Karl Emil Franzos
Die Juden von Barnow

[7] Vorwort zur sechsten Auflage

Die älteste Novelle dieses Bandes: »Das Christusbild« ist zugleich die erste, die ich geschrieben habe; sie ist vor dreißig Jahren (1868) entstanden. Daran reihten sich, gleichfalls in meiner Studentenzeit: »Esterka Regina« und »Der Shylock von Barnow«; die anderen Novellen fallen in das Jahr 1872. Daß gleichwohl ein später geschriebenes Buch – »Aus Halb-Asien« – früher erschien, während diese Novellen erst im Dezember 1876 zur Ausgabe gelangten, lag einzig daran, daß ich vier Jahre lang vergeblich nach einem Verleger suchte. Wer sich für die innere und äußere Entstehung der »Juden von Barnow« interessiert, findet sie in der von mir herausgegebenen Sammlung selbstbiographischer Aufsätze: »Die Geschichte des Erstlingswerks« erzählt.

Der äußere Erfolg hat sich besser gestaltet, als nach dem traurigen Vorspiel anzunehmen war. Nach Jahresfrist konnte die zweite, 1881 die dritte, 1886 die vierte, 1894 die fünfte Auflage gedruckt werden; die dritte Auflage war um zwei Novellen vermehrt; in der vierten trat noch eine neue hinzu. Hingegen erschien mir zwecklos, die fünfte, dann die vorliegende Auflage inhaltlich zu vermehren; ein Gesamtbild des polnisch-jüdischen Lebens kann und soll ja dieser Band nicht bieten, sondern Novellen aus diesem Leben; als[7] Kulturschilderer habe ich ein solches übersichtliches Bild in einem anderen Buche – »Aus der großen Ebene« – zu entwerfen gesucht. Aber auch ein innerer Grund stand dieser Erweiterung entgegen: ich hätte nur noch Arbeiten aus weit späterer Zeit einfügen können und dadurch die einheitliche Tonart dieses Jugendwerks zerstört. Aus demselben Grunde begnügte ich mich, für den vorliegenden Neudruck einige Stellen knapper zu fassen, andere klarer; denn im reifen Mannesalter ein Jugendwerk ganz umarbeiten zu wollen, scheint mir kein berechtigtes Beginnen. Zudem wäre es jetzt, nachdem einige Auflagen und zahlreiche Übersetzungen 1 erschienen sind, zu spät. Aus demselben Grunde halte ich es für richtig, die wesentlichen Stellen aus dem Vorwort zur ersten Auflage hier unverändert folgen zu lassen:

»Als ich vor vier Jahren zuerst ernstlich zur Feder griff, war es mir vor Allem Bedürfnis, künstlerisch zu gestalten. Ich wollte Novellen schreiben und rang darnach, ihnen poetischen Wert zu geben.

[8] Aber gerade zu diesem Zwecke schien es mir notwendig, ein Leben zu wählen, das ich auf das Genaueste kannte. Bezüglich des podolischen Judentums war dies der Fall. So bin ich denn vor Allem als Dichter in das podolische Ghetto gegangen, und was ich in diesen Novellen zunächst angestrebt habe, war der künstlerische Wert. Aber auf Kosten der Wahrheit habe ich ihn nicht zu erringen gesucht. Ich habe auch hier nirgendwo Verhältnisse gefälscht und bin mir bewußt, dies fremde Leben so geschildert zu haben, wie es mir selbst erscheint. Hat sich in meinem Buche ›Aus Halb-Asien‹ der Kulturschilderer auf den Novellisten gestützt, so durfte hier der Novellist nicht auf die Hilfe des Kulturschilderers verzichten. Und mag auch dort die eine, hier die andere Seite meines Wesens in den Vordergrund treten, in letzter Linie sind doch beide Eins; es bleibt immer mein sehnsüchtiges Bestreben: die Wahrheit künstlerisch zu gestalten. Und wie immer auch dem Novellisten das Urteil fallen mag, der Kulturschilderer nimmt es für sich in Anspruch, daß man seinen Worten glaube.

Diese Forderung ist nicht überflüssig, denn es ist ein sonderbares und eigenartiges Leben, in das ich den Leser führe. Die Strömungen und Gegenströmungen, von denen es durchflutet wird, finden sich in diesem Buche freilich eben nur angedeutet, und hätte ich sie – etwa in der Form einer Einleitung – des Näheren ausführen wollen, so wäre die Einleitung leicht stärker geworden, als das Buch. Ich habe sie darum unterlassen, glaubte dies aber auch mit gutem Gewissen tun zu dürfen. Denn schon bei Abfassung der Novellen habe ich berücksichtigt, daß es der Leser des Westens ist, für den ich schreibe. Nur ein Wort, das ich bereits in meinem ersten Buche [9] des Weiteren begründet habe, möchte ich ihm schon hier, an der Schwelle des zweiten zurufen: ›Jedes Land hat die Juden, die es verdient!‹ – und es ist nicht Schuld der polnischen Juden, wenn sie auf anderer Kulturstufe stehen, als ihre Glaubensgenossen in England, Deutschland und Frankreich. Mindestens gewiß nicht ihre Schuld allein.

Niemand kann über seine Natur hinaus; auch dies Buch ist in gewissem Sinn ein streitbares Buch, auch diese Novellen haben nebenbei einen Tendenzzweck. Aber ich schildere die polnischen Juden trotzdem nicht besser, noch schlechter, als sie sind, sondern genau so, wie sie sind.

Nicht zur Verhöhnung, nicht zur Verherrlichung des östlichen Judentums sind diese Novellen geschrieben, sondern sie verfolgen, allerdings nur nebenbei, den Zweck, auf Düsteres hinzuweisen und es lichten zu helfen, soweit meine Stimme reicht.«

Möge dem Buche bei seiner sechsten Wanderung durch die Welt sein freundliches Schicksal treu bleiben.


Berlin, im März 1899.

Der Verfasser.

[Fußnote]

Note:

1 Die Titel und Übersetzer habe ich im Vorwort zur vierten Auflage angeführt. Das Buch ist bisher in sechzehn Sprachen übersetzt worden und zwar – nach der Reihenfolge des Erscheinens dieser Übersetzungen geordnet – ins Holländische, Dänische, Schwedische, Russische, Hebräische, Englische, Italienische, Spanische, Französische, Magyarische, Serbische, Polnische, Neugriechische, Rumänische, Kleinrussische, endlich (in New-York, Verlag der »Jüdischen Volkszeitung«) in das sogenannte »Jüdisch-Deutsch«, die aus deutschen, slavischen und hebräischen Wörtern zusammengesetzte Umgangssprache der osteuropäischen Juden. Die Gesamtzahl der Übersetzungen stellt sich derzeit auf zwanzig, da in russischer Sprache drei, in englischer und hebräischer je zwei Übersetzungen erschienen sind. Eine der hebräischen Ausgaben, sowie die jüdisch-deutsche, sind freie Bearbeitungen, da sie zu dem Zweck angefertigt wurden, die orthodoxen Juden vorsichtig für eine freiere Glaubensrichtung zu gewinnen.

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TextGrid Repository (2012). Franzos, Karl Emil. Erzählungen. Die Juden von Barnow. Vorwort zur sechsten Auflage. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-B23E-7