmerl gab. Sie gefiel mir bei den letzten Proben auf der Bühne nimmer, weil sie sprechen mußte, was ich geschrieben hatte. Und noch eine zweite Unbehaglichkeit kam dazu. Ich wollte das Himmerl eines Nachmittags zu einer Spazierfahrt abholen. Nur die Mutter war daheim. Und ich bekam ein übles Klagelied zu hören; über die schlechten Zeiten beim Theater; und nun wäre das unkluge Himmerl auf diese ›ideale Leidenschaft‹ hereingefallen; mit 150 Mark Gage! Dabei ein Haushalt mit Mutter und Magd, die Toiletten und Kostüme fürs Theater, das teure Leben! Ich verstand. Etwas Kaltes und Unbehagliches griff mir an die Kehle. Ich wollte davonrennen. Aber ich hatte das Himmerl doch wirklich lieb. Und war überzeugt, daß das gute Mädel von dieser diplomatischen Aktion der Mutter keine Ahnung hatte. Die paar blauen Zettel für jeden Monat waren wohl auch noch aufzutreiben. Ich nickte. Und die Mutter mußte mir schwören, daß das Himmerl von dieser Sache nie was erfahren sollte. Ein paar Tage brauchte ich, um mit dieser beklemmenden Sache fertig zu werden. Dann war wieder blauer Mai.

[345] Nun kam die Uraufführung des Prozeßhansl. Sie machte mir eine zweifelhafte Freude, obwohl das Stück gefiel und Erfolg hatte. Papa glaubte zu meinem Trost einen ›unleugbaren Fortschritt‹ konstatieren zu dürfen. Und Mama sagte: »Ja, Bub, ein Sprüngerl ist's aufwärts gange. Aber jetzt mußt halt auch emal ein feste Sprung mache!«

Dieses Wort verursachte mir eine ruhelose Nacht.

Einen festen Sprung machen?

Am Leitseil der Vorbilder, die mich begeisterten? Nein! Wenn's mit dem Nachmachen ginge, warum macht dann nicht jeder Werdende gleich den Homer, Shakespeare und Goethe nach? So geht's nicht! Ich muß das Bessere suchen in mir selbst, aus meiner eigenen Art herausschöpfen, was in ihr zu finden war.

Ibsen, Anzengruber und Rosegger standen vor mir da wie leuchtende Fackeln. Die Werte, die ich an ihnen gewahrte, verstand ich hoch einzuschätzen. Und dennoch hat mich nie die Sehnsucht befallen, den von ihnen vorgezogenen Geleisen folgen zu wollen. An Heyse studierte ich sprachliche Form, an Turgenjews Skizzen aus dem Tagebuch eines Jägers, die mir eine heiße Verzückung brachten, suchte ich das Geheimnis zu erforschen, wie man [346] Natur sehen und Natur schildern muß. Aber ein eingefleischter Schüler von anderen bin ich nie geworden, bin nie dem Erfolg eines Besseren, nie einer künstlerischen Mode nachgelaufen. Ich hab es auch späterhin erlebt, daß alle, die hinter Ibsen und Zola hertrotteten, wieder umkehren mußten, um sich selbst zu suchen. Oder sie verloren sich. Ob man ein Großer oder ein Kleiner ist – auf dem Boden der Kunst muß man ein Eigener sein. Oder man ist ein Niemand.

Der Brief, den meine Mutter mir über die ›Gedichtlen‹ nach Berlin geschrieben hatte, begann Fleisch und Blut in mir zu werden. Ich fing an, nach Wegen zu suchen, für die meine Kräfte ausreichten.

In einem Essay über die moderne Nervosität hab ich vor kurzer Zeit ein prachtvolles Wort gelesen – ein schwerer Neurastheniker sagte da zu seinem Arzt: »Wir in unserer Familie wollten immer mehr sein, als wir sein konnten. Dabei sind wir alle nervös geworden.« Das ist nicht nur ein Kommentar zur Geschichte unseres heutigen Lebens, auch ein Kommentar zur Geschichte unserer Kunst. Die Großen bringen das Große spielend fertig. Der Durchschnitt des Talentes muß schwitzen, keuchen und zittern, wenn er mehr[347] sein will, als er sein kann – eine törichte Kritik verlangt es von ihm, und obwohl sie selber niemals Lessing ist, will sie doch an jedem Produzierenden einen Goethe oder Sophokles haben, einen Tizian oder Phidias – und so vergeuden wertvolle Begabungen aus gepeitschtem Ehrgeiz ihre beste Kraft im nutzlosen Anlauf zu hohen Sprüngen und gebären aus krankhaft überreiztem Geist eine Schar von nervösen Kindern, die keinem Menschen zur Freude und dem Leben ein Schaden sind.

In diese Hetzjagd hab ich mich nicht einreihen lassen. Meine ersten Versuche hab ich mit lachendem Leichtsinn aus dem Ärmel geschüttelt. Und als ich späterhin fest und richtig das ernste Arbeiten lernte, und als ich mich sicher auf dem Boden fühlte, dem ich entwachsen war und zu dem ich gehörte, gab ich immer nur, was ich selbst besaß, und wollte niemalsmehr aus mir machen, als ich von Natur aus sein konnte. Man mag den Wert meiner Lebensarbeit nach Gutdünken abschätzen. Aber eines weiß ich: meine Arbeit war immer ein Stück meiner selbst, hatte mein Herz, meine Freude, meinen Glauben, und drum blieb sie unkompliziert, blieb heiter und gesund. Ich glaube, das ist das ganze Geheimnis meines Erfolges, [348] den mir die Auguren der überschnürten Ästhetik schwer verübeln.

Von den Wegen, die ich in kommender Zeit als die meinen erkennen sollte, war ich freilich damals, als das Wort der Mutter vom ›festen Sprung‹ mir schlaflose Nachtstunden verursachte, noch weit entfernt.

Während die Münchener mit Herrgottschnitzer und Prozeßhansl, dazu noch mit dem prächtigen, das Niveau der üblichen Dorfkomödie übersteigenden Protzenbauer der Frau Hartl-Mitius, wieder gastieren gingen und von Erfolg zu Erfolg reisten, bekam ich daheim in München bei Gelegenheit jenes Festspiels einen schmerzhaften Klapps auf das verdutzte Köpfl.

Ein Leutnant, der sich in eine kleine Wirtstochter verliebt und in der Hitze der Manövertage als guter Bayer einen vollen Maßkrug bis auf die Nagelprobe leert – das erschien in einem théâtre paré höchst deplaziert.

Am Tage nach der Aufführung erschien in der Presse eine Mitteilung: das Stück wäre zu spät fertig geworden, die Festkommission hätte nicht mehr Zeit gehabt, sich über den Inhalt des Stückes zu informieren, sonst hätte sie Veranlassung gehabt, das Stück aus ästhetischen Gründen abzulehnen.

[349] Das war mein Dank für das willige Arbeitsopfer zweier Monate. Ich wurde rasend und erwiderte mit ungezügelter Grobheit. Eine Preßfehde entspann sich, es bildeten sich Parteien für und gegen mich, und im Feuer des Gefechtes ließ ich mich zu einer Ausschreitung hinreißen, die ich später selbst bereute, da sie mir viele gute Freunde entfremdete und mir heiße Kohlen unter den Münchener Boden legte.

Um mir die Luft der lieben Heimat noch völlig in eine schwer zu atmende Gasart zu verwandeln, kam hinter seligen Freudenwochen noch das tragischgroteske Finale mit dem Himmerl dazu.

Nach dem heißen Ärger in München wollte ich grüne, kühle Berge sehen, erwirkte dem Himmerl beim Theater einen achttägigen Urlaub, und da wollten wir miteinander hinauskutschieren nach Fall an der Isar und im weißen, einsamen Forsthaus eine Honigwoche verbringen. In diesen süßen Honig fiel eine Fliege hinein. Himmerls Mutter wollte partout mitfahren. Ich sprach wie ein Cicero. Aber es war ihr nimmer auszureden. Na also, in Gottesnamen!

Damals feierte man in München das VII. Deutsche Bundesschießen, dessen jubelweckende Sensation die graziöse, gesundpikante, von Lebenslust durchsicherte [350] Schützenliesl wurde, die Fritz August Kaulmeh für die Festwiese gemalt hatte. Vor dem großen Bilde, das den Giebel einer Wirtshalle schmückte, standen immer tausend Menschen versammelt und lachten hinauf zu dieser gemalten Predigt der heiteren Daseinsfreude.

Es gab auf der Wiese, während die Stutzenknallten, auch allerlei Volksbelustigungen. Das erste Velozipedrennen auf dem Hochrad wurde abgehalten, und der Luftschiffer Securius stieg mit seinem Ballon ins Blaue. Ja, das Leben ging aufwärts! Ich erinnere mich einer Deggendorfer Schützengruppe, die im Pschorrbräu mit lebhafter Aufregung die Neuigkeit besprach: daß ihre Stadtväter daheim das Petroleum für eine überwundene Sache erklärten und die Gasbeleuchtung einführen wollten. Und gar in Wien, da waren sie noch weiter voran! Ich hatte in der Zeitung gelesen, vaß der Theaterdirektor Franz Jauner, der das Wiener Ringtheater übernahm, um es im Herbste zu eröffnen, einen ersten Versuch mit der Theaterbeleuchtung durch elektrische Bogenlampen machen wollte. Als ich diese merkwürdige Nachricht las, sagte mir keine Ahnung, daß da eine Schicksalswendung meines Lebens den ersten Schritt zu mir herangemacht hatte.

[351] Am letzten Nachmittage vor der Abreise in die Berge bummelten wir beide, das Himmerl und ich, mit vergnügter Laune und Arm in Arm durch das Gewühl der Festwiese. Plötzlich wurde mir siedeschwül um den Verstand – meine Mutter stand vor uns da! Ein Ausweichen war nimmer möglich. Mama hatte uns schon gesehen, auf fünf Schritte, und machte sehr große Augen. Es widerstrebte mir, der Mutter eine Unbehaglichkeit zu verursachen. Ich brachte es aber auch nicht über mich, das Himmerl zu verleugnen. Mit dem Saltomortale eines mir selbst nicht völlig klaren Entschlusses sagte ich: »Grüß Gott, Mama! Darf ich vorstellen? Meine Mutter ... meine Braut.«

Der Mutter flog es mit heißem Schreck über das Gesicht. Doch sie fand sofort ihr Lachen wieder und sagte zum Himmerl: »Botz tauset! Das ischt ja eine Neuigkeit, die ich mir heut nimmer erwartet hätt, so schnell im Zufallskörble! Ja, no, wenn die Sach so ischt, da will ich halt in Gottesname gratuliere!«

Himmerl stammelte ein paar verwirrte Worte und küßte der Mutter die Hand.

»Mir soll's recht sein, Fräule!« sagte Mama. »Mir ischt jede recht, die den lange Bube da [352] endlich emal zur Vernunft bringt. Vom Theater her kenn ich Sie ja schon. Sie haben mir gut gefallen und scheinen ein liebes, nettes Mädle zu sein! Und da wünsch ich Ihnen nur von Herze, daß es mein Herr Luftikus von Sohn mit Ihnen ernster meint, als er's mit vielen andern gemeint hat!« Dazu lachte sie, als wär's ein harmloser Scherz. Freundlich plauderte sie noch ein paar Worte mit dem Himmerl, sprach auch von meiner bevorstehenden Reise, deren Zweck sie zu erraten schien. Und als sie gehen wollte, sagte sie leis von der Seite her zu mir: »Du! Mit dem Papa mußt reden! Der tät's nit vertragen, wenn er es auch so erfahren müßt. Bub, red mit dem Vater! Und zwar gleich, wenn du von deinem Antizipandoreisle wieder heimkommst!« Ihr liebes, gutes Gesicht brannte wie Feuer, als sie sich von uns abwandte und im frohen Gewühl der Menschen verschwand.

Das Himmerl lachte, wunderlich glücklich. Mir aber war nicht wohl zumut. Ich blieb an diesem Nachmittage sehr schweigsam, obwohl das Himmerl froher und reizender war als je.

Am andern Morgen reisten wir ab. Als wir in Fall das Forsthaus zwischen den grünen Bergen erreichten, meinte ich: jetzt wäre ein leichteres [353] Aufatmen in mir. Es kamen auch liebe, heitere Tage. Wir beide waren immer allein. Himmerls Mutter mit ihrem Strickstrumpf hielt sich dezent im Hintergrunde und ließ sich nur bei den Mahlzeiten betrachten. Dennoch konnte ich mein rechtes Lachen nimmer finden. Immer war eine sonderbar beklommene Sorge in mir: jetzt, und jetzt, und jetzt wird das Himmerl von der Festwiese reden! Und vom Glückwunsch meiner Mutter! Aber das Mädel schwieg, kam nicht mit der leisesten Andeutung auf diese Begegnung zurück. Während des dritten und vierten Tages wurde das Himmerl ein bißchen nachdenklich, und wie ein seiner, wehmütiger Schleier lag es über seiner sonst so rosigen Laune.

Am Vorabend des Tages, mit welchem Himmerls Theaterurlaub ablief, kam der Jagdgehilf Gasteiger und meldete mir einen, ganz kapitalen Gamsbock', der sicher zu erwischen wäre. Aber wenn Himmerl am Nachmittag reisen sollte, konnt' ich doch nicht am Morgen eine Gemspirsch machen.

Himmerl sah mir wohl die Qual dieses Kampfes zwischen Liebe und Jagdpassion am Gesichte an und fragte: »Bis wann könntest du denn da wieder daheim sein?«

»Spätestens bis früh um Neune!« [354] »Dann geh doch! Ich warte schon mit dem Frühstück.«

Das gute Himmerl! An diesem Abend war ichsehr vergnügt.

Früh um zwei Uhr segelten wir los, der Jagdgehilf und ich. Aber es wurde eine Gemspirsche mit Hindernissen. Der Wind schlug immer hin und her. Wir mußten weite und schwierige Umwege machen, um den Gemsbock nicht zu vergrämen. Als ich auf der Bergschneide endlich zu Schuß kam, war es schon zehn Uhr vormittags. Und dann gab es, weil der Schuß nicht tödlich gewesen, durch fünf Viertelstunden noch eine schwer ermüdende Suche auf schwierigem Terrain.

Als wir aus dem Gewänd der Schattenseite wieder heraufgeklettert waren zur sonnigen Bergscheide, mußten wir ein paar Minuten rasten.

Drunten im Tal, wie der winzige Kram einer Nürnberger Spielzeugschachtel, lagen die paar Häuser von Fall.

Ich zog mein Fernrohr auf und suchte da drunten – und fand auch, was ich suchte. Im Wiesgarten des Försterhauses, frei in der milden Sonne, saß das Himmerl mit der Mutter beim weißgedeckten Frühstückstisch. Deutlich konnte ich unterscheiden, daß die Mutter sehr heftig und aufgeregt [355] in das Himmerl hineinredete, das sich unbeweglich und mit gekreuzten Armen auf dem Sessel zurücklehnte. Und plötzlich kam es mir so vor, als schlüge das Himmerl die Hände vor das Gesicht und fiele über den Tisch hin.

Mir war das wie ein Stoß ins Herz. Ich packte meine Büchse und sprang vom Boden auf. »Gasteiger, ich muß heim! Lassen Sie sich Zeit mit dem Bock! Ich renne voraus.«

Man braucht sonst für diesen Abstieg bei flottem Marsche gut eine Stunde. In zwanzig Minuten war ich drunten, atemlos, von Hitze dampfend.

Das Himmerl war ein bißchen mißmutig, seine Mutter sehr freundlich.

Bis ich mich umkleiden konnte, war es Essenszeit. Ein heiteres Abschiedsmahl, jede Verstimmung war verschwunden – und in acht Tagen sollten wir uns ja wieder sehen! Bei guter Laune und im brennenden Durste dieses strapaziösen Morgens sprach ich etwas hurtig dem roten Tiroler zu. Es fiel mir wie Blei auf die Augenlider. »Himmerl, ich muß mich eine Stunde aufs Ohr legen, sonst fall ich um. Um zwei Uhr weckst du mich, gelt? Dann haben wir noch drei gemütliche Stunden, bis ihr reisen müßt.«

Das Himmerl nickte.

[356] In meinem Zimmer fiel ich wie ein Klotz auf das lederne Sofa hin.

Punkt zwei Uhr – ich konnte drunten in der Försterstube die Schwarzwälderuhr noch schlagen hören – wurde ich geweckt. Das Himmerl saß neben mir auf dem Sofa. Ich konnte mich nicht ermuntern, brachte die Augen nur blinzelnd auf. Wenn ich mich recht erinnere, sagte das Himmerl: jetzt wären wir allein miteinander, ungestört, und vor der Abreise müßte doch das noch beredet werden, und wie ich mir denn das mit dem Heiraten jetzt dächte?

Ich weiß noch, daß ich einen Schreck bekam. Doch er war nicht ausreichend, um mich vollständig wach zu machen und dieses schwere Blei aus meinem Leben herauszuschütteln.

»Himmerl? Jetzt, in meiner müden Schlaftrunkenheit! Das ist doch nicht der richtige Moment für so eine ernste Sache ... an die ich auch selber noch gar nicht gedacht hab.«

Ob es zu einem Wortwechsel kam, oder ob das Himmerl gleich beleidigt war und davonging, das weiß ich nimmer. Die Müdigkeit von damals hat alles klare Erinnern in mir ausgelöscht. Ich muß auch sofort wieder eingeschlafen sein.

Als ich erwachte, hing schon die graue Dämmerung [357] um die Fenster her. Erschrocken sprang ich auf und rannte in das andere Zimmer hinüber. Leer! Das Himmerl war fort. Ich lief hinunter in die Küche, zur Försterin. Das gekränkte Himmerl hatte keine Zeile, keinen Gruß zurückgelassen.

Nun wurde ich wütend. »So!« Aber am anderen Tag zerschmolz mein Zorn in Sehnsucht, und am nächsten Nachmittag führ ich nach München und rannte vom Bahnhof gleich zum Gärtnertheater. Das Himmerl spielte. Ich glaube, das Stück hieß »Der Herr von Perlacher«. Und Schweighofer gastierte in der Hauptrolle.

Ich hatte einen Balkonsitz, ganz vorne bei der Bühne, und machte mich sehr bemerklich. Allen Leuten, die in meiner Nähe saßen, fiel ich auf. Nur das Himmerl sah mich nicht, wollte mich nicht sehen. Der Stolz begann in mir zu kribbeln. Doch als das Theater aus war, stand ich auf der Straße beim Bühneneingang und wartete. Das Himmerl kam, mit dem großen Ridikül am Arme – sah mich an wie einen fremden Menschen und ging vorüber. Im ersten Schreck wollt' ich hinter dem Mädel her. Aber plötzlich war diese wunderliche Idiosynkrasie wieder da. Ich roch die roten Karpfen von Schloß Baumgarten.

[358] Es war eine schreckliche Nacht. Doch ich wußte in mir: alles ist aus!

Am nächsten Vormittage will ich die Ludwigstraße hinuntergehen. Da kommt mir das Himmerl entgegen. Seine Augen lächeln scheu. Ich grüße höflich – und gehe stumm vorüber. Wie ein grauer Schwindel ist es in mir. Aber ich kann nicht anders. Es mußte so sein.

Und am Nachmittage, als ich verstört und verloren an meinem Schreibtisch saß, kam ein alter Dienstmann mit roter Kappe und brachte mir ein dickes Kuvert. Es enthielt einen aus doppelten Gründen schwer zu lesenden Brief von Himmerls Mutter – und enthielt ein Päckchen Banknoten, die gleiche Summe, die ich dieser Frau seit drei Monaten heimlich zugesteckt hatte.

In der ersten Ratlosigkeit war die Frage da: Wie ist das Himmerl plötzlich, über Mittag, zu so viel Geld gekommen? – Das hab ich einige Zeit später auch erfahren. Aber ich mag's nicht erzählen.

– Armes, liebes, törichtes Himmerl! Was hast du auf dein junges Leben gelegt, aus Zorn, nur um des erbitterten Wunsches willen, quitt mit mir zu werden! –

Aber dieses Geld? Das konnt' ich doch nicht [359] wieder zurückschicken? Das wäre eine Lächerlichkeit, eine neue Kränkung gewesen. Und einen offenen Kamin hatte ich nicht, um mit diesem Papier da nach französischem Edelmannsstil zu verfahren.

Ich reichte das Kuvert samt Inhalt dem Dienstmann hin. »Da Mensch! Das schenk ich Ihnen für diesen Gang, der Ihnen vermutlich sehr leicht geworden ist.«

Es kamen ein paar harte Stunden. Ich hatte das Gefühl: Du bist ein Schuldiger! Aber ich konnte die Schuld, die ich begangen hatte, nicht finden.

Vor Abend ging ich zu den Meinen hinüber. Der Spiegel, der im Vorplatz hing, zeigte mir ein kalkweißes Gesicht.

Papa war noch im Ministerium. Die Mutter fragte perplex: »Du bist schon wieder da?« Und sagte gleich: »Bist du bei Papa gewesen? Hast du geredet mit ihm?«

»Das ist nimmer nötig, Mama! Die Geschichte ist aus.«

»Nein?« Ich glaube: das war Freude, was in ihren Augen aufglänzte. Aber dann sagte sie kummervoll: »Ach, das arme dumme Mädle!«

Ich setzte mich schweigend neben dem Spinnrad[360] ans Fenster, auf dessen Gesims die Nelken und Hyacinthen blühten. Und da nahm die Mutter meinen Kopf zwischen ihre Hände: »Schau Bub, sei gut! Es ist gescheiter so! Du bist nix und hast nix, alles hast verschustert und verbröselt. Du hättest dich bloß ins Nothäfele hineingesetzt bis über den Hals hinauf«

Mit diesem Wort war die Geschichte vom Himmerl zu Ende. Einen Kommentar will ich ihr nicht geben. Aber ich glaube: in dieser Geschichte war Freude, Schönheit, Liebreiz, alle Brutalität der Natur, alle traurige Torheit der Jugend und des Lebens.

Am anderen Morgen war es als Entschluß in mir: fort von München, fort, fort, fort, fort! Ich wollte das Himmerl nimmer sehen. Aber wohin? Und neue Schulden machen, nur um reisen zu können? Denn ich hatte während dieser letzten Monate meine Tasche zu einer federleichten Sache gemacht.

Da kam ein Brief. Aus Wien. Franz Jauner hatte den Herrgottschnitzer und Prozeßhansl für das Ringtheater erworben und bot mir einen Vertrag als Theaterdichter und Dramaturg. Es war keine glänzende Stellung. Aber sie deckte mein Leben. Ich unterschrieb. Vater und Mutter [361] waren einverstanden. Sie nahmen das als einen Aufstieg meines Lebens.

Im Oktober sollte ich meine Stellung antreten. Noch zwei Monate Freiheit! Ich ging in die Berge, wieder nach Fall, und ließ mir im Forsthaus das Zimmer geben, in dem das Himmerl gewohnt hatte. Wenn ich um zwei Uhr morgens zur Gemspirsch ausrückte, ging das Himmerl mit mir, ganz still, mit traurigen Augen. Doch als ich mein altes Zimmer mit dem Ledersofa wieder bezog, blieb das Himmerl aus und kam nicht mehr.

Neben meiner Pein und meiner langsam erlöschenden Sehnsucht hatte ich aus München noch etwas anderes mit herausgebracht in die Berge: ein Verwundern und eine ruhelose Gedankenarbeit über das letzte Wort eines Mörders.

Im Juli war Garfield, der Präsident der Vereinigten Staaten, das Opfer eines Attentates geworden. Der Mörder hieß Charles Guiteau. In einem Briefe, den die Polizei aus den Taschen des Attentäters zog, stand die Stelle:

»Das Leben ist ein leerer Traum. Es ist gleichgültig, welche Wege man geht und was man treibt.«

Dieses Wort rüttelte in mir das sorglos schlummernde Denken wieder auf machte mich für [362] zwei Jahrzehnte zu einem unermüdlichen Gottsucher und baute mir eine feste Staffel zu innerlicher Lebensruhe.

Ich fühlte: was dieser Verzweifelte sagte, stimmt nicht. Sein Wort ist die Ausgeburt eines krank gewordenen Gehirnes, das nimmer Augen hatte um zu schauen, nimmer Ohren um zu hören.

Das Leben ist weder ein Traum, noch ist es leer. Das sind Worte, die nichts erweisen. Aber weil schon so viele sich irrten und noch keiner die Wahrheit fand, könnte das ein Beweis dafür sein, daß diese Wahrheit für uns Menschen ewig unerforschbar bleibt. Es ist also zwecklose Neugier, wissen zu wollen, was das Leben ist. Man kann bei erträglichen Verlusten nur das eine finden: wie man das Leben sehen und nehmen muß, um in nutzbarem Frieden mit ihm auszukommen.

Diesen Gedanken nahm ich aus der Stadt mit mir hinaus in die Berge, rollte ihn bei jeder Gemspirsche über die steilen Wege hinauf und trug ihn von einem Berggipfel zum andern. In reiner Sonne bekam er hellen und verläßlichen Glanz.

[363]
8.
VIII.

Eine kleine Jagdgeschichte aus dem stillen, schönen Sommer 1881 zu Fall im Isarwinkel ist mir lebhaft in Erinnerung geblieben und erscheint mir charakteristisch für die freundlichen Gewogenheiten des Lebens.

Da stieg ich an einem wundervollen Morgen mit dem Jagdgehilfen Eberl zum Luderer Gewänd hinauf. Wald und Berge funkelten in der reinen Sonne. Und überall das schöne ruhige Rauschen der Wildbäche.

An der Baumgrenze führte der Steig quer über einen steilen, von Heidelbeerbüschen überwachsenen Hang, der überhaucht war vom schweren Duft des verblühenden Seidelbastes. Der Jagdgehilfe, der durch das Fernrohr eine Sennerin auf dem gegenüberliegenden Berggehänge beobachtete, war zurückgeblieben. Ich schlenderte gemütlich den [364] Steig hinan, halb schauend, halb träumend. Und plötzlich sah ich, daß sich hundert Schritte unter mir, in dem dichten Heidelbeergestrüpp, etwas Schwarzbraunes bewegte. Es huschelte und hüpfte, tauchte aus dem Grün heraus und verschwand wieder. Ich riß die Büchse von der Schulter und machte mich schußfertig. Jetzt erschien da drunten zwischen den Stauden ein langgestreckter Vogelkopf. Mein erster, fieberheißer Gedanke jubelte: »Ein Adler!« Was sonst? Solch ein ›Endstrumm Vogel‹ konnte doch nur ein Adler sein! Ich hob die Büchse zur Wange. Der Vogel gewahrte diese Bewegung und schwang sich mit schwer wuchtelnden Flügelschlägen aus den Stauden. Mein Schuß krachte, und der Vogel stürzte leblos, schwer wie ein großer Stein in das Gebüsch zurück.

Jetzt, nach dem glücklichen Schuß, befiel mich das ›Adlerfieber‹. Ich mußte die Augen schließen, und meine Hände zitterten. Wie ein Narr kam der Jagdgehilf Eberl über den Steig heraufgerannt und brüllte: »Was is denn? Was is denn?«

Erst mußte ich einen Jauchzer in die Sonne hinausschreien. Dann konnte ich reden. »Einen Adler hab ich.«

»Was? An Adler? Liegt er?«

»Ja, da drunten.«

[365] »Herrgottsakra! Haben Sö aber a Sauglück!«

Wir rannten lachend über den Hang hinunter. Doch als wir zu der schwarzbraunen Sache kamen, sah ich es selber gleich: das war kein Adler.

»Mar und Josef!« stammelte der Jäger und wurde kreideblaß vor Schreck. »Dös is ja an Auerhohn!«

Na also! Kein Adler! Nur ein Auerhahn! Aberdoch eine seine Jägerprimeur! Ich hatte noch nie einen Auerhahn geschossen, noch nie einen gesehen. Und nun den ersten gleich im Flug mit der Kugel! Das war doch Ursache, um vergnügt zu lachen. Warum erschrak der Jäger? Warum guckte er mich mit mauerbleichem Gesicht so entgeistert an?

»Eberl? Was haben Sie denn?«

»Angst hab i.«

»Angst? Warum denn?«

»Weil i net woaß, ob Schußzeit is. Bei uns weard der Auerhohn bloß allweil auf'm Falz im Frühjahr gschossen. Himlsakra! Bal mer jetzt da an Hohn in der Schonzeit umbracht haben, da kriegen mer an noblen Putzer vom Förster!« Der Jäger wollte den schönen Vogel gar nicht anrühren.

Auch mir fuhr der kalte Schreck in die Eingeweide. Ich! Der Sohn eines Forstrates! Und [366] ein Frevler wider das Jagdgesetz! In einem königlichen Forstbezirk!

Alle Luft für eine weitere Pirsche war uns beiden vergangen. Und das wurde ein unbehaglicher Heimweg. Ich selber trug den Auerhahn im Rucksack. Der Jäger fluchte alle fünf Minuten eine fürchterliche Litanei herunter. Und daheim verschwand er gleich in seiner Stube und ließ sich nimmer blicken. Während ich im Flur des Forsthauses den Rucksack an einen dunklen Nagel hängte, vernahm ich aus der Stube die Stimme des Försters. Das schlechte Jägergewissen drückte mich, daß ich kaum reden konnte, als ich in die Stube trat. Nach allerlei Umschweifen brachte ich das Gespräch auf die Auerhahnjagd.

Auch der Förster sagte: »Den Auerhohn schießt ma bloß allweil im Falz.«

»Aber ich glaube mich dunkel zu erinnern, vaß auch im Sommer Schußzeit ist? Oder im Herbste?«

»Da woaß i nix davon. Aber im Jagdkalender müaßt's ja drinstehn.« Der Förster holte den Jagdkalender aus dem Wandkastl und blätterte. Dann lachte er. Und sagte: »Recht haben S', Herr Dokter! Und dös is gspassi! So a Zuafall! Grad heut is der erste Tag von der Schußzeit.«

[367] Wie ein Verrückter sprang ich auf. Die Freude war gleich einem heißen Schwips in mir.

»Jesses! Herr Dokter? Was haben S' denn?«

»Warten S' ein bisserl!« Ich rannte in den Flur hinaus und brachte lachend meine Beute ... »Na also! Dann hab ich heut einen Auerhahn geschossen.«

Das wurde ein lustiger Tag. Und der Jagdgehilf Eberl, als er sich von seiner, Angst' erlöst fühlte, soff sich auf meine Kosten einen Rausch an, der sich sogar bei einer Kirchweih mit Ehren hätte sehen lassen können.

Meinem Leben hatte ich solch aktuelle Freundlichkeiten noch des öfteren zu danken. War mir das Blut heiß geworden und hatte ich – um beim weidmännischen Bilde zu bleiben – blind drauf losgepulvert, dann stellte sich schließlich immer heraus, daß die ›Schußzeit‹ gerade angegangen war. Und mein leichtsinniger und unüberlegter Streich bekam den Anschein eines klugen und rechtlichen Vorganges. Alle eiserne Gerechtigkeit des Lebens ist sein durchädert mit dem Golde liebenswürdiger Barmherzigkeit. Wenn's nicht für uns alle so wäre, würde die Statistik der Missetäter viel höhere Ziffern aufweisen – vielleicht die gleichen Ziffern wie die Volkszählung.

[368] Die Welt ist klein. Bald nach dieser ›Adlergeschichte‹ kam ich im Grenzgebiete zwischen Bayern und Tirol zu einem Erlebnis, dem einige Bedeutung für meine zukünftige Stellung als Dramaturg des Ringtheaters in Wien nicht abzusprechen war.

Mit einem Freunde, der mich in Fall besuchte, unternahm ich einen Ausflug nach dem Achensee. An diesem grünblauen See war die Heimat der berühmten Tiroler Sängerfamilie Rainer, die den Volksgesang zu einer erfolgreichen Kunstform erhoben hatte und einen verdienten Weltruf besaß, den sie nun, nach vielen, einträglichen Sängerfahrten durch Europa und Amerika, praktisch bei der Führung zweier Hotels ausmünzte, in denen es immer von Gästen wimmelte. Diese Geschwister Rainer waren geborene Musikanten, packende Sänger, meisterhafte Gitarristen und Zitherspieler, jedes Mitglied der Familie ein Künstler von ursprünglicher Art. Was sie künstlerisch schufen, hat nicht bleibende Schule gemacht; es war ihr subjektives Können, ihr persönlicher Besitz, und ist mit ihnen erloschen und versunken. Als ich die Familie Rainer damals kennen lernte, war die berühmte Truppe schon ein bißchen in die Brüche gegangen. Eine der Schwestern regierte als Wirtin im Hotel [369] Pertisau. Und im Hotel Seehof zu Achensee präsidierte an der Table d'hote der Senior Rainer, eine prächtige, nur leider schon grau gewordene Andrä-Hofer-Gestalt, mit der klugen, musikalisch genialen Schwester Theres, die auch als Vierzigjährige noch mit dem heiteren Charme bezwingender Jugend wirkte und viele Herzen knickte.

Man wohnte im Seehof sehr gemütlich und wurde famos verpflegt. Eine sieghafte Attraktion für die Gäste und eine Gratiszugabe zur Pension waren die fidelen Sängerstunden, die allabendlich in einem hübsch dekorierten Souterrainlokal der Dependance abgehalten wurden, das mit Berechtigung den charakteristischen Namen ›Das süaße Löchl‹ führte. Wenn da die Zither schmeichelte und die seinen Lieder klangen, wurde so viel Sekt getrunken, daß sich diese künstlerische Gratiszugabe zur Pension für die Gäste in eine sehr kostspielige Sache verwandelte. Ich mußte schon am dritten Tage um Geld nach Hause telegraphieren.

Neben dem prachtvollen Liederklang und neben den unwiderstehlichen Zitherkünsten der Theres Rainer hatten die Abende und Nächte im süßen Löchl noch einen vielbewunderten Star: den jungen Kutscher Ludwig, einen schlanken, sehnigen, mit quecksilbernen Lebenskräften erfüllten Burschen, der [370] ein Schuhplattltänzer von seltener Meisterschaft und origineller Erfindungsgabe war. Wie die Rainertruppe den volkstümlichen Gesang zur Höhe der Vollendung erhoben hatte, so machte der junge Ludwig aus diesem derben, volkstümlichen Tanz eine wundervolle Sache, die man um ihrer Kraft und Grazie willen als Kunst bezeichnen mußte. Er war gut gewachsen, aber von Gesicht nicht schön, hatte hagere Züge, Sommersprossen wie Kupferkreuzer und vordringliche Backenknochen. Doch wenn dieser Ludwig tanzte, wurde er schön; da blitzte die Kraft seines jungen Lebens, und jede seiner Bewegungen wirkte hinreißend. Als Tänzer brach er die weiblichen Herzen, wie er wollte. Damals waren zwei junge, zierliche Engländerinnen, zwei Schwestern von neunzehn und zwanzig Jahren, so bis zum Irrsinn in diesen gaukelnden Adonis vernarrt, daß sie an jedem Morgen seine Arbeit im Stall verrichteten, um seinen müden Gliedern nach der durchtanzten Nacht ein paar Stunden notwendiger Ruhe zu bescheren.

Unter der Schar der Hotelgäste im Seehof befanden sich damals vier geheimnisvolle Personen, die man nie zu Gesicht bekam. Unter meiner Mansardenstube wohnten sie in zwei Zimmern und nahmen hier auch alle Mahlzeiten ein. Ein Verlangen [371] nach Spaziergängen oder nach Verkehr mit anderen Hotelgästen schienen sie nicht zu empfinden. Und an jedem erwachenden Morgen, wenn ich vom süßen Löchl kam und zu meiner Mansarde hinaufwanderte, standen vor der Mitteltüre dieser drei Zimmer vier Paar Schuhe, jedes Paar verschieden, zwei Paar Schnürschuhe für Herren, zwei Paar Stiefelchen für Damen – seines elegantes Schuhwerk, wie es weder in München, noch in Berlin fabriziert wurde.

Meine Neugier erwachte. Im Hotel war nichts zu erfragen. Nur der Hausknecht war ein kleiner Brunnen des Wissens – er konnte mir verraten, daß jedes der drei eleganteren Schuhpaare eine Wiener Firma, das vierte, etwas minder gelungene Produkt der Schuhmacherkunst eine Hamburger Marke an den Strupfen trug. Also: ein Wiener, zwei Wienerinnen und ein Hamburger. Diese nicht völlig klare, landsmannschaftliche Zusammenstellung mehrte meine Sehnsucht nach exaktem Wissen. Der Zufall im Bunde mit einem meiner leichsinnigen Streiche brachte mir die Aufklärung, die etwas überraschend auf mich wirkte.

Dicht neben dem Fenster meiner Mansardenstube ging zwischen vorspringenden Balkenköpfen des Holzfachwerkes der Blitzableiter herunter. Und [372] eines Morgens, als ich nach den lustigen Klangstunden im süßen Löchl eine Kahnpartie zu Ernüchterungszwecken gemacht und den reichlich verschluckten Sekt noch nicht völlig ausgedunstet hatte, kam ich in meiner animierten Verfassung auf den hirnrissigen Einfall, den Umweg über die vielen Treppen zu sparen und am Blitzableiter zum offenen Fenster meiner Mansarde hinaufzuklettern.

Die Sonne blinkte schon über die Berge auf den glatten See herunter, doch im Hotel war alles noch schlummerstille, als ich die Kletterei begann.

Im ersten Stockwerk stand das Fenster offen. Und das mußte eines von den drei Zimmern der vier Geheimnisvollen sein. Ich guckte in den Raum. Es war ein hübscher Salon. Sonst war irgend etwas Wissenswertes nicht zu sehen. Doch als ich weiterklettern wollte, stand ein Herr am Fenster, in hellen Beinkleidern und blauseidenem Nachthemd – ein gutkonservierter Vierziger mit energischem Schauspielerkopf mit einer schlanken, festen Nase in dem gescheiten Gesicht, das einen klugen Mund und geistvolle, heiterblitzende Augen hatte.

Mit beiden Händen seine Hüften fassend, guckte er verwundert drein und fragte in gemütlichem Wiener Dialekt: »Sie? Was machen S' denn da?« [373] »Eine Turnerübung.«

»Am Blitzableiter?«

Ich hielt es für notwendig, die verwunderliche Sache ein bißchen zu motivieren. »Weil ich unter dem Dach da droben wohne. Der Weg da hinauf ist der nächste in meine Stube.«

Er lachte, streckte den Kopf zum Fenster heraus und sah in die Höhe. »Da haben S' aber noch weit bis auffi. Möchten S' als verständiger Mensch net lieber umkehren?«

»Nein.«

Mit seinen klugen Augen betrachtete er mich forschend, während der Morgenwind die Falten seines blauseidenen Nachthemdes pludern machte. »Sie? Wer san S' denn eigentlich?«

»Gestatte mir, mich vorzustellen: Doktor Ganghofer aus München.«

Mein Name schien ihm eine heitere Verblüffung zu bringen. Lachend betonte er meinen Vornamen: »Ludwig Ganghofer? Der vom Herrgottschnitzer?«

»Zu dienen!«

»Na, so was! Da machen S' aber jetzt augenblicklich daß Ihnere narrischen Glieder am Boden kommen! Kraxeln S' abi! Flink!«

Der energische Ton dieser Aufforderung reizte [374] meinen Eigensinn. »Haben Sie mir vielleicht was zu befehlen?«

»Noch nicht, aber bald! Wir zwei haben doch Vertrag miteinander gemacht. Ich bin Ihr Direktor Franz Jauner vom Wiener Ringtheater.«

Der Inhalt der nächsten zehn Sekunden sieht in meiner Erinnerung wie eine sehr dunkle, konfuse Sache aus. Ich rutschte und sprang, war drunten auf festem Boden und entschloß mich nun doch als verständiger Mensch zum Umweg über die Treppe. Und völlig nüchtern war ich geworden.

Am Nachmittage machte ich meinem Herrn Direktor einen höflichen Besuch. Er nahm mir das Abenteuer am Fenster nicht übel, sondern sagte lachend: »Kraxeln S' nur auch in der Kunst so kuraschiert in d' Höh!« Dann sprachen wir von der Inszenierung des Herrgottschnitzers, der am Ringtheater im November aufgeführt werden sollte. Und da gewann dieser schneidige und unternehmungsflinke Theatermann in zehn Minuten mein Zutrauen und mein ganzes Herz. Was man ihm sagte, verstand er sofort und sah es auch gleich in besserer Form. Auf jede Anregung ging er ein, aus jedem guten Gedanken machte er rasch eine feste Sache, und die vier Worte »Das kostet zu viel!« schien er nicht zu kennen. Ich erinnere mich,[375] daß er sagte: »Wenn beim Theater was hereinkommen soll, muß es zuerst hinaus.«

Nach diesem Besuche verließ ich meinen Direktor in der glückseligen Sicherheit, daß man am Ringtheater mit dem Herrgottschnitzer ein Stück überzeugender Natur auf die Bühne stellen würde. Alle dekorativen Bilder sollten so gestaltet werden, wie ich es vorschlug, und die kostümliche Ausstattung sollte nicht in der Werkstätte des Theaterschneiders entstehen, sondern in bayerischen Gebirgsdörfern echt gesammelt werden.

Am Abend kam Franz Jauner mit dem Hamburger Theaterdirektor Pollini und zwei jungen Damen von verblüffender Schönheit zum Gratiskonzert in das süße Löchl. Und als da der Kutscher Ludwig seinen hinreißenden Schuhplattler tanzte und seine graziösen Räder schlug, sagte ich zu Direktor Jauner: »So einen, wie den da, sollten wir beim Hochzeitstanz im Herrgottschnitzer haben!«

»Sie, das is an Idee! Dös machen mer!«

Am anderen Morgen war der gaukelnde Star des süßen Löchls von Achensee für das Wiener Ringtheater engagiert.

Vergnügt wie ein Schneekönig wanderte ich zurück nach Fall. Und während der folgenden [376] vier Wochen rannte ich nimmer hinter den Hirschen und Gemsen her, sondern sammelte Bauernmöbel und gebirglerische Kostümstücke, die mit der Echtheit auch malerischen Reiz verbanden. Und alles, was ich an Brauchbarem aufstöberte, wanderte nach Wien – einem großen Feuer entgegen, in dem es zu Asche werden sollte.

Dann die letzten Tage daheim im Elternhaus. Vater und Mutter teilten die frohen Erwartungen, die mich selbst erfüllten. Keine drückende Abschiedsstimmung tauchte auf. Und Mama kochte mir nach der Reihe noch alle meine schwäbisch-bayerischen Lieblingsspeisen. »Weißt,« sagte sie, »daß du mir bei der guten Wiener Koscht nit ganz an Mutterles Tisch vergesse tuescht!«

Doch außerhalb meines Familienkreises verursachte meine Loslösung von München allerlei Schwierigkeiten. Ich hatte Schulden wie Heu. Zwei gute Freunde halfen. Alles Kleine wurde glatt geebnet, und so blieben hinter mir in München nur zwei fette Schuldposten zurück, die mit liebenswürdiger Geduld auf den Ausgleich warteten. Es hat ein dutzend Jahre gedauert, bis ich den letzten Knopf berappen und mich für alle Geduld meiner Freunde bedanken konnte. Ein Richard Wagner war ich nicht. Drum sind meine Schulden [377] nicht unsterblich geworden. Kleine Leute müssen bezahlen, was sie borgten.

Und nun die Reise! Sie war bei mageren Taschen eine Fahrt ins Blaue und galt mir doch als Reise in eine Zukunft, in der ich schöne leuchtende Berge des Lebens sah.

Wien!

Ich liebte Wien von der ersten Stunde an, in der ich es sah. Es ist mir eine zweite Heimat geworden, die mir reich und lachend gab, und blieb mir Heimat, auch als ich sie nach zwölf Jahren wieder verlassen mußte, bedrückt von Schmerz und müd auf Wegen schreitend, von denen ich nicht wußte, wohin sie mich führen würden. Und auch heute ist das noch immer so in mir: wenn ich Wien wieder sehen darf, und wenn der Zug einfährt in den Westbahnhof, bekomme ich das Herzklopfen einer zärtlichen Freude.

Was fesselte mich gleich so fröhlich an Wien? Schon bei den ersten Atemzügen in seiner Luft? Es war wohl jener Wert des Wienertums, der von einem Fremden am raschesten erkannt und drum auch am leichtesten falsch beurteilt wird: das Hängen der Wiener am heitern Leben, ihre Daseinskunst nach dem lehrreichen Worte »Leben und leben lassen!« Mir kam da mit glücklichem Lachen [378] etwas entgegen, was ich halb schon in mir selbst besaß. Und gastlich tat mir dieses Heimische die freundlichen Arme auf. Der erste Besuch, den ich am ersten Tag einer mir von München her bekannten Wiener Familie machte, dauerte von vormittags 11 Uhr bis um die Mitternacht. Als ich in schlafender Zeit aus dem Haustor auf die Straße trat, zog ein schlanker, flinker Mensch das Hütl und sagte freundlich: »Gnä Herr, dös hat aberlang dauert!« Es war mein Fiaker, an den ich im gemütlichen Schoß der Wiener Gastlichkeit völlig vergessen hatte. Ich lachte zu den fünfzehn Gulden, die das kostete – sie galten mir als willig erlegtes Sperrsechserl am Tore von Wien.

Die Freude am heiteren Genuß des Lebens mag zu weilen wie ein Dokument des Leichtsinns erscheinen. Aber sie ist auch ein Zeichen von irdischer Klugheit, von reifem, durch Kultur geschulten Verständnis des menschlichen Lebens und seiner eng gezogenen Grenzen, die zu erweitern und mit frohem Wert zu erfüllen der Mensch ein Recht besitzt. In allem Frohsinn des Wienertums hab ich immer solch ein Ernstes und Tiefes empfunden und gesehen. Das unverwüstliche Lachen dieser Stadt ist die abgeklärte Philosophie eines an den [379] Erfahrungen von Jahrhunderten gereiften Volkes. Wien, diese Heimat der zärtlichen und begehrsamen Nörgler wider sich selbst, ist die Heimat der verläßlichsten Lebensgläubigen, in denen ruhelos eine kostbare, schöne und vertrauensvolle Hoffnung brennt. Im Wiener ist Mozart und Johann Strauß; aber im Wiener ist auch Beethoven. Nur wer die Wiener nicht kennt, ist so töricht, sie oberflächlich zu nennen. Sie sind nachsichtig und geduldig, weil sie wohlwollend und hilfreich sind. In Wien fand ich die treuesten Freunde, deren Freundschaft aushielt fürs ganze Leben. In keiner Stadt, die ich zu sehen bekam, hab ich geistig anregende Stunden in solcher Fülle erlebt, wie gerade in Wien. Und ich leichtsinniger Bummler lernte in Wien das ernste, zähe und ausdauernde Arbeiten, nicht aus mir selbst heraus, sondern am nützlichen, den Ehrgeiz weckenden Beispiel der anderen – und an der Seite jener kleinen, klugen, gut und klar gearteten Wienerin, die meine Frau und die Mutter meiner Kinder wurde.

Als ich in Wien eintraf, war das Ringtheater schon eröffnet. Man spielte mit freundlichem Erfolg den ›Rattenfänger von Hameln‹, eine zwischen Operette und Singspiel baumelnde Sache mit einer graziösen Musik des jungen Hellmesberger. Aber [380] eine Woche verging, bevor ich das Ringtheater betrat. Mich lockten Dinge, die mir wichtiger erschienen als die Stätte meiner eigenen Wirksamkeit. Abend für Abend saß ich im Burgtheater. Das war noch im alten Haus am Michaelerplatz. Und die sieghaften Künstler, von denen die meisten schon versunken sind und nur wenige noch wie Säulen einer stolzen Vergangenheit in die Gegenwart hereinragen, waren damals noch jung oder noch in der Blüte ihres schönen Könnens: Krastel, Robert und Hartmann, Baumeister und Sonnenthal, Gabillon, Lewinsky, Meixner, Schöne und Thimig – die Wessely und Charlotte Wolter, die Hartmann, Zerline Gabillon, Frau Mitterwurzer und Stella Hohenfels. Und in einer Loge des dritten Ranges sah man noch das seine, geistvolle Gesichtchen der greisen Haizinger aus einer wunderlichen Bänderhaube heiter herauslugen.

Man muß jene Glanzzeit des Burgtheaters im alten Hause noch erlebt haben, um recht zu verstehen, was den Wienern ihr Burgtheater gegolten hat und noch immer gilt – um zu begreifen, wie sich das Beste des Wiener Lebens um dieses Theater als Kern und Angel drehen konnte. Das Burgtheater von damals war nicht Kunst in Wien, es war Wiener Kunst im edelsten Sinn des Wortes, [381] war Wien selbst, sein Herz und Pulsschlag, sein wahrheitgewordener Schönheitstraum und seine frohe Kraft. Was im Wienertum an Ernst und reizvollem Lachen war; was es hoffte und sann, was in ihm klang und trauerte; wie der Wiener ging und sich trug, wie er plauderte, wie er als Lebender nahm und gab; jeder Hauch seines Daseins, jeder Kern und Funke seiner Eigenart, jeder kostbare Wert seiner hohen und vornehmen Kultur – das alles sublimierte sich in der Kunst des Burgtheaters, wie auch im Kunstverständnis seines streng geschulten Publikums, zu blank geschliffener Form und zu goldhaltiger künstlerischer Tradition.

So war es einmal. Und so wird es, allen Schwankungen der letzten Jahrzehnte zum Trotz, auch wieder kommen. Und bald! Weil Wien, nach ein paar schwer erklärlichen Verstörtheiten seines Lebens, sich seiner selbst wieder zu besinnen beginnt. Ein auflebendes Wien bedeutet naturgemäß auch ein Aufleben des Burgtheaters.

Seit damals sind dreißig Jahre vergangen. Und noch heute kann ich den Rausch jener Abende im Burgtheater bis in jede trunken fiebernde Regung nachfühlen. Ich saß da immer zitternd, wie vor jubelnden Offenbarungen des Lebens. Und [382] war die Herbstnacht klar und schön, dann verträumte ich gern noch eine späte Stunde vor dem silberweißen Wiener Geheimnis der Votivkirche, an der noch die letzten Gerüste hingen.

Der ›Rattenfänger von Hameln‹ war im Ringtheater schon eine verleierte Sache geworden, als ich ihn mir endlich ansah. Der Besuch flaute schon ab. Und ich bekam im Sekretariate für mich und einen Freund, den ich mitnahm, eine seine Proszeniumsloge. Neugierig und behaglich guckte ich drein, immer mit dem sonderbar wohligen Gedanken: Ich gehöre dazu, das alles hier ist für mich ein Zuhause. Und keine Ahnung sagte mir, daß eine Minute dieses Abends über mein Schicksal als Mann entscheiden und den treuesten Wert meines Lebens vor mich hinstellen würde.

Ein geschmackvolles Haus, in dem man gerne saß; an ihm mißfiel mir nur, daß man zum Parkett über eine Treppe hinaufsteigen mußte. Eine große Bühne, auf der man seine Bilder mit guter Perspektive stellen konnte. Tüchtige Sänger und Schauspieler, ein Schwarm bildschöner Frauenzimmer, eine Aufführung von fleißiger Arbeit, und ein Stück, aus dem eine findige Regie mehr herausgeholt hatte, als in ihm steckte. Ich trug die Burgtheaterstimmung in mir, hatte viel erwartet und [383] war ein bißchen enttäuscht. Doch ich sagte entschuldigend: »Auch beim Theater ist das Anfangen eine schwere Sache.«

Da begann der dritte Akt. Und zur Tochter des Bürgermeisters von Hameln, welche Braut geworden, kommt eine Freundin zu Besuch, eine kleine, zierliche, heitere Blondine – und frägt: »Darf ich auch deine schönen Sachen anschauen?« Beim Klang dieser warmen, herzlichen Stimme, die nicht wie Theater, sondern wie Natur und Leben berührt, muß ich verwundert aufblicken. Auf dem Zettel steht: »Eine Bürgerstochter – Kathinka Engel.« Und mein Glas zeigt mir in einem lieben, runden Gesicht zwei klare, kluge Augen, ein zartes, keckes Näschen und einen Mund, der heiter ist und doch ein bißchen streng.

Was war in mir? Auf dem Wege durch mein Blut war es nicht gekommen. Auch durch keinen bewußten Gedanken. Vielleicht durch ein unbewußtes Gefühl des Vertrauens und der gläubigen Sicherheit? Durch eine leise, nur traumhaft fühlbare Mahnung des wohlwollenden Lebens, das mich beschenken wollte mit einem verläßlichen Glück?

Das ist Wahrheit: es gibt Menschenkinder, in deren Nähe man plötzlich ein besseres und verständigeres[384] Geschöpf wird, als man vor einer Minute gewesen.

Solch ein segenbringendes und aufwärts führendes Menschenkind war dieses zierliche, blonde Wiener Mädel. Diese Wahrheit muß ich damals beim ersten Blick als überzeugende Ahnung in mir empfunden haben. Denn ich hatte dieses Mädchen noch nie gesehen, hörte ein fremdes und mir dennoch gleich vertrautes Stimmchen acht kleine, ferne Worte sagen – und klammerte erregt die Hand um den Arm meines Freundes: »Du! Wenn die noch zu haben ist, die muß meine Frau werden!«

Mein Freund lachte: »Geh, du Narr!«

Den ganzen Abend blieb eine wunderliche Versonnenheit in mir. Dann schlief ich fest. Am Morgen betrachtete ich das unerklärliche Erlebnis des vergangenen Abends mit einiger Konsternation. Und bei ›vernünftiger Überlegung‹ begann ich der Meinung meines Freundes recht zu geben: daß ich ein überspannter Narr wäre! »Und wenn du willst? Wird sie denn wollen?« Im Bett sitzend, nahm ich den Kopf zwischen die Fäuste. »Du? Und heiraten? Wie willst du denn das machen? Du bist nichts und hast nichts! Und wo nichts ist, da hat nicht nur der Kaiser, auch das Herz alles Recht verloren.« Mit dieser nüchternen Rechnung [385] begann ich mir auszureden, was so unbegreiflich sein und zärtlich in mir glomm und zitterte.

Ich wollte vergessen. Und ich unterließ auch jeden Versuch, die persönliche Bekanntschaft dieser für meine Ruhe und Freiheit höchst gefährlichen jungen Dame zu machen.

Ein übermütiges Drauflosleben begann. Ich verwienerte nach jener billigen Seite hin, die nur wienerisch aussieht, ohne wienerisch zu sein. Es ist jenes Wienertum, das ein Zugereister immer so hurtig fertig bringt, wie er sich Wiener Schuhe und ein Wiener Hütl kauft.

Wohlig pritschelte ich in der lustigen Theatergesellschaft, in die ich geriet. Und vielleicht wär' ich da auf eine schiefe Rutschbahn gekommen, wenn ich in Wien nicht ein Stück Münchener Heimat gehabt hätte, das mich festhielt. Freund Richard Alexander war am Stadttheater, Konrad Dreher und Hans Albert waren vom Münchener Gärtnerplatz an das Ringtheater übersiedelt. Wir viere hielten gemütlich zusammen, zu unserem Kreis gesellten sich ein paar heitere Wiener, und da gab's nach den Theaterstunden sidele Nächte in Vaters Weinstube, die in einem dunklen Winkel hinter der Kärntnerstraße lag. Damals kam das Hypnotisierungsfieber nach Wien. Ein junger Komponist in [386] unserem Kreise war Hypnotiseur, der lange Konrad Dreher war das willigste Medium, das man sich wünschen konnte – wenn alle anderen Gäste sich aus Vaters Weinstube verzogen hatten, wurde Konrad Dreher in Trance versetzt für die Ausgabe, in der Hypnose alle Tische und Bänke des Lokals mit seiner großen Nase umzuwerfen. Der alte, geduldige Wirt, der nie ein Spaßverderber war, sagte staunend: »Es is merkwürdig, was a Mensch firti bringt, wann 'r urdntli antaucht.«

Stand im Burgtheater etwas mir Neues auf dem Zettel, so war ich drin. Die übrigen Abende gehörten den anderen Theatern. In der Oper hörte man prachtvolle Stimmen: Scaria, Walter, Rokitanski, Müller und Sommer, die Bianchi, Materna, Ehnn, Kupfer und Pauline Lucca. Im Stadttheater, wo Bukovics, Alexander, Tyrolt, die pompöse Frank und die hübsche Jenny Groß waren, wurde bei bürgerlichem Repertoire noch mit einem Reste Laubescher Tradition gespielt. Auf einer Probe, bei der ich zuguckte, erschien der alte eiserne Herr. Heinrich Laube! Eine Zeit! Ein menschgewordenes Kapitel deutscher Geschichte und Literatur, der abgedankte Löwe des Burgtheaters! Mir schlug natürlich gleich das Herz bis in die Kehle heraus. Und als ich ihm vorgestellt wurde, [387] erbat ich mir die Freude, ihn besuchen zu dürfen. Er sagte knurrig: »Wenn Sie glauben, daß Sie es nicht unterlassen können, in Gottesnamen!« Ich unterließ es. Man muß die Wünsche anderer Menschen nach Möglichkeit zu erfüllen suchen.

Im Theater an der Wien begann der junge Girardi die Herzen von Österreich zu erobern, dieser Grazer Schlosserbub, der als Mensch und Künstler zum vollendeten Typus des elegisch-heiteren Wieners wurde. In der Josefstadt wurde »Der Böhm in Amerika« noch ferne von den Schatten des Nationalitätenhaders als liebenswürdige Drollerie goutiert. Das Fürsttheater im Prater zehrte noch von Kaiser Josefs edlem Blut. Und im Carltheater, das unter Teweles Leitung stand, war eine Wiener Sensation in Aussicht: ein Gastspiel der Josephine Gallmeyer. Ich besaß einen Empfehlungsbrief an die berühmte Künstlerin. Auf der Bühne hatte ich sie noch nie gesehen. Aber ich wußte viele Anekdoten von ihr – auch solche, die nur in Herrengesellschaft erzählt wurden. Da war ich begreiflicherweise sehr neugierig. Ich fand eine reife, schon etwas in die Breite gegangene Dame. Doch ihren Mangel an äußerlichen Reizen vergaß man, sobald sie nur fünf Worte gesprochen hatte. Jeder [388] Laut, jede Bewegung an ihr war fesselnde Natur, ihr Lachen eine bezwingende Macht. Und Augen hatte sie wie gaukelnde Sterne; sie sprühten von heiterem Feuer und konnten plötzlich wunderlich ernst und traurig werden. Auch kokettierte sie ein bißchen spöttisch mit dem ›alten Eisen‹, das sie für die Wiener schon wäre. Ich mußte zu ihr sagen: daß ich mir gerne zehn Jahre aus meinem Leben herausschneiden ließe, um sie bei ihr nach der Jugendseite hin wieder anzustückeln. Sie lachte: »Geh, Sie Schnaberl!« Dann schwieg sie, betrachtete mich prüfend, fuhr mir plötzlich mit beiden Händen in den dicken Wust meines blonden Haarwaldes und sagte mit heiterem Seufzer: »Schad, daß i jetzt net um zwanzg Jahr jünger bin!« Mir wurde ein bißchen schwül. Aber die Besuchsstunde ging heiter und gefahrlos vorüber. Und als ich mich verabschiedete, nahm mich Josephine Gallmeyer unter der Türe beim Ohrläppchen und gab mir noch einen guten Rat: »Sie! Andere Hemdkrägen müssen S' tragen! Über so was Vorsintflutliches, wie Sie da haben, lacht ma in Wean!« Ich trug damals den Münchener ›Künstlerkragen‹, der bis über den Adamsapfel herunter ausgeschnitten war und nach zwei Seiten abstand wie ein gestärkter Vatermörder. Es war mir auch [389] schon aufgefallen, daß ich mit diesem Hemdkragen überall auf der Straße Aufsehen erregte. Und im Freundeskreise begann man mich um dieses Kragens willen die Münchener ›Leinwandtulpe‹ zu nennen. Doch kein Gelächter ließ mich an dieser schöngeschwungenen Sache irr werden. Ich wahrte und verteidigte die Kragenmode der Münchener Bohéme mit obstinatem Eigensinn.

Mitte Oktober gab es im Ringtheater einen schauspielerischen Leckerbissen. Friedrich Mitterwurzer, der zu Jauner kommen sollte, spielte vorerst als Gast in einer Matinee den Figaro in der Komödie des Beaumarchais. Ich hatte Mitterwurzer noch nie gesehen. Gleich in der ersten Szene faßte er mich an Hals und Blut und Seele. Ich saß der blitzenden Kraft seiner originellen Darstellungskunst als ein staunendes Kind gegenüber und zitterte wie ein Kaninchen vor dem Auge der Schlange. In Wien waren sie damals nicht ganz mit ihm zufrieden; man warf ihm vor, er hätte sich bei der Vagabondage seiner Gastspielreisen und seines häufigen Theaterwechsels ein bißchen verwildert. Mir erschien er als ein Gipfel der Schauspielerei.

Nach dieser seinen Sache servierte Franz Jauner wieder bürgerliche Hausmannskost: den ›Kompagnon‹ [390] von L'Arronge, mit dem Berliner Komiker Thomas, der die Wiener lachen machte, ohne sie völlig gewinnen zu können.

Und dann kam die Leseprobe zum Herrgottschnitzer. Jauner war sehr nett, hielt vor Beginn der Probe eine kleine Rede und sprach den Wunsch aus, »daß das einfache, aber gesunde Stück in Wien den gleichen Erfolg wie draußen im Reiche finden möchte«. Zum Schluß sagte er: »So, lieber Doktor, und jetzt machen S' mit uns, was Sie für richtig halten. Jeder von uns wird sich's angelegen sein lassen, Ihren Intentionen nachzukommen.«

Ich hörte nur halb. Denn ich fühlte schon wieder jene wunderliche Gefahr für meine Freiheit und Ruhe. Unter der Künstlerschar, die den Herrgottschnitzer in Wien lebendig machen sollte, befand sich jene zierliche, blonde ›Bürgerstochter‹ aus dem Rattenfänger von Hameln. Bei allen Mitgliedern des Ringtheaters hatte ich höflich meine Visitenkarte abgegeben – nur bei dieser Einen nicht. Und allen Schauspielerinnen, die im Herrgottschnitzer beschäftigt waren, ließ ich mich durch den Direktor vorstellen – nur dieser Kleinen nicht. Ich war ihr in einem sonderbaren Angstgefühl aus dem Wege gegangen. Aber nun stand sie da und sah mich verwundert an. Und es fiel mir auf, daß[391] die Schauspieler sich mit einer im kameradschaftlichen Verkehr des Theaters ungewöhnlichen Höflichkeit gegen diese junge Kollegin benahmen. Keiner kam zu ihr mit den Scherzen, wie sie hinter den Kulissen üblich sind. Sie schien eine Ausnahmsstellung einzunehmen und doch bei allen Mitgliedern des Theaters beliebt zu sein.

Die Leseprobe begann. Mit allen, die in dem Stück beschäftigt waren, hatte ich über die Auffassung der Rolle zu debattieren. Nur zu dieser einen Kleinen sagte ich kein Wort. Man hatte ihr eine Rolle übertragen, die nicht viel größer war als ihr winziges Näschen. Sie las die paar Worte frisch, heiter und natürlich. Ich schwieg.

Nach der Probe kam sie resolut auf mich zu. »Herr Doktor? Sie haben bei mir gar keinen Einwand gemacht. Ich möchte aber doch gerne wissen, ob Ihnen die Art, wie ich die Rolle las, auch entsprochen hat?«

Ruhig lächelnd, in ihrer blühenden Jugend, stand sie vor mir. Sie war nicht kostbar gekleidet; ganz einfach. Ein Waschkleidchen, weiß und kupfergrün gestreift, mit grünen Aufschlägen. Aber das Fähnchen saß der zierlich modellierten Figur wie angegossen. Über dem welligen Blondhaar trug sie einen schmucklosen Hut mit breiter Krempe. Ich [392] mußte mich ein bißchen bücken, um unbehindert in den Schatten dieses Hutes hineingucken zu können. Und während ich in diese klaren, heiteren Augen blickte, sagte ich leise: »Fräulein! Sie können lesen, wie Sie wollen: mir werden Sie immer gefallen.«

Über das liebe Gesichtl flog ein heißes Rot. Dann wurden die heiteren Augen ernst und groß. Und schweigend wandte sie sich von mir ab und ging davon.

Bei den Bühnenproben, die ein paar Tage später begannen, sahen wir uns wieder. Doch während die reizvolle Weiblichkeit, die da versammelt war, sich gegen mich als Regisseur sehr liebenswürdig zeigte, hielt sich die zierliche Blonde immer fern von mir, als könnte sie ein unbehagliches Mißtrauen gegen mich nicht überwinden. Ich begann mich ein bißchen zu ärgern.

Nun trat auch der ländliche Tanzkünstler, dieser Ludwig vom Achensee, in Aktion. Als er zu seiner ersten Probe kam, sagte ich zu ihm: »Wählen Sie sich die Tänzerin, von der Sie glauben, daß sie die Sache am besten macht.« Die zwanzig hübschen Frauenzimmer mußten die Hände in die Hütten stemmen und sich drehen. Ludwig musterte sie mit Kennerblick und wählte lang. Dann deutete [393] er mit der schwieligen Hand und sagte: »Dö da hmt, dö gar net füri mag, dö taat mer am besten taugen.« Es war die kleine Blonde. Die Wahl freute mich. Solch ein Naturmensch, wenn er zugreift, hat immer eine merkwürdige Witterung für gesunde Lebenswerte. Diese Wahl gab dann Veranlassung zu mancherlei Heiterkeiten. Der Achen, seer verliebte sich bis über die Ohren in seine zierliche, graziöse Tänzerin. Aber diese blonde Wienerin war nicht in England geboren. Um ihr junges Herz zu rühren, dazu genügte es nicht, kecke Purzelbäume und übermütige Räder zu schlagen. Das mußte nicht nur der Ludwig vom Achensee, sondern auch der Ludwig in mir selbst erfahren. Um ein Scheffelsches Wort zu gebrauchen: »Es hatte mich!« Aber meine Sehnsucht fand keinen Weg, auf dem sie vorwärts kam. Aufs Hofmachen verstand ich mich nicht, nur aufs lachende Zugreifen. Und diese flinke Lebenskunst versagte da zum erstenmal. Meine Seelenstimmung wechselte zwischen Verzweiflung und Wut. Aber diese zwei heiteren Mädchenaugen, wenn sie plötzlich so ernst und groß wurden, bauten immer eine Schranke, über die man sich nimmer hinüberwagte.

Schließlich nahm das ganze Künstlerpersonal [394] des Herrgottschnitzers barmherzigen Anteil an meinem Liebeskummer. Aber wenn meine Herzenshelfer die ser kleinen strengen Wienerin eindringlich zuredeten, lächelte sie erheitert. Und wenn die bildhübschen Frauenzimmer, die da in Masse vorhanden waren, mit sich schöntun ließen oder sich zärtlich zu mir stellten, um die blonde Spröde ein bißchen eifersüchtig zu machen, dann schien sie nicht zu sehen, was nur geschah, damit sie es sehen sollte.

Ich hatte da Geister zu Hilfe gerufen, von denen ich nicht alle wieder los wurde. Dieses Geschwirre, das immer um mich herum war, machte mich schließlich auf den Proben ungeduldig, nervös und grob. Und eines Vormittags, als ich während einer Spielpause mit dem Inspizienten was zu reden hatte, kam wieder – wie ich glaubte – eine von diesen Liebenswürdigen und legte die Hand auf meinen Arm. In wütender Gereiztheit fahr ich auf: »Meine Ruh will ich haben! Zehn Schritte vom Leib! Bei der Arbeit auf der Bühne gibt es für mich keinen Unterschied zwischen Manndl und Weibl!«

Da sahen mich erschrocken, entgeistert und empört die Augen meines lieben Mädels an.

»Verzeihen Sie, Herr Doktor!« sagte sie mit [395] ganz erloschenem Stimmchen. »Aber Sie irren sich. Ich wollte nur etwas fragen wegen meines Kostüms.«

Als sie davonging und von der Bühne verschwand, wurde mir weh und kalt ums Herz herum. Ich wußte: jetzt hab ich den Pfad meiner Hoffnung gründlich verschüttet.

Tags darauf mußten die Proben zum Herrgottschnitzer abgebrochen werden, um die Bühne für das Gastspiel der Sarah Bernhardt und ihrer französischen Truppe zu räumen. Dieses Gastspiel wurde für Wien aus doppelten Gründen ein aufregendes Ereignis. Erstens: die Sarah Bernhardt für sich. Und zweitens: man nahm in Wien dieses Gastspiel als einen Rivalitätskampf der Pariserin wider die von den Wienern vergötterte Charlotte Wolter. Das Ringtheater war für die zehn Abende ausverkauft bis auf den letzten Platz.

Ich hatte für die Dauer des Gastspiels einen seinen Parkettsitz. Aber ich verschenkte ihn, um droben auf der Galerie, wo Direktor Jauner zwei Bänke für die Mitglieder seines Theaters reserviert hatte, Abend für Abend neben der kleinen blonden Wienerin sitzen zu können, die sehr höflich gegen mich war, aber den kühlen Luftraum, mit dem sie sich umgab, um keinen Grad erwärmen [396] ließ. An einem dieser Abende kam es bei mir zu einem bösen Paroxismus meines Kummers, meiner Ungeduld und meiner Wut. Und der gute Konrad Dreher, der mein Leiden sah und mir helfen wollte, machte dem unbarmherzigen Fräulein eine schreckliche Szene, während Sarah Bernhardt als Froufrou auf der Bühne zwitscherte. Die kleine Wienerin sah den zürnenden Freund und Komiker verwundert mit den groß und ernst gewordenen Augen an – und schwieg.

Bei dieser trostlosen Zerrissenheit meines Herzens blieb die stupende Kunst der berühmten Pariserin für mich eine halbe Wirkung, fast eine ferne, wirr umnebelte Sache. Manchmal rüttelte mich der süße Schmelz ihres Tones aber doch zum Schauen auf, und dann konnte ich für eine Viertelstunde meiner selbst vergessen, um die Grazie ihrer Erscheinung und ihrer schlangenlinden Bewegungen zu bewundern, die elegante Reinheit und das Geschliffene ihres schauspielerischen Stils, ihren stürmenden Redestrom in der Tragödie, dieses unbeschreibliche Gezwitscher im Konversationsstück, diese plaudernde Poesie des in seiner Schlankheit zärtlich sprechenden Körpers, den Feuertraum dieser großen Augen, die eminente Technik und den blitzenden Farbenzauber ihrer geistreichen Einfälle, [397] bei denen wirkliche Kunst und äußerliche Mache sich untrennbar miteinander verschmolzen.

Doch über allem, an was ich mich da erinnere, liegt es wie ein Schleier, unter dem mir das einzelne verschwimmt. Am deutlichsten blieb mir der schauspielerische Trick im Gedächtnis, mit dem der Pariser Star die Schlußszene eines schwachen Stückes, der ›Sphinx‹ von Oktave Feuillet, sensationell aufzuputzen verstand. Die Heldin vergiftet sich. Sie heißt Blanche und ist in schwarzen Samt gekleidet, mit einer grauen Tüllfahne um die Schultern. Auf schwarzgedecktem Tische wird ihr elegant und stilvoll in Silber der letzte Tee serviert. Neben diesem schwarzen Tisch im Lehnstuhl ruhend, nimmt sie das Gift, will in Schönheit sterben, und windet, um den Krampf des Gesichtes zu verhüllen, den Schleier in dichter Fülle um den Kopf. Dabei erlischt ihre letzte Kraft, die beiden Arme sinken vom verschleierten Gesichte seitwärts auseinander, die eine Hand fällt mitten in das silberne Geschirr hinein, eine hohe Kanne wird umgestürzt, und über den schwarzen Tischteppich und über den schwarzen Schoß der Entseelten fährt rasch und kalt diese weiße Schlange der verschütteten Milch herunter. – Das mag, nur erzählt, ein bißchen komisch berühren.

[398] Doch wie dieses Bildliche auf der Bühne wirkte, das läßt sich nicht schildern. Man schauderte und glaubte dennoch etwas Schönes zu sehen. Und hatte die überzeugende Empfindung: »Das ist Tod!«

Eine große Künstlerin! Aber das Kleine, das ich da von ihr erzählte, ist vielleicht ein wesentliches Charakteristikum für die Art ihrer Kunst. Für eine Tasse Thee braucht man im wirklichen Leben ein winziges Kännchen Rahm – für diesen letzten Tee der Sarah Bernhardt als Blanche war eine große Silberkanne mit drei Schoppen einer ganz besonders weißen Flüssigkeit unentbehrlich.

Neben der Sphinx und der Froufrou, die sie selber war, gab sie in Wien noch die Kameliendame, die Adrienne Lecouvreur, die Donna Sol in Hernani und wollte – als Dolchstoß gegen das Burgtheater-auch die Phädra spielen, die eine der berühmtesten Rollen der Charlone Wolter war.

Die Wiener ließen sich zuerst nur widerstrebend von den funkelnden Goldnetzen dieser Pariserin einfangen. Aber dann gab es im Ringtheater Beifallsstürme, wie man sie auch in dem begeisterungsfähigen Wien noch nicht oft gehört hatte.

[399] Die Getreuesten der Wolter schäumten vor gerechtem Zorn über die ›Undankbarkeit der Wiener‹. Und heißer mit jedem Tag entwickelte sich die von der ganzen Stadt geführte Debatte: wer von den beiden die größere wäre, diese Sarah oder ›unsere Charlotte‹. Und die Wiener hatten recht, wenn sie sagten: bei der Bernhardt ist das Wirksamste ein Äußerliches, das Beste der Wolter ist innerliche Glut. Zu einem Entscheidungskampf auf den Brettern kam es nicht. Direktor Jauner hatte der berühmten Gastin das höchst Gefährliche dieses Unterfangens, in Wien als Phädra mit der Wolter zu konkurrieren, eindringlich und mit sorgenschwerem Herzen vorgestellt. Und so mußte der Darsteller einer kleinen Rolle – wenn ich nicht irre, hieß er Monsieur Gally – im Luftzug der Wiener Ringstraße heiser werden, um eine Absage der Phädra im Ringtheater zu ermöglichen. Sarah Bernhardt konnte sich ohne Verstimmung und Schatten der tobenden Beifallsstürme ihrer Abschiedsvorstellung erfreuen. Und als Charlotte Wolter noch während der gleichen Woche im Carltheater zu wohltätigem Zweck ihre berühmte Phädra spielte – der Meißel Viktor Tilgners hat sie in dieser Rolle verewigt – da gab es einen Heimatsjubel mit Lorbeermassen und Verzückungen, [400] die allen Beifallsrausch, wie er im Ringtheater getobt hatte, zu einer bescheidenen Kleinigkeit machten. Ein Wolterschwärmer schüttete bei der denkwürdigen Vorstellung im Carltheater von der Galerie ein Tausend rosenfarbener Zettel mit einem begeisterten Sonett herunter, dessen Moral mir im Gedächtnis blieb: »Wir wollen jener fremden Frau nicht Lob und Gunst beschneiden; die Kunst hat kein Vaterland; aber unser Vaterland hat seine Kunst, der wir froh und dankbar die Stirn mit dem verdienten Lorbeer umwinden.«

Aller Lokalpatriotismus hat einen leisen Zug von unwillkürlicher Komik im Gesichte; aber er hat in diesem Gesicht auch schöne, ehrliche und treue Augen. Und stolz zu sein auf das Beste ihrer heimatlichen Kunst – dazu hatten die Wiener damals Recht und Ursache. Auch ich, als Fremder in Wien, hätte die heilig erschütternde Phädra der Wolter nicht hingegeben für die Phädra der Sarah Bernhardt – die ich um der Heiserkeit des Monsieur Gally willen freilich nie gesehen habe. Aber auch an Gott muß man glauben, ohne daß man seine heiligen Werte durch Vergleich mit einem Konkurrenten höher schätzen lernt.

[401] Aus den aufregungsvollen Tagen der Sarah Bernhardt im Ringtheater hab' ich noch ein paar persönliche Erinnerungen zu registrieren.

Ignaz Brüll, bei dem man nach Art und Aussehen eher auf einen jovialen Universitätsprofessor als auf einen Musiker geraten hätte, wollte von mir, als ich noch in München saß, das Libretto für eine heitere Oper haben. Ich schlug ihm dann, als ich in Wien war, das Grimmsche Märchen vom treuen Johannes vor, das ich mit ein paar eigenen Motiven durchwob. Der Vorschlag gefiel ihm; nur sollte das Buch, das ich mit dem Tod und der Leichenfeier des alten Königs einleiten wollte, einen andern Anfang bekommen. Brüll sagte: »Ich kann doch nicht eine heitere Oper mit einem Trauermarsch beginnen.«

»Warum denn nicht? Ich meine, daß man gerade die Heiterkeit am wirksamsten aus einem Dunkel des Lebens herausschält.«

Wir zerzankten uns, und es wurde nichts aus der Sache. Aber ich hatte ihr eine wertvolle Bekanntschaft zu danken. Eines Nachmittags führte mich Brüll in ein Kaffeehaus auf dem Kohlmarkt. Wir fanden da zwischen ein paar Leuten, an die ich mich nicht mehr erinnere, einen untersetzten, breitschultrigen Mann mit einem rötlich [402] gebarteten Haupte, halb Zeus und halb Wotan. Als ich ihm vorgestellt wurde, nickte er wie einer, der was ist und verlangen kann, daß man es weiß. Aber ich kannte ihn nicht. Und ein Freund von schweren Gesprächen schien er zu sein. Nach zwanzig Worten waren wir bei Spinoza und Kant. Was er sagte, hatte wuchtiges Fundament. Ein Gelehrter? Nein. Doch wohl ein Künstler! Es war etwas Freies, Festes und Herrschendes in seinem Blick. Ich riet auf einen Bildhauer, der berühmt sein mußte, ohne daß ich seinen Namen zu erraten vermochte. Als er ging, fragte ich Brüll: »Wer war das?«

»Johannes Brahms.«

Mir verschlug's den Atem. Und da hatte ich nun seit zwei Jahren sein radiertes Porträt, das ich mir aus einer Zeitschrift herausgeschnitten, in meiner Stube hängen. Die Bildnisse berühmter Menschen sind eine unzuverlässige Sache.

Vorwurfsvoll murrte ich: »Warum haben Sie mir denn das nicht gesagt?«

»Damit Sie nicht über Musik mit ihm sprechen.«

Und neben diese Geschichte meiner ersten Begegnung mit Brahms will ich gleich das Bild der letzten stellen. Das war viele Jahre später, bei Max Kalbeck. Der gab ein Festmahl zu Ehren [403] eines berühmten Quartetts. Und zwischen den gefeierten Geigern saßen Johann Strauß und Max Burckhard. Zu oberst an der Tafel Meister Brahms, mit abgezehrtem Körper, das Gesicht vergilbt von dieser unerbittlichen Krankheit. Ich unten am Tische neben dem Bratschisten des Quartetts. Der sprach zwei Stunden lang nur von seinem Instrument. Bei aller Verehrung und Höflichkeit machte mich das ein bißchen müde. Und als der schwarze Kaffee serviert wurde, rief plötzlich Johannes Brahms über die lange Tafel zu mir herunter: »Ganghofer!« Und winkte. Ich rannte zu ihm hinauf: »Meister?« Da nahm er mich bei der Hand und sagte: »Kommen Sie her da, Sie Ärmster! Setzen Sie sich zu mir! Ich seh doch, der da drunten bohrt Ihnen mit seiner Bratsche ein Loch in den geduldigen Bauch!«

In allen großen Menschen ist ein großes Mitleid.

Noch ein anderes Gesicht steigt herauf aus jener ersten Wiener Zeit. Trotz der guten Lehre, die mir Heinrich Laube erteilt hatte, mußte ich doch zu einem gehen, den ich verehrte: zu Julius von der Traun, dem Dichter des Schelm von Bergen. Ich fand einen seinen, liebenswürdigen alten Herrn, der beinahe blind war. Aber das merkte ich erst, nachdem er schon eine Stunde freundlich mit mir [404] geplaudert hatte. Und ich würde es überhaupt nicht gemerkt haben, wenn er nicht selber davon gesprochen hätte, mit der leisen Klage, daß ihm das Arbeiten schwer fiele.

»Ich sehe die Buchstaben nimmer, die ich schreibe.«

»Haben Sie nie versucht, zu diktieren?«

Er schüttelte den Kopf, »Das geht nicht. Künstlerisches Schaffen ist immer so was Ähnliches wie Liebe und glückliche Ehe. Wenn Mann und Frau da zärtlich miteinander werden, wollen sie doch keinen haben, der ihnen zuguckt.«

In meiner Erinnerung an diese Wiener Stunde bei dem halb erblindeten Reichsrat Schindler ist ein Duft nach alten, schönen Dingen.

Heiß zog es mich zu Ludwig Anzengruber. Aber ich predigte mir Geduld und sagte: »Studiere zuerst gut und tüchtig dein Stück ein, und dann geh zum Meister und bitte ihn, deine Lehrlingsarbeit anzusehen!«

Während des Gastspiels der Sarah Bernhardt machte ich mir nach den Abenden, die mein Herz marterten, noch saure Nächte. Wenn um zehn Uhr das Pariser Froufrou verraschelte, begannen die Dekorations- und Beleuchtungsproben zum Herrgottschnitzer, die manchmal bis zwei und drei [405] Uhr morgens dauerten. Ich hatte mir's in den Kopf gesetzt, die Bühnenbilder natürlich bis aufs Tüpfelchen auszuarbeiten. Schließlich hätte ich zufrieden sein können. Aber ich war's noch immer nicht. Und auf den letzten Proben gab es allerlei Verdrießlichkeiten mit den Damen, die sich gegen meine Kostümvorschriften sträubten. Nur die kleine spröde Blonde verursachte mir keinen Ärger und zog sich gewissenhaft so an, wie ich es haben wollte. Die anderen, namentlich die vom Chor, wären gern in seidenen Röckelchen und Battistschürzen gekommen, in gestöckelten Schucherin mit durchbrochenen Strümpfen, in seinen Frisuren und mit Simpelfranzen, die damals Mode waren. Aber da gab's keinen galanten Pardon. Und eine feste Hilfe hatte ich an Franz Jauner, der immer das Rechte und Echte wollte. Aber weil ich auch auf der Generalprobe noch immer was zu bessern fand, verlor schließlich auch der willige Direktor die Geduld, und es gab einen fürchterlichen Skandal. Wir beide fahren aufeinander los wie rabiate Wölfe. Ich sagte mir: »Jetzt kannst du abfahren von Wien, mit dem Wohlwollen deines Direktors hat's ein Ende!« Doch eine Viertelstunde später schlug er mich lachend auf die Schulter: »Sie, Ganghofer, passen S' auf die Premier' [406] macht sich! A Rauferei auf der Generalprob is allweil die sicherste Garantie für an Erfolg.«

Ich atmete wieder auf. Und am Nachmittag, mit einer Logenkarte bewaffnet, ging ich zu Anzengruber. Er wohnte in der Wiedener-Vorstadt. Mit einem Gefühl der Ehrfurcht betrat ich das alte, ein bißchen dustere Haus. In der Küche fand ich eine Frau, welche wusch. Ich fragte, ob ich den Dichter sprechen könnte: Ja, und ich sollte nur gradaus gehen, er wäre schon drin. Mir hämmerte das Herz bis in den Hals herauf, als ich nach schüchternem Klopfen die Tür öffnete. Scharfer Tabakgeruch quoll mir entgegen. Wie ein grauer Nebel war's vor meinen Augen. In meiner Erinnerung seh' ich ein Fenster und einen großen Raum. In der Mute ein langer Tisch mit Büchern und Zeitschriften. Neben dem Fenster stand der Schreibtisch, von dem sich Anzengruber erhob, mit langer Pfeife. Der vorgestreckte Bart und die scharfe Hakennase hatten weiße Lichtlinien von der Fensterhelle. Der Dichter schien über die Störung, die ich brachte, sehr unwillig. Ich hatte eine Stunde getroffen, in der ich unbequem erschien.

Stammelnd brachte ich's heraus: ich wäre der und der, jetzt würde in Wien meine Erstlingsarbeit aufgeführt, und es wäre mir eine große [407] Freude und Ehre, wenn Meister Anzengruber sich die Premiere meines Stückes im Ringtheater ansehen möchte.

»Na!« Anzengruber schüttelte den Kopf daß sich die Welle seines Bartes bewegte. »Wann i a Stuck sehgn will, schreib i mer selber aus.«

Ich drehte mich erschrocken auf dem Stiefelhaken um. Wie ich auf die Straße hinunterkam, das weiß ich nimmer. Und drunten rannte ich ins Blinde hinein. Diese Abfuhr tat mir so grausam weh, daß ich hätte heulen mögen. Es dauerte lang, bis ich ein bißchen ruhiger wurde. Dann sagte ich mir: »Du weißt doch, wer er ist! Vielleicht hat ihm dein ungerufener Besuch eine wertvolle Stunde kaput gemacht, vielleicht hast du ihm einen kostbaren Gedanken in Fetzen gerissen.« Ich dachte an die unverblümte Weisheit Heinrich Laubes. Und für die Folge hab ich mir's abgewöhnt, berühmte Leute zu besuchen, weil ihre Bekanntschaft mir von Wert erschien. Solche Einseitigkeit der Auffassung ist kein zureichender Grund für Belästigungen beschäftigter Menschen.

Die Freude an meiner Premiere im Ringtheater war mir versalzen. Ohne sonderliche Erwartung ging ich ins Theater. Erst der glückliche Verlauf des Abends machte mich wieder froh.

[408] Die Hauptrollen wurden von Jauner, von Elise Bach, von der schönen Zampa, von Albert, Lindau und Dreher gespielt. Die Aufführung in ihrem schauspielerischen Teil war gut und wirksam ausgeschliffen, ohne die heimatliche Echtheit der Münchener ganz zu erreichen. Doch ein Musterhaftes war alles übrige: Bühnenbild und Licht und Farbe. Solch ein Vollendetes ist dem Herrgottschnitzer niemals wieder auferstanden. So oft sich der Vorhang hob, setzte der Beifall ein, der dem natürlich wirkenden Bild der Szene galt. Und als ich mich nach den Aktschlüssen immer wieder und wieder bedanken mußte, sah ich hinter den Kulissen in zwei lieben, blauen Augen, die mich bisher sehr mißtrauisch betrachtet hatten, die Freude über den Erfolg meiner Arbeit glänzen. Das wog mir als der beste Gewinn dieses Abends.

»Mein Glück wird werden! Und jetzt hab ich mich festgesetzt in Wien!« Mit diesem erquickenden Gedanken schloß ich nach vergnügter Nacht die Augen. Aber am Morgen! Als ich aufwachte! Und meine Neugier auf das Wohlwollen der Kritik nicht überwinden konnte! Da hätt' ich am liebsten die Augäpfel nach innen gedreht.

Freilich, die Gestrengen maßen das kleine Haus des Herrgottschnitzers am Kirchturm der Kreuzelschreiber! [409] Und machten aus dem Namen Anzengruber eine schwere stählerne Keule, mit der sie mich totschlugen – nicht ganz – aber doch ein bißchen. Ich habe fest Atem ziehen müssen, um wieder leidlich Luft für ein weiteres Leben zu kriegen. Und dabei half mir einer, von dem ich's am letzten erwartet hätte.

Im Theater war's nicht gemütlich. Der Herrgottschnitzer fand wohl reichlichen Applaus, aber nicht den riesigen Kassenerfolg, den Jauner erwartet haben mochte. Und die Schauspieler, die mir den Verdruß nachtrugen, den es auf den Proben abgesetzt hatte, waren nicht frei von Schadenfreude darüber, daß von der Kritik mein poetisches Haar so schmerzlich gegen den Strich gebürstet wurde. Nur die zierliche Blonde, als sie mich eines Abends während der Vorstellung hinter den Kulissen in melancholischer Stimmung fand, sagte zu mir: »Das Stück ist gute und gesunde Arbeit. Ob es in Wien, was macht' oder nicht, das kann Ihnen doch ganz gleichgültig sein. Nicht?«

Ich hörte diese Worte nicht so, wie ich sie hätte hören müssen. Ich fühlte: das ist Mitleid. Und darum sagte ich wütend: »Bei Ihnen hat's noch weit bis zur Liebe!« [410] Sie machte wieder die großen Augen und schwieg.

Immer quälender war die Frage in mir: »Wie wecke ich dieses umschmiedete Herz?« Seinen Wert begann ich zu erkennen, als ich Kathinka außerhalb des Theaters, in ihrer Familie sah. Sie hatte Vater und Mutter schon verloren, denen sie Zärtlichkeit und Liebe über den Tod hinaus bewahrte. Bei ihrem Bruder lebend, war sie neben einer von Schwierigkeiten durchkräuselten Ehe die treue und hilfreiche Freundin ihrer Schwägerin, der Abgott ihrer kleinen Nichten und Neffen. Mit einer hübschen Sopranstimme begabt, wollte sie Sängerin werden. Eine ungeschickte Schule übermüdete das junge, zarte Stimmchen, das nun ein Jahr der Ruhe nötig hatte. Um nicht müßig zu bleiben, war Kathinka für kleine Sprechrollen aus Ringtheater gegangen. Der schauspielerische Beruf färbte nicht ab auf ihr Wesen. Alles Komödiantenhafte war ihr fremd, alles Trübe des Theaters ging an ihrer reinen und festen Art vorüber, ohne sie zu berühren. Nie hörte man von ihr ein übles Wort über andere; und wer von ihr sprach, wußte nur Gutes zu sagen und bekam in der Stimme immer gleich einen herzlichen Ton. Für alles, was Arbeit und Aufgabe eines Mädchens hieß, hatte sie eine [411] angeborene Geschicklichkeit, verstand alles, ohne daß sie es erst lange lernen mußte. Was sie an Arbeit begann, kam ihr als ein tadellos Vollendetes aus den kleinen, fleißigen Händen. Sparsam, dazu gesegnet mit Geschmack, verstand sie sich aus bescheidenen Mitteln entzückend zu kleiden. Ihre Erscheinung fiel immer auf, ohne daß an ihr ein Zug von Eitelkeit war. In allem, was sie tat, und in jedem ihrer Worte war Takt und Wohlwollen. Für künstlerische Dinge hatte sie ein Urteil von überraschender Sicherheit; äußerliche Flunkereien bestachen sie nicht, immer sah sie den Kern. Gerades Denken und spielender Humor, verläßlicher Ernst und erquickende Heiterkeit mischten sich zu gleichen Werten in ihrer frohen, doch immer prüfenden Natur. Ein frisches, redliches, gesundes und unkompliziertes Menschenkind! Eine Wienerin besten Schlages! Und dazu noch für die Augen ein allerliebstes Kerlchen, mit dem sein geschnittenen Gesichtl in verblüffender Ähnlichkeit an eine berühmte schöne Frau erinnernd. Ich habe in jenen kämpfenden Sehnsuchtstagen ein Jugendbildnis der Geistinger, das ich in der Auslage einer Kunsthandlung sah, für ein Bild des Mädchens gekauft, das ich liebte – mit einer Art von Liebe liebte, die mir trotz einiger Erfahrung [412] auf diesem Gebiete etwas völlig Neues war. Immer saß in mir dieses Gefühl der Sicherheit: »Wenn du die bekommst, dann bist du geborgen fürs Leben!«

Aber die Theaterluft in der bei Geklatsch und Geraune, bei Geflüster und Getuschel hinter allen Kulissen, das Mißtrauen und die Verstimmung gedeiht, war den Wegen meiner Sehnsucht nicht günstig. Statt uns zu finden, rückten wir beide mit jedem Abend immer weiter auseinander. Und brachte ein wohlwollender Augenblick ein gutes, hilfreiches Wort, dann blies die nächste Minute wieder erkältend und gefährlich drüber hin.

Neben den typischen Bildern in den Herzenskämpfen dieser Wochen gab es auch ein paar wunderliche Episoden.

Abend für Abend wurde dem Fräulein Kathinka anonym ein mächtiges, kostbares Rosenbukett in die Garderobe geschickt. Man begann im Theater davon zu reden. Mir war unbehaglich zumute. Aber ich schwieg. Daß sie manchem gefiel und keinem gefallen wollte, das wußte ich. Und eines Abends trat sie auf mich zu. »Herr Doktor? Sind die Rosen, die ich immer bekomme, von Ihnen?«

»Nein! Ich gebe Ihnen gern mein Leben. [413] Aber Rosensträuße wie Wagenräder schenke ich nicht.«

»So? Aber ich habe in der Blumenhandlung fragen lassen. Und dort sagte man: der Besteller dieser Blumen wäre der Doktor Ludwig Ganghofer.«

»Das versteh ich nicht. Ich kann Ihnen nur sagen, daß man in der Blumenhandlung gelogen hat. Warum? Das ist mir dunkel.«

Später hat sich das Mysterium aufgeklärt. Ein Schwärmer, der eine Gefahr in mir sah und mich verdrängen wollte, schickte diese Rosen und nannte im Blumengeschäft meinen Namen. Und kalkulierte: ich könnte, durch die Gelegenheit verführt, so tun, als wären die Rosen von mir. Und dann wollte er mit dem großen Coup meiner Blamage kommen. Hirnrissig! Was doch in verliebten Köpfen für sonderbare Blasen wachsen! Aber ich darf meinem Konkurrenten keinen Vorwurf machen. Denn solch einen hirnverdrehten Einfall, der nicht klüger, aber noch viel gefährlicher war, hatte ich selber!

Ich begleitete mein blondes Bild ohne Gnade eines Vormittages vom Theaterbureau nach Hause. Dabei kam die Ungeduld meiner Sehnsucht zu einer Krise. Mitten in der Sonne der von tausend [414] Menschen belebten Ringstraße blieb ich stehen. »Sie! Fräulein Kathinka! Daß ich Sie gern habe, das wissen Sie. Aber ich will jetzt endlich auch einmal was wissen. Ein Wort ist nicht notwendig. Ein Kuß genügt. Den will ich haben. Ich weiß, daß Sie nur den Mann küssen, dem Sie von Herzen gut sind. Bekomm ich den Kuß?«

Heiß brennend flog es ihr über das verblüffte Gesichtl. Dann lachte sie. »Herr Doktor? Haben Sie einen Schwips?«

»Vielleicht, ja! Trunkenheit kommt nicht nur vom Wein. Ich glaub auch, daß Sie mir gut sind. Und wenn Sie mir jetzt nicht ehrlich versprechen, daß ich meinen Kuß daheim bekomme, dann nehm ich Sie hier auf der Ringstraße beim Schopf und küsse Sie vor allen Leuten so fürchterlich ab, daß Sie um Hilfe schreien.«

Sie bekam wieder die großen Augen. Dann sagte sie ganz ruhig: »Ihnen trau ich das wirklich zu ... daß Sie so was fertig bringen?«

»Ich schwöre! Also? Bekomm ich meinen Kuß? Daheim?«

»In Gottesnamen! Ja.«

Auf dem ganzen Wege sprachen wir kein weiteres Wort mehr. Ich freute mich im stillen. Aber mein liebes Mädel schien, je näher wir dem [415] Haus in der Nibelungenstraße kamen, immer beklommener zu atmen. Daheim aber fand sie rasch ihre sichere Haltung wieder. Und sagte ernst: »Um Ihnen eine Torheit zu ersparen, hab ich Ja gesagt. Dieses Ja muß ich halten.« Sie bot mir den Mund. Mein Vergnügen hatte die Würze eines Witzes – es war sehr kurz. Dann ein schneidiges Stimmchen: »Adieu, Herr Doktor! Vor einem Spaziergang über die Ringstraße in Ihrer Begleitung werde ich mich für die Zukunft hüten.« Und weg war sie.

Mir wurde schwül, aus doppelter Ursache: aus gemehrter Sehnsucht und aus dunkler Angst. Und wirklich – während der nächsten Tage schien es, als wäre alles zu Ende und als stünde jetzt zwischen uns eine Mauer, die nicht mehr niederzureißen war. Ich geriet in eine schwarze Verzweiflungsstimmung und machte allerlei Dummheiten, die meine hoffnungslose Situation noch verschlimmerten.

Mit der Pein meines Herzens mischte sich noch die Qual meiner Arbeit. Ich wollte und mußte was Neues beginnen. Aber jedem Einfall mißtraute ich; und was ich am einen Tag niederschrieb, wanderte am nächsten wieder in den Papierkorb. Die Schläge der stählernen Keule, [416] die ich schmerzlich empfunden hatte, führte zu einer lähmenden Nachwirkung. Und schließlich dachte ich selber: »Aus! Vorhang! Du wirst nichts! Du kannst nichts! In dir ist nichts!«

Ratlos verlungerte ich die Tage und verbummelte die Nächte. Im Theater hatte ich nichts zu tun. Der ›Herrgottschnitzer‹ wollte einschlafen, und neben einem Bürgerschen Stück, das auch durch die Kunst Friedrich Mitterwurzers nicht über Wasser gehalten wurde, begann man ›Hoffmanns Erzählungen‹ von Offenbach zu studieren. Bei Jauner wechselten die Entschlüsse flink; ging es nicht so, so ging es anders; war mit Volksstück und Schauspiel nicht viel zu machen, so mußte die Oper helfen. Und ich selber bekam den Eindruck: jetzt hat er einen Treffer. Bei einer Probe, die ich hörte, schmeichelte sich mir dieser bezwingende Klang in Blut und Sinne. Das wird für das Ringtheater ein großer Erfolg! Dann dominiert die Musik. Und alles andere ist abgetan. Auch ich.

Dieses beklemmende Zukunftsbild stand mir vor Augen, wenn ich am Schreibtisch saß und das weiße Papier anguckte.

Eines Vormittages warf ich die Feder fort, die mir in der Hand trocken geworden war, und rannte davon. Ich kam durch die Herrengasse [417] und schusselte verloren so vor mich hin. Plötzlich hielt mich etwas Hartes am Arme fest: die Zwinge eines derben Hakenstockes. Ich sah mich um. Ludwig Anzengruber stand vor mir und sagte: »Sö san doch der? Ja? Der bei mir gwesen is?« Mit einem herzlichen Worte machte er in mir alle Bitterkeit verschwinden, die von jenem übel geratenen Besuche zurückgeblieben war. Und dann sagte er: »Weil ma gar so mit mir auf Eahna rumdroschen hat, hab ich mir doch Ihr Stuck anschauen müssen. Alles hat mir net gfallen. Aber es san doch Sacherln drin, dö packen und was versprechen. 's Beste dran is der vierte Akt und dö Figur von dem Alten da! Respekt!«

Er ging mit mir bis zum Schottentor, sprach immerzu über den Herrgottschnitzer und nahm jedes Detail der Arbeit unter scharfe Gläser. Für das kostbare Geschenk dieser zehn Minuten muß ich dem Unsterblichen dankbar sein. Denn als ich mit siedendem Köpfl heimkam in meine Bude auf dem Heumarkt, da hatte ich wieder Mut und konnte arbeiten. Bis spät in die Nacht hinein saß ich am Schreibtisch. Und im Bett, bei der flackernden Kerze, las ich nochmal die Kritiken über den Herrgottschnitzer. Und da wirkten sie auf mich wie eine gerechte, vorwärtsschiebende Sache. Zwischen [418] dem Bumm der stählernen Keule klangen doch auch gute, wohlwollende Worte. Einer nannte mich den ›Defregger der Bühne‹. Ein anderer sagte: Bühnenbilder von solcher Naturtreue hätte man in Wien noch nie gesehen. – Dieses Freundliche hatte ich früher, unter dem ersten Gebrumm meines geklopften Haardaches, völlig überhört. – Und daß es viele Menschen allen Dingen des Lebens gegenüber so machen, nur das Schmerzende fühlen und verfluchen, ohne das tröstende und herzliche Lächeln des Lebens zu gewahren – ich glaube, das ist die Ursache aller pessimistischen Weltauffassung. Pessimismus ist immer der Ausfluß eines Übermaßes ungerechtfertigter Lebensansprüche und persönlicher Eitelkeiten. Der Pessimist sieht immer nur Beweiskraft im eigenen Jammerschrei: den Jauchzer eines anderen, der glücklich ist, hält er für eine Sache, die nicht zählt. Das ist eine Art von Gerechtigkeit, bei der man das wahre Gesicht des Lebens nicht entschleiert.

Am folgenden Morgen war mir zu Mut wie einem neugedrechselten Menschen mit dauerhaften Scharnieren im Gliederbau. Ich schloß mich eine Woche lang so fest in meine neue Arbeit ein, daß alles andere für mich versank. Sogar das peinigende Gekribbel meines Herzens wurde still [419] und stumm. War dieses Dürstende völlig in mir erloschen? Es schien so.

Und was im Ringtheater geschah, wurde mir ein Fremdes und Gleichgültiges, so weit es mich selbst betraf Der große Erfolg, den ›Hoffmanns Erzählungen‹ am Abend des 7. Dezembers im Ringtheater fanden – ein klingender Erfolg, der nun alles beiseite schob, was Volksstück hieß – machte mir keine Sorge. Ich dachte: »Hier bist du erledigt, aber irgendwo kommst du schon wieder in die Höhe.« Und um Franz Jauners willen, der im Ringtheater nun endlich festen und sicheren Boden gefunden hatte, freute ich mich dieses Erfolges, der eine Jubiläumszahl von ausverkauften Häusern in verläßliche Aussicht stellte.

Am Vormittag des 8. Dezembers – es war ein Feiertag – begegnete ich auf der Ringstraße der Kathinka und ihrer Schwägerin. Wir plauderten. Doch eine Mauer war da! In mir eine wunderliche Verlegenheit. Ich wußte nicht recht, was ich sagen sollte. Wir sprachen vom Erfolg im Ringtheater. Kathinka war am Abend der Premiere daheimgeblieben, weil ihre zwei kleinen Neffen Halsentzündung hatten – wurde bei ihr zu Hause jemand krank, dann war sie die Pflegeschwester und das Sorgenmütterl. Aber jetzt ging [420] es den beiden Jungen schon besser. Und da wollte sie am Abend, an diesem 8. Dezember, in die Theaterloge kommen, um die zweite Aufführung von ›Hoffmanns Erzählungen‹ zu sehen.

Ich sagte: »Da komm ich auch. Natürlich!«

Doch auf dem Heimweg schüttelte ich den Kopf »Nein! Du gehst nicht hin! Du bleibst daheim bei deiner Arbeit.«

Das alles war doch jetzt ein Aussichtsloses geworden! Was man ›materielle Existenz‹ zu nennen pflegt, das begann für mich dem Minuszeichen wieder entgegenzurutschen. Das oberbayerische Volksstück im Ringtheater? Und Franz Jauner? Für den bin ich seit gestern was Überflüssiges geworden! Der wird doch morgen oder übermorgen meinen Vertrag kündigen! Dann kann ich wandern. Wohin? Halt wieder heim nach München!

Nach der Mahlzeit spielte ich mit Alexander und Dreher in unserem Kaffeehäusl die gewohnte Billardpartie mit Kegeln. Ich spielte schlecht und verlor so abscheulich, daß ich schließlich den Stecken fortwarf und heimrannte, um zu arbeiten.

Für zwei Stunden, bei der Arbeit und in meinen Zigarettendampf eingewickelt, vergaß ich wieder alles. Doch gegen sechs Uhr begann in [421] mir eine wunderliche, beklemmende Unruhe zu wühlen. Es zog mich wie mit hundert Stricken zum Ringtheater, zu der im dritten Rang gelegenen Theaterloge. Doch immer wieder kam die vernünftige Überlegung obenauf. »Nein! Du bleibst bei der Arbeit daheim!« Ich beschwor es vor mir selbst mit einem heiligen Eid.

Als es halb Sieben geschlagen hatte, saß ich noch immer am Schreibtisch. Doch plötzlich – Eidschwur hin oder her! – mußte ich die Feder fortwerfen. Und mußte meinen Hut und Überrock packen – zwei Dinge, die ich zehn Minuten später nicht mehr besaß – und die ich auch im Leben nie wieder gesehen habe.

Zog ich den Überrock gar nicht an? Behielt ich ihn bei diesem hirnwirbligen Gerenne über dem Arm? Ich weiß es nicht. Der Abend war nicht kalt, nur ein bißchen neblig. Und verrückt, wie einer, der das Glück seines Lebens zu versäumen fürchtet, rannte ich durch die lange Herrengasse hinunter.

Atemlos komme ich zum Schottentor, zur Ringstraße. Vor dem Portal des Theaters brennen im trüben Abend die zwei Bogenlampen wie große Sonnen. Plötzlich erlöschen sie. Und hoch in den dunklen Lüften zuckt es wie ein mattes Wetterleuchten. [422] Ich bleibe stehen und gucke nach aufwärts. Und da öffnet sich das steile Dach des Theaters wie eine schwarze Riesenmuschel. Und eine gelbe, rauchlose Flamme fährt baumhoch gegen den finsteren Himmel.

»Jesus!« Für eine Sekunde ist alles lahm und tot in mir. Dann der schreiende Gedanke: »Mein Mädel in der Theaterloge! Im dritten Stock! Auf Armslänge beim Vorhang!«

Ich weiß noch, daß ich schrie wie ein Tier. Und dann sprang ich, im Irrsinn meines Entsetzens, gegen das Theater hin – und schleuderte von mir, was mich beim Rennen hinderte – Hut und Überrock.

[423]
9.
IX.

Gehirn? – Das ist ein rätselhafter Gegenstand, den ein Geschöpf in seinem Schädel umschließt, ohne über dieses geheimnisvolle Ding eine für alle Fälle ausreichende Beifügungsmacht zu besitzen. In lachender Ruhe scheinen Gehirn und menschlicher Wunsch sehr treu verbundene Freunde zu sein. Doch in würgenden Augenblicken, die über Glück oder Elend, über Leben oder Tod entscheiden, erweist das Gehirn sich als ein selbständiges Wesen, dem die Herzschläge des Menschen, in dessen Schädel es wohnt, eine fremde und gleichgültige Sache werden. Da kann der Mensch sich in einen schreienden Narren verwandeln – das Gehirn bleibt vernünftig und tut, was richtig und nützlich ist. Wenigstens scheint das bei gesunden Menschen so zu sein.

[424] Wie sich die Sache bei krankhaften Geschöpfen verhält, das weiß ich nicht.

Und damals, als ich am Abend des 8. Dezembers zu Wien diese gelbe, rauchlose Flamme aus dem Bühnengiebel des Ringtheaters in den schwarzen Himmel fahren sah – da wollte mein schreiendes Herz, mein verstörtes Blut und der rasend gewordene Apparat meiner Beine zum Theaterportal und in den Zuschauerraum, in den dritten Rang hinauf in die Theaterloge. Hätte mein vor Angst und Sorge irrsinnig gewordenes Herz seinen Willen durchgesetzt, dann hätt' ich vermutlich ein paar Stunden oder ein paar Tage später als ein schwarzer, unförmlicher Knochenstrunk im Wiener Polizeihof liegen müssen. Doch bevor ich das Theaterportal erreichte, das vor meinen nassen Augen wie in einem kreisenden Nebel zu schwimmen schien, riß das selbständig gewordene Gehirn mich an Herz und Blut und Beinen jäh herum und peitschte mich in eine Seitengasse, zum Bühneneingang. Und schrie mir im tausendsten Teil einer Sekunde zu: »Du Ochse! Noch eine Viertelstunde bis zum Anfang der Vorstellung. Das Mädel ist noch gar nicht in der Loge! Wenn das Mädel schon ins Theater kam, dann ist sie zuerst, wie sie es noch immer tat, in [425] ihre Garderobe gegangen. Wenn sie nicht in der Garderobe ist, dann ist sie noch gar nicht da! Auf die Bühne mußt du, in die Garderobe! In die Garderobe! In die Garderobe!«

Vor dem Bühneneingang in der Heßgasse war Gedräng und Geschrei. Ich wühlte mich durch. Dieser blasse, verstörte Mensch? War das der Portier? Ich packte ihn an der Brust und schrie eine Frage. Er sah mich ratlos an und lallte. Und da war ich schon in dem engen Flur. Kreischende Menschen kamen über die steinerne Treppe heruntergezappelt. Ich rannte hinauf. Zwei steile Treppen. Nun war ich im Garderobengang, sah schwarze Löcher und grellen Schein – und dieses Leere und Stille, das war die Garderobe meines Mädels – noch erleuchtet – die Schminkschatulle stand verschlossen auf dem Tisch, vor der Schatulle lag ein uneröffneter Brief, und neben dem Spiegel hing ein weißes, frischgestärktes Röckelchen, dabei das pfirsichfarbene Kitterl und die schillernde Seidenschürze, die sie im Herrgottschnitzer getragen hatte.

In mir ein Schrei der Freude. »Sie ist noch gar nicht gekommen, noch nicht im Theater!«

Ich reiße die Tür der danebenliegenden Garderobe auf. Auch die ist noch erleuchtet. Und mit [426] seitwärts gestreckten Armen, wie versteinert, steht ein junges Frauenzimmer im Hemd vor mir. Ich schreie: »Jesus, raus da, raus!« Sie kann sich nicht rühren, nur der blasse Mund bewegt sich tonlos. Auf dem Boden liegt ein Pelz. Den packe ich, wickle ihn um das weiße Frauenzimmer und reiße die Eingewickelte mit fort. Irgendwo – auf der Bühne? im Soffittenraum? – hör' ich eine verzweifelt schrillende Weiberstimme. Zur Rechten seh' ich in wogendes Feuer hinein, fühle an meiner rechten Wange eine sengende Hitze – und zwischen unfaßbaren Bildern, die sich in meiner Erinnerung grell oder schwarz durcheinanderwirren, lodert eine rote Hölle mit einer grauenhaften Riesenflamme, die vom Bühnenboden in einer mächtigen Spirale hinaufleckt gegen das Bühnendach. Dann steh ich in grauer Finsternis, muß immer husten, halte das in den Pelz gewickelte Frauenzimmer an mich geklammert, fühle krallende Hände an meinen Armen, an meinem Körper – vier, fünf, sechs Menschen hängen an mir – ich atme einen Dunst, von dem mir übel wird, und nun trinke ich frische Luft und erkenne mit kaltem Schreck, daß ich als Führer dieser sechs, sieben, acht lallenden Menschen die richtige Treppe verfehlte. Statt den Bühnenausgang zu finden, kam [427] ich in einen kellerartigen Hof. In der rauchigen Dämmerung sah ich ein Tor. Das muß auf eine Straße führen. Es ist verschlossen. In der nächsten Sekunde ist es hinausgedrückt. Ich bin auf der Gasse, sehe Menschen laufen, höre Menschen schreien. Die Sechse oder Sieben, die hinter mir waren, rennen davon.

Meine Erinnerung verwirrt sich. Ich sehe kein Zusammenhängendes, nur Abgerissenes, Unsicheres. Mir ist, als trüge ich das Fräulein im Pelz, weil es nur Strümpfe an den Füßen hatte, über die Gasse hinüber, in eine Kutscherkneipe, und lasse die Zitternde auf einen hölzernen Sessel fallen. Ich fühle, daß meine rechte Wange gedunsen ist wie ein gebratener Apfel, fühle an der rechten Hand jedes Härchen wie einen stechenden Schmerz, und sehe, daß der rechte Ärmel meines blauen Anzuges vom Handgelenk bis zur Schulter gelb versengt ist. Dann ist mir wieder, als höbe ich das Fräulein im Pelz in eine Droschke hinein. War's nicht eine Schauspielerin, die Kathi Fischer hieß? Oder war's eine andere? Und dann bin ich auf der Ringstraße, in einem schwarzen Gedränge aufgeregter Menschen. Ich wühle und wühle, aber ich kann nur um wenige Schritte vorwärtskommen. Und die Menschen, zwischen denen [428] ich mich hindurchzwänge, reden mir freundlich zu: ich möchte doch ruhig stehen bleiben.

Dieses Gewühl und Geschiebe von tausend Menschen sieht aus wie musterhafte Ordnung. Wien hat keinen Mob – hatte damals keinen.

Die Flammen des Theaters kann ich nicht sehen, weil ich zu nah am Gebäude bin. Doch bis zur Börse hinunter flackert die Häuserzeile der Ringstraße in grellem Gelb. Und im Gewühl ein eng umdrängter Wagen. In diesem Wagen steht die Frau Jauner. Immer schreit sie: »Mein Mann? Wo ist denn mein Mann? Mein Mann? Mein Mann?« Und da drängt sich Jauner zum Wagen hin, mit kreideblassem Gesicht; seine Stimme hör' ich nicht, sehe nur, wie er mit den Armen fuchtelt. Und dann wird die Menge auseinandergekeilt, Feuerwehrwagen und eine Dampfspritze rasseln in das Gewühl hinein. Vor dem Portal des Theaters schaffen die Polizeileute freien Platz. Und schrillende Stimmen fallen wie schmerzende Steinwürfe aus der Höhe herunter. Dieses Fürchterliche da droben ist in dem Gezitter von zuckender Helle und schwarzen Schatten nicht deutlich zu sehen – und doch so deutlich, daß mir das Herz erstarrt. Aus Fenstern und Mauerluken strecken sich Arme mit gespreizten [429] Fingern heraus, fahle Gesichter sieht man, hört verzweifeltes Geschrei. Und die Loggia über dem Portal und ein Balkon des Theaters ist angefüllt mit hundert kreischenden Menschen, die sich widersinnig bewegen – wie Gespenster, an die man nicht glauben kann. Ein junges Frauenzimmer springt herunter, dann ein Mann, ein zweiter, ein dritter – man hört, wie die fallenden Körper auf das Sprungtuch klatschen. In meiner Erinnerung ist eine Stimme, die immer schreit: »Nur Ruhe, die kommen herunter, die kommen alle herunter.« Leitern werden in die Höhe geschoben, dunkle Gestalten mit blinkenden Helmen klettern hinauf, und droben auf der Loggia sieht es so aus, als schlügen die Menschen, die den Sprung nicht wagten, mit Fäusten aufeinander los.

Immer stärker wird das flackernde Gelb auf den umliegenden Häusern. In der Höhe ein wachsendes Gewirbel von Flammen, Rauch und Dampf. Und aus diesem roten und weißen Gewoge heben sich in schwarzer Ruhe die Götterstatuen des Giebels heraus.

Während die Loggia und jener Balkon sich leeren und die Letzten da droben, die völlig Mutlosen und Verstörten, über die Leiter heruntergetragen oder mit verbundenen Augen in das [430] Sprungtuch geworfen werden, komm' ich dem Kordon der Polizei immer näher. Ich sehe Feuerwehrleute in das Portal stürmen und sehe sie wieder zurücktaumeln. Sie zünden Fackeln an, verschwinden wieder im Portal und kommen wieder heraus, mit erloschenen Fackelstrünken. Und innerhalb des Ringes von Polizei und Soldaten stehen uniformierte Herren in einer Gruppe beisammen. Alle paar Augenblicke kommt jemand zu ihnen gelaufen, macht einen tiefen Bückling und gestikuliert mit den Händen.

Immer wieder, während ich mich vorwärts wühle, frag' ich mit erwürgter Stimme: »Sind noch Menschen im Theater?« Einer zuckt die Achseln, einer schüttelt stumm den Kopf, und einer sagt mir: »Nein, bestimmt nicht, im Theater ist niemand mehr, von der Polizei hat's einer gesagt.« Und dann geht es wie ein glückseliges Schlagwort durch die vieltausendköpfige, plötzlich frohgewordene Menge hin: »Alles gerettet!«

Ein paar Mißtrauische wollen es nicht glauben und fangen in Zorn zu räsonieren an. Ein junger Mensch will den Kordon durchbrechen und wird zurückgestoßen. Er scheint ohnmächtig zu werden. Und dann steht er gegen einen Laternenpfahl gelehnt und streckt die beiden Arme, und wie ein [431] Irrsinniger schreit er immer: »Die Resi ... die Resi ... die Resi ...« Zwanzig, dreißig Menschen reden auf ihn ein und wollen ihn beruhigen: es wäre doch lange schon alles gut, kein Mensch mehr im Theater, alles gerettet. Aber der junge Mensch will nicht hören, immer wieder schreit er: »Die Resi ... die Resi ... die Resi ...«

Nun hör' ich ihn nimmer. Mir ist ein heißer Strom von Freude in der Seele. Alles gerettet! Doch plötzlich klammert sich eine grauenhafte Angst um mein Herz – zwischen den Polizeileuten und Soldaten seh' ich eine junge Person; ihre Kleider sind verwüstet, ihr Gesicht ist verzerrt, die Augen sind vorgequollen; wie eine Tobsüchtige gebärdet sie sich. Immer schreit sie: »Licht! Laternen! Licht! Laternen! Da drin ist alles finster! Licht! Laternen!« Man redet gütlich mit der Tobenden, ein Offizier beschwört, daß alles gerettet wäre. Mit zuckenden Händen greift sie nach ihm und reißt an seiner Uniform. Ihre Stimme wird wie dünnes Kindergeschrei: »Laternen! Licht! Alles ist finster! Tausend Menschen sind noch drin. Sie ersticken, erwürgen sich, verbrennen! Licht! Laternen! Meine Mutter, mein Bruder, meine Schwester! Alle ersticken und verbrennen!«

Aber man weiß doch, daß alles gerettet ist.

[432] Und man nimmt das grillende Frauenzimmer für eine Hysterische, die ihren Anfall bekam. Man wird heftig gegen sie, man droht ihr mit der polizeilichen Sistierung.

Vor meinen Augen schwimmt es, mir wird ein bißchen übel, und plötzlich spüre ich wieder jenen merkwürdigen, abscheulichen Dunst, den ich da drin zwischen Helle und Finsternis verschlucken mußte. – Meine Erinnerung wird wieder unsicher, die Bilder gleiten unfaßbar durcheinander. Und dann steh ich in einem offenen Fiaker, der über die Ringstraße gegen die Oper hinunterjagt. Ich hänge mit der linken Hand an den Kutschbock geklammert, und mit der rechten Faust schlage ich immer auf den Rücken des jungen Fiakers los und schreie: »So fahren Sie doch! Herrgott! Ein Wiener Fiaker! Und kann nicht fahren!« Der Kutscher beugt sich nach vorne und peitscht auf die galoppierenden Pferde los. Und ich kreische immer wieder: »Nibelungenstraße!« Nun hält der Wagen. Ich keuche: »Warten!« Ich reiße an einer Glocke, taumle in den Flur, rase über drei Treppen hinauf – von droben schreit die Köchin herunter: »Was is denn? Was is denn?« – und als ich hinaufkomme, atemlos, hör' ich die Köchin in der Wohnung zetern:

[433] »Fräuln Thinka, Marand Josef! Fräuln Thinka! Da muß was gschehgn sein! Der Herr Dokter! Über d' Stiegen kommt er auffi wie a Narr. Und hat ka Hütl und hat gar nix! Und schnaufen tut er, und auffi rennt er wie a Verruckter!«

Ich stehe unter der Tür und muß mich halten, weil meine Knie mich nimmer tragen wollen. Und da kommt aus der Kinderstube mein liebes Mädel her aus, in einem hellen Hauskleidl, mit erschrockenem Gesicht. Ich brülle in meiner Freude, in meinem Glück, und springe auf das Mädel zu, reiße die Erschrockene an mich, und lache und weine – und küsse, küsse, küsse, was mein Mund zu erwischen vermag. Immer wehrt sie sich; immer stammelt sie: »Jesus, Jesus!« Und da bring ich es, zwischen Lachen und Küssen, mit Lallen heraus. »Das Ringtheater brennt!« Und nun scheint das Mädel zu ahnen, aus welchem Schreck und Grauen ich komme. Sie zittert, die blauen Augen werden groß, ihre Arme klammern sich um meinen Hals – und wir beide sind verbunden und aneinandergewachsen fürs Leben.

Sie wollte ins Theater. Doch die zwei kleinen Neffen mit der halbkurierten Halsentzündung bettelten: »Bitt schön, Tante Thinkerl, erzähl uns ein Märchen.« Und da dachte sie: »Den Doktor [434] Ganghofer seh ich morgen auch wieder, aber die Kinder sind heute krank.« Und so blieb sie bei den zwei Buben daheim und erzählte ihnen das Märchen vom kleinen Däumling, der vier große Geschwister hatte.

Das erfuhr ich erst viele Tage später. Damals, an jenem Abend, als ich im Hausflur mein liebes, lebendiges Mädel unter Lachen und Keuchen umklammert hielt, fanden wir kein Wort und keine Frage. Und dann rasselte die Klingel wie verrückt, die Köchin rennt auf die Stiege hinaus, und aus der Tiefe des Treppenhauses schrillt eine Stimme herauf: »Ist der Herr daheim? Und die Frau? Und das Fräulein Thinka? War niemand im Ringtheater?« Zur Antwort schreit die Köchin, was ich nicht verstehe. Etwas Graues schwimmt vor meinen Augen, und die zwei herzförmigen Gasflammen des Flures werden so groß wie Wagenräder. Mein Mädel stammelt: »Um Gotteswillen!« Und rennt davon und bringt mir ein Glas Wasser. Während ich den Trunk hinunterstürze, belfert die Klingel wieder. Und tief drunten im Treppenhaus eine brüllende Stimme: »Ist die Thinka daheim?« Die Köchin zetert: »Ja, ja, ja!« Aber der Neugierige da drunten kann's nicht glauben und schreit: »Ist sie nicht [435] im Theater? Gewiß nicht?« Ich weiß noch: das war der Bruder meines Mädels. Dann ist in meiner Erinnerung wieder ein Riß. Ich weiß nimmer, wie und wann ich auf die Straße hinunterkam – weiß nur noch, daß mein Fiaker, den ich noch nicht bezahlt hatte, nimmer vor dem Haustor stand. Irgendeiner, den die Sorge peitschte, hatte ihn mir weggenommen.

Ich rannte gegen die Ringstraße. Fiaker und Droschken sausten an mir vorüber. Überall sah ich Leute laufen. Bald hier und bald dort vor einem Haustor blieb einer stehen und riß an der Glocke. Und wenn sich droben ein Fenster auftat, schrie er hinauf: »Ist alles daheim? War niemand im Ringtheater?« In zwei oder drei Minuten sah und hörte ich das ein Dutzendmal. Und dann auf der Ringstraße, in der Nähe des Rathauses geriet ich in ein schwarzes Zuströmen von tausend und tausend Menschen. Hier sah es aus, als hätten die Wiener in dieser Nacht nur einen Weg. Beim Schottentor ein Meer von Köpfen, alle scharf beleuchtet. Das Parlament, die Universität, die schlanken Silbertürme der Votivkirche und die Zinskasernen des Schottenringes glänzen grell im Widerschein des großgewordenen Feuers, das schon den ganzen Dachstuhl [436] des Theaters verzehrt hat. Und immer wieder, jäh, erlischt diese Helle, wenn Rauch und Dampfwolken die Flammen umschleiern.

Ein Schreck, der nur leise redet, ist in den Menschen. Sie sagen, man hätte Leichen im Theater gefunden, viele, hundert, fünfhundert, tausend.

Es treibt mich vorwärts. Und je näher ich dem Theater komme, umso ruhiger steht die Menge. Ich höre nur selten ein Wort. Und immer wieder seh' ich einen, der die Hände vor den Augen hat. Weint er? Oder hält er sich nur die Augen zu, um das schreckliche Schattenspiel nicht sehen zu müssen, das da drüben vor dem Portal des Theaters gaukelt, auf dem freien Platz, der von Polizei und Militär umschlossen ist?

Immer muß ich mich vorwärtswühlen. Und so dicht die Menge auch steht, immer sind' ich einen Weg. In meinem Gesichte muß etwas sein, was zu diesen dicht aneinandergekeilten Menschen redet. Immer ist eine Gasse vor mir, immer hör' ich die Leute sagen: »Durchlassen! Durchlassen!« Nun steh' ich vor dem abgegrenzten Raum. Feuerwehrleute und Polizeimänner tragen dunkle, regungslose Körper aus dem Portal heraus. Ich sehe vier, die einen Klumpen von drei unlösbar ineinander verkrampften Toten schleppen. Leute aus der Menge, [437] Offiziere, Arbeiter, elegant gekleidete Herren durchbrechen den Kordon, um tragen zu helfen. Und die Träger, die aus dem Theater kommen, haben lallweiße Gesichter; in ihren Augen irrt das Entsetzen, das sie vor diesen fürchterlichen Todesbildern in den Korridoren und auf den Treppen des Theaters erfaßte.

Neben mir drängt sich eine junge Frau durch den Kordon, weil sie helfen will; sie spricht gebrochenes Deutsch, man rät auf eine Russin.

Dumpfes Aufschluchzen und heiseres Atmen in der Menge, so oft wieder eine solche Karawane von Trägern mit diesen dunklen Paketen aus dem Theater kommt.

Ein Feuerwehrmann und ein halbwüchsiger Bursch in kurzem Sakko tragen einen schlanken Menschen in weißer Weste vorüber – und der junge Bursch, der da helfen wollte, scheint seine Kraft überschätzt zu haben. Er droht zu taumeln. Und stammelt: »Ich kann nimmer, ich muß auslassen.« Da muß ich mich durchdrängen, springe hin und helfe tragen. Es ist ein Vierundzwanzigjähriger, den wir zum Polizeigebäude hinüberschleppen. Er hat nur eine kleine rote Schürfwunde an der linken Wange. Sonst scheint er völlig unverletzt. Die Augen sind geschlossen, das [438] blasse magere Gesicht ist ruhig. Wie ein Schlafender sieht er aus. Der? Und tot? Nein! Er kann nur ohnmächtig sein, er muß erwachen.

Bei dem Tor, das wir passieren, faßt ein aufgeregter alter Mann einen Polizisten bei der Brust und bettelt: »Lassen Sie mich doch hinein! Meine Tochter – ich suche meine Tochter!« Träger mit leeren Händen gehen an uns vorüber. Und eine Stimme sagt: »Zu Hunderten liegen sie noch droben, in hohen Haufen, mannshoch, wie Wälle, Körper auf Körper geworfen –« Und eine andere Stimme sagt: »Man muß sie von obenher abklauben wie Scheitholz, unten liegen sie so fest ineinandergewickelt, daß keiner herauszuziehen ist.«

Mich schüttelt das Grauen, während wir hineintreten in einen mager erleuchteten Raum. Wie eine große Halle sieht er aus, dieser überdeckte Polizeihof. Reihe um Reihe ist der Boden bedeckt mit diesen dunklen, regungslosen Körpern.

Ein junger Arzt kommt schnell auf uns zu, fühlt nach dem Herzschlag des jungen Menschen, den wir beide tragen, befühlt den Puls und sagt: »Hinlegen! Tot!« Etwas Kaltes schüttelt mich. Irgendeiner greift zu und drängt mich beiseite. Ich möchte hinaus. Und kann nicht. Muß stehen bleiben – und starren.

[439] Menschen kommen und Menschen gehen. Alle in atemloser Haft. Die Träger bringen immer neue Lasten. Und an die Hundert dieser Stillgewordenen liegen schon da auf dem Pflaster.

Fünf oder sechs Petroleumlampen stehen auf dem Boden und auf Mauergesimsen. Und ein paar Laternen werden hin und her getragen. Hier und dort ein Gezitter von Licht. Alles andere in erbarmungsvolle Dämmerung gehüllt. Aber dieser sparsame Lichtschein der Laternen gleitet immer und gleitet. Er zeigt mir mehr, als ich sehen will.

– – Nur ein paar Minuten stand ich damals gegen die Mauer gepreßt. Und dreißig Jahre sind vergangen. Aber von jenem kalten Grauen ist kein Hauch erloschen. Und während ich schreibe, schüttelt mich das Entsetzen vor dem Neuerwachen dieses fürchterlichen Bildes. – –

Ärzte, alte und junge, gehen zwischen den Reihen dieser dunklen Schläfer umher, beugen sich nieder, richten sich auf, schütteln den Kopf und gehen weiter. Was da geredet wird, versteh' ich nimmer. Wie ein dumpfes Brausen ist es in meinen Ohren. Das Toben meines Blutes? Oder der Lärm des Menschengewühls, der von der Ringstraße hereinquillt?

Schulter an Schulter liegen diese Dunklen, [440] über die der irrende Lichtschein hinzittert. Die einen haben ruhige Gesichter – in giftigen Rauchschwaden muß der Tod ihnen schmerzlos und rasch gekommen sein. Immer wieder Gesichter, Hände und Kleider, die mit einer rauhen, grauschwarzen Kruste bedeckt sind. Doch andere liegen da – mit offenen Augen, starr, weiß umrändert. Die Nasenbeine sind zerschmettert, eingeschlagen, zertreten. Und die Lippen sind zurückgezogen von den hart übereinander gebissenen Zähnen. Die Frauen und Mädchen fast alle mit niedergerissenen Frisuren, mit wirr gelösten Haaren. Und fast alle unter den Dunklen, die da liegen, zeigen die gleiche Verrenkung der Arme über den Kopf hinauf mit krampfhaft geschlossenen Fäusten. Das ist wie eine hundertfältige Geste des Zornes.

Und immer neue Lasten kommen. Jetzt bringen sie auch solche in versengten Kleidern, halb verbrannt, mit verkohlten Gliedern. Um diese Lasten ist ein Geruch wie nach süßlichem Braten. Und ein Feuerwehrmann bringt eine kleine, schwarze, wunderlich zusammengeschrumpfte Masse. Aber das ist kein Kind – es ist ein erwachsener Mensch, den die Glut so zusammenschraubte.

Auch Lebende kommen, die nicht tragen – solche, die nur suchen. Sie irren zwischen den dunklen [441] Reihen, stehen, schreien nach Licht und irren weiter. Irgendwo im Hofe ein grauenhafter Schrei. Einer, der suchen kam, hat gefunden.

– Ein paar Tage früher hatte ich geschaudert vor den Bildern Wereschtschagins, der die Greuel des russisch-türkischen Krieges malte. Was waren jene Bilder gegen das Grauen, das da vor mir auf dem Pflaster lag. Wenn Tausende auf dem Schlachtfelde fallen, so hat das vielleicht einen Sinn, einen Zweck, den man sogar als Schönheit empfinden kann. Und gewiß ist in solchem Tod eine Notwendigkeit. Aber der hundertfache Tod, der da stumm und dennoch klagend, ruhig oder schaudervoll verkrümmt auf den kalten Steinen sich breit machte, war widersinnig, unbegreiflich und darum doppelt grauenhaft! Und alle diese Dunklen, die da schliefen mit geballten Fäusten – vor wenigen Stunden waren sie lachend und lebensfroh hineingeströmt in jenes Haus da drüben, einer schönen Freude entgegen. –

Zitternd an Seele und Gliedern ging ich davon. Es war in mir kein Gefühl meines jungen Glückes mehr, nur etwas unsagbar Quälendes.

Im Torgang sah ich eine goldene Uhr auf dem Pflaster liegen. Ich hob sie auf. Sie war nicht still geworden wie der Dunkle, der sie im [442] Leben getragen hatte. Noch immer ging sie und zeigte ein paar Minuten vor 10 Uhr. Ich reichte sie einem der Polizisten hin, die beim Tore standen.

Draußen vor dem Tor ein kreischendes Gedräng von Menschen. In verstörter Sorge verlangen sie Einlaß und fragen nach ihren Augehörigen, die heute auf Hoffmanns Erzählungen hatten lauschen wollen. Und drüben im Theater ein dumpfes Krachen. Wie der Sturz einer Lawine. War der Plafond des Zuschauersaales geborsten? Oder war eine Galerie heruntergebrochen?

Nun plötzlich in mir mit drückender Pein der Gedanke: »Wenn die Meinen in München das morgen in der Zeitung lesen!«

Ich will hinüber zum Telegraphenamt. Aber auf der Ringstraße ist nicht mehr durchzukommen. Ich muß Umwege machen.

In einer engen Gasse seh' ich einen buntfarbigen Menschen rennen. Ein Sänger oder Chorist aus Hoffmanns Erzählungen? Er ist noch geschminkt, hat verstörte Augen, und immer redet er mit sich selbst.

Der Saal des Telegraphenamtes ist dick angepfropft mit Menschen. Man rauft sich um die Plätze an den Tischen. Ich finde einen Platz, [443] kann aber nicht schreiben, besinne mich immer, wie ich es den Meinen sagen muß, damit sie nicht erschrecken. Hinter mir stehen wartende Leute. Sie drängen und schelten. Und ich schreibe: »Mir ist nichts geschehen, ich bin gesund und glücklich, das Ringtheater ist abgebrannt.« – (Daheim erschraken sie fürchterlich, als in der Nacht diese vorsichtige Depesche kam.)

Dann wieder der Gedanke an meine Wiener Freunde. Ich erwische einen Einspänner und fahre, fahre, fahre. Manchmal fällt in eine hohe Gasse herein dieser rote Schein. Und überall wieder dieses Gerenne von Menschen, dieses Reißen an den Hausglocken, dieses Hinaufschreien zu den Fenstern.

Wo ich anfrage, hör' ich gute Antwort. Von allen, die mir nahestanden, und die ich lieb hatte, war keiner in dieses Unglückshaus gegangen.

Noch immer bin ich ohne Hut, ohne Überrock. Und so heiser bin ich, daß ich kaum noch reden kann.

Und nun darf ich mich ein bißchen ausruhen, bei einer Theaterkollegin, bei Elise Bach, die im Herrgottschnitzer die Loni spielte, und deren Haus mir ein freundliches Heim geworden war. Auch hier ein unaufhörliches Kommen und Gehen, bis in die Morgenstunden. Nach und nach versammelt [444] sich ein Dutzend von den Mitgliedern des Theaters, alle mit verstörten Gesichtern, jeder in den Augen die Sorge: »Was soll jetzt werden aus mir?«

Es war schon grauer Morgen, als ich heimging, mit einem geborgten Hut, den Kragen meines blauen Sakkos, dessen rechter Ärmel gelb versengt war, aufgestülpt bis über die Ohren.

Auf der Straße standen die Menschen in Gruppen beisammen und lasen die Zeitungen. Kein heiteres Gesicht mehr zu sehen. In dem frohen Wien! Aus allen Augen sprach eine scheue Ratlosigkeit. Nach einer Nacht des Grauens und der Schmerzen kam ein Tag der dumpfen Trauer.

Ich kaufte eine Zeitung und las im Gehen – wie es tausend andere machten. Nun erfuhr ich, wie der Brand entstanden war. Bei dem starken Luftzug, der immer auf dieser hirnrissig verbauten Bühne herrschte, geriet ein Jutevorhang mit seinen Fransen gegen das Drahtgitter einer Beleuchtung und entzündete sich, ein Schleiervorhang faßte Feuer, und in wenigen Sekunden war die ganze Bühne eine lohende Hölle. Der Mann, der den eisernen Vorhang fallen lassen sollte, rannte im Schreck davon, die jäh erhitzte Luftwoge bauschte den Bühnenvorhang wie ein leichtes Segel in den [445] Zuschauerraum hinaus, und Qualm und Flammen schlugen hinauf bis zur obersten Galerie. Die vielen Hunderte, die schon im Hause waren, wollten fliehen. Und alle hätten sich vielleicht in hellen Korridoren und auf erleuchteten Treppen noch retten können. Aber da kam dieses Dunkle: Ein Verstörter, dessen Name nie erforscht wurde, befahl einem Bühnenarbeiter, den Haupthahn der Gasleitung abzudrehen, um eine Gasexplosion zu verhüten. Die Notlampen waren noch nicht angezündet. Und die Fliehenden in den verwinkelten Korridoren waren plötzlich in schwarze Nacht gehüllt, taumelten und irrten in unbarmherziger Finsternis. Und hinter ihnen sprang der Tod einher, mit der Bestialität der Verzweifelten, von denen einer den anderen niederstieß, mit Rauch und erstickenden Dünsten. Als Hitze und Flammen kamen, war kein Lebender mehr im Hause. Der Todeskampf dieser Verlorenen muß grauenhaft gewesen sein, doch kurz. Noch ehe der erste Feuerwehrmann in die Stickluft der stillen Gänge ein, zudringen vermochte, schlug in diesen aufgetürmten Leichenwällen schon lange kein Herz mehr.

Wie schnell dieses Fürchterliche geschah, wurde späterhin durch die Feststellung erwiesen, daß auf der zweiten und dritten Galerie fast alle Billeteure, [446] die mit den Wegen im Theater doch vertraut waren, diesen würgenden Minuten zum Opfer fielen.

Als ich bei hellem Tage heimkam in meine Bude, verstört, bedrückt und an allen Knochen wie zerschlagen, versuchte ich zu ruhen, versuchte zu schlafen. Die Erschöpfung machte mich duseln, die Träume rüttelten mich wieder auf.

Wie soll man sich den Bildern eines solchen Grauens entringen? Die Augen schließen? Man sieht mit der Seele. Die Ohren verstopfen? Man hört den Jammer mit dem Herzen.

Ich sperrte mich den ganzen Tag in mein Zimmer ein, wanderte auf und ab, warf mich hin, sprang wieder auf. Am Abend, als ich hungrig wurde, ließ ich mir Mehlspeise und Obst holen. Ich konnte jenen Geruch nicht vergessen, der mir aus dem Polizeihof nachgegangen war – und durch viele Tage noch blieb in mir dieser unüberwindliche Widerwille vor gebratenem Fleisch.

Am anderen Morgen kamen zwei Briefe. Der eine enthielt einen gedruckten Zettel, vom 9. Dezember datiert:

»Auf Grund des § 9 Ihres mit mir geschlossenen Kontraktes sehe ich mich mit großem Bedauern veranlaßt, wegen Abbrennens des unter [447] meiner Direktion gestandenen Ringtheaters denselben allsogleich aufzulösen. Der Ihnen pro rata temporis ziemende Betrag Ihrer Monatsgage wird Ihnen durch meinen Sekretär flüssig gemacht werden. – Franz Jauner.«

Ich bin des Glaubens, daß der Mann, der diese Urkunde unterschrieb, sie nicht verfaßte. Sonst hätte sie anders gelautet. Jauner war eine vornehme, feinfühlige Natur.

Der zweite Brief, der auch vom 9. Dezember datiert war, kam aus München, von meiner Mutter. Er begann mit den Worten: »Mein lieber Bub! Schau, ich hab's heruntergebetet! Als ob mir's vorgegangen wär! Ich hab heut Nacht halt wieder einmal nicht schlafen können. Und da hab ich in der ewigen Sorg um mein leichtsinnigs Schliffele allweil gebetet. Und hab's richtig heruntergebetet, daß dir nichts geschehen ist! Ich sag dir's, Bub, glaub dran: es gibt einen, der die Menschenleut beschützt, wenn sie Vertrauen zu ihm haben.«

– Ach, Mutter! Und die Dunklen, die da drüben liegen im Polizeihof? –

Um meine Stellung, die ich nun verloren hatte, machte Mama sich in diesem Brief keine Sorge. Sie schrieb: »Das Leben ist das Beste. Wenn [448] man nur 's Leben hat! Das andere gibt sich alles von selber.«

Das war ein Glaube, den ich mir einreden ließ, ohne daß ich Beweise verlangte.

Am Abend war eine Versammlung der Theatermitglieder im Restaurant Ronacher. Auch Franz Jauner kam, wortkarg und bedrückt. Die Namen der Mitglieder wurden aufgerufen. Und immer lief es einem kalt über den Rücken, wenn ein Name verklang und keine Antwort kam. An die Choristen und Bühnenarbeiter wurden Unterstützungen verteilt. Der Theaterschneider, ein mageres Männchen, stand mit gesenktem Kopfe da und sagte leis: »Ich habe die Großmutter, meine Frau und mein Kind verloren.« Franz Jauner zitterte, schlug die Hände vor das Gesicht und brach in Schluchzen aus. In diesem Augenblicke wußten wir alle, daß wir unseren Direktor liebten.

Er mußte büßen. Schwer. Und weniger, weil er ein Schuldiger war, als weil er die Verantwortung für sein Theater und für die Unzuverlässigkeit von einem Paar seiner Leute zu tragen hatte. Er war so schuldig und so schuldlos, wie sich damals jeder Theaterdirektor, nicht nur in Wien, hätte fühlen müssen, wenn das Unglück [449] unter dem gleichen Zusammentreffen vernichtender Zufälle sich in seinem Haus ereignet hätte. – Franz Jauner war ein starker, wertvoller Mensch, ausgestattet mit allen gewinnenden Eigenschaften des echten Wieners; dazu ein begabter, unternehmungsfroher, an glücklichen Einfällen reicher Theatermann, auf der Bühne ohne Leichtsinn, fern von jeder Gewissenlosigkeit, einer, dem für sein Theater alles zu wenig war und nichts zu viel. Sein Leben war seit dem 8. Dezember zerbrochen. In späteren Jahren versuchte seine gebeugte Tatkraft noch einmal aufzuflackern. Er blieb ein Opfer, das jenen anderen beizuzählen ist. –

Die Mitglieder des Wiener Ringtheaters wanderten damals in die vier Winde auseinander. Nur ein paar von ihnen hab ich im späteren Leben wieder gesehen.

Immer zog es mich zu dem Platze, auf dem, unser' Theater gestanden. Aber ich ging nicht hin. Erst viele Tage später sah ich die schwarze, traurige Ruine, die schon abgebrochen wurde. Alles Vernichtete stieg wieder vor mir auf. Ich sah die schönen Bühnenbilder aus dem ›Herrgottschnitzer‹, hörte heiteres Lachen und frohen Beifall – hörte das Angstgeschrei verzweifelter Menschen und starrte auf diesen rieselnden Schutt, der [450] nicht erzählen wollte, wie viel an menschlichen Resten er noch umschlossen hielt als Kohle und Asche.

Die Zahl der völlig Verschwundenen war groß. Von jenen, die nur das Leben, nicht auch die menschliche Form verloren hatten, waren am Abend des ersten Tages nach dem Brande schon an die Zweihundert aufgefunden und ›geborgen‹, wie der technische Ausdruck des Polizeirapportés lautete. Von Stunde zu Stunde schwoll die grauenhafte Liste. Die Zahl der Abgängigen war gleich am ersten Tage auf 1200 ›Nummern‹ angewachsen. Doch diese Ziffer milderte sich. Im ersten Schreck hatte man alle Gedankenlosen, alle Neugierigen und Streuner, die in Wien während dieser Nacht nicht heimkamen zu den Ihrigen, bei der Polizei als Vermißte angemeldet. Es dauerte eine ganze Woche, bis halbe Klarheit in diese Liste kam. Schließlich, wenn ich mich recht erinnere, blieb nach allen Milderungen die noch immer entsetzliche Ziffer: 470 – mit vielen Fragezeichen dahinter, die keine Antwort fanden. Was von den völlig Verschwundenen noch gefunden wurde, war nicht mehr menschliche Form: verkohlte Strünke, bis zur Unkenntlichkeit zermalmte Klumpen, einzelne Gliedmaßen, schwarze Knochen – und Schuhe, in denen noch die abgerissenen Füße staken.

[451] Das Fürchterliche jener Tage war mehr als das Trauerspiel einer Stadt. Man empfand es in ganz Österreich als eine nationale Katastrophe.

Das frohe Leben von Wien war verwandelt zu einer Raserei des Schreckens und der Schmerzen. Alles andere, was Menschen beschäftigt, fesselt und erregt – Politik und Kunst, Erwerb und Ehrgeiz, auch das Glück und die Liebe – wurde für viele Tage ein Stummes, ein Gleichgültiges und Fernes.

Dieses lachende Wien war eine einzige weinende Familie geworden. Und hinter dem grauenvollen Unglück an welchem Tausende zu tragen hatten, blieb unter vielen hundert Dächern eine schreiende Not.

Dem unerhörten Jammer folgte eine unerhörte, bewunderungswürdige Kraftleistung des Erbarmens. Wien machte den Anfang, die ganze Welt folgte nach. Es begann ein Regen, nein, ein Wolkenbruch der Wohltätigkeit. Die Hilfsgelder flossen nach Millionen zusammen. Alle Not konnte gelindert, völlig verscheucht werden. Die Schmerzen blieben. Und sie verwandelten sich in nützliche Warner.

Mit der Sicherheit in den Theatern aller Welt ist es besser geworden seit damals. Die Opfer des Ringtheaters wurden Schutzengel für tausend [452] Nachgeborene. Man hat in den Theatern gelernt von jenem Wiener Unglück. Aber der ›Mann beim eisernen Vorhang‹ – wie jeder andere, in dessen Händen bei Eintritt einer Gefahr die Entscheidung über das Leben vieler Menschen liegt – kann wieder einmal ein Schwacher oder ein Ungesunder sein, dessen Nerven versagen, oder dessen Gehirn im Schreck einen Purzelbaum schlägt, der für Hunderte gefährlich wird. Aber diese unverjagbare Möglichkeit ist kein Grund, um ein Theatergebäude oder sonst eine Sache der Welt mit Mißtrauen zu betrachten. Man muß, wenn man leben und sich freuen will, immer wieder ein bißchen zum ›leichtsinnigen Wiener‹ werden und lachend denken: ›Es wird nicht gerade heute was passieren!‹

Gegen diese ›Parole des Wiener Leichtsinns‹, gegen, dieses gottsträfliche: ›Es wird schon nichts passieren!‹ wurde damals mit Erbitterung gescholten. Gewiß – diese fünf vertrauensseligen Wörtchen haben bei jenem Unglück viel verschuldet. Aber hätte man damals in Wien alle ›Sicherheitsmaßregeln‹, die man aus der ersten Verstörtheit heraus in Vorschlag brachte, auch wirklich eingeführt, dann wäre das schöne, frohe Wien ein grauer Kerker geworden. Man soll nicht allzugrimmig [453] urteilen über dieses raschgläubige ›Es wird schon nichts passieren!‹ In diesem Wort verbirgt sich eine der stärksten Lebenskräfte, eine der hilfreichsten Frohsinnsmächte. Einmal, vielleicht sogar sehr oft, kann dieses Wort versagen – hunderttausendmal führt seine lächelnde Vertrauensseligkeit das Leben an Gefahren vorüber, in die uns eine pedantische Vorsicht ganz sicher hineinstoßen würde. Ohne dieses hilfreiche Lebenswort hätte die Schlacht keinen Soldaten, das Schiff keinen Matrosen, die Institution der Ehe keinen Bräutigam und in den meisten Fällen auch die Wiege kein Kind. Das ist so mein Glaube. Deshalb rede ich nicht der Unzuverlässigkeit das Wort. Das Notwendige muß getan werden. Und wo man ein Mannsbild hingestellt zur Erfüllung einer Pflicht, da soll es dieser Pflicht auch genügen in einem Augenblick der Not. Aber das ganze Leben und jede Freude umschnüren mit eiserner Vorsicht? Nein! Dabei schwände das Lachen aus der Welt. Und die einzige, wahrhaft verläßliche unter allen Sicherheitsmaßregeln bliebe dann nur noch der Strick, der jede Möglichkeit einer weiteren Lebensgefahr mit Akuratesse beseitigt.

Von der Nachwirkung des Schreckens und unter dem beklemmenden Eindruck dieser wochenlangen[454] Debatten über die Ringtheaterkatastrophe und ihre ›Lehren‹, verödeten damals die Zuschauerräume aller Wiener Bühnen. Nur das Wiedener Theater, wo die neue, fröhliche Operette von Johann Strauß ›Der lustige Krieg‹, gespielt wurde, war leidlich besucht – das Lachen hat Flügel, die das Leben aus allen Schatten einer Tiefe immer wieder in die Höhe tragen. Die Direktoren der anderen Privatbühnen standen vor dem drohenden Krach. Auch Oper und Burgtheater, dessen geheiligten Bau man jetzt als ›verrufenes Winkelwerk‹ bezeichnete, litten schwer. Theaterkarten wurden noch billiger als Brombeeren. Man nahm sie nicht einmal umsonst.

Nun begann die Sorge um die ›fröhliche Theaterstadt‹, die Zeitungen veröffentlichten immer neue Mahnrufe an die Besonnenheit des Wiener Publikums, und eine Deputation der kummervollen Wiener Theaterdirektoren wurde vom Kaiser in hilfsbereiter Audienz empfangen.

Ich erinnere mich noch, daß eine Zeitung klagte: »Unser Theater ist zu Tod verwundet, wer rettet das Wiener Theater?«

Dieses Wunderwerk vollbrachten nicht die hysterisch aufgedunsenen Polizeivorschriften für den Theaterbetrieb, nicht die überstürzten Erneuerungsbauten[455] auf den Bühnen und nicht die pompösen Sicherheitsvorkehrungen in den Zuschauerräumen. Das Wiener Theater wurde gerettet vom unbesiegbaren Wienertum, das schließlich trotz allem Schreck seine zärtliche Theaterfreude nicht entbehren, sein frohes Lachen, sein Kulturbedürfnis nach Kunst und seine träumende Sehnsucht nach Schönheit nicht verlernen konnte.

Aber bevor das Leben in Wien um die Weihnachtswoche wieder aufzuatmen und heiter zu blinzeln begann – welch eine Zeit des Grauens und der Verstörtheit ist das gewesen!

Und inmitten dieses Grauens zitterte die erste, sehr empfindlich angereiste Blüte meines jungen Glückes, das immer lachen wollte und ein unbedrücktes Lachen nimmer fertig brachte.

Wir beide hatten uns lieb, wir gehörten zueinander. Das wußten wir jetzt. Aber was nun weiter? Unsere Zukunft begann wie jene berühmte Novelle der Fliegenden Blätter: »Er war Künstler und sie hatte auch nichts«. Nach Auszahlung meiner Gehaltsquote ›pro rata temporis‹ bestand mein ganzer Barbesitz aus 270 Gulden. Meine Stellung futsch. Daheim in München dunstete ein Käslaib alter Schulden.

Und Papa mit seinem mageren Beamtengehalt?[456] Wie sollte Papa mir helfen können? Das wollte ich gleich gar nicht versuchen! – Was aber dann? Ich grübelte mir das Gehirn heraus und fand keinen Weg.

Ein paar Wochen quälender Unschlüssigkeit. Mein Mädel und ich, wir sahen uns selten. Entweder lief ich verstört und ratlos in Wien herum, oder ich hockte daheim und versuchte zu arbeiten. In dieser wirbligen Stimmung wurde das neue Volksstück, an dem ich schrieb – ›Der zweite Schatz‹ – eine unzureichende Sache. Als es am Münchener Gärtnertheater aufgeführt wurde, fand es wohl Erfolg. Aber das war von jenen Erfolgen einer, die nichts eintragen.

Die letzte Brücke, von der ich hoffte, daß sie zu hilfreichem Mammon führen könnte, war eingestürzt. Und meine Verzweiflungsstimmung führte zu einer gefährlichen Krise. Ich begann verhängnisvolle Fragen an mich zu stellen. Das liebe Mädel in meine bodenlose Existenz hereinzerren? Durste ich das? Und warten? Viele Jahre warten? Konnte ich das? Die Antwort verschwieg ich mir. Aber durch vierzehn Tage fand ich nimmer den Mut, meinem Mädel vor die Augen zu treten. Und dann, eines Nachmittags im Kaffeehaus, brachte mir einer von den weiland [457] Schauspielern des Ringtheaters die Nachricht: »Weißt du schon? Die Kathinka hat einen glänzenden Antrag aus Breslauer Stadttheater bekommen.« Das gab mir einen Stoß ins Hetz, aber auch einen bewegenden Stoß ins Genick.

Die Überlegung war eine sehr kurze. Ich? Wieder nach München heim? Und das liebe Mädel? Irgendwohin in die Ferne hinaus? Wann würden wir uns wiedersehen? Uns wieder finden? – Nein! Alles andere! Nur das nicht: Nur nicht die Trennung!

Ich erinnerte mich einer Bergpartie, die ich als Student im Wettersteingebirge gemacht hatte. Ich verstieg mich damals und geriet in die Nacht. Auf dem Gesims einer Felswand saß ich ein paar Minuten und studierte. Links und rechts, vorne und hinten, überall konnte der Purzelbaum auf mich warten. Da war der kürzeste Weg noch immer der beste. Also grad hinunter über die Wand! Ich fing zu kraxeln an und dachte: »In Gottesnamen, es wird schon gehen!« Es ging. Ich kam zu einer netten Jägerhütte, in der ein Licht brannte. So was Ähnliches muß man erlebt haben, um recht zu wissen, was ›Licht‹ bedeutet.

Diese Erinnerung gab mir die Parole für [458] den Entschluß meiner Liebe: »In Gottesnamen, es wird schon gehen!« – (Und heute, dreißig Jahre später, während ich diese Geschichte meiner ›unverantwortlichen Heirat‹ niederschreibe, sitze ich auf dem Gehäng des Wetterstein in meinem Jägerhaus, und sein helles Licht leuchtet hinaus in die schwarze Oktobernacht, durch deren Finsternis die verliebten Hirsche röhren.)

Nicht einmal einen langen Rock zog ich an. Weil ich keinen hatte. Geraden Weges rannte ich vom Kaffeehaus zum Bruder meines lieben Mädels. Ich erinnere mich noch an den Wortlaut meines Antrages: »Sie? Wie ist denn das jetzt? Geben Sie mir die Thinka?« Er mußte lachen und sagte: »Ja!« Und fügte bei: »Viel Kapitalien haben S' vermutlich nicht. Aber Talent haben S'! Und Kurasch! Sie kommen schon in die Höh!« Und mein Mädel legte die kleine, schöne Hand in meine zitternde Faust, sah mich mit heiterem, vertrauendem Lächeln an, fragte nichts und wollte nichts wissen – und gab sich mir fürs ganze Leben.

Also, nun war ich Bräutigam. Und schrieb einen glückseligen Brief an die Meinen nach München. Diese Glückseligkeit hielt auch lachend ein paar Tage an. Aber dann begannen wieder [459] die materiellen Gewissensbisse. Denn Mama, obwohl sie versuchte, sich ›von ganzem Herze‹ an meinem Glück zu freuen, schrieb sorgenvolle Briefe, in denen sich refrainartig die Frage wiederholte: »Bub, Bub, wie willst du's denn mache? Ich schwitz mir vor lauter Angst um dich und das gute Mädle die Seel aus dem Leib!«

Um Vater und Mutter zu beruhigen, fing ich – jetzt ging es schon nimmer anders – zu schwindeln an: daß ich zweitausend Mark, in Reserve' hätte, und daß mir bei einer neuen Wiener Zeitung, die ›in der Gründung begriffen‹ wäre, eine famose Stellung in Aussicht stünde. Mama glaubte das gleich. Nur Papa blieb ein bißchen mißtrauisch. Und dann kam er für einen Tag nach Wien, um sich die zukünftige Schwiegertochter anzusehen.

Von Vaters Besuch, dem ich mit Herzklopfen entgegenharrte, sind mir zwei Szenen mit intensiver Klarheit im Gedächtnis geblieben.

Ich holte Papa des Morgens um achte von der Westbahn ab und führte ihn, damit er frühstücken könnte, ins Restaurant Leidinger. Nach seiner Gewohnheit bestellte er sich was Billiges. Das Billigste auf der Speisekarte war Rindsgulasch. Sehr schön sah es aus. In der Farbe [460] erinnerte es an den Scharlachmantel eines Kardinals. So reichlich war es paprizieri. Papa speiste mit Überwindung. Und zwei Stunden später kollerten ihm noch immer die scharfen Tränen über das gute Gesicht herunter. Er sagte: »Nein, du! An die Wiener Kost könnt' ich mich nicht gewöhnen. Was daheim die Mutter kocht, das ist mir lieber. Einfach – und doch kräftig.«

Die zweite Szene spielte bei der Brautschau. Mein Mädel hatte Wangen wie Pfirsiche in der flaumigen Reise, hatte so auffallend blühende Farben, daß die Leute, die ihr auf der Straße nachguckten, mißbilligend den Kopf schüttelten und häufig mit strengem Vorwurf sagten: »Nein, das ist doch schrecklich! Ein so ein junges Mädel! Und sich soooo schminken!« Und als die Braut nun meinem Vater gegenübersaß, potenzierten ihre Freude und Angst diese Pfirsichfarben erst recht ins Unglaubliche. Papa, der ein bißchen betroffen dreinguckte, sah immer mich und dann wieder das Mädel an. Und obwohl es sonst nicht seine Art war, zärtlich zu werden, und obwohl die unklare Stimmung des Augenblicks zu Zärtlichkeiten gar nicht anregte – küßte der Vater plötzlich und sehr rasch mein Mädel auf die Wange. Und küßte, küßte und küßte immer wieder, immer die gleiche Stelle – und [461] wickelte sein weißes Taschentuch um den Zeigefinger, sagte streng: »Jetzt halt' ein bisserl still!«, begann den bunten Pfirsich sehr energisch zu reiben, und erklärte mit glücklichem Verwundern: »Wahrhaftig! Es geht nichtab!« Da mußte mein glühendes Bräutl so heiter lachen, daß Papa für diesen ganzen frohen Tag aus dem Schmunzeln nimmer herauskam.

Am Abend, als ich ihn zur Bahn begleitete, sagte er: »Du! Die nimm! Eine bessere kriegst du schwerlich mehr! Und wenn es auf der Welt eine geben kann, die mit deinem Leichtsinn fertig wird und bei dir aushält – dann ist es die da! So ein netter, gescheiter und lieber Kerl!«

Zwei Tage später kam ein Jubelbrief der Mutter. Und schließlich schrieb sie: »Bub, ich bin ganz eifersüchtig! So lobt mein Gustl alleweil dein Mädle!« Dieser glückselige Brief hatte aber doch noch eine in Sorge zitternde Nachschrift: »Gelt, das ist dochwahr? Mit deine zweitausend Märkle? Tag und Nacht bet ich allweil, daß es nit bloß eine Ausred ist, weil dein Herzl und dein Blut jetzt hungrig sind und nimmer warten mögen?«

Ich schickte über die Sicherheit meiner Existenz die verläßlichsten Beteuerungen nach Hause. Und [462] sie waren keine Notlüge, wenn lachender Mut und glücklicher Glaube als Garantien für ein sorgloses Leben gelten dürfen.

Die kurze Brautzeit verflog, ich weiß nicht, wie. Durch eine Spanne von drei Monaten ist in meiner Erinnerung nichts von allem zu finden, was Wien oder Weltgeschichte hieß. Ich weiß nur von lachenden Tagen meines Glückes, weiß nur von Frühlingsnächten, die seliger Traum oder fester Schlummer waren.

Für den 7. Mai war die Hochzeit festgesetzt. Und am Morgen des 1. Mai umfaßte mein Barbesitz noch die Riesensumme von zwei Gulden und fünfzig Kreuzern.

Es ist hübsche Sitte in Wien, am ersten Mai den Menschen, die man lieb hat, Blumen zu schicken. Ich kaufte für mein liebes Mädel zwei Kinderfigürchen aus Terrakotta, jedes zu einem Gulden – und auf dem Naschmarkt bekam ich für 50 Kreuzer einen dicken Strauß prachtvoller Maiglöckerln. Für einen Dienstmann hatte ich nichts mehr übrig. Ich selber mußte das Maigeschenk in die Nibelungenstraße tragen.

– Das hab ich in gemütlichen Stunden schon oft erzählt. Die Geschichte dieser beiden Terrakottafigürchen ist eines der Lieblingsmärchen meiner [463] Kinder. Daß die Geschichte wahr ist, glauben sie nicht. Und wenn ich das unter Frauen erzählte, kam es immer so, daß eine erschrockene Seele fragte: »Um Gotteswillen! Was haben Sie denn dann getan?« Worauf ich, der Wahrheit gemäß, die Antwort gab: »Ich habe geheiratet. Und wir wollten unsere Hochzeitsreise nach Venedig machen. Aber wir kamen nur bis Abbazia.«

»Weil – –???«

»Nein! Das Reisegeld hätte noch lang gereicht. Aber Abbazia war damals in der Rosenblüte so unglaublich schön, daß wir drei Wochen blieben und nimmer weiter wollten.« –

Das Heiraten verursachte mir keine schweren Kosten. Mein freundlicher Schwager in spe sorgte für alles. Ich brauchte nur für das Brautbukett und die Eheringe aufzukommen.

Dabei half mir ein Feuilletonhonorar. Und als auch dieser segensreiche Schatz schon wieder zur Neige ging und nur noch sechzig Kreuzer in meiner Tasche trauerten, machte ich mit Braut und Schwägerin einen Besorgungsbummel. Die Damen bekamen Appetit, und wir traten in einen berühmten Wiener Selcherladen, um heiße Würstln zu schmausen. Ich behauptete keinen Hunger zu haben, mein Bräutl war mit einem einzigen Paar [464] zufrieden – aber die Schwägerin! Heiße Würstln waren ihre Schwäche und ihre Leidenschaft. Mir hämmerte das Herz, und der Angstschweiß trat mir auf die Stirne. Als die Rechnung genau schon sechzig Kreuzer ausmachte, sagte ich chevaleresk: »Mariederl, geh, vergönn dir noch ein Paarl!« Sie schüttelte den schönen Madonnenkopf: »Na, Dokterl, dank schön, es reicht!« Die liebe Seele! Ich konnte den Selcherladen als Kavalier verlassen. – Die Geschichte, die ich da erzählte, mag manchem Leser belanglos erscheinen. Für mich war sie ein aufwühlendes Erlebnis. Noch selten hatte ich in schwerer Lebensgefahr so hart gelitten und so quälende Sekunden überstanden, wie damals in jenem berühmten Wiener Selcherladen, auf dessen Schild der sprachlich mysteriöse Name ›Weißhappel‹ zu lesen stand.

Und am anderen Morgen war ich gerettet, war sein heraus. Es gibt doch Freunde! Nicht? Und solch ein Guter und Verläßlicher, der einiges Vertrauen auf meine Zukunft setzte, borgte mir zweihundert Gulden für die Hochzeitsreise.

Diese zwei knisternden Zettel wurden das Fundament meiner bürgerlichen Existenz, die Schwelle meines Lebensglückes, der Brunnen meiner lachenden Vaterfreude.

[465] Als Papa am Abend des 6. Mai in Wien zur Hochzeit eintraf, mich mit sorgenvollem Blick betrachtete und zögernd die Frage tat: »No, Bub, wie steht denn alles?« – da konnte ich mit Stolz und Überzeugung sagen: »Alles glänzend!«

Der Vater atmete auf. »Brauchst du denn gar nichts von uns?«

»Nein, Papa! Dank schön.«

Er schmunzelte. »Jetzt glaub ich bald auch an die Zweitausend.«

Meine Freude hatte nur einen Schatten: daß die Mutter nicht kommen und mein lachendes Glück nicht sehen konnte. Wegen einer Zahngeschichte mußte sie zu Hause bleiben. Der Brief, den sie dem Vater für ihr ›liebes Pärle‹ mitgegeben hatte, war eine Art von weißem Himmel – auf und zwischen den Zeilen dieser stammelnden Liebe waren viele graue, strahlige Sternchen. Das war wieder so wie bei Mutters Briefen in meiner ersten Studentenzeit. Ändern sich die Mütter nie? Nur die Kinder?

Der Vater teilte mit mir die letzte Nacht in meiner Junggesellenbude. Mir blieben die Augen nicht zu. Immer mußte ich mich in den Kissen aufsetzen und vor mich hinlachen. Und um 6 Uhr früh mußte Papa aus den Federn; da half nichts [466] mehr. Er sagte: »Geh, zappel doch nicht so! Jetzt haben wir noch fünf Stunden Zeit.« Aber es litt mich nimmer zwischen den vier Wänden.

Wir gingen in den Prater hinunter. Ein wundervoller Morgen war's. In einem Gärtl frühstückten wir. Und um die endlose Zeit zu kürzen, besuchten wir das Panorama. Dann eine Stunde für das römische Bad. Und heim! Und vom Hals bis zu den Zehen in meine beste Wäsche. Und mein Myrtensträußerl ins Knopfloch des Fracks. »Schau ich gut aus, Papa?«

»Geh, du dummer Kerl! Auf so was kommt's doch nicht an.«

Als wir zum Brauthause fuhren, fragte ich: »No, Vaterl? Bekomm ich denn keine guten Lehren für den Ehestand?«

Er schüttelte den Kopf. »Was für meine Ehe paßte, das paßt nicht für die deinige. Heiraten und Sterben muß jeder für sich selber ausprobieren. Jetzt steckst du drin, jetzt wuzel dich durch! Und gib dir Mühe, dein Glück zu verdienen. Die Ehe kann das Fürchterlichste sein, aber auch das Beste und Wertvollste des Lebens. Führ dich so, daß du dich vor deiner Frau nie schämen mußt. Alles andere gibt sich. Und wenn du jetzt Mann wirst, so vergiß doch nie,[467] daß du noch immer Kind bleibst. Die das Kindsein verlernt haben, sind noch niemals glückliche Vater geworden. Und das, Bub: in Freude Vater sein –das ist das Allerbeste.«

Ich nahm Papa in der Droschke um den Hals und küßte seine blasse Wange.

Mein Bräutl war noch nicht fertig, als wir kamen – das erste und das letzte Mal, daß sie bei der Toilette auf sich warten ließ. Doch als sie kam, da guckte sie wie ein blühendes Röserl aus all dem feinen Weiß heraus.

Eine große Versammlung von Schwestern, Tanten, Nichten und Freundinnen war vorhanden. Diese weiblichen Seelen vergossen eine reichliche Tränenmenge. – Drei Wochen später, als wir von der Hochzeitsreise heimkamen, sagte ein kleiner Neffe in Erinnerung dieser vielen Tränen zu meiner Frau: »Du! Tante Thinkerl! Weißt du noch: ich war bei deiner Leich!« – Es wird wohl so sein müssen, daß man Tränen streut, wenn Glück und Freude gegangen kommen. Man sollte nur nicht weinen, wenn sie wieder gehen – sollte dankbar nur das Eine wissen: Sie waren da!

In der Augustinerkirche wurden wir getraut. Freund Richard Alexander war mein Brautführer. Und die Kirche wimmelte von Theatervolk. Der [468] geistliche Herr hielt eine schöne Rede. Als er schwieg, vermutete ich, daß die heilige Handlung vorüber wäre, und daß ich mich nun in feierlicher Weise als Ehemann zu dokumentieren hätte. Also hob ich den Schleier meiner Frau und küßte sie auf den Mund. Ein seines, heiteres Kichern huschelte durch die ganze Kirche. Der geistliche Herr schaute sehr verwundert drein – er war noch gar nicht fertig gewesen, hatte nur eine Stimmungspause gemacht. Nun sprach er weiter. Und ich mußte noch einige Minuten warten, bis ich mich als vollständig verheiratet betrachten durfte. Jetzt war mein Bräutl richtig und wirklich meine Frau. Doch das prophetische Wort meines Vaters erfüllte sich nur halb: mit meinem Leichtsinn ist sie trotz redlichem Bemühen nicht völlig fertig geworden – aber treu und tapfer hat sie bei mir ausgehalten, ob unser Leben feststand, oder ob es bedrohlich wackelte. Sie wurde der Liebling und das Vertrauen meines Vaters, wurde das Herzblatt meiner Mutter – und wurde mir eine Frau, deren innerstes Leben, obwohl es verständnisvoll jedem Werte des Daseins angehörte, doch eigentlich nur von zwei Gedanken geformt und geleitet wurde: von dem Gedanken an das Wohl ihres Mannes, von dem Gedanken an das Glück ihrer Kinder. Ein [469] heiteres Mahl bei Sacher. Viele Trinksprüche in Reim und Prosa: auf das Brautpaar, auf Eltern und Großeltern, auf Geschwister und Freunde. Das erschien mir als eine halbe Sache. Drum klingelte ich an mein Glas und sagte: »Wir grüßten in Dankbarkeit und Ehrfurcht die Vergangenheit. Wir sprachen Segenswünsche für die Gegenwart. Warum sollten wir nicht auch an das Kommende denken dürfen? Ich trinke auf das Wohl der Kinder, die wir kriegen!«

Abends um 6 Uhr die selige Fahrt. Meine kleine Frau in dem braunen Reisekleidchen und in dem braunseidenen Kapothütt sah so entzückend aus, daß ich ganz verdreht wurde. Doch in allem Wirbel meiner Freude mußte ich auch an ein Ernstes denken. Auf der Fahrt mm Bahnhof machten wir einen Umweg und fuhren an der Stätte des verschwundenen Ringtheaters vorbei, auf der sich die Gerüste für den Bau des ›Sühnehauses‹ zu erheben begannen.

Wir saßen still im Wagen, Hand in Hand. Und die Augen wurden naß.

Tausend Schmerzen für andere. Für uns das Glück. Warum gerade für uns? Das ist eine Frage, die keine Antwort findet. Ich fühlte [470] nur: Das Leben war uns freundlich. Und ich bin ihm dankbar geblieben.

Wien verschwand uns im Glanz der Sonne. Felder kreisen, Dörfer und Städte fliegen vorbei, und in der Dämmerung des Frühlingsabends kommen die Berge auf uns zugelaufen.

Zwei Tage blieben wir in Graz. Ich habe diese zierliche Stadt an der Mur erst viele Jahre später gesehen. Am dritten Tage, auf dem Bahnhof in St. Peter, wurde meine liebe Frau von einem ganz gefahrlosen, aber höchst unbequemen und langwierigen Leiden befallen, obwohl wir uns unanzweifelbar auf festem Lande befanden. Und ich gemütsrohes Mannsbild hatte beim Anblick der Symptome eine unsagbare Freude. Die kleine Frau war mir nun doppelt lieb, und das Leben wurde mir etwas noch viel Schöneres, als es mir ohnehin schon gewesen.

Wir wollten von Fiume nach Venedig und machten einen Ausflug nach dem Fischerdorfe Abbazia. Noch kein Hotel, kein Badegast. Nur wir. Und das blaue Meer und die blühenden Rosen. Wir blieben. Über diese drei Wochen wäre ein leuchtendes Märchenbuch der Freude zu schreiben. Teresina, die lustige Tochter in der Osteria alla piazza, extrahierte den Inhalt dieses [471] Märchens in ihrem gebrochenen Deutsch mit den geflügelten Worten: »Niechs als eß und dink und lach und Bussi geb.« Diese knuspernde, selige Weltvergessenheit kostete für uns beide fünf Gulden im Tag.

Und dennoch schmolz das ›Fundament meiner bürgerlichen Existenz‹ in der dritten Woche sehr bedenklich zusammen.

Als wir bei der Rückkehr nach Wien den nüchternen Boden des Lebens wieder betraten, hatte ich noch siebzehn Gulden. Mein opferfreudiger Schwager holte uns vom Bahnhof ab und sagte: »Paßts auf Kinder, jetzt gibt's a klane Überraschung!« Wir führen weit, bis nach Döbling hinaus. Vor einem hübschen Gartenhause hielt der Wagen, als es schon dunkel war. Bei der Türe begrüßte uns eine nette, flinke, muntere Wiener Köchin mit den Worten: »Grüß Gott, gnä Frau! Grüß Gott, gnä Herr!« Und in einer niedlichen, reizend eingerichteten und festlich beleuchteten Wohnung erwartete uns eine heitere Gesellschaft beim gedeckten Tisch, auf dem die Bouillon schon dampfte und die Gläser schon gefüllt waren.

Wenn Kinder solch ein Märchen erleben dürften, würden sie sagen: »Heinzelmännchen«. In [472] meinem Märchen mußte ich sagen: gute Menschen.

Am anderen Morgen, früh um 9 Uhr, begann ich die Arbeit: das erste Kapitel meines ersten Hochlandsromans ›Der Jäger von Fall‹.

Mein Studio war ein großer Raum gegen den Garten, mit einer Treppe auf den Rasen hinunter. Die Fenster standen offen. Die Amseln und die Stare zwitscherten.

Herrgott, da war das Arbeiten eine seine, frohe Sache! Während die Feder knisterte, legte sich ein Arm um meinen Hals, und eine liebe Stimme sagte neben meinem Ohr: »Du, Goscherl! Verzeih, daß ich störe! Aber weißt du, die Köchin muß einkaufen. Sag mir, wie willst du es denn halten mit dem Haushaltungsgeld?«

So herzlich diese Stimme klang – der jäh erwachte Ernst des Lebens faßte mich doch ein bisserl schreckhaft an der Kehle! Aber ich fand die Ruhe, die in allen Augenblicken der Gefahr das Nötigste ist. »Ja, mein Herzkind! Morgen! Gelt? Schau, laß mich nur heut mit der Arbeit ein bisserl in Schuß kommen. Morgen reden wir dann über das andere weiter. In meinem Brieftascherl findest du fünfzehn Gulden. Das wird schon reichen für heut.« [473] Es reichte fast eine Woche. Denn alle Schuhläden in Küche und Speisekammer waren von der lieben Schwägerin Heinzelweibchen vollgezauber: bis an den Rand.

Als ich das erste Kapitel meiner Arbeit vollendet hatte, führ ich in die Stadt. Über die drei Monate, bis ich den Roman vollendet haben würde, mußte ich mich hinüberbalancieren. Wie ich es machte, will ich verschweigen – die Methode erinnerte an die Gepflogenheiten meiner ersten Studentenzeit. Kurz und gut, wie die Chronisten sagen – am anderen Morgen konnte ich meiner Frau das Haushaltungsgeld für den Monat Juni, bar hundert Gulden, auf das Frühstückstischerl legen.

Ich konnte auch für die Folge ziemlich pünktlich sein. Meine Frau merkte in diesen ersten Monaten nie was von der verschwiegenen Sorge, die mich manch eine halbe Nacht in meinem großen Studio herumtrieb, wie der Hunger den Wolf im Schneegefilde. Sie ging ein Vierteljährchen lang als eine zufrieden Lächelnde über den Bodensee meiner gefrorenen Tasche. Und als sie endlich merkte, wie es um meine Finanzen stand, da war auch schon die Hilfe nimmer weit.

In einer schwülen Sommernacht konnte ich [474] sie mit der freudigen Botschaft wecken: »Goscherl! Mein Roman ist fertig!«

Am folgenden Morgen schickte ich das Manuskript an eine vielgelesene Wochenschrift. Acht Tage – nicht in Sorge – nur in wachsender Ungeduld. Und dann ein vernichtender Donnerschlag. Die Arbeit kam zurück. Sie war für den Abdruck in einer Wochenschrift unbrauchbar, weil ich den, sonst sehr wirksamen Stoff' durch ein außereheliches Kind verunziert hatte.

Der Schreck führ mir kalt in die Knochen. Und nun merkte meine kleine, kluge Frau, daß irgend was nicht völlig stimmte. Halb erriet sie es, zur anderen Hälfte hab ich es ihr sagen müssen. Ihre großen, erschrockenen Augen zwangen mich zur Beichte.

Eine Szene? Nein! Wie gut meine Frau mir war – das hatte ich noch in keiner Stunde der Zärtlichkeit so deutlich erfahren, wie ich es jetzt erfuhr, an diesem Tage quälender Sorgen.

Die Arbeit ändern? Nicht ums Kaputwerden! Ich biß die Zähne übereinander. Und vor allem mußte ich wissen, ob das Buch was taugte, oder ob es wirklich ein unbrauchbarer Dreck war. Mit der Bitte, mir unverblümt die Wahrheit zu sagen, schickte ich das Manuskript nach München an Karl [475] Stieler. Vierzehn Tage, die fürchterlich waren! Und keine Antwort.

Dann eines Morgens kam ein Brief von einem mir völlig fremden Manne, von dem Verlagsbuchhändler Alfred Bonz in Stuttgart. Der schrieb mir ungefähr: »Herr Dr. Stieler hat mir mit einer warmen Empfehlung Ihr Buch geschickt; die Arbeit gefällt mir, ich nehme sie in Verlag, drucke zweitausend Exemplare, bezahle Ihnen sofort ein gutes Honorar und knüpfe nur die Bedingung daran, daß Sie mir auch Ihre nachfolgenden Werke zum Verlage anbieten.«

Meine Frau und ich, wir beide wurden halb verrückt vor Freude. Jetzt hatten wir festen Boden, konnten dem Gespenst der Sorge einen vergnügten Fußtritt geben und mit Vertrauen weiterwandern auf sicherem Weg. Kämpfen mußte ich noch viele Jahre lang – aber nur, weil ich trotz akuter Besserung chronisch ein leichtsinniger Strick blieb, der niemals rechnen, sich niemals nach der Decke strecken lernte. Aber wenn mein Lebensverlangen ein Loch aufriß, gelang es mir mit gesteigerter Arbeit immer wieder, glatten Boden zu machen. So blieb mir schließlich aller Kampf eine heitere Sache, weil hinter jedem Schreck immer neu ein gläubiges Lachen kam.

[476] Dreißig Jahre! Seit jenem Tag, an welchem das zur Heimat wiederkehrende Manuskript mir ein kaltes Rieseln durch alle Knochen goß, ist der ›unbrauchbare Jäger von Fall‹ in etwa neunzigtausend Exemplaren gedruckt worden. Und auch in einem anderen Sinne wurde jener Schreck mir wieder zu einem Glück. Der herzliche Liebesdienst, den mir Karl Stieler erwies, brachte mein abgelehntes Buch zu Alfred Bonz, zu einem Verleger, der sich für meine Lebensarbeit als treuer und verläßlicher Kamerad erwies. Jenen Verlegerjammer, über den so manch ein aufwärts kämpfender Schriftsteller üble Lieder zu singen weiß, hab ich niemals kennen gelernt. Mein Verleger glaubte an mich und an die Lebensfähigkeit meiner Arbeit, und mit Geduld und Opfern hielt er mich zehn Jahre über Wasser, bis endlich der Erfolg für uns beide sich einstellte. Das wohlwollende Leben gab mir viele Freunde – einen der besten in meinem Verleger.

Zu dem klingenden Segen, der damals vor dreißig Jahren aus Stuttgart kam, fand ich in Wien noch als Kritiker eines Wochenblattes eine nette kleine Stellung, die mir ein Sicheres eintrug und wenig Arbeit von mir verlangte. Ich konnte ganz meinen träumenden Poetenplänen gehören, [477] ganz dem lachenden Glück meiner jungen Ehe. Im Gartenfrieden unseres Döblinger Lebens floß uns ein schöner und stiller Sommer hin.

Im Spätherbste übersiedelten wir nach Wien, in die Rathausgasse. Unser Kindl sollte keine Vorstadtknospe werden, sondern ein richtiges Wiener Blut.

Ich blieb in diesen harrenden Winterwochen fast immer daheim. Nur an jedem Mittwoch vergönnte ich mir den Sprung in den Literaturverein. Hier fand ich Menschen, zu denen es mich hinzog. Vincenz Chiavacci war Vorstand – und neben ihm der junge Karlweis, Wilhelm Goldbaum, Gustav Schwarzkopf und Ludwig Hevesi. Wir wurden Freunde fürs Leben. Treue Werte, die sich für mich zu Kostbarkeiten steigerten, blinkten mir an diesen Mittwochabenden im Weißen Lamm zum erstenmal – und gleich so hell, daß sie nicht zu übersehen waren.

Und ein fleißiger Winter wurde das! Der Gedanke an das Kommende, der mich immer erfüllte, wie sorgende Beklommenheit und doch wie heiße, zärtliche Freude, hielt mich durch Tage und Nächte am Schreibtisch fest. Ich machte damals sogar den waghalsigen Versuch, das Sparen zu lernen. Alles andere ist mir besser gelungen.

[478] Welch ein wundersames Gefühl: in Sehnsucht lieben, was man noch nicht sah. Man weiß nur, daß es lebt, und daß es kommen wird. Feine, leise, kaum ertauschbare Herzschläge flüstern von diesem nahenden Leben. Ist ein Alltägliches, ein billionenmal Gewesenes im Ewigkeitslauf der atmenden Dinge – und doch ein Wunder, das jedem, der es erfährt, wie ein Neues und unerhörtes erscheint. Heute sind deine Arme noch leer, und morgen tragen sie, was du heißer lieben wirst als dich selbst. Die Sprache redet so aus Gewohnheit: Blut von deinem Blute, Fleisch von deinem Fleische, Geist von deinem Geiste, Form nach deiner Form. Doch diese Laute sagen dir nichts, sind leer und arm. Das Wunder ist heller als jedes menschliche Wort, tiefer als jeder menschliche Gedanke. Immer sinnt und sucht deine Seele, um es zu erforschen. Immer sieht sie ein durch Glanz und Nebel schwimmendes Gesicht, weiß und winzig, klar und dennoch unfaßbar, mit Augen, die dich fragen, mit einem Mündlein, das zu dir reden möchte und noch gar nicht lächeln kann. Und wollen deine Hände in Sehnsucht greifen, dann entgleitet es und zerfließt, kein Schimmer eines Erinnerns bleibt in dir zurück – und du weißt dir keinen anderen Rat, als deine brennende[479] Stirn in die Arme zu pressen und zu zittern an Leib und Blut. –

Am Abend des 4. Februar schrieb ich die letzten Seiten meiner Hochlandsgeschichte ›Hochwürden Herr Pfarrer‹. Im Kalender stand der Faschingssonntag. Und in dem Stockwerk unter uns wurde Hausball gehalten. Immer klangen die Straußischen Walzer durch den Stubenboden heraus. Es war gegen Mitternacht, als ich unter den Schluß meines Manuskriptes jenen erlösenden Schnörkel machte. Und da wollt' ich es meiner Frau gleich sagen: Jetzt hab ich wieder was fertig. Aber das Schlafzimmer nebenan, dessen Türe offen stand, war dunkel und still. Ich wollte die Schlummernde nicht wecken, setzte mich ins Speisezimmer hinaus und klimperte piano auf der Zither. Da hör' ich, wie eine beklommene Stimme meinen Namen ruft. Ich renne hinüber ins Schlafzimmer. Das Kerzenlicht flackert. Meine Frau sitzt weiß in den weißen Kissen, das Haar ein bißchen verwirrt, einen irrenden Schreck in den großen Augen, und stammelt: »Du! Mir scheint –«

Seit Wochen war alles schon abgeredet. Wir beide, die Köchin Fanny und ich, wir wußten ganz genau, was wir zu tun hatten. Und so sauste ich gleich davon, um die weise Frau zu [480] holen – und wäre natürlich in den Hauspantoffeln davongelaufen, wenn meine Frau nicht aus dem Schlafzimmer herausgerufen hätte: »Goscherl, draußen liegt Schnee, feste Schuhe mußt du anziehen:«

Der Weg war nicht weit. Droben im dritten Stock des ersehnten Hauses brannte ein rotes Laternchen. Und von da droben hörte ich die Klingel bis auf die Gasse herunter. So energisch hatte ich am Drahte gerissen. Bis die Kluge mit ihrer sonderbaren Strohtasche herunterkam, erwischte ich einen Fiaker. Er brachte mich und die redselige Dame im schärfsten Trab zu mir nach Hause und ließ sich schicken, um den Schwager und die Schwägerin aus dem Schlaf zu läuten.

Die Kluge ging mir nicht rasch genug über die vier Treppen hinaus. Deshalb verfeindeten wir uns. Aber sie wurde wieder freundlich, als sie gleich bei der Wohnungstüre den Duft des schon fertigen Kaffees in ihre weise Seele schnuppern konnte.

Nun diese fürchterlichen, quälenden Stunden! Diese rat- und hilflose Zerknirschung. Und die Leidende, zwischen tapfer verbissenem Stöhnen, sagt noch immer: »Geh, Goscherl, schau, es ist [481] doch gar nicht so arg.« Und als unter dem Stubenboden wieder ein Straußischer Walzer schmeichelt, muß sie lachen: »Schade, daß ich da nicht mittanzen kann!« Aber dann will sie mich nimmer im Zimmer leiden, nicht einmal bei der Türe. Und sagt zur Köchin: »Fannerl, bleiben S' draußen beim Herrn, daß er keine Dummheiten macht!«

Die Köchin sitzt vor meinem Schreibtisch im Lehnstuhl, erzählt allerlei wienerische Lustigkeiten – und ich renne im Zimmer herum wie ein verlorenes Schaf. Selbstgefühl des Mannes? In solchen Stunden wird der ›Herr und Stolz der Schöpfung‹ ein Blödian, etwas Überflüssiges und Unbequemes.

Dann dieser lähmende Schreck, als die weise Frau unter Zitierung des Sprichwortes ›Sicher ist sicher!‹ einen ›Professor‹ haben will! Mit marternden Bildern in der Seele rase ich über die vier Treppen hinunter. Und wie ich zur Haustüre hinauswill, fährt gerade mein Schwager vor. Und frägt: »No, was is denn? Geht's los?« Und lachen kann er! Das gemütsrohe Scheusal! Lachen! Während mir das Wasser herunterkollert über das eiskalte Gesicht. Und lachend sagt er: »No, no, no, sei nur ruhig, ich fahr schon und hol den Professor.« [482] Fast eine Stunde dauert's. Und in dieser Stunde renne ich zwanzigmal die vier Stöcke hinauf und zwanzigmal wieder herunter zur Haustüre.

Schon dämmert der graue, kalte Morgen.

Endlich! »Ach, lieber Herr Professor –« Auch der kann lachen! Und sagt gemütlich: »Nur Seelenruhe! Wir kommen nicht zu spät!« Er ist ein bißchen korpulent. Drum schleicht er noch viel langsamer über die Treppe hinauf als die kluge Dame. Auf jedem Treppenabsatz bleibt er stehen, verschnauft behaglich und erzählt meinem Schwager eine nette Anekdote. Und droben im Speisezimmer sieht er meine Gemskrucken und Hirschgeweihe an: »Ooooh! Fein! Haben Sie die alle selber geschossen?« Und in meinem Studierzimmer sagt er: »Da haben Sie aber einen hübschen Ofen!« Und als er endlich, endlich im Schlafzimmer ist, bekundet er noch sein ganz besonderes Wohlgefallen an unserem pompejanischen Waschservice und will sich die Adresse notieren, wo es zu haben ist.

Die Türe wird geschlossen. Ich will verzweifeln, bin dem Irrsinn nahe. Und da erzählt mir die Köchin mit strahlendem Stolz: daß ›wir‹ den gleichen Herrn Professor haben, der immer die Kaiserin Elisabeth entbunden hat! [483] Ein herzzerreißender Schrei. Dann Stille da drinnen. Und jetzt was Leises, Feines, kaum noch Hörbares – ein Laut, als hätte man an einem Buchsbaumschächtelchen den knirschenden Deckel aufgedreht – – das Weinen meines Kindes.

Für ein paar Sekunden verlor ich die Herrschaft über meine Sinne. Und später erzählte mir die Köchin: Ich hätte schauderhaft gebrüllt und hätte gradauf in die Luft einen Sprung gemacht, viel höher noch als der Tisch.

Dann steh' ich in dieser matten Dämmerung, in der ich zuerst nicht sehe – an den zwei verhängten Fenstern sind schmale leuchtende Lichtlinien – da draußen kam die Sonne. Und auf verwüstetem Kissen, mit einer dünnen weißen Decke bis an den Hals, liegt regungslos und erschöpft die junge Mutter, versucht zu lächeln, und ihre Augen glänzen mich an. Ich taumle hin, in meinem Herzen ist etwas so Schweres und Starkes, daß es mich auf die Knie wirst, und immer küsse ich in Dankbarkeit die schlaffe, glühende Hand, bis meine Frau wieder lächeln möchte und müde lispelt: »Aber geh, so schau dich doch ein bisserl um!«

Es reißt mich in die Höhe, es dreht mich. Und da liegt was Rosiges auf weißem Leinen. Und zappelt ein bißchen.

[484] »Ach Herrjeh, ein Mäderl!« Und in allem verstörten Glück ist das mein erster Gedanke, mein erstes Wort: »Das Mädel muß heißen wie meine Mutter: Lotte!«

Mir schwimmen die Augen, während ich lache. Und dennoch kann ich sehen. Und sehe mein Kindl, das groß die blauen Augen offen hat. Aber den Vater mag es nicht angucken, hat das goldumringelte Köpfl ein wenig zur Seite gedreht und staunt wie verwundert in den hellen Schimmer am Fenster, in die glänzende Morgensonne. So liegt es vor mir – nicht braun und blau und verknüllt und zerquetscht, wie Kinder ins Leben gleiten – weiß wie ein Wachsfigürchen mit Rosenblättern, mit zierlichen Gliederchen, ohne Fehl und Makel! Nein, ich kann's nicht schildern! Doch wenn ich jetzt sage: daß nie noch ein Kind geboren wurde, so vollkommen und so schön – dann lachen mich die Nüchternen aus, und niemand glaubt es mir. Und dennoch ist es wahr!

Fast dreißig Jahre sind vergangen. Und ich fühl' es noch immer, als hätt' ich es heut erlebt, an diesem jüngsten Morgen. Und mein Kindl ist Frau und Mutter. Und ist noch immer mein Kind. Und hat mir Glück und Licht und Freude gegeben.

[485] Meine Arme trugen schon drei Kinder meines Kindes. Und schau' ich in das glänzende Lachen dieser jungen Augen, dann ist ein froher, stolzer und schöner Gedanke in mir.

Mag vergilben, versinken, vergessen werden, was ich mit aller Arbeit meines Lebens schuf!

Ich bin unsterblich, weil ich lebe in meinen Kindern und Kindeskindern.

Daß Millionen Menschen, Milliarden von Geschöpfen, der rauschende Baum, die kleinste Blume und der leblos scheinende Stein sich rühmen dürfen, diese gleiche kostbare Unsterblichkeit zu besitzen – das kann ihren Wert in meinen Augen nicht schmälern.

Als das größte unter den schönen Wundern des Lebens erscheint mir dieses eine: daß alles Wertvollste auch immer ein Überhäufiges und Alltägliches ist.

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TextGrid Repository (2012). Ganghofer, Ludwig. Autobiographisches. Lebenslauf eines Optimisten. Lebenslauf eines Optimisten. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-B63A-9