Karl Emil Franzos
Die Juden von Barnow

[7] Vorwort zur sechsten Auflage

Die älteste Novelle dieses Bandes: »Das Christusbild« ist zugleich die erste, die ich geschrieben habe; sie ist vor dreißig Jahren (1868) entstanden. Daran reihten sich, gleichfalls in meiner Studentenzeit: »Esterka Regina« und »Der Shylock von Barnow«; die anderen Novellen fallen in das Jahr 1872. Daß gleichwohl ein später geschriebenes Buch – »Aus Halb-Asien« – früher erschien, während diese Novellen erst im Dezember 1876 zur Ausgabe gelangten, lag einzig daran, daß ich vier Jahre lang vergeblich nach einem Verleger suchte. Wer sich für die innere und äußere Entstehung der »Juden von Barnow« interessiert, findet sie in der von mir herausgegebenen Sammlung selbstbiographischer Aufsätze: »Die Geschichte des Erstlingswerks« erzählt.

Der äußere Erfolg hat sich besser gestaltet, als nach dem traurigen Vorspiel anzunehmen war. Nach Jahresfrist konnte die zweite, 1881 die dritte, 1886 die vierte, 1894 die fünfte Auflage gedruckt werden; die dritte Auflage war um zwei Novellen vermehrt; in der vierten trat noch eine neue hinzu. Hingegen erschien mir zwecklos, die fünfte, dann die vorliegende Auflage inhaltlich zu vermehren; ein Gesamtbild des polnisch-jüdischen Lebens kann und soll ja dieser Band nicht bieten, sondern Novellen aus diesem Leben; als[7] Kulturschilderer habe ich ein solches übersichtliches Bild in einem anderen Buche – »Aus der großen Ebene« – zu entwerfen gesucht. Aber auch ein innerer Grund stand dieser Erweiterung entgegen: ich hätte nur noch Arbeiten aus weit späterer Zeit einfügen können und dadurch die einheitliche Tonart dieses Jugendwerks zerstört. Aus demselben Grunde begnügte ich mich, für den vorliegenden Neudruck einige Stellen knapper zu fassen, andere klarer; denn im reifen Mannesalter ein Jugendwerk ganz umarbeiten zu wollen, scheint mir kein berechtigtes Beginnen. Zudem wäre es jetzt, nachdem einige Auflagen und zahlreiche Übersetzungen 1 erschienen sind, zu spät. Aus demselben Grunde halte ich es für richtig, die wesentlichen Stellen aus dem Vorwort zur ersten Auflage hier unverändert folgen zu lassen:

»Als ich vor vier Jahren zuerst ernstlich zur Feder griff, war es mir vor Allem Bedürfnis, künstlerisch zu gestalten. Ich wollte Novellen schreiben und rang darnach, ihnen poetischen Wert zu geben.

[8] Aber gerade zu diesem Zwecke schien es mir notwendig, ein Leben zu wählen, das ich auf das Genaueste kannte. Bezüglich des podolischen Judentums war dies der Fall. So bin ich denn vor Allem als Dichter in das podolische Ghetto gegangen, und was ich in diesen Novellen zunächst angestrebt habe, war der künstlerische Wert. Aber auf Kosten der Wahrheit habe ich ihn nicht zu erringen gesucht. Ich habe auch hier nirgendwo Verhältnisse gefälscht und bin mir bewußt, dies fremde Leben so geschildert zu haben, wie es mir selbst erscheint. Hat sich in meinem Buche ›Aus Halb-Asien‹ der Kulturschilderer auf den Novellisten gestützt, so durfte hier der Novellist nicht auf die Hilfe des Kulturschilderers verzichten. Und mag auch dort die eine, hier die andere Seite meines Wesens in den Vordergrund treten, in letzter Linie sind doch beide Eins; es bleibt immer mein sehnsüchtiges Bestreben: die Wahrheit künstlerisch zu gestalten. Und wie immer auch dem Novellisten das Urteil fallen mag, der Kulturschilderer nimmt es für sich in Anspruch, daß man seinen Worten glaube.

Diese Forderung ist nicht überflüssig, denn es ist ein sonderbares und eigenartiges Leben, in das ich den Leser führe. Die Strömungen und Gegenströmungen, von denen es durchflutet wird, finden sich in diesem Buche freilich eben nur angedeutet, und hätte ich sie – etwa in der Form einer Einleitung – des Näheren ausführen wollen, so wäre die Einleitung leicht stärker geworden, als das Buch. Ich habe sie darum unterlassen, glaubte dies aber auch mit gutem Gewissen tun zu dürfen. Denn schon bei Abfassung der Novellen habe ich berücksichtigt, daß es der Leser des Westens ist, für den ich schreibe. Nur ein Wort, das ich bereits in meinem ersten Buche [9] des Weiteren begründet habe, möchte ich ihm schon hier, an der Schwelle des zweiten zurufen: ›Jedes Land hat die Juden, die es verdient!‹ – und es ist nicht Schuld der polnischen Juden, wenn sie auf anderer Kulturstufe stehen, als ihre Glaubensgenossen in England, Deutschland und Frankreich. Mindestens gewiß nicht ihre Schuld allein.

Niemand kann über seine Natur hinaus; auch dies Buch ist in gewissem Sinn ein streitbares Buch, auch diese Novellen haben nebenbei einen Tendenzzweck. Aber ich schildere die polnischen Juden trotzdem nicht besser, noch schlechter, als sie sind, sondern genau so, wie sie sind.

Nicht zur Verhöhnung, nicht zur Verherrlichung des östlichen Judentums sind diese Novellen geschrieben, sondern sie verfolgen, allerdings nur nebenbei, den Zweck, auf Düsteres hinzuweisen und es lichten zu helfen, soweit meine Stimme reicht.«

Möge dem Buche bei seiner sechsten Wanderung durch die Welt sein freundliches Schicksal treu bleiben.


Berlin, im März 1899.

Der Verfasser.

[Fußnote]

Note:

1 Die Titel und Übersetzer habe ich im Vorwort zur vierten Auflage angeführt. Das Buch ist bisher in sechzehn Sprachen übersetzt worden und zwar – nach der Reihenfolge des Erscheinens dieser Übersetzungen geordnet – ins Holländische, Dänische, Schwedische, Russische, Hebräische, Englische, Italienische, Spanische, Französische, Magyarische, Serbische, Polnische, Neugriechische, Rumänische, Kleinrussische, endlich (in New-York, Verlag der »Jüdischen Volkszeitung«) in das sogenannte »Jüdisch-Deutsch«, die aus deutschen, slavischen und hebräischen Wörtern zusammengesetzte Umgangssprache der osteuropäischen Juden. Die Gesamtzahl der Übersetzungen stellt sich derzeit auf zwanzig, da in russischer Sprache drei, in englischer und hebräischer je zwei Übersetzungen erschienen sind. Eine der hebräischen Ausgaben, sowie die jüdisch-deutsche, sind freie Bearbeitungen, da sie zu dem Zweck angefertigt wurden, die orthodoxen Juden vorsichtig für eine freiere Glaubensrichtung zu gewinnen.

[10] Vorwort zur siebenten Auflage

Ein Jahr nach dem Tode ihres Verfassers werden »Die Juden von Barnow« von neuem ausgesendet. Der Funke, den er ins Düster geworfen, um »es lichten zu helfen,« wirkt fort im Strome der Aufklärung als sein unsterblich Teil.


Berlin, im Januar 1905.

Ottilie Franzos.

[10]

[11] [1]Der Shylock von Barnow

Gerade dem alten, grauen Kloster der Dominikaner gegenüber steht das große, weiße Haus des Juden, hart an der Heerstraße, die von Lemberg nach Skala führt und das düstere Städtchen durchschneidet. Wer in einem der kleinen, schmutzigen Häuser des Ghetto geboren ist, wächst in Ehrfurcht und Bewunderung auf vor diesem Hause und seinem Besitzer, dem alten Moses Freudenthal. Dieses Haus und dieser Mann sind der Stolz von Barnow. Und Beide rechtfertigen auch, jedes in seiner Weise, diesen Stolz.

Da ist zuerst das Haus. Es ist, als wüßte es seinen Wert, so stolz und stattlich steht es da in seinem weißen, reinlichen Aufputz, mit der langen, glänzenden Fensterreihe des ersten Stockwerks, mit den bunten Kaufläden zu ebener Erde, zu beiden Seiten des mächtigen Thorwegs, der einladend geöffnet ist. Denn dieses Haus ist ein Einkehrhaus und die Edelleute wissen seine Vorzüge zu schätzen, wenn sie ins Bezirksamt oder zum Wochenmarkt in die Stadt kommen, und ebenso die Kavallerieoffiziere aus den Dörfern [1] der Umgegend, wenn sie die Langweile hereintreibt. Aber daneben ist das Haus auch ein Zinshaus, denn im ersten Stockwerk wohnen die vornehmsten Honoratioren von Barnow, der Bezirksrichter und der Arzt, zur Miete und daneben – noch alles Mögliche dazu. Denn es ist fast schwer zu sagen, was alles im Erdgeschoße zusammengedrängt ist. Da findet sich eine Lottokollektur und eine Assekuranz-Agentschaft für Vieh, Menschen und Getreide, eine Tuchhandlung und ein Spezereiwarenladen, eine Weinstube für die vornehmen Gäste und ein Branntweinschank für die Bauern. Und Kollekteur, Agent, Kaufmann und Wirt, dies Alles ist Moses Freudenthal.

Aber der alte, hochgewachsene Mann mit den düsteren Zügen ist noch weit mehr. Seine Familie ist seit Menschengedenken die vornehmste im Städtchen, sein Betständer in der »Schul'« steht der erste in der ersten Reihe. Wie nach seines Großvaters Tode sein Vater, so ist er nach seines Vaters Tode Vorstand der Gemeinde geworden, ohne daß er sich darum beworben, ohne daß es Jemand eingefallen wäre, ihn nicht zu wählen. Er gilt als der frömmste und ehrlichste Mann der Judenschaft. Und dazu sein Reichtum, sein ungeheurer Reichtum!

Seine Glaubensgenossen halten ihn für einen Millionär und sie haben Recht. Denn ihm gehört nicht nur das Haus mit all' dem, was d'rum und d'ran ist, auch mehrere Güter der Umgegend kann er mit größerem Rechte sein nennen, als die polnischen Barone und Edelleute, die auf ihnen sitzen. Und das [2] herrliche Gut Komorówka gehört vollends ihm, nachdem es die früheren Eigentümer, der kleine Graf Smólski und seine schöne Gemahlin Aurora, in wenigen Jahren vergeudet. Es ist ein schönes, großes Gut, und der Graf hatte nicht grundlos aus Verzweiflung den größten Rausch seines Lebens, als er es verlassen mußte.

Würde es euch nach all' dem wundern, wenn ihr hören würdet, daß Moses Freudenthal nicht nur der reichste und stolzeste, sondern auch der meist beneidete Mann des Ortes ist?! Aber dem ist nicht so. Fraget den ärmsten Mann in der Judenstadt, den Thoralehrer, der mit seinen sechs Kindern am Hungertuche nagt, oder den Wasserträger, der die Woche hindurch vom frühen Morgen bis zum späten Abend vom und zum Stadtbrunnen keucht, fragt sie, ob sie mit Moses tauschen wollen, und sie würden euch »Nein« sagen. Denn größer als dieses Mannes Reichtum ist sein Unglück.

Ihr könnt es ihm freilich nicht vom Gesicht ablesen, wenn ihr ihn so stolz und stattlich vor dem Thorwege seines Hauses stehen seht. Unter dem kleinen schwarzen Sammetkäppchen quillt das Haar silbergrau hervor; silbergrau und dünn sind auch die beiden langen Locken, die nach der Weise der Chassidim an den Wangen herabfließen. Aber die Gestalt ist noch kräftig und ungebeugt, und der seltsam geschnittene, talarähnliche Judenrock aus schwarzem Tuche kleidet sie stattlich genug. Der alte Mann steht fast bewegungslos da und sieht dem Anstreicher zu, der die Thüre des Branntweinladens mit frischer, giftgrüner Farbe überzieht [3] und Flasche, Glas und Bretze gelb und weiß darauf malt. Nur selten wendet er den Blick ab, um einem Grüßenden zu danken. Denn es ist heute wenig Leben auf der Gasse. Ein Haufe ruthenischer Bauern torkelt angetrunken zur Stadt hinaus; ein Edelmann fährt in leichter Britschka vorüber; einige arme Dorfgeher, welche die Woche über von Bauernhof zu Bauernhof gegangen und für Geld und Tücher Felle eingetauscht, ziehen mit der erhandelten Ware auf dem Rücken wieder ein. Die Last ist schwer und der Erlös gering, aber auf den bleichen, abgehärmten oder verschmitzten Gesichtern ruht doch ein Schimmer der Freude und des Stolzes. Denn wenige Stunden noch und sie sind nicht mehr elende, mit Lumpen bekleidete Schacherjuden, an denen der Bauer seinen Witz und seine Peitsche prüft, sondern stolze Fürsten, die jubelnd in ihrem Palaste die wonnige Braut empfangen – die Sabbathruhe.

Nur wenige Stunden noch, denn die Sonne neigt zum Untergang und der Freitag Nachmittag geht zu Ende. In den Häusern rüsten sie überall für den Ruhetag; die Gasse liegt im hellen Sonnenglanze verödet. Nur vom Amte her kommt der Bezirksrichter, der gelbe, magere Herr Lozinski, mit einem jungen Fremden den Weg herauf und bleibt einige Minuten plaudernd bei Moses stehen, ehe er die Treppe zu seiner Wohnung emporsteigt. Sie sprechen von den schlechten Zeiten, wie hoch das Agio stehe, und dann, wie schön sich diesmal der April anlasse. Und es ist auch heute ein so lieber, rechter Frühlingstag, wie ihn [4] dieses Land sonst kaum im Mai zu erleben pflegt. Die Gassen der Stadt sind bis auf einige Kotlachen in der Mitte des Ringplatzes getrocknet, die Luft weht fast sommerlich lau und im Garten der Mönche drüben blühen die Fruchtbäume und der Flieder. »Frühling! Frühling!« jauchzen die Christenkinder, die eben aus der Nachmittagsschule vorübereilen. »Es wird Frühling!« sagt der Herr Bezirksrichter, greift an den Hut und führt seinen Gast die Treppe empor. »Es wird Frühling!« wiederholt der alte Mann unten und streicht sich über die Stirn, als erwache er aus einem Traum ... »es wird Frühling!«

»Ein merkwürdiger Mensch, der alte Moses!« plaudert oben der Bezirksrichter zu seinem Gaste, dem neuen Aktuar. »Ich weiß nicht, ein Sonderling. Man würde es ihm nicht ansehen; er weiß mehr vom Jus als der beste Advokat. Und denken Sie nur: er ist der reichste Mann im ganzen Kreise. Man spricht von mehreren Millionen. Und dabei plagt er sich die ganze Woche, als müßte er sein Essen für den Sabbath verdienen!«

»Ein Schmutzian, wie die Juden alle,« sagt der Aktuar und ringelt den Rauch seiner Cigarre in die Luft.

»Hm! doch nicht! Er ist wohlthätig, man muß sagen, sehr wohlthätig. Das macht ihm aber keine Freude und das Verdienen auch nicht. Und doch spekuliert er fortwährend. Für wen? ich bitte Sie, für wen?!«

»Hat er keine Kinder?« fragt der Andere.

»Ja freilich! Das heißt, wie man's nimmt. Nach [5] seiner Auffassung hat er keine. Aber kennen Sie seine Geschichte noch nicht?! Die weiß ja alle Welt – da sieht man, daß Sie aus Lemberg kommen. Da haben Sie wohl auch nichts von der Tochter des Alten gehört, von der schönen Esther Freudenthal? Das ist ja ein ganzer Roman, den müssen Sie hören!« ...

Der alte Mann, dessen Geschichte alle Welt kennt, lehnt unten noch immer an der Thür seines Hauses und sieht zu, wie die Blütenzweige im Klostergarten im Winde schwanken. Woran er wohl denken mag? An seine Geschäfte nicht. Denn seine Augen sind feucht geworden und um die Lippen zuckt es einen Augenblick wie verhaltener Schmerz. Er legt seine Hand über die Augen, als blende ihn das Sonnenlicht.

Dann richtet er sich auf und schüttelt das Haupt, als wollte er die trüben Gedanken mit abschütteln. »Beeilt Euch! es wird bald Sabbath!« ruft er dem Anstreicher zu und tritt näher heran, um die Arbeit zu besichtigen. Der kleine, buckelige Mann im abgeschabten polnischen Schnürrock ist eben mit den beiden Thürflügeln fertig geworden und hinkt nun mit dem Farbentopf an den Fensterladen. Im hellsten Zinnoberrot hatte diese Tafel einst in schöneren Tagen geprangt und in weißen Buchstaben war darauf jener schlichte Witz zu lesen gewesen, den man überall an den Schenkstuben der jüdisch-polnischen Städtchen findet: »Heute ums Geld, morgen umsonst!« Nun ist die Pracht längst dahin, die Worte sind unleserlich geworden, und emsig führt der Kleine den Pinsel mit dem saftigen [6] Grün darüber hin. »Wißt Ihr noch, Pani Moschko,« plaudert er dabei, »daß auch dies hier mein Werk ist?« Und er deutet auf das schmutzige Braunrot des alten Anstrichs.

Aber Moses denkt wohl an Wichtigeres und blickt kaum auf. »So?« sagt er dann gleichgültig.

»Ei freilich!« fährt das Männchen eifrig fort. »Erinnert Ihr Euch nicht mehr? Vor fünfzehn Jahren war's und gerade an einem so schönen Tage wie heute, da hab' ich's gemalt. Das Haus war noch neu und ich noch ein junger Bursch. ›Ich bin zufrieden mit Euch, Janko!‹ habt Ihr damals gesagt. Ihr seid vor dem Thore gestanden, ich glaube gar, an derselben Stelle und neben Euch Eure kleine Esterka. Heilige Jungfrau! was war das Kind schön! Und wie lieb es gelacht hat, wie so ein weißer Buchstabe nach dem andern auf dem roten Grund herauskam! Es hat auch gleich gefragt, was sie bedeuten, das liebe Kind! Und drei Theresienzwanziger habt Ihr mir für die Arbeit gegeben. Ich weiß es noch ganz genau. Ich hab' damals gedacht: ›Janko! das ist deine letzte Arbeit in Barnow.‹ Denn der alte Herr von Polanski hat mich nach Krakau schicken wollen, in die Malerschule. Aber er hat bald selbst nichts gehabt und sogar später seine Tochter Jadwiga aus Not und Durst verkaufen müssen, und so bin ich ein Anstreicher geblieben. Ja, der Mensch denkt und ... Teufel! der Alte ist fort und ich lüge da nur mich selber laut an wie ein Narr. Der Jud' zählt gewiß wieder seine Millionen ...«

Aber Janko irrt. Moses Freudenthal zählt in [7] diesem Momente seine Schätze nicht. Und ungezählt gäbe er sie vielleicht hin, könnte er dadurch die Thatsache aus seinem Leben streichen, durch die er ärmer und elender geworden ist, als der Bettler vor seiner Thüre. Er hat sich in die große dämmerige Wohnstube geflüchtet, in die kein Sonnenstrahl und kein Menschenlaut dringt. Hier darf er sich in den Sorgenstuhl werfen und aufschluchzen aus tiefstem Herzensgrund, ohne daß ihn die Leute fragen, was ihm fehle, hier darf er sein Haupt beugen und sein Haar zerwühlen und die Hände vor das Antlitz pressen. Er weint nicht, er betet nicht, er flucht nicht, aber zischend, wie ein schriller Wehelaut, klingt es immer wieder durch das öde Gemach: »Wie lieb das Kind gelacht hat!« ...

So sitzt er lange in der Dämmerung. Dann erhebt er sich und richtet den Blick nach oben, nicht wie ein Flehender – nein! wie ein Mann, der sein gutes Recht fordert. »Mein Herr und Gott!« ruft er, »ich flehe nicht, daß sie wiederkomme, denn durch meine Knechte ließe ich sie von meiner Schwelle jagen; ich flehe nicht, daß sie wiederkomme, denn durch meine Knechte ließe ich sie von meiner Schwelle jagen; ich flehe nicht, daß sie glücklich werde, denn sie hat zu viel gesündigt an Dir und mir; ich flehe nicht, daß sie elend werde, denn sie ist mein Fleisch und Blut; ich flehe nur, daß sie sterbe, damit ich meinem einzigen Kinde nicht fluchen muß, daß sie sterbe, mein Herr und Gott, sie oder ich! ...«

Und oben schließt der Bezirksrichter seine Erzählung: »Was aus der hübschen Kleinen geworden ist, weiß man nicht. Man denkt nicht mehr an sie; auch der Alte scheint die Geschichte vergessen zu haben.

[8] Denn sie sind ein herzloses Volk, diese Juden, Einer wie der Andere ...«


Es ist Dämmerung geworden im Städtchen, aber Licht in dem Herzen seiner Bewohner. Das düstere winkelige Ghetto strahlt im Glanze von tausend Kerzen und tausend frohen Menschenangesichtern. Wie ein gewöhnliches, natürliches Ereignis und doch zugleich wie eine geheimnisvolle, wonnige Offenbarung ist der Sabbath eingezogen in die Herzen und in die Stuben, und hat alles Dunkel und alle Ärmlichkeit der Wochentage aus ihnen verscheucht. Heute ist jede Kammer erleuchtet und jeder Tisch gedeckt und jedes Herz selig. Der Thoralehrer hat des Hungers vergessen, der Wasserträger der harten Arbeit, der Dorfgeher des Hohnes und der Schläge, und der reiche Wucherer der Prozente. Heute sind Alle gleich und Alle gläubige, fröhliche, demütige Söhne eines Vaters. Das dürftige Talglicht im Thonleuchter und die Wachskerze im silbernen Kandelaber bescheinen dasselbe Bild. Die Töchter des Hauses und die kleinen Knaben sitzen still da und sehen der Mutter zu, die nach altem schönem Brauch ihren Segen über die Sabbathlichter spricht, der Vater langt vom Bücherbrett das mächtige Gebetbuch und giebt es seinem ältesten Knaben, daß er es ihm bis zum Thore der Synagoge nachtrage. Dann treten sie auf die Gasse; die Männer gehen mit den Männern, die Weiber mit den Weibern, wie es die strenge Sitte fordert. Sie sprechen nicht viel mit einander und das wenige ernst und ruhig.

[9] Heute wird keine Klage laut und kein Jubelruf, denn in ihrem Innern ist es Sabbath, tiefer, heiliger Gottesfriede ...

Auch in dem großen weißen Hause gegenüber dem Kloster strahlen die Sabbathlichter. Aber eine fremde Hand hat sie entzündet und kein frommer Frauenmund spricht den Segen über sie. In der guten Stube prangt das feinste Linnen auf den Tischen und reicher schwerer Hausrat an den Wänden, doch kein frohes Kinderlachen klingt darin und kein liebes Wort. Nur die vielen Kerzen knistern leise im Verbrennen und das giebt einen traurigen Ton.

Aber der alte Mann, der nun im Festtagsgewand in die Stube tritt, ist der Einsamkeit und dieser Töne schon seit Jahren gewohnt, seit langen, ewig langen fünf Jahren. Früher freilich hat er oft um sich blicken und lauschen müssen, ob die liebe Stimme nicht wieder klinge. Denn ein solcher Abend war es ja, da sein Kind von ihm gegangen. Heute jedoch schreitet er rasch durch die Stube, nimmt das schwere, ledergebundene Buch vom Brette und verläßt eilig das Haus. Oder fürchtet er gerade heute die Geister der Erinnerung, die ihm aus allen Ecken und Enden der einsamen, lichtbestrahlten Stube aufsteigen müssen?!

Wenn dem so, dann ist es thöricht, ihnen entfliehen zu wollen, Moses Freudenthal! Sie heften sich an deine Fersen und sie umschwirren dein Haupt, magst du noch so rasch dahineilen durch die engen, dämmerigen Gäßchen. Sie klingen in deinen Ohren, magst du es auch versuchen, mit den Begegnenden zu plaudern, sie stehen [10] vor deinen Augen, magst du auch noch so gläubig aufblicken zu den Weihetäfelchen an den Pfosten des Gotteshauses! Und wie du durch die Reihen schreitest und dich auf deinen Sitz niederlassest, da schlagen sie vollends die Flügel über deinem Haupte zusammen und sie blicken dich an aus den Lettern deines Buches und sie rufen dir zu aus den Stimmen der Beter! ...

»Jubelt vor Gott! Brechet aus in Freude, in Jubelklang und Sang. Er richtet die Welt nach seinem Rechte, die Völker nach Gerechtigkeit!«

»Und den Einzelnen?« schreit es in dem unglücklichen Mann auf, »den Einzelnen – zermalmt er!« Seine Augen ruhen auf den Zeilen des Buches, seine Lippen flüstern die Worte des Gebetes, aber er betet nicht, er kann nicht beten! Wie ein Gespenst erwacht sein ganzes Leben und drängt sich vor sein Auge, wie ein Gespenst und doch in quälender Greifbarkeit und Lebendigkeit ...

»Wer nicht mehr beten kann,« hat ihm sein alter Vater oft gesagt, und er muß heute der Worte gedenken, »den soll man wegweisen von dem Angesichte des Ewigen.« Noch weiß er sich des Tages ganz genau zu entsinnen, da er es vernommen. Damals war er ein Knabe von dreizehn Jahren gewesen und hatte eben zum ersten Male die Betriemen anlegen dürfen, zum Zeichen, daß er in den Bund der Männer getreten. An jenem Tage war ihm das Leben aufgegangen, nicht weich und feenhaft, wie den Glücklichen dieser Erde, sondern hart und nüchtern, wie den anderen Söhnen seines Volkes. Wie alle die Anderen [11] hatte auch er allmählich gelernt, um zweier Dinge willen zu leben: um zu beten und um Geld zu verdienen. Und als er siebenzehn Jahre alt geworden, da hatte ihn sein Vater in seine Stube gerufen und ihm dort kurz und kühl gesagt, in drei Monate werde er heiraten und Chaim Grünstein's Rosele sei seine Braut. Er kannte das Mädchen nicht, er hatte es vorher nur zweimal gesehen, und recht angeschaut hatte er es eigentlich nie. Aber der Vater hatte für ihn gewählt und so war es ihm recht gewesen. Und nach drei Monaten war das Rosele sein Weib ...

Horch! Jubelnd, sehnend, herzergreifend beginnt nun der Vorbeter das uralte Sabbathlied: »Lecho daudi likras kalle.« Und im stürmischen Chor stimmen die Anderen ein: »Lecho daudi likras kalle« – komm', o Freund, der Braut entgegen, den Sabbath laßt uns fröhlich empfangen!

Seltsames Weben in der Seele eines Volkes! Auf die Gottheit und allein auf diese überträgt es alle Glut und alle Sinnlichkeit seines Herzens und seines Geistes. Demselben Volke, welches einst das Hohe Lied gedichtet, den ewigen Hymnus der Liebe, und die Geschichte der Ruth, die schönste Idylle der Weiblichkeit, demselben Volk ist in der tausendjährigen Nacht, Bedrückung und Ruhelosigkeit die Ehe ein Geschäft geworden, geschlossen, um Geld zu erwerben und um die Auserwählten Gottes nicht aussterben zu lassen. Und sie ahnen nicht einmal den entsetzlichen Frevel, der darin liegt.

Auch Moses Freudenthal nicht. Er hat sein Weib hoch gehalten alle Tage ihres Lebens, wie auch sie[12] ihm treu zur Seite gestanden in Freud' und Leid. Es war Segen auf seinen Werken, und was er begann, glückte. Mit rastlosem Eifer studierte er die Sprache der Christen und die deutschen Gesetze; der dreißigjährige Mann lernte wie ein Knabe. Nicht die Geldgier allein trieb ihn, auch ein stolzes Streben nach Ehre und Wissen. Und dieses Wissen trug seine Früchte, er wurde reich, sehr reich. Die Edelleute und die Offiziere kamen in sein Haus und beugten sich vor seinem Gelde; aber durch seinen Stolz und seine Ehrlichkeit zwang er sie, sich auch vor ihm selbst zu beugen. Damals beneideten sie ihn alle, und wenn er vorüberging, dann zischelten sie einander zu: »Das ist der glücklichste Mensch im ganzen Kreise.«

Aber war er es wirklich?! Warum war dann seine Stirne so häufig umdüstert, warum weinte dann das Rosele, wenn es allein war, als wollte ihm das Herz brechen?! Auf dem Glücke dieser beiden Menschen, die sich erst allmählich in gegenseitige Achtung hineingewöhnt, lag ein schwerer Schatten: ihre Ehe blieb kinderlos. Und weil eine fremde Hand sie zusammengefügt, weil sie einander doch in tiefster Seele fremd gegenüberstanden, darum konnten sie es nicht verwinden und fanden in sich kein Gegengewicht gegen diesen Schmerz. Der stolze Mann trug sein Weh verschlossen in der Brust und sah fast unbewegt zu, wie sein Weib dahinwelkte. Wenn seine Leute von Trennung sprachen, dann schüttelte er das Haupt, aber sein Mund fand auch kein Wort der Liebe für die Unglückliche. So vergingen lange Jahre. Aber [13] eines Abends – es war im Winter – als er in die Stube trat und seinem Weibe den »guten Abend« bot, da erwiderte sie seinen Gruß nicht leise, wie gewöhnlich, da blickte sie ihn nicht scheu und gedrückt an, wie sonst, da eilte sie ihm entgegen, da preßte sie sich in seine Arme, als hätte sie jetzt erst das Recht, an seinem Herzen zu ruhen. Überrascht, dann in seligem Ahnen blickte er ihr in das erregte, hocherrötende Antlitz. Dann ergriff er ihre Hand, zog sie auf den Sitz neben sich nieder und lehnte ihr Haupt an seine Brust. Ihre Lippen bebten, aber sie fanden beide kein Wort für ihre Seligkeit, kein armes Menschenwort! ...

»Lobet Gott den Allgelobten!« tönt die Stimme des Vorbeters in die Träume des Brütenden. Und die Gemeinde erwidert: »Gelobt sei Gott, unser Herr, der da schaffet den Tag und schaffet die Nacht, der da wälzet das Licht vor die Finsternis und die Finsternis vor das Licht, Er, der Allmächtige, der Beständige, der Gott der Heerscharen!«

»Gelobt sei Gott!« ... Mit welchen Gefühlen hatte Moses Freudenthal mit eingestimmt in diesen Ruf an jenem Sabbathabend vor zweiundzwanzig Jahren, an dem er zum ersten Mal als Vater das Haus Gottes betreten! Wie hatte sein Herz geblutet und gejauchzt, wie hatte er geweint vor Freude und Schmerz! Denn wohl war ihm ein Töchterlein geboren worden, aber sein Weib war gestorben an der späten, schweren Geburt. Ergeben und ohne Klage hatte sie die ungeheuren Schmerzen ertragen und selbst [14] in ihren letzten Stunden noch ging ein leises Lächeln über das verblaßte Antlitz, so oft sie die Stimme der Neugeborenen vernahm. Und in jenen qualvollen Stunden hatten sich auch die Herzen der Gatten gefunden, die fremd geblieben in den langen Jahren ihrer Ehe. Er allein verstand es, warum sein Weib sagen konnte: »Nun kann ich zufrieden sterben,« und sie allein verstand es, warum er sich immer wieder über ihre Hand beugte und schluchzte: »Verzeih', Rosele, verzeih!« – »Das Kind,« flüsterte sie, »gieb Acht auf das Kind!« Dann zuckte sie zusammen und war tot. Und am nächsten Morgen trugen sie sie hinaus zum »guten Orte«. Er aber zerriß seine Kleider und streifte die Schuhe von seinen Füßen und saß sieben Tage und sieben Nächte auf dem Estrich des Totenzimmers, wie es Trauerbrauch ist in Israel. Er weinte nicht; trocken und glanzlos starrte sein Auge in die Flamme des Totenlichts, das die Woche über brennen muß, damit die heimatlose Seele eine Ruhestatt habe auf Erden, ehe ihr Gott ihren Platz weist. »Er spricht mit der Toten,« flüsterten scheu seine Verwandten, als er immer und immer wieder vor sich hin murmelte: »Nun hätte alles gut werden können und nun bist Du tot!« Aber in milden Thränen löste sich sein Schmerz, als sie ihm das Kind brachten und fragten, wie es heißen solle. »Esther,« erwiderte er, »Esther, wie meine Mutter.« Lange hielt er sein Töchterchen auf den Armen und seine Thränen fielen auf das kleine Antlitz. Dann gab er es der Wärterin zurück und war von da ab gefaßt und ruhig. So [15] ging die Trauerzeit vorüber. Rastlos und emsig, wie kaum vorher ging er an seine Geschäfte. Ein neuer Geist schien über den Mann gekommen, jeder Tag brachte kühne Unternehmungen und neue waghalsige Pläne. Was kein Anderer versucht hätte, er wagte es, und das Glück blieb ihm treu. Nun führte er auch seinen Lieblingswunsch aus, kaufte den Platz gegenüber den Dominikanern und begann da ein großes Haus zu bauen. So vergingen die Tage in ruheloser Arbeit, des Abends aber saß er stundenlang an der Wiege seines Kindes und blickte in die weichen, noch unausgebildeten Züge. Und in den ersten Monaten hörte die Wärterin oft – es ward ihr fast unheimlich dabei – wie er sich sogar des Nachts erhob, in der Kinderstube niederkauerte und lange Zeit stumm und bewegungslos im Dunkel auf die Atemzüge des schlafenden Kindes horchte. Die Tage wurden zu Monaten und Jahren, die kleine Esther wuchs heran und ward sehr klug und schön. Sie sah dem Vater ähnlich, hatte sein schwarzes, gelocktes Haar, die hohe Stirn und die festen geschlossenen Lippen, aber fremd und rührend standen in diesem trotzigen Kindergesichte die sanften blauen Augen der Mutter. Oft und viel mußte der Vater in diese hellen Kinderaugen blicken. Und in solchen Momenten umfaßte er wohl auch sein Töchterchen und preßte es an sein Herz und gab ihm tausend süße Schmeichelnamen; sonst wies der ernste, verschlossene Mann dem Kinde wenig seine fast wahnsinnige Liebe. Als Esther fünf Jahre alt geworden, zogen sie aus dem engen Hause [16] in der Judenstadt in das große, weiße Haus gegenüber dem Kloster. Von da ab begann auch Moses für die Erziehung seines Kindes zu sorgen; in seiner Weise freilich oder richtiger, in der althergebrachten Weise. Esther lernte kochen, beten und rechnen; so wußte sie genug für das Haus, für den Himmel und für das Leben. Und was hätte ihr auch der Vater noch außerdem lehren lassen sollen? Das Deutsche etwa? Sprechen konnte sie es, das Lesen und Schreiben schien ihm, wie allen Juden in Barnow, für ein Mädchen unnützer Luxus. Er hatte es gelernt, um seine Geschäftsbriefe zu schreiben und das bürgerliche Gesetzbuch zu verstehen; seine Tochter bedurfte keines von beiden. Oder konnte sie etwa durch größeres Wissen besser und glücklicher werden? »Wenn ein jüdisch Kind gut beten kann,« geht das Wort unter diesen verdüsterten Menschen, »so braucht es nichts anderes, um gut und heiter zu sein!« Und doch sollte die kleine Esther noch das Deutschlesen lernen und viel, viel mehr dazu! ...

»Es war eine schwache Stunde!« murmelt der Mann und erhebt sich mit den Anderen zu dem langen Gebete, das man stehend sprechen muß, »eine schwache, thörichte Stunde! Weh' mir, daß ich nachgegeben, und Fluch dem, der mich dazu verführt!«

O, wie du da frevelst, Moses Freudenthal! Wie dich das Unglück auch geläutert und dich dein eigen Herz erkennen gemacht, noch immer kannst du es nicht erfassen, daß es eine Sünde gewesen, als du deinem Kinde das Licht und die Welt verschließen gewollt, [17] und daß du recht gethan, als du in jener Stunde gestattet, daß ein Anderer sie ihm erschließe. O wie du frevelst, alter Mann, wie du dein Herz verhärtest in Selbstsucht und Unverstand, wenn du weiter sprichst: »Das war mein und ihr Unglück! Denn von da ab ward ihr Sinn verstrickt und abwendig gemacht mir und meinem Gotte! O Fluch, Fluch jener Stunde!«

Das aber war vor dreizehn Jahren gewesen, an einem milden, hellen Sommerabend. Auf den Häusern und Plätzen lag das Mondlicht und der Staub der Straße glänzte weit hinaus, wie mattes Silber. Moses Freudenthal saß auf der Steinbank vor seinem Hause und brütete vor sich hin. Es war ihm seltsam weich zu Mute; er mußte immer wieder, ohne daß er es wollte, seiner Jugend und seines verstorbenen Weibes gedenken. Ihm zur Seite saß sein neunjähriges Töchterchen und blickte mit weit geöffneten Augen hinaus in die Mondnacht. Da kam ein Mann die Gasse herauf und blieb vor den Beiden stehen. Moses erkannte ihn nicht sogleich, aber die kleine Esther sprang auf und jubelte: »Onkel Schlome! Das ist schön, daß du zu uns kommst!« Nun erkannte auch Moses den späten Gast und stand befremdet auf. Was wollte Schlome Grünstein bei ihm und woher kannte sein Kind den »Meschumed?« Er war sein Jugendgespiele und der Bruder seines Weibes, aber seit zwanzig Jahren und darüber hatte Moses kein Wort mit ihm gesprochen. Denn mit einem »Meschumed«, mit einem Abtrünnigen vom Glauben, darf der Fromme keine Gemeinschaft haben [18] und ein solcher Abtrünniger war Schlome in den Augen des Ghetto. Und doch war der bleiche, kränkliche Mann mit den weichen, träumerischen Zügen immer Jude geblieben, lebte still und friedlich unter den Anderen und nützte seinen Reichtum zu Werken des Segens und der Barmherzigkeit. Aber der Makel und der Name klebten ihm aus seiner Jugendzeit unauslöschlich an.

Da war es ihm seltsam ergangen. Der Vater hatte den schüchternen und tiefsinnigen Knaben, der nur in seinen Büchern lebte und da allein Witz und Scharfsinn zeigte, zum Rabbi bestimmt. Schlome war damit zufrieden, studierte sich fast um seine Gesundheit und übertraf bald seine Lehrer. Denn in dem schwachen Knaben loderte eine verzehrende Sehnsucht nach Wissen und Erkenntnis. Diese Sehnsucht ward sein Verderben und der Fluch seines Lebens. Durch Geld und flehentliche Bitten bewog er den christlichen Schulmeister des Ortes, ihm heimlich, in späten Nachtstunden, das verbotene, verhaßte Hochdeutsch zu lehren und die »Christenweisheit«. Von der letzteren aber wußte der Schulmeister selbst nicht allzu viel und half sich damit, daß er seinem ungestümen Schüler, kaum daß dieser lesen konnte, alle Bücher aus der Klosterbibliothek zuschleppte, deren er nur immer habhaft wurde. So las der heranreifende Jüngling die seltsamsten und wirrsten Dinge bunt durcheinander und legte sie sich oft seltsam genug zurecht. Da kam ihm auch eines Tages ein Buch in die Hände, das ihn dem Wahnsinn nahe brachte. Die Form und der [19] Ton dieses Buches waren ihm wohlbekannt und vertraut, mahnten sie doch an die heilige Thora, aber der Geist, der durch diese Blätter zog, war ein anderer und – dem Jüngling erstarrte das Blut – ein milderer und sanfterer. Denn dieses Buch war das neue Testament. Wie Frühlingsluft wehte es ihn daraus an und doch sträubte sich sein Haar vor Entsetzen. Das also war die Götzenlehre der Christen und so hatte jener Mann gelebt und gewirkt, den seine Väter gekreuzigt und von dessen Bilde man ihn noch jetzt in Haß und Verachtung das Antlitz abzuwenden gelehrt! Der Schlag war zu heftig, Schlome verfiel in gefährliche Krankheit und lag lange Wochen in schwerem Fieber. Oft und viel weinte und sprach der Bewußtlose von dem bleichen Nazarener und dem Kreuz und jenem Buche. Entsetzt hörten es die Eltern und die Nachbarn; sie forschten nach dem Zusammenhang und entdeckten endlich die heimlichen Studien. Bald ging das unheimliche Gerücht durch das Ghetto, Schlome habe Christ werden wollen und sei dafür von Gott mit Wahnsinn gezüchtigt worden. Aber der Jüngling genas und ging wieder unter seinen Glaubensgenossen einher, noch scheuer, noch bleicher, noch gedrückter als vorher. Was in seinem Innern tobte und kämpfte, erfuhr niemand, aber jedes Kind in der Judengasse nannte ihn den »Meschumed« und wußte zu erzählen, daß er seinem Vater mit heiligem Eide geschworen, Jude zu bleiben, wenn dieser ihm dagegen Zweierlei gestatte: alle Bücher zu kaufen und zu lesen, die er wollte, und – unvermählt zu bleiben. Und [20] er hielt seinen Schwur, auch nachdem ihn der Tod seiner Eltern reich und unabhängig gemacht. So verging sein Leben in dem engen, finstern Ghetto. Er hatte nur einen Freund, das war David Blum, der Krankenpfleger, gleichfalls ein unglücklicher Mensch mit seltsamen Schicksalen. Aber diesen Freund gewann er spät und verlor ihn bald: David Blum starb, ob an den Folgen des Nervenfiebers, ob an gebrochenem Herzen, es war kaum zu entscheiden. Der »Meschumed« betrauerte ihn sehr und dieser Tod riß eine tiefe Wunde in sein ohnehin so freudenarmes Leben; ihm war's, als wäre da ein Stück seines eigenen Herzens zur frühen Gruft gesunken. Und doch war nicht bloß Beider Schicksal, sondern auch Beider Natur grundverschieden gewesen: David stark und hochstrebend, aber spröde und phantastisch und darum für immer gebrochen, als ihn einmal die Hand des Schicksals traf; Schlome schwach und milde, ein Dulder, den das Schicksal beugen, doch nicht zermalmen konnte. So lebte er fort, mitten unter den Menschen und dennoch entsetzlich einsam; selbst die Armen nahmen die Wohlthaten nur zögernd aus seiner Hand. Und doch liebte er alle Menschen und am meisten die Kinder, die Einzigen, welche diese Liebe erwiderten, obwohl auch sie aus Furcht vor den Eltern nur selten mit ihm verkehren durften. Die kleine Esther, das einzige Kind seiner verstorbenen Schwester, liebte er vollends fast abgöttisch und auch sie hing inniger an ihm, als an dem ernsten, verschlossenen Vater.

Das war der Mann, der in jener Mondnacht [21] zur Steinbank kam, auf der Moses Freudenthal und sein Kind saßen. »Ich habe mit Euch zu sprechen, Schwager,« sagte er, als dieser ihn kalt und fragend ansah. Und dann, nachdem das Kind auf seine Bitte zur Ruhe gegangen, wiederholte er noch einmal: »Ich habe mit Euch zu sprechen, Vieles und Wichtiges. Setzt Euch nur neben mich, Ihr dürft's jetzt schon wagen, es ist keine lebendige Seel' mehr auf der Gasse ...« Moses setzte sich zögernd. »Es ist wegen des Kindes,« begann der »Meschumed«. »Die Sache drückt mir schon lang auf dem Herzen, und da ich eben vorüberging und Euch erkannte, mochte ich's nicht länger aufschieben. Seht, Schwager, Euer Kind wächst herrlich heran. Sie wird einmal sehr schön werden, aber, was noch mehr, sie ist schon heute sehr gut und so klug, daß es für ihre Jahre zum Verwundern ist. Ihr wißt es kaum, was für Fragen das Kind stellt und wie eigen es sich alles in seinem Kopf zurechtlegt; Ihr wißt es kaum, Schwager!« – »Und woher wißt Ihr's?« unterbrach ihn Moses und die Stimme klang hart und scharf. »Habe ich Euch gestattet ...« Aber der Andere erhob abwehrend seine Hand. »Laßt das, ich bitte Euch, laßt das! Ich könnte Euch trotzig erwidern, daß Esther meiner Schwester Kind ist und daß ich gutes Recht und guten Grund habe zur Sorge und Liebe für Eure Tochter. Aber ich kann und will nicht so sprechen; Trotz und Zorn haben uns lange genug getrennt. Und selbst wenn Ihr mir sagtet, daß ich Eurem Hause fremd sei, fremd oder durch eigne Schuld entfremdet, ich [22] würde nichts darauf erwidern. Denn um Jemand lieb zu haben, dazu bedarf man nicht des Rechtes der Verwandtschaft, und die Welt ist nicht so reich an Liebe, daß man sie sich verbitten müßte. Aber – Ihr meint doch etwas Anderes! Ihr fürchtet Gefahr für Euer Kind, wenn es mit mir verkehrt. Was Ihr jedem Eurer Diener gestattet, das glaubt Ihr mir nicht gestatten zu dürfen. Und so muß ich Euch fragen: Schwager, haltet Ihr mich für weniger gut, als den letzten Eurer Diener?!« Er hielt inne, doch Moses erwiderte nichts. Es hatte den harten Mann eigen berührt, als er nun wieder die Stimme vernahm, die einst in seiner Jugendzeit so gut und treu zu ihm gesprochen. Aber er schüttelte es ab, und als Schlome seine Frage wiederholte, erwiderte er kalt und ernst: »Meine Diener sind fromm und halten fest an dem Glauben der Väter.« Er sprach die Worte vor sich hin und blickte nicht auf, sonst hätte er den Schmerz und die Bitterkeit sehen müssen, die um des Andern Lippen zuckten. Aber es war kein bitteres Wort, das von diesen Lippen kam. »Seht, Moses,« sagte er tief aufatmend, »es steht ein gutes Wort geschrieben: ›An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!‹ Und mein Leben liegt klar vor Euren, wie vor Aller Augen. Ich war furchtbar einsam, gemieden und weltverloren, aber aus ganzer Seele habe ich mich gemüht, dieses Leben anzuknüpfen an das der Anderen um mich her. Ich habe mich gemüht, es so nützlich zu machen, als es nach dem, was einmal geschehen, noch werden konnte. Ihr seid der erste Mensch – und Ihr werdet [23] der einzige bleiben – dem ich es sage, daß ich mir bewußt bin, mein Mögliches in dem gethan zu haben, was man Wohlthun nennt und was doch nur Menschenpflicht heißen sollte. Ich habe deshalb freilich kein glückliches und gutes Leben gelebt, aber richtet Ihr, Schwager, richtet Ihr, ob es auf Frevel und Thorheit weist?« Moses strich mit der Hand über Stirn und Augen, als müßte er sich auf die Antwort besinnen. Dann sagte er milder: »Über ein ganzes Leben richten und gerecht richten, das kann kein Mensch, das kann nur der allwissende Gott. Ich will glauben, daß es so ist, wie Ihr sprecht, und wohl Euch, wenn es so ist. Dann könnt Ihr ruhig der Stunde harren, wo Gott Euch richtet. Aber« – unterbrach er sich und fuhr dann fast scheu fort – »glaubt Ihr auch an Gott?!« – »Ja!« erwiderte Schlome und erhob sein Haupt, »ja! ich glaube an ihn. Ich habe ihn in meiner Knabenzeit gesucht und gewähnt, er sei ein Gott des Zornes und der Rache und nur einem Volke das Licht und der Hort; ich habe ihn in meiner Jünglingszeit gesucht und gewähnt, er sei ein Gott der Liebe und des Erbarmens und doch nur Denen gnädig, die ihn verehren in bestimmter Form und Satzung. Später aber habe ich ihn gefunden und erkannt; er ist kein Gott des Zornes und kein Gott des Erbarmens, er ist ein Gott der Gerechtigkeit und der Notwendigkeit. Er ist und ist Allen, auch Denen, die ihn leugnen!« Er hatte sich erregt erhoben, und als er so im Mondlicht vor Moses stand, überkam es diesen seltsam; ihm wars, als leuchte das Antlitz des Mannes. Er [24] wußte nicht, wie ihm geschah, er mußte auf das Bild des Gekreuzigten blicken, das drüben im Klostergarten stand und sich in dem hellen Lichte scharf abhob vom dunklen Nachthimmel. »Und Der dort?« mußte er fragen und erschrak fast, als er es gesprochen. – »Der dort,« erwiderte der Meschumed und die Stimme klang wunderbar wehmütig und weich, »der dort war ein edler und großer Mensch, vielleicht der beste, der je auf Erden gewandelt. Aber er ist tot und sein Geist ist erstorben, erstorben auch in Jenen, die ihn ihren Erlöser nennen! Die Thörichten – nur durch sich selber wird der Mensch erlöst, durch sich und in sich ...« Er hielt inne, auch Moses schwieg. So saßen die beiden Männer eine Weile stumm neben einander, Jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Dann fragte Moses: »Und was wollt Ihr mit dem Kinde?« – »Ich will sein Lehrer werden,« erwiderte Schlome, »denn ich habe es sehr lieb gewonnen in den seltenen Stunden, wo ich es sprechen durfte. Und glaubt mir, das ist kein gewöhnliches Kind! O wäre es doch ein Knabe! habe ich oft denken müssen und doch gleich wieder, – Ihr wißt vielleicht, warum – es ist gut, daß es ein Mädchen ist. Denn in diesem Kinde lebt ein großer Hunger nach Wissen und ein seltsames Ahnen des Lichts ...« Aber abwehrend unterbrach ihn der Andere: »Ihr träumt, Schlome! Esther ist kaum neun Jahre alt, und ich, der Vater, habe nie dergleichen bemerkt.« – »Weil Ihr es nicht sehen wollt,« war die Antwort, »oder, verzeiht mir, nicht sehen könnt! Ihr haltet es für Träumerei oder Narrheit, [25] oder meint, es sei Kinderart so. Ich aber weiß, was es heißt, solches Sehnen im einsamen jungen Herzen zu tragen. Glaubt mir, es wäre Frevel, ließet Ihr all' das verkommen, was da emporkeimt. Und darum bitte ich Euch: erlaubt, daß ich Esthers Lehrer werde!« Und wieder war es lange still unter den Männern. Dann endlich erwiderte Moses: »Ich kann nicht, Schwager, ich darf nicht, auch wenn ich wollte. Nicht Euretwegen muß ich so sprechen; von Euch will ich alles Gute glauben und ebenso von dem, was Ihr das Kind lehren würdet. Aber es paßt nicht für meine Tochter. Sie soll ein einfach jüdisch Kind bleiben; ich will es so und es wird so sein. Was soll sie Fremdes erfahren, was ihr Herz sehnsüchtig machen kann und traurig? Mein Kind soll ein frommes, schlichtes Weib werden; es ist das Beste für sie und darum eben will ich es so. Daß sie einen reichen, angesehenen Mann bekommt, dafür hab' ich gesorgt.« – »Ja!« erwiderte der Meschumed und zum ersten Mal in dieser Unterredung klang seine Stimme bitter und herbe, »ja! Ihr seid sehr reich und habt Recht: so habt Ihr auch für einen reichen Eidam gesorgt. Das Mädchen ist nun neun Jahre alt; in sechs, sieben Jahren werdet Ihr ihm den reichsten und frömmsten Jüngling in der Runde aussuchen, oder auch einen Wittwer, wenn der noch reicher und frömmer ist. Sie wird ihn freilich nicht kennen, aber das thut ja nichts, dazu hat sie nach der Hochzeit Zeit genug! Dann wird sie ihn vielleicht fürchten oder hassen oder er wird ihr gleichgültig sein. Aber auch [26] das thut nichts! Denn wozu braucht ein jüdisch Weib die Liebe?! Doch nur, um Gott zu lieben und seine Kinder und – o daß ich's nicht vergesse! – sein bischen Reichtum!« – »Ich verstehe Euch nicht,« sagte Moses zögernd, wie erstaunt. – »Ihr versteht mich nicht?« rief der Andere und erhob sich erregt. »So könnt Ihr sprechen? Ihr?! O Schwager – denkt an meine Schwester!« Moses Freudenthal zuckte auf wie ein Wild, das ein Schuß ins Herz getroffen. Er wollte zürnend erwidern, er wollte den fremden Mahner wegweisen von der Schwelle. Aber er konnte es nicht. Er mußte sein Haupt beugen vor dem Blicke des verachteten, gemiedenen Mannes; er mußte nach langem Kampfe leise, tief aufatmend, sagen: »Es war nicht meine Schuld!« – »Nein,« sprach der Meschumed und seine Stimme klang wieder mild und ruhig, »nein, es war nicht Eure, es war Eures und meines Vaters Schuld. Aber was Ihr an Eurem Kinde thut, das lastet auf Euch, nur auf Euch!« Und als der erschütterte Mann nichts zu erwidern vermochte, fuhr er fort: »Verhärtet nicht Euer Herz, auf daß Ihr nicht frevelt. Denkt an das Wort, das geschrieben steht: ›Gebet zu trinken Denen, die es dürstet!‹ Schwager, darf ich Eurem dürstenden Kinde das Licht und das Leben zeigen?!« Auch darauf hatte dieser nichts zu erwidern vermocht, aber am nächsten Tage ging die seltsame, fast unglaubliche Kunde durch die Gasse, Moses Freudenthal habe sich mit Schlome, dem Meschumed, versöhnt und ihm sogar sein einziges Kind anvertraut.

[27] Das war die Stunde, deren sich der einsame, alte Mann in der Synagoge erinnert, der er aus tiefster Seele geflucht. Und die Erinnerung an diese Sunde folgte ihm auch, als er sich nun mit den anderen Betern erhob und hinaustrat in die lichte Frühlingsnacht. Die engen Gassen waren voll Leben; aus den Fenstern fiel heller Lichtglanz; in den Hausthüren standen die Kinder und die Mädchen und erwarteten ihre Eltern. Der unglückliche Mann malte es sich in grausamer Selbstqual aus, wie schön es wäre, wenn er mit dem Eidam und der Tochter nach Hause ginge und nun daheim die Enkel jubelnd den Großvater empfingen. Jedes Kinderlachen, jeder Willkommgruß ging wie ein Schwert durch sein Herz. Ach, er war doch vielleicht nicht allzusehr zu verdammen, wenn er da innehielt und dumpf und leise vor sich hinsprach: »Wenn Gott gerecht ist, dann wird er den treffen, der das Herz meines Kindes bethört hat, und den, der sein Ohr geöffnet hat für das Wort des Verführers!«

Da fühlte er seine Schulter berührt und wandte sich um und wich dann entsetzt zurück, als hätte er ein Gespenst erblickt. Seine Brust keuchte, seine Augen glühten, seine Hand ballte sich zur Faust. Vor ihm stand der Mann, dem er geflucht, ein kranker, greiser, gebrochener Mann – Schlome, der »Meschumed«.

»Ich muß Euch sprechen!« sagte er zu Moses, »ich habe einen Brief ...«

Aber dieser zuckte wild auf in Zorn und Schmerz: »Schweigt, Elender! Ich will nichts hören! ...«

[28] Die Leute sammelten sich um die beiden Männer.

Der Meschumed trat näher heran und wiederholte: »Ich muß Euch sprechen. Beschimpft mich, aber hört mich. Sie ist ...«

Aber weiter kam er nicht. Wie ein gehetztes Wild eilte Moses hinweg, durch die engen Gassen und über den Marktplatz, bis er vor seinem Hause stand. Halb ohnmächtig sank er auf die Steinbank am Thore. Hier harrte er, bis sein Atem ruhiger ging, bis seine Pulse minder heftig schlugen. Da war's ihm, als würde irgendwo über ihm sein Name genannt. Im ersten Stockwerk waren die Fenster erleuchtet und weit geöffnet; lautes Lachen klang herab. Die Frau Bezirksrichter hatte heute ihren Empfangsabend. Und nun hörte er's noch einmal, ganz vernehmlich: sein Name, dann eine stürmische Lachsalve. Aber der alte Mann achtete nicht darauf, er ging in seine Stube und schob Speise und Trank, die ihm die alte Dienerin vorsetzte, von sich. »Sie ist tot,« klang es unablässig in seinen Ohren und in seinem Herzen, »gewiß – sie ist tot!« So saß er voll wilder, dunkler, streitender Gedanken in der einsamen, lichterfüllten Stube. Es war sehr still um ihn; nur die vielen Kerzen knisterten leise im Verbrennen und das gab einen traurigen Ton ...


*


Die Frau Bezirksrichter hatte heute ihren Empfangsabend. Im Nebenzimmer spielten die Herren Whist und Tarock, vielleicht auch ein kleines, harmloses Hazardspielchen. Im Salon saßen die Damen um [29] den großen Theetisch, hielten mächtige Tassen in den Händen, aßen sehr viel Backwerk und unterhielten sich sehr gut. Nur die dicke Frau des dicken Güterdirektors ärgerte sich. Sie hatte sonst, als die Vornehmste in dieser Gesellschaft, den Ton angegeben; für heute war ihr von der Frau des k.k. Hungerleiders, des neuen Aktuars, das Szepter entrissen worden. Denn Frau Emilie kam aus der Hauptstadt, aus Lemberg und hatte die neuesten Moden und Skandalgeschichten mitgebracht. Zum Danke erzählte man ihr die Geschichten des Städtchens, namentlich die der gerade abwesenden Damen. Aber das war nach einiger Zeit erschöpft, es fehlten eben nur wenige. Da kam Frau Emilie auf den glücklichen Einfall, zu fragen, was es denn mit der merkwürdigen Geschichte sei, von der heute der Herr Bezirksrichter ihrem Gatten erzählt habe. »Das kann ich ihnen aus bester Quelle berichten,« erwiderte die Frau Bezirksrichter eifrig. »Wir wohnen schon zwölf Jahre in dem Hause, es ist Alles unter meinen Augen geschehen. Es ist sehr interessant, sogar ein hübscher Husarenoffizier kommt darin vor – so etwas hätten Sie sogar kaum in Lemberg hören können.«

Und sie erzählte: »Also, Sie wissen, es handelt sich um die Esterka, die Tochter des Alten. Als wir hierher zogen, war sie zehn Jahre alt, hübsch groß für dies Alter, mit schwarzen Haaren und großen blauen Augen. Man bekam sie wenig zu sehen, zu hören war sie fast gar nicht; sie saß den ganzen langen Tag und oft bis in die Nacht hinein über den Büchern. Meine Malvina war beiläufig im gleichen Alter und lud sie[30] häufig ein, mit ihr zu spielen. Aber das kleine, hochmütige Judenmädel wollte nichts davon wissen, so vernarrt war sie ins Lernen. An dieser Narrheit war freilich auch ein närrischer Mensch schuld, ihr Onkel Grünstein. Ein wüster, unheimlicher Mensch, weder Jud' noch Christ, ganz gottlos – man sagt, er soll Tote beschwören können. Wahrhaftig, Tote aus den Gräbern! – das war der Lehrer der Esterka. Er muß sie wirklich saubere Sachen gelehrt haben, nach drei Jahren war sie ebenso närrisch und ebenso gottlos wie er. So war sie zum Beispiel einmal im Hochsommer, im August, an einem sehr schwülen Nachmittage bei uns. Sie war nämlich im Sticken ganz geschickt und half meiner Malvina eine Arbeit fertig machen. Da ziehen sich die Wolken zusammen, ein furchtbares Gewitter bricht los; es donnert, blitzt und hagelt, als sollte die Welt untergehen. Meine Kleine, die Gottlob eine christkatholische Erziehung genossen hat, fängt laut zu beten an, aber die Jüdin bleibt ganz ruhig. ›Esther,‹ frag' ich, ›fürchtest Du Dich nicht vor dem Strafgericht Gottes?‹ – ›Das ist ja das Gewitter gar nicht,‹ erwidert der Naseweis. – ›Nun, und was ist denn der Blitz Anderes?‹ – ›Die Entladung der Elektrizität,‹ ist die Antwort. – ›Also fürchtest Du Dich nicht vor dem Blitz?‹ – ›O ja, weil wir keinen Blitzableiter am Hause haben!‹ Derlei gottlose Reden darf ich aber nicht aufkommen lassen, wenn die Malvina zuhört, darum rufe ich streng: ›Du bist ein gottloses Kind; merke Dir's, der liebe Gott lenkt den Blitz!‹ – ›Warum hat dann,‹ fragt [31] das kecke Ding darauf, ›der Blitz im vorigen Sommer auf freiem Felde den Berisch Katz getroffen, den armen Dorfgeher? Er war ein sehr frommer Mann und seine Kinder hungern jetzt.‹ Darauf sag' ich nichts mehr, aber am nächsten Tag, wie ich dem alten Moses begegne, erzähle ich ihm das ganze Gespräch. ›Das Kind hat schon eine schöne Bildung,‹ meine ich zum Schlusse, ›und wenn es so fortgeht, kann es noch schöner werden.‹ – ›Es wird nicht so fortgehen,‹ erwidert er finster, ›ich war schon lange entschlossen, der Sache ein Ende zu machen und das Gestrige macht das Gefäß überlaufen.‹ Und richtig – er hat Wort gehalten. Alle Bücher nahm er der Esther weg und setzte sie in den Laden, Düten zu drehen und Zucker zu wägen; den Schlome aber jagte er aus dem Hause.

Das war so im Sommer vor neun Jahren. Und im Herbste, an einem Sabbath Nachmittag kommt die Esther zu meiner Tochter und bittet und weint und fleht, man möge ihr ein deutsches Buch leihen, sonst müsse sie sterben. Denn der Alte hatte ihr alle Bücher weggenommen und hielt sie außerdem so streng, daß sie sich auch unmöglich welche verschaffen konnte. Aber den Umgang mit uns gestattete er ihr. Das war ihm natürlich eine Ehre und er wußte auch, daß ich eine Frau von Grundsätzen bin. Also wie gesagt, die Kleine fleht und weint und klagt so herzbeweglich, daß ich gerührt werde. Und so leihe ich ihr denn, was wir so an deutschen Büchern zufällig im Hause haben: Heines Reisebilder, Klopstocks Messiade, Kaiser Joseph [32] von Louise Mühlbach, den neuen Pitaval, Eichendorffs Gedichte und die Romane von Paul de Kock. Und das las sie alles, wie ein hungriger Wolf ein Lamm verschlingt, im Laden, wenn der Vater ausging und dann Nachts. Nur beim ersten Roman von Paul de Kock war sie anfangs stutzig und brachte mir das Buch zurück – ich möchte ihr etwas Anderes heraussuchen. Aber ich hatte just keine Zeit und sagte ihr: ›Lies nur, es wird Dir schon gefallen‹. Und richtig gefiel's ihr, denn den zweiten Roman brachte sie schon nicht zurück, und als sie den dritten verdaut hatte, wollte sie nur diesen Schriftsteller lesen. Damit konnte ich dienen, wir haben die Gesamtausgabe. Sie verschlang den Winter über die hundertachtzig Bändchen. Denn, ich bitte Sie, diese Judenmädel haben ja im Grunde alle gar kein moralisches Gefühl!«

Die Damen stimmen eifrig bei. Nur die Frau des Güterdirektors nicht. Denn diese Frau ist sehr dick, und geistreich ist sie auch nicht, aber sie hat ein braves Herz. »Das war nicht recht!« spricht sie sehr laut und sehr ernst. »Sie haben da eine schwere Schuld auf sich geladen!«

Die Frau Bezirksrichter blickt sie erstaunt an. Wäre sie nicht eine höfliche Frau, eine Frau von Welt und die Hausfrau dazu, sie würde spöttisch lächeln und mit den Achseln zucken. So aber begnügt sie sich, entschuldigend zu sagen: »Mon Dieu! es handelt sich ja nur um eine Jüdin!«

»Nur eine Jüdin!« wiederholt der Chorus der Andern laut und leise. Auch wird viel gekichert.

[33] Und »nur eine Jüdin!« tönt auch eine ernste tiefe Mannesstimme in den Weiberdiskant. Das Spiel im Nebenzimmer ist beendet, die Herren sind zu den Damen getreten. »Sie sind in schwerem Unrecht, Frau Direktor.« Es ist der Arzt des Städtchens, der so gesprochen, ein hochgewachsener, stattlicher Mann. Er ist selbst Jude. Man haßt ihn wegen seines Glaubens, man fürchtet ihn wegen seines Sarkasmus. Aber seiner Stellung wegen muß man ihn dennoch in dieser Gesellschaft dulden, die er aufsuchen muß, weil er keine andere hat in dem kleinen, armseligen Landstädtchen. »Sie sind im Unrecht,« wiederholt er. »Sie können sich noch immer nicht von dem Vorurteil Ihrer deutschen Heimat emanzipieren, das auch im Juden den Menschen sieht. O! daß Sie sich noch immer nicht in die hiesigen Anschauungen schicken können!«

»Spotten Sie nur,« meint die Hausfrau eifrig. »Deshalb behaupte ich doch: es ist in den ungebildeten Jüdinnen sehr wenig moralisches Gefühl!«

»Ja!« ist die trockene Antwort, »besonders wenn man sie durch Paul de Kock bildet. Aber ich bitte, lassen Sie sich nicht stören, fahren Sie fort.«

Und die Frau Bezirksrichter fährt fort:

»Ja, wo bin ich nur geblieben?! Richtig! – Also im nächsten Frühjahr war sie mit meinem ganzen Kock fertig. Andere deutsche Bücher hatte ich auch nicht mehr. Da bat sie mich so lange, bis ich für sie in der Leihbibliothek in Tarnopol abonnierte. Ich that es nicht gerne, es machte viele Scherereien, aber sie bat so sehr, mein Gott, ich hätte ein Marmorherz [34] haben müssen. Und da las sie alle Bücher nach dem Katalog durch, von About bis Zschokke. Der Alte hatte keine Ahnung davon, er hat es auch nie erfahren. Sie las nämlich nur des Nachts in ihrem Zimmer. Aber ihren Augen schadete diese Anstrengung nicht. Sie hatte die schönsten, klarsten Augen, groß, blau, blau wie der Himmel. Und der Wuchs wie eine Königin, schlank, stolz und doch üppig. Kurz, sie war ein hübsches, wunderhübsches Mädchen. Aber überspannt und verderbt, eine Romannärrin. Als ihr der Alte – sie war sechzehn Jahre alt – einen Bräutigam aussuchte, einen Sohn vom Moschko Fränkel in Chorostkow, einen ganz gesunden Judenjungen in ihrem Alter, da erklärte sie, sie wollte lieber sterben, als ihn heiraten. Aber unser Freudenthal unten ist kein Mensch, der mit sich spaßen läßt. Die Verlobung wurde dennoch gefeiert und die schöne Esther saß beim Feste, bleich und zitternd wie eine Totkranke. Sehen Sie, ich habe gerade kein butterweiches Herz, aber wie ich mir damals so die Esther ansah – ich war hinuntergegangen, weil ich auf die Ceremonie neugierig war – da hatte ich fast Mitleid mit dem Mädel. ›Warum zwingen Sie Ihre Tochter?‹ fragte ich den Alten. Aber der wurde fast grob und erwiderte: ›Verzeihen Sie, aber das verstehen Sie nicht; das ist bei uns ganz anders wie bei Ihnen. Bei uns ist das Ei nicht klüger als die Henne. Und dann kennen wir auch gottlob die Dummheiten von Liebe und dergleichen nicht. Bei uns gehört nur zweierlei zur Ehe: Gesundheit und Geld. Und das [35] ist hier vorhanden. Die Esther hat insoweit ihren Willen, als die Hochzeit erst in einem Jahre stattfinden wird. Bis dahin wird sie sich fügen lernen. Es ändert sich Manches in einem Jahre.‹

Das Wort des Alten ist wahr geworden; es hat sich wirklich Manches in dem einen Jahre geändert, besonders was die hübsche Esterka betrifft, aber in ganz anderem Sinne, als er es gemeint hatte. Sehen Sie, unser Doktor da hält mich für eine Judenfeindin, aber dennoch bin ich gerecht und sage: das Mädchen, obwohl innerlich verderbt, hatte sich bis dahin äußerlich sehr brav gehalten. Und doch war die Versuchung sehr groß gewesen. Im ganzen Kreise kannte man sie, im ganzen Kreise nannte man sie nur die ›schönste Jüdin.‹ Das Einkehrhaus und die Weinstube unten hatten damals mehr Gäste, als dem Besitzer lieb war. Wenn die jungen Edelleute zum Bezirksamt kamen, so hielten sie nicht einen, sondern drei Gerichtstage; die ledigen Beamten vom Gericht und Steueramt saßen in der Weinstube ihre Amtsstunden ab, und erst die Husarenoffiziere – nun, die hatten dort gar ihre beständige Garnison. Alle kümmerten sich um die Esther, aber sie um Keinen. Sie traf selten mit den Gästen zusammen, dafür sorgte der Vater. Begegnete sie ihnen zuweilen, so erwiderte sie höflich ihren Gruß. Aber all die plumpen und feinen Schmeicheleien prallten an ihr ab, als wäre sie taub, und wollte ihr Einer ungebührlich begegnen, so kam er kurios weg. Davon weiß der junge Baron Starsky ein Lied zu singen – Sie kennen ihn vielleicht[36] – der lange blonde Mensch, dem die merkwürdige Geschichte mit der Gräfin Jadwiga Bortynska passiert ist. Nun, dem begegnete sie einmal, als er eben angetrunken aus der Weinstube kam. Er wird an diese Begegnung denken, er verdankt ihr die schallendste Ohrfeige seines Lebens.

Aber seit ihrer Verlobung wurde das anders. Nicht etwa, als ob sie gegen alle freundlicher geworden wäre. Aber gegen Einen wurde sie es, mehr als notwendig. Dieser Eine war der Rittmeister Graf Géza Szapany von den Württemberg-Husaren. Er war kein gewöhnlicher Mann, dieser Rittmeister, wahrhaftig! Hoch, schlank, mit dunklen Haaren, interessanten, schwarzen Augen und einem allerliebsten Schnurrbärtchen. Ich schmeichle ihm nicht, unsere Freundin Hortensia wird es bestätigen, sie hat ihn auch gekannt ...«

Frau Hortensia, die Gattin des Bezirksadjunkten, eine üppige Blondine, wird blutrot und wirft ihrer »Freundin«, der Hausfrau, einen giftigen Blick zu. Dann sagt sie möglichst gleichgültig: »Ich erinnere mich, er war ein hübscher Mann.«

»Hübsch?« fragt die Erzählerin. »Schön war er, sehr schön. Und so interessant! Und das feine Benehmen! Ich sage Ihnen, der verstand sich auf die Frauen, er hatte freilich auch schon genug Erfahrung. Auch die schöne Esterka wußte er bald zu fangen. Er näherte sich ihr fast scheu; er machte ihr kein Kompliment, das wirkte gerade. Und im Übrigen war sie ja, wie gesagt, innerlich verderbt [37] und überspannt. Nun, und die Geschichte entwickelte sich. Zuerst einzelne Begegnungen, dann viele, zuerst wenige Worte, dann viele, zuerst ein Kuß, dann unzählige ... Es war sehr lustig!«

Auch der Gesellschaft kommt es so vor. Die Damen kichern und die Herren lachen. Nur eine Dame kichert nicht: die brave, dicke, deutsche Frau in der Sophaecke. »Sie scheinen die Geschichte nicht so heiter zu finden?« fragt sie ihr Nachbar, der Arzt.

»Nein!« erwidert sie, »es ist ja im Grunde traurig, das arme Mädchen war ja nur ein Opfer!«

»Ja!« sagt der Arzt und seine Stimme vibriert, »sie war ein Opfer! Aber nicht ein Opfer des schönen Rittmeisters, auch nicht das unserer lieben Hausfrau da. Die Sache liegt tiefer, viel tiefer. Wie das Zwielicht unheimlicher ist als die Nacht, so ist die halbe Bildung verderblicher als die Unwissenheit. Die Unwissenheit und die Nacht halten das Auge umfangen und fesseln den Fuß an die Scholle; das Wissen und der Tag öffnen das Auge und lassen uns fröhlich vorwärts schreiten; das halbe Wissen aber und das Zwielicht nehmen uns halb die Binde vom Auge, und lassen uns ins Ungewisse schreiten und – straucheln! Armes Kind! vom reinen Quell hat man sie zurückgerissen, aber es dürstete sie und sie trank aus der Lache. Armes Kind! Sie ...«

Aber ein ziemlich deutliches Gähnen macht den Sprecher verstummen. Denn die dicke Frau ist eine brave Frau, aber geistreich ist sie nicht und unverständliche [38] Reden hört sie nicht gerne an. Die Frau Bezirksrichter aber erzählt inzwischen weiter:

»So wußte Graf Géza sie bald zu Allem zu bewegen. Und als er nach Marburg in die Garnison versetzt wurde, da folgte sie ihm auch dorthin. Als Moses an einem Freitag Abend – es war g'rad so wie heute – nach Hause kam, da fand er das Nest leer. Da war nun ein Gepolter unten, ein Schreien, Weinen und Suchen – es ist nicht mit Worten zu beschreiben. Mein Mann war unten; der Moses hat gerast wie ein wildes Tier; es sind fünf Jahre her, aber ich werde die Nacht nicht vergessen ...

Auch in den nächsten Tagen war es sehr unheimlich. Sie machten es gerade so, als ob die Esther gestorben wäre. Die Läden und die Weinstube wurden gesperrt, die Bilder im Hause schwarz verhangen, die Spiegel gegen die Wand gekehrt. In einer Ecke ihres Zimmers brannte durch sieben Tage und sieben Nächte ein kleines Licht, und eben so lange saß der Moses barfuß, mit zerrissenem Gewande, auf der Diele dieses Zimmers. Ich weiß nicht, ob es wahr ist, aber die Juden sollen sogar am Sonntag darauf die Totentruhe leer auf den Friedhof getragen und dort ein leeres Grab geschlossen haben. Am achten Tage aber stand Moses auf und ging ruhig seinen Geschäften nach. Ich bitte Sie – so ein Jud'! Er kam sogar am selben Tage zu uns, den Zins zu fordern; ich erkannte ihn kaum, er war während der Woche grau geworden. Er war ganz ruhig und gefaßt und jetzt scheint er seine Tochter ganz vergessen zu haben.

[39] Dem Juden ist ja bekanntlich sein Geld lieber als sein Kind!«

»Und hat man nie wieder etwas von der Esther gehört?« fragt die dicke Frau.

»Doch, einmal. Aber es ist ungewiß. Der kleine Lieutenant Szilagy – Sie kennen den läppischen Lügner! – der auf Urlaub in Ungarn war, erzählt, er habe den Grafen mit der Esther in einer Loge im Pester Nationaltheater gesehen. Aber der Kleine lügt immer. Und dann kann es auch ein anderes hübsches Mädchen gewesen sein«.

»Wissen Sie, meine Damen«, nimmt nun Frau Emilie, die gebildete Lembergerin, das Wort, »wissen Sie, an was mich die Geschichte erinnert hat?! An ein sehr lustiges Theaterstück, das ich einmal in Lemberg gesehen habe. Es ist aus dem Englischen, von einem gewissen ... o diese englischen Namen ...«

»Vielleicht Shakespeare?« hilft ihr der Arzt.

»Shakespeare,« wiederholt der Bezirksrichter, »das ist ein ziemlich bekannter Dichter.«

»Ja, ein recht hübsches Talent!« meint der Doktor, ernst wie ein Grab.

»Richtig, Shakespeare!« fährt Frau Emilie fort, »und das Stück heißt: ›Der Kaufmann von Venedig‹. Da kommt ein Jud' vor – er heißt Shylock – dem auch seine Tochter entführt wird und dem auch sein Geld lieber ist als sein Kind! Und da schlage ich nun vor, wir nennen den Freudenthal von heute ab nicht mehr bei seinem Namen, sondern« – die Sprecherin macht eine Kunstpause – den »Shylock von Barnow

[40] Und der Aktuar ist stolz auf seine geistreiche Frau, und die Herren lachen und die Damen kichern und selbst die dicke Direktorsfrau lächelt:

»Ha! ha! ha! Der Shylock von Barnow!«


*


Am nächsten Morgen lachten sie nicht mehr. Sie lachten auch fürderhin nie mehr über den Shylock. Sie nicht und kein anderer Mensch.

Dieser Morgen, der Sabbathmorgen, hatte etwas Entsetzliches mit seinem fahlen Lichte beschienen. Es war ein nasser, nebeliger, unfreundlicher Morgen. Nach Mitternacht hatte der Wind, der sich erst leise, dann immer stärker erhoben, Wolken zusammengetrieben, schwere, schwarze Wolken, die den Mond verhüllten und sich herabsenkten auf das öde Gelände. Dann hatte der Wind geschwiegen, und die Wolken waren immer schwerer herabgesunken und hatten endlich als dichter, kalter Nebel die Ebene bedeckt und das düstere Städtchen.

In den kleinen Häusern schlief alles. Kein Schritt tönte in den engen Gassen. Nur die Hunde wachten in den Hofräumen und der Nachtwächter vor dem Rathause. Dieser würdige Beamte schlief gegen seine Gewohnheit nicht, weil ihn die Hunde nicht schlafen ließen. Diese bellten unaufhörlich. Zuerst die Hunde am Eingang des Städtchens, dann der riesige Hofhund der Dominikaner, endlich der schwarze »Britan« des Moses Freudenthal. Daraus schloß der erfahrene Mann, daß wahrscheinlich ein fremder Mensch durch die Gasse gehe, an dem Kloster vorüber und [41] auf das Haus des Juden zu. Aber es fiel ihm nicht ein, nachzusehen. Der Nebel machte die Nacht sehr dunkel, die Gassen schlüpfrig. Und der Beamte der Stadt blieb in seiner Nische vor dem Rathause. »Der Britan bellt laut genug,« tröstete er sich, »der Jude wird es hören.«

Er täuschte sich nicht. Man hörte im Hause des Freudenthal das wütende Gebelle. Die alte Dienerin erwachte davon und erhob sich, um nachzusehen oder den Knecht zu wecken. Als sie an dem Zimmer des Herrn vorüberging, sah sie einen Lichtschein durch die Thürspalte fallen, und auf das Geräusch ihrer Schritte trat der alte Moses selbst heraus. Er war angekleidet; er hatte offenbar noch nicht die Ruhe gesucht, obwohl es gegen die zweite Morgenstunde ging. Auch sah er sehr angegriffen aus. »Geht wieder zur Ruhe,« sagte er der alten Frau, »ich will selbst nachsehen.«

In diesem Augenblick schlug der Hund noch einmal laut an, dann verwandelte sich das Gebell in freudiges Gewinsel. Man hörte, wie das mächtige Tier hin und her sprang und an der Thür kratzte. Es hatte den Ankömmling offenbar erkannt und suchte nun zu ihm zu kommen.

Der alte Mann war totenbleich. »Wer mag das sein?« murmelte er. Dann ging er schwankenden Schrittes auf den Hausflur. Die Dienerin wollte ihm folgen. »Zurück!« rief er ihr heftig zu. Eine Kerze nahm er nicht mit, es war ja Sabbath. So tastete er im Dunkel auf das Hausthor zu.

Die Dienerin blieb stehen und horchte. Sie hörte,[42] wie der Hund dem Herrn entgegensprang und dann wieder auf das Thor zu mit demselben stürmischen Freudengewinsel. Dann hörte sie, wie Moses rief, wer draußen sei. Es blieb Alles still; nur der Hund bellte kurz auf. Moses rief noch einmal. Da kam eine Antwort von draußen. Die Dienerin verstand das Wort nicht; ihr klang es wie ein Weheruf. Der alte Mann mußte das Wort verstanden haben. Er öffnete das Thor, trat hinaus und schlug den Flügel hinter sich zu. Der Hund war wohl mit hinausgeschlüpft; die Dienerin hörte nun nur noch gedämpft sein durchdringendes Gebelle.

Dann ward Moses' Stimme hörbar; er sprach sehr laut und heftig. Wie ein Schelten klang es und dann wie eine feierliche Verwünschung oder Beschwörung. Aber den Sinn der Worte konnte die alte Frau nicht fassen ... Kein sterbliches Ohr hat die Worte vernommen, die Moses Freudenthal zu dem Wesen gesprochen, das in jener unheimlichen Nacht an seine Thüre gepocht.

Nach einer bangen Minute hörte die alte Frau den Thorflügel knarren, Moses kehrte zurück. Er kehrte allein zurück; auch der Hund war draußen geblieben. Dann war es einen Augenblick still, und darauf hörte die Dienerin einen schweren Fall. Sie ergriff eine Kerze – was kümmerte sie in ihrer Todesangst die fromme Satzung? – und eilte zum Thore. Da lag Moses Freudenthal, ohne Regung, bleich wie ein Toter. Als sie sein Haupt erhob, röchelte er leise auf.

Die alte Frau begann ein durchdringendes Jammergeschrei. [43] Der Knecht, die anderen Diener des Hauses erwachten und kamen herbei. Sie halfen den Herrn emporheben und auf sein Lager betten. Dann eilte man zum Bezirksarzt, der ja in nächster Nähe wohnte, im ersten Stockwerk. Er ließ dem Kranken zur Ader und schüttelte bedenklich den Kopf. Den alten Mann hatte ein Schlaganfall getroffen.

Die Dienerin jammerte, die Knechte standen ratlos umher, der Arzt mühte sich um den Kranken; so vergingen die Stunden bis zum Morgen. An das fremde Wesen vor dem Thore dachte Niemand.

Als der Tag graute, wurde heftig an das Thor geklopft. Der Nachtwächter stand draußen und mehrere Leute, die schon so früh zu Markte gekommen. Sie hatten eine Tote vor dem Thore gefunden, ein ärmlich gekleidetes, abgezehrtes, junges Weib. Der schwarze Britan lag neben der Leiche und winselte und leckte ihr die Hände. Wenn sich ihr Jemand nähern wollte, knurrte er drohend auf.

Der Bezirksarzt trat heraus und beugte sich über die Tote. Er legte noch prüfend die Hand auf ihr Herz; es schlug nicht mehr. Dann blickte er in das starre, bleiche Antlitz. Und er kannte dieses Antlitz. Tief erschüttert richtete er sich empor. Er befahl, daß man die Leiche ins Totenhaus trage. Dann ging er wieder zu dem Kranken, der ohne Besinnung dalag.

Am nächsten Tage begrub man die Esther Freudenthal. Man wußte nicht, welchen Glaubens sie gewesen, ob sie Jüdin geblieben, ob sie Christin geworden. Auch ihr Onkel Schlome, der in wahnsinnigem, fassungslosem [44] Schmerze an ihrer Leiche kauerte, wußte es nicht. Daher begrub man sie, wo man die Selbstmörder begräbt. Sie war aber Hungers gestorben.

In ihren Kleidern fand man nur ein Päckchen Briefe. Sie hatten alle dieselbe Unterschrift: Géza. Der letzte, welcher den Poststempel eines kleinen ungarischen Städtchens trug, lautete: »Ich will Dir's ehrlich sagen: ich bin der Geschichte satt! Ich bin jetzt hier, bleibe hier und rate Dir nicht, mich aufzusuchen. Mein Wachtmeister, der Koloman, hat mir versprochen, sich Deiner anzunehmen. Du gefällst ihm. Gefällt er Dir nicht, so geh' heim.«

Sie war heimgegangen. –

Der alte Moses starb nicht an den Folgen jener Nacht. Er lebte noch lange; er überlebte seinen Schwager und viele glückliche, gesegnete Menschen. Ein düsterer, einsamer, unheimlicher Mensch, so wankte er dem Grabe zu. Als er starb, weinten nur die Klagefrauen, die dazu gemietet waren. Sein großes Vermögen vermachte er dem Wunderrabbi von Sadagóra, dem heftigsten Feinde des Lichts, dem eifrigsten Verfechter des alten, finstern Glaubens.

Das ist die Geschichte vom Moses Freudenthal, den sie den »Shylock von Barnow« nannten.

[45]

Nach dem höheren Gesetz

Es sind nun viele Jahre her, seit die arme Esther zu ihres Vaters Füßen verschieden ist, und auch Moses Freudenthal ist lange tot. Aber das große weiße Haus an der Heerstraße, das nun dem Rabbi von Sadagóra zugehört, steht noch heute so stolz und stattlich da, wie zur Zeit, da der harte, unglückliche Mann darin hauste. Über dem Thore hängt jetzt ein eirundes Blechschild, da ist auf gelbem Grund ein schwarzer Adler gemalt und rings steht die Umschrift: »K.K. Bezirksgericht.« Denn da, wo einst Moses um seine Tochter getrauert, werden jetzt die ruthenischen Diebe verhört, die polnischen Betrüger und die jüdischen Wucherer. Das ist im Erdgeschosse zur Rechten, zur Linken aber besteht noch der Laden, den Moses geführt, nur zeigt das Schild einen andern Namen: »Nathan Silberstein's Spezereiwaren- und Weinhandlung.« Das »W« in »Wein« ist klein, und in »Spezerei« steht statt des »z« ein »s«, – das ist aber nur die Schuld des kleinen, buckeligen Janko, der das Schild gemalt hat.

Im ersten Stockwerk hat sich unter dem neuen Besitzer fast gar nichts geändert, da wohnen, wie bei[46] Moses, der Bezirksarzt zur Miete und der Bezirksrichter. Nur daß der Bezirksrichter ein anderer geworden ist, nicht mehr der gelbe, magere Herr Hippolyt Lozinski, sondern Herr Julko von Negrusz. Er ist der Amtsnachfolger des Herrn von Lozinski, aber in allen Stücken anders als dieser. Herrn Lozinski's ewige Zielscheibe waren die Juden, arm und reich – nicht ihre Herzen, aber ihre Geldbeutel. Und was er von den reichen Juden erpreßte, dafür fütterte er die armen Christen: die Adeligen, die Beamten, die Lieutenants. Seine Frau Kasimira, aus dem hochadeligen Hause Derer von Cybulski, was zu deutsch »von Zwiebel« bedeutet, glänzte auf fünf Meilen in der Runde vor allen anderen Frauen durch drei treffliche Eigenschaften des Herzens: durch die meisten Schulden, die glänzendste Toilette, die rasendste Tanzsucht. Und Hörner setzte sie ihrem Eheherrn auf, so groß, daß man kaum begriff, wie er darüber den Cylinder stülpen konnte auf seinen gelben, mageren Kopf.

Aber das ist nun Alles anders geworden.

Herr von Negrusz erpreßt nichts von den Juden und verpaßt nichts mit den Christen. Er lebt nur seinem Amt und seiner Familie, zwei lieben Bübchen und seiner schönen jungen Gattin. Diese Frau ist schön, sehr schön. Die Gestalt schlank und doch üppig, biegsam und doch königlich stolz, das Antlitz blaß, edel, scharf geschnitten, die Augen dunkel und träumerisch und tief, abgrundtief. Aber das Merkwürdigste an all dieser Schönheit ist die Farbe der Haut, das mattmilde, gelbliche Weiß, Bernsteinweiß könnte man es nennen, [47] über dem die Röte der Gesundheit nur wie ein leiser Hauch liegt. Die Gestalt und dieses Antlitz – sie mahnen an die Sulamith und Suleika, an die holden Schönheitszauber des Orients. Aber die Frau Bezirksrichter trägt ein Kreuzchen am Halse und auf ihren Visitenkarten steht: »Christine von Negrusz.«

Es ist eigentlich rätselhaft und sonderbar, aber durch diese Karten allein verkehrt diese Frau mit den übrigen Menschen. Sie empfängt keine Besuche, sie macht keine; zwischen ihr und den verehrlichen Honoratioren von Barnow ist eine Schranke aufgerichtet, die keiner der beiden Teile überschreitet. Wird ein verheirateter Beamter nach Barnow versetzt, so wird er von seinen Kollegen sorgsam instruiert: er leiht sich vom Herrn von Wolanski die alte Karosse mit den alten Schimmeln und fährt mit seiner Ehehälfte vor das große, weiße Haus. Da schickt er die beiden Karten in den ersten Stock und empfängt die Antwort: die Herrschaften bedauerten, aber der Herr Bezirksrichter sei verhindert und die gnädige Frau unwohl. Und eine Woche später kommt Herr von Negrusz in ganz demselben Wagen mit seiner Frau vor die Wohnung des neuen Amtsgenossen gefahren und dann vollzieht sich dieselbe Komödie mit vertauschten Rollen. Damit schließt zugleich jeder weitere Verkehr. Das ist so der Gebrauch, der schließlich zum Gesetz geworden ist.

Und dann noch etwas. Frau Christine geht nie allein aus, sie verläßt das Haus nur einige Male in der Woche zu einem Spaziergang an der Seite ihres Gatten. Alle übrigen Leute im Städtchen machen ihre[48] Promenade im neuen, gräflichen Park, im Park um das Schloß der Gräfin Jadwiga Bortynska, geborenen Polanska. Aber der Bezirksrichter und seine Gattin gehen regelmäßig in den einsamen, schlecht erhaltenen Anlagen spazieren, die – jenseits des Flusses – um das alte Schloß liegen. Der gerade Weg dahin führt durch die Judenstadt, aber den vermeidet dieses menschenscheue Paar. Sie gehen rings um das Städtchen herum. Man könnte glauben, das geschehe darum, um den Staub und die Gerüche der Judengasse zu vermeiden. Aber nein! – als sie einmal ein Gewitter überraschte, machten sie im strömenden Regen gleichfalls den großen Umweg. Warum? Herr von Negrusz sieht Jedermann frank und frei ins Auge und vermeidet Niemandes Begegnung, wenn er allein ist. Welcher Bann scheidet also gerade seine schöne Frau von den übrigen Menschen?

Ihr braucht nur den Neuigkeitenanzeiger von Barnow und Umgegend zu fragen, die hübsche, üppige Frau Emilie, die Gattin des neuen Aktuars. Er ist schon zehn Jahre im Städtchen, aber er heißt noch immer der »neue« Aktuar, im Gegensatze zu seinem Kollegen, der schon zwanzig Jahre in Barnow ist. Nun, Frau Emilie wird euch eine Visitenkarte zeigen und dazu sagen: »Ich bitte Sie, wie kann man mit einer solchen Frau Umgang haben? Sehen Sie sich nur die Karte an – warum hat sie nicht auch darauf setzen lassen, was für eine ›Geborene‹ sie ist? Weil es sich sehr schlecht machen würde: ›Christine von Negrusz, geborene Bilkes, geschiedene Silberstein‹. Denn [49] sie heißt eigentlich Chane, und der Nathan Bilkes in dem kleinen Hüttchen neben der Judenschule ist ihr Vater und ein anderer Nathan, der Nathan Silberstein, ihr erster Mann. Dieser Negrusz ist nämlich ein ganz überspannter Mensch. Zuerst hat er die Tochter eines Millionärs heiraten wollen, eines armenischen Barons, und als man ihm die natürlich nicht gegeben hat, ist er plötzlich sehr genügsam geworden und hat sich in das passabel hübsche Judenweib verliebt und hat sie ihrem Mann abgekauft.«

»Abgekauft?« werdet ihr erstaunt fragen. »Um Geld, um bares Geld?«

»Natürlich – um was sonst?« wird der Anzeiger versichern. »Und das wundert Sie im Ernst? Ich bitte Sie, so einem Juden ist Alles feil, sogar sein Weib. Man sagt sogar, wie viel es den Negrusz gekostet hat: tausend Gulden. Wenn Sie übrigens mir allein nicht glauben wollen, so fragen Sie die ganze Stadt oder fragen Sie am besten den Silberstein selbst – er ist ein Weinhändler, und wenn er auch sonst das ganze Jahr herumreist, so ist er doch zu den großen Feiertagen immer hier. Er wird Ihnen bestätigen: ›Ich habe sie dem Bezirksrichter friedlich abgetreten‹. Nun, und da frage ich Sie: kann man mit einem solchen Weibe verkehren?!«

Die üppige Emilie hat Recht, sie hat in Allem Recht. Frau Christine hat wirklich früher Chane geheißen, zuerst Chane Bilkes, dann Chane Silberstein. Und der Weinhändler hat sie dem Bezirksrichter wirklich friedlich abgetreten. Auch darin hat sie Recht, daß sie, Emilie, mit einem solchen Weibe unmöglich[50] verkehren kann. Aber bezüglich des Kaufpreises ist sie im Irrtum. Der Kaufpreis war nicht eine Geldnote, sondern ein Menschenherz.


Die alte Betschul' ist ein graues, verwittertes Gebäude, in fernen Zeiten erbaut, wohl gar im Mittelalter. Die Bauern nennen sie die »Judenburg«, weil sich hier einmal die Juden verborgen und verschanzt, als sie ein Fürst Czartoryski totschlagen und ausrauben wollte. Er wollte dies aus doppeltem Grunde: erstens war es gerade Jagdzeit, aber wenig Füchse und Eber auf der Haide, zweitens brauchte er Geld. Aber die Juden bargen ihr Gut und Blut hinter den Mauern und Eisenriegeln der Betschul' und hielten hier so lange aus, bis des jagellonischen Königs Mannen aus der nahen Veste Jagiellnica herbeieilten und die Geängstigten befreiten. Damals waren die Mauern stark und die Eisenriegel fest, jetzt ist von den Riegeln nichts mehr zu sehen, und halb geborsten, halb in die Erde gesunken sind die Mauern. Aber wie um die einstige Bedeutung dieses Gottes- und Schutzhauses anzudeuten, drängen sich hier an drei Seiten desselben am dichtesten die dürftigen Häuser und Hütten der Judenstadt.

An der vierten Seite hat der nahe Fluß, der träge, schleichende Sered, nur für zwei Häuser Raum gelassen, ein großes, neues Haus, das – eine Seltenheit in dieser Gegend – mit gelber Ölfarbe bemalt ist, und für ein schmutziges, baufälliges Hüttlein, das trübselig am Ufer klebt. Es ist, als dränge das gelbe Haus seinen ärmlichen Nachbar in den Fluß, so stark [51] neigen sich die moderigen Wände der Hütte über die trüben, langsamen Wasser. Im gelben Hause wohnte einst der reiche Weinhändler Manasse Silberstein mit seinem Sohne Nathan und in dem Hüttlein wohnte und wohnt noch heute Nathan Bilkes, ein armer, sehr armer Mann.

Nathan war ein »Dorfgeher«, so lange seine Kräfte es erlaubten, und lebt jetzt, ein schwacher, einsamer Greis, von seinen sauer erworbenen Pfennigen und, wo diese nicht reichen, von der Unterstützung der Gemeinde. Er ist früh schwach und alt geworden, wie alle Leute seines Berufs. Denn es ist ein überaus harter, mühsamer Beruf. Ein »Dorfgeher« heißt in der Sprache seiner Glaubensgenossen derjenige Mann, der die Bauern in den umliegenden Dörfern mit dem Nötigen versieht und sich dabei sein Brot herausschlägt. Er zieht Sonntag am frühen Morgen aus dem Städtchen, den Rücken gebeugt von einem riesigen Pack Waren. Da drin ist Alles enthalten, wonach nur ein ruthenisches Bauernherz verlangen mag, bis auf das Eine, wonach ein solches Herz am meisten verlangt: Schnaps verkauft der »Dorfgeher« nicht. Aber sonst verkauft er wirklich Alles: Strohhüte, Ledergurte, Stiefel, Taschenmesser für die Bursche; Blumen, Bänder, Korallen, Liebestränke, Kleiderstoffe; Spindeln für die Mädchen; Leinwand, Talg, Geschirre, Heiligenbilder, Zaubermittel, Wachslichter, Nadel und Zwirn für das Haus, Gebetbücher, alte Hosen und Kaftane, neue »Teffilim« und »Mesusas« für die vereinzelt wohnenden Glaubensgenossen; Schnupftabak, Kalender, die Zeitungen der [52] verflossenen Woche, seine Stoffe und Stickereien für die Pfarr- und Edelhöfe; Liqueure, Spielkarten, geschmuggelte Cigarren und andere Dinge für die Kavallerieoffiziere; kurzum Alles, Alles! So zieht er die Woche über, jahraus, jahrein, von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus, immer und immer, trotz Winterkälte, trotz Sommerglut. Er kennt alle Leute und alle Leute kennen ihn. Bedürfen sie seiner, so gestatten sie, daß er ihre Schwelle betrete; brauchen sie nichts, so jagen sie ihn fort und hetzen, wenn er besonders hartnäckig ist, ihre Hunde auf ihn. Der Bauer und der Edelmann, der Kadett und der Kaplan prüfen ihren Witz an ihm oder, wenn sie nicht gerade geistreich aufgelegt sind, ihre Gerte und ihre Sporen. Er aber wird nicht müde, vom frühen Morgen bis zum späten Abend seinen heisern Ruf zu erheben, zu feilschen und zu überlisten, wo er nur immer kann. Ist kein Bargeld im Hause, so läßt er sich mit Fellen bezahlen, oder mit Getreide, oder mit Hühnern und Enten oder mit Eiern. Am Freitag Nachmittag aber kehrt er in die Stadt zurück und ist einen Tag lang ein Mensch, und wird erst am Sonntag wieder zum »Dorfgeher«.

Solch' ein Dorfgeher war auch Nathan Bilkes, und damit ist sein Leben beschrieben; es ist sonst nichts Besonderes darüber zu berichten. Sein Vater hatte ein Mädchen für ihn ausgesucht, das wurde sein braves Weib, gebar ihm zwei Kinder und starb früh. Die Kinder aber, ein Knabe und ein Mädchen, wuchsen herrlich heran in der düstern, dumpfigen Hütte, wie ja auch zuweilen in Schutt und Moder schöne Blumen[53] gedeihen. Aber – »an ihrer Schönheit und Stärke sind sie mir gestorben,« klagt der Vater. Für ihn sind sie Beide tot und begraben. Der Sohn mußte Soldat werden, weil er so trefflich dazu taugte, und weil Nathan die fünfzig Gulden nicht aufbrachte, welche die Assentierungskommission für die Freigebung forderte. Wenigstens behauptete Beer Blitzer, der Makler, es sei mit fünfzig Gulden zu richten. Aber die fünfzig Gulden waren nicht da. So ward denn der Bursche nach Italien geschickt und dann kam der Krieg, und nach Magenta stand sein Name unter den offiziell »Vermißten«. Ach, ganz anders noch vermißte ihn sein alter Vater! Der wartete und wartete, aber der Sohn ist nie wieder gekommen. Und seine Tochter ist nun auch tot. »Meine Chane,« pflegt der Greis zu sagen, »war ein ehrlich jüdisch Weib; die Frau Christine da oben, die ›Goje‹ (Heidin), kenn' ich nicht.«

Der Dorfgeher hatte sich nicht versehen, daß ihm sein Kind so herben Schmerz breiten werde. Seine Chane war eben so schön wie gehorsam, eben so züchtig wie fleißig. Nicht allein ihr Vater liebte sie, sie war bei allen Leuten wohl gelitten. Man gönnte ihr allgemein das Glück, als der alte Manasse Silberstein für seinen einzigen Sohn Nathan um ihre Hand warb. Das war ein großes, unerwartetes Glück. Denn die Schranken sind sonst eng gezogen unter diesen Leuten, nur Reich und Reich gesellt sich, Arm und Arm. Es ist dies auch so natürlich bei dem Volke, dem man den Gelderwerb als einzige Beschäftigung, den Geldbesitz als einziges Glück gegönnt durch lange Jahrhunderte. [54] Der arme Dorfgeher konnte es anfangs kaum glauben – der alte Manasse war ja reich, so reich; er hatte einen großen Spezereiwarenladen und betrieb einen sehr schwunghaften Weinhandel mit Ungarn und der Moldau. Es war das schönste Ehrenzeugnis für des armen Dorfgehers Tochter, als die Wahl des Nachbars auf sie fiel. Denn auch Nathan Silberstein war ohne Makel; er war ein braver, klarer, verständiger junger Mensch, gesund und wohlgebaut, und kannte sich im Talmud ebenso gut aus, wie in Geldgeschäften. Und weil er kein Gelehrter werden sollte, sondern ein Kaufmann, so hatte der Vater ihm einen Lehrer für das Hochdeutsche genommen. Nathan hatte das Schreiben und Lesen erlernt, dann arbeitete er einen »Briefsteller für alle Stände« durch und das »Allgemeine oesterreichische bürgerliche Gesetzbuch«. Aus diesen beiden Büchern bestand auch offiziell und vor des Vaters Augen seine deutsche Bibliothek. In Wahrheit aber stand in seinem Bücherschrank, unter den mächtigen hebräischen Folianten versteckt, noch ein kleines deutsches Büchlein. Am Samstag Nachmittag, wenn er im Festgewand mit den Anderen in den gräflichen Park ging, steckte er das Büchlein zu sich, sonderte sich dann ab und las es an einer stillen, heimlichen Stelle, wo sich das Laub um ihn nur leise bewegte. Dabei fühlte er, wie sich auch etwas in ihm leise bewegte, was er sonst an den Wochentagen nie verspürte. Vielleicht war dieses Etwas das Herz. Auf dem Rücken des kleinen Büchleins stand in Golddruck: »Schillers Gedichte.«

[55] Als sein Vater ihm sagte, daß er eine Braut für ihn erwählt und wer das sei, da – da regte sich dieses Etwas nicht. Er sagte gehorsam: »Wie Ihr wollt, Vater!« und wurde vielleicht einen Augenblick lang etwas blasser als gewöhnlich. Und eben so gleichmütig fügte sich die Braut in den Willen ihres Vaters, nur daß sie vielleicht dabei etwas röter wurde. Und dann ward die Verlobung gefeiert und zwei Monate darauf die Hochzeit. In der Zwischenzeit schenkte Nathan seiner Braut hübsche Perlen und kostbares Geschmeide, und das arme Mädchen ihm einen Gebetmantel, auf den es kunstvoll mit Gold- und Silberfäden die Verzierungen gestickt hatte. Auch sprachen sie während der Zeit einige Male mit einander, über ganz Gleichgültiges; von ihnen selber und ihrer Zukunft sprachen sie nicht. Auch für die Vergangenheit fand sich kein herzliches Wort; sie hatten, obwohl Nachbarskinder, keine gemeinsamen Erinnerungen.

Mit großem Aufwand ward die Hochzeit gefeiert: der Wein floß in Strömen, ganze Berge von Fleisch und Backwerk wurden vertilgt, die besten Spielleute und die besten Lustigmacher erheiterten die Gäste. Dann zogen die jungen Eheleute in das große, stattliche Hauswesen, das Manasse seinem Sohne gegen über den Dominikanern gegründet. Sie hatten sehr viele Arbeit, sie mußten sich den Tag über schwer mühen und lebten still und friedlich mit einander. Sie waren beide gute, ehrliche Herzen, und da sie von den Tagen ihrer Ehe kaum im Voraus geträumt oder sich ein paradiesisches Glück ausgemalt, so wurden sie[56] auch in nichts enttäuscht. Die Sitte band sie, das gemeinsame Schaffen, die gegenseitige Achtung und darum auch die gegenseitige Treue. So ging Alles im ruhigen, hergebrachten Geleise, und als Chane ihrem Gatten nach Jahresfrist ein Kind gebar, da fühlte dieser in seinem Innern sogar wieder jenes geheimnisvolle Etwas sich regen, das so lange geschwiegen. Das Kind starb nach wenigen Wochen, aber die große Trauer brachte die Gatten nur einander näher. Dann mußten sie den guten, hochbetagten Manasse begraben, und nun lastete auch die Leitung des ganzen großen Geschäfts allein auf ihren Schultern. Nathan mußte nun viel auswärts sein, aber Chane war die getreueste Verwalterin des großen Hauswesens. Sie lernte deutsch schreiben und lesen, um ihrem Gatten im Geschäfte helfen zu können, und sorgte insbesondere mit rührender Umsicht für alle seine persönlichen Bedürfnisse. Auch er hielt sie hoch und wert und bekleidete ihren holden Leib mit den schwersten Seidenstoffen und dem massivsten Goldschmuck aus den Läden von Lemberg und Czernowitz. Sie waren zu frieden mit einander, wohl auch glücklich. Denn was fehlte zu ihrem Glücke? Sie liebten einander nicht. Aber sie wußten von der Liebe nur, das sei eine Mode der Christen, bevor sie sich verheiraten. Wozu braucht ein jüdisch Kind christliche Moden mitzumachen?

Sie waren glücklich, und das Haus ihrer Ehe stand stark und fest gefügt auf dem Boden der Achtung und der Arbeit und der Gewohnheit, bis der Sturm der Leidenschaft herangebraust kam und das [57] Haus zu Boden warf wie ein Kartenhaus und sie ohne Erbarmen in seinen Bann nahm und hinausstieß in Kampf und Schmerz! ...


*


Das Städtchen Barnow ist sehr klein, ein ödes, schmutziges Nest in einem gottverlassenen Winkel der Erde, und der große Strom des Lebens und der Bildung wirft kaum das Atom einer Welle hierher, aber – ein »Kasino« hat Barnow doch. Es sieht freilich bescheiden genug aus. Hinten im Hofe, hinter Nathan's Laden liegt es, ein kleines Zimmer, in dem zwei Tische stehen und mehrere Stühle. Das hat Nathan für seine Stammgäste eingerichtet. Hier trinken die Beamten und sonstigen Honoratioren von Barnow ihren Frühschoppen und politisieren dabei, und wenn es ihre Frauen erlauben, so politisieren sie auch hier des Abends und trinken ihren Abendschoppen dazu. Der hochgeborene Florian von Bolwinski, ein Gutsbesitzer ohne Gut, der keine Frau hat, trinkt hier seinen Morgen-, Vormittags-, Mittags-, Nachmittags-, Abend- und Nachtschoppen und unterbricht sich nur zuweilen, um einen Spaziergang zu machen, einer Köchin seine Liebe zu erklären, einen Juden anzupumpen oder sonst ein wichtiges Geschäft zu verrichten. Auch der frühere Bezirksrichter, Herr Hippolyt Lozinski, war hier Stammgast, und ein Verdienst dieses Zimmerchens war's, daß mindestens die Nase rot wurde in seinem gelben, magern Gesicht. Aber eben als sie durch fortgesetzte Bemühungen zum leuchtenden Rubin geworden, starb der Wackere, zur ziemlichen [58] Freude des Bezirks, zum unaussprechlichen Schmerze seiner überaus zahlreichen Gläubiger. Frau Kasimira zog sich auf die Güter Derer von Cybulski zurück, einen kleinen, überschuldeten Meierhof bei Tarnopol, und in das erste Stockwerk des weißen Hauses zog der neue Bezirksrichter, Herr Julko von Negrusz. Er nahm auch den Platz des Verewigten im »Kasino« ein, freilich ohne ihn so häufig und so ausgiebig zu benützen, wie dieser.

Herr von Negrusz war ein junger Mann, etwa im Anfang der Dreißig. Man achtete ihn gleich von Anfang an als ausgezeichneten Juristen und bald auch als guten Menschen. Ein Bezirksrichter in Podolien ist ein Halbgott und kann zum Fluch oder zum Segen seines Bezirkes werden. Herr von Negrusz übte seine Macht nur zum Guten. Was sein Äußeres anbelangt, so läßt sich nicht viel darüber sagen: er war ein schlanker Mann und stille braune Augen standen in einem Gesichte, das man weder schön noch häßlich nennen konnte. Die drei grünlichen, überaus erwachsenen Töchter des Herrn Steueramtsvorstehers behaupteten, er sei ein Barbar und gegen Frauenreize ganz unempfindlich. In der That liebte er Damengesellschaft nicht sonderlich.

Also auch Herr von Negrusz wurde, wie erwähnt, Stammgast in der kleinen Weinstube. Er pflegte sich dort täglich, nachdem er aus dem Amte gekommen, eine halbe Stunde aufzuhalten, und die Zeitung zu lesen, ehe er in seine Wohnung zum Mittagessen hinaufging, das ihm seine alte Wirtschafterin bereitete.[59] Und da der Zugang durch den Hof so unbequem und schmutzig war, so ging auch er, wie die meisten Gäste, durch den Laden, wo die schöne Frau des Kaufmanns immer selbst das Geschäft beaufsichtigte. Doch begnügte er sich, sie im Vorbeigehen stumm zu grüßen, und sprach und scherzte nie mit ihr, wie es wohl die anderen, älteren Herren zu thun pflegten oder die jungen Offiziere. Er unterließ dies nicht etwa aus besonderen Gründen, sondern weil Lachen und Scherzen einfach nicht in seiner Natur lag. Auch mochte er glauben, daß das, was die Anderen da an Huldigungen aufwendeten, für die Frau ohnehin lästig genug sei. Da irrte er aber, Chane war in der Beziehung sehr gleichmütig und nahm Alles das so auf, wie die anderen kleinen Unannehmlichkeiten, die das Verweilen im Laden mit sich brachte, so zum Beispiel die scharfe Zugluft. Diese Frau hatte eine merkwürdig sichere Manier, sich jeden Vorwitz, wenn auch nur in Worten, vom Leibe zu halten; erwiderte sie auch den ältlichen Herren meist so munter wie sie angesprochen wurde, die Offiziere erhielten nur sehr kärglichen und oft recht sonderbaren Bescheid. Spöttisch und lustig bis zur Ausgelassenheit konnte sie insbesondere werden, wenn man ihr von Liebe sprach. Dieses Gefühl war ihr nicht allein rätselhaft, weil sie es nicht kannte, es war ihr allmählich überaus komisch und verächtlich geworden. Wer ihr also zwischen dem ersten und zweiten Seidel sagte: »Ich liebe Sie!«, der ward nur öffentlich ausgelacht und insgeheim verachtet, wer sie aber dabei auch um die Hüfte zu fassen suchte ... [60] fragt nur den kleinen Oberlieutenant Albert Sturm, das ekelhafte, zudringliche, heimtückische Subjekt, warum einmal acht Tage lang seine rechte Wange voller und röter war, als die linke.

Nun, dem Bezirksrichter gegenüber hatte sie weder in Worten, noch in Thaten eine Abwehr nötig. Die Beiden sprachen während der ersten drei Monate auch nicht eine Silbe miteinander. Und da dies etwas Auffälliges war, in einem so kleinen Städtchen, wo Jedermann mit Jedermann verkehrt, und doppelt auffällig, da sie zugleich Hausgenossen waren, so sprach Chane einmal mit ihrem Gatten darüber, ganz zufällig und ganz unbefangen. Nathan war mit dem Bezirksrichter und mit Seiner Hochgeboren, dem Herrn Florian von Bolwinski lange in eifrigem Gespräch vor dem Laden gestanden; dann war Negrusz aufs Amt gegangen, während Florian mit dem Kaufmann in den Laden trat, um heute ausnahmsweise zwischen dem Mittags-und Nachmittagsschoppen noch einen besonderen Verdauungsschoppen in Versorgung zu bringen. »Nathan,« sagte die Frau, »mit dem Bezirksrichter ist es ein eigen Ding. Ist er so stolz? Er hat noch nie ein Wort mit mir gesprochen.« – »Stolz ist er nicht,« erwiderte Nathan, »im Gegenteil, er ist der beste, hülfreichste Mensch von der Welt. Aber wortkarg ist er; wer weiß, warum? Vielleicht ist er unglücklich.« – »Hoho!« gröhlten Seine Hochgeboren »was für eine eitle Frau Sie haben, Pani Nathan! Wir machen ihr Alle auf Tod und Leben die Cour, aber sie hat noch immer nicht genug. Jetzt sticht ihr [61] dieser junge Herr Julko in die Augen. Hohoho! Aber da ist alle Mühe umsonst, hoho! Der ist schon verliebt, ernstlich verliebt, ja! das ist Gottes Strafe!« Die schöne Frau hörte das alte Weinfaß geduldig an; sie war seine Witze schon gewohnt. »Es hat nicht Jeder eine so glückliche Natur wie Sie,« erwiderte sie darauf, »dieser Mann scheint mir zu ernst und zu tüchtig, als daß er sich verlieben könnte!« Herr Florian stemmte die Arme in die Seiten und lachte einige Minuten lang sein wieherndstes, lustigstes Gelächter. »Hohoho!« keuchte er, »da muß ich schon bitten ... Hat man je so etwas gehört? Hohoho! als ob sich nur dumme Leute verlieben könnten ... zum Beispiel ich, bin ich dumm? und ... Pani Nathan, werden Sie nicht eifersüchtig! ich bin doch in Sie verliebt. Aber dafür muß ich Ihnen doch zur Strafe sagen: bei dem Negrusz ist alle Mühe umsonst, der ist vergeben ... hohoho! fest vergeben, er liebt eine Tote, hohoho!«

»Unsinn,« murmelte die Frau unmutig, indes der Hochgeborene in Nathan's Begleitung ins »Kasino« torkelte. Es ging ihr aber doch nicht aus dem Kopfe. Denn am späten Abend, als sie neben ihrem Gatten im Wohnzimmer saß und ihm, da er am nächsten Tag in aller Frühe verreisen mußte, die Geschäftsbriefe schreiben half, fragte sie plötzlich: »Was hat denn heute der Bolwinski nur mit der Toten gemeint, in die der Bezirksrichter verliebt sein soll?«

»Was weiß ich,« erwiderte Nathan, »man spricht so hie und da. Er war in ein Mädchen verliebt und wie das gestorben ist, hat er beschlossen, ledig zu [62] bleiben. Vielleicht ist's wahr. Die Christen treiben viel Unsinn mit der Liebe.«

»So, so,« erwiderte die Frau und starrte sinnend in die Flamme des Lichtes. Dann aber griff sie zur Feder und schrieb den Brief an Moses Rosenzweig in Czernowitz zu Ende, in welchem sie ein Faß Häringe bestellte und fünf Center Zucker.


*


Am nächsten Tage geschah etwas Seltsames.

Der Herr Florian von Bolwinski ist nicht bloß ein dicker Mann, er ist auch ein braver Mann. Und weil er noch Niemand Unrecht gethan hat, so fürchtet er sich auch vor Niemand, ausgenommen vor seiner Wirtschafterin, obwohl er auch dieser niemals Unrecht gethan hat. Ein braver Mann, aber er hat einen großen Fehler: er erzählt Alles, was er in Erfahrung bringt, und noch Einiges dazu. Das kommt teils von der natürlichen Phantasie, teils vom vielen Weintrinken. Und so erfuhr denn der Bezirksrichter am nächsten Vormittag, als er mit Herrn Florian zufällig allein im »Kasino« war, wie Frau Chane gestern dem hochgeborenen Herrn unter einem Strome siebender Thränen ihr Herz geoffenbart und in diesem Herzen ihre wahnsinnige Liebe für Herrn von Negrusz, und wie es sie fast zum Selbstmord treibe, daß der so übermenschlich Geliebte und Begehrte nichts von ihr wissen, ja sogar kein Sterbenswörtchen an sie verschwenden wolle. Und zwar erzählte Herr Florian diese ergreifende Geschichte nicht so kurz und bündig wie sie hier berichtet wird, sondern mit saftiger Ausmalung aller [63] Einzelheiten, unterbrochen von zahlreichen »Hohoho!« und »Verstehen Sie mich!« Diese Selbstunterbrechung war notwendig, damit der Hochgeborene bei Atem bleibe. Denn der Bezirksrichter unterbrach ihn nicht. Er saß stumm und ernst da, wie immer und nur zuweilen spielte ein stilles Lächeln um seine Lippen. Dieses Lächeln war Herrn Florian unangenehm, und so oft es sich zeigte, wurde er etwas verlegen und bemühte sich, diese Verlegenheit durch doppelt saftige Einzelmalerei zu verbergen. »Und was sagen Sie dazu?« fragte er endlich tief aufatmend.

»Was ich dazu sage?« meinte der Bezirksrichter. »Nichts. Ich bewundere nur Ihr poetisches Talent; Adam Mickiewicz ist gegen Sie ein Stümper!«

»Wie? was? hohoho! ich glaube gar, Sie glauben mir nicht! O, verehrter Herr von Negrusz, o verehrter Herr Wohlthäter, wodurch verdiene ich das? Haben Sie mich je auf einer Lüge ertappt? Und dann, was hätte ich davon? Nein, auf Ehre, es ist Wahrheit, heilige Wahrheit. Ich versichere Sie, ich habe Mitleid mit dem Weibe gehabt ... ganz weg ist sie, ganz weg aus Liebe zu Ihnen. Ich habe nie etwas Ähnliches gesehen, ich, der ich doch ... hohoho! Sie verstehen mich? die Weiber kenne! Ganz weg, ganz weg! Und jetzt frage ich Sie, was soll ich ihr sagen? Der Nathan ist verreist ... verstehen Sie mich? ... auf drei Wochen verreist, hohoho! Das Weib ...«

»Herr von Bolwinski,« unterbrach ihn der Bezirksrichter, legte die Zeitung zusammen, in die er bisher ab und zu geblickt hatte, und richtete sich hoch auf,[64] »was Sie, der katholische Edelmann, der Ehegattin des Juden Silberstein in seiner Abwesenheit sagen wollen, muß ich in Ihr Belieben stellen. Aber ich für mein Teil, ich hätte Ihnen etwas zu sagen. Wüßte ich nicht, daß der ganze Roman, den Sie mir da erzählt haben, erlogen ist vom ersten bis zum letzen Wort ...«

»Herr von Negrusz!«

»Ich wiederhole es: erlogen vom ersten bis zum letzten Wort; hätten Sie sich mir in Wahrheit als Vermittler eines Ehebruchs angetragen, ich würde von dieser Stunde ab Ihre Gesellschaft nicht mehr dulden. Aber Sie haben nur Spaß gemacht in Ihrer Art, die freilich nicht die meine ist. Ich erlaube mir keinen Spaß mit der Ehre so achtungswerter Leute, wie es dieses Ehepaar ist. Und darum ersuche ich Sie ernstlichst, den Scherz nicht fortzuspinnen, und wenn Sie sich Anderen gegenüber dazu veranlaßt finden, sich einen andern Akteur wider Willen auszusuchen, als mich!«

Herr Florian ist außer sich. Erstlich glaubt ihm dieser merkwürdige Mensch da nicht und verdirbt ihm einen prächtigen Spaß. Aber das wäre noch zu verwinden; Herr Florian ist in diesem Punkt ein geprüfter Dulder: es glauben ihm auch andere Leute nichts. Aber dieser Mann da geht so weit, die ganze Sache ernst zu nehmen, fast tragisch! Er macht Seine Hochgeboren herunter wie einen Schulbuben. Das kann man nicht dulden; das geht gegen die Ehre. Hier ist auch ein Einlenken unmöglich. Und darum richtet er sich auf und stemmt die Arme in die Seiten und ruft in jenem Tone, in dem er sonst [65] nur die hartnäckigsten Gläubiger anzurufen pflegt: »Ich frage Sie, mit wem Sie sprechen, hohoho! ... verstehen Sie mich? Mit wem Sie sprechen, frage ich Sie! Also Sie sprechen mit mir, Florian von Bolwinski. Also Respekt, ich muß sehr bitten, gebührenden Respekt! Hat man schon so etwas gehört?! Ein Lügner, ein Kuppler, ich ... hohoho! Also, verstehen Sie mich, Respekt! Bleiben Sie tugendhaft, wenn Sie wollen, aber was ich gesagt habe, ist wahr. Diese Chane ist eine verliebte, leichtsinnige ...«

»Still!« Zischend wie ein Pfeil kommt der Laut geflogen und haarscharf schneidet er die imponierende Rede entzwei. Der Hochgeborene blickt zur Thür und läßt blitzschnell die aufgestemmten Arme niedersinken und wird sehr blaß. Aber dem Bezirksrichter steigt die helle Röte ins Antlitz. »Still!« befiehlt die schöne Frau noch einmal und streckt die Hand gebieterisch aus gegen den dicken, zitternden Niding. Hoch aufgerichtet steht sie da in der geöffneten Thüre, totenbleich, aber königlich stolz und königlich schön. Seine Hochgeboren haben das Haupt tief herabgebeugt und lassen die Unterlippe hängen wie das Schaf vor dem Gewitter. Die Frau schließt die Thüre hinter sich und tritt auf die beiden Herren zu. »Sie ... haben ... gehorcht,« stammelt der alte Sünder und macht den Versuch zu lächeln.

»Ich habe nicht gehorcht,« erwidert Frau Chane sehr entschieden. »Gott ist mein Zeuge – ich habe sonst nicht die Gewohnheit, zuzuhören, was die Herren hier unter einander sprechen; es geht mich auch nichts an. Aber ich habe gerade im Laden hier neben der [66] Thür bei den Gewürzen zu thun gehabt und da habe ich jedes Wort hören müssen. Es war mir bitter genug und noch bitterer« – eine heiße Röte flammt ihr über Stirn und Wangen – »noch bitterer ist es mir, daß ich selbst sprechen muß in dieser Sache. Aber mein Nathan ist nicht zu Hause. Also muß ich selbst Ihnen, Herr von Bolwinski, ins Gesicht hinein sagen, daß Sie ein ganz schlechter Lügner sind. Ich habe bloß gestern meinen Mann gefragt, ob ... ob der Herr Bezirksrichter stolz ist, weil er niemals mit mir spricht und die anderen Herren thun es Alle. Ich habe nichts Böses dabei gedacht. Und darum, Herr von Bolwinski, schämen Sie sich! ...«

Herr von Bolwinski thut wie ihm befohlen wird: er schämt sich. Die Unterlippe hängt sehr tief herab und er erhebt die Augen nicht vom Boden. Herr von Negrusz aber sieht die Frau starr an und wendet keinen Blick von ihr. Es ist vielleicht nicht gut, daß er diese stolze, lebendige Schönheit so in sich aufnimmt, er, der doch nur »eine Tote liebt« ...

»Dem Herrn Bezirksrichter,« fährt Frau Chane fort und stockt gleich nach den ersten Worten, und als sie dennoch weiter spricht, flammt die Röte noch viel heller auf, »dem Herrn Bezirksrichter danke ich schön, daß er sich um uns so angenommen hat, um meinen Nathan und um mich. Und wenn auch der Herr Bezirksrichter.. nicht mit mir sprechen will, so sprech' ich doch zu ihm und sag' ihm: Sie sind ein guter, braver Mann und die Leute haben Recht, wenn sie Sie loben, und ich dank' Ihnen ...«

[67] Auch der Bezirksrichter findet kein Wort der Erwiderung, gerade wie der Herr Florian, und fast so wie dieser schlägt auch er jetzt den Blick zu Boden. Dann greift er nach dem Hut und macht der Frau eine stumme und sehr, sehr respektvolle Verbeugung und geht in seine Wohnung hinauf.

Seine alte Wirtschafterin, die ihn auch liebt, wie alle Welt, ist heute untröstlich. Er ist sonst bei gutem Appetit, aber heute rührt er sein Mittagessen kaum an, und selbst seine Lieblingsspeise, die Käspirogen, kommen fast so vom Tisch, wie sie aufgetragen worden. Und dazu blickt er so sonderbar drein, so ganz anders, als gewöhnlich ...


*


Und die Tage kamen und gingen, und leise und unvermerkt spannen sie zwischen zwei reinen und guten Herzen ein Band, das sündhaft und verbrecherisch war vor Gott und den Menschen.

Äußerlich hatte jener sonderbare Auftritt in der kleinen Weinstube freilich keinerlei Folgen gehabt. Höchstens, daß Herr Florian von Bolwinski an jenem Tage seinen Nachmittags-, Abend- und Nachtschoppen in seinen vier Wänden trank, natürlich in doppelter Quantität, um die so unverdient erlittene Kränkung zu vergessen. Aber am nächsten Tage schon erschien er zum Frühschoppen wieder am gewohnten Platze und nahm auch wieder den gewohnten Weg dahin, durch den Laden und an der Frau des Kaufmanns vorüber. Auch Herr von Negrusz erschien um die Mittagsstunde pünktlich, wie immer. Nun, das war [68] weiter nicht verwunderlich. Aber fast unerklärlich war es, daß auch in dem Benehmen der Beiden gegen Chane scheinbar keinerlei Änderung eintrat. Herr von Bolwinski fuhr fort, sie mit seinen gewohnten Witzen und Schmeichelreden zu beglücken, und wenn sie nichts erwiderte, so sagte er höchstens: »Hohoho! wie stolz! Deshalb bleib' ich doch in Sie verliebt, hohoho!« Und Herr von Negrusz fuhr fort, mit stummem Gruße an ihr vorbeizugehen.

Warum?! Wenn sich Jemand selbst belügen will, so gelingt es ihm bald. »Ich thue es nicht,« sagte er sich, »um nicht dem alten Schwätzer Gelegenheit zu Stichelreden oder neuen Verleumdungen zu geben.« Aber er fühlte dabei sehr wohl, daß dies nicht der wahre Grund sei. Und zuweilen war er sogar so kindisch, der schönen Frau zu zürnen, weil sie sein ehrliches Herz veranlasse, unwahr gegen sich selbst zu sein. Was aber war der wahre Grund? Nicht die »Schüchternheit«, die ihm die üppige Emilie nachsagte, weil er einmal nach einem sehr verständnisinnigen Händedruck ihrerseits aufgehört hatte, ihr bei Begegnungen überhaupt die Hand zu reichen. Auch nicht seine »Unempfindlichkeit gegen weibliche Reize«, über welche sich die drei grünlichen Grazien des Herrn Steueramtsvorstehers beklagten. Er war nicht schüchtern, weil das ein tüchtiger und begabter Mann Niemand gegenüber ist, und was seine »Unempfindlichkeit« betrifft – ach! das Bild der schönen, in ihrer Entrüstung und Verlegenheit doppelt schönen Frau hatte tiefern Eindruck auf ihn gemacht, als ihm blieb war. [69] Aber die Erbärmlichkeit des hochgeborenen Herrn hatte ihn in so eigentümliche Beziehung zu dem ihm bisher fremden Weibe gebracht, und um nun das rechte Wort und den rechten Ton für den Verkehr mit ihr finden zu können, hätte er unbefangen sein müssen. Und das war er ihr gegenüber nicht, obwohl er es sich hoch und treuer zuschwor. Und mochte er sich noch so häufig sagen: »Ich spreche nicht mit ihr, damit das alte boshafte Weib in Schnürrock und Stiefelhosen nicht wieder etwas zu schwatzen hat – und übrigens, was hab' ich denn mit ihr zu reden, oder ist es gar eine Notwendigkeit, daß ich mit ihr rede?!« – er fühlte doch, daß er sich da nur selbst belog und wie unpassend es war, daß er schwieg. Und als Woche auf Woche verstrich und damit die Unmöglichkeit wuchs, seinen Fehler zu verbessern, da wurde ihm auch dieses tägliche stumme Vorbeigehen immer peinlicher und doch – konnte er es nicht lassen! Und um sein Leben gerne hätte er gewußt, was sie dazu sage ...

Was sagte sie dazu?! Zu Anderen nichts, gar nichts, auch zu Nathan sprach sie kein Wort darüber. Vor jener Scene hätte sie ihm sehr ruhig, sogar in Gegenwart eines Fremden darüber berichten können, jetzt hätte sie es nicht mehr vermocht. Sogar die Heldenthat des Herrn von Bolwinski verschwieg sie ihm, als er endlich nach mehr als einmonatlicher Abwesenheit von seinen Geschäftsreisen heimkehrte. »Wozu soll er sich ärgern?« entschuldigte sie sich vor sich selbst, aber in Wahrheit fühlte sie, daß sie es nur darum unterließ, um nicht zugleich des Bezirksrichters [70] erwähnen zu müssen. Eine unerklärliche Scheu hielt sie davon ab. Gerade weil sie so viel über ihn und sein Benehmen nachdenken mußte, darum konnte sie nicht davon sprechen. Und sie dachte so viel und so Verschiedenes darüber – fast jeden Tag etwas Anderes. »Es ist gar nicht schön von ihm, daß er nicht einmal ein Wort an mich wenden will, jetzt, da wir doch bekannt sind.« Oder: »Glaubt dieser hochmütige Christ vielleicht im Ernst, daß ich in ihn verliebt bin, und will er mir so beweisen, daß ich ihm gar nichts bin? Das ist nicht nötig, er ist mir auch gar nichts.« Aber dann gleich wieder: »Er ist ein braver Mensch! Wie er sich um mich angenommen hat! Er spricht gewiß nur deshalb nicht mit mir, um diesem dicken, häßlichen Bolwinski allen Grund zu weiteren Lügen zu nehmen.« Ihr häufigster Gedanke aber war: »Das von der Toten muß wahr sein! Er liebt sie so, daß er mit einem lebendigen Weibe gar nicht sprechen will. Er spricht ja sogar mit der Frau Bezirksaktuarin nicht. Wie kann man eine Tote lieben? Was ist denn diese ›Liebe‹ überhaupt? ...«

Die Macht, die über unser Aller Leben waltet, gebraucht oft seltsame Mittel. Hier brachte sie zwei Menschen dadurch einander nahe, daß sie nicht mit einander sprachen. Sie schwiegen und sahen einander täglich und schwiegen fort durch lange drei Monate. Der Hochsommer neigte dem Ende zu, von den Bäumen im Klostergarten fielen die ersten gelben Blätter zur Erde, die Zeit der Weinlese rückte heran und Nathan trat seine große Reise in die Weinländer an, nach [71] Ungarn und der Moldau. Am Sabbath vor den großen Feiertagen wollte er wiederkommen. »Bleib' gesund und schau', daß wir aus dem verdorbenen Most einen guten Weinessig erzielen!« – das waren seine Abschiedsworte. Dann schloß er sein Weib wie gewöhnlich fest und ruhig in die Arme und küßte sie auf die Stirne. Er ahnte nicht, daß sie da zum letzten Mal in seinen Armen geruht.


*


Es war ein Tag im September, ein schöner, klarer, sonniger Herbsttag. Im Laden stand Frau Chane und wog den Kunden Kaffe und Zucker zu, im »Kasino« drinnen saßen Herr von Bolwinski und der Herr Steueramtsvorsteher und sprachen über den Liberalismus. Alles wie gewöhnlich. Und wie gewöhnlich trat auch Herr von Negrusz in den Laden. Er lüpfte schweigend den Hut, sie nickte schweigend den Gegengruß, und dann wollte er vorüber. Aber er konnte nicht, denn ein großes Faß mit Häringen stand mitten im Wege. »Sie müssen hier herum kommen,« sagte die Frau und wies auf den Weg hinter dem Ladentische.

»Ich danke,« sagte er leise und ging an ihr vorbei. Dann aber blieb er doch stehen. »Sie machen hier neue Ordnung?« fragte er, um doch irgend etwas zu sagen.

»Ja, für den Herbst – da kommen die Früchte.«

»Das war ein gesegneter Herbst ...«

»Ja, besonders die Äpfel ...«

»Auch der Wein, sagt man. Wo ist denn der Herr Nathan jetzt?«

[72] »Jetzt wird er wohl in der Hegyallja sein. Ich weiß es nicht gewiß, er hat während der Reise selten Zeit zu schreiben, aber er wird wohl schon in Tokay sein.« Und dann siegte der Stolz der Kaufmannsfrau über die Befangenheit und sie fügte hinzu: »Seit diesem Frühjahr sind alle Potocki und Czartoryski unsere Kunden. Da müssen wir natürlich echten Tokayer führen. Auch vom Rhein beziehen wir jetzt Alles direkt.«

»So, so! Ich gratuliere.« Damit ging er ins Kasino. Das war ihr erstes Gespräch. Sogar Herr Florian von Bolwinski hätte selbst nach dem dreißigsten Seidel nicht behaupten können, daß es ein Liebesgespräch gewesen. Aber das Eis war gebrochen, und an dieses Gespräch knüpfte sich eine Reihe ähnlicher Gespräche. Sie sprachen über das Wetter, über die Geschäfte, über die kleinen, alltäglichen Vorkommnisse. Und seltsam, während sie im Schweigen sehr befangen gewesen und schließlich nur noch errötend einander zu gedenken vermocht, löste sich während dieser ruhigen, freundlichen Gespräche die Befangenheit und sie wurden fest und sicher im Verkehr. Damals mochten die Beiden an einem Scheidewege stehen: entweder machten diese einfachen, ruhigen Unterredungen der sonderbaren Beziehung, in die sie durch jene Scene und durch ihr Schweigen geraten waren, gänzlich ein Ende, oder aus diesem Verkehr baute sich jene Beziehung erst recht auf, viel tiefer, viel gefährlicher als früher, weil sie nun wirklich in gegenseitiger Vertrautheit wurzelte und nicht mehr in blauen Träumen. Sie ahnten nicht, daß sie an jenem Scheidewege standen, und als sie so allmählich immer vertrauter [73] wurden und immer länger mit einander sprachen und immer mehr Gefallen an einander fanden, da ahnten sie auch nicht, daß sie nun gewählt und einen Weg betreten hatten, der nach den Verhältnissen zu Weh und Entsagung führen mußte, oder tief zur Schande.

Sie ahnten es nicht. Wie hätten sie sonst so unbefangen Dinge besprechen können, an die sich leicht ein glühendes Wort knüpfen konnte, eine unbedachte Aufwallung des Herzens?! Da erzählte sie ihm zum Beispiel einmal, was ihr Herr von Bolwinski von seiner Leidenschaft für eine Verstorbene mitgeteilt. Sie sprach fast scherzhaft darüber, aber sie bereute es sehr, als sie sah, wie sich sein Antlitz bei der Erwähnung verdüsterte. »Ich hab' Ihnen weh gethan?« fragte sie besorgt. – »Nein, nein!« erwiderte er. »Ich muß Ihnen wohl auch einmal davon sprechen, nachdem es schon Andere gethan haben. Es ist an der Sache nichts, was ich verbergen müßte.« Und darauf erzählte er ihr die Geschichte seines Herzens, eine einfache, traurige, alltägliche Geschichte. Er hatte als Stundent ein Mädchen geliebt, das er unterrichtete, die Tochter vornehmer, adeliger Eltern. Die junge Baronesse hatte seine Liebe erwidert, aber die Welt war stärker gewesen als ihre Herzen; sie ward einem Andern vermählt und starb nach kurzer Ehe. Die Judenfrau hörte die ganze Geschichte an, wie eine Wundermär, es war etwas darin, was sie vor wenigen Monaten gar nicht verstanden hätte und was sie noch jetzt nicht ganz klar verstand. Vielleicht faßte sie das in die Frage zusammen, die sie nach langer Pause an ihn [74] stellte: »Und – und Sie lieben sie noch?« – »Sie ist tot,« erwiderte er, »und ich liebe sie nicht mehr mit jener Liebe, mit der ich die Lebende umfaßt habe. Aber ihr Andenken bleibt mir teuer und lebendig, bis ich sterbe. Ich werde sie nie vergessen.« – Die Frau sah lange sinnend vor sich hin. »Die Liebe muß etwas Großes sein,« flüsterte sie. Er erwiderte nichts, vielleicht hatte er die leisen Worte nicht vernommen ...

Woche um Woche verstrich. Die großen Feiertage rückten immer näher. Nathan sollte wiederkehren. Die Beiden sprachen über ihn häufig, sehr häufig und lobten seine Tüchtigkeit, seine Ehrlichkeit, sein braves, gutes Herz. Das war sonderbar – immer wieder kamen sie auf ihn zu sprechen. Vielleicht fühlten sie es instinktmäßig, daß es notwendig sei, sich gegenseitig in der Achtung für diesen Mann zu bestärken. Denn diese Achtung war ja die Schranke zwischen ihnen und zugleich der letzte Halt, an den sich ihr Ehr- und Rechtsbewußtsein klammerte.

So kam der Freitag vor dem jüdischen Neujahr heran, der Tag von Nathan's Ankunft. Noch war das entscheidende Wort zwischen Beiden nicht gesprochen. Da brachte der Zufall dieses Wort auf ihre Lippen und sie erkannten, unendliche Seligkeit und unendliches Weh im Herzen, den Abgrund, vor dem sie standen ...


*


Das war an einem trüben, nassen Oktobertage. Die Nacht über hatte es gestürmt, unablässig war der Regen niedergegangen über das öde Gelände und über das düstere Städtchen. Dann hatte ihn der Herbstwind [75] weggepeitscht und jagte nun ruhelos hinter den einzelnen Wolken her, durchstöhnte die winkeligen Gassen und warf von den Pappelbäumen der Mönche drüben die letzten roten, zitternden Blätter nieder in den Schlamm. Es war ein trauriger, trauriger Tag, und wen Kummer oder Einsamkeit drückte, dem mußte es heute doppelt bang ums Herz sein.

Im Laden saß Frau Chane allein, heute ließen sich keine Käufer blicken. Sie sah zu, wie der Wind mit den Blättern sein Spiel trieb. Sie hatte gerade keine bestimmte Sorge oder sie empfand sie nicht deutlich, und doch war's ihr schwer ums Herz, so schwer.

Dann kam die Rosel Juster in den Laden, ein armes Mädchen, aber schön und üppig. Sie machte große Einkäufe Zucker und Mandeln und Rosinen und allerlei Gewürz. »Das ist zum Gebäck bei Deiner Verlobung?« fragte Frau Chane freundlich. »Ich habe davon gehört und wünsch' Dir viel Glück. Er soll ein braver Mann sein.«

»Ich dank' Euch,« erwiderte das Mädchen. »Am Dienstag ist die Verlobung und schon am zweiten Dienstag darauf die Hochzeit. Es ist wegen seiner kleinen Kinder; er ist Witwer.«

»Da wirst Du wohl viel Arbeit haben?«

»Ach! wenn's nur die Arbeit wär'! Aber er hat auch eine Schwester im Haus. Und dann – er ist ein alter Mann. Aber was nützt da das Reden!«

»Also ist es nicht mit Deinem Willen?«

Die Rosel sah erstaunt auf. Dann erwiderte sie finster: »Seit wann fragt man bei uns nach dem [76] Willen?! Ich bin ein armes Mädel und er nimmt mich und versorgt mich – das ist Alles.« Sie zuckte die Achseln, fuhr sich über die Augen und fügte rasch hinzu: »Und dann brauch' ich noch zwei Lot Ingwer ...«

Frau Chane sagte nichts mehr und wog ihr das Gewünschte zu. Aber ihre Hand zitterte, als sie die Düte zudrehte, und auch in den Gewichten vergriff sie sich einige Male und mußte mehrmals nachwiegen.

»Mir scheint, Euch ist nicht wohl,« sagte die Rosel, als sie fortging. »Ihr seht so bleich ...«

»Ich bin müde,«, erwiderte die Frau und sank auf einen Stuhl. Als sich die Thür hinter der Käuferin geschlossen hatte, schlug sie die Hände vors Antlitz und saß so lange, lange. Es waren wilde, wüste Stimmen, die in ihr kämpften und riefen ... »Wann hat man je bei uns nach dem Willen gefragt? ... Ich war ein armes Mädel und er hat mich genommen und hat mich versorgt ... mein Gott, das ist Alles ... Alles!«

Sie hielt die Augen krampfhaft geschlossen, aber sie sah dennoch klar in jenem Augenblicke, klarer als je vorher, o fürchterlich klar! Ihr ganzes Leben lag vor ihr und die große Lüge dieses Lebens. »Alles gehört ihm, mein Leib und meine Seele, nicht weil ich so will, nicht weil er so will, nein! weil unsere Väter es so für weise befunden haben. Und jetzt, wo ich fühle, daß ich auch ein Mensch bin, der seinen Willen hat und sein Herz ... jetzt wo ich einen Andern liebe, jetzt bleib' ich elend, oder ich muß ...«

Sie dachte den Gedanken nicht aus; ihre Sinne begannen sich zu verwirren. Unendliches Mitleid mit[77] sich selber überkam sie, und brennend heiß quollen ihr die Thränen aus den Augen. Sie bedachte nicht, wo sie war, sie bedachte nicht, daß Der, den sie liebte und dessen Anblick sie gerade darum jetzt am meisten fürchtete, jeden Augenblick eintreten mußte. Sie dachte erst daran, als die Mittagsglocke der Dominikaner erklang, und raffte sich auf. Aber es war zu spät. Da stand er schon in der geöffneten Thür.

Und nun geschah etwas Seltsames zwischen den Beiden. Sie hatten bisher nie von ihrer Liebe gesprochen, sie hatten wohl auch nichts davon gewußt. Aber wie er auf sie zutrat und ihre Hand faßte und in ihre Augen blickte, die großen, braunen, thränenerfüllten Augen, die mit so unsäglich rührendem Ausdruck auf seinen Zügen hafteten, da erriet er alle ihre Gedanken, ihren Kampf, ihren Schmerz, ihre Liebe. Und als er ihr die Hände drückte und ihr dann leise und zärtlich wie einem kranken Kinde das Haar aus der Stirne strich, da wußte sie, daß sein Herz ihr gehöre und daß sie auf ihn bauen dürfe bis in den Tod. Dann ließ er ihre Hände los und trat zurück.

»Wir werden viel zu leiden haben,« sagte er, als verstünde sich ihre Liebe und alles Erringen von selbst. »Aber ich werde fest sein und Sie auch. Ich habe Ihnen viel zu sagen. Aber hier ist nicht der rechte Ort und heute Abend« – er stockte und fuhr dann mit fester Stimme fort – »heute Abend kommt schon Ihr Mann zurück und ich mag Sie nicht zu einer heimlichen Zusammenkunft hinter seinem Rücken bewegen. Ich werde Ihnen also schreiben, was ich für gut halte.«

[78] Er drückte nochmahls ihre Hand, dann ging er in seine Wohnung. Die Frau erhob sich, schickte den Lehrling, der bisher das Silber- und Messinggeschirr für die Festtage geputzt hatte, in den Laden und blieb selbst in der Küche, für den Sabbath zu rüsten und für den Empfang ihres Mannes. Sie that Alles pünktlich, aber doch in anderer Art als sonst. »Schmerzt Euch der Kopf, Frau?« fragte ihre Magd, als sie plötzlich stehen blieb und die Hände flach an die Schläfen drückte, als müßte sie sich auf sich selbst besinnen. Ihr war's wirr und wüst und doch wieder, als müßte sie jubeln. So verging der Tag.

Gegen Abend brachte ihr der Amtsdiener einen Brief. »Vom Bezirksgericht für Ihren Mann,« sagte er, aber als sie den Umschlag entfernte, lag ein Brief an sie darin. Sie öffnete ihn nicht, sie zitterte vor dem Inhalt.

Die Dämmerung brach ein, die Lichter wurden angezündet und sie sprach den schönen uralten Segensspruch über sie, wie es Pflicht der Hausfrau ist. Daß Licht und Friede im Hause wohne, daß Gottes Erbarmung jeden Kummer fern halte, jede Not, jede Schmach ... Es sind nur wenige Worte und sie kannte die Formel sehr gut, und doch kam sie ihr heute nur zögernd und unsicher über die Lippen. Ach! war sie noch wert, zu Gott zu beten, sie, ein jüdisch Weib, das den Brief ihres christlichen – Geliebten bei sich trug?! ... Todesmatt sank sie auf einen Sitz und stöhnte auf in herbem Seelenkampfe. Dann zog sie den Brief hervor und besah ihn. Er war versiegelt. Ein Siegel darf man am Sabbath nicht brechen. »Es ist nicht meine größte Sünde,« sagte sie dumpf, als sie es dennoch that.

[79] Sie las. Er schrieb, wie sehr er sie liebe, wie er ohne sie sterben müsse oder wahnsinnig werden. »Werde Christin, werde mein Weib! Die Sünde an Deinem Gatten ist nicht so groß, wie die Sünde an uns Beiden, wenn Du es nicht thust. Daß Du mich liebst, weiß ich – nun sage mir nur noch Deinen Entschluß, mit mir zu gehen. Alles Übrige ist meine Sorge.«

Sie ballte den Brief zusammen und schleuderte ihn von sich und hob ihn dann doch wieder auf und glättete ihn und las ihn wieder. Dann ließ sie die Hände auf den Tisch sinken, ihre Finger schlangen sich krampfhaft in einander, die Thränen strömten ihr wie Bäche über die Wangen, und schluchzend stammelte sie: »Mein Herr und Gott, hilf mir, erleuchte mich! Laß mich nicht werden wie die Esther Freudenthal, laß mich nicht enden in Schmach und Verachtung! Mein Herr und Gott, verlaß mich nicht! Ich bin ein ehrlich Weib gewesen bisher, mein Mann ist gut, ich kann keine Ehebrecherin werden. Aber ich liebe ihn, ich kann nicht leben ohne ihn ... Er ist ein braver Mann, aber sogar wenn er so schlecht wäre, wie jener Husar, der die Esther unglücklich gemacht hat ... Mein Herr und mein Gott! ich werde wahnsinnig, hilf mir, hilf mir! ...«

Und wie sie also aufschrie aus den Tiefen ihrer gequälten Seele, hörte sie nicht, wie die Thüre geöffnet wurde und ein Mannesschritt hinter ihr klang. Da berührte eine Hand ihre Schulter; sie zuckte empor – ihr Gatte stand vor ihr.

»Gott zum Gruß,« rief er fröhlich. »Endlich bin ich da. Der Sturm heut Nacht hat die Straßen ...« [80] Er sah sie an, er stockte. »Chane,« schrie er angstvoll auf, »wie Du aussiehst ... Chane, was ist Dir?«

Sie antwortete nicht. Da fiel sein Blick auf den Brief. Er langte darnach, sie ließ es ruhig geschehen. Er las die Überschrift und wurde totenbleich. »An Dich – und so!« Darauf überflog er die ersten Zeilen und blickte hastig nach der Unterschrift. »Also Der!« murmelte er, »Den hätte ich nicht vermutet.« Dann las er weiter. Die Augen drangen fast aus ihren Höhlen, die Hand, die den Brief hielt, zitterte, man sah dem Manne an, wie sehr er litt. »Was?« schrie er an einer Stelle auf, mit entsetzter, heiserer Stimme, »was – ist das wahr?« Er fügte nichts Näheres hinzu. Sie glitt auf den Boden nieder und umklammerte seine Kniee. So las er den Brief zu Ende. Dann warf er ihn auf den Tisch und beugte sich zu ihr hinab. »Steh' auf,« befahl er, »setze Dich!« Sie gehorchte. »Nur Eines,« sprach er und trat vor sie hin, »ich will nur Eines wissen. Der Christ schreibt, Du liebst ihn auch ... nicht wahr, da lügt er?! Chane, der Christ lügt?!«

Sie senkte ihr Haupt tief, tief. »Töte mich,« sagte sie leise, aber fest, »töte mich, wenn ich es verdiene, aber er hat die Wahrheit geschrieben.«

Nathan zuckte wild auf. Es war eine gräßliche Verwüstung in seinen sonst so milden, ruhigen Zügen. »Die Wahrheit?« zischte er. »Und Du bleibst in meinem Hause, Ehebrecherin?!«

Sie richtete sich hoch auf. Sie war furchtbar [81] blaß, die Augen blitzten. »Nathan!« rief sie, »ich schwör' Dir bei meiner toten Mutter, er hat heute zum ersten Male meine Hand berührt!«

Er lachte gellend auf. »Und wenn ich Dir glaube, was thut's?! Sollen wir uns in Dich teilen, mir den Körper, ihm die Seele?! Ist mir nicht auch Deine Seele angetraut? Und wenn Du mir nur Deinen Körper geben konntest, warum nahmst Du mich zum Manne?«

Sie trat näher auf ihn zu und ließ die Hände, die sie beteuernd erhoben hatte, schlaff niedersinken. Es war etwas Unheimliches in dem Blick ihrer Augen und unheimlich klang es, als sie leise, dumpf, drohend sagte: »Nathan, sei nicht zu hart. Über meinen Körper ich den Willen und wahre Dir Dein Recht! Aber über meine Seele habe ich keine Macht. Mann, reize mich nicht zum Äußersten, ich leide ja ohnehin entsetzlich! Warum ich dann Dein Weib geworden bin, fragst Du?! Ach! habt ihr mich denn je nach meinem Willen gefragt?!«

Das Wort mußte ihn hart getroffen haben, sehr hart. Er sah sie an, trat einen Schritt zurück und verstummte. Dann war eine lange Stille zwischen den Beiden. Sie war nach jenen Worten gebrochen zusammengesunken und barg ihr Haupt in den Kissen des Ruhebettes, er ging hastig auf und ab. Dann blieb er plötzlich vor ihr stehen und sagte leise: »Geh' – wir werden morgen darüber sprechen!«

Sie wankte aus dem Zimmer.

Er verriegelte die Thüre und begann wieder in [82] der Stube auf und ab zu gehen. Eine alte Dienerin kam und klopfte; sie bringe das Nachtessen. Er wies sie ab. Sie ging murrend fort und er hörte, wie sie zur Köchin sagte: »Das schreit ja zu Gott, was für eine Verwirrung jetzt im Hause ist. Der Herr riegelt sich in die Wohnstube ein und die Frau in die Schlafstube. Beide wollen nichts essen.«

Dem Manne stieg die heiße Röte der Scham in die Wangen. »Die Dienstleute merken es schon,« dachte er »bald wird es alle Welt merken! O, unsere alte Jütta hat Recht, das schreit zu Gott, was für eine Verwirrung über mein Haus gekommen ist! Und nur Gott kann helfen, nur Gott allein, ich weiß keinen Ausweg.«

Er warf sich auf das Ruhebett und schloß die Augen und überdachte, wie Alles so gekommen. Es trieb ihn auf – er konnte nicht ruhen, während es so wild in ihm stürmte. »Nur Gott kann helfen?« fragte er sich und ging wieder unablässig auf und ab in der einsamen, lichterfüllten Stube. »Das ist ein thörichtes Wort gewesen. Gott hat nicht die Pflicht, immer ein Wunder für uns zu thun. Was kann Gott thun? Er kann ihn sterben lassen oder mich. Ist das eine Lösung?!«

Er preßte die glühende Stirne an die Fensterscheiben und starrte in die wüste, regnerische Nacht hinaus. »Ich habe den Schatz besessen,« sagte er leise, »ich habe ihn besessen und nicht geahnt, daß es ein Schatz ist, bis ein Anderer gekommen ist, der sich besser darauf verstand. Mir – mir ist vielleicht Recht geschehen ...«

»Recht?« schrie er dann wild auf. »Nein, nein! [83] Ist sie nicht mein Weib? Hat sie mir nicht Treue gelobt? Mein – mein ist sie, mein Eigentum. Und wer sie mir stiehlt, ist ein feiger Dieb! ...

»Ein feiger Dieb – er! Er ist sonst ein so braver Mann, wacker und tüchtig. Ihm kann ich kaum etwas Schlechtes zumuten. Also ihr, nur ihr. Sie ist die Frevlerin. Aber war sie denn wirklich mein, mein Eigentum?! Ist denn ein Weib eine Sache, die man besitzt wie einen Schmuck oder ein Haus? Hat sie nicht einen freien Willen? Und haben wir sie denn damals nach ihrem Willen gefragt?

»Damals ist ein Verbrechen begangen worden,« schrie er plötzlich wieder auf. »Was jetzt geschieht, ist nur die gerechte Vergeltung für jenes Verbrechen. Ich habe damals keine Schuld gehabt. Sie auch nicht. Und dann haben wir rein und fleckenlos weiter gelebt durch lange Jahre. Nun ist dennoch die Schande über uns gekommen, die Vergeltung für den Frevel. Wer nimmt die Sühne auf sich?«

Er trat an den Tisch. »Kann ich mich von ihr scheiden lassen? Mein Herz wird mir sehr wehe thun – aber ich frage nicht nach meinem Herzen. Ich frage nicht nach mir; aber darf ich das Gott anthun und dem Gesetze? Darf ich ein jüdisch Kind, darf ich mein Weib entlassen aus meinem Hause, daß sie hingehe und die Buhlerin des Christen werde oder selbst eine Christin? Darf ich es zulassen, daß so Schande komme auf unseren Namen, auf den Namen unseres Gottes? ...« Er richtete sich hoch auf und streckte die Hände wie schwörend gegen den Himmel: »Und wenn mir und ihr das Herz [84] bricht – auf Deinen Namen soll keine Schande kommen, auf Deinen Namen nicht, mein Herr und Gott.«

Da ließ er plötzlich die Hand jäh niedersinken und hielt inne. »Ist nicht schon Schande auf Deinen Namen gekommen?« zischte er leise. »Hat sie nicht die Hände über diese Lichter meines Hauses gestreckt und zu Dir gefleht, mit dem Bilde des Christen im Herzen? Ist das nicht auch ein entsetzlicher Frevel? Und kann es Dein Wille sein, daß solcher Frevel noch länger währe, unser ganzes Leben lang? Kannst Du das wollen, mein Herr und Gott?!«

Dann faßte er sein Haupt in die Hände und ächzte tief auf. »Ich finde keinen Ausweg,« stöhnte er. »Hilf Du mir, mein Gott! Du hast uns Deinen Willen kund gethan durch Deine Priester und Weisen. Ich will das Gesetz befragen.«

Er schritt auf den Bücherschrank zu, öffnete ihn und zog einen der mächtigen Folianten heraus. Hinter diesem her kollerte ein kleines, dünnes Büchlein zur Erde. Er achtete nicht darauf, er trug den Folianten zum Tische, schlug ihn auf und begann darin zu lesen.

Er las sehr lange an den verschiedenen Stellen. Dann schüttelte er das Haupt und schlug das Buch heftig zu und stand auf. Er legte die geballte Faust auf den Deckel. »Das Gesetz reicht nicht aus«, sagte er finster, »das Gesetz weiß nichts von meinem Falle. ›Sie soll gesteinigt werden,‹ sagt das ältere Gesetz, und das Gesetz der Talmodim sagt: ›Tötet sie, wenn Ihr es könnt, nach den Gesetzen des Landes, in dem Ihr lebt. Könnt Ihr es nicht, so soll sie verstoßen [85] sein aus dem Hause ihres Gatten und heimkehren in das Haus ihres Vaters, und dieser soll sie strafen und züchtigen, wie ihm beliebt. Sie soll ehrlos sein und rechtlos, ausgeschlossen von allem Erbe und allen Wohlthaten der Verwandtschaft. Ihr Name soll nicht genannt werden.‹ Das Gesetz paßt nicht!« wiederholte er. »Sie hat nicht gemein gefrevelt, sie hat mir mein Recht gewahrt, so weit es in ihrer Kraft stand. Ihr Körper war mein – sie hat ihn mir rein erhalten. Ihr Herz – ich habe ihr Herz nie begehrt. Das Gesetz paßt nicht. Wer aber weiset mir ein höheres Gesetz?!«

Er seufzte tief auf und schob den Folianten wieder an seine Stelle. Als er die Thüre seines Bücherkastens schließen wollte, konnte er es nicht – ein Büchlein hatte sich dazwischen geklemmt. Er bückte sich und hob es auf. Es berührte ihn seltsam, als er jenes deutsche Büchlein wiedererkannte, in dem er als Jüngling so oft und so viel heimlich gelesen. Jenes Büchlein, das er nie ganz verstanden, und nach dem er doch immer wieder gerne gegriffen, weil sich ihm im Lesen so seltsam das Herz bewegte. Das Büchlein mit den Gedichten des Friedrich Schiller, das er nun seit langen, langen Jahren nicht mehr angesehen, und das ihm gerade jetzt wieder in die Hand fiel in dieser drangvollen, dunklen Stunde ...

Er setzte sich an den Tisch, schlug es auf und begann zu lesen. Seine Jugend ging ihm dabei wieder auf und er erinnerte sich, wie er diese Stelle bei den großen Eichen gelesen, und jene heimlich im Keller, während er die Arbeiter des Vaters beaufsichtigte.[86] Dann aber ward ihm der Inhalt des Büchleins selbst wieder lebendig und – seltsam! er hatte seitdem nichts Neues gelernt, höchstens die Weinarten, und dennoch verstand er jetzt weit mehr von diesen Gedichten, als damals. Und was er verstand, das ergriff ihn tief, weil es so ganz anders war, als das, was er sonst hörte und las und dachte, so ganz anders. Ob besser, ob schlimmer, er grübelte nicht darüber, aber da sich sein Herz wieder leise bewegte und der Krampf sich löste, in dem es gelegen, so mochte es gewiß nichts Schlimmes sein ...

Er erhob sich und ging auf und ab in der sabbathlichen Stunde und sprach flüsternd die Worte des Buches vor sich hin. Es war sehr still um ihn, nur die vielen Kerzen knisterten leise und zuweilen schlug ein vereinzelter Regentropfen an die Fenster ...


*


Die lange, lange Herbstnacht ging zu Ende. Der Regen hatte aufgehört, die letzten Wolken trieben noch, vom Winde zerrissen, am mattgrauen Himmel dahin. Das Morgenrot glomm in Osten auf und warf seinen verklärenden Schimmer über die traurige, herbstliche Ebene.

Auch in die Wohnstube des Nathan Silberstein drang das Morgenrot. Es fand ihn noch wachend. Aber er ging nicht mehr umher, er flüsterte nicht mehr, stumm und still stand er am Fenster, das Antlitz gegen Osten gewendet. Und das Morgenrot spielte um dies blasse, überwachte Antlitz, das nun wieder ruhig, mild und klar war. Es war die Milde und Klarheit eines festen, guten Entschlusses. Da er sein Haupt immer [87] gegen Osten gewandt hielt und die Augen wie verklärt blickten, so mußte er wohl beten. Aber nicht mit den Lippen. Er mochte lange so gestanden sein, stundenlang. Er hatte wohl viel auf dem Herzen, was er vor Gott aussprach in jener stillen Morgenstunde.

Da erwachten die übrigen Bewohner des Hauses. Unter den Dienern und Mägden erhob sich ein Flüstern – sie wußten, daß etwas vorgegangen war in dieser Nacht, wenn sie auch unklar waren, was es gewesen. Dann kam Chane aus der Schlafstube, bleich, mit überwachten, vom Weinen geröteten Augen. Sie ging gesenkten Hauptes an Nathan vorüber.

Er sprach sie an. »Chane,« sagte er mild und ruhig, »ich habe meinen Entschluß gefaßt. Ich hoffe, er wird zum Guten sein für Dich und – und für ihn! Und was mich anbelangt, unser Gott ist ein barmherziger Gott, er wird mich nicht verlassen.«

Das Letzte sagte er sehr leise, sie konnte es kaum verstehen. Eine Purpurröte schoß ihr ins Antlitz, aber sie erwiderte nichts. Dann ging sie hinaus und nach einer Weile brachte sie ihm das Frühmahl.

Und dann wandelten sie Beide miteinander in die Betschul', und wer sie so gehen sah, konnte nicht ahnen, was in ihnen vorging. Es haben vielleicht noch nie zwei Menschen so innig zu Gott gebetet, wie an jenem Sabbathvormittag Nathan und sein Weib. Ihre Seelen lagen im Staube und flehten um Stärkung und Erhebung.

»Gottlob – es ist nichts,« sagte die alte Jütta zu den anderen Mägden, als die Eheleute so friedlich aus der Schul' heimkamen und das Mittagessen gemeinschaftlich [88] einnahmen. Aber nach dem Essen sagte Nathan zu Chane: »Was vollbracht werden muß, wird am besten schnell vollbracht. Sei guten Mutes, ich werde zu ihm gehen und mit ihm sprechen. In einer Stunde hast Du klaren Bescheid:«

Dann ging er in das erste Stockwerk, in die Wohnung des Bezirksrichters. Herr von Negrusz saß gerade an seinem Schreibtisch und wurde sehr blaß, als er den Gatten des geliebten Weibes eintreten sah. Er fürchtete wohl eine peinliche Scene. Aber Nathan blieb ruhig und nach höflichem Gruße sagte er: »Herr Bezirksrichter, Sie wissen, warum ich zu Ihnen komme, denn Sie sind blaß geworden. Sie haben meinem Weibe diesen Brief hier geschrieben. Darauf möchte ich Ihnen die Antwort geben. Vorher aber nur noch eine Frage: Warum haben Sie es gethan? Steht das Gebot: ›Begehre nicht Deines Nächsten Hausfrau‹ nicht auch für Sie geschrieben?«

Der Bezirksrichter sah ihm ruhig ins Auge. »Ja!« erwiderte er, »es ist eine Sünde. Aber ich liebe Ihre Frau. Das ist Alles. Mehr weiß ich nicht zur Entschuldigung.«

Nathan nickte. »Es freut mich, daß Sie mir so offen antworten. Die Antwort ist auch ganz genügend und ich weiß nichts dagegen einzuwenden. Und nun will ich Ihnen auch den Bescheid auf Ihren Brief geben. Mein Weib liebt auch Sie. Darum kann sie nicht mehr mein Weib bleiben und ich werde die Scheidung veranlassen. Sie wird frei werden. Was aber dann, Herr Bezirksrichter?«

[89] »Dann heirate ich sie,« jubelte dieser auf.

Nathan sah ihm ruhig und scharf ins Auge.

»Gut!« sagte er. »Ich zweifle nicht, daß Sie das wollen. Denn Sie sind ein braver Mann. Aber Sie sind Beamter, Christ, von Adel. Sie ist ein Judenweib. Sie sind gebildet, Chane nicht. Auch haben Sie Rücksichten zu nehmen. Vielleicht lassen Sie sich durch die Rücksichten bestimmen und stürzen das Weib nur in Schmach und Unglück. Dem muß ich vorbeugen, denn Chane war mein Weib, und in dem Augenblicke, wo die Sache mit Ihnen offenkundig wird, wird sich ihr Vater und die ganze Gemeinde von ihr wenden und sie wird ganz verlassen sein. Und dann muß ich mich der Chane annehmen, weil ich – doch das geht Sie nichts an. Darum sage ich Ihnen Eines, kurz, klar: Heiraten Sie die Chane nicht, so töte ich Sie, so wahr mir Gott helfe! Sie sind der Herr Bezirksrichter, ich bin nur ein Jude. Sie haben hundertfache Mittel, mich ohnmächtig zu machen. Aber mein Wort werd' ich dennoch halten!«

Der Bezirksrichter war bleich geworden und erhob wie beteuernd die Hand. Aber Nathan fiel ihm scharf ins Wort: »Schwören Sie nicht! Halten Sie Ihr Wort, damit ich das meine nicht zu halten brauche. In den nächsten Tagen ist die Scheidung. Wünschen Sie, daß Chane länger in meinem Hause bleibt, so habe ich für einige Wochen nichts dagegen. Aber noch einmal! Ist die Chane nicht in zwei Monaten Ihr Weib, so sind Sie ein toter Mann. Leben Sie wohl!«

Dann ging er heim und sagte zu seinem Weibe:[90] »Wir werden morgen vor den Rabbi gehen und erklären, wir hätten eine unbesiegbare Abneigung gegen einander. Das ist der einzige Grund, auf den hin er uns gleich scheiden muß. Der Christ hat versprochen, daß er Dich heiratet. Hätte er es früher nicht ernst gemeint, jetzt wird er's thun ...«

»Nathan!« rief sie und glitt zu seinen Füßen nieder und bedeckte seine Hand mit Küssen und Thränen. »Nathan! Was bist Du für ein guter Mensch!«

»Nein!« sagte er. »Es ist keine besondere Güte dabei, es ist nur Pflicht. Ich sühne eine Schuld, die freilich nicht die meine ist. Sie haben uns zusammengegeben und nicht gefragt, ob wir einander mögen. Das war eine Sünde und sie hat sich gerächt. Denn ich liebe Dich, wenn ich es auch erst seit gestern erkannt habe, Du aber liebst mich nicht, sondern einen Andern. Soll ich Dich von diesem Deinem Glücke fernhalten? Es hat ja jeder Mensch ein Recht darauf, glücklich zu sein. Da sühne ich jetzt lieber den alten, den ersten Frevel. So steht die Sache – Du siehst, es ist gar keine Güte von mir. Nur Eins bedrückt meine Seele: Du fällst von unserem Glauben ab und ich helfe dazu. Aber ich habe Gott so sehr um Verzeihung dafür angefleht, daß ich hoffe, er wird mir vergeben. Er sieht mein Herz, er weiß ja: ich kann nicht anders ...«


*


Es bleibt wenig mehr zu berichten übrig.

Nach einigen Tagen hatte Nathan die Scheidung durchgesetzt und wenige Wochen darauf ward Chane[91] die Gattin des Bezirksrichters. Seit Jahr und Tag hatte kein Ereignis so ungeheures Aufsehen im Lande ge macht, wie dieses. Unzählige Verwünschungen, Neid und Mißgunst folgten dem Paare, und selbst die Wohlwollenden schüttelten das Haupt über den seltsamen Bund.

Ihr wißt, daß sich die Flüche als machtlos erwiesen haben, und die Befürchtungen als unbegründet. Ihr wißt, daß Chane, daß Frau Christine von Negrusz als glückliche Gattin und Mutter in demselben Hause wohnt, vor dessen Schwelle Esther Freudenthal sterben mußte, weil sie einen Christen geliebt. Diesmal hat sich die Liebe stärker erwiesen, als der Glaube. Sie hat sich nahezu wunderthätig erwiesen. Denn sie hat nicht nur alle Hindernisse weggeräumt, sondern trotz aller widrigen Verhältnisse, trotz der Verschiedenheit der Ehegatten den Bund der neuen Ehe schön, friedlich und stark gemacht. Es war eben die echte Liebe, und diese ist ja auch wunderthätig und allmächtig, wie Gott, der auserwählte Herzen durch sie begnadet.

Nur ein Schatten trübt Christinens Glück. Es ist dies nicht der Umstand, daß Frau Emilie sie kaum des Grußes würdigt und daß die drei Töchter des Steueramtsvorstehers, die im Laufe der Zeit ganz alt und ganz grün geworden sind, ihr bei zufälligen Begegnungen den Rücken kehren. Es ist auch nicht das freche, vertrauliche Lächeln, mit dem ihr Herr von Bolwinski bei jeder Begegnung zuflüstert: »Ich habs doch zuerst bemerkt, hohoho!« Es ist ein wirklicher Schatten in ihrem lichten Leben. Das ist der Groll ihres Vaters, der wohl erst enden wird, wenn der [92] alte, einsame, verbitterte Mann die Augen zum ewigen Schlummer schließt.

Nathan hat sich bemüht, ihr auch diesen Kummer vom Herzen zu nehmen, aber es ist ihm nicht gelungen. Er giebt freilich die Hoffnung nicht auf und besucht den alten Mann jedesmal, so oft er nach Barnow zurückkehrt. Es geschieht nur wenige Male im Jahre und immer auf kurze Zeit. Das Geschäft im Städtchen führt ein Vetter für ihn, er selbst ist fast immer auf Reisen, die ihn sehr weit führen, bis nach Italien und in das südliche Frankreich. Er ist kein kleiner Kaufmann mehr, sondern der erste Weingroßhändler des Landes.

Er ist unvermählt geblieben. Einmal hieß es, er habe sich mit einem schönen, reichen Mädchen aus Czernowitz verlobt. Aber es ist nichts daraus geworden. Warum? Das weiß nur eine Seele auf der Welt, Frau Christine.

Es war das einzige Mal, wo sie mit einander gesprochen, seit sie aus seinem Hause gegangen. Denn mit dem Bezirksrichter spricht Nathan häufig und unbefangen, und die beiden Bübchen sind in den Tagen, wo er zu Hause ist, fast mehr im Laden, als oben bei der Mutter, aber mit Christinen hat er jedes Wiedersehen vermieden. Nur einmal, zufällig, als eben jenes Gerücht unter den Leuten war, fügte sich eine Begegnung. Die beiden Knaben saßen bei Nathan auf der Holzbank im Hausflur und freuten sich der schönen Geschenke, die er ihnen mitgebracht hatte. So blieben sie lange aus und die Mutter kam selbst herab, sie zu[93] holen. Sie liefen ihr jubelnd entgegen, zeigten ihr die Sachen und führten sie zu dem Kaufmann.

So standen sich die beiden Menschen nach langer Zeit wieder gegenüber. »Ich danke Ihnen, Herr Silberstein,« begann sie zögernd, aber dann verbesserte sie sich sogleich und wiederholte: »Ich danke Dir, Nathan – wie gut Du zu den Kindern bist!«

»Es sind so liebe Knaben,« erwiderte er gepreßt. »Es freut mich sehr, sehr, daß es Dir so gut geht, Chane.«

»Ja,« erwiderte sie, »ich bin sehr glücklich. Und ... Du?«

»Ich danke,« sagte er, »die Geschäfte gehen gut.«

»Und dann,« meinte sie, »habe ich neulich noch etwas gehört, was mich sehr gefreut hat – von Czernowitz.«

»O, damit ist es nichts,« wehrte er ab.

»Warum?« fragte sie. »Es soll ein schönes, braves Mädchen sein.«

Er sah sie an, dann schlug er den Blick zu Boden und eine hohe Röte überflammte sein männliches Antlitz. »Ich habe es doch nicht übers Herz bringen können,« sagte er leise.

Auch seitdem sind wieder Jahre verflossen und Nathan ist nun der reichste Mann der Gegend. Alle Welt wundert sich, warum er so ruhelos arbeitet, er, der doch für Niemand zu sorgen hat. Aber Nathan pflegt auf solche Fragen zu erwidern, er wisse schon, für wen er arbeite ...

[94]

Zwei Retter

Wer jemals in Barnow gewesen ist, der hat gewiß auch die alte Frau Hanna, des Vorstehers Mutter, kennen gelernt und sich ehrlich gefreut an ihrer feinfühligen, grundgütigen Art, und wer nicht dort war, dem ist kaum eine Vorstellung davon zu geben, wie lieb und klug diese Greisin war. »Babele« (Großmütterchen) nannten sie alle Leute des Städtchens, nicht bloß ihre eigenen Enkelkinder, und mit gutem Grunde, denn sie stand Allen bei mit Rat und That, unermüdlich ihr ganzes, langes, gesegnetes Leben hindurch, und auch Jene, die weder ihr Geld, noch ihren Beirat brauchten, suchten sie gerne auf, um sich eine leere Stunde mit einer hübschen Geschichte ausfüllen zu lassen. Sie war als Erzählerin ebenso geschätzt und geliebt, wie als Helferin, und wer an einem Sabbath Nachmittage im Sommer, gegen die dritte Stunde, an der alten Synagoge, der »Judenburg« vorüberging, konnte mit eigenen Augen sehen, wie Viele ihr gerne lauschten, und zugleich mit eigenen Ohren vernehmen, wie sehr sie dies verdiente. Da saß die Greisin auf dem Treppchen im Schatten und um sie her wohl an die fünfzig [95] Männer und Frauen, dicht geschart und lautlos, um kein Wort aus diesem Munde zu verlieren. Was sie erzählte, ist bald gesagt: Geschichten aus dem Leben der Gemeinde, die sie gehört oder mit angesehen; wie sie erzählte, wäre kaum zu schildern. Wenn ich es dennoch unternehme, ihr eine dieser Geschichten nachzuerzählen, so habe ich nur eine Ermutigung für dies Wagnis: es ist jene Geschichte, die sie am häufigsten zu berichten pflegte und ich selbst habe sie oft genug mit angehört, um sie, so weit dies eben in hochdeutschen Worten möglich ist, treulich wiedergeben zu können, wie ich sie vernommen habe.

»Wer ist groß,« begann Frau Hanna, »und wer ist klein? Wer ist mächtig und wer ist schwach? Unsere armen kurzsichtigen Menschenaugen können das selten richtig entscheiden! Uns ist der Reiche und Starke mächtig und groß, der Arme und Hinfällige schwach und klein. Aber in Wahrheit ist es anders, nicht der Reichtum entscheidet, nicht die Kraft in den Armen, sondern der starke Wille und das gute Herz. Und zuweilen, Ihr Leute, zuweilen läßt uns Gott dies deutlich erkennen und wir Barnower wissen etwas davon zu erzählen! Zwei Male ist unsere Gemeinde in Not und Jammer gewesen, in Bedrängnis und Todesgefahr, und zwei Male sind Retter unter uns erstanden und haben die Not abgewehrt und den Jammerschrei in Dankgebet gewandelt. Und wer waren diese Retter? Etwa die Stärksten und Reichsten unter uns?! Höret, was ich erzähle, genau so, wie es geschehen ist.

Wenn Ihr über den Marktplatz geht, so seht Ihr, [96] gerade vor dem Kloster der Dominikaner, einen dicken, großen Holzblock aus dem Boden emporragen. Er ist morsch und verwittert, und längst hätte man ihn weggeschafft, wenn er nicht eine Erinnerung wäre an eine furchtbar drangvolle Zeit. Ihr wißt nichts von dieser alten Zeit – freut Euch dieses Glückes! Ich will es Euch nicht nehmen; was ich erzählen will, ist eine schöne That aus jener häßlichen Zeit. An dieser That möget Ihr Euch freuen, denn sie war eine Heldenthat, so hell, so stolz, so groß, wie nur jemals eine auf Erden vollbracht worden ist. Ein einfach jüdisch Weib hat sie vollbracht; der Drang der Zeit hat ihr weiches Herz gestählt und sie zu einer Heldin gemacht. Lea hieß sie und war die Gattin des reichen, frommen Samuel – das Geschlecht ist später, als die kaiserliche Herrschaft ins Land kam und deutsche Namen für unsere Familien festgesetzt wurden, Beermann genannt worden. Denn zur Zeit, wo diese Geschichte sich begeben hat, da hatten wir noch keine solchen Namen. Das war vor mehr als hundert Jahren und wir lebten unter dem polnischen Adler.

O das war ein grimmiger Raubvogel, dieser einköpfige weiße Adler! Als noch sein Gefieder unversehrt war und sein Auge klar und seine Fänge fest und scharf, da war er ein edles, stolzes Tier, das scharf um sich hieb und großmütig Alles schützte, was unter seine Flügel flüchtete. Auch wir wohnten da durch lange drei Jahrhunderte in Licht und Freiheit. Aber als der Adler alt und schwach wurde und die anderen Raubvögel ringsum ihm eine Feder nach der andern[97] ausrupften, da wurde er feig, heimtückisch und schlecht, und weil er sich nicht traute, den Schnabel gegen die Dränger zu gebrauchen, so hieb er auf die wehrlosen Juden los. Der Könige Macht ward zum Kinderspott und mit ihr die Freiheitsbriefe, die sie uns gegeben hatten. Die Adeligen wurden unsere Herren und quälten und schalteten und walteten über unserem Gut und Leben, wie es ihnen beliebte. O, es war eine unsagbare Bedrückung!

Unser Städtchen gehörte schon damals dem adeligen Geschlechte der Bortynski, denen später der gute Kaiser Joseph den Grafentitel geschenkt hat. In jenem Jahre hatte gerade der junge Joseph Bortynski das Besitztum angetreten, ein stiller, frommer, demütiger Mensch; er war in einem Kloster erzogen worden. Seine Art war nicht, wie die der anderen jungen Herren, er haßte den Wein, die Karten und die Weiber, stand selbst der Wirtschaft vor und betete täglich vier Stunden. Gegen seine Unterthanen war er gerecht und liebreich. Wir freilich bekamen wenig davon zu spüren, gegen uns war er hart und grausam. Und selbst wenn sich sein Herz regen wollte, so wußte dies sein Erzieher zu verhindern, der jetzt sein Schloßkaplan war und großen Einfluß auf ihn hatte. Sein Name ist nicht auf uns gekommen, man pflegte ihn immer nur den ›schwarzen Herrn‹ zu nennen.«

Wir Juden hielten uns damals sehr ängstlich geduckt, und selbst die Bösen unter uns hüteten sich vor jedem Unrecht. »Ihr habt mir meinen Gott gekreuzigt,« hatte ja der Graf zu Samuel gesagt und zürnend hinzugefügt: [98] »Wehe Euch, wenn ich einen Frevel unter Euch entdecke, ich lasse Euer Nest ausbrennen, wie es einst Euer Gott mit Sodom und Gomorrha gethan hat,« – da könnt Ihr denken, wie uns zu Mute war.

So kam der Frühling des Jahres 1773 heran. Das Osterfest stand vor der Thür, und es ging das Gerücht, die Kaiserin in Wien wolle den Polen alles Gebiet wegnehmen und ihre Schreiber darüber setzen. Aber vorläufig war nichts davon zu sehen.

In demselben alten Hause, das noch heute am Marktplatz steht, im »Gelben Hause,« wohnte damals der Vorsteher Samuel und sein Weib Lea. Sie waren Beide sehr geachtet in der Gemeinde, der Mann wegen seines Reichtums, seiner Klugheit und Frömmigkeit, und sein junges schönes Weib wegen ihrer Milde und Wohlthätigkeit. Sie waren gerade zur Osterzeit in schwerer Betrübnis: ihr einziges Kind, ein Knäblein von anderthalb Jahren, war wenige Tage vorher plötzlich gestorben, und die Eltern konnten den Schmerz kaum überwinden. So saßen sie auch eines Sonntags, des Abends spät, in stummer Trauer neben einander. Am nächsten Abend sollte das Osterfest beginnen, es war den ganzen Tag über im Hause gereinigt und gescheuert worden, und die Frau fühlte sich sehr müde. Da schreckte sie plötzlich ein Pochen am Hausthor empor. Samuel ging zum Fenster, öffnete und blickte hinaus. Vor dem Thore stand mit einem Bündel auf dem Rücken ein altes Bauernweib, das kläglich wimmerte und stöhnte und um Einlaß bat. Sie sei zu schwach, um heute noch in ihr Dorf heimzukehren, [99] klagte sie, und bitte daher um ein Nachtlager. »Hier ist kein Wirtshaus,« erwiderte ihr Samuel kurz und schlug das Fenster zu. – »Das arme Weib,« meinte Lea, »sollen wir sie von unserer Schwelle weisen?« – »Es ist eine böse Zeit,« erwiderte Samuel, »ich mag keine Fremde in meinem Hause dulden!« – »Aber sie ist ja krank und schwach,« bat Lea, und da das Weib draußen noch immer flehte und stöhnte, willfahrte er ihr und ließ es ein. Da die Dienerinnen bereits schliefen, geleitete Lea selbst den späten Gast in eine Bodenkammer, brachte auch Speise und Trank herbei und entfernte sich mit freundlichem Gruße.

Am nächsten Morgen verabschiedete sich das fremde Weib schon sehr früh unter tausend Dank- und Segensworten. Lea hatte den Tag über sehr viel für den Feiertag zu rüsten, und erst am späten Nachmittag kam sie dazu, in jener Bodenkammer nachzusehen, denn vor Beginn des Festes wollte die Hausfrau in allen Räumen Umschau halten, ob sich nicht irgendwo noch gesäuertes Brot vorfinde. In der Kammer war Alles in Ordnung, nur die Luft war von einem sehr widrigen Geruch erfüllt. Er verlor sich nicht, auch als Lea das Fenster öffnete. Sie konnte nicht entdecken, woher der abscheuliche Geruch kam, sie forschte in allen Ecken und sah endlich unter der Bettstatt nach. Da gerann ihr das Blut, ihr Haar sträubte sich vor Entsetzen. Unter der Bettstatt lag der nackte, abgezehrte Leichnam eines Kindes, mit breiten Wunden an Hals und Brust. Mit Blitzesschnelle durchschaute das Weib den Frevel und kämpfte mit allen Seelenkräften gegen [100] die Ohnmacht. Die Fremde hatte den Leichnam ins Haus geschleppt, damit man das alte furchtbare Märchen, die Juden schlachteten Christenkinder zu dem Osterfeste, wieder einmal glaubhaft machen und grausam rächen könne. Mit Blitzesschnelle erkannte sie auch die furchtbaren Folgen, sie gedachte der Worte, die der Graf zu ihrem Manne gesprochen. Das arme Weib brach fast zusammen unter der Wucht dieser entsetzlichen Gedanken. Ach, sie, sie allein hatte den Jammer, die Verfolgung und den Tod über ihr Haus, über die ganze Gemeinde heraufbeschworen, denn sie war ja die Ursache, daß jenes Weib eingelassen worden. Und während sie so in Todesängsten dasaß, klang von der Straße wildes Rufen und Schreien und Jammern zu ihr empor. Dazwischen klang das Klirren von Waffen. »Sie kommen schon,« flüsterte sie und in diesem Augenblicke durchzuckte sie ein Gedanke, so seltsam und gräßlich, wie er vielleicht noch nie vorher in eines Weibes Hirne entstanden war, und doch wieder edel und opfermutig, wie ihn nur ein Weib zu fassen vermag. »Ich habe die Schuld,« rief es in ihr, »ich muß sie büßen.« Sie richtete sich hoch auf und preßte die Lippen aufeinander und überwand ihr Grauen. Dann griff sie nach dem Leichnam des Kindes, hüllte ihn in ein Linnen und nahm ihn auf den Schoß.

Sie horchte ... furchtbar langsam verrannen die Minuten. Dann hörte sie, wie draußen der junge Graf mit ihrem Gatten und dem zweiten Vorsteher heftig sprach, wie er sagte: »Das Weib hat das Todesröcheln ganz deutlich gehört. Keinen Stein lasse ich [101] auf dem andern, wenn ich den Leichnam finde.« Sie hörte, wie die Männer alle Gemächer durchsuchten. Als sie sich der Kammer näherten, erhob sie sich und trat ans offene Fenster. Das Dach fiel steil ab, unten in der Tiefe dehnte sich der Steinhof des Hauses.

Die Thüre ward aufgerissen, der Graf trat mit den beiden Vorstehern ein, hinter ihm seine Trabanten. Mit gellendem Lachen stürzte ihnen Lea entgegen, wies ihnen den Leichnam und schleuderte ihn dann durch das Fenster, daß er auf den Steinen des Hofes zerschellte ... »Ich bin eine Mörderin,« rief sie dem Grafen entgegen, »ja, ja! Nehmt mich, bindet mich, tötet mich! Ich hab' heute Nacht mein eigen Kind getötet, ich leugne es nicht!«

Die Männer standen starr. Dann wildes Rufen, Schreien und Fragen. Samuel, der starke, kluge Mann verlor die Besinnung. Die anderen Juden durchschauten schnell den Sachverhalt und unterstützten Lea in ihrer Notlüge; so allein ersahen sie sich Rettung aus sicherem Untergang. Lea blieb fest bei ihrer Aussage. Der Graf sah sie durchdringend an, sie hielt seinen Blick ruhig aus. »Höre, Weib,« sagte er, »ist es wahr, was Du sagst, so sollst Du den furchtbarsten Martertod erleiden, den je ein Mensch gestorben ist. Haben aber Andere das Kind geschlachtet, um sein Blut beim Feste zu trinken, so sollst Du und Dein Mann straflos ausgehen, nur die Andern sollen's büßen. Das schwöre ich Dir! Und nun – entscheide Dich!« Lea schwankte keinen Augenblick. »Es war mein Kind!« erwiderte sie. Der Graf ließ das [102] Weib allein in den Kerker führen. Er sah wohl ein, wie unwahrscheinlich ihre Angabe war. Aber er glaubte an keine Seelengröße bei unserem Volke. »Wenn es nicht wahr wäre,« dachte er, »wie käme das Weib dazu, sich zu opfern?«

Die Untersuchung brachte nicht die Wahrheit an den Tag. Alle jüdischen Zeugen belasteten die Lea. Der Eine erzählte, wie sie ihr Kind gehaßt, der Andere, wie sie gedroht habe, es zu töten. Die Todesangst legte ihnen diese Lügen auf die Zunge. Die einzige christliche Zeugin aber war – die Haushälterin des »schwarzen Herrn«. Als Bäuerin vermummt, war sie an jenem Abend vor das Haus gekommen, um die Gemeinde zu verderben. Sie habe in der Nacht das Kind röcheln hören, erzählte sie. Das allein konnte sie vorbringen, ohne sich zu verraten, und das paßte zu Leas Erzählung. Der »schwarze Herr« selbst schien sich um die Untersuchung gar nicht zu kümmern. Er fürchtete wohl die zufällige Entdeckung seines Frevels.

Des Grafen Richter sprachen das Urteil. Lea sollte auf dem Marktplatze gerädert, dann enthauptet werden. Jener Holzblock wurde dazu aufgerichtet.

Aber Lea starb nicht auf der Richtstätte, sie starb, eine hochbetagte Greisin, umgeben von Kindern und Enkeln, vierzig Jahre später friedlich in ihrem Hause. Die kaiserliche Militärregierung war im Sommer jenes Jahres ins Land gekommen, ein Auditor übernahm alle peinlichen Fälle, ihm entdeckte der verzweifelte Samuel die Wahrheit, er ließ Lea frei.

Der Holzblock steht noch heute. Er mahnt an [103] dunkle Zeiten, aber auch an eine lichte, heldenmütige That. Und ein Weib war's, das sie vollbracht hat, ein schwaches Weib hat die Gemeinde gerettet ...

Und siebzig Jahre später, Ihr Leute, siebzig Jahre später waren wir in gleicher Bedrängnis und Todesangst, und wer hat uns da gerettet?! Nicht ein Weib, aber doch nur ein kleines zitteriges Männlein, dessen Namen ich bloß zu nennen brauche, um Euch zum Lachen zu bringen. Es war Klein Mendele ... ei seht, wie Ihr schmunzelt! Nun – 's ist aber auch ein närrisch Männlein! Denn erstens steckt er voll von lustigen Schnurren und weiß sie auch prächtig zu erzählen, und dann ist er selber so komisch, der grauhaarige Mann mit der Gestalt und dem Wesen eines Kindes. Er geht nicht durch die Straßen, er hüpft; er spricht nicht seine Reden, er singt sie, und seine Hände scheint er nur dazu zu haben, um auf den Tisch zu trommeln oder den Takt zu schlagen. Aber was thut das?! – lieber ein lustiger Mensch als ein Kopfhänger. Mendele Abendstern ist ein braver und ein großer Sänger, und wir können stolz darauf sein, daß er unser Vorbeter ist. Freilich trällert er manchmal ein rührendes Gebet herunter, als wär's ein Walzer, und springt vor der Thora von einem Bein auf's andere, als wär' er ein Tänzer auf dem Theater. Aber unsere Andacht stört das nicht, wir sind an Kein-Mendele gewöhnt seit vierzig Jahren, und wenn Einer sich mit Recht über ihn ärgert, so darf er es ihm nicht nachtragen. Denn der muß daran denken, wie Klein-Mendele auch ernst sein kann und wie er [104] einmal als armer »Chasen« der Stadt durch seinen Gesang einen größeren Dienst erwiesen hat, als alle ihre Weisen und Reichen durch ihren Rat und durch ihr Geld. Ich will Euch erzählen, wie das kam.

Ihr wißt, daß jetzt der Jude ein Mensch ist, so gut wie jeder Andere. Und wenn jetzt ein Edelmann oder ein Bauer einen Juden schlägt oder bedrückt, so braucht er nur in das Haus zu gehen, wo der große Adler über dem Thore hängt, und der kaiserliche Bezirksrichter, unser Herr Negrusz, verschafft ihm schon sein Recht. Aber vor dem großen Jahr, wo der Kaiser alle Menschen gleich gemacht hat, da war das nicht, da hat der Gutsherr das Recht geübt durch seinen Mandatar, aber dieses Recht war meistens ein großes Unrecht. Ach, Kinder, das war eine sehr schwere Zeit! Dem Gutsherrn hat der Grund und Boden gehört, dem Gutsherrn die Menschen, dem Gutsherrn das Mark in den Knochen, sogar die Luft und das Wasser haben dem Gutsherrn gehört. Unser Herr, der Graf Bortynski hat immer in Paris gelebt und sich gar nicht um sein Besitztum gekümmert. Alle Vollmachten hat sein Mandatar gehabt, und so haben wir immer beten müssen, daß dieser ein guter Mensch sei, denn nur so haben wir ruhig leben können. Zuerst ist unsere Bitte von Gott erhört worden und der dicke Herr Stephan Grudza war ein Mandatar, wie wir Juden ihn nicht besser wünschen konnten. Betrunken war er freilich vom Morgen bis zum Abend, aber wenn er betrunken war, so war er lustig, und wenn er lustig war, so hat er nicht gerne andere Menschen traurig [105] gemacht. Aber einmal war er bei der Mittagstafel besonders lustig und nach der Tafel hat ihn der Schlag getroffen. Als er begraben wurde war große Betrübnis in unserer Gemeinde. Denn erstens war dieser Herr Grudza wirklich ein guter Mensch und dann – konnte man wissen, wie sein Nachfolger sein würde?!

Diese Betrübnis war auch sehr begründet. Der neue Mandatar hieß Friedrich Wollmann und war ein Deutscher. Sonst sind die Deutschen milder gegen uns, als die Polen, aber er war eine Ausnahme. Er war ein großer, magerer Mann mit schwarzen Haaren und dunklen blitzenden Augen. Sein Gesicht war finster und traurig – immer, immer – er hat nie gelächelt. Auf die Wirtschaft und auf die Menschen hat er sich ausgezeichnet verstanden, die Mörder und Gauner hat er zum Geständnis zu bringen gewußt, wie kein Anderer, und bezüglich der Steuern hat ihn gewiß Niemand um einen Heller betrogen. Aber uns Juden hat er furchtbar gehaßt und uns jeden Tag brennendes Leid angethan. Unsere Abgaben hat er verdreifacht, unsere Söhne hat er ins Militär gesteckt, unsere Feste hat er gestört, und hatten wir Rechtshändel mit den Christen, so war unser Wort nichts und des Christen Wort Alles. Auch die Bauern hat er gewiß streng gehalten, erbarmungslos streng, und die Robot hat seit Menschengedenken kein Mandatar in Barnow so durchgeführt, wie er, jedoch darin war noch immer eine gewisse Gerechtigkeit. Aber sobald es sich um Juden handelte, hörte aller Verstand auf und alles Recht.

Und warum verfolgte er uns so? Man wußte [106] es nicht, aber man ahnte es. Man erzählte sich, er habe früher Froim Wollmann geheißen und sei ein getaufter Jude aus Posen. Er habe aus Liebe zu einem Christenmädchen seinen Glauben gewechselt, aber die Juden seiner Heimat hätten ihn aus Zorn und Empörung darüber so verfolgt und verleumdet, daß ihm die Eltern das Mädchen doch nicht gegeben. Wer die Kunde unter uns gebracht hat, weiß ich nicht, aber wenn man sein Gesicht sah, so klang es nicht unwahrscheinlich und besonders, wenn man sein Benehmen gegen uns sah. So haben wir damals traurige Tage gehabt, und Wollmann hat uns gedrückt, gleichviel, ob wir etwas verschuldet hatten oder nicht. War aber wirklich ein Grund da, so gab es kein Entrinnen aus seiner Hand. Und so war es im Herbste vor dem großen Jahr.

Bei uns Soldat zu sein, ist nichts Angenehmes, aber in Rußland gar ist es ärger als der Tod, und wenn ein jüdisch Kind dort zum Militär abgestellt wird, so ist es verloren für Gott, für seine Eltern und für sich selbst. Kann man sich da wundern, wenn die Juden in Rußland Alles thun, um ihre Kinder loszukaufen, oder wenn ein Jüngling, den das Unglück trifft, zu entfliehen sucht?! Viele solche Fälle kommen vor; manche Flüchtlinge werden eingefangen, und denen wäre besser, sie wären nie geboren; manchen aber glückt es auch, sie entkommen über die Grenze, nach der Moldau oder zu uns. So ein Fall ereignete sich auch in jener Zeit; ein jüdischer Soldat – er war aus Berdiczow – kam bei Hussiatyn über die Grenze herein und wurde von da nach Barnow gebracht. Die[107] Gemeinde that für ihn, was sie konnte, und ein reicher, mildthätiger Mann, Chaim Grünstein, der Schwiegervater von Moses Freudenthal, nahm ihn als Pferdeknecht in seinen Dienst.

Die russische Regierung forschte natürlich nach dem Flüchtling, und alle unsere Ämter erhielten den Befehl, nach ihm zu suchen. Auch unser Mandatar bekam eine solche Schrift. Sogleich ließ er die Vorsteher der Gemeinde zu sich entbieten und fragte sie aus. Sie erschraken sehr, dann aber faßten sie sich und leugneten, von dem Fremdling zu wissen. Es war gerade am Vortage des »Versöhnungstages«; wie hätten sie am Abend vor Gott treten können, wenn sie den Ärmsten verraten hätten?! Darum blieben sie fest, ob auch der Mandatar drohte und wütete. Als er sah, daß sie entweder nichts zu sagen wußten oder nichts sagen wollten, entließ er sie und sagte nur finster: »Weh' Euch, wenn der Bursche doch in Barnow ist! Ihr kennt mich noch nicht, aber dann – bei Gott, dann sollt Ihr mich kennen lernen!«

Die Männer gingen, und es ist kaum zu sagen, welche Trauer, Furcht und Betrübnis diese Kunde in der Stadt hervorrief. Der Bursche, um den es sich handelte, war ein braver, fleißiger Mensch; man durfte ihn nicht in seiner Not verlassen. Wenn er in Barnow blieb, so war das sehr gefährlich, denn Wollmann fand ihn doch, früher oder später; diesem Menschen konnte nichts verborgen bleiben. Wenn man ihn aber fortschickte, so ohne Paß, ohne alle Ausweise, so fingen sie ihn gewiß einige Meilen weiter. Man beriet[108] lange hin und her, endlich kam Chaim Grünstein auf einen Einfall. Er hatte einen Verwandten, welcher Gutspächter in der Marmaros war, in Ungarn. Dorthin sollte der Bursche gleich in der Nacht nach dem Versöhnungstage abreisen und nur die Nächte zur Fahrt benützen. So konnte er seinen Drängern am sichersten entgehen. Alle stimmten bei und erleichterten Herzens nahmen sie die große Mahlzeit ein, welche für das Durchfasten des Versöhnungstages stärken soll. Dann brach die Dämmerung herein, in der Betschul' wurden die vielen, vielen Wachslichter angezündet und die ganze Gemeinde eilte dorthin, bangen und zerknirschten Herzens, voll Demut und Reue. Denn das sind ja die schweren Stunden, wo wir zu unser Aller Richter flehen, daß er uns gnädig sei und unsere Schuld vergebe. In weißem Gewande gingen die Frauen, in weißem Sterbekleide die Männer. Auch Chaim Grünstein und sein Haus gingen dahin, sich vor Gott zu beugen, darunter auch der arme Bursche, der vor Angst an allen Gliedern zitterte.

Als Alle versammelt waren und der Gottesdienst beginnen sollte und Klein-Mendele die Hand flach an die Kehle setzte, um die ersten Töne der »Kol-Nidra« recht beweglich und zitternd hervorzubringen, entstand eine Bewegung an der Thüre, gräfliche Trabanten besetzten den Ausgang, und an den Sitzreihen vorüber schritt langsam Herr Wollmann vor, bis er an der Thora-Lade stand, hart neben Klein-Mendele. Dieser wich zitternd zur Seite, die Gemeindevorsteher aber traten demütig heran. »Ich weiß, daß der Bursche unter Euch ist,« sagte Wollmann. »Wollt Ihr ihn jetzt herausgeben?«

[109] Die Männer schwiegen. »Nun,« fuhr der Mandatar fort, »so werd' ich ihn denn fassen lassen, wenn Ihr das Bethaus verlasset. Und nicht nur er, Ihr Alle werdet des Abends gedenken, das versichere ich Euch.Doch nun laßt Euch nicht stören, betet nur immer zu. Ich habe Zeit, ich will zuhören.« Totenstille folgte; nur von oben, aus der Frauenschul', hörte man den schrillen Angstruf eines Weibes. Alle waren wie gelähmt vor Entsetzen. Dann aber faßten sie sich und erhoben die Blicke zu Gott. Stumm kehrten sie auf ihre Sitze zurück.

Klein-Mendele zitterte an allen Gliedern. Dann aber richtete er sich auf und begann die Töne der »Kol-Nidra«, jener uralten, einfachen Weise, die Niemand vergessen kann, der sie einmal gehört hat. Zitternd und unsicher klang anfangs seine Stimme, dann aber ward sie immer mächtiger, und klar und voll und herzbewegend klang sie durch den Raum und über die Beter hin und empor zu Gott. So hat Klein-Mendele nie wieder gesungen, wie an jenem Abend. Eine wundersame Weihe war über den Menschen gekommen. Wie er so sang, war er kein trällernd Männlein mehr, sondern ein gewaltiger Priester, der für sein Volk zu Gott die Stimme erhebt. Er dachte an die einstige Herrlichkeit und dann an die vielen Jahrhunderte der Schmach und der Verfolgung, und in seiner Stimme klang es, wie wir ruhelos gehetzt worden sind über die Erde, die Ärmsten unter den Armen, die Unglücklichsten unter den Unglücklichen. Und wie die Verfolgung noch nicht geendet hat, und wie immer neue Dränger gegen uns den Arm erheben, und wie immer neue [110] Schwerter in unserem Fleische wühlen. All' unser Leid klang in seiner Stimme, unser unsägliches Leid, unsere unzähligen Thränen. Aber noch etwas Anderes klang darin, unser Stolz, unsere Zuversicht, unser Gottvertrauen. O, es ist nicht zu sagen, wie Klein-Mendele sang in jener schweren Stunde, – weinen, weinen, weinen mußte Jeder, und doch mußte er wieder stolz sein Haupt erheben ...

Die Weiber weinten laut, als er geendet; die Männer schluchzten; Klein-Mendele aber barg sein Antlitz in den Händen und brach zusammen.

Wollmann hatte sein Gesicht während des Gesanges der Thora-Lade zugekehrt, dann aber wendete er sich um. Er war entsetzlich blaß, seine Kniee zitterten, der starke Mann konnte sich kaum aufrecht erhalten. In seinen Augen flimmerte es wie von Thränen. Wankenden Schrittes, gebeugten Hauptes schritt er an Mendele vorüber und durch die Reihen gegen den Ausgang. Dort gab er den Trabanten einen Wink, ihm zu folgen ... Was über ihn gekommen war, ahnte man wohl, man sprach es aber nicht aus.

Am Tage nach dem Feste ließ er Chaim Grünstein zu sich rufen und gab ihm einen unausgefüllten Paß und sagte nichts dazu, als: ›Ihr könnt's vielleicht brauchen.‹ Von da ab war er milde gegen uns. Es dauerte aber nicht lange. Im Frühling des ›großen Jahres‹ haben ihn die Bauern, die er einst sehr gequält, erschlagen ...

Seht, Ihr Leute, das ist die Geschichte von unseren Rettern. Und nun überdenket noch einmal, wer groß ist und wer klein, wer schwach und wer mächtig!

[111]

Der wilde Starost und die schöne Jütta

Es ist ein trauriges Land, das Land Podolien; auch der Frühling kommt spät in die große Ebene. Aber weil er ein rechter, fröhlicher Tröster ist, so verklärt und überglänzt er dann auch vor Allem, was seines Trostes am meisten bedürftig ist: die arme, braune Haide, die nun des weißen, glitzernden Wintermantels beraubt ist und wieder vor Gott in ihrer entsetzlichen Öde ausgebreitet liegt ... Er aber löst ihr die Lappen des alten Gewandes von den Schultern und umhüllt sie mit jungem Grün und Haideblumen und erheitert ihre Armut durch bunte Falter und Lerchensang. Fast rührend liegt der Frühling auf der Haide; es ist, als schmiege sich ein Lächeln der Freude um ein verhärmtes Antlitz.

Und dann macht er sich auf und hält seinen Einzug ins Städtchen. Am Eingange des Ortes, rechts und links der Straße, neigt er seinen Zauberstab gegen die beiden großen, streng geschiedenen Stätten der Toten, daß hinter ihm her der Flieder knospt und sich in dichten Blütenzweigen wiegt, so über den kleinen Holzkreuzen, wie über den Grabsteinen mit den hebräischen Zeichen. Dann geht er durch die Straßen und [112] neigt seinen Stab gegen die Fenster und Thüren und sie öffnen sich weit. Und dann gegen die Herzen der Menschen und sie öffnen sich auch und werden fröhlich. Der Frühling ist allgütig, er vergißt auch derer nicht, die selbst Gott vergessen zu haben scheint; selbst in die düsteren, dumpfigen Gäßchen der Judenstadt dringt sein Hauch. Und die Armseligen, welche dort wohnen, empfinden und grüßen ihn, so gut sie eben können – in ihrer Art. Freilich, Natursinn haben sie nicht; der ist herausgequält worden aus dem Gemüte dieses Volkes. Wer ruhelos über die Erde gehetzt wird, der kann nicht sehen, wie schön die Erde ist!

Doch – derlei übt ja der allgütige Frühling auch anderwärts. Was aber Barnow betrifft, so thut er hier noch ein besonderes Wunder: er trocknet das gewaltige Kotmeer, in dem sonst, ihres Spiegels nicht unwert, die schmutzigen Häuser und Menschen von Barnow ihr Bild erschauen können; er macht die Straßen wieder gangbar und sogar den Ringplatz, der durch sechs Monate jedes Jahres das schlichte Städtchen in ein interessantes Klein-Venedig verwandelt. Nur ein Pfützlein in der Mitte bleibt ewig bestehen, und das ist gut und weise, wie Alles in der Natur, denn was thäten sonst die Schweine von Barnow?!

Aber dies besondere Wunder übt auch besondere Wirkung: es rührt sogar das harte Herz der hohen Obrigkeit und sie erwidert regelmäßig das eine Wunder durch ein anderes. Alljährlich einmal werden nämlich – meist in den ersten Junitagen, eben nachdem der Frühling mit der Pfütze leidlich fertig geworden[113] – die Straßen von Barnow gekehrt. Aber nicht aus schnöder weltlicher Neigung zur Reinlichkeit geschieht dies, sondern um des katholischen Glaubens willen, und darum werden auch nicht alle Straßen gekehrt, sondern nur jene, durch welche die Frohnleichnams-Prozession zieht. Ihr Weg aber geht regelmäßig von der Pfarrkirche quer über den Ringplatz, dann durch einige Gäßchen und über die Sered-Brücke zum Altar im Schlosse des alten Starosten, von da zum Kloster der Dominikaner und dann auf kürzestem Wege wieder zur Pfarrkirche, weil da schon die Mittagssonne glühend niederbrennt. Was jedoch die Reinigung dieses Straßenzuges anbelangt, so wacht zwar über der gesamten Ausführung eine und dieselbe Amtsperson, der starke Arm der Gerechtigkeit, der k.k. Amtsdiener Herr Janko Czupka, aber selbige bringt zwei verschiedene Methoden dabei zur Anwendung. Und zwar je nachdem es sich um christliche oder jüdische Gassen handelt.

In den christlichen erscheint Herr Janko Dienstags vor Frohnleichnam, am frühen Morgen, in Begleitung einiger mit Besen bewaffneter Damen und Herren, die eben im k.k. Bezirksgerichte freie Kost und Wohnung genießen. Diesen Vagabunden imponiert Janko dreifach: durch seine persönliche Würde, dann durch eine verrostete Vogelflinte, die er sich vom Meßner ausgeliehen, und endlich durch jenen Säbel, mit dem er nach seiner eigenen Erzählung einst als Feldwebel an Stelle Radetzky's die k.k. Armee am Mincio zum Siege geführt. So lange fern von jeder Kneipe gekehrt wird, harrt er aus, aber in der Nähe eines solchen[114] Ortes der Labe schmilzt sein Herz und er hält eine Rede. »Ihr Lumpen,« sagt er, »ich habe mit dem Wirte dort zu reden. Aber durch das Fenster wende ich keinen Blick von Euch, und wer davonläuft, wird niedergeschossen, so wahr ich der Herr Janko Czupka bin. Denn diese Flinte hier trifft auf dreitausend Schritte und bei klarem Wetter auf viertausend. Unser guter Kaiser Ferdinand hat sie mir geschenkt, als ich einst mit ihm bei Wien Bären gejagt habe. Also, ihr Lumpen, wer nicht totgeschossen werden will, wird weiter kehren.« Und damit geht Janko in die Schänke und trinkt dort ruhsam sein Gläschen Schnaps. Aber das ist auch nur so eine Redensart – Janko trinkt immer mehrere große Gläser.

Am Mittwoch aber veranlaßt Janko nach einer ganz andern Methode die Reinigung der jüdischen Gassen. Da geht er von Haus zu Haus und hält an die kaftanbekleideten, lockenbeschmückten Hausväter nur eben eine Rede. »Dummer Moschko,« sagt er, »Du wirst die Gasse vor Deinem Hause blank kehren, und für jeden Strohhalm, der liegen bleibt, zahlst Du einen Gulden Strafe, so wahr ich der Herr Janko Czupka bin. Denn warum? Weil Du so ein verfluchter Jude bist. Und warum kehren? Weil morgen das heilige Frohnleichnamsfest ist. Und dann, dummer Moschko, laß Dir noch raten, wehe Euch, wenn Ihr während der Prozession auf der Gasse seid – wir schlagen Euch ein bischen tot.«

Aber diese Drohung ist überflüssig. Keinem Juden in Barnow kommt es zu Sinne, vor seine Thüre zu [115] treten, während der feierliche Zug vorüberwandelt. Denn tausend Schrecken gehen zu dieser Stunde durch die Seelen dieser armen geknechteten Menschen, nicht etwa bloß der Schreck vor dem Totgeschlagenwerden. Auch diese Menschen wissen ja, daß wir in einer lichteren Zeit leben; heute würde sie der Pöbel höchstens zu Krüppeln schlagen. Aber Schrecken aus alter Zeit gehen ihnen durchs Herz, daß es schmerzlich zusammenzuckt. Schatten aus alter Zeit drängen sich vor ihr Auge, während sie so im hellen Scheine der Frühlingssonne ihr Gäßlein blank kehren für die Prozession, daß kein Halm liegen bleibt. Und über der Arbeit werden diese Schatten auch wohl wieder im Worte lebendig und die Leute erzählen einander in dumpfem Flüstertone die Geschichte von dem wilden Starosten und der schönen Jütta. Wenn die Großväter, die Väter dieser Leute dieselbe Geschichte erzählt, dann haben sie wohl noch der schönen Jütta geflucht. Aber heute ist der Haß verflogen, nur die Trauer geblieben, und sie erzählen die Geschichte unbewegt, wie ein Geschick, welches kam, weil es kommen mußte. Vielleicht dämmert's dabei sogar in einem der Enkel auf, daß auch die Ahnen nicht schuldlos waren an diesem Geschick. Aber sie haben es schrecklich gebüßt. Und beim Gedanken dieser Schrecken entringt sich vielleicht auch noch den Lippen der Enkel ein Fluch über die Dränger. Denn zertreten kann man den Wurm, aber erzwingen kann man nicht, daß er dafür dankbar ist ...

Während sie so in der Judenstadt trauernd zum Feste rüsten, krabbelt in den Christen-Gassen viel[116] heiteres Leben bunt durcheinander. Die Männer stehen behaglich schwatzend umher; schon am Mittwoch arbeitet Niemand mehr, mit Ausnahme der Hausfrauen. In allen Häusern wird geschmort und gebacken, daß es in der ganzen Gasse appetitlich riecht. Denn darin gleicht sich der niedere Bürgersmann in aller Herren Landen, daß ihm nur derjenige Festtag für voll gilt, an dem er sich gründlich den Magen verderben kann. Auch gewaschen wird viel; Nathan Silberstein, der Spezereiwarenhändler, verkauft in diesen Tagen so viel Seife, wie sonst in Monaten, und viele weiße, winzige Mädchenkleider werden geplättet. Diejenigen aber, welchen diese Kleidchen gehören, laufen laut jubelnd umher, denn morgen werden sie Engel sein mit himmelblauen Schleifen und das Köpfchen voll Locken. Und in ihr helles Lachen klingt auch immer leise das Rascheln des Papiers, mit dem man ihnen die Löckchen festgedreht hat. An dem Tage sieht man erst, wie viele kleine Mädchen in Barnow sind.

Von den Buben sind wenige zu sehen; die stecken alle bei den Altären, die eben von den Burschen des Orts ausgeschmückt werden – im Kloster und in der Pfarrkirche. Sie machen es, so gut sie's eben können. Einige Teppiche werden vom Herrn Bezirkshauptmann ausgeliehen, einige Vasen vom Herrn Bezirksrichter, und eine ältliche, wohlhabende Jungfrau spendet eine Sammlung von Kruzifixen. So müssen denn Blumen den Hauptschmuck liefern, und die giebt nur die Haide, und die Blumen der Haide sind arm und duftlos. Von dem Gold und den Rosen, mit denen sie unter glücklicherem [117] Himmel den Heiland schmücken, ist hier nichts zu sehen. Aber wenn er, der größte, gütigste, lichteste Mensch, der je über diese dunkle Erde geschritten, wirklich heute hernieder schauen kann, dann freuen ihn hier sicherlich die armen Blumen der Haide ebenso sehr, wie anderwärts die Rosen. Oder gar noch mehr.

Ein dritter Altar wird im Schlosse des alten Starosten gebaut. Es ist eigentlich nur ein großes, wüstes, verfallenes Haus, aber die Leute von Barnow schmücken es mit diesem stolzen Namen. Wenn man über die Sered-Brücke geht und dann unter den Linden hin, das träge, schleichende Flüßchen entlang – da liegt es vor Einem. Zur Rechten und zur Linken dumpfige, langgestreckte, von der Wucht der Zeit und der Verwahrlosung halb in die Erde gedrückte Remisen, grau die Wände, grau das vermodernde Holzdach, und in der Mitte das Herrenhaus, ein plumper, zweistöckiger Bau, die Fensterhöhlen unheimlich leer und ausgebröckelt, nur an wenigen Stellen noch zwischen den morschen Holzstücken erblindetes Glas oder schmutziges Papier; auf den Mauern ein alter, gelblich grüner Anstrich und dazwischen das nackte Braunrot der Ziegeln. So steht das wüste Haus einsam im Haidegrund am Flusse, rings blüht keine Blume, rings sproßt kein Baum und das einzige lebendige Grün, das hier gedeiht, stimmt traurig: das Gras, das zwischen den Steinen des Schloßhofs emporschießt, der braungrüne Schimmel, der sich wie eine Trauerdecke über Alles legt, was zu diesem toten, zu diesem verwesenden Hause gehört.

[118] Nur einmal im Jahre kommen Glanz und Leben in die armselige Öde: am Frohnleichnamstage. Sonst kümmern sich die Leute von Barnow nicht um das Haus, nicht um die Bewohner: den alten wahnsinnigen Starosten und seine greise Dienerschaft. Die Schloßleute kommen selten ins Städtchen; noch seltener führt der Weg der Städter am alten Hause vor über. Und was vollends den Besitzer betrifft, so giebt es viele jüngere Leute in Barnow, die kaum einmal aus der Nähe sein verwittertes Antlitz gesehen haben, umflattert von grauem Haar und den stillen Wahnsinn im stumpfen Blick. Einst, als er noch ein junger Mensch war, kurz nachdem das Unglück sein Herz durchbohrt und sein Hirn versengt hatte, hat er weit und viel umhergerast in der Landschaft, die schöne Jütta zu suchen und diejenigen grausam zu züchtigen, die sie ihm geraubt. Damals wollten ihn die Gerichte ins Narrenhaus stecken und kamen nur darum davon ab, weil er ja doch nur den Juden gefährlich war und ohnehin bald sterben mußte. Aber die verfaulende Seele wohnte in einem eisenharten Körper: im Wahnsinn reifte der junge Starost Janko von Barecki zum Manne, im Wahnsinn ward er zum Greise und jetzt sitzt er immer, wieder ein schwaches, hilfloses Kind, still lächelnd im Lehnstuhl am Fenster und spielt mit einem kleinen zerrissenen Frauenschuh und mit einer vergilbten blauen Busenschleife. Oder er schleicht sich ins Nebenzimmer an die Wiege, in welche die Diener auf Rat der Ärzte eine kleine Glieder-Puppe gelegt haben, und singt da stundenlang, sachte wiegend, zärtliche Lieder über dem [119] mottenzerfressenen Spielzeug. Aber manchmal wird er fröhlich, ein schelmisches Lächeln zuckt über das verwüstete Greisenantlitz, er versteckt den Schuh hinter den Ofen und duckt sich kichernd in den Lehnstuhl. »Sie kommt bald, ob sie ihn finden wird? ...« Aber er harrt vergebens; von dort, wo sie jetzt ist, ist noch Niemand wiedergekommen.

So lebt der alte Starost im wüsten Hause am Flusse, und die Tage kommen und gehen, und Tausende junger, glücklicher, nützlicher Menschen müssen sterben. Aber dieses Haus und seine Bewohner scheint selbst der Tod vergessen zu haben, wie es die Menschen thun. Nur noch einmal im Jahre gedenken sie seiner – da erwacht aber auch das Haus und sein Besitzer. Im großen, ausgebröckelten Thorweg des Schlosses, von dessen Wölbung der Schutt niederrieselt, bauen die alten, gichtbrüchigen Diener den Altar und einige fromme Handwerker aus Barnow helfen dabei. Hier ist der Schmuck ein anderer als in der Pfarrkirche, hier sieht man keine Blumen, aber Alles, was sich noch an alter, vergilbter Pracht im Hause findet. Zunächst verhüllen sie die Wölbung mit ungeheuren Wolken roter Seide, die freilich heute schon blaßgrün ist und gewaltige Löcher hat. Diese Stoffe hat Herkules von Barecki vor dreihundert Jahren samt einem kleinen Harem in jenen Buchenwäldern der Moldau, welche heute »die Bukowina« heißen, einem Pascha abgejagt und als christlicher Ehemann die ganze Beute seinem Weibe heimgebracht. Und dann bedecken sie die feuchten, schmutzigen Wände des Thorwegs mit [120] prächtigen Gobelins, auf welchen die Figuren allerdings nicht ganz deutlich mehr zu erkennen sind. Es ist kaum zu sagen, ob das erfreulich oder betrüblich ist. Denn diese gewirkten Gemälde sind sehr hübsch, aber überaus unanständig – vielleicht hat sie die Maintenon bestellt, als sie noch nicht fromm war, und dann nicht angenommen, weil sie inzwischen fromm geworden. Und so hat sie Herr Agenor von Barecki in Paris erwerben und mit in seine ungebildete podolische Heimat bringen können als Proben französischer Civilisation. Dafür haben sie denn auch durch manches liebe Jahrzehnt gegolten, und wenn die Landedelleute mit ihren Frauen und Töchtern auf Barnow zu Besuch weilten, so standen Alle halbe Tage lang in stummer Bewunderung vor der französischen Civilisation. Aber heute sehen bloß Fedko, der Schuster, und Wassilj, der Töpfer, die Gobelins an, während sie sie aufnageln, und diese rohen Menschen zucken höchstens, wenn sie hier und da noch etwas von den Nymphen und Satyrn gewahren, schweigend die Achseln oder sagen gar: »Pfui Teufel!« ... Und dann wird der Thorweg durch eine Holzwand abgeschlossen, zu deren Umhüllung gleichfalls noch die türkische Seide des Herrn Herkules ausreicht, und ein Gerüste für den Altar aufgeschlagen und mit Teppichen bedeckt. Auch auf den Lehmboden legen sie Teppiche. Aber nun beginnt erst die Krone der Arbeit: die Ausschmückung des Altars. Diese Arbeit leitet aber der Hausverwalter Stephan Wolanski selbst, obwohl er ein gebrechlicher, zitteriger Greis ist. Himmel! was läßt der Mann [121] Alles herbeischleppen, Jesum Christum zu schmücken! Kleine Roccoco-Nippes aus Porzellan, silberne Fruchtschalen und goldene Kettchen, eine alabasterne Nachbildung der Venus von Milo, türkische Roßschweife, Damascener-Klingen und schließlich alle Bilder des Schlosses!

Diese Bilder, heilige wie unheilige, stehen das Jahr über verschlossen in einem Saale des oberen Geschosses. Aber heute geht Herr Stephan mit Fedko und Wassilj hinauf und läßt die Gemälde hinuntertragen. Eine sonderbare Sammlung! Heiligenbilder, roh und plump gemalt, wie man sie in allen Dorfkirchen des Landes findet, daneben feine, graziöse, sehr frivole oder sehr sentimentale Schäferstücke, die Herr Agenor aus Paris heimgebracht hat; hübsche Kopien nach Raphael, die der Sohn des Agenor, der hochstrebende Alexander von Barecki, der Großvater des gegenwärtigen Starosten, selbst in Italien gemalt hat, und schließlich Bilder, von denen sich weiter nichts sagen läßt, als daß es eben Farben sind, auf Leinwand aufgetragen. Aber das merkwürdigste dieser Bilder ist gerade das jüngste – wer es ansieht, den läßt es nicht wieder los, und während er darauf hinblicken muß, fühlt er, wie sein Auge feucht wird, nicht vor Weh, nur vielleicht, weil sich leise, leise Alles in seinem Herzen stillt und löst.

Ein merkwürdiges Bild! Ist's ein Porträt, oder ein Genrebild, oder die heilige Jungfrau mit dem Kinde? Ein junges Weib in dunklem Gewande blickt auf den Säugling in ihrem Schoße. Das Weib ist [122] unsäglich schön – wenn Raphael sich in das Hohe Lied vertieft hätte, er würde vielleicht, berauscht von allen Zaubern des Orients, ein ähnliches Antlitz erträumt haben – aber nicht diese Schönheit macht das Bild herzergreifend, sondern das Lächeln, mit dem sich die junge Mutter über ihr Kind beugt, das gütige, stolze und doch süß verschämte Lächeln! Der dies Bild gemalt hat, war kein Gottbegnadeter; er hat nur, so gut er's konnte, wiedergegeben, was er schauen durfte, aber ihm ist gelungen, ein Gefühl greifbar klar zu verkörpern, das sonst der Dichter vergeblich in Worte,der Maler in Farben zu fassen sucht, so unendlich reich und tief ist dieses Gefühl – die Mutterliebe. Und weil dieses Licht in Jedes, auch des Rohesten und Ärmsten Leben gestrahlt hat, darum wird vor diesem Bilde jedes Herz gut und sänftigt sich. Fedko, der Schuster, der bisher unter sehr derben Worten die Schäferstücke auf seinem breiten Rücken hinabbefördert hat, verstummt, als er vor dies Bild tritt, und schlägt andächtig das Kreuz und sagt zu dem alten Herrn Stephan: »Was ist das für eine schöne Mutter Gottes!«

»Tölpel!« höhnt ihn Wassilj, »das ist eine verfluchte jüdische Buhlerin!«

»Nein – schweig'!« ruft der alte Stephan und streckt die Hand aus. Dann tritt er vor das Bild und blickt lange darauf hin. Und endlich fährt er leiser fort: »Nein! – wohl war sie eine Jüdin, die arme Jütta, aber verflucht ist sie nicht. Und wenn alle Juden in der Hölle braten müssen, so ist sie die Erste aus diesem verdammten Volke, die [123] selig geworden ist, denn Gott ist gerecht und sie hat sich den Himmel auf Erden verdient! Denn sie war Allen, welche sie gekannt haben, ein Engel und ein Schutzengel für dieses Haus, mit ihr sind Glück und Segen gekommen und mit ihr gegangen. Und Du selbst bist ein Tölpel, Wassilj, wenn Du sie eine Buhlerin nennst. Was weißt Du, wie dieses Mädchen war! Freilich, – rechtmäßig angetraut war sie unserem Herrn nicht, aber auch das hätte sich noch zu unser Aller Segen gefügt, hätten sie nicht diese jüdischen Bestien geraubt und fortgeschleppt, sie und den kleinen Janko, der damals erst drei Monate alt war! ... O, warum hat es Gott gelitten? Warum mußte so viel Jammer über uns kommen?!«

Dem alten Mann versagt die Stimme, er schlägt die Hände vors Antlitz. Auch die beiden Anderen schweigen und blicken zu Boden. Dann tritt der Greis wieder vor das Bild hin und fährt fast flüsternd fort: »Ich sollte es eigentlich nicht ansehen – mir thut dabei das Herz weh! Ich war ja selbst dabei, wie der Lemberger Maler, der Herr Kenda, den letzten Pinselstrich daran gemacht hat, und es war an demselben Tage, an dem ich sie zum letzten Male gesehen habe, sie und das liebe Bübchen! Es war an einem Freitag, im Herbste, ein regnerischer Tag. Sie weinte fast, als unser Herr darauf bestand, den Maler zu begleiten, und ich weiß noch genau, wie sie sagte: ›Janko, bleib', ich weiß nicht, mir ist das Herz so schwer!‹« Aber da lacht der Starost und schüttelt den Kopf, daß ihm die braunen Locken nur so ums Gesicht tanzen, [124] und ruft fröhlich: »Liebstes Herz, was sind das für kindische Sorgen! Jetzt muß es Dir immer federleicht zu Mut sein, wie einer Lerche, die ins Blaue fliegt, denn jetzt sind wir ja endlich am Ziele! Also, es bleibt dabei: ich bringe den Herrn Kenda bis Tarnopol, wir fahren die Nacht durch, daß wir morgen früh dort sind, und dann bringe ich am Tage die Sachen beim Kreisgericht in Ordnung, und Sonntag in aller Frühe hast Du mich wieder hier. Und dann ist um zehn Uhr die Ceremonie in der Kirche – der dicke Prior, der Anastasius, kanns ja kaum erwarten, Deine Seele vor der Höllengefahr zu retten, und behauptet immer, Du kannst den Katechismus schon besser, als ich, was Dich übrigens nicht stolz machen kann, liebes Herz!« Und dabei lacht der junge Herr so laut, so lustig – ich hör's noch heute im Ohr – und dann sagt er: »Also Sonntag um zehn Uhr heißest Du Jadwiga Holdberg und um elf Uhr – nur unser Stephan und mein Freund Wladimir Czaykowski werden dabei sein – bist Du die Starostin Barecka und wirst nicht mehr zu erröten brauchen, armes Herz, wenn Dich die Leute in den Kaufbuden von Tarnopol anglotzen.« Und er küßt ihr die Thränen von den Augen und sagt darauf zu mir: »Stephan,« sagt er, »laß die gedeckte Kalesche einspannen, denn es regnet ja jeden Augenblick, und Du begleitest uns und sag' dem Stas, daß er sich beeilt.« Der Stas war nämlich der Kutscher und Dein Vatersbruder, Fedko, ein braver Mensch, bis auf den Schnaps – nun, Gottes Friede sei mit ihm, er ist schon vor zwanzig Jahren[125] am Säuferwahnsinn gestorben. Also – und dann fährt der Wagen vor und die Gnädige steht auf der Treppe, und neben ihr die Fruzia mit dem kleinen Janko auf dem Arm, und wir nehmen Abschied. Der junge Herr Kenda ist totenblaß, aber dann wird er feuerrot, wie sie ihm die Hand drückt und für das schöne Bild dankt, und der junge Mensch zittert ordentlich, wie er erwidert: »Ich habe Ihnen zu danken, denn ein solches Bild werde ich in meinem ganzen armen Leben nicht wieder malen dürfen.« Und dann küßt der Herr Starost den Kleinen und die Gnädige, und das Bübchen beginnt zu weinen, und die Gnädige plötzlich auch und sie schluchzt: »Ich werde die böse Ahnung nicht los – fahr nicht zur Stadt – ich bleibe so allein – oder laß doch wenigstens den Stephan da.« Aber der Herr lacht darüber: »Es bleiben ja zwei Männer im Schlosse, der alte Josef und der Hritzko! Und dann, wer sollte es wagen, Dir etwas zu Leide zu thun? Etwa die Juden? Glaube mir: dazu ist das Gesindel viel zu feig. Es wundert mich nur, daß sie den Mut gehabt haben, zum Kreisamt zu gehen und eine Eingabe zu überreichen, das Gericht möge Dich Deiner Mutter wieder zurückgeben, weil Du noch minderjährig bist und weil ich Dich gewaltsam geraubt habe! Ha! Ha! Ha! Aber mein Freund, der Kreissekretär Walczewski, hat ihnen eine gute Antwort gegeben. Zerrissen hat er die Eingabe und die Fetzen ihnen vor die Füße geworfen und dazu gerufen: ›Kuscht euch, ihr jüdischen Hunde, seht ihr denn nicht ein, daß euch so etwas nur eine Ehre sein muß?!‹

[126] Und das haben sie sich gemerkt, und kuschen jetzt wirklich. Also! Kopf auf, liebstes Herz, auf Wiedersehen!« Und er küßt sie und springt in den Wagen, wir jagen davon ... »Und das war das letzte Mal und wir haben sie nie wiedergesehen!«

Wieder verstummt der alte Mann. Aber Wassilj sagt zu Fedko: »Die Juden haben sie nämlich in der Nacht darauf geraubt!«

»Die Hunde!« stößt der Greis hervor. »Zweiundvierzig Jahre sind es her und ich bin ein alter Mann, aber noch heute könnte ich diese Menschen morden, wenn ich daran denke ... Wir waren den Tag über in Tarnopol gewesen, der Herr beim Kreisamt, und ich hätte Einkäufe machen sollen; aber es war Sabbath und die Juden hielten die Läden gesperrt. So mußte ich bis zum späten Abend warten, wo sie wieder verkaufen durften, und es ging schon auf Mitternacht, als wir endlich zur Stadt hinausfuhren. Eine mondhelle Nacht, aber die Wege aufgeweicht vom Herbstregen, wir kamen nur langsam vorwärts und der Stas hörte manches harte Wort vom Herrn. Denn dieser war plötzlich vor Unruhe fast außer sich; und da sagen diese klugen Leute, daß es keine Ahnungen giebt ... Also, der Stas thut sein Möglichstes und ist auch, wie durch ein Wunder, nicht besoffen, aber kaum sind wir beim Kriower Feldwirtshaus, eine halbe Meile von Tarnopol, da hören wir wütenden Galopp und sehen im Mondlichte einen Reiter heranrasen – das ist der Hritzko auf dem Schimmel des Herrn und er schreit: ›Haltet! haltet!‹ Er springt [127] ab und das Pferd bricht zusammen, er hat es zu Schanden geritten. Aber da ist auch schon der Herr mit einem Satz aus dem Wagen und beim Hritzko und faßt ihn wütend bei der Schulter und schüttelt ihn: ›Was ist geschehen?‹ – ›Geraubt‹, stammelt der Knecht, ›die Juden – fortgeschleppt – das Kind auch!‹ – Da läßt ihn der Herr los und greift sich ans Herz, als hätte ihn da ein Schuß getroffen, und schreit auf, wie ein verwundetes Tier – ich höre diesen Schrei, wie ich dies erzähle, und ich werde ihn hören, bis ich sterbe. Dann taumelt er, ich fange ihn in meinen Armen auf, da kommt der Mond wieder hell hinter einer Wolke hervor und ich kann das Gesicht meines Herrn sehen – hört, ihr Leute, auch dieses Gesicht werde ich nie vergessen! Dann rafft er sich auf und ich glaube, nun wird sein wildes Gemüt entsetzlich zu rasen beginnen, aber er sagt ganz ruhig, nur heiser: ›Komm in den Wagen, Hritzko, und erzähle. Und Du, Stas, in zwei Stunden müssen wir auf dem Schlosse sein!‹ Und während wir so durch die Nacht hinbrausen, erzählt der Knecht, wie er und der alte Josef am Freitag Abend die Hunde losgelassen haben, wie gewöhnlich, und dann haben sie alle Thüren verschlossen und sich in der Bedientenstube schlafen gelegt. Aber gegen Mitternacht weckt ihn der alte Josef: ›Alle Heiligen! es sind Diebe im Hause!‹ – ›Unsinn,‹ sagt Hritzko, ›der Britan bellt nicht; ich höre nichts, als den Sturm und den Regen.‹ Aber in diesem Augenblicke ist die Stube voll von weißgekleideten, vermummten Männern, und die Beiden sind ergriffen [128] und gebunden und – Knebel in den Mund und die Thüre verschlossen! – Alles im Handumdrehen. Und da liegen sie nun und hören die schweren Tritte die Treppe hinaufeilen. Oben ein kurzes Aufkreischen, die alte Kasia, und wieder ein unterdrückter Schrei – das ist die Fruzia. Und dann fängt das Bübchen sehr laut zu weinen an. Davon muß die Gnädige erwacht sein, sie hören, wie sie nach Hilfe ruft und dann furchtbar gellend noch einige Worte. Aber diese Worte haben sie nicht verstanden, weil es die jüdische Sprache war. Gleich darauf ist wieder Alles still, auch das Schreien des Säuglings. Und dann kommen die Räuber wieder die Treppe hinab, ihre Tritte tönen noch dumpfer, sie tragen eine Last. Dann schlägt das Hausthor zu und sie hören durch das Heulen des Sturmes das Rollen einiger Wagen. Und damit ist Alles aus – verschollen und verloren!«

»Und nie wieder hat sich eine Spur gefunden?« fragt Fedko.

»Nie! – als hätte sie die Erde verschlungen! Es ist Alles versucht worden, mit Geld und mit Schlägen, aber nichts! – als ob diese Juden nicht von Fleisch und Blut wären, sondern von Stein. Unser Herr hat selbst die Untersuchung geleitet, besser und besonnener als der klügste Beamte. Diese Ruhe war mir fast unheimlich, ich hatte ihn ja seit seiner Kindheit gekannt, ich wußte, wie entsetzlich wild er war und wie er die Jütta wahnsinnig geliebt hatte. Und seht, ihr Leute, sie hat eine solche Liebe auch verdient, nicht bloß wegen ihrer merkwürdigen Schönheit. Denn [129] freilich hatte sie unser Herr, nachdem er sie beim Frohnleichnamsfeste zum ersten Male gesehen, gewaltsam ihrem Vater entrissen und hierher gebracht, aber sie zähmte ihn und liebte ihn allmählich auch, mehr als ihren Glauben und als ihr Leben, und machte aus einem wilden, tollen Jüngling einen gütigen, festen Mann. Nun versteht ihr vielleicht, was sie ihm war. Aber nun sie ihm verloren war, da weinte er nicht und tobte er nicht – nur Nachts hörte ich ihn oft leise stöhnen und bei Tage forschte und untersuchte er dann wieder kalt und besonnen. Aber alle Mühe blieb vergeblich, obwohl sich auch die Gerichte der Sache sehr annahmen, auch die in Ungarn, Rußland und der Moldau. Doch brachten die Herren aus den dortigen Juden so wenig etwas heraus, als der Starost aus den Vorstehern der hiesigen Gemeinde. Durch ein halbes Jahr, bis in den Winter hinein, hielt er sie gefangen – er war ja damals in Barnow selbst Gerichtsherr. Gegen Neujahr aber sagte er mir: ›Packe die Koffer, ich mache mich selbst auf die Suche, Du begleitest mich.‹ Vorher jedoch sprach er noch einmal mit den hiesigen Verhafteten und ich war dabei. Hätte es mir Gott selbst erzählt, ich hätte gesagt: ›Gott, Du lügst,‹ aber so habe ich es selbst gehört, wie er, unser Herr, Janko von Barecki, die Juden gebeten hat, sich seiner zu erbarmen – in Worten, in einem Tone – ich sage Euch, sogar der Teufel hätte Erbarmen fühlen müssen! Aber diese Hunde haben sich nur heuchlerisch gebeugt und gesagt: ›Herr, thue mit uns, was Du willst, aber von der Jütta Holdberg wissen wir [130] nichts.‹ Da läßt unser Starost die Hände sinken und sagt dumpf: ›Geht – ich halte Euch nicht länger. Möget Ihr es nie zu bereuen haben! Aber hört mich an! Ich habe mich bisher bezähmt und meine arme Vernunft festgehalten. Ich habe Euch bisher nur zuweilen hungern lassen und das geschieht auch dem christlichen Gefangenen, bis er gesteht. Aber ich fühle, ich fühle deutlich, wie mich der Schmerz wahnsinnig macht. Und wenn ich wahnsinnig bin, Ihr Juden, dann mag Euch Gott vor meiner Hand schützen, Menschenmacht vermag es nicht! Und nun – geht! Möget Ihr es nie zu bereuen haben!‹ Da beugten sie sich nochmals und gingen hinaus, und einer von ihnen, der junge Simon Grün, lächelte heimlich höhnisch – ich allein hab's gesehen ...«

Immer erregter hat der Greis gesprochen, immer bleicher ist sein Antlitz geworden. Und nun reckt er sich empor, und seine Augen glühen unheimlich, und er ruft:

»Ich allein hab's gesehen und ich allein hab's gerächt! Denn sie haben es bereut und es hat sich Alles erfüllt, wie es unser Herr gesagt hat! Nachdem wir den Winter und den Frühling hindurch rastlos umhergezogen waren von Ort zu Ort und nichts gefunden hatten, da kehrten wir heim. Und es kam wieder der Frohnleichnamstag, der zweite seit jenem, wo unser Starost zuerst die Jütta gesehen hatte, da übermannte ihn die Erinnerung und er konnte seinen armen Verstand nicht mehr halten und er wurde wahnsinnig. Nach der Prozession bot er auf, was zum Schlosse gehörte: Bauern, Jäger und Knechte, und wir brachen ein in die Judenstadt [131] und mordeten und sengten. Ja! – wir thaten's – ja! an meinen Händen klebt Blut – ich habe den Simon Grün erschlagen! Aber wenn mich Gott vor seinen Thron fordert, so werde ich ruhig vor ihn hintreten und sagen: ›Ich erschlug ihn, aber es war jener Mensch, der meinem Herrn Glück und Verstand raubte und ihn dann, als er sich in Schmerzen vor ihm wand, verhöhnte‹ ...«

Der Greis verstummt und starrt nur noch mit wilden Augen vor sich hin. Dann fährt er auf und streicht sich über die Stirne, als erwache er aus einem Traume. »Die alten Geschichten sind über mich gekommen und ich habe wieder einmal reden müssen. Kommt – nehmt diese Bilder, wir müssen den Altar fertigen.«

Sie gehen hinunter und schaffen im Thorweg rüstig weiter an ihrem frommen Werke. Über ihnen aber, im ersten Stockwerk, kichert eine dünne, zitterige Greisenstimme unheimlich in den Frühlingstag hinaus. Der Wahnsinnige hat sein Fenster geöffnet und atmet freudig die warme, reine Luft ein. Dann aber beugt er sich weit hinaus und ruft hinunter: »Stephan! Stephan!«

»Ja – Herr!«

»Morgen ist ja wieder Frohnleichnam, wie ich sehe. Heissa – endlich! Vergiß nicht, den Schimmel zu striegeln, ich will im Zuge reiten, so wie damals, damit sie mich gleich erkennt. Und dann nehme ich sie und den Janko vor mich auf den Schimmel, und das Kind lacht über das Pferd und wir reiten im Galopp hierher! Du bestellst inzwischen den Prior und den Wladimir Czaykowski und wir lassen uns trauen – heissa! Daß Du nur nichts vergißt, Stephan!«

[132] »Gewiß nicht, Herr!« ruft dieser hinauf. Aber dann sagt er leise zu Fedko: »Der Schimmel ist derselbe, den Hritzko totgeritten hatte, und der Prior ist längst in seinem Fette erstickt, und den Czaykowski haben die Russen schon vor vierzig Jahren bei dem großen Aufstand gehängt. Und wo mögen Jütta und ihr Kind modern?! Mein armer, armer Herr!«

Wenn die Sonne endlich nur noch wie ein glühroter Ball am Rande der Ebene klebt, ist auch Alles für das morgige Fest gerichtet: alle Kuchen gebacken und alle Löckchen eingedreht, alle Straßen gekehrt und alle Altäre aufgeputzt. Und der Großwürdenträger von Barnow, Herr Janko Czupka, durchwandelt alle Gassen, diesmal ohne den historischen Säbel und die Bärenflinte Kaiser Ferdinands des Gütigen, sondern allein mit seiner persönlichen Würde bewaffnet. Aber sein Herz wird milde, während er so dahinwandelt, denn er sieht Alles an und siehe – es ist Alles gut. Dann geht er in die Schänke und auch dort ist Alles gut, und dann geht er schlafen. Und gleich ihm schlummert bald auch die übrige Bewohnerschaft des armen, schmutzigen Städtleins dem morgigen Tage entgegen. Niemand sieht dem Monde zu, wie er sachte emporsteigt und die Pfützen in Silber wandelt und das wüste Haus am Flusse in einen schimmernden Palast.

Nur in einem Hause der Judenstadt wachen zwei Menschen – eine alte Frau und ein junges Mädchen. Dieses Haus gehört dem Jakob Grün, die Greisin ist seine Mutter Sarah, das »Urbabele«, und das Mädchen seine Enkelin. Die schöne Jütta Grün ist plötzlich aufgewacht; [133] sie weiß selbst nicht, warum – weil ihr der Mond zu hell auf die Augen geschienen, oder weil sie im Schlafe die klagende Stimme der Urgroßmutter zu hören geglaubt hat. Sie lauscht auf und nun hört sie deutlich, wie sich die alte Frau ruhelos auf ihrem Lager wälzt und leise schluchzt und klagt. »Urbabele!« ruft das Mädchen erschreckt und richtet sich empor, »seid Ihr, behüte, krank? Oder scheint Euch der Mond zu hell, soll ich das Fenster verhängen?«

»Nein, Kind,« sagt die Greisin, »laß den Mond hereinschauen. Ich seh' ihn gern. Ich kann nicht schlafen, – ach, mir blutet mein Herz so sehr! Morgen ist ja die Jahrzeit nach Deinem Urgroßvater! O Kind, morgen jährt sich wieder einmal der schwarze Tag, da die Christen wie die Wölfe eingebrochen sind in unser Haus, und sie haben sein liebes Haupt zerschmettert, und ich habe sein Leben nicht zurückhalten können, und er ist gestorben – hier auf dieser Diele! O, Kind, – wie könnt' ich schlafen?«

»Urbabele!« sagt das Mädchen gedrückt, »tröstet Euch! Was nützen unsere Thränen?! Und wäre es nicht Gottes Wille gewesen, es wäre nicht geschehen!«

»Gottes Wille!« seufzt die alte Frau. »Ich glaube an Gott und will nicht mit ihm rechten, daß er es geschehen ließ. Sein Ratschluß ist unerforschlich. Aber vergessen kann ich nicht, daß die Unthaten nur deshalb geschehen sind, weil wir gerecht waren, weil wir Gottes heiligen Namen nicht haben kränken lassen wollen! Denn nur deshalb haben wir die Jütta dem polnischen Herrn genommen, damit Gott nicht beleidigt werde. [134] Und dennoch hat er es geduldet, daß deshalb der Jammer über uns komme und Mord und Brand! ... Warum, Gott, warum?«

Die alte Frau richtet sich empor; unheimlich leuchtet ihr todblasses Antlitz durch die mondbeschienene Stube zu dem Mädchen herüber. »Nein!« ruft sie, »vergiß, Jütta, was ich jetzt gesagt habe, und Du, Gott, vergieb mir das thörichte Wort! Ich frage nicht, warum – aber daß Du die Frevel rächst, Gott! hundertmal mehr, als Du es bisher gethan hast, das fordere ich von Dir! Und so lange es nicht geschieht, rufe ich zu Dir: Gott, lebst Du?! In Deinem Namen steht ja geschrieben: ›Aug' um Auge, Zahn um Zahn!‹ ... Höre, Jütta, mein Kind, mein Simon selig hat gesagt: ›Die Christen sind gegen uns wie die Wölfe; Fluch und Schmach über unser Haupt, wenn wir gegen sie wären, wie die Lämmer!‹ ... Merke Dir dies Wort, Kind, merke Dir's. Du bist jung und schön, weh' Dir, wenn Du einem Christen gefällst, doppelt weh', wenn er Dir gefällt. Es geht gegen Gott und darum kann kein Segen daraus werden, nur Fluch und wieder Fluch! Denk' an jene andere Jütta, mein Kind!«

Die alte Frau streicht sich wie besinnend über die Stirne und fährt dann leiser fort:

»Sie hieß Jütta, wie Du, und war auch jung und schön, noch viel schöner – so hold ist nie ein Mädchen unter uns gewesen. Aber auch gut war sie und fromm, das einzige Kind der edelsten, reichsten Leute unter uns. Ihr Vater Manasse war unser Vorsteher, ein sehr reicher und wohlthätiger Mann; er [135] half den Armen, pflegte die Kranken, und als einmal eine große Seuche unter uns wütete, da rettete er Tag und Nacht, bis er selbst siech wurde und erblindete. Damals war die Jütta achtzehnjährig. Und es begab sich im nächsten Frühjahr, daß die Christen dasselbe Fest feierten, wie morgen, und sie kamen durch unsere Gassen gezogen mit Musik und Fahnen und mit den Bildern ihrer Götzen. Wir jedoch blickten nicht hinaus, noch minder traten wir vor unsere Thür, weil uns dies bei Todesstrafe verboten war. Nur der blinde Manasse geriet in den Zug, als er von der Betschul' heimkehrte – es war nur wenige Schritte von seinem Hause. Da stürzten sich die Christen auf den Greis, schlugen ihn und wollten ihn töten. Aber Jütta ersah die Gefahr, stürzte hinaus und deckte den Vater mit ihrem Leibe. Freilich, was vermochte sie gegen die Wütenden! Rasch waren die Beiden getrennt, den Greis schleppten die Christen zum Flusse und das Mädchen lachend gegen den Klostergarten. Da, in der höchsten Not kam ein Herr auf einem weißen Rosse angesprengt, der junge Starost. Er sah das Mädchen und befahl, es loszulassen, und als Jütta um Rettung für den Vater flehte, willfahrte er lachend: ›Meinetwegen, Du bist schön! – ein alter Jude mehr auf der Welt!‹ Und Manasse und Jütta durften in ihr Haus zurückkehren; der Zug ging weiter. Sie aber und wir mit ihnen dankten dem Ewigen für die Rettung und es ward beschlossen, daß am nächsten Tage die Vorsteher zum Starosten gehen und sich für die Barmherzigkeit bedanken sollten. Aber dies geschah nicht, denn er war [136] ein Christ und ein Pole und holte sich selbst den Lohn. Am Abend überfiel er mit seinen Jägern und Knechten das Haus des Manasse und riß die Jütta fort. Vergeblich war ihr und ihres Vaters Flehen. ›Blinder Judenhund!‹ schrie ihn der Starost an, ›ich habe sie ja nur deshalb vor meinen Knechten bewahrt, weil ich sie für mich selbst haben will. Übrigens leihe ich mir sie nur aus, in vierzehn Tagen hast Du sie wieder.‹ Und er raubte das Mädchen, das vor Schreck und Scham ohnmächtig geworden war, wie der Wolf das Lamm ...«

»Entsetzlich!« ruft das Mädchen erbebend.

»Ja, entsetzlich,« wiederholt die Greisin. »Dich packt es heute und nun bedenke, was wir Alle in jener Nacht erlitten. O, es war eine Nacht der Schrecken! Denn wenige Stunden nach dem Raube starb der alte Manasse, sein siecher Körper konnte die beiden furchtbaren Schrecken nicht verwinden. Und seine letzten Worte waren: ›Rettet mein armes Kind! Wenn Ihr es nicht meinetwillen wagen wollt, so thut es um Gottes Willen. Sein heiliger Name wird geschändet, wenn ein jüdisch Kind als Buhlerin im Christenhause sitzt.‹ Aber wie dies beginnen? Da sagte mein Simon, den sie zum Vorsteher gewählt hatten, weil er klug und gerecht war, trotz seiner jungen Jahre: ›Der Starost hat nicht bloß Gottes, er hat auch des Kaisers Gesetz beleidigt. Wir wollen vors Gericht gehen.‹ Da machten sie eine Eingabe nach Tarnopol, aber sie wurden mit Hohn zurückgewiesen. Und dann schrieben sie nach Lemberg, aber von da [137] kam gar keine Antwort. Und endlich nach Wien und von da kam ein Brief zurück, daß ja die Sache nach Tarnopol gehöre. Aber inzwischen war mehr als ein Jahr vergangen und die Jütta war noch immer auf dem Schlosse und hatte dem Starosten einen Knaben geboren, der getauft wurde; sie jedoch war noch Jüdin. Da kam gegen den Herbst die Nachricht, das der Starost auch sie taufen lassen wolle. Und darauf versammelte Simon in der Betschul' die Männer der Gemeinde und sprach zu ihnen: Wir dürfen es nicht dulden. Sie ist Manasse's Tochter; aber wäre sie auch die letzte und niedrigste, wir dürfen es um Gottes Willen nicht dulden. Unser Recht haben wir nicht erkämpfen können, wohlan denn: Gewalt gegen Gewalt! Laßt uns ins Schloß einbrechen und die Jütta befreien. Das Kind geht uns nichts an, aber die Jütta gehört zu uns. Wir wollen sie weit weg bringen, zu den Juden nach Rußland, und sie soll unter uns geachtet werden, als wäre ihr Leib unberührt, denn nur dem Zwange ist sie gewichen. Die anderen stimmten ihm bei und es fragte sich nur noch um den Tag der Ausführung. Da verriet der Kutscher des Starosten, ein Trunkenbold, das der Starost an einem Freitag verreisen und am Sonntag darauf wiederkommen und die Jütta taufen lassen wolle. Darauf versammelte Simon wieder die Männer und als Einige einwendeten, es sei ja die Nacht von Freitag auf Sabbath und da dürfe man keine Arbeit thun, da rief er: ›Was wir thun wollen, ist Gotteswerk, und das dürfen wir an Gottes Tage verrichten.‹ Dem [138] zum Zeichen zogen sie auch ihre Sterbekleider an, wie am Tage der Versöhnung. Und sie überfielen in selbiger Nacht das Schloß. Aber als sie zur Jütta kamen, da schrie sie: ›Zurück, ich gehöre zu ihm, ich bin sein Weib!‹– ›Du lügst,‹ erwiderte Simon, ›Du gehörst zu uns! Und wenn Du nun auch selbst Freude daran hast, eines Christen Metze zu sein, wohlan, so führen wir Dich fort, damit Gottes heiliger Name nicht länger durch Dich beschimpft werde.‹ Und da erkannte sie, daß kein Entrinnen war, und bat nur noch, daß sie ihr Kind mitnehmen dürfe. Die Anderen meinten: ›Das Kind geht uns nichts an!‹ aber Simon sagte: ›Es ist ja doch ihr Fleisch und Blut!‹ und sie ließen es ihr. Noch in selbiger Nacht ward sie weit, weit fortgebracht, gegen die Grenze hin. Und der Starost hat sie nimmer gefunden, denn wir halten zusammen und es ist kein Verräter unter uns. Vergeblich ließ der Starost meinen Simon und die anderen Vorsteher im Kerker schmachten, er brachte nichts heraus und mußte sie endlich wieder entlassen. Schon glaubten wir die Heimsuchung vorüber – dann kam wieder jenes Fest – der schwarze Tag – und hier haben sie ihn erschlagen. Weh, weh mir!«

Und wieder beginnt die alte Frau zu weinen und zu klagen. Erst nach einer Weile wagt das Mädchen die leise Frage: »Und was ward aus der Jütta?«

»Aus Fluch wird Fluch!« erwidert die Alte dumpf. »Sie brachten sie in ein einsames Dorfwirtshaus in Rußland und da blieb sie den Winter über. Im Frühling aber, als der Starost selbst zu suchen [139] begann, führten sie sie weiter ins Land hinein. Ihr Kind starb eines Morgens auf dem Wege, aber sie konnten es ihr nicht entreißen und sie hielt es in ihren Armen. Am Abend aber kamen sie vor Mohilew an und dort ist keine Brücke über den Dniester, man muß im Kahn übersetzen. Und wie sie so im blassen Mondlicht hinüber ruderten, da spürten sie plötzlich eine Erschütterung des Kahn's. Die Jütta hatte sich erhoben und war, ihr totes Kind im Arm, in die dunkle Flut gesprungen. – Aus Fluch wird Fluch!« ...

... Und die Sonne geht auf, die Sonne des Festtags. Herr Janko Czupka erscheint wieder in den Straßen und treibt seine Vagabunden vor sich her, aber diesmal tragen sie Körbe voll grünen Laubes und Blumen und bestreuen damit die Wege, welche die Prozession wandeln soll. Dann dröhnen alle Glocken und der feierliche Zug formiert sich. Voran eine Musik, die sehr schön spielt, weder ausschließlich Bläser, noch ausschließlich Streicher, sondern hier geht der Violinist neben dem Trompeter – jeder, wie er kann. Dann die Schulkinder und die weißgekleideten Engelchen, hierauf die Geistlichkeit mit dem Allerheiligsten und hinter ihnen der Bezirkshauptmann, der Bezirksrichter und der Steuereinnehmer. Aber in der Masse des Volkes, die nun vorüberzieht, ist Einer, der so mächtig und würdevoll einherschreitet, wie die Drei zusammen. Ihr erratet ihn schon!

Und so ziehen sie hin von einem Altar zum anderen und singen laut: »Te deum laudamus!« Aber in einer verdunkelten Stube der Judenstadt sitzt eine [140] alte Frau und knirscht, wenn sie die Töne hört: »Fluch den Christen!« – und im Schloßhof steht ein Greis und blickt zu seinem wahnsinnigen Herrn empor, der vor Freude tanzt, und knirscht: »Fluch den Juden!«

... Wir wollen nicht die traurige Frage entscheiden, wer von Beiden dies mit größerem Rechte sagt. Aber ein anderes Wort laßt uns aussprechen am Schlusse dieser düsteren Geschichte. Durch die Jahrhunderte und bis in unsere Tage hinein hat die Lüge fortgeklungen, daß nur der Glaube selig macht, die Liebe aber blind, und es ist nicht zu zählen, wie viel Blut und Thränen um dieser Lüge willen geflossen sind. Laßt uns endlich die Wahrheit begreifen, daß nur die Liebe selig macht, der Glaube aber blind, und laßt uns dafür kämpfen, allorts, allimmer, mit ganzem Herzen und mit ganzer Kraft. Und dann werden auf Erden keine Geschichten mehr geschehen, wie die vom wilden Starosten und der schönen Jütta! ...

[141]

Das »Kind der Sühne«

Von einem Kinde handelt diese Geschichte. Es hieß Lea und war vierjährig, und hatte schwarze, glänzende Haare und große dunkle Augen. Diese Augen aber waren nicht glänzend, wie ein Schleier lag es über ihnen und über dem blassen, zarten Gesichte des kleinen Mädchens. Es war sehr armer Leute Kind und hatte ein einziges Kleidchen, das arg geflickt war, dasselbe für die Samstage, dasselbe für die Wochentage; man konnte kaum noch die ursprüngliche Farbe des gelben Zitzes heraus erkennen. Aber daher rührt jener Schleier nicht. Was wußte Lea von der Armut?! Alle Tage wurde sie satt; wenn nicht ganz, so doch halb satt; alle Tage durfte sie im Sonnenschein spielen, so viel ihr beliebte. Und den allerschönsten Spielplatz hatte sie, den man sich nur wünschen kann, groß und grün und still, und unzählige Blumen wuchsen da und mit schweren Blütenzweigen neigte sich der Holunder über vielen, sehr vielen Ruhesitzen. Denn Leas Spielplatz war der Judenfriedhof zu Barnow. Es war eigen, wenn man das ernste Kind so still zwischen den Gräbern einhergehen sah, oder wenn es auf einem der Steine saß und zusah, wie die lustigen Goldkäfer dahinliefen durch das aufsprossende [142] Gras. Aber auch daher rührte jener Schleier nicht. Was wußte Lea von dem Tode?! Der Vater war tot, das wußte sie, und Totsein heißt schlafen und niemals, gar niemals mehr Hunger haben. Und wie hätte sie etwa sonst der tägliche Anblick der Gräber betrüben können?! ... Nein, das war's nicht, und auch die Juden in Barnow logen, wenn sie sagten: »Das Kind ist nun einmal ein ›Kind der Sühne‹ – wie sollt' es ein ander Gesicht haben?!« ... Nein, ein Erbteil war jener Zug des Leidens in dem blassen Gesichtchen. Die arme Miriam Goldstein hat dies Kind unter einem Herzen getragen, das von schwerem Kummer gequält war, von schier unsäglichem Seelenschmerze. Und blutige Thränen waren auf das Antlitz des kleinen Wesens gefallen, als es an ihrem Busen lag. Auch solche Thränen vertrocknen, aber sie lassen eine Spur zurück. Die kleine Lea trug in ihrem Antlitz die Spur der Thränen, die einst ihre Mutter darauf geweint hatte.

Denn später, als das Kind heranwuchs, da weinte die Mutter nicht mehr. Die arme Witwe hatte dazu keine Zeit mehr. Den Tag über mußte sie schaffen und sorgen und des Nachts sank sie ermattet hin. Und selbst wenn sie aufwachte und so nachgrübelte über ihr hartes, armseliges Leben, auch da weinte sie nicht. Denn zum Schlusse konnte sie doch immer sagen: »Gottlob, mein Kind und ich, wir brauchen weder zu betteln noch zu verhungern. Gottlob! Das Kind ist gesund!«

»Das Kind ist gesund!« Die Miriam Goldstein, die Witwe des Totengräbers zu Barnow, die von der Gemeinde als Witwengehalt ein kleines Stübchen [143] in der Hütte am Friedhofthor eingeräumt erhalten, die den Tag über für fremde Leute wusch und nähte, die arme Frau weinte auch des Nachts nicht in schlaflosen Stunden. Ihr Kind war gesund – ich frage alle Mütter: warum hätte Miriam Goldstein weinen sollen?!

So kamen und gingen die Tage. Die kleine Lea ward vierjährig und spielte den Sommer über auf den Grabhügeln, und schlüpfte still, aber fröhlich unter den Holunderzweigen hindurch und unter der Wäsche, welche die Mutter an langen Stricken über den Gräbern zum Trocknen aufgehängt hatte.

Dann aber kam der Herbst und die kühlen, feuchten Abende. Es dämmerte früh, die arme Frau kam erst immer in der Dunkelheit heim, und das Kind wartete so lange geduldig in der Kammer. Es wußte ja doch, daß endlich draußen der wohlbekannte Schritt klingen müsse, und dann that sich die Türe auf und die Mutter rief »Lea!« und das Kind stürzte in die ausgebreiteten Arme. Dann machte die Mutter Licht und Feuer und kochte für sich und das Kind eine warme Suppe.

Aber einmal, an einem trüben kalten Septemberabende, war es nicht so. Wohl kam die Wäscherin heim und rief den Namen ihres Kindes, aber es kam ihr nicht entgegen. Die Frau machte zitternd Licht. Die Stube war leer. »Lea!« rief die Mutter noch einmal laut, gellend. Keine Antwort. Sie ließ die erhobenen Hände wie gelähmt sinken. Dann raffte sie sich auf und stürzte in die Wohnstube ihres Nachbars, des Totengräbers, der einst der Gehülfe ihres Mannes gewesen und nun selbständig das Ämtchen [144] versah. »Mein Kind!« schrie sie, »wo ist mein Kind?!« Der Mann und sein Weib sahen die arme Miriam an, als wäre sie wahnsinnig. »Woher sollten wir's wissen?« fragten sie endlich zögernd. – »Es ist verschwunden, helft, helft!« jammerte die Verzweifelte und stürzte hinaus in die Nacht, auf den Friedhof.

Des Totengräbers Weib lief suchend auf die Heerstraße gegen das Städtchen zu, ihr Mann folgte der armen Mutter. Er kannte sich sehr gut aus unter den Hügeln und den Steinen, aber er vermochte Miriam nicht einzuholen. Wie ein gehetztes Wild eilte sie über Stock und Stein, bald stieß sie sich an einem Grabstein, bald stolperte sie über eine Baumwurzel, aber vorwärts rannte sie und kreuz und quer, und schrie in Todesangst immer wieder den Namen ihres Kindes. Der Mann kannte diesen Ort und alle Schrecken dieses Ortes waren ihm ein Alltägliches, und dennoch sträubte sich sein Haar vor Entsetzen, als er so in dunkler Nacht über die Gräber lief, und der Notschrei des Weibes immer wieder an sein Ohr schlug. So näherten sich Beide der Stelle, wo der Friedhof von dem Flußbett begrenzt wird, von dem Bett des tiefen, langsam und träge dahin flutenden Sered. »Der Zaun ist schadhaft,« flüsterte der Mann vor sich hin, er wagte den Gedanken nicht auszudenken.

Aber das Schicksal war barmherzig gewesen. Als die Beiden längs des Zaunes hineilten und Miriam mit fast versagender Stimme den Namen des Kindes schrie, da ward plötzlich hinter einem Grabstein hervor ein dünnes, zitterndes Stimmchen vernehmbar, das »Mutter!« rief. Das kleine Mädchen hatte sich den [145] Tag über müde gelaufen und war von der Dämmerung an der entlegenen Stelle überrascht worden. So hatte es sich denn hingesetzt und war eingeschlafen. Das Kind begriff kaum, warum die Mutter es so hastig empor und an ihre Brust riß, warum sie ihm das kleine Antlitz mit tausend Küssen und Thränen bedeckte. Langsam trug sie es in das Häuschen zurück, der Totengräber folgte ihr; auch er war erfreut, aber dennoch schüttelte er den Kopf und murmelte: »Es hätt' mich nicht gewundert, wenn wir das Kind tot gefunden hätten oder gar nicht. Das ›große Sterben‹ soll ja wieder heranziehen; man sagt, es ist schon bei den Türken ...«

Aber Miriam vernahm diese sonderbaren Worte nicht. Sie trug das Kind in das Stübchen und bettete es da viel weicher, als gewöhnlich, und strich ihm das Haar aus der Stirne und küßte es unzählige Male. Dann ging sie zu den Nachbarn hinüber und dankte ihnen, nach Weiberart, mit sehr vielen Worten. Und darauf kam sie in ihr Stübchen zurück und dankte auch Gott. Das aber that sie mit einem einzigen langen, langen Blick gegen Himmel.

Schlafen konnte sie nicht; so hockte sie denn neben der kleinen Lagerstatt hin und blickte ihr schlafendes Kind an. Aber Himmel! was war das?! Dem armen Weibe gerann das Blut wieder zu Eis. Das sonst so bleiche Antlitz des Kindes war fieberhaft gerötet, die Atemzüge gingen schwer und röchelnd, die Hände und die Füßchen waren kalt und der Kopf glühend heiß. »Lea, bist Du krank!« rief die Mutter, »sprich, mein Leben!« Das Kind öffnete beim Klange der[146] wohlbekannten Stimme die Augen: sie waren nicht glanzlos wie sonst; ein fremdes, unheimliches Feuer glühte in ihnen. »Mich friert!« stammelte das Kind, dann schloß es wieder die Augen und die Händchen griffen in krampfhaftem Zucken an der Decke umher.

»Das Kind stirbt! ...« Die Witwe sprach es nicht aus, aber sie fühlte, wie ihr der Gedanke riesengroß über Seele und Körper kam, daß sie kein Glied zu regen vermochte. Dann aber ermannte sie sich, riß das dünne Tuch von den Schultern und ihr Feiertagskleid aus der Truhe und deckte Beides über das Kind. Es fror sie heftig, ihre Zähne schlugen aneinander, aber was achtete sie das? Sie stürzte wieder zur Nachbarstube und rüttelte an der verschlossenen Thüre. Die arme Frau wollte ihren Nachbar bitten, herüberzukommen und zu sehen, was dem Kinde fehle. Denn ein Totengräber versieht unter den Juden jener Landschaft meist noch ein anderes Amt: er wartet die Kranken. Wer den Arzt nicht ruft, ruft doch mindestens den Totengräber. Aber der Mann war in das Städtchen gegangen, um die Nachtwache bei einem eben Verstorbenen zu halten, bei dem reichen Moses Freudenthal. Nur sein Weib kam und wachte mitleidig mit der Witwe. »Es ist nur ein Fieber,« tröstete sie, »das Kind hat sich erkältet. Es ist nur ein gewöhnliches Fieber, seht, nun folgt auf die Kälte die Hitze.« In der That glühte nun der ganze Körper des Kindes und die Mutter mußte alle Decken entfernen. Die Frauen kochten einen Thee aus kräftigen Kräutern, aber davon mochte das Kind nichts nehmen. Langsam, langsam verging die furchtbare Nacht.

[147] Als der Morgen graute, kam der Totengräber von seinem traurigen Amt nach Hause. Er trat an das Lager des kranken Kindes und schüttelte den Kopf. Verzweiflungsvoll rang die Mutter die Hände bei dieser Gebärde und stöhnte leise auf. Der Mann fühlte Mitleid mit ihr. »Es ist nicht gefährlich,« sagte er zögernd. »Das Kind wird wohl wieder gesund werden.«

»Sagt mir die Wahrheit,« bat Miriam, »den Doktor will ich jedenfalls rufen.«

Der Totengräber zuckte die Achseln. »Der Doktor ist in Zalesczyki, seit acht Tagen schon, bei der Assentierung. Aber wär' er auch hier – dem Kind kann kein Doktor helfen!«

»Also muß es sterben?« fragte Miriam leise; sie war dem Umsinken nahe.

»Kein Doktor, mein' ich,« wiederholte der Totengräber langsam, »nur ein frommer Mann, ein Rabbi. Heute um zehn Uhr ist die Bestattung des alten Moses Freudenthal. Da kommt unser Rabbi mit heraus. Bittet ihn, daß er das Kind ansieht und segnet. Er ist ein frommer Mann, vielleicht ist seine eigene Kraft groß genug, zu retten, vielleicht giebt er Euch einen Rat.« Damit ging er hinaus, dem neuen Ankömmling die Stätte zu bereiten. Sein Weib folgte ihm.

»Ich sollt' eigentlich gleich zwei Gräbergraben,« sagte er und stieß den Spaten in die Erde.

»Du meinst das Kind?« fragte sein Weib. »Die arme Miriam – daß Gott behüte ...«

»Ja« erwiderte er, »es thut mir selbst das Herz weh. Aber da giebt es keine Menschenhülfe. Man sagt, das ›große Sterben‹ kommt wieder. Gott will [148] uns verschonen, er nimmt nur das,Kind der Sühne', das wir ihm bestimmt haben.«

»Um Gottes willen!« schrie das Weib auf, »darum soll ein unschuldig Leben vergehen?«

Der Mann zuckte die Achseln. »Was willst Du frömmer sein, als unser frömmster Rabbi? Was willst Du gerechter sein, als der Große Reb Srolce, der Wunderrabbi von Sadagóra, der es so angeordnet hat?!«

Die Frau verstummte ...


*


Was hatte der Wunderrabbi angeordnet? Warum nannten sie dies Kind ein »Kind der Sühne«?!

Unheimlich, riesengroß, ein entsetzlicher Würgengel des Herrn, war im Jahre des Unheils 1831 eine bisher ungekannte Pest über alle Länder gekommen. Man nannte sie die Cholera. Vom fernsten Osten kam sie, in den fernsten Westen drang sie und verödete die Städte und bevölkerte die Grabstätten. Furchtbar lag sie über den schmutzigen, armseligen Städtchen der podolischen Ebene; wie Fliegen sanken Unzählige dahin, und nicht Menschenhände genug gab es, die Toten zu begraben. Kein Heilmittel rettete, keine Lebensweise schützte. Stumpfe Ergebung kam über die Menschen, oder wilde, ingrimmige Verzweiflung. Und Gott ließ es geschehen und von Gott kam keine Hülfe! Sie schrieen zu ihm und er hörte sie nicht ...

Warum? warum?! War es denn nicht ihr Gott, zu dem sie flehten, der Gott ihrer Väter, der Starke, Gerechte, Einzige?! Hatte er keine Ohren mehr, um zu hören, keine Arme mehr, um zu helfen? Warum [149] wütete er plötzlich gegen sein eigen Volk, warum schonte er nicht einmal die Guten und Gerechten?!

Die Gedanken dieser unglücklichen Menschen begannen sich zu verwirren. Für sie gab es ja nur ein Licht in ihrem Leben: ihren Glauben, und dieser Glaube trog sie. Sie faßten es nicht! Da kam über sie ein anderer Gedanke, furchtbar, zerschmetternd und doch zugleich trostvoll. War ihr Gott nicht auch ein Gott der Rache?! War er nicht ein eifervoller Gott, der jeden Frevel grausam, unerbittlich sühnte? Und wenn er heute seine Hand auf Guten und Bösen so fürchterlich lasten ließ, geschah es nicht vielleicht deshalb, weil die Bösen sündigten und die Guten diese Sünden ungeahndet und ungerächt geschehen ließen?

»Reinigen wir uns!« erscholl plötzlich der gellende Ruf durch das unglückliche, verblendete, von Angst und Trauer gepeitschte Volk. »Suchen wir den Frevel auf in unserer Mitte und versöhnen wir durch seine Bestrafung Gottes Zorn!« Und sie reinigten sich.. Ein Volksgericht entstand, ein unheimliches Gericht, das im Dunkel prüfte, im Dunkel entschied, im Dunkel strafte, grausam, grimmig, mit einer Gewalt, der man nicht entrinnen konnte. Es hatte tausend Augen und tausend Arme, und war doch unsichtbar und unfaßbar. Sie »rächten Gottes heiligen Namen«, und in der That mag in jener Zeit manchem Verbrecher, der der Justiz des Staates entronnen war, die Stunde der Vergeltung geschlagen haben. Aber mit wie viel unschuldigem Blute sich die Wahnsinnigen beluden?! Es sind in jenen düsteren Tagen Thaten geschehen, daß das Herz erstarrt, wenn man ihrer gedenkt.

[150] Aber die Seuche ward nur immer furchtbarer und bösartiger. Und nun legten auch die wenigen Ärzte die Hände in den Schoß. Sie konnten nun nicht einmal lindern, geschweige denn erretten ...

Da ließen die Menschen ab, gegen einander zu wüten. Die wachsende Wucht des Unglücks machte sie kleinmütig, ja entsetzlich feig. Sie wagten es nicht einmal mehr, selbst zu Gott zu beten. Ein Anderer, ein Vermittler, sollte es für sie thun.

Zu diesem Fürbitter wählten sie den Rabbi von Sadagóra, einem kleinen Städtchen in der Bukowina. Der Mann hieß ohnehin seiner angeblichen Thaten wegen allgemein der »Wundermann«. Er sollte helfen und erlösen, durch Flehen vor Gott, durch eigene That. Denn er war ja in der Meinung jener Unglücklichen der Mann, aus dessen Geschlecht einst der Erlöser erstehen würde, und es ging die Sage, er trage auf der innern Handfläche das Wahrzeichen des königlichen Stammes Davids, das Abbild des Löwen, seltsam als äußeres Zeichen göttlicher Sendung in die Haut eingegraben. Darum rafften sie Geld und Kostbarkeiten zusammen, und selbst die Armut opferte ihre Habe, den Rabbi zu beschenken und so zur Fürsprache bei Gott zu vermögen. Der uneigennützige Mann versprach zu helfen. »Ihr Alle habt Gott beleidigt,« versicherte er, »Ihr Alle müßt Buße thun.« Und er schrieb Bußtage aus, und pünktlich, schier grausam, ward Fasten und Kasteiung durchgeführt, denn die Angst vor dem Tode wachte über der Erfüllung des Gebots. Es klingt unglaublich, aber es ist wahr, daß in jener Zeit drei Wochen hindurch die gesamte[151] jüdische Bevölkerung jener östlichen Lande nur jeden zweiten Tag Speise und Trank genoß.

Die Folgen sind leicht zu begreifen: über die gemarterten, geschwächten Körper kam die Seuche nur um so rascher. Der Ruf des Rabbi stand auf dem Spiel und damit die Einträglichkeit seines Geschäfts. Er ersann ein anderes Mittel. »Gott am meisten wohlgefällig,« verkündete er, »ist die Vermehrung seiner Gläubigen. Jede Gemeinde statte daher ein oder mehrere Paare aus und vermähle sie – ein Opfer dem erzürnten Gott – auf dem Friedhof.«

Das Mittel hatte verschiedenen Erfolg. In manchen Orten bewirkte die Ansammlung der Menschen auf dem Friedhof, die Schwelgerei bei dem Hochzeitsmahl, nur noch ein Wachsen der Seuche. Anderwärts aber schadete das wahnsinnige Mittel nicht, weil das »große Sterben« ohnehin im Abnehmen war, und bald darauf erlosch dieses.

Das Mittel blieb in Erinnerung. Und als das Jahr 1848 herankam mit all' seinem Freiheitsjubel und all' seinen Todesnöten, und als auch das »große Sterben« wieder herangeschlichen kam durch die Steppen des Ostens, da griffen die Geängstigten wieder zu jenem Mittel, und allerorts gab es wieder solche schauerliche Hochzeitsfeste.

Also war es auch in Barnow. Das arme Paar, das dort – ohne gegenseitige Neigung, durch den Willen der Vorsteher– erwählt, mit kümmerlichem Heiratsgut bedacht und dann mitten zwischen den frischen Gräbern getraut wurde, war Nathan Goldstein, der Totengräber, und Miriam Roth, die blutarme Waise, die im Hause des Gemeindevorstehers als [152] Magd diente. Sie sahen sich eigentlich zum ersten Male recht an, als sie bereits unter dem Trauhimmel standen. Aber die Ehe, die so plötzlich, in so gräßlicher Umgebung, zu so traurigem Zweck geschlossen worden, war dennoch still und friedlich. Der Knecht und die Magd – wer wußte besser als diese den Segen des eigenen Hausstands zu schätzen?

So lebten Nathan und Miriam glücklich miteinander und zwei Kinder wurden ihnen geboren. Der erste große Schmerz kam über sie, als die beiden Kinder plötzlich rasch hinter einander starben. Das war im Jahr 1859. Aber freundlichen Ersatz wollte Gott ihnen gewähren: im Frühling desselben Jahres fühlte sich Miriam wieder Mutter.

Als aber der Sommer jenes Jahres ins Land kam, da kam auch wieder jener entsetzliche Würgengel aus Osten geschritten und wieder hielt er fürchterliches Gericht über die verwahrlosten jüdisch-polnischen Städtchen der großen Ebene.

Barnow blieb verschont. Hier fiel nur ein einziges Opfer: Nathan, der Totengräber. Grenzenlos war der Schmerz der Witwe, die nun in ihrem Zustand doppelt hülflos war. Aber die Gemeinde jubelte über den glücklichen Verlauf der großen Krankheit, und als diese auch rings im Lande erloschen war, sandte sie die Nachricht davon mit Danksagungen und Geschenken nach Sadagóra, an den Sohn des Wundermanns, der des Vaters Geschäft geerbt hatte. Die Geschenke nahm der Rabbi an, die Danksagungen ließ er sich gefallen, und als ihm die Abgesandten von dem einzigen Todesfall berichteten, versicherte er: »Ihr war't [153] Gott wohlgefällig, darum ließ er die Seuche vor elf Jahren, kaum daß Ihr daß Opfer gebracht, erlöschen. Aber die Menschen, die Ihr so gütig bedacht, waren ihm nicht wohlgefällig. Darum ließ er die Kinder sterben und dann – ein Sühnopfer für Euch Alle – den Mann. Und wenn das Weib wieder ein Kind gebärt, so wird auch dies Kind nur darum leben, um dereinst ein Sühnopfer für Euch alle zu sein.«

So sprach der Rabbi, denn die Witwe eines Totengräbers kann keine Geschenke geben. Die Männer aber kehrten heim und verbreiteten den Spruch unter den Leuten. Auch Miriam hörte davon und weinte blutige Thränen darüber. Dann aber hatte sie keine Zeit mehr dazu; sie mußte arbeiten, um mit ihrem Kinde nicht zu verhungern.

So vergingen die Jahre und es kam der Herbst heran, der trübe Herbst von 1863. Die Polen hatten sich erhoben gegen das große Volk des Ostens, und unheimliches Gerücht ging durch die Lande, daß auch jener Würgengel wieder erwacht sei, der gräßliche Bruder und Gefährte des Krieges. Und darum glaubte der Totengräber nicht, daß das arme »Kind der Sühne«, die kleine Lea, gerettet werden könne ...


*


Das Begräbnis des Moses Freudenthal war vorüber. Er war ein sehr alter Mann gewesen, ganz vereinsamt; an seinem Sarge war keine Klage, die wenigen Begleiter gingen rasch auseinander. Auch der alte Rabbi des Städtchens wandte sich zum Gehen. Auf diesen Augenblick hatte die Witwe von ferne demütig geharrt. Nun trat [154] sie dem Rabbi in den Weg und bat ihn, nach ihrem Kinde zu sehen. Sie fügte kein flehendes Wort hinzu, aber in ihrer Stimme und dem Blick ihrer Augen lag etwas, das dem alten Manne unwillkürlich ans Herz griff. Gleichwohl zögerte er einen Augenblick. Dieses Weib war ihm peinlich, war sie doch Gott nicht wohlgefällig! Und was nun gar vollends das Kind betraf, dieses »Kind der Sühne« ...

Aber er trat doch in das Häuschen und in die Kammer. Dann beugte er sich über das Lager des kranken Kindes und sah es lange an. Sein Antlitz war streng und herb, als er sich wieder aufrichtete.

In tödlicher Angst harrte die Mutter seines Ausspruchs. Aber der alte Mann schwieg und schickte sich zum Gehen an.

»Wollt Ihr das Kind nicht segnen?« fragte das Weib des Totengräbers.

»Frau,« erwiderte der Rabbi dumpf, »dem Kinde hilft kein Segen. Und dann ... ich thue es nicht, es wäre ein Eingriff in den Willen des Allmächtigen.«

Mit einem Schrei stürzte die Mutter an das Lager und umschlang das fiebernde, bewußtlose Kind, als wollte sie es gegen jede fremde Hand schützen, selbst gegen Gottes Hand. Dann rief sie gellend: »Warum, Rabbi, warum?«

Der alte Mann sah sie finster an, dann suchten seine Augen wie verlegen den Boden. »Du weißt,« sprach er zögernd, »warum Du Deinem Manne angetraut worden bist. Du weißt, warum er gestorben ist, und welche Folgen sein Tod brachte. Du weißt, welche Worte der große Rabbi von Sadagóra über Dich und [155] Dein Kind gesprochen hat. Nun ... und ... und das große Sterben zieht wieder heran ...«

Das Weib verstand ihn. »Ah!« schrie sie auf, es war ein unbeschreiblicher, schriller Laut des Jammers und des Zornes. Mit glühenden Augen, mit flammendem Antlitz richtete sie sich langsam vom Lager empor, bis sie dem Rabbi dicht gegenüberstand. Und so, Aug' in Aug' zischte sie's ihm ins Antlitz: »Du lügst, Rabbi, Du lügst! Mein Kind wird nicht sterben! ... Gott ist weise, milde, gerecht, Du aber, Du und Ihr Alle, Ihr seid es nicht! Gerecht wollt Ihr sein und könnt verlangen, daß ein unschuldig Kind für Eure Sünden büße?! Milde wollt Ihr sein und wünscht Eurem Nächsten den Tod?! Weise wollt Ihr sein und könnt glauben, daß Gott das zulassen wird, unser guter, starker, gerechter Gott?!«

Wild griff sie sich an die Stirne, wankte und sank besinnungslos zusammen.

»Gott mag entscheiden zwischen mir und ihr,« murmelte der alte Mann und verließ die Stube.


*


Ein Tag und eine Nacht waren vergangen und es schien, daß Gott bald entscheiden werde zwischen der armen Frau und dem Rabbi. Es schien, daß er für den Rabbi entscheiden wolle, für den Wundermann und die harten, thörichten Menschen. Als der Morgen des zweiten Tages grau durch die Fenster der Kammer lugte und die Nachtlampe hin und her schwankte im Hauch des kalten Herbstwinds, der durch alle Sparren drang, da [156] flackerte auch das junge Leben nur noch wie ein verlöschendes Kerzlein vor dem eisigen Hauch des Todes.

Die Mutter weinte nicht mehr. Der tröstende Quell der Thränen war ihr versiegt. Mit starren, trockenen Augen kauerte sie neben dem Krankenlager. Nur zuweilen, wenn Fieberschauer den Leib des Kindes durchrüttelten, ächzte sie leise auf. So vergingen die Stunden, es wurde Tag und die Stube füllte sich mit Besuchern. Zahlreiche Weiber gingen aus und ein, aber auch einige Männer kamen. Vielleicht gab es auch solche darunter, die das Mitleid zum Besuch bewog, die Meisten aber trieb ein Gefühl hierher, das aus Selbstsucht und Grauen gemischt war. Stumpf und gleichgültig sah Miriam zu, wie sie kamen und gingen. Nur einmal erhob sie sich und schrie wild auf: »Geht! geht! Es ist noch nichts zu sehen, das Kind stirbt noch nicht!« Darauf schlichen die Leute stumm hinaus.

Am Nachmittag hielt ein Wagen vor der Hütte am Friedhof. Es war die »Britschka« des Gemeindevorstehers und eine sehr alte Frau saß darin. Man hob sie vorsichtig herab, und da die Greisin ohne fremde Hilfe nicht mehr gehen konnte, so mußte man sie in die Stube tragen. Das war Sara Grün, die Witwe des erschlagenen Simon Grün und die Mutter jener Frau Hanna, deren Geschichten man so gerne hörte. Hanna war sechzig-, sie aber achtzigjährig, und wie jene überall »Babele« hieß, so ward Frau Sara »Urbabele« (Urgroßmutter) genannt von Allen im Städtchen, von Großen und Kleinen, Christen und Juden, und es gab Niemand, der sich nicht vor ihrem [157] Alter, ihrer Weisheit und Frömmigkeit ehrfurchtsvoll beugte. In ihrem Hause hatte einst Miriam als Magd gedient und die alte Frau hatte sie sehr lieb gewonnen. Darum ließ sie sich jetzt, trotz des Widerstrebens der Ihrigen, nicht abhalten, selbst zu kommen.

Man trug sie in die Stube und setzte sie da auf einen Sessel hin. Die Witwe sah gleichgültig auf, dann belebte sich ihr Blick. »Urbabele« schrie sie auf und stürzte der Greisin zu Füßen. »Urbabele ... Gott lohn' es Euch ...«

Sie sprach nicht aus; Schluchzen erstickte ihre Stimme, nun konnte sie wieder weinen. Leise fuhr die Greisin mit der zitternden Hand über das verhärmte Antlitz der Knieenden. »Sprich nichts,« sagte sie, »ich kenne Deine Trübsal, sie haben mir Alles berichtet ... Sprich nichts! Hör' an, was ich Dir sagen muß, hör' mich ruhig an ...«

Aber dann konnte sie selbst die Thränen nicht zurückhalten, und sie rannen über ihr blasses, ehrwürdiges Antlitz, als sie weiter sprach: »Ich weiß nicht – ich bin nur eine alte Frau, meine Füße wollen mich nicht mehr tragen – auch mein Kopf wird schon schwach, aber ich glaube, es ist ein groß Unrecht, wenn wir Dein Kind so sterben lassen. Ja – ein groß Unrecht. Und darum glaube ich auch, das kann nicht der Wille Gottes sein, und darum auch nicht der Wille des großen Rabbi von Sadagóra, denn er ist vom Geiste Gottes beschattet ...«

Die alte Frau hielt einen Augenblick inne und schüttelte den Kopf, als wollte sie einen Gedanken bekämpfen, der ihr heimlich aufgestiegen. Dann fuhr sie fort: »Ja, gewiß, er hat Wunder gethan; Gottes Geist spricht [158] aus ihm. Und er hat nun einmal das Wort über Dich und Dein Kind ausgesprochen, und wir müssen uns an sein Wort halten. Hörst Du, ob wir wollen oder nicht, wir müssen... Denn wenn wir an dem Einen zweifeln, so zweifeln wir an Allem ... Und darum hat auch unser Rabbi die harten Worte nicht verdient, die Du gestern zu ihm gesprochen hast ...«

»Oh, wenn Ihr wüßtet ...«

»Sprich nicht!« Die alte Frau schrie es förmlich, als träfe sie jedes Wort der Witwe ins Herz. »Sprich nicht, entschuldige Dich nicht, Du brauchst keine Entschuldigung! Mein Gott, wer könnte Dich darum anklagen – es ist ja ein Kind! Mein Gott, ich bin ja auch eine Mutter ... Aber höre, was der Rabbi gesprochen hat, kann nur er allein zurücknehmen – verstehst Du mich?! ... Ich hab' meinen armen alten Kopf zerquält, ich hab' keinen andern Ausweg gefunden ... Fahre nach Sadagóra und erbitte Dir dort das Leben Deines Kindes!«

»Ich soll das Kind in seiner Krankheit verlassen?« schrie Miriam auf.

»Ich will für die beste Wartung sorgen,« versicherte die Greisin. Und die Frau des Totengräbers fügte hinzu: »Ich will Dein Kind pflegen, als wäre es mein eigenes.«

»Muß es denn sein?« rief die unglückliche Mutter wieder.

»Es muß sein,« erwiderte die Greisin fest. Dann aber setzte sie leise und schwankend hinzu: »Es scheint wenigstens, daß es so sein muß. Ach, nur Gott allein [159] weiß das Richtige. Ach, Miriam, wenn Du wüßtest, wie viel ich gedacht und gelitten hab' um Dich und Dein Kind! Achtzig Jahr bin ich alt geworden, und nie ist mir ein Zweifel gekommen an Gott oder an dem Wort seiner Weisen. Und nun erst habe ich fragen müssen: Ist es auch recht so?«

Dann richtete sie sich wieder auf, und sprach fest, ja befehlend: »Miriam, Du mußt zum Rabbi fahren. Morgen in aller Frühe fährt Simon der Kutscher mit zwei Frauen nach Czernowitz. Er wird Dich bei Sadagóra absetzen. Ich werd' einen Platz im Wagen für Dich mieten, und hier hast Du auch Geld für Zehrung und Rückweg. In drei Tagen kannst Du wieder zurück sein; ich bin überzeugt, Du findest Dein Kind auf dem Weg zur Besserung. Willst Du es thun, Miriam? Es geht um die ganze Gemeinde, doch – das hat Dich nicht zu kümmern, aber es geht um Dein Kind – Miriam, willst Du es thun?«

Die arme Frau rang einen harten Kampf. Ihr Gottvertrauen hatte sie belogen, das Kind war immer schwächer geworden. Und der Ertrinkende greift auch in die Schneide des Schwertes, um sich zu halten. So gab das Weib nach, den Menschen, welcher sie verflucht hatte, um Schonung anzuflehen.

»Ich will's thun!« versprach sie endlich. Es klang wie ein Weheruf.


*


Und sie that es. Am nächsten Morgen fuhr sie im Wagen Simon des Kutschers mit den beiden anderen Frauen aus dem Städtchen und hinaus auf die Straße, die gegen [160] Süden führt, in die Bukowina. Wie sie von ihrem Kind Abschied genommen, wie ihr dabei ums Herz gewesen – es soll hier nicht beschrieben werden ...

Die Sonne stieg empor, eine kalte, matte Spätherbstsonne und sie schien herab auf das öde, flache Gelände und auf das armselige Gefährt, das mühsam dahinschlich im tiefen Kot der Straße. Dann zogen sich die Wolken zusammen, eine graue Riesendecke über der traurigen, schmutzig braunen Ebene, und die Decke ward immer dunkler und senkte sich immer tiefer herab, und dann begann zu regnen. Lau und schwach, aber unablässig ging der Herbstwind über die Ebene, wie ein Seufzer. Nur manchmal ward er stärker und rüttelte an der Leinwanddecke des Wagens.

Langsam krochen die Pferde dahin auf der breiten, verwahrlosten Straße, vorüber an entlaubten, triefenden Bäumen, an nebelumschleierten Weihern, an ärmlichen Dörfern, die doppelt trostlos erschienen im Lichte dieses trostlosen Tages. An mancher Stelle war der Grund der Straße klaftertief aufgeweicht und der Wagen blieb ganz stecken. Dann stiegen Simon und die drei Frauen ab und mühten sich, ihn wieder flott zu machen. Miriam war sicherlich die schwächste unter ihnen, aber sie arbeitete am meisten. Nur dann zeigte es sich, daß sie bei Besinnung war. Denn die übrige Zeit lag sie wie schlafend, mit geschlossenen Augen, in ihrer Ecke und Fieberschauer durchrüttelten sie.

O, wie sie litt! Sie hielt die Augen geschlossen, aber klar, furchtbar klar und quälend standen ihr entsetzliche Bilder vor der Seele. Das Lager ihres Kindes [161] sah sie, und wie das arme kleine Wesen seine Ärmchen nach ihr ausstreckte. Eine Gestalt beugte sich über das Lager; die Frau des Totengräbers; aber nein! das war nicht die Frau, das war eine Gestalt in weißen, wallenden Gewändern, mit einem blutlosen, furchtbar ernsten Antlitz: der Todesengel ... Und wieder war es ihr, als stehe sie vor dem großen Rabbi in Sadagóra, dem finsteren, harten Manne, und flehe ihn an, o so innig, wie nur eine Mutter flehen kann für ihr Kind, aber er weise sie fort mit harten Worten und sie komme zurück und finde ihr Kind unter der Erde! ... Und wieder war es ihr, als habe er sich ihr freundlich zugeneigt und gesagt: »Ich gestatte, daß dein Kind lebe!« und sie sei heimgekehrt und habe ihr Kind dennoch tot gefunden, tot ...

O, wie sie litt! ... Immer und immer und unablässig ging der laue Herbstwind über die Heide. Aber war es wirklich nur der Wind, der so klagend dahinstrich?! Wie sich das Seufzen nun stärker erhob, da verstand sie es auf einmal, das war die Stimme ihres Kindes, das nach ihr rief: »Mutter! ... Mutter!« Das war die Stimme Lea's, und die Mutter hatte sie allein gelassen in ihrer schwersten Stunde, unter den Händen fremder Leute. »Mutter! ... Mutter!«– »Habt Ihr nichts gehört?« schrie die Brütende wild auf und faßte angstvoll nach der Hand der Frau, die neben ihr saß ...

Gegen die zweite Nachmittagsstunde hielt der Wagen bei einer großen, einsamen Schenke, die auf dem Wege zwischen Tluste und Zalesczyki liegt. Hier sollte kurze Rast gehalten werden. Vor dem Thore[162] hielt eine elegante, aber arg mit Kot beschmutzte Reisekalesche; die schönen, feurigen Rappen wurden eben wieder angeschirrt. »Miriam, wir bleiben hier zwei Stunden,« sagte der Kutscher. Und die Weiber setzten mitleidig hinzu: »Kommt, Miriam, steigt aus, Ihr müßt wenigstens eine warme Suppe essen, Ihr werdet sonst ernstlich krank.« Die Frau gehorchte und trat mit den Anderen in die große Wirtsstube. »Ichdarf nicht krank werden,« sagte sie laut vor sich hin.

Der große Raum mit den grauen, triefenden Mauern und dem schmutzigen, schlüpfrigen Lehmboden war leer. Nur an einem Tischchen nahe dem Fenster saß ein junges, schönes Paar in eleganter Reisekleidung, ein blonder Mann, nahe den Dreißig, mit milden, aber energischen Zügen, und eine schöne, junge Frau mit dunklem Haar und blitzenden braunen Augen in dem frischen, mutwilligen Gesichte. Es waren offenbar Neuvermählte, das sah man an ihren Blicken und der fröhlichen, seligen Art, in der sie sich beim Speisen neckten. Sie nahmen ein sehr ärmliches Mahl ein, es bestand aus Brot und Eiern. Die vornehmen Reisenden hatten wohl die etwas eigentümliche Kost des Landwirtshauses verschmäht.

Die drei Frauen setzten sich in eine Ecke. »Das ist der Herr Oberförster von unserer Frau Gräfin,« zischelte die eine Frau der anderen zu, »er hat sich seine junge Frau aus Czernowitz abgeholt und fährt nun wahrscheinlich nach Barnow zurück.« – »Nach Barnow?« fragte Miriam hastig. Dann aber sank sie matt auf ihren Sitz zurück; sie mußte ja nach Sadagóra!

[163] Die Weiber bestellten Suppe und auch Miriam nahm wenige Löffel davon. Dann aber schob sie ihren Teller zurück. Eben trat Simon, der Kutscher, in die Stube, auf den ging sie zu. »Ich bitt' Euch!« bat sie, »müssen wir so lange hier bleiben?«

»Ja, wegen der Pferde,« erwiderte er, »bis vier Uhr.«

»So lange?« seufzte sie. »Wie viel Meilen sind wir denn schon von Barnow?«

»Drei Meilen, der Weg ist so schlecht.«

»Drei Meilen!« wiederholte sie erschreckt. »Wann kommen wir da nach Sadagóra?«

»Übermorgen gegen Mittag.«

»Übermorgen!« schrie sie auf. »Da komm' ich ja nicht vor sechs Tagen wieder zurück. Und der Sabbath kommt dazwischen! Also sieben Tage, eine volle Woche! O mein Gott! o mein Gott!«

Sie setzte sich wieder in ihre Ecke und preßte die Hände vors Antlitz. Aber es nützte ihr nichts, daß sie die Augen schloß und die Finger auf die Lider preßte: sie sah doch all' die furchtbaren Bilder wieder, die sie auf der Heerstraße gequält hatten. Und wieder vernahm sie von fernher und durch die Mauern des Hauses hindurch den zitternden Ruf: »Mutter! ... Mutter!«

Die Reisenden hatten das Zwiegespräch mit dem Kutscher angehört, sie sahen das Weib zu ihrem Sitze wanken und riefen Simon herbei.

»Was ist's mit dem Weibe?« fragten sie.

Simon lüpfte ehrfurchtsvoll seinen Hut und berichtete dem Herrn Oberförster, was er von der Sache[164] wußte. Als er geendet hatte, sahen sich die beiden Gatten lange schweigend an. »Es ist entsetzlich, Ludmilla,« sagte endlich der Oberförster. »So ein Aberglaube!«

»Es ist entsetzlich, Karl,« wiederholte die junge Frau. Aller Mutwille war aus dem blühenden Gesichtchen verschwunden, mit warmem Mitleid sah sie nach dem armen Weibe. Miriam saß noch immer bewegungslos da, die Hände fest auf das Antlitz gepreßt. Fieberschauer machten ihren Körper erbeben, aber stärkere Schauer durchrüttelten ihre Seele.

Der Herr zahlte seine Zeche, dann trat sein Kutscher ein und meldete, die Pferde seien eingespannt, und die jungen Ehegatten legten ihre Oberkleider an. Aber sie gingen nicht; unschlüssig blieben sie stehen. »Karl,« begann zögernd die junge Frau. – »Du meinst, Ludmilla?« – »Das arme, arme Weib!« – »Ja, Ludmilla, es ist ein Elend ...«

Und wieder blieben sie unschlüssig stehen. Miriam ließ die Hände sinken. Langsam, wie erwachend, strich sie sich über die Stirne. Dann, als sie die beiden Reisenden schon zum Gehen bereit sah, erhob sie sich rasch und schritt auf sie zu.

Vor der Frau blieb sie stehen, unendlich flehend blickten ihre Augen, sie faltete ihre Hände, wie man sie vor Gott faltet, aber sprechen konnte sie nicht ...

Die Augen der schönen Frau hatten sich mit Thränen gefüllt, als sie in dieses totbleiche, gramerfüllte Antlitz sah. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte sie.

»Nach Barnow,« stammelte Miriam, »nehmt mich nach Barnow mit.«

»Gern,« erwiderte die junge Frau. »Kommen Sie nur, wir nehmen Sie gern mit.«

[165] »Und der Rabbi?« riefen die beiden Judenweiber. »Ihr wollt nicht zum Rabbi?« Und Simon der Kutscher klagte: »Was wird die Gemeinde sagen?«

Miriam richtete sich auf. »Mögen sie sagen, was sie wollen,« sprach sie, »es ist mein Kind – ich muß zu meinem Kinde!« Aber dann verließen sie wieder die Kräfte und der vornehme Herr und sein Kutscher mußten sie fast zum Wagen tragen. Sie setzten sie in den Fond neben die junge Frau, der Herr nahm gegenüber Platz. Die arme Miriam merkte diese Güte gar nicht und bedankte sich nicht. Nur als der Herr dem Kutscher zurief: »Fahr' zu, was die Pferde laufen können!« da blickte sie ihn demütig dankbar an.

So saß sie still neben den beiden fremden Herrschaften im Wagen, und nur zuweilen erhob sie sich ungeduldig, als ginge ihr die Fahrt noch zu langsam. Aber diese ging sehr rasch und es war noch Tag, als sie in das Städtlein einfuhren. Die Leute auf der Straße blieben verwundert stehen, als sie die seltsame Gesellschaft im Wagen gewahrten, und steckten die Köpfe zusammen. Die junge Frau wurde rot. Aber ihr Gatte schüttelte den Kopf. »Was kümmert's uns?« sagte er. Und als sie an dem großen Standbilde der Muttergottes vorüberfuhren, das vor dem Kloster der Dominikaner steht, da kam ihm ein seltsamer Gedanke. Er sagte leise vor sich hin: »Sie hieß auch Miriam und war ein armes Judenweib, und auch ihr Mutterherz durchbohrten die Schmerzen.«

In der Dämmerung hielten sie vor der kleinen [166] Hütte am Friedhof. Rasch sprang Miriam ab. »Gott lohn' es Euch,« stammelte sie atemlos.

»Habt Ihr einen Arzt?« fragte der Herr.

»Nein,« erwiderte sie. »Der Stadtdoktor ist fort – zur Assentierung.«

»So schicke ich Euch den herrschaftlichen Wundarzt vom Schlosse,« rief er ihr noch nach.

Sie hörte es aber nicht mehr. Sie war schon drinnen in der Stube. Das kranke Kind war allein. Eine Lampe warf ihren Schein auf sein hochrotes, über und über mit Schweiß bedecktes Gesichtchen. Es war aber nur mit einer ganz dünnen Decke umhüllt. Rasch langte Miriam einige Kleider hervor und deckte das Kind zu. »Der Schweiß,« jubelte sie, »das ist ein Zeichen der Rettung.«

Gleich darauf kam die Frau des Totengräbers. Sie war sehr erstaunt, als sie Miriam erblickte, aber sie wagte es nicht, ihr darüber einen Vorwurf zu machen. »Dem Kinde war so heiß,« meldete sie nur, »da habe ich alle Decken entfernt.«

»Das war nicht gut,« meinte die Mutter, »man darf den Schweiß nicht vertreiben.« Dann kauerte sie am Lager nieder; ihr war's, als müßte nun Alles wieder gut werden.

Eine Stunde später hielt ein Wagen vor dem Hause. Ein fremder Mann trat ein; es war der Wundarzt vom Schlosse. Er sah das Kind an, fühlte nach seinem Pulse und deckte es sorgsam wieder zu. Dann ließ er sich von den Frauen die Ursache und alle Zeichen der Krankheit erzählen. »Es war eine große Gefahr,«[167] meinte er, als sie geschlossen hatten, »nun ist sie vorüber. Ein großes Glück ist, daß Ihr so richtig den rettenden Schweiß erkannt und das Kind sorgsam zugedeckt habt.«

Miriam's Augen glänzten. »Und wenn das nicht geschehen wäre?« fragte sie.

Der Arzt sah sie erstaunt an. »Wie Ihr sonderbar fragt ...«

»Antwortet!« rief sie, »ich bitt' Euch, Herr Doktor!«

»Nun,« meinte er ohne Besinnen, »dann wäre das Kind sicherlich oder mindestens höchst wahrscheinlich gestorben.«

»Gott, ich danke Dir!« rief Miriam. Und stolzen, leuchtenden Blicks rief sie der Nachbarin zu: »Wollt Ihr noch behaupten, ich sei von Gott verflucht, ich, an der er soeben ein starkes Wunder vollbracht hat? Ein Wunder war's, daß die guten Herrschaften gerade in derselben Stunde in das Wirtshaus gekommen sind – ein Wunder, sonst wäre mein Kind verloren gewesen!«

Das Kind genas.

Und die Leute von Barnow? Hätten sie ahnen können, daß es nur die Liebe war, die Mutterliebe, die hier dem Hasse entgegen getreten war und ihre heilende, erlösende Kraft geübt hatte, sie hätten wohl nicht aufgehört, der Witwe und ihrem Kinde zu grollen. Aber hier war ja ein sichtliches »Wunder Gottes« geschehen! Und ein Wunder, das Gott selbst thut, das allein ist mächtiger, als eine Satzung des Wunderrabbi!

[168]

Esterka Regina

Esterka Regina! Wir nannten sie alle so, wir jungen Schüler, wenn wir in den Sommerferien von den Gymnasien zu Tarnopol oder Czernowitz heimkamen in das Städtchen, und später, wenn wir als Studenten in Wien zeitweilig zusammentrafen und von den Mädchen von Barnow sprachen, da nannten wir sie wieder mit diesem stolzen, klingenden Namen. Sie hieß aber in Wahrheit Rachel Welt und später, als sie den magern Chaim, den Ochsenhändler, geheiratet hatte, Rachel Pinkus, und war ein armes, schüchternes Mädchen aus der Judengasse zu Barnow. In dem kleinen Häuschen neben der jüdischen Schlächterei wohnte sie, und ihr Vater, Hirsch Welt, war ein Fleischhauer, ein sehr dicker und seiner Grobheit wegen verrufener Mann.

Aber das hinderte uns nicht, aus der Ferne für sie zu schwärmen, und die Elegants von Barnow thaten dasselbe aus der Nähe. Die ledigen Herren vom Bezirksgericht promenierten in ihren Freistunden nicht im gräflichen Garten, wo es so viel frische Luft und Blumenduft gab, sondern in der kleinen Gasse vor der Schlächterei, wo wenig frische Luft war und durchaus [169] kein Duft. Und die Offiziere der Garnison konnten sogar stundenlang zusehen, wie Hirsch Welt mit sei nem Messer streng noch den Gesetzen des Talmuds hantierte. Und das Alles, um einen Blick zu erhaschen aus den leuchtenden Augen der Esterka Regina!

Der Name paßte prächtig und war garnicht überschwänglich, obwohl ihn ein Poet erfunden hatte. Dieser Poet war der junge Herr Thaddäus Wiliszewski, ein sehr hoffnungsvoller Mensch, der immer eine verschossene Czamara trug und lange Haare, und eine Menge Verse machte, teils zum Hausgebrauch, teils für die Krakauer Damen-Zeitung. Dieser Herr Thaddäus also hatte, als er die Rachel Welt zum ersten Male sah, wie sie in ihrem ärmlichen Sabbathkleide am Flusse spazieren ging, entzückt ausgerufen: »Jetzt verstehe ich die Bibel! So hat die Esther ausgesehen, die dem Perserkönig den Kopf verdrehte und den Haman an den Galgen brachte, und jene andere Esther, die unseren guten König Kazimirz, den Bauernfreund, bewog, den Juden in Polen eine Freistatt zu geben, nachdem diese klugen Deutschen sie bei Zeiten fortgejagt hatten. Das ist Esterka, die Königin!« Und von da ab nannten sie alle gebildeten Menschen in Barnow nur Esterka Regina.

Dieser Name war nicht überschwänglich, ich wiederhole es. Vielleicht wäre es das Beste, ich begnügte mich mit dieser Versicherung. Denn wenn ich auch hinzufüge, daß ihre Augen tief, dunkel und leuchtend waren, wie das Meer in Sternennächten, und ihre Haare schwarz und duftig, wie die Nacht des Südens, und das Lächeln ihres Gesichts wie ein Frühlingstraum – Ihr könnt ja [170] deshalb doch nicht ahnen, wie schön sie war! Ich weiß es ich kannte sie. Aber tiefe Wehmut überkommt mich bei dem Gedanken an diese Schönheit. Denn sie war kein Segen für das arme, holde Kind. Die schöne, königlich schöne Esterka ist sehr unglücklich gewesen. Jetzt ist sie es nicht mehr, schon seit langen Jahren. Jetzt ist sie glücklich. Da liegt sie draußen am »guten Orte« und schläft. Dort haben sie an einem Frühlingstage vor langen Jahren das schöne, bleiche Weib zur Ruhe gelegt. Sanft und gut mag sie ruhen, denn ihr Unglück war noch größer als ihre Schönheit, und sie hat im Leben viel gelitten. Im Totenschein stand, die Rachel Pinkus sei einem Herzleiden erlegen. So war es auch wirklich, sie ist an gebrochenem Herzen gestorben.

Das ist eine Krankheit, die seltener ist, als man so hört und liest. Es sterben nur sehr wenige Menschen daran, und die am lautesten klagen, sie seien unrettbar diesem Tode verfallen, leben gewöhnlich noch sehr lange und sterben schließlich an Altersschwäche oder Überladung des Magens. Die Rachel hat mit keinem Wort, mit keinem Seufzer geklagt. Sie ging im Haufe umher und schaffte rüstig, so lange sie konnte. Und als sie es nicht mehr konnte, da schrieb sie noch zitternd einen langen Brief in hebräischen Schriftzeichen und siegelte ihn zu und wankte damit ins Posthaus. Dort bat sie den Schreiber, in deutschen Lettern die Adresse auf den Brief zu setzen: »An den wohlgeborenen Herrn Dr. Adolph Leiblinger, holländischen Stabsarzt in Batavia.« Der junge Mensch lächelte frivol, als sie ihm das diktierte, aber er wurde [171] ernst, als er ihr ins Antlitz blickte und darauf die Schatten des Todes sah. Und dann ließ sie sich einen Aufgabsschein geben und wankte heim und starb.

Es ist eine einfache Geschichte. So einfach, wie die Geschichten alle, die das Leben selbst dichtet, dieser größte und grausamste Poet.


*


Ich kannte sie, noch als sie ein kleines siebenjähriges Mädchen war und ich ein wilder Knabe, der in der Schule unter der strengen Zucht knirschte. Da sah ich sie täglich. Wenn ich so in der trüben, kalten Dämmerung des Wintermorgens mit dem Ränzlein durch die kleine Gasse trabte, blieb ich immer vor der Thür des Hauses, wo sie wohnte, stehen und rief in den Hausflur: »Aaron! Aaron!« Denn dort, in einem düsteren, engen Dachstübchen, wohnte auch mein Mitschüler, der kleine schwarze Aaron mit seiner Mutter. Hirsch Welt hatte dieser Frau, der Chane Leiblinger, welche die Witwe eines Fleischerknechts war, aus Barmherzigkeit das Stübchen eingeräumt, denn ihr Obsthandel schützte sie und ihren Knaben kaum vor dem Verhungern. Wenn ich so gerufen hatte, that sich zuerst leise die Thür auf und die kleine Rachel trat heraus, die Händchen immer unter der Schürze. Und dann stieg der arme Junge in seinem leichten Röckchen die morsche Holztreppe herab und die Rachel steckte ihm rasch das Brot und die Leckerbissen zu, die sie unter der Schürze verborgen gehalten.

Er nahm's, oft erst zögernd, und dankte nie. Aber er blickte das Kind so sonderbar an und lächelte. Man[172] hätte es kaum für möglich gehalten, daß dieser finstere, verschlossene Knabe überhaupt lächeln könne. Und nun gar so freundlich lächeln! ...

... »Aaron, willst Du nicht mitkommen – auf dem Eis schleifen?« – »Nein!« – »Warum nicht? Du bist immer so still und machst so zornige Augen!« – »Warum soll ich fröhliche machen? Die Kälte thut nicht wohl und der Hunger auch nicht. Und der Lehrer schlägt mich und die Christenjungen Alle. Warum? Weil wir ihn gekreuzigt haben? Ich hab' ihn nicht gekreuzigt. Warum schlägt man mich?« – »Das wird schon anders werden, wenn wir groß sind, Advokaten.« – »Ich werde kein Advokat. Ich werde ein sehr großer Arzt. Dann komme ich wieder nach Barnow und sage zum alten Hirsch: Hier ist der Mietzins für die Stube, hundert Dukaten. Und dann kommen die Polen und wollen, daß ich sie kuriere und ihnen Geld leihe. Aber dann sage ich: Weg! Ihr Hunde:« – »Und die Rachel?« – »Was geht das Dich an? Übrigens – wenn Du's wissen willst – die Rachel heirate ich und nur seidene Kleider wird sie tragen, noch tausendmal schönere, als die Gräfin Bortynska ....«

Aaron Leiblinger war eine eigentümliche Natur; schon während seiner Knabenzeit war dies sichtlich. Er war klein, unansehnlich, aber in seinem häßlichen Antlitz standen zwei Augen, schön durch den Feuergeist, der daraus blitzte. Unter dieser niedrigen Stirne, in die sich das schwarze, krause Haar drängte, wohnten Gedanken, von denen schwer begreiflich war, wie sie diesem Knaben hatten kommen können, dem Sohne der armen, [173] unwissenden Hökerin in der Dachstube. Rasch im Erfassen, zäh im Behalten, rücksichtslos energisch, so ging – nein, so drängte sich der Knabe durch das Leben. Für eine gewisse Zeit kann man von ihm sagen: er erreichte, was er wollte. Seine Mutter hatte ihn, kaum daß er das Lesen der Gebete erlernt, für ihren Handel bestimmt. Aber Aaron wollte Talmud lernen, alle seine Mitschüler übertreffen, und es gelang ihm. Und dann wollte er die Christenschule besuchen, und obwohl derlei bis dahin unerhört war im Städtchen, so gelang ihm auch dies. Freilich durch kein gewöhnliches Mittel. Er sprach zuerst der Mutter von seinem Entschlusse. Die fromme, beschränkte Frau verwünschte ihn und lief heulend zu den Vorstehern der Gemeinde: ihr Sohn wolle Christ werden. Denn was könne sonst ein jüdisch Kind in der Christenschule wollen? Der Doktor lasse seinen Knaben hingehen, aber der Doktor sei ja auch nur ein halber Jude und trage sogar »deutsches« Gewand. Die Vorsteher lobten den frommen Eifer der Frau und ließen den Knaben rufen. Er kam. Aber ehe sie noch mit ihren Drohungen beginnen konnten, begann er: »Ich weiß, was Ihr mir sagen wollt; aber was ich Euch sagen will, wißt Ihr schwerlich, hört also Ihr mich an. Ich will die Christenschule besuchen, weil ich Alles lernen will, was man lernen kann. Und was ich will, das werd' ich. Nur darum handelt es sich, ob ich's als Christ thue oder als Jud'. Meine Mutter kann mich nicht länger ernähren; sie wird alt. Wollt Ihr mir also Freitisch geben, Kleider und Bücher, so bleib' ich Jude und will die Kinder dafür unterrichten. [174] Wollt Ihr's nicht, so werd' ich Christ, der dicke Dechant thut um eine Seele Alles.«

Diese unerhörte Rede wirkte. Die Männer beugten sich dem Willen des Knaben und gaben ihm das Wenige, was er brauchte. Er besuchte die Klosterschule als Jude mit Kaftan und Schmachtlöcklein. Was er um dieser Tracht willen litt, war entsetzlich. Vielleicht hat Gott die Thränen und die Schläge gezählt; er selbst ward müde, sie zu zählen, müde, zu weinen. Düster und trotzig ließ er Alles über sich ergehen, Unrecht und Schläge, Hunger und Kälte, oder was spärlich genug an ihn herantrat, Wohlthat und Wohlwollen. Ungeheure Sehnsucht nach dem Wissen, ungeheurer Rachedurst erfüllten ihn. Selbst sein Gesicht hatte nichts Kindliches mehr. Er war ein armer, sehr armer Junge, mein Mitschüler Aaron Leiblinger.

Aber selbst das ärmste Herz hat noch irgend ein Kleinod, an dem es hängt. Und so liebte der düstere Knabe die kleine Rachel. Fremd und rührend, so ganz anders als sonst, ward sein Antlitz, wenn er mit ihr sprach. Es war etwas Ergreifendes, ich habe es damals noch nicht recht verstanden; ich empfand es nur so, daß es ihm sehr wohl that, wenn man mit ihm von der Kleinen sprach. Ich glaube, er hätte sich, ohne zu zucken, für sie töten lassen. Und einmal geschah sogar etwas Unerhörtes – er weinte wieder: die Rachel lag an den Blattern darnieder.

Aber als seine Mutter starb, da weinte er kaum; das riß keine Lücke in sein Leben, das rührte nicht an sein Herz, mindestens nicht so, daß man es ihm ansah. [175] Er wohnte nun allein im Dachstübchen, das war Alles. Der alte, dicke Hirsch Welt gab ihm sogar von da ab auch die Nahrung. Er nahm aber die Güte nicht lange in Anspruch. Einmal, früh Morgens, im Sommer kam er zu mir. »Du warst freundlich mit mir,« sagte er, »darum sage ich Dir Lebewohl. Ich gehe heute fort, ein reicher Mann werden.«

»Aber Du wirst ja am Weg verhungern!«

»O, ich habe das Erbteil von meiner Mutter, drei Gulden – nach Lemberg geh' ich, leb' wohl..«

Und fort war er, und ich hörte lange, lange nichts mehr von ihm.


*


Esterka Regina! ...

Ein Tag im Sommer, ein schöner, leuchtender Juli-Nachmittag. Die Sonne liegt über der Heide, auf der es blüht und duftet und summt; so öde sie sonst sein mag, im Sommer ist auch ihr Farbe, Duft und Leben beschieden. In der »Gasse« ist's still, ganz still, der Handel ruht. Draußen am Flusse wandelt das junge Volk geputzt auf und ab. Die Jünglinge sehen blaß und frühreif aus und auch ihre Reden entsprechen nicht ihrem Alter – sie unterhalten sich von ihren Talmudstudien und von ihren Geldgeschäften, und nur selten flüstert Einer dem Freunde zu, das Mädchen, das eben vorüberwandle, gefalle ihm ausnehmend, und er gäbe etwas drum, wenn sein Vater ihm just die zur Braut bestimmte. Aber wovon die Mädchen sprechen, ist schwer zu sagen: wer weiß, an was Alles so ein geputzt jüdisch Mädchen denkt und worüber sie kichert beim [176] Spaziergang an einem schönen Sabbathnachmittage? ... Worüber?! Vielleicht über die jungen Herren, die keinen Kaftan, keine Hängelöcklein tragen und dennoch eifrig, als müßte es so sein, auf – und abwandeln auf der »jüdischen Promenade« am Flusse. Das ist die elegante Herrenwelt von Barnow und sie bewegt sich sonst nicht gerade gern in diesen Kreisen. Aber der Anblick der Esterka Regina wird gern selbst durch ein größeres Opfer erkauft, als durch das Verweilen unter den Juden. Und die Herren harren geduldig aus und belorgnettieren einstweilen die Sterne, die Rebekka's, Miriam's und Sarah's, bis endlich die Sonne aufgeht: die schöne Tochter des Fleischhauers. Da sind die himmelblauen Kadetten und Lieutenants von den Lichtenstein-Husaren unter Führung des kleinen, blonden, geschwätzigen Szilagy; da sind die jungen polnischen Adeligen und Schöngeister, an ihrer Spitze der hoffnungsvolle, langhaarige Dichter, Herr Thaddäus Wiliszewski; da sind endlich die eben zu den Ferien heimgekommenen Herren Gymnasiasten und Abiturienten, und unter ihnen ein Jüngling, der heute kein Jüngling mehr ist und dem es wehmütig ums Herz wird, gedenkt er all' des Glanzes jenes Sommertags. Denn dieser Glanz ist längst verweht und das arme, schöne Mädchen ist längst, ein bleiches, geknicktes Weib, zur frühen Gruft gesunken.

Aber noch sehe ich's deutlich wie damals, wie sie langsam am Arm einer Freundin den Gang unter den Linden emporgeschritten kommt. Selbst unter die jüdischen Jünglinge kommt Bewegung und Mancher schiebt sich heimlich den Kaftan zurecht oder ringelt sich die zierlichen [177] Schmachtlöcklein noch zierlicher. Und jene Herren machen sich vollends bereit zum Gefecht. In erster Linie stehen die blauen Husaren, wie sich's für mutige Kämpfer geziemt und allen voran der kleine Szilagy, wie sich's für den Frechsten geziemt. Sie kommt langsam heran und steht nun dicht vor ihm, der sich ihr in den Weg gestellt. Sie hält die Augen nicht niedergeschlagen, wie dies die anderen Mädchen thun, so oft sie an dem Gefährlichen vorüberwandeln, sie blickt ruhig und frei um sich, als wäre rings statt der blauen Krieger die blaue Luft. Aber als sie nun notgedrungen vor dem frechen Kleinen stehen bleibt, da zeigt ihr Blick einen anderen Ausdruck. Es wird aus seinem Benehmen ersichtlich: der kleine Mensch wird rot und tritt zurück und – es klingt unglaublich, aber es ist so – er salutiert verlegen. Und dann sagt er zu Herrn von Szervay, der ihn verhöhnt: »Ich habe Mut, ich hab's bewiesen, aberden Blick möchte ich nicht noch einmal aushalten ...« Die zweite Gruppe, die das Unglaubliche mit angesehen, weicht bei Zeiten zurück, und der langhaarige Dichter starrt wie verzückt mit weitgeöffneten Augen dem schönen Mädchen entgegen. Und in jenem Momente ist in diesem armen, kleinen Gehirn, das sonst nur Verse zum Hausgebrauch und für die Krakauer Damen-Zeitung erzeugt, der Name aufgeblitzt, den ich über diese Geschichte geschrieben habe ... Und die dritte Gruppe?! Die jungen Schüler sind weder unwiderstehlich, noch wollen sie dafür gelten; sie wagen es kaum, den »Sternen« in die schwarzen, blitzenden Augen zu schauen, und als nun erst die Sonne gezogen kommt, scharen sie sich eng [178] zusammen, wie die Schafe vor dem Gewitter. Aber gerade aus ihrer Mitte ersteht einer, – ich weiß noch heute nicht, wie ich den Mut dazu fand – der dem schönen Mädchen dreist in den Weg tritt und es sogar, freilich schon viel weniger dreist, anspricht ...

»Mein Fräulein,« sag' ich stotternd und ziehe den Hut, »verzeihen Sie, vielleicht erinnern Sie sich meiner nicht mehr – der kleine Aaron ...«

»Ei freilich,« erwiderte sie freundlich, »Ihr seid ja immer gut Freund mit ihm gewesen. Und wißt ihr nichts Neues von ihm?«

»Kein Sterbenswort, seit er fortgegangen ist.«

»O, da weiß ich schon mehr. Der alte Itzig Türkischgelb, der ›Marschallik‹ – Ihr kennt doch den närrischen Menschen? – nun, der ist neulich in Lemberg gewesen und hat dort zufällig den Aaron gesprochen. Freilich hätt' er ihn kaum erkannt, denn ratet nur einmal, was aus unserem armen, kleinen Aaron geworden ist?! Ein Herr ist aus ihm geworden, ein junger Herr, der sich deutsch kleidet und nur deutsch spricht. Ja, und mit den lateinischen Schulen ist er schon vor drei Jahren fertig geworden, und ist seitdem fast immer in Wien, Doktor zu werden! Wer hätte des geglaubt? Und, fügte sie zögernd hinzu, ›der Marschallik‹ erzählt auch, daß er jetzt sehr stolz ist, und gar nicht mehr mit Juden sprechen will. Denkt Euch nur, er soll jetzt Adolf heißen und Christ werden wollen. Aber das glaub' ich nun einmal nicht – nein! nein! – und Ihr?«

Nicht um eine Welt möchte ich etwas glauben, was diesem Mädchen widerwärtig ist. »Nein!« erwidere ich [179] also, »ich glaub's auch nicht. Übrigens werde ich bald Gelegenheit haben, Gewisses darüber zu erfahren. Ich gehe ja auch in einigen Wochen nach Wien zur Universität. Da will ich den Aaron oder Adolf gewiß aufsuchen.«

»Ja, thut das,« sagt sie eifrig. »Es wird ihn gewiß sehr freuen. Und,« setzt sie hinzu, indem Purpurröte das holde Antlitz jäh überflammt, »wenn er sich meiner noch erinnert, so grüßt ihn auch recht herzlich von mir. Aber hört Ihr – nur wenn er sich meiner noch erinnert ...«

»Oh!« rufe ich begeistert und kühn, »wer könnte Sie je vergessen!« Aber über diese Kühnheit bin ich selbst so entsetzt, daß ich gleich darauf den Hut lüfte und mich stotternd verabschiede. Bis ich jedoch zu meinem Kommilitonen zurückkomme, habe ich wie der so viel Sammlung, um all die Ausbrüche der Neugier, des Neides und der Bewunderung mit imponierender Ruhe entgegennehmen zu können ...


*


Ich hatte den Aaron oder Adolf Leiblinger nicht aufgesucht, nachdem ich nach Wien gekommen war, obwohl ich es mir fest vorgenommen hatte. Aber wenn so ein armer, schüchterner, achtzehnjähriger Mensch mit einem schüchternen Herzen, das auch so recht achtzehnjährig ist, und einem karg gefüllten Beutelchen dazu aus einem kleinen Landstädtchen hingeschleudert wird auf das Pflaster der Weltstadt, der hat genug zu thun, sich vorerst selber durchzubringen durch das Gewirre der himmelhohen fremden Häuser und der Hunderttausende von fremden Menschen, der darf nicht viel nach rechts und links blicken, sondern immer gerade vor sich hin, und muß dabei noch sein armes, schüchternes Herz fest in beide Hände fassen, daß es nicht verzagt [180] wird. Und dann – wie hätt' ich ihn finden sollen unter den viertausend Studenten? So überließ ich's dem Zufall.

Und der führte uns auch zusammen. Es war an einem trüben Dezember – Nachmittag. Die Nebel lagen auf den Straßen, dann begann ein feiner, dichter Regen herabzurieseln und trieb mich in ein großes, qualm- und menschengefülltes Café der Alser-Vor stadt. Nur noch im Billardzimmer fand ich ein freies Plätzchen. Und da der Regen länger dauerte, als mein Gefallen am Durchstöbern all' der Blätter und Blättchen, so sah ich endlich, in mein Schicksal ergeben, dem Spiel zu.

Vor mir vergnügten sich drei junge Leute am grünen Brett. Die Marqueur sagte »Herr Doktor« zu ihnen, es waren also Studenten der Medizin. Einer von ihnen fiel mir auf, ein mittelgroßer, schlank, fast zierlich gebauter junger Mensch mit feinem, scharfgezeichnetem Gesicht, das an sich bleich sein mochte, aber durch das tiefschwarze, leicht gekräuselte Haupt-und Barthaar fast schreckhaft fahl erschien. Hübsch war das Gesicht nicht zu nennen, dazu waren die Lippen zu dünn, die Stirn zu niedrig. Aber ich mußte es doch immer wieder ansehen, denn auf diesem Gesichte stand etwas geschrieben, wie eine Geschichte; daß ich es schon früher einmal gesehen haben könnte, fiel mir nicht entfernt ein. Aber plötzlich, als sich – aus geringfügigem Anlaß, über das Neckwort eines Mitspielers – die dünnen Lippen fest aufeinander preßten und die niedrige Stirn sich faltete, blitzte es in mir auf: »Das ist ja der schwarze Aaron!«

Nun, er war es wirklich. Ob wir uns freuten, einander zu begegnen, vermag ich kaum zu sagen; jedenfalls [181] war es keine ungetrübte Freude. Wenn junge Leute nur kurze Zeit auseinander gewesen, so müssen sie sich beim Wiedersehen erst ordentlich wieder kennen und in einander fügen lernen. Und nun erst nach so langer Zeit! Wir rangen qualvoll nach dem alten Ton und fanden ihn nicht. Schon wollte das Gespräch stocken, da fielen mir die Grüße ein, die ich auszurichten hatte. »Es lebt Jemand in Barnow,« sagte ich, »der sich lebhaft für Dich interessiert. Ahnst Du nicht, wer's ist?«

»Nein!« Er blies den Rauch seiner Cigarre nachlässig in die Luft. »Mein lieber Junge, Du glaubst gar nicht, wie viele Mühe ich mir gegeben habe, die Leute von Barnow recht gründlich zu vergessen.«

»Auch Deinen Schutzgeist, die kleine Rachel?«

»Also die ist's?!« rief er lebhaft. Aber gleichgültig setzte er hinzu: »Was macht die Kleine? Sie wird wohl jetzt recht groß sein, etwa sechzehnjährig?«

»Und wunderschön dazu!« Und ich gab eine so begeisterte Schilderung ihrer Schönheit und Klugheit, daß der blasse junge Mensch neben mir ironisch zu lächeln begann. Aber als ich zu Ende war, da sagte er ernst: »Das thut mir aufrichtig leid!«

»Wie? Warum?«

»Weil ich meinem kleinen Schutzgeist in der That Dankbarkeit bewahre und ihn glücklich sehen möchte. Dazu ist aber, wenn das Mädchen wirklich so schön und dabei so klug ist, verdammt wenig Aussicht. Entweder läßt sie sich durch all' die Versuchungen bethören und fällt trotz ihrer Klugheit einem dieser polnischen oder ungarischen Herren zum Opfer –«

[182] »Unmöglich!« rief ich entrüstet.

»Oder sie bleibt die brave, gehorsame Tochter ihres Vaters und der verschachert sie dann eines Tages, ohne sie zu fragen, an einen rohen chassidischen Bengel. Und da sie klug ist, so wird sie den Jammer und die Niedrigkeit eines solchen Daseins über kurz oder lang begreifen und schließlich als armes, geknicktes Judenweib in irgend einer Ecke eines podolischen Ghetto verkümmern.«

»Du siehst zu schwarz.«

»Ich sehe die Dinge, wie sie sind. Ich bitte Dich, lehre Du mich nicht die Chassidim kennen. Doch – sprechen wir nicht weiter darüber. Und nun – leb' wohl!«

Wir gingen auseinander, und es klang recht kühl, als wir sagten: »Auf Wiedersehen!«

In der That suchten wir dieses Wiedersehen nicht. Aber der Zufall führte uns wieder einmal zusammen und diesmal dauernder. In den ersten Frühlingstagen bezog ich eine neue Stube. Und als ich zum ersten Male aus dem Fenster sah, blickte mir aus dem Fenster gegenüber neben einem stattlichen Totenkopf das Antlitz meines Schulkameraden aus Barnow entgegen. Er wohnte in demselben Hause, in demselben Hofe. So sprachen wir denn wieder miteinander, kamen so unvermerkt einander näher und wurden schließlich, so weit es eben die studentische Rangordnung (er stand im vierten, ich im ersten Jahrgang) und noch mehr: so weit es der ungeheure Unterschied unserer Naturen erlaubte, sogar gute Freunde.

Was aber seine Natur anbelangt, so erwies sich auch an diesem Menschen wieder einmal die ganze Wahrheit des alten Satzes: »Die Eindrücke der Kindheit [183] wurzeln am tiefsten.« Der Student der Medizin Adolf Leiblinger war im Grunde ganz der schwarze Aaron. Die Verwandlung aus dem verschlossenen, häßlichen Knaben in den gewandten, weltfreudigen jungen Mann hatte den Kern seines Wesens unberührt gelassen; in ihm lebte derselbe Trotz, dasselbe Selbstbewußtsein wie einst, und im Grunde auch der alte Haß. Aber daneben war er, wie einst, voll Dankbarkeit für jede teilnahmsvolle Gesinnung und ebenso noch immer von der alten, rührenden Sehnsucht nach dem Wissen erfüllt. Er hatte sich anfangs entsetzlich schwer aufgerungen. Aber später, und nun auch in Wien, brachte er sich ganz gut durch. Und so war auch nun noch sein Spruch: »Man kann, was man will.«

Nur das Verhältnis zu seinem Gotte und zu seinem Glauben hatte sich gründlich geändert. Früher war ihm, eben weil er sehr stolz war, sein Glaube um so lieber geworden, je mehr er um seinetwillen litt, und sein Gott war ihm so recht der Gott seiner eigenen Rache, den er nicht müde wurde, um Blitzstrahlen gegen die Christenjungen und unseren dummen, rohen Lehrer anzuflehen. Aber nun war er gegen Gott kühl und haßte seinen Glauben glühend. Er geriet ordentlich in Wut, wenn er auf Juden und Judentum zu sprechen kam. Herr Thaddäus Wiliszewski, der doch eine eigene »Hymne gegen die Juden« gedichtet hatte, war dagegen ein harmloses Kind. Aber dabei blieb er doch formell in diesem Glauben. »Mein Rock ist unbequem,« pflegte er zu sagen; »aber ich sehe auf dem Erdenrund keinen bequemeren, den ich statt seiner anziehen könnte. Und ohne Rock wird man so lästig angegafft!«

[184] Ich gewann Adolf lieb, wie ich einst Aaron liebgewonnen hatte, und als die Ferienzeit kam, und ich zur Reife in die östliche Heimat rüstete, lud ich ihn ein, mit mir zu kommen, und freute mich herzlich, als er es annahm. Auf dieser Reise, nachts im Eisenbahnwaggon, kamen wir wieder auf das schöne Mädchen zu sprechen, von dem seltsamer Weise seit jener ersten Begegnung nicht wieder die Rede unter uns gewesen. »Nimm Dich in Acht,« sagte ich neckend, »alte Liebe rostet nicht!« Aber er lachte: »Ich und – lieben?! Du weißt Liebe ist ein weiches Gefühl, ich aber – ich bin ein harter Mensch.« Er lachte wieder, fügte dann aber ernst hinzu: »Sieh'– ich werde sogar vermeiden, die Kleine zu sehen. Die Erinnerung an sie ist der einzige Lichtpunkt meiner trostlosen, dunklen Knabenzeit. Soll ich mir die Erinnerung selbst trüben, indem ich sie aufsuche und von dem schmutzigen, schüchternen Mädel einige Begrüßungsworte im bekannten, lieblichen Jüdisch-Deutsch erpresse?!« Er riß das Waggonfenster auf und starrte lange in die dunkle Nacht hinaus.


*


In den letzten Julitagen trafen wir in Barnow ein. Die Ankunft des »schwarzen Aaron« weckte stürmisches Aufsehen, und es war halb komisch, halb betrüblich, wie die Leute von Barnow ihr Stadtkind begrüßten. Er, der »schwarze Aaron«, der Aaron Leiblinger, der Sohn der Chane Leiblinger aus dem Hüttlein am Flusse, hatte es gewagt, »christliche« Kleider zu tragen, »christliche« Kost zu essen und am Sabbath zu rauchen, ja noch mehr, er hatte es sogar gewagt, zu studieren! Das waren in den Augen dieser Menschen ebenso viele [185] Todsünden, die bitter gerächt werden mußten. Niemand sprach ihn an und wen er ansprach, der fertigte ihn höhnisch ab; die kleinen Jungen liefen auf der Gasse hinter ihm her und riefen ihm nach: »Abtrünniger!« Darüber lachte der junge Mann und die Verachtung der Erwachsenen vergalt er mit gleicher Münze. Auch waren wir ja auf den Verkehr mit ihnen nicht angewiesen. Wir streiften viel in der Landschaft umher und besuchten zuweilen die christlichen Honoratioren des Orts. Man kam uns da recht freundlich entgegen; Herr Thaddäus Wiliszewski begnadete uns mit einer Vorlesung seiner Poesien und die drei grünlichen Töchter des Herrn Steueramts-Vorstehers erlaubten den »Herren Studenten«, ihnen den Hof zu machen. Adolf war in jenen Tagen ausgelassen lustig; ich allein ahnte, wie sehr ihm die Bitterkeit am Herzen fraß. Seinen Vorsatz hatte er treulich ausgeführt und die schöne Rachel weder gesprochen, noch gesehen.

Da trat eines Tages – an einem glühheißen Sonntag im August, dem zweiten, den wir im Städtchen verbrachten – der Versucher an ihn heran, oder eigentlich zunächst an mich. Denn ich allein war daheim, als sich die Thüre aufthat und ein kleines Männchen mit glühroter Nase und dünnen Beinchen in unsere Stube tänzelte. Das war Herr Isaak Türkischgelb, der »Marschallik« von Barnow, was zu deutsch einen Lustigmacher oder Hochzeitsmarschall bedeutet. Ein solcher Würdenträger hat neben tausend anderen kleinen Pflichten auch die, die Gäste zur Hochzeit einzuladen, und in dieser Eigenschaft beehrte er mich mit seinem Besuche, um mir und Adolf die dringliche Einladung der Frau Sprinze Klein zu überbringen, [186] am nächsten Dienstag in ihrem Hause das Hochzeitsfest ihrer Tochter Jütta Klein mit Herrn Isidor Spitz ( vulgo »Rot-Itzigel«) mit unserer Gegenwart zu verherrlichen.

»Schön!« sagte ich. »Aber treffen wir auch hübsche Mädchen dort? Kommt auch die Esterka Regina?«

»Wer?« fragte das Männchen erstaunt und legte die Hand ans Ohr.

»Ich meine die Rachel Welt.«

»Ob die dabei sein wird?« rief der Marschallik pathetisch. »Heißt eine Frage! Soll man alle häßlichen Mädchen von Barnow laden und nur gerade die Schönste nicht?! Verlassen Sie sich darauf, wir wissen, was sich schickt, und wenn man junge Herren einladet, so muß man auch schöne junge Mädchen einladen. Und dann wissen wir, wenn wir die Rachel im Zimmer haben, wo getanzt wird, so können wir uns ersparen, Blumen hineinzustellen, denn die Rachel ist die schönste Blume, so wahr mir Gott einen guten Erwerb geben soll! ... Die schönste Blume!« wiederholte er, »und schon darum werden Sie kommen! Nicht wahr? Sie und Ihr Freund Aaron – verzeihen Sie, daß ich ihn so heißen thu', aber wie kann ich ihn Adolf nennen, da ich ihn doch selbst auf den Händen getragen habe und seine Mutter Chane mein leibliches Geschwisterkind war?! Sie werden kommen und nicht dulden, daß die Leut' in Barnow vom alten Marschallik sagen: ›Gemeine Juden kann er einladen, der grobe Klotz, aber feine junge Herren nicht!‹«

Ich mußte lachen. »Nun, für mein Teil könnt Ihr ruhig sein. Ob aber Adolf kommt, möchte ich bezweifeln – holt Euch morgen seine Antwort selbst.«

[187] Wieder hob das Männchen die Hände empor und duckte dabei zusammen. Und dann trippelte es endlich grinsend zur Thür hinaus.

Ich war überzeugt, daß ich allein gehen würde. Und in der That erwiderte mir Adolf, als ich ihm die Einladung übermittelte: »In die Hölle will ich Dich begleiten, aber unter dieses Volk nicht!«

»Schade!« sagte ich, »Du hättest da eine interessante Charakterstudie machen können – an unserer Wirtin, Frau Sprinze Klein. Sie ist aus Brzezan gebürtig, jetzt verwitwet, sehr reich, hat einen Schnittwarenladen.«

»Sehr interessant,« höhnte er.

»Mehr, als Du glaubst. Bei dieser Frau zeigt sich ein sonst sehr ernster seelischer Prozeß: das Aufringen aus den drückenden Fesseln des orthodoxen Glaubens zu einer freien Lebensanschauung, in einer merkwürdigen, geradezu komischen Form. Frau Klein lebt ganz wie die Anderen, wagt nicht, ihr eigenes Haar zu tragen, und könnte den leisesten Verstoß gegen das Speisegesetz nicht übers Herz bringen. Aber weil sie einmal als Mädchen ein halbes Jahr lang in Lemberg gelebt hat, so hat sie eine gewisse platonische Liebe für die ›Aufgeklärtheit‹ und ›feine‹ Formen. ›Als ich in Lemberg war‹ – so beginnt jede ihrer Reden. Um nun diese platonische Neigung zur Aufgeklärtheit stellenweise auch durch die That zu beweisen, verfällt sie auf die seltsamsten Mittel. Sie spricht z.B. mit wahrer Wut hochdeutsch und kann sie gar irgendwo ein Fremdwort ergattern, so läßt sie es gewiß eine Woche lang nicht wieder los; welchen Mißhandlungen das arme [188] Fremdwort dabei ausgesetzt ist, kann man kaum denken. Oder eine andere Probe. Frau Sprinze kann nicht deutsch lesen. Gleichwohl hat sie bei irgend einer Auktion drei abgegriffene Bände erstanden: Schiller's ›Räuber‹, eine Erzählung von Caroline Pichler und einen Band Casanova. Und eins von diesen drei Büchern hat sie auch immer aufgeschlagen in ihrem Laden liegen und starrt, wenn sie sich beobachtet weiß, aufmerksam die fremden, rätselhaften Zeichen an. Sagt ihr ein Frommer, das Lesen deutscher Bücher sei ja eine Todsünde, so erwidert sie: ›Als ich in Lemberg war, habe ich selbst gesehen, wie sogar die Tochter des Oberrabbiners deutsche Bücher gelesen hat!‹ Insgeheim jedoch denkt sie: ›Wenn das Lesen wirklich eine Sünde ist, so begehe ich sie ja nicht!‹ ... Und der jüngsten Probe ihrer Liebe für den Fortschritt haben wir eben unsere Einladung zu verdanken. Sie hat es nämlich durchgesetzt, daß bei der Hochzeit ihrer Tochter nicht nach ›jüdi scher Art‹ getanzt werden soll – die Männer mit den Männern, die Weiber mit den Weibern – sondern nach der ›christlichen Mode‹: die Herren mit den Damen. Und der traurigen Thatsache, daß es dabei an geschulten Tänzern fehlt, verdanken wir wahrscheinlich die Einladung ––«

»Sehr schmeichelhaft!«

»Pah! – gleichviel! es kann ein hübscher Spaß werden! Und bliebe es auch eine langweilige Tanzrobot, die Aussicht, mit einem schönen Mädchen, wie die Esterka Regina ist, tanzen zu können, wiegt ein Opfer auf. So denke mindestens ich! Und Du?«

»Ich nicht,« erwiderte Adolf kurz. Aber nachdenklich [189] war er bei der Nennung ihres Namens doch geworden. Und als der Marschallik am nächsten Tage kam, sich den Bescheid zu holen, da erhielt er zu meiner und seiner Überraschung eine zustimmende Antwort.

... Am Dienstag Abend gingen wir nach dem festlich geschmückten Hause der reichen Witwe. Die Ceremonie war bereits vollzogen und die Unterhaltung sollte eben beginnen. Voll überquellender Freundlichkeit kam uns an der Thüre des Tanzsaals die Hausfrau entgegen, gehüllt in ein Kleid von schwerster gelber Seide und darüber eine hellgrüne Sammetmantille, bei jeder Bewegung klirrend und raffelnd von dem Juwelenladen, mit dem sie behangen war. »Sie werden Alles finden, wie in Lemberg,« sagte sie uns strahlend, »denn wie ich in Lemberg war, habe ich gelernt, wie man macht die Horreurs als Wirtin.«

Wir traten in den Tanzsaal. Die Männer machten sauersüße Gesichter, aber den Mädchen schien unsere Ankunft nicht ungelegen. Und so erfüllten wir denn, was man von uns erwartete, wir tanzten.

Da trat ein alter Mann in das Zimmer und an seiner Seite ein junges Mädchen. Das war Hirsch Welt und seine Tochter. Wir sahen sie da zum ersten Male seit unserer Ankunft und sagten wie aus einem Munde: »Wie schön sie ist!« – »Stört Dir dies Mädchen Deine lichte Erinnerung?« fragte ich Adolf lächelnd.

Aber er erwiderte nichts. Er war nur einen Augenblick noch bleicher geworden als gewöhnlich. Dann trat er auf sie zu und bat sie um einen Tanz.

Sie erbleichte gleichfalls, sah ihn starr an und [190] sagte dann ganz leise: »Nein!« Ihm schoß die Röte ins Antlitz.

»Sie – Sie tanzen wohl überhaupt nicht?«

»Ich tanze,« sagte sie langsam und blickte ihn noch immer starr an, »aber mit Euch nicht.«

Er zwang sich zu einem Lächeln, es war mühsam genug. »Und wodurch verdiene ich solche Strafe?«

»Weil Ihr uns Alle haßt und verspottet, uns, unsere Art, unsere Sprache. Was nützt es Euch? Ihr bleibt deshalb doch auch ein jüdisch Kind!«

Sein Gesicht verfinsterte sich. »O, wenn Sie wüßten –,« begann er jäh und stockte wieder. Dann sagte er lächelnd: »Da irren Sie. Die Leute von Barnow thun mir kein Unrecht und ich ihnen nicht. Wie würde sich das auch unter Landsleuten schicken! Ich bin ja hier geboren und aufgewachsen!«

»O, ich weiß,« erwiderte sie lebhaft, »in unserem Hause, in der Dachkammer habt Ihr ja gewohnt, Ihr und Eure alte Mutter, mit der Friede sei ...«

Er sah ganz selig. »Also Sie erinnern sich? Ich habe es kaum erwartet! Es sind ja elf Jahre her!«

»O – und wie ich mich erinnere! Wir haben ja so gute Freundschaft gehalten! Und habt Ihr die Rachel vergessen?«

»Gewiß nicht!« beteuerte er.

Von da ab begannen sie halblaut und eifrig zu plaudern und ich konnte dem Gespräch nicht mehr folgen. Er mochte wohl das schöne Mädchen an seiner Seite an eine Menge kleiner Geschichten aus ihrer Kinderzeit erinnern. Denn immer wieder überflog ein seliges [191] Lächeln die holden Züge. Sie merkten es wohl nicht, wie auffällig lange sie so vor Aller Augen beisammen standen. Die Leute begannen zu flüstern und dicht hinter mir ward die Stimme der platonischen Verehrerin des Fortschritts laut. »Als ich noch in Lemberg war,« sagte sie zu einer Gevatterin, »habe ich Manches erlebt, aber daß eine Braut es wagt, so lange mit einem fremden Menschen zu konkurrieren, ist mir wahrhaftig noch nie vorgekommen.« Aber nun traten auch schon die Beiden auseinander. »Das freut mich, daß Ihr so der alten Zeit gedenkt,« sagte das Mädchen laut, »das ist ein Zeichen, daß Ihr kein schlechter Mensch geworden seid, wie manche Leute sagen ... Aber nun – lebt wohl!«

Und fort war sie, ehe er sich's versah. Er sah ihr nach, wie ein Träumender. Ich trat auf ihn zu. »Du hast dem armen Bräutigam eine schwere Stunde gemacht,« meinte ich lachend.

»Dem Bräutigam?« fragte er hastig. »Also ist sie verlobt? mit wem?« – »Das weiß ich nicht. Hat sie Dir nicht davon gesprochen?« – »Nein,« erwiderte er kurz, verstimmt und drängte zum Gehen. Das war ihr erstes Wiedersehen.


*


Zwei Monate später. Milder Herbstsonnenschein lag auf dem leisen Sterben und Entfärben der Heide. Wieder saß mir mein alter Reisekumpan im Waggon gegenüber. Aber diesmal gings nordwärts, fort von der Heimat.

Adolf war in den letzten Wochen recht seltsam gewesen. Bald überlaut, bald mäuschenstill, bald übermütig, bald sentimental – man sah's dem Menschen[192] auf zehn Schritte an, daß die Liebe über ihn gekommen war und sein ganzes Wesen durcheinanderrüttelte. Wie er zu seiner Liebsten stand, wußte ich nicht, mochte ihn auch nicht darum fragen. Ich begnügte mich mit dem stillen Behagen, daß nun auch diesem armen, einsamen Herzen sein Frühling gekommen sei.

Heute, während der Reise, war er sehr weich. Auf seinem Antlitz lag ein Schimmer, wie ich ihn auf diesen scharfgeschnittenen Zügen nie vermutet hätte. Und plötzlich begann er: »Du ich möchte Dir etwas Hübsches erzählen.« – »Ich höre!« – Aber er schwieg wieder. Erst nach einer Weile brach er los, plötzlich und hastig: »Ich liebe sie. Sie liebt mich. Ich ertrage das Schweigen nicht länger. Ich will Dir erzählen, wie Alles gekommen ist ...«

Ich drückte ihm die Hand und er erzählte:

»Du erinnerst Dich jener Hochzeit. – Ich bin kein Phrasenmensch, ich kann Dir nicht sagen, welchen Eindruck das Mädchen auf mich gemacht hat. Aber obwohl mir die lieblichen Züge immer lockend vorschwebten, mochte ich doch ihren Anblick nicht durch einen Besuch im Hause des Vaters erkaufen. In diesem Hause liegen die düsteren Gespenster meiner Kinderjahre eingesargt; ich mag sie nicht ohne Not wecken. Auch ist ja Hirsch Welt einer der allerfrömmsten Frommen in der Gemeinde, und es gelüstete mich nach keinen weiteren Proben der Herzlichkeit von dieser Seite. So überließ ich denn ein Wiedersehen dem Zufall, der mich auch, etwa eine Woche später, das Mädchen finden ließ. Und zwar an einer Stelle, wo ich Alles eher erwarten konnte, als ein Zusammentreffen mit ihr.

[193] Du kennst die alte, zerbröckelte Schloßruine am linken Ufer des Sered. Ich liebe die Stelle sonst nicht, mir fehlt der romantische Nerv. Aber an jenem Tage, nachdem ich lange planlos auf der Heide umhergeschweift war, trieb es mich das Hügelchen empor, auf dem die Ruine liegt. Ich war – lächle nur! – in einer Gemütsstimmung, welche es mir zum Bedürfnis machte, so recht ins Weite zu blicken.

Nun denn – auf einem der Steine im verfallenen Schloßhof fand ich das Mädchen sitzen, gerade unter dem großen roten Holzkreuz, das den Juden sonst den Besuch dieser Stätte verleidet. Sie nähte emsig, ein Buch lag im Grase neben ihr. Beim Geräusch meiner Tritte blickte sie auf und erwiderte ruhig meinen Gruß. ›Nun, da seid Ihr ja endlich!‹ sagte sie. Ich sah sie erstaunt an. ›Wußten Sie, daß ich kommen würde? Ich bin ja nur zufällig hier!‹ – ›Gesagt hat es mir Niemand,‹ erwiderte sie und errötete, ›aber ich wußte es so sicher und bestimmt, wie nur etwas in der Welt! Ja, das Buch hier habe ich nur dazu mitgenommen, um es Euch zu zeigen.‹ Und sie reichte es mir. ›Kennt Ihr es noch?‹ Ich kannte es freilich, und es war ein sonderbares Gefühl, das mich überkam, als mein Blick auf diesen verdrückten, mürben Blättern ruhte. Es war ein Gebetbuch für Frauen, im Jüdisch-Deutsch geschrieben, eines der wenigen Erbstücke, die meine Mutter mir hinterlassen hatte. Mich überschlich tiefe Rührung, die Augen wurden mir feucht; stumm gab ich das Buch dem Mädchen zurück. ›Ihr gabt es mir zum Abschied,‹ sagte sie, ›an einem schönen [194] Sommermorgen, als Ihr fortzogt in die weite Welt. Wir haben damals viel um Euch geweint, ich und der blonde Chaim, der nun mein Bräutigam ist.‹ – ›Also der!‹ sagte ich so ruhig, wie mir möglich, ›Sie sagten mir neulich nichts davon?‹ – ›Weil wir nicht davon sprachen,‹ erwiderte sie und setzte dann hinzu: ›Sagtet Ihr mir doch auch nichts von Eurer Braut und Ihr habt ja eine, und eine schöne und stattliche dazu.‹ Ich mußte lachen. ›Nein, Rachel,‹ versicherte ich, ›ich habe noch keine Braut.‹ Sie sah mich forschend an. ›Wirklich nicht? Dann haben unsere Leute wieder einmal gelogen. Sie sagen bei uns, Ihr wäret mit einer schönen und reichen Christin verlobt. Aber seht,‹ – fuhr sie eifrig fort – ›daß man von Euch so viel Schlechtes und Falsches erzählt, daran seid Ihr doch im Grunde selbst Schuld. Ihr seid stolz, thut gegen Jedermann fremd und verspottet uns, wo Ihr könnt. Darum war ich Euch jüngst bei der Hochzeit anfangs so böse. Daß Ihr kein schlechter Mensch geworden seid, habe ich schon neulich erkannt und Euch gesagt, aber stolz seid Ihr, auch gegen mich! Sagt nicht nein, denn wahr bleibt's doch. Warum nennt Ihr mich immer ›Sie‹, warum duzt Ihr mich nicht mehr wie einst?‹ – ›Weil aus der kleinen Rachel nun ein erwachsenes Fräulein geworden ist!‹ – ›Da spottet Ihr wieder,‹ fiel sie mir heftig ins Wort. ›Ich bin kein Fräulein, ich bin ein Judenmädchen. Und darum bitte ich, sagt ›Du‹ zu mir! Sonst kommt Ihr mir so fremd vor und seid doch eigentlich ein alter Freund.‹ – ›Ich will's gerne thun,‹ versprach ich, ›aber dann mußt auch Du mich duzen.‹ – ›Nein!‹ sagte sie entschieden. [195] ›Das geht nicht. Ihr seid ein gelehrter Student, der bald ein Doktor sein wird und ich – ich bin die Rachel Welt. Das müßt Ihr nicht von mir verlangen.‹

Wir plauderten noch lange und über Vieles – nicht nur an jenem Morgen, auch in den nächsten Tagen und Wochen. Rachel kam alltäglich mit ihrer Arbeit zum Schloßhof. ›Unten ist's dumpf,‹ sagte sie, ›und hier oben ist lichter Sonnenschein und die Vögel zwitschern. Ich liebe das Licht so sehr. Du weißt, es ist sonst wenig Sinn für Naturschönheit unter den Juden unserer Landschaft; die Not, die Schmach, der Jammer haben ihn erstickt. Aber diesem herrlichen Gemüte war eben auch dieser Sinn wieder aufgegangen. Und pünktlich, wie das Mädchen, fand auch ich mich im Schloßhof ein. Was wir da alles besprachen, könnte ich Dir beim besten Willen nicht sagen – es war uns eben das unscheinbarste Ding wichtig genug, um lange dabei zu verweilen. Was uns täglich trieb, einander aufzusuchen, war uns wohl Beiden nicht klar. Und dieses sachte Hinleben in der Dämmerung schöner Gefühle – das will mir nun fast als das Lichteste erscheinen an jenen lichten Tagen ...‹ Mein Freund verstummte. Wieder spann sich jenes eigene Schimmern über sein bleiches Antlitz.

›Du hast Recht,‹ sagte ich. ›Das ist das Seligste an der seligen Zeit der ersten Liebe, daß diese Liebe so gar nicht klügelt, daß ihr das Wunderbarste einfach erscheint und das Einfachste als ein Wunder. Erst ein äußerer Einfluß zeigt den Liebenden in der Regel, wie tief ihr Gefühl geworden ist.‹«

Adolf lachte. »Du sprichst wie ein Damen-Almanach. [196] Aber – so ist's. Auch bei uns sollte der äußere Einfluß nicht ausbleiben.«

Dann fuhr er fort: »Eines Morgens war ich allein oben in der Ruine. Ungeduldig schritt ich mehrere Stunden unter dem verfallenen Mauerwerk auf und ab; es war vergeblich, Rachel kam nicht. Und an meiner Ungeduld fühlte ich erst, wie lieb mir das Mädchen geworden war. Sie kam auch am zweiten, dritten Tage nicht. Und so eine Woche lang; ich war in Verzweiflung. Da fand ich sie eines Morgens wieder am gewohnten Platz. Ich eilte freudig auf sie zu und faßte ihre Hand. ›Gottlob! da bist Du wieder,‹ rief ich fröhlich, ›Mädchen, Mädchen, wie viel Trauer und Angst hast Du mir bereitet.‹ Sie lächelte trüb, ihr Antlitz war bleich, die Augen gerötet. ›Ich konnte nicht kommen,‹ sagte sie leise ›ich war krank!‹ – ›Krank!‹ rief ich besorgt. ›Und ich konnte nicht bei Dir sein! So hatte ich doch recht, als ich mich um Deinetwillen so ängstigte!‹ – ›Es war nicht bedeutend,‹ erwiderte sie. ›Und Ihr wart oft hier?‹ – ›Täglich und harrte und harrte!‹ – ›Ich danke Euch,‹ sagte sie leise und reichte mir nochmals die Hand. Und wie wir so stumm dastanden und einander ins Auge blickten und keine Worte fanden, da durchzuckte uns zuerst das klare Bewußtsein unserer Liebe. Wir haben wohl beide in jenem Augenblick gezittert ... ›Ich muß gehen,‹ sagte sie endlich und löste ihre Hand aus der meinen. ›Die Mutter wird Angst um mich haben. Lebt wohl!‹ – ›Bis morgen,‹ sagte ich. ›Du kommst!‹ – ›Ich komme,‹ versprach sie leise ...

[197] Ich hatte am nächsten Tage nicht lange oben zu warten. Sie kam pünktlich. Ich ging ihr entgegen, aber gedrückt und befangen, nicht fröhlich wie gestern. Sie war auch heute noch sehr bleich, ihr Schritt schwankend. ›Du bist kränker, als Du mich glauben machen willst,‹ empfing ich sie besorgt. – ›Nein!‹ erwiderte sie, ›ich bin nicht mehr krank und‹ – sie stockte und fuhr dann mit fester Stimme fort, – ›ich war es auch nicht. Ich habe Euch gestern belogen! ... Ja, ich log, weil ich nicht den Mut hatte, die Wahrheit zu sagen. Ich bin blaß und meine Augen sind gerötet, weil ich sehr viel geweint und getrauert habe in den letzten Tagen. Ich habe Euch heute viel zu sagen, ich bitte – hört mich ruhig an.‹

Wir setzten uns auf den großen Stein, der zu Füßen des roten Kreuzes liegt. ›Wer meinen Eltern davon erzählt hat,‹ begann sie, ›daß ich täglich hier mit Euch spreche, weiß ich nicht – es ist auch gleichgültig. Ich hätte es ihnen selbst bei irgend einer Gelegenheit gesagt, denn ich sah nichts Arges darin. Der Vater aber empfing mich, als ich jüngst nach Hause kam, mit heftigen Vorwürfen und mit Worten ... ich will sie nicht wiederholen, sie waren sehr böse und ungerecht. Er sagte, ich vergäße meiner Ehre und meiner Pflicht, er erinnerte mich an meinen Verlobten, er beschwor mich, von Euch, dem Ungläubigen, dem Verführer zu lassen. Ich erschrak sehr, als er so sprach, doch nicht vor seinem Zorne. Ich erschrak über die Erkenntnis, die mir da aufging. Ich hatte nicht daran gedacht, warum ich immer hierher kommen mußte, [198] warum mich Euer Wort und Euer Blick so glücklich machten. Nun – nun wußte ich es. Und als mein Vater mir einen heiligen Eid abforderte, Euch nie wieder zu sprechen, da konnte ich nicht schwören. Und wenn mir Gott und alle Engel des Himmels es befohlen hätten, ich hätte es nicht gethan; es wäre mir als eine gar zu gräßliche Lüge erschienen gegen das, was in mir war. Ich ertrug den Zorn des Vaters und die Thränen der Mutter, denn ich wußte, daß ich ... daß ich Euch lieb habe ...‹ Ich wollte sprechen, aber sie erhob abwehrend die Hand und fuhr fort: ›Seht, als ich das erkannte, da war es mir zuerst entsetzlich – ich kam mir selbst so fremd vor. Und doch war ich wieder sehr glücklich. Ich sah den Kummer und die Verzweiflung meiner Eltern, aber ich hätte es nicht vermocht, nach ihrem Wunsch noch ferner Chaims Verlobte zu bleiben. Ich bin es noch vor der Welt, aber Euer ist in Wahrheit meine Seele und mein Leib. Darum konnte ich Euren Anblick nicht länger entbehren, und so bin ich gestern heimlich hergekommen. Da hab' ich aus Eurem Wort und Blick gesehen, daß Ihr auch mich lieb habt, wie ich Euch. Und nun frage ich Euch: was soll dies und wie wird das Ende sein?‹ Ich hörte nicht das Weh, das durch diese Worte klang, mir tönte nur Jubel durch das Herz. ›Mädchen,‹ rief ich, ›Du liebst mich, dann ist ja Alles, Alles gut!‹ Aber sie sah mich ernst und traurig an. ›Nein,‹ sprach sie, ›dann ist Alles verloren! ... Ihr fühlt nur das Glück – ich fühle es mit Euch, aber ich blicke auch in die Zukunft. Und da ist kein Trost für [199] mich! Eure Gattin werden kann ich nicht, dazwischen steht mein Leben, wie es bisher war, meine Herkunft, und dann: wie sie mich erzogen haben. O Gott! ich bin ja nichts, ich weiß ja nichts, ich kann ja nichts. Weh' mir, ich kann ja nicht einmal ›Deutsch‹ sprechen! Was wollt Ihr, der einst ein Doktor sein wird, mit einer Frau, die gar nichts von der Welt versteht, in der Ihr leben werdet. O – ich fürchte mich so sehr vor dieser Welt! Und hätte ich dann oft gegen den Brauch gefehlt und Euch vor Anderen beschämt, da müßtet Ihr ja sagen: diese Liebe war mein Unglück ...‹ – ›Rachel,‹ rief ich, ›sprich nicht so, Du quälst Dich und mich mit leerer Furcht!‹ – ›Und doch ist es so,‹ erwiderte sie mit zuckenden Lippen. ›Und dann, soll ich mein Glück mit dem Schmerz und, wie unsere Leute denken, mit der Schande meiner Eltern erkaufen, die sie töten würde?! O, mir war es in meinem Leid oft, als müßte ich Euch anflehen, abzureisen – schnell, gleich. Vergessen – das wäre nicht Glück, aber Rettung!‹ – ›Und glaubst Du, ich könnte Dich vergessen?!‹ fragte ich ernst, ›glaubst Du ein Gleiches von Dir?‹ – ›Nein,‹ erwiderte sie, ›ich könnte es nicht. Aber sagt, wo seht Ihr eine Rettung?‹ – ›Ich sehe sie,‹ sagte ich entschlossen. Der trotzige Mut von einst war wieder über mich gekommen – ›man kann, was man will,‹ klang es durch meine Seele. ›Mit Deinem Vater will ich sprechen, ich will ihm nachweisen, wie thöricht sein Vorurteil gegen mich ist, ich will ihn anflehen, sein einziges Kind nicht unglücklich zu machen; ich will Dich von ihm fordern, als mein [200] Eigentum. Gelingt es mir nicht, dann will ich Dich durch eigene Kraft erkämpfen. Du aber mußt die Eltern lassen, um des Geliebten willen. Freilich – zwei Jahre werden wir noch harren und kämpfen müssen. Aber Du wirst nicht ermatten, wie ich nicht ermatten werde. Und dann wirst Du mein geliebtes Weib und lächelst über Deine Sorgen von heute. Ich schwöre Dir, Dich will ich heimführen oder keine!‹ – ›Ich bleibe Dir treu,‹ sagte sie nur einfach und leise. Aber es klang wie ein heiliger Schwur. So schieden wir ...«

Mein Gefährte verstummte. Wir starrten schweigend in die Dämmerung hinein, die sich allmählich über die weite, westgalizische Ebene breitete. Erst nach langer Pause fragte ich: »Warst Du bei Hirsch Welt?«

»Ja ... Er hat mir die Thür gewiesen. Was liegt daran? Das Mädchen wird deshalb doch mein Weib. Man kann, was man will ...«


*


An die fünfzehn Monate waren seit jener Unterredung im Waggon vergangen. Wir waren nach Wien zurückgekehrt, wohnten in verschiedenen Stadtteilen und sahen uns selten genug. Nur so viel wußte ich von ihm, daß er mit eiserner Energie arbeitete und gute Nachrichten von seinem Mädchen habe.

Da ward eines Morgens im Dezember, in grauer Frühe, stürmisch an meine Stubenthüre gepocht und noch ehe ich antworten konnte, trat mein Freund herein, totenbleich, mit verstörtem Antlitz. »Du bist's, Adolf?« rief ich erschreckt. »Wie Du aussiehst! ... Was ist geschehen?«

Er strich sich über die Stirn und warf das wirre Haar zurück, in dem noch einige Schneeflöckchen hingen. [201] »Was geschehen ist?! Das weiß ich nicht, eben darum tötet mich ja die Unruhe ... Steh' auf und komm' mit!«

Ich gehorchte und fuhr in meine Kleider. Es war etwas in seiner Stimme und seinem Wesen, was mich nicht länger zaudern ließ. Er war schwankenden Schritts ans Fenster getreten und dann wie todmüde in meinen Lehnstuhl gesunken und starrte nun in den grauen, trübseligen Wintermorgen hinaus. Sein Antlitz war fahl, die Augen glühten wie im Fieber.

»Adolf,« rief ich besorgt, »Du bist krank?«

»Nein ich bin nicht krank,« erwiderte er ungeduldig, »ich darf nicht krank werden. Aber komm, komm!« Besorgt folgte ich ihm in den kalten, stürmischen Dezembertag hinaus. »Wo ist die nächste Telegraphen-Station?« fragte er.

»Ziemlich weit! – Was sollen wir dort?«

»Komm hin – frag' nicht viel.« Er war offenbar in so furchtbarer Aufregung, daß ich ihm schweigend willfahrte. Als wir endlich nach geraumer Zeit vor dem Thore des Amtes standen, fragte er: »Und nun – ich flehe Dich darum an, geh' hinein und frag' bei Deiner Mutter telegraphisch an, ob es wahr ist, daß – meine Braut in nächster Woche heiratet.«

»Hast Du dergleichen gehört?«

»Später – Du sollst später Alles hören, aber nun geh' und telegraphiere. Und erbitte die Antwort schleunigst – hörst Du? – schleunigst, hab' Erbarmen mit mir.« Diese Worte, dieses Benehmen waren bei dem klaren Menschen so unerhört, daß sie mich tief erschütterten. Ich trat ins Amt und gab die Depesche[202] auf. Erst als ich fertig war, gings mir durch den Sinn, was meine Mutter davon denken würde, daß ich mich so jäh und leidenschaftlich nach der Rachel Welt erkundigte, und ich mußte fast lächeln. Aber das Lächeln verging mir wieder, als ich auf Adolf zutrat. Seine Augen brannten und Fieberschauer durchrüttelten ihn ... »Du bist krank!« rief ich wieder. Ich ergriff seinen Arm und führte ihn ins nächste Café; auf der Straße ging eben der Schneesturm wieder lustig an.

»O, es ist nichts von Bedeutung,« erwiderte er, folgte aber willig. »Ein leichtes Fieber – ich werde mich erkältet haben – ich bin heute die ganze Nacht ziellos durch die Gassen gegangen. Ich weiß, was Du sagen willst, eine Thorheit war's, und ich bin selbst ein angehender Arzt, aber was nützt das – ich konnte nicht ruhig ... Wann kommt die Antwort?« unterbrach er sich dann wieder heftig.

»Spät Nachmittags, vielleicht erst Nachts. Wir haben ja keine direkte Verbindung, dazu der Schneesturm. Aber wenn die Antwort kommt, bringe ich sie Dir augenblicklich.«

»Ich danke Dir,« erwiderte er. »Du weißt nicht, was ich litt, als ich es so unvermutet erfuhr.«

»Durch wen?« fragte ich.

»Es hat sich seltsam gefügt,« erzählte er. »Ich ging gestern Abend zufällig durch die chirurgische Abteilung des allgemeinen Krankenhauses. Da ward ich plötzlich angerufen. Ich trat an das betreffende Bett, ein jüdischer Bursche lag darin – es war der Salomon Pinkus, der Bruder des Ochsenhändlers Chaim Pinkus [203] aus Barnow. Der Bursche erzählte mir klagend, daß er vor einigen Tagen eine Herde seines Bruders nach Wien gebracht und nach glücklichem Verkauf wieder nach Hause habe zurückkehren wollen, da sei er im Glatteis auf der Straße ausgeglitten und habe sich den Arm gebrochen. ›Oh!‹ wimmerte er, ›ich habe nicht nach Wien gehen wollen, ich habe mich gefürchtet, aber ich habe es ja für meinen Bruder thun müssen; der kann nicht von Hause fort, er heiratet ja in nächster Woche die Rachel, die Tochter des Fleischhauers.‹ – ›Wen?‹ rief ich außer mir und packte ihn so heftigen Griffs am gesunden Arm, daß er aufschrie, ich zerbräche ihm auch diesen. Nun, und dann erzählte er mir, die Braut seines Bruders sei ja die Rachel Welt und ich müßte sie ja kennen – ich glaube, der Bursche lächelte höhnisch –, sie sei plötzlich wieder zur Vernunft gekommen und wolle den Chaim doch heiraten ... Ich weiß nicht mehr, was ich ihm darauf erwiderte, nur, daß ich schließlich fortrannte wie ein Wahnsinniger, kreuz und quer durch die Straßen, trotz des Sturms und der Kälte. Wie mir dabei zu Mute war, kann ich Dir nicht sagen, Du würdest es auch nicht begreifen ...«

»O doch, Du Armer,« erwiderte ich mitleidig.

»Nein!« rief er heftig, »kein Mensch kann es begreifen. Sieh' – es ist ja bei mir keine gewöhnliche Liebelei – wie käme auch meine Natur dazu?! Es ist ja die erste große Leidenschaft meines Lebens und wird unter allen Umständen die letzte sein. Ich habe Alles, was an Gefühl in mir ist, auf dieses Mädchen gesetzt; betrügt sie mich, so werde ich wahnsinnig oder [204] muß sterben. Glaube mir – ich fasele nicht – ich sehe mich auch jetzt so scharf und klar, wie etwa einen meiner Kranken. Ein Beweis dafür, daß ich selbst in meiner Leidenschaft nie blind war, mag Dir das Bekenntnis sein, daß mir die Schranken, die mich von dem Mädchen trennen, keinen Augenblick kleiner erschienen, als sie sind. Ich weiß, daß zwischen uns eine Welt liegt; wir sind in unseren Anschauungen so gründlich verschieden, daß kein Dichter einen größeren Gegensatz ersinnen könnte. Dafür können wir beide uns bei dem orthodoxen Judentum bedanken. Aber ich weiß auch, daß diese Schranken nicht unübersteiglich sind. War ich Manns genug, mir selbst mein Leben zu schaffen, so werde ich auch Manns genug sein, mir selbst meine Frau zu erziehen. Niederwerfen, dann aber auch ganz und gar in den Staub schleudern, kann mich nur Eins: die Untreue des Mädchens ....«

»Und hältst Du das für möglich?«

»Noch sträube ich mich dagegen, Niemand gesteht sich willig ein, daß sein Leben plötzlich wertlos geworden ist. So wenig wahrscheinlich es ist, daß der Bursche gelogen hat, denkbar ist es doch ... Freilich habe ich schon darum fast gar keine Hoffnung, weil ihre Briefe, die sonst pünktlich allwöchentlich kamen, seit vierzehn Tagen ausgeblieben sind ...«

»Wie aber,« meinte ich, »wenn sie nicht untreu wäre, sondern gezwungen, überwältigt durch weiß Gott welche Mittel!«

»Das ist unmöglich,« erwiderte Adolf fest. »Wäre mir dies auch nur einen Augenblick als möglich erschienen, [205] ich säße jetzt nicht Dir gegenüber, sondern im Waggon auf dem Weg nach Barnow. Aber die Annahme ist für mich, der ich das Mädchen kenne, geradezu vernunftwidrig. Rachel ist klar wie ein Edelstein. So eine Natur läßt sich nicht zwingen, nicht betäuben, nicht überwältigen. Käme es aufs Äußerste an, so liefe sie ihren Eltern fort und käme zu mir, und müßte sie sich hierher durchbetteln. Ich kenne sie ...«

Wir sprachen noch lange an jenem düsteren Wintervormittage. Dann bewog ich Adolf, doch wieder ins Krankenhaus zu gehen und seine gewohnten Pflichten zu erfüllen. Aber er that dies erst, nachdem ich feierlich versprochen hatte, ihm die Nachricht, wie sie auch immer sei, keinen Augenblick vorzuenthalten.

Erst im Morgengrauen des nächsten Tages kam die Antwort: »Ja, Rachel heiratet nächsten Dienstag den Ochsenhändler Pinkus. Aber was geht's Dich an?«

Ach! die Nachricht ging mich in diesem Augenblicke näher an, als meine gute Mutter ahnen mochte. Bekümmert machte ich mich auf und fuhr in die Mariengasse, wo Adolf ein kleines Stübchen bewohnte. Mein Herz klopfte, als ich die Klingel zog.

Seine alte Hausfrau kam mir entgegen. »Gottlob, daß Sie da sind,« rief sie mir freudig zu. »Welche Angst habe ich in dieser Nacht ausgestanden! Denken Sie nur, gestern Nachmittag kommt wieder ein Brief für den Herrn Doktor, aus der Polakei, ich hab's am Poststempel gesehen, nun, den lege ich ihm auf den Leuchter, wie gewöhnlich, damit er ihn gleich findet, wenn er heim kommt. Hätte ich aber gewußt, [206] was das für ein böser Brief war – lieber Herr, ich bin eine ehrliche Frau, aber diesen Brief hätte ich unterschlagen, so wahr mir Gott helfe, und es wäre ein gutes Werk gewesen! Denn hören Sie nur! Er kommt schon früh am Abend nach Hause und fragt atemlos, ob Sie noch nicht dagewesen sind. Nein, sag' ich, aber ein Brief aus der Polakei ist gekommen. ›Wo?‹ ruft er und ist mit einem Satze im Zimmer und liest den Brief. Darin muß aber etwas Furchtbares gestanden haben, lieber Herr, etwas ganz Furchtbares, denn der Herr Doktor wird totenblaß und zittert und seine Augen glühen. Aber plötzlich wirft er den Brief fort und fängt an, laut zu lachen – es war furchtbar anzuhören, das Herz ist mir stillgestanden – es war ganz so, wie ein Verrückter lacht. Und dann blickt er um sich, mit Augen – mit solchen Augen‹ – die alte Frau suchte ihren Blick recht starr zu machen – ›und dann ruft er mir zu: ›Fort!‹ Und – verzeih' mir's Gott! – es war mir gar nicht unangenehm und ich bin schnell hinausgegangen. Drinnen bleibt es eine Weile ruhig, dann höre ich den Herrn Doktor rasch auf und abgehen und dann sinkt er auf das Sopha und stöhnt leise. Aber wie das geklungen hat, das ist gar nicht zu beschreiben und ich bin darüber wieder tötlich erschrocken. Denn, wissen Sie, vor zwei Jahren war ein großes Unglück hier im Hause, bei meiner Nachbarin: ihr Zimmerherr, ein junger Apotheker, hat sich wegen einer Liebe vergiftet. Ich habe zugehört, wie er gestöhnt hat – genau so hat heute Nacht der Herr Doktor gestöhnt. Da denke ich mir: hier ist ein [207] Unglück geschehen, und fasse mir ein Herz und trete in sein Zimmer. Er steht auf und starrt mich mit großen Augen an, als müßte er sich erst besinnen. ›Ich bin's ja,‹ rufe ich, ›sind Sie krank?‹ – ›Nein,‹ sagt er, ›ich möchte nur ganz allein sein, ganz allein!‹ Und da gehe ich wieder fort, aber die ganze Nacht – –«

Ich hörte sie länger an und trat in das Zimmer. Adolf saß regungslos im Lehnstuhle, die Hände aufs Gesicht gepreßt; es schien fast, als schlafe er. Aber beim Geräusch meiner Schritte ließ er die Hände sinken und erhob sich. Ich kann nicht beschreiben, wie sein Gesicht war; ich habe nie einen Seelenschmerz sich erschütternder in den Zügen eines Menschen ausprägen sehen.

»Lies,« sagte er kurz und heiser, und reichte mir einen Brief hin, der auf dem Tische lag. Er lautete:


Herr Doktor!


Ihr müßt mir verzeihen, daß ich erst jetzt schreibe, daß ich mich getäuscht habe. Ich habe Euch nicht lieb, es war nur Freundschaft. Ich habe es bald bemerkt, aber ich habe nicht den Mut gehabt, es Euch früher zu schreiben. Darum schreibe ich erst jetzt, daß ich nächste Woche den Chaim heirate. Ihr könntet vielleicht glauben, daß ich das gezwungen thue, aber es wäre nicht wahr, ich thue es freiwillig. Verzeihet mir also, Herr Doktor, es war ein Irrtum.

Rachel.


»Es war ein Irrtum!« schrie Adolf verzweiflungsvoll und brach dann zusammen.

*


Mehr als vier Jahre waren seit jenem düsteren Wintermorgen vergangen. Wieder grünte und blühte [208] der Frühling. Ich aber saß in einem Hause der großen, dumpfen Stadt, die heiße Stirne über ein Manuskript gebeugt. Da trat der Diener in die Stube und überbrachte mir eine Karte: »Dr. Adolf Leiblinger,« der Herr warte draußen. Ich stürzte selbst zur Thüre und riß sie auf. Ich hatte meinen Freund seit zwei Jahren nicht gesehen, seit jenem Tage, wo er zu mir kam und mir kurz und kühl sagte: »Ich bin als Arzt in holländische Dienste getreten und gehe nach Batavia – leb' wohl!« Aber er hatte sich in der Zwischenzeit wenig verändert: dasselbe blasse Gesicht mit dem unveränderlichen Ausdruck finsterer, trotziger Ruhe. Nur brauner war er geworden von der tropischen Sonne.

»Also wieder in Europa!« rief ich freudig. »Das ist recht von Dir! Du weißt ja, wie sehr ich mich gemüht habe, Dir Deinen Plan auszureden. In dieses mörderische Klima zu gehen, das war ja eine Art anständigen Selbstmords!«

»Ja!« erwiderte er ruhig, »das war's.«

»Aber nun bleibst Du hier?«

»Ja! Ich habe auch jetzt keine Freude am Leben, aber es macht mir auch keinen Schmerz mehr. Der Tod wird mir wohl immer als etwas sehr Gleichgültiges erscheinen. Aber da ich nun einmal lebe, so habe ich wohl auch die Pflicht, mich so nützlich als möglich zu machen. Ich werde mich hier oder auswärts als Dozent habilitieren.«

»Das freut mich,« sagte ich, »ich habe übrigens nie die Hoffnung verloren, daß Dich die Zeit doch endlich heilen wird.«

»Es war, wenn Du das, was mit mir vorgegangen[209] ist, eine Heilung nennen willst, nicht die Zeit, die es bewirkt hat, sondern ein Brief.«

»Ein Brief? Von ihr?«

»Ja. Nachdem ich ihn erhalten hatte, reiste ich sogleich nach Europa – direkt nach Barnow. So wahnsinnig rasch hat bisher noch kein Mensch die ungeheure Reise zurückgelegt. Aber ich bin dennoch zu spät gekommen.«

»Sie ist tot?« fragte ich.

»Ja – vier Wochen sind's her, daß sie starb.«

»Und sie rief Dich durch jenen Brief an ihr Sterbelager?«

»Nein! Aber da Du alles Übrige kennst, so ist es wohl meine Pflicht, Dich auch diesen Brief lesen zu lassen.« Er reichte mir das Schreiben hin. In zitternden, kaum lesbaren Zügen stand darin geschrieben:

»Es wird bald Frühling, aber ich fühle, daß ich ihn nicht mehr erleben werde, darum will ich schreiben, so lange ich es noch vermag. Ich thue es wohl auch um meinetwillen, aber noch mehr um Euretwillen. Um meinetwillen nur, damit Ihr mich nicht auch noch bis über den Tod hinaus verachtet, aber um Euretwillen, um Euch wenigstens jetzt den Schmerz zu nehmen, daß Ihr ein Mädchen geliebt habt, welches schlecht war und Eurer Liebe nicht wert.

Ich habe gelogen, was ich zuletzt vor vier Jahren schrieb. Ich hatte Euch damals lieb und liebe Euch jetzt, und ich werde Euch lieb haben, bis ich sterbe. Und wenn uns Gott nach dem Tode diese Gnade gestattet, so werde ich Euch auch dann noch lieben. Aber eben wegen meiner Liebe habe ich mich so auf immer [210] von Euch geschieden. Schüttelt nicht das Haupt und wundert Euch nicht über die seltsamen Worte. Es wäre mir kein reines Glück geworden, das ich erkauft hätte mit dem Fluche des Vaters und mit der Verzweiflung der Mutter. Aber das hätte ich überwunden. Eines jedoch hätte ich niemals ausgeglichen! – Ihr habt darüber gelächelt und es war doch richtig: Eure Stellung und wie sie mich erzogen haben. Sie haben mich zu lange hier gehalten, so in der Traurigkeit und in der Unwissenheit; ich hätte die Welt und das Licht nicht ertragen können. Ich hätte Euch nicht so recht verstehen können, nicht Euer Weh, nicht Eure Lust, und das wäre mir und vielleicht noch mehr Euch ein großer Schmerz gewesen. Ich wäre so unter Euren Freuden und ihren Frauen immer fremd und ungeschickt geblieben, sie hätten gelacht über mein Thun und über mein Sprechen, und das hätte mir furchtbar weh gethan und Euch nicht minder. Ihr hättet mich vielleicht deshalb von der Welt abgeschlossen gehalten, aber dann hätte ich es nicht ertragen können: ›Dein Mann muß sich deiner schämen,‹ und auch Euch wäre es sehr schmerzlich gewesen. Und eines Tages wäre es so gekommen, wie ich Euch damals gesagt habe: Ihr hättet die Stunde verwünscht, wo ich Eure Gattin geworden wäre. Ihr hättet mich nicht verstoßen, das weiß ich. Aber unglücklich wären wir geworden und Ihr vielleicht noch unglücklicher, als ich.

Das habe ich Alles genau gesehen und erkannt. Und weil ich Euch so sehr liebe, wollte ich nicht, daß Ihr durch mich unglücklich werdet. Darum habe ich beschlossen, es allein zu werden, und habe meinen Eltern gesagt, [211] daß ich den Chaim heiraten wolle, und habe Euch jenen Brief geschrieben. Aber wenn ich auch Euch gegenüber log, meinem Bräutigam habe ich die Wahrheit gesagt. Ich habe ihm gesagt, wie es um mich steht, und daß ich ihm nur eine treue Dienerin sein kann. Er hat darauf erwidert: mit der Zeit wird es schon anders werden. Ich wußte, daß es nicht anders werden wird, aber ich habe mein Leid auf mich genommen. Das war gut und ich klage auch jetzt nicht darüber.

Aber sagen muß ich, daß ich zu schwach war für dieses Leid. Ich bin bleich und krank geworden, mein Herz klopft so stark, daß ich oft davon ohnmächtig werde, ich werde immer schwächer und ich fühle, daß ich bald sterben werde. Aber ich habe kein Bangen vor dem Tode und danke Gott, daß er mich nur so kurz hat leiden lassen und nicht ein ganzes, langes Leben hindurch. Was hätte ich auch noch sollen auf dieser Erde?

Es war mir immer ein Glück und ich habe darauf gehofft seit jener Stunde, wo ich meinen Entschluß gefaßt habe, Euch Alles dies einmal, bevor ich sterbe, zu schreiben. Ich habe nicht geahnt, daß ich schon so bald dies Glück haben werde, daß ich schon so bald gereinigt dastehen werde vor Euren Augen.

Nun ist es mir beschieden – unser Gott ist doch ein barmherziger Gott. Und so danke ich Euch noch einmal für alle Eure Liebe. Ihr seid mir der Trost und das Licht gewesen in meinem armen, dunklen Leben. Ihr habt mich nur selig gemacht und seid unschuldig gewesen an meinem Leide. Verzeiht darum das Weh, das ich Euch bereitet habe. Es ist meine letzte Bitte und ich werde ja bald sterben.

[212] Aber nein! – noch eine Bitte habe ich an Euch und wenn Ihr sie nicht erfüllt, so kann ich keine Ruhe haben im Grabe. Euer Freund, des Doktors Sohn, hat hierher geschrieben, daß Ihr jetzt in einem sehr fernen Lande seid, wo die Sonne heiß brennt und fast alle Fremden an einem bösen Fieber sterben. Er hat auch geschrieben, daß Ihr wahrscheinlich aus Verzweiflung über meine Heirat dorthin gegangen seid. Was ich bei dieser Nachricht und seitdem gelitten habe, kann ich nicht sagen, und wenn ich es sagen könnte, würdet Ihr es gar nicht glauben. Aber ich flehe Euch an, geht weg aus diesem mörderischen Lande. Mein Herz sagt mir, daß Ihr der geschickteste Arzt seid, der je gewesen ist. Kommt zurück und helft den armen Menschen.

Das Gebetbuch Eurer Mutter, welches Ihr mir einmal geschenkt habt, werde ich mit ins Grab nehmen.

Lebt wohl und lebt so lang und so glücklich, als ich Euch wünsche. Ich aber werde tot sein, wenn Ihr diesen Brief leset.

Rachel.«


Stumm gab ich den Brief dem Freunde zurück.

Er erhob sich und sagte ruhig, wie früher: »Nun weißt Du, warum ich wieder in Europa bleibe. Auf Wiedersehen.« Aber wie wir so schweigend einander gegenüberstanden, verließ den stolzen, düsteren Menschen plötzlich seine Kraft. Er sank mir in die Arme und schluchzte leise, herzzerbrechend: »Warum mußte es so kommen – warum?«

Auch ich weiß keine Antwort auf diese Frage. Und darum wage ich es nicht, dieser Geschichte noch ein Wort beizufügen.

[213]

»Baron Schmule«

Wenn man aus Barnow nach Süden fährt, in die Bukowina oder in die Moldau, so sieht man nach etwa drei Stunden, dort, wo die Straße bei Z. den Dniester überschreitet, auf einem Hügel ein stolzes Schloß liegen, mit hohen weißen Mauern und blinkenden Fenstern. Ein prächtiger Garten umgiebt es und zieht sich den Hügel hinab und weit in die Ebene hinein. Das ist vielleicht der schönste Herrensitz in Podolien und sicherlich der reichste. Er gehört dem »Baron Schmule«, wie er überall genannt wird, dem Manne, der einst Schmule Runnstein geheißen hat und jetzt der mächtige Freiherr Sigismund von Ronnicki ist.

Der Mann hat einen großen Weg gemacht, er ist wie ein Pfeil nach seinem Ziele geschossen. Das gelingt nur wenigen Menschen; denn die meisten sind wie ein Kreisel, sie bewegen sich viel, laut und rasch, aber sie drehen sich immer um sich selbst herum und kommen nicht von der Stelle. Der Pfeil macht nicht mehr, nicht lautere, nicht raschere Bewegung, aber er schießt immer auf sein Ziel los. So Baron Schmule. Er hat sein Ziel fest ins Auge gefaßt und ist sicher darauf zugeschritten, obwohl er nur – ein Auge hatte.

[214] Aber auch er war ursprünglich ein Kreisel und nur durch ein Ereignis ist er zum Pfeil geworden: durch einen Peitschenhieb. Es ist eine sonderbare Geschichte ... Vor mehr als fünfzig Jahren war's, da lebte in Z. eine blutarme Witwe, die sich und ihren Sohn durch ein Gewerbe ernährte, von dem zwei Menschen in einem so kleinen Städtchen schwerlich satt werden; sie war eine Zuckerbäckerin. Die Frau hieß Miriam Runnstein. Der Sohn half der Mutter, kaum daß er gehen und rechnen konnte: er war Verkäufer der Ware. Unermüdlich lief der kleine Schmule durch die Straßen und rief: »Kauft Fladen! Fladen und Zuckermandeln! Kauft! kauft!« Aber es giebt wenige Näscher in der »Gasse«, und Hochzeiten und Beschneidungen, wo man eine Zuckerbäckerin ins Haus nimmt, kommen auch nicht täglich vor. Die Kreuzer flossen nur sehr spärlich in die kleine Wirtschaft, und der Hunger thut weh; der arme Schmule weinte oft bittere Thränen über seinen süßen Kram.

Die beste Kundschaft, die er hatte, wohnte eine halbe Meile vom Städtchen, hoch oben auf dem Schlosse. Dieses Schloß gehörte damals dem Baron Wodnicki, Alfred Wodnicki, der überaus reich war und trotz seiner Verschwendung kaum mehr verbrauchen konnte, als das Erträgnis seiner ungeheuren Güter. Er lebte fast nie auf dem Schlosse, weil es ihm dort zu still und zu langweilig war, sondern entweder in Paris oder in Baden-Baden. Und zwar lebte er in Baden-Baden, wenn seine Frau in Paris war, und ging nach Paris, wenn seine Frau nach Baden-Baden [215] kam. Es war das eine friedliche Vereinbarung zwischen den Gatten und sie vertrugen sich im Übrigen ganz gut. Auch der einzige Sprößling aus dieser Ehe, der junge Baron Wladislaus, lebte nicht auf dem Schlosse, sondern wurde in einer Jesuitenschule bei Krakau erzogen. Es hauste also oben nur das Gesinde. Nun kennt man vielleicht das Sprichwort der Polen: »Er ist faul und genäschig wie ein Lakai.« Das traf auch diesmal zu. Der kleine Schmule fand immer seine Rechnung dabei, wenn er mit seinem Korbe hinaufgekeucht kam, und machte daher unverdrossen in Sonnenhitze und Winterkälte den weiten Weg. Freilich bekam er schier zu jedem Kreuzer auch einen Puff, aber daran wird ein jüdisch Kind in Podolien mit der Zeit gewöhnt. So war er allmählich dreizehn Jahre alt geworden und wer weiß, wie lange er noch mit den Fladen und den Zuckermandeln seiner Mutter herumhausiert hätte, wäre nicht jenes Ereignis eingetreten, welches ihn aus einem Kreisel zu einem Pfeil machte.

Das war im August, an einem sehr heißen Tage und gegen die Mittagsstunde. Schmule keuchte wieder einmal den steilen Weg zum Schlosse empor und lief fast trotz der großen Hitze. Denn diesmal hatte er es besonders eilig, es war Freitag und im Hause kein Kreuzer, den Sabbath zu rüsten, und wenn der Hunger an jedem Tage weh thut, am Sabbath thut er doppelt weh. Wie Schmule so hinauflief in seiner Herzensangst und berechnete, was noch in der letzten Stunde Alles zu kaufen sei, überhörte er es, daß Hufklang immer näher scholl, bis er sich endlich nur noch knapp durch [216] einen Sprung vor dem Reiter retten konnte, der im Galopp den steilen Weg heruntergesprengt kam. Es war ein blasser Jüngling mit einer Jagdbüchse auf der Schulter, der junge Baron Wladislaus Wodnicki, der eben zu den Ferien nach dem väterlichen Schlosse heimgekehrt war. Er lachte laut auf, als er den häßlichen Judenjungen gewahrte, der vor Schreck zitterte und in seiner Angst vergessen hatte, die Kappe zu ziehen. Dann wandte er sein Roß und ritt langsam auf Schmule zu, bis er dicht vor ihm hielt. Dieser drückte sich zitternd an die Bergwand.

»Warum hast Du nicht gegrüßt, Du Judenhund?« fragte der junge Baron und schwang die Reitpeitsche. – »Weil ich so er.. schrocken war,« stammelte Schmule. Der junge Mensch ließ die Reitpeitsche sinken und dachte einen Augenblick nach. Dann lachte er hell auf. »Also Du fürchtest Dich sehr vor dem Pferd?« fragte er. »Nun, so höre! Du stellst Dich hierher!« Er wies auf die Mitte des Weges. »Hierher!« wiederholte er zornig und der Junge stellte sich zitternd an den angewiesenen Platz. »Und von dieser Stelle rührst Du Dich nicht, bis ich es Dir erlaube, hörst Du? Weh' Dir, wenn Du einen Schritt thust« – er griff an seine Büchse – »bei allen Heiligen, ich schieße Dich nieder wie einen tollen Hund!«

Damit sprengte er den Berg empor, wendete dort sein Pferd und kam blitzschnell wieder den Weg herabgesprengt und gerade auf den Jungen zu. Zitternd, in Todesangst, sah dieser das Pferd herankommen – ein Nebel legte sich vor seine Augen – im nächsten Augenblick [217] sprang er bei Seite und – die Hufe des Pferdes trafen nur den Korb, den er umgehängt trug und zertrümmerten denselben, daß die Süßigkeiten im Staube umherrollten. Auch der Knabe stürzte nieder, aber nur von der Erschütterung. »Hundsblut! Du hast Dich doch gerührt!« rief der Baron und riß die Büchse von der Schulter. Dann besann er sich doch wieder und begnügte sich, mit der Reitpeitsche rasend auf den Jungen einzuhauen, der sich zu seinen Füßen wand. Bald schlug er mit der Gerte drein und bald mit dem Knopf. Da schrie Schmule entsetzlich auf, griff nach seinem rechten Auge und sank bewußtlos zusammen. Der junge Baron sprengte davon.

Eine Stunde später brachte ein barmherziger Bauer auf seinem Heuwagen den noch immer bewußtlosen Knaben mit einem furchtbar entstellten Antlitz in die Judenstadt und der Mutter ins Haus.

Der Arzt wurde geholt und brachte Schmule wieder zum Bewußtsein und wusch und verband seine Wunden. Auch gab er gute Hoffnung auf seine baldige Genesung. Aber das rechte Auge war verloren; es war ausgeronnen und unheimlich starrte Einem die leere Augenhöhle entgegen.

An dem Tage, als Schmule zuerst wieder außer Bette war, kam ein unerwarteter Besuch: der dicke Gregor, der Leiblakei des jungen Barons. Er brachte zwei Dukaten und erklärte, sein junger Herr sei bereit, aus Erbarmen auch den Arzt und Apotheker zu bezahlen, wenn Schmule von jeder Klage abstehen wolle.

»Geht!« schrie dieser – das war seine ganze Antwort, und sein einziges Auge funkelte dabei so [218] unheimlich, daß der dicke Mann schnellstens gehorchte und daheim rapportierte: »Halten zu Gnaden, Herr Baron, aber ich glaube, Sie haben diesem Juden nicht bloß das Auge herausgeprügelt, sondern auch den Verstand; der Kerl war wie ein Tier.«

Als Schmule ausgehen durfte, war sein erster Gang zum Gericht. Der Gemeindevorsteher erbot sich, mit ihm zu gehen, doch Schmule lehnte es ab. »Ich danke Euch,« sagte er, »aber ich bin kein Kind mehr, der Schlag hat mich plötzlich um zehn Jahr' älter gemacht. Auch will ich ja nur mein Recht suchen.« Er ging zum Richter und brachte seine Klage an. Sie wurde aufgenommen und der Prozeß begann und wurde geführt, wie – nun, wie damals der Prozeß eines armes Judenjungen gegen einen polnischen Baron in Podolien geführt zu werden pflegte. Aber das Urteil kam wenigstens rasch, schon nach einem Monat. Da wurde Schmule vor Gericht gerufen und der Herr Mandatar schrie ihn hart an: »Du hast gelogen, Jud'! Du bist dem gnädigsten Herrn Baron nicht ausgewichen und hast Dich dicht an das Pferd gedrängt, und da hat Dich die Peitsche unversehens getroffen. Sei froh, daß Dich der gnädigste junge Herr nicht wegen Verleumdung anklagt, sei ihm dankbar! Und jetzt – trolle Dich!«

Schmule ging heim. Als er zu seiner Mutter in die Stube trat, schrie diese entsetzt auf: »Kind, wie siehst Du aus? Ist Dir wieder ein Unglück geschehen?« – »Ja,« erwiderte er, »ein noch größeres Unglück, ich habe mein Recht nicht finden können.« Dann [219] murmelte er allerlei vor sich hin und sagte dann wieder laut: »Ich will thun, wie der Herr Richter von mir verlangt hat, ich will ihm dankbar sein ...«

»Sohn,« schrie die alte Frau in Todesangst, »ich sehe es an Deinem Gesicht, Du wirst Dich in das Schloß stehlen und wirst ihn im Schlafe ermorden ...«

»Nein,« erwiderte Schmule und lächelte. »Das wäre auch ganz gut, aber dann würden sie mich aufhängen, und wer soll dann Dich ernähren? Nein, ich muß es auf andere Art versuchen, ich muß ein reicher Mann werden.«

»Gott hat Deinen Verstand verwirrt,« klagte die Mutter und noch heftiger weinte sie, als Schmule ihr seinen Entschluß sagte, nach Barnow auszuwandern. Aber er blieb fest dabei. Er verkaufte das Einzige, was sein war und durch seinen Abgang in der Wirtschaft entbehrlich wurde, sein Bett und sein Bettzeug. Dafür bekam er fünf Gulden, weil er noch einige Gebetbücher darauf gab. »Ich werde meinen Verdienst ehrlich mit Dir teilen,« versprach er seiner Mutter beim Abschied. Mit den fünf Gulden ging er nach Barnow und kaufte sich dort einen kleinen Kram von Zündhölzchen, Seifen, Pomaden und Federn und hausierte damit in den Gasthäusern und auf den Gassen herum. Und weil er unermüdlich war und für sich selber fast gar nichts brauchte, so konnte er nicht nur seine Mutter unterstützen, sondern auch etwas zurücklegen.

Nach zwei Jahren war er so weit, daß er diesen Handel aufgeben und einen andern, einträglicheren beginnen konnte. Er wurde nämlich ein »Dorfgeher«, was ein furchtbar mühsames Gewerbe ist. Da wanderte [220] er, wie Nathan Bilkes, der Vater der Frau Christine, mit einem großen Pack auf dem Rücken, in dem sich Alles befand, was Bauern gebrauchen können, von Dorf zu Dorf und von Jahrmarkt zu Jahrmarkt. Er wurde meist nicht in Geld gezahlt, sondern in Früchten und Fellen. Aber eben dadurch wurde ihm das Gewerbe einträglich. Nachdem er drei Jahre Dorfgeher gewesen, kehrte er zur Stadt zurück und eröffnete in einer Nische am Marktplatz einen Laden von tausend Kleinigkeiten. Auch dieses Geschäft gedieh und er konnte bald ein ordentliches Gewölbe mieten und seine Mutter reichlicher unterstützen. Aber er selbst lebte nach wie vor fast nur von trockenem Brod und gönnte sich höchstens am Sabbath ein Stücklein Fleisch.

Als er dreiundzwanzig Jahre alt war, zehn Jahre, nachdem er von Z. gegangen, starb seine Mutter. Sie starb in seinen Armen. Als er sie begraben hatte und die achttägige Trauerzeit vorüber war, übersiedelte er in eine größere Stadt, nach Czernowitz. Der Zufall fügte es, daß bei der Ausfahrt aus dem Städtchen der Baron Wladislaus Wodnicki in glänzendem Phaëton an ihm vorübersauste. Er hatte damals gerade die Verwaltung seiner Güter übernommen. »Es ist gut, daß er mir gerade jetzt begegnet,« sagte Schmule zu seinem Reisegenossen, »der Schmerz hätte mich sonst eine Zeit lang lässig gemacht.«

Nun stand Schmule allein in der Welt, aber er arbeitete fieberhaft fort, als müßte er eine große Familie ernähren, und ward so allmählich ein wohlhabender Mann. Und weil er dabei tüchtig und ordentlich [221] war, so gelang es ihm trotz seiner Einäugigkeit, eine der reichsten Erbinnen von Czernowitz zur Frau zu bekommen. Nun gründete er ein großes Geschäft mit ausgedehnten Niederlagen und mit einer glänzenden Firmentafel: »Gemischte Warenhandlung von Samuel Runnstein«. Und als ob er sich damit noch nicht genug Arbeit geschafft hätte, begann er daneben noch einen großen Weinhandel. Jetzt erst zeigte Schmule so recht, welche ungeheure Arbeitskraft und Entschlossenheit in ihm steckte. Er durchreiste Deutschland und Frankreich, dann Rußland und die Moldau, und schuf sich überall neue Ankaufs- und Absatzquellen. Nach zehn Jahren galt er als einer der reichsten Kaufleute der Gegend.

Da starb seine Frau, nachdem sie ihm ein Töchterchen geboren hatte. Nun brachte Schmule einen neuen Plan zur Ausführung; er verkaufte seine beiden Geschäfte mit großem Nutzen und wurde Getreidehändler. In Podolien, Bessarabien und der Moldau kaufte er ein und nach dem Westen verkaufte er. Nur bei einem Grundbesitzer kaufte er nie, bei dem Baron Wladislaus Wodnicki, obwohl ihm der Verwalter desselben häufig ein günstiges Angebot machte. Der arme Mann war nämlich in beständiger Verlegenheit, wie er die gewaltigen Summen, die sein Herr brauchte, zusammenscharren sollte. Denn was dem alten Baron trotz seiner Verschwendung kaum gelungen war, das brachte Wladislaus glänzend zu Stande: er verspielte in jedem Monat so viel, wie er im Jahre einnahm. Seine Gattin, eine Dame aus französischer Familie, that gleichfalls redlich das Ihrige, den ungeheuren Reichtum [222] des Hauses zu untergraben. Und so war der Verwalter in Nöten und Schmule wäre ihm sehr gelegen gewesen. Aber dieser lehnte ab und erwiderte mit sonderbarem Lächeln: »Ich hab' mir einmal vor fünfundzwanzig Jahren das Wort gegeben, daß ich mit Ihrem Herrn nur ein Geschäft auf Erden abschließen will. Und das Geschäft ist noch nicht reif ...«

Die Zeit verging, Schmule ward immer reicher und heiratete wieder eine Frau, die ihm eine große Mitgift zubrachte. Dann kam das Jahr 1848 heran, und in diesem wilden Jahre ward aus dem reichen Manne ein Millionär. Herr Sigismund Runnstein, wie man ihn nun, wo er so reich war, allmählich respektvoll zu nennen begann, hatte die Verproviantierung der Russen in Ungarn übernommen und dabei ein höchst vorteilhaftes Geschäft gemacht. Von da ab setzte er sich zur Ruhe und erwiderte immer, wenn man ihn zu einer neuen Unternehmung einlud: »Ich warte!«

Er hatte nicht lange zu harren. Man kann auch mit einem riesigen Vermögen fertig werden, wenn man ein riesiger Verschwender ist. Zwei Jahre noch, und Baron Wladislaus samt Gemahlin konnten nicht mehr in Paris leben, und auch in Z., wohin sie sich zurückgezogen, hatte das seine Schwierigkeit. Denn von all' ihren Gütern gehörte in Wahrheit kein Grashalm mehr ihnen, und von allen Seiten drängten die Gläubiger auf sie ein. Die Baronin kehrte zu ihrer Familie nach Frankreich zurück und der Baron, der wohl oder übel zurückbleiben mußte, suchte seinen Trost im Champagner und dann in der Schnapsflasche.

[223] Da konnte er plötzlich freier aufatmen, das Drängen der Gläubiger hörte mit einem Schlage auf: Schmule hatte alle Wechsel und Forderungen an sich gebracht und seine Millionen darangesetzt. »Das ist das erste schlechte Geschäft, das Schmule Runnstein in seinem Leben gemacht hat,« sagten die Leute, und noch größer war die Verwunderung, als Schmule anscheinend gar keinen Schritt that, seine Forderungen hereinzubringen. Aber er war nicht unthätig geblieben. Er hatte ein Majestätsgesuch an den Kaiser gerichtet und um die Gnade gebeten, Güter ankaufen zu dürfen, denn damals durften die Juden in Galizien keinen Grundbesitz erwerben. Er war selbst nach Wien gereist, sein Gesuch zu unterstützen. Aber es war vergeblich. »Hätt' ich einen Mord begangen,« sagte Schmule, als er zurückkam, »ich hätte mich vielleicht frei machen können. Aber dieses Eine ist nicht zu erreichen.«

Dann ging er lange Tage brütend umher, er kämpfte einen schweren Kampf. Endlich war sein Entschluß gefaßt; er trat sein Weib hin, welches er sehr liebte, und sagte zu ihr: »Ich bin entschlossen, mich taufen zu lassen und Christ zu werden. Erschrick nicht, weine nicht, höre mich ruhig an. Ich muß es thun. Mein ganzes Leben wäre sonst eine Lüge, eine Narrheit. Ich muß die Güter des Wodnicki erwerben. Ich habe entbehrt und gearbeitet, wie vielleicht noch nie ein Mensch auf dieser Erde. Aber ich will nicht meinen Lohn dafür, ich will nur mein Recht. Also, es ist keine Frage, daß ich es thun muß. Aber Dir stelle ich es frei. Wie sehr Du mir lieb bist, brauche [224] ich Dir nicht zu sagen; aber dennoch erkläre ich Dir – ich füge mich, wie Du es entscheidest ...«

Auch sie liebte ihn sehr, aber sie konnte den Glaubenswechsel nicht übers Herz bringen. Sie schieden. Schmule trat zur katholischen Kirche über und nahm den Namen Sigismund Ronnicki an. Auch seine eben herangeblühte Tochter aus erster Ehe ließ sich mit dem Vater taufen und erhielt den Namen Maria. Welches ungeheure Aufsehen dieses Ereignis im ganzen Lande erweckte, läßt sich nicht beschreiben.

Am Tage nach der Taufe machte Schmule alle seine Forderungen gegen Wladislaus geltend. Die Güter kamen zur Feilbietung und Schmule erstand sie. Der Baron verschwand – man wußte nicht, wohin er sich gewendet hatte. Schmule zog auf das Schloß bei Z. und lebte dort mit seiner Tochter Maria. Im Jahre 1854, als der Staat rüstete und sehr viel Geld brauchte, kaufte sich Schmule um eine große Summe den Freiherrntitel. »Aber noch,« sagte er häufig, »habe ich nicht mein ganzes Recht; es fehlt noch Etwas.« Auch dieses sollte der seltsame Mann erlangen. Man erfuhr eines Tages durch die polnischen Zeitungen, daß der unverbesserliche Vagabund und Trunkenbold Baron Wladislaus Wodnicki durch einen edlen Wohlthäter für Lebenszeit versorgt worden sei.

So war es auch. Der »edle Wohlthäter« war der Baron Sigismund Ronnicki. Er hatte den Vagabunden, der sich zuletzt in und bei Barnow herumgetrieben, im buchstäblichen Sinne des Worts von der Straße aufgelesen und gab ihm auf seinem Schlosse[225] eine Zufluchtsstatt. Der Vagabund bekam Alles, was er wollte, nur keinen Schnaps. Und warum? »Wenn er Schnaps trinkt,« sagte Schmule, »so denkt er nicht nach. Und er soll nachdenken. Ich will mein Recht haben.«

Aber der Trunkenbold that dem neuen Herrn seines Schlosses nicht lang den Gefallen. Im Hochsommer des nächsten Jahres war auf dem Schloß ein großes Fest. Baron Ronnicki verheiratete seine Tochter mit einem magyarischen Adeligen, einem Husaren-Rittmeister. An dem festlichen Abend gelang es Wodnicki, Schnaps zu bekommen. Er trank sehr viel und taumelte dann zum Thore hinaus und den Weg hinab, auf dem er einst, vor fünfzig Jahren, dem Judenjungen begegnet. Er ist nie wieder ins Schloß zurückgekommen. Am nächsten Morgen fand man ihn unten, am Fuße der Bergwand, zerschmettert liegen. Ob er in seiner Trunkenheit den steilen Abhang hinabgefallen, ob er sich selbst hinabgestürzt, das bleibt für immer unentschieden.

Seh't – auch solche Geschichten geschehen zuweilen auf Erden.

[226]

Das Christusbild

Da steht es wieder greifbar lebendig vor mir, das arme, verfallene Landstädtchen mit seinen engen, krummen, düsteren Gassen, mit der verfallenen Burg oben auf dem Berge, mit dem stolzen Kloster unten am Flusse. Und namentlich des letzteren muß ich immer wieder gedenken. Ein hoher, mächtiger Bau, rings von einer Mauer eingeschlossen, an der noch heute die Spuren zu sehen sind aus der bösen, verheerenden Tartarenzeit, drin ein wirrer Knäuel von Kapellen und Wohnhäusern, durch feuchte Steinhöfe oder spärlich bewachsene Grasflächen von einander getrennt. Ich war dort oft in meiner Knabenzeit, ich spielte gern in dem kleinen Friedhof auf den verfallenen Gräbern; ich horchte gern dem Widerhall meines Schrittes in dem mächtigen, einsamen Refektorium, am liebsten aber stand ich in der »Kapelle der Äbte«, wie sie den kleinen, byzantinischen Bau nannten, und schaute empor zu dem Gemälde, das man erst kürzlich dort befestigt, frisch, wie es aus den Händen der Malerin hervorgegangen war, der stolzen, schönen Gräfin Jadwiga Bortynska, der Herrin des Städtchens Barnow. Es war ein schönes Bild voll Liebe und Frieden. Auf wallender [227] Wolke stand Christus und breitete segnend die Hände über den Erdball. Auf dem bleichen Antlitz, umwallt von schwarzem Lockenhaar, lag die höchste Liebe, die erhabenste Güte, rein menschlich und darum göttlich und erhaben.

Aber an dies dachte ich nicht, als ich, ein übermütiger Knabe von zwölf Jahren, das Bild zum ersten Male sah. Es war an einem lichten, warmen Herbsttag; Vormittags war das Bild befestigt worden, eine Stunde später zeigte es mir der kleine Wladik, der Sohn des Küsters. Und als es mir so im vollen Sonnenglanz aus dem dunklen Rahmen entgegentrat, wich ich erschreckt zurück. »Weißt Du, wer das ist?« fragte ich meinen Spielkameraden.

»Und da kannst Du noch fragen?« meinte dieser in knabenhafter Entrüstung. »Das ist unser Herr Jesus Christus, den die Juden gekreuzigt haben!«

»Nein, Wladik!« erwiderte ich fest, »dieser ist es nicht, sondern der Bocher David, der bis zum Frühling mein Lehrer war.«

Wladik war entrüstet und schalt, aber ich ließ es mir nicht ausreden: ich wußte, was ich wußte. Und als ich aus der Nachmittagsschule nach Hause kam, da erzählte ich meinem Vater von dem Bilde.

»Närrisches Kind!« lächelte der, »wer soll das Bild gemalt haben?!«

»Unsere Frau Gräfin,« antwortete ich eifrig.

Der Vater lächelte nicht mehr. »Also doch,« sprach er sinnend. »Es ist fast unglaublich ...«

»Was?« fragte ich rasch. Aber er wies mich schroff zur Ruhe.

[228] Ich hätte auch das, was er meinte, damals nicht verstanden. Später aber verstand ich sie, die seltsame, traurige Geschichte, die ich erzählen will, die Geschichte des Christusbildes in der Kapelle zu Barnow, das doch zugleich das meines Lehrers war, des Bocher David.

Ich habe die Geschichte seltsam genannt, mein Leser, und seltsam wird sie Dir auch ins Ohr klingen, namentlich wenn Du im Westen zu Hause bist, wo Bildung und Duldung wohnen. Und traurig, sehr traurig. Aber klage darum nicht den Erzähler an, dessen Herz sich schmerzlich zusammenzieht in der Erinnerung, sondern jene unbegreifliche Macht, die das Menschenherz zu Nacht lenkt oder zu Licht, zu Glück oder zu Elend ...


*


Mitten in die unendliche Ebene hingestreut liegt das kleine Städtchen. Nur eine sanfte Anhöhe ist in der Nähe, da liegen die Trümmer einer Burg, wo einst die Herren von Barnow gehaust: die Starosten Barecki. Aber nun sitzt der letzte Sproß dieses Geschlechts, ein wahnsinniger Greis, in seinem düstern Hause am Flusse, die neuen Herren aber, die Grafen Bortynski, in dem neuen, prächtigen Grafenschloß in der Ebene. Es hält sich stolz entfernt von den niedrigen Hütten, den kleinen, baufälligen Häusern, den dumpfen, engen Straßen von Barnow und von dem Elend, von der Armut seiner Bewohner.

Aber glücklich sind diese Bewohner, die Straßen hell, und die Hütten stattlich im Vergleich zu jenem abgeschiedenen, wie verstoßenen Stadtteil, der sich in den ungesunden Morästen des Flusses hindehnt. Dort[229] bleibt es düster und traurig, mag die Sonne noch so glänzend leuchten, dort verpesten verderbliche Dünste die Luft, liegt auch sonst das Thal im Blütendufte des Frühlings. Dieser Teil des Städtchens ist am dichtesten bewohnt: das Ghetto, das Judenviertel, oder wie's in seiner eigenen Sprache heißt: die »Gasse«.

David war die seltsamste, geheimnisvollste Gestalt der »Gasse«, die an derlei Gestalten überreich ist; im ewigen Schatten wachsen immer sonderbar geformte Pflanzen. Er war der Sohn des verstorbenen Rabbi des Städtchens. Schon in seiner frühen Knabenzeit war er der Stolz und die Leuchte seines Vaters, der Gemeinde, gewesen. Seinem frühreifen Geiste lagen alle Geheimnisse des Talmuds erschlossen, alle die Spitzfindigkeiten und Rätsel. Man bewunderte, man vergötterte den Knaben; man erblickte in dem schwachen, bleichen Kinde den größten Schriftgelehrten der Zukunft und man verzieh deshalb die Hast, die Unbändigkeit seines Wesen.

Da starb der greise Vater und hinterließ seiner Witwe und dem einzigen Kinde nichts, als seine große Bücherei und die Liebe seiner Gemeinde. Diese that auch für den Verwaisten, was sie konnte, oder richtiger nur, was ihr genügend und billig schien. Er durfte in dem Hinterstübchen des Hauses wohnen bleiben, während in die vorderen Gemächer ein neuer Rabbi zog. Es war so recht und hergebracht, aber es verletzte tief das Gefühl des Kindes. Und für den Verwaisten fand man auch nicht jene Worte begeisterten Lobes wie einst, obwohl er es doch täglich mehr verdiente. [230] Der Trotz seines Wesens wuchs und damit seine Unbeliebtheit in der »Gasse«. Dazu kam noch, daß er den neuen Rabbi, den berühmten, frommen Mann eines Tages in der Deutung einer Talmudstelle entschieden überflügelt und sich in kindischem Stolze dessen gerühmt hatte. Nun hatte er auch einen Todfeind in der Gemeinde. Wie er einst vergöttert worden, wurde er nun angefeindet. Seine Lage wurde unleidlich, aber er blieb, so lange seine Mutter lebte. Ihr allein gehorchte er, sie allein vermochte zuweilen ein Lächeln auf das düstere, verschlossene Antlitz des Sohnes zu locken. Als sie gestorben, war auch eines Morgens der fünfzehnjährige Knabe verschwunden. Und er blieb verschwunden. Man vergaß ihn allmählich und erzählte nur noch zuweilen von dem Sohne des Rabbi, der so klug und gelehrt, aber dabei so böse und verstockt gewesen.

Und er blieb verschollen durch lange zwölf Jahre.

Da kam er eines Tages wieder in das Ghetto des kleinen podolischen Städtchens und mietete sich in einem der verfallenen Häuschen ein. Am nächsten Tage aber ging er zu den Vorstehern der Synagoge und zu den Krankenpflegern und sagte ihnen: er sei entschlossen, sein Leben den Kranken zu widmen und den Sterbenden. Er kenne manches Heilmittel und manche Kunst der Heilung, und er bitte, sein Opfer anzunehmen und ihn nicht zu schonen, wo Rettung und Pflege nötig sei. Sie wunderten sich über seinen Entschluß, dann lobten sie ihn. Später jedoch segneten sie seine Thätigkeit und sein Lob ging von Mund zu Mund, wie einst. Aber ein gewisser Hauch der Unheimlichkeit [231] und des Fremdseins blieb um ihn: er ward nicht wieder heimisch in der »Gasse«. Von welcher Art die Studien seien, die er bei seiner einsamen Lampe nächtelang betrieb, wovon er lebe, wo in der Ferne er gewesen, das wußte Niemand. Der Rabbi, der im Laufe der Jahre längst den Übermut des Knaben vergessen hatte, und mein Vater, der vermöge seines Berufs – mein Vater war der Stadtarzt – häufig mit ihm zusammentraf, waren die einzigen Menschen, mit denen er eigentlich verkehrte. Von ihnen erfuhr man auch, daß er im heiligen Lande gewesen sei und die Länder des Westens gesehen habe, ja, daß er sogar im Lande jenseits des großen Meeres längere Zeit geweilt habe, in »Amerikum«, wie's in der Sprache der »Gasse« heißt. Er spreche vieler Völker Sprache, raunte man sich zu, er wisse alles und vermöge viel, im Guten und im Bösen, denn er sei ein Meister der »Kabbala«, und ihm seien die großen, furchtbaren Geheimnisse des Buches »Sohar«, des Lehrbuchs der Kabbala, klar und offen. Er habe sich verpflichtet, stets einsam zu bleiben, und darum sei er noch heute »Bocher«, dies heißt: unverheiratet.

Er aber wußte nichts von diesen Gerüchten oder er kehrte sich nicht daran. Er half, wo er helfen konnte, ohne Dank zu wollen oder gar Entgelt. Und allmählich achteten und liebten sie ihn doch, den einsamen, stillen, bleichen Mann. Sein Antlitz war nicht leidenschaftlich und düster, wie in seiner Knabenzeit; es trug einen Ausdruck milden Ernstes, der in gleicher Weise die Furcht wie den Übermut bannte. Der [232] Bocher war der einzige Bewohner des Ghetto, den die Christenknaben nicht mit Kot und Hohn bewarfen, obwohl er sich äußerlich vielleicht nur durch die peinlich sorgsame Reinlichkeit der Kleidung von seinen Glaubensgenossen unterschied. Er trug gleichfalls die seltsame, altpolnische Tracht der Juden in Polen und Rußland. Und sie paßte vortrefflich zu dieser hohen, stattlichen Gestalt, zu diesem bleichen, geistvollen Antlitz mit den herabwallenden, dunklen Locken.

Dieser Mann nun wurde mein Lehrer und blieb es durch sechs Jahre, bis in mein zwölftes Jahr. Er behandelte den übermütigen, regsamen Knaben stets gleich ernst, gleich liebevoll. Wir sprachen fast nie ein Wort, das nicht streng zum Unterricht gehört hätte. Nur ein einziges Mal. Ich war zum ersten Male aus der Klosterschule nach Hause gekommen und weinte über den Hohn, den mir meine Mitschüler angethan hatten, meines Glaubens wegen. Da trat der Bocher ein und ich klagte ihm mein Leid. Er hörte stillschweigend zu und schlug die Stelle des Buches auf, wo er gestern zu erklären aufgehört. Ich weinte fort. »Weine nicht!« sprach er da, »weine nicht, mein Kind, sie wissen ja nicht, was sie thun.« Dann aber setzte er mit hartem, rauhem Tone, wie ich ihn nie wieder von ihm gehört habe, hinzu: »Weine nicht! Sie sind der Thränen nicht wert! Und es kommt ein Tag der Vergeltung.« Ich blickte erstaunt auf und sah in seinem Antlitz einen fremden, drohenden Zug. Er schwieg, die Züge glätteten sich, und nach einer Weile begann er mit lauter, ruhiger Stimme die Bibelstelle zu erklären ...

[233] Ich blieb sein einziger Schüler durch die langen Jahre. Da trat plötzlich ein gewaltiges Ereignis in sein Leben. Der Unterricht ward aufgegeben. Seitdem habe ich ihn nur noch einmal gesprochen.


*


Der alte Graf Adam Bortynski war ein harter Herr, von Niemand geliebt, von Jedermann gefürchtet. Aus einer Nebenlinie stammend, hatte er nie auf das reiche Majorat der Familie hoffen dürfen. Er war selten im Lande gewesen, den Ertrag seiner Güter ließ er sich nach Paris oder London senden, nach Monaco oder Homburg. Man kannte ihn wenig im Städtchen. Da kehrte er plötzlich als Besitzer zurück. Der junge Majoratsherr, Graf Arthur, war gestorben – in Paris, und plötzlich: an einem Blutsturz, den ihm unmäßige Ausschweifung zugezogen. Man flüsterte unheimliche Geschichten darüber, wie Niemand für den jungen Grafen ein besserer Lehrer in den Ausschweifungen der üppigen, lasterhaften Stadt gewesen sei, als sein nunmehriger Erbe.

Dem aber mochte sein, wie es wollte: nun war und blieb Graf Adam der Herr. Bisher unverheiratet, obwohl keineswegs ein Weiberfeind, mußte er nun auch die Pflicht erfüllen, dem Majorat einen Erben zu schaffen. Er wählte die schöne Jadwiga Polanska, die Tochter eines verarmten Schlachzizen aus der Nachbarschaft. Man wußte, daß das Mädchen den Grafen fürchtete und haßte, aber man wußte auch, daß dieser sie dem Vater abgekauft habe. Und Eingeweihte konnten sogar den Kaufpreis nennen. Lange noch erzählte man im Städtchen vom Hochzeitszuge, wie Graf Adam stolz und [234] triumphierend einhergeschritten sei und die junge Braut bleich und düster. Das Hochzeitsmahl war glänzend und sehr heiter, aber als der nächste Morgen graute, hörten die Diener in dem Flügel, den die Neuvermählten bewohnten, einen Schuß fallen, und als sie hineilten, fanden sie den Grafen in seinem Zimmer mit zerschmetterter Hirnschale, die Pistole in der Rechten noch krampfhaft umklammernd. Was ihn in den Tod getrieben, wußte man nicht, man konnte es auch nicht aus den bleichen, ruhigen Zügen der jungen Witwe lesen.

Man sprach viel über die Geschichte bis man sie vergaß oder bis eine neue an ihre Stelle trat. Das Majorat fiel an eine entfernte Nebenlinie, Schloß und Stadt Barnow behielt die Gräfin Jadwiga.

Aber dem stattlichen Schlosse, dem ganzen reichen Besitztum schien nun einmal das Schicksal bestimmt, verlassen und unbenutzt zu bleiben. Auch die junge, achtzehnjährige Witwe zog fort. Und sie blieb lange aus. Man hörte nur zuweilen von den glänzenden Triumphen, die ihre Schönheit, ihr Geist in Paris feierten oder in Helgoland oder in Baden-Baden. Sie heiratete nicht wieder, wie man allgemein erwartet hatte. Und eines Tages im Frühling kehrte sie nach fast zehnjähriger Abwesenheit zurück. Die stattlichen Gemächer wurden nun wieder benützt; auf dem Schloßhof tummelte sich eine zahlreiche Dienerschar. Die Gräfin war nicht mehr so schlank, wie einst; das Antlitz war bleich, vielleicht zu bleich, aber sie war noch immer schön – fast unheimlich schön.


[235] *


Der Maimorgen war lieblich, die Luft erfrischend und die Morgensonne blickte freundlich auf die beiden schönen, jungen Gestalten, die rasch querfeldein ritten, hinaus in das Lenzparadies, das so wunderbar vor ihnen lag.

Ob sie sich wohl Beide dessen freuten, wie sie so lustig dahinsprengten? Die Dame gewiß; die rasche Bewegung, die frische Morgenluft hatte den bleichen Zügen einen Rosenschimmer mitgeteilt, der ihnen sehr gut stand. Sie sah frisch und anmutig aus, die Gräfin Jadwiga. Und so heiter, so glücklich! Weniger heiter und glücklich schien ihr Begleiter. Ein blonder, junger Mann, Baron Starsky, an Gestalt ein Riese, an Herz und Gemüt ein Kind; auch an Verstand, meinten böse Zungen. Er blickte nicht betrübt drein: er liebte die Gräfin so heiß, so unschuldig, mit der Glut erster Liebe, sagte er selber, wenn er der »Liebe« zur kleinen, hübschen Französin vergaß, der Zofe seiner Mutter. Aber das war schon lange her, volle sechs Wochen. Er war sehr reich, seine Güter grenzten an die der Gräfin, er liebte sie überdies. Dies Alles hatte er ihr heute Morgens beim Spazierritt sagen wollen, und ob sie nicht Baronin Starsky werden wolle? Nun war Alles vereitelt. Wer konnte auch bei solch' rasendem Tempo eine Liebeserklärung machen?

Endlich, endlich gab die Gräfin das »verrückte Galoppieren« auf, wie der Baron leise meinte, aber nur sehr leise. Die Rosse gingen verschnaufend und im Schritt auf der Heerstraße zum Städtchen. Aber seltsam, das Herzklopfen, das Starsky vorhin der raschen Bewegung [236] zugeschrieben hatte, wollte nicht weichen; es wurde nur immer stärker. Nun war ja der Augenblick da. Aber es ging nicht recht, gleich aufs Ziel loszusteuern.

Und er begann vom Wetter zu sprechen, der brave, verliebte, kindische Riese. Wie schön der heurige Frühling sei. Er kümmerte sich sonst nicht viel um Blumen, jetzt wußte er Wunderdinge davon zu erzählen. Aber in immer größeren Pausen. Und er sah mit Schrecken den Moment, wo er gänzlich werde schweigen müssen.

Wie eine Erlösung klang es daher in sein Ohr, als die Gräfin plötzlich, ihr Pferd anhaltend, fragte: »Was ist das dort für eine seltsame, dunkle Gestalt auf der Wiese?« Und sie deutete mit der Hand hin.

Baron Starsky klemmte dienstfertig sein Monocle ins Auge. »Ein Jude, Gräfin. Er hält etwas Glänzendes in den Händen – eine Blechbüsche. Was Teufel will er damit?«

»Fragen wir ihn selber.« Und die schöne Frau sprengte über den Graben. Hinterher natürlich Starsky. Der Jude machte eine Bewegung, als wollte er fliehen. Dann blieb er stehen und erwartete die Nahenden, aber wie furchtsam, mit abgewendetem Antlitz.

»Was thut Ihr da?« fragte die Gräfin.

»Ich sammle Kräuter für meine Kranken,« erwiderte der Mann, leise, in reinem Deutsch.

»Ihr seid ein Arzt?« fragte sie erstaunt weiter. »Das ist eine seltsame Nebenbeschäftigung für einen Handelsmann oder Talmudisten, und eins von beiden seid Ihr doch Alle, die ...«

Da fiel ihr Starsky ins Wort.

[237] »Wenn Du nur Kräuter sammelst,« fragte er rauh, »warum blickst Du da den Leuten nicht ehrlich ins Auge?! Warum atmest Du so schwer? – He, Jude?!«

Und er faßte ihn vom Pferde herab festen Griffs an der Schulter. Aber eine energische Bewegung machte den Mann frei und den Baron unwillkürlich zurückweichen. Der Hut war dabei vom Haupte des Juden gefallen und verhüllte nun nicht mehr die freien, edlen Züge. »Lassen Sie mich!« rief er drohend.

Die Gräfin hatte rasch ihr Pferd zwischen die streitenden Männer gedrängt. Sie war todbleich, ihr Atem flog, die farblosen Lippen bebten, als suchten sie vergeblich nach Worten; der starre Blick bohrte sich in das Antlitz des fremden Mannes. Dieser schien sich bezwungen zu haben; er war noch entsetzlich bleich, aber die Züge waren ruhig.

»Wie heißt Ihr!? ... Bist Du's?! ... Wer seid Ihr?!« So rief, nein, schrie sie wie in tötlicher Angst und doch wieder jubelnd ...

»Ich heiße David Blum,« erwiderte er tonlos. »Ich bin Lehrer und Krankenpfleger in Eurer Stadt ...«

Sie wankte im Sattel und schlug die Hände wie rasend vors Antlitz. »Mein Gott,« ächzte sie leise, »äfft mich ein böser Traum?! Das bist ja Du, Du Friedrich! Deine Stimme! Dein Antlitz! ... Aber hier find ich Dich, in dieser Kleidung! ... Ich werde wahnsinnig. Friedrich! Du bist es doch! Friedrich Reimann?!«

Sie war vom Pferde herabgeglitten, sie trat auf ihn zu, sie faßte seine Hände. Starsky blickte mit wirbelnden Sinnen auf die Scene.

[238] David der Bocher rang einen harten Kampf. Er wendete sich zum Gehen, er wollte sprechen, er konnte es nicht. Und endlich sagte er gepreßt und leise: »Friedrich Reimann ist tot – seit langen, langen Jahren schon. Ich bin David Blum, der Krankenpfleger.«

Sie seufzte tief auf. Sie rang nach Atem. »Ich verstehe Dich: Friedrich ist tot. Aber David Blum lebt, und ihm muß ich sagen, was ich Friedrich nicht mehr sagen kann ... Ich habe Dich gesucht, lange, lange – und überall. Hier habe ich Dich gefunden. Du mußt mich hören!«

»Es wäre nun nutzlos, Frau Gräfin!« sagte er leise, aber fest. »Friedrich hat Ihnen vergeben, längst, aus voller Seele ...« Und ein schmerzliches Entsagen zuckte über das Antlitz des Mannes.

»Es ist nicht nutzlos!« flehte sie. »Und wenn auch für Dich, so doch nimmer für mich! Ich bitte um die Gnade: höre mich, nur einmal, nur eine Stunde lang. Komm' heut' Nachmittag zu mir aufs Schloß ...«

Er schüttelte mit traurigem Lächeln das Haupt.

»Sag' nicht nein!« fuhr sie fort. »Du bist ein Jude. Ein Jude war's, der das Wort sprach: ›Seid barmherzig gegen die Schwachen!‹ Ich flehe um Mittleid. Du wirst kommen ... um Gottes, um der einstigen Zeiten willen ...«

»Ich werde kommen,« sagte er nach kurzer Pause. Dann schritt er nach stummem Gruße der Stadt zu.

Die Gräfin atmete tief auf, sie fuhr sich über die Augen, als erwache sie aus schwerem Traum, und wendete sich zu Starsky, der ihr mit dem tiefsten, versteinerten Erstaunen in den Zügen entgegenkam. Sie bestiegen die Pferde und [239] ritten schweigend nach Schloß Barnow zurück. Vor dem Thore verabschiedete sie sich mit stummem Kopfneigen.

Er aber ritt nach dem benachbarten, väterlichen Edelhofe, wider seine Gewohnheit in tiefen Gedanken. Die Gräfin Jadwiga Bortynska und David der Bocher ... ihm wirbelte das Hirn ... Und dieser Frau hatte er seine Hand antragen wollen! Und sie hätte sie vielleicht angenommen – vielleicht? – unzweifelhaft, gewiß! – O entsetzlich!

Die Annalen des Hauses Derer von Starsky hatten diesmal ein bisher unerhörtes Ereignis zu verzeichnen: ein Sprosse dieses edlen Hauses hatte schlecht zu Mittag gespeist und blieb den Nachmittag lang in tiefen Gedanken! ...


*


Der Park von Barnow. Ein grünendes, blühendes, knospendes Gewirre von Blumenbeeten und Baumgruppen, von Vogelliedern durchhallt, von Frühlingsdüften durchweht. Und über all' dem der helle Glanz der Frühlingssonne.

Dort der kleine Pavillon. Vor den Fenstern, in die der Flieder seine Blüten drückt, schimmert der blaue Weiher, eine unbewegliche, schier endlose Fläche. Schwanke Weiden spiegeln sich darin. Der Platz ist wie geschaffen für süßes, stilles Träumen.

Aber die Frau, die d'rin in der weichen Causeuse ruht, träumt nicht süß. Ihr Auge, das düster und starr wie in weite Fernen blickt, sieht nichts von all' der Schönheit, von dem stillen Frieden des Lenzes. Ihr Antlitz ist düster und schmerzvoll, wie ihr Herz. [240] Hier fällt die Maske, hier ist sie nur das unglückliche, schwergeprüfte Weib. Und hier lassen sie sich auch nicht bannen, die Bilder der Erinnerung ...

Die Bilder der Erinnerung!

Was Anderen wie ein stilles Eden voll Licht und Glück in der Seele ruht, woran sie sich später erlaben in der Stunde des Kampfes: die Tage der Kindheit und der Jugend – ihr erscheinen sie düster und grauenhaft. Das wüste, traurige Leben auf dem väterlichen Gute, ein Leben voll Not und Entbehrung ... Die Mutter, die blasse, unglückliche Frau, die das Verderben ihres Gatten sieht und es nicht aufzuhalten vermag, die endlich dahinsiecht an gebrochenem Herzen ... Sie ist der gute Engel des Hauses gewesen; nach ihrem Tode bricht Alles zusammen, Alles! Jadwiga zieht mit dem Vater auf das kleine Gütchen, das ihm noch geblieben ist ... Sie gedenkt der folgenden Jahre. Wie trägt sie sich so schwer, die Bürde der verschämten Armut! O, viel schwerer noch als der Hunger und die Kälte. Und rings nichts als Not und Elend und Trostlosigkeit! ... Der Vater freilich hat Trost gesucht und gefunden – in der Branntweinflasche. Und wenn er sich allen Kummer und alle Erinnerung weggetrunken hat, dann begreift er nicht, warum die Tochter ihn ewig mit Traurigkeit und Thränen quält. Und er schlägt sie blutig, damit sie heiterer werde ...

Ein düsterer, verachtungsvoller Zug liegt auf dem Gesichte der Brütenden. Und wehe dem Menschen, der so seiner Eltern gedenken muß!

Aber sie ist schön geworden trotz der Thränen [241] und der Schläge, und ihr Leib üppig und herrlich. Jedoch sie flucht ihrer Schönheit und dem Tage, da sie Graf Adam gesehen, da ihn diese Schönheit entflammt. Sie gedenkt der Stunde, da er sie dem Vater um zehntausend Gulden abgekauft; wie der Vater ihr gesagt, daß sie Gräfin Bortynska werden müsse, wolle sie nicht, daß er noch mit grauem Haar zum Bettelstab greife. Wie hatte sie geweint und gefleht, sie nicht dem alten, finstern Manne zu überlassen, vor dem es ihr graute, den sie haßte, von dem die Leute sagten, er sei ein Mörder. Sie hatte geschworen, zu arbeiten und sei's wie eine Magd, und ihn nie, nie darben zu lassen. Es war vergeblich gewesen! Eine Polanska durfte sich nie zur Dienerin erniedrigen. Und sie war die Braut des Grafen geworden ...

Es trieb sie vom Sitze empor, sie schritt bleich und finster, mit verschränkten Armen, auf und nieder. Aber sie kamen unerbittlich, sie kamen alle, die Bilder der Erinnerung.

Noch einmal lebte sie die Qualen jener Zeit durch. Sie gedachte des Tages, da man sie in die Kirche geschleppt, ein geschmücktes Opfer, da man sie gezwungen, Lüge und Meineid zu schwören vor dem Bild ihres Gottes, der ihr bisher das einzige Wahre, das Licht und der Trost gewesen in ihrem armen, elenden, zertretenen Dasein, und wie man ihr so auch Gott zur Lüge gemacht. Sie gedachte ihres Hochzeitsfestes, bei dem sie zuerst der entsetzliche Gedanke erfaßt, daß sie den nächsten Morgen nicht erleben dürfe, sie – oder ihr Gatte.

Die Minuten voll Höllenqual flossen so langsam.[242] Endlich, endlich durfte sie sich erheben. Sie ging in ihre Gemächer und schickte die Frauen, die sie entkleiden wollten, zur Ruhe. Sie sah sich um in dem prachtvollen, lauschigen Boudoir, sie wandte sich voll Entsetzen von dem schwellenden Lager. Und sie sann auf Rettung und Rache, indes er unten zechte und sich des schönen Weibes freute, das seiner harrte.

Und sie fühlte es noch heute mit Schauern, wie sie plötzlich ruhig geworden, wie ihr ein wüster, teuflischer Gedanke gekommen. Sie erhob sich, ergriff einen der schweren Leuchter und schritt mit der flackernden Wachskerze hinaus und durch die hallenden Gänge und Gemächer des abgelegenen Flügels. Sie vermied es in die Spiegel zu schauen, an denen sie vorüberschritt. Denn ihr graute vor ihr selbst.

Endlich blieb sie vor einer hohen Flügelthüre stehen. Die Thüre war nur eingeklinkt. Sie trat in den hohen, finstern Saal, den Ahnensaal der Grafen Bortynski. Dort, wo die Reihe schloß, lehnten noch zwei Gemälde an der Wand, das des jungen Grafen Arthur und ihres Gatten. Sie waren gestern erst aus Paris an gekommen; man hatte sie im Gewirre des Hochzeitsfestes, wie sie des Morgens zufällig erfahren, zu befestigen vergessen.

Sie ergriff das Gemälde des Verstorbenen; es war schwer, aber sie fühlte es nicht. So beladen kam sie zurück. Sie lehnte das Bild an ein Tischchen in der Mitte des Gemachs, sie stellte die Wachskerzen so, daß ihr helles Licht darauf fiel.

Sie bezwang ihr Grauen, saß am Fenster nieder und harrte. Es waren furchtbare Gedanken, die sie beschlichen, [243] indes sie horchte, ob ihr Gatte nicht nahe. Schon graute der Morgen, da hörte sie endlich seine schweren Tritte ...

Sie erhob sich, bleich, gefaßt. Er trat ein, von Wein und Erwartung erregt. Da fiel sein Blick auf das Bild seines Opfers. In dem fahlen Lichte des Morgens und der zuckenden Kerzen erschien es, als trete der Tote aus dem Rahmen hervor. Er wich entsetzt zurück, seine schon umnebelten Sinne verwirrten sich ... Wie eine rächende Stimme des Himmels tönten ihm die Worte seines Weibes: »Fort ... fort mit Dir.. Mörder! ... Dein Opfer steht zwischen Dir und mir ...« Er stürzte fort – in sein Gemach.

Sie sank halb ohnmächtig und doch mit quälend wachen Sinnen auf ihren Sitz zurück. Und nach einer Minute hörte sie einen Schuß dröhnen ...

Die junge Frau schloß die Augen, wie um nicht noch einmal das Entsetzliche zu sehen. Sie barg ihr Antlitz in die Hände. Aber sie entfloh sich nicht, sie entfloh ihnen nicht, den Bildern der Erinnerung! ...

Die schweren Tage noch dem Tode ihres Gatten! Die Tage, wo sie weinen, wo sie Schmerz zeigen mußte, indes sie nur ein dumpfes Grauen fühlte. Sie mußte fort, es trieb sie aus dem Schlosse. Und sie ging fort. In langer, glänzender Reihe zogen an ihr die Tage vorüber, wo sie als Königin in den eleganten Cercles von Paris geglänzt. Sie schien so glücklich, sie lächelte so süß, sie schleuderte den Spielball der Konversation so gewandt hin und her, sie suchte zu vergessen. Aber sie vergaß nicht; sie war nicht glücklich. Sie fühlte oft eine entsetzliche Leere in ihrem Herzen. Und die ließ sich nicht bannen in jener glänzenden Scheinwelt.

[244] Da trat die Versuchung an sie heran ... Ein blonder, blasser, einfältiger Regent. Der Fluch seines Landes; der würdige Sprößling eines halb blöden Vaters und einer lasterhaften Mutter. Bah! Sie stieß ihn von sich, wie ein unreines Gewürme. Aber hundert Andere lagen ihr zu Füßen, nicht nur schöne und reiche, auch gute und wahre Männer. Aber sie liebte Niemand. Da schlug auch ihre Stunde. In Baden-Baden war's ...

Er hatte dies stolze, heiße, ungestüme Herz unterjocht, der bescheidene, deutsche Arzt, der Leibarzt des Fürsten Sugatcheff, Dr. Friedrich Reimann. Sie liebte ihn, wie er sie liebte. Aber auch ihn hatte sie verloren – durch eigene Schuld, flüsterte anklagend ihr Herz. Die Schuld ließ sich nicht gut machen. Er war nach einer unseligen Katastrophe plötzlich verschwunden und blieb verschwunden. Sie suchte ihn, sie fand ihn nimmer. Und sie lächelte, spöttelte und herrschte weiter in ihrem Kreise. Aber ihr Herz, das bisher nur leer und unbefriedigt gewesen, trug nun auch tief verborgen den Stachel der Reue.

Sie ertrug es lange, dann ward es ihr der Qual zu viel. Sie kehrte in ihre Heimat zurück, um da zu vergessen, oder doch wenigstens, um weinen zu können, und nicht ewig, ewig das Lächeln des Glücks zur Schau tragen müssen. Da hatte sie auch den Mann gefunden, den sie gesucht. Freilich in einer Gestalt, die sie nicht begriff. Aber was kümmerte es sie, wer durfte ihr befehlen, wen sie lieben solle, wen sie zu ihrem Herrn und Gemahl machen dürfe?! ... O! sie wollte gut machen, was sie gefehlt; sie wollte glücklich sein, mit dem Geliebten und durch den Geliebten ...

[245] Und zum ersten Male in den langen Stunden, die sie heute einsam verbracht, lächelte sie, und es war kein trauriges Lächeln, es war ein Lächeln der Hoffnung und der Liebe ...


*


Selbst in das schmutzige, düstere Labyrinth der Judenstadt drang heute ein Hauch des Frühlings. Die Gesunden vergaßen ihre Sorgen, die Kranken schöpften neue Hoffnung in dem warmen, hellen Sonnenlichte. David der Bocher fand sie heute fast alle besser und heiterer. Und er sprach auch heute mit jedem von ihnen viel länger, gütiger und ausführlicher, als sonst selbst seine Art war, und jedem einzeln versprach er fast feierlich, daß er morgen wieder kommen wolle.

Dann ging er aufs Schloß. Die Frau Gräfin erwarte ihn im Pavillon im Garten, sagte der dicke Portier am Eingang. Er ging dahin und trat ins Gemach, in den ruhigen Zügen den ihm eigenen, milden Ernst. Sie eilte ihm erregt entgegen, sie faßte seine Hand. »Dank! Friedrich! Dank, daß Du gekommen bist. Ich habe mich so lange danach gesehnt und darauf gehofft. Nun kann Alles, Alles wieder gut werden.«

Sie hielt inne, als erwarte sie seine Anrede.

»Ich bin gekommen,« sagte er ernst und ruhig, »weil Sie es gewollt haben, Frau Gräfin. Und da uns das Leben noch einmal so sonderbar zusammengeführt hat, so bin ich Ihnen wohl auch eine Erklärung schuldig, was mein Gewand betrifft und mein bisheriges Leben. Sie haben ein Recht darauf ...«

Ihr Auge hatte sich mit Thränen gefüllt, als er [246] so kalt und ernst sprach. »Nicht so, Friedrich! Du bist grausam. Du zürnst mir, zürnst mir mit Recht. Aber ich habe entsetzlich gelitten, seit dem Tage, wo ich jene unseligen Zeilen schrieb ... Und um meiner Reue, um meiner Qualen willen – vergieb mir! Blick' nicht so ernst, so strafend.«

»Ich habe Ihnen längst vergeben,« sagte er milder. »Ich sagte es Ihnen schon. Aber Sie beginnen Unmögliches, wenn Sie die Toten wecken, wenn Sie Momente aus unserem Leben streichen wollen, die unvergeßlich sind, eben weil sie einmal dagewesen sind, weil man sie nicht vergessen kann. Ich kenne und verstehe die Qualen Ihres Herzens,« fuhr er fort und seine Stimme bebte, »ich verstehe sie, weil ich sie an meinen Schmerzen messen kann. Und um Sie vor neuem Wehe zu bewahren, vor Hoffnungen, die sich nie erfüllen können, eben darum bitte ich Sie, mich anzuhören, obwohl Sie mich gebeten haben, obwohl ich gekommen bin, zu hören ...«

Sie ließ die Arme, die sie im Beginn seiner Rede wie abwehrend erhoben hatte, schlaff niedersinken und seufzte tief auf. Er nahm den dargebotenen Sitz und begann:

»Ich bin im Städtchen unten geboren, der Sohn des verstorbenen Rabbi. Die Leute dort haben mir nach dem Tode meines Vaters in ihrer Art viel Gutes erwiesen, obwohl ich es damals undankbar verkannte. Nach dem Tode meiner Mutter zog ich fort. Ich erinnere mich noch lebhaft des düsteren, feuchten Herbstmorgens, da ich auszog. Geld hatte ich nicht, aber meine Glaubensgenossen sind milde und barmherzig gegen die Armen. Ich durchstreifte Galizien und Polen [247] und blieb hie und da als Schüler bei einem Rabbi. Aber keiner genügte mir; ich zog weiter. So kam ich nach Wilna. Dort lehrte Rabbi Naphtali, der berühmte Kabbalist. Ich lernte die Kabbala kennen, diese seltsame, tiefsinnige, unheimliche Weisheits- und Glaubenslehre unseres Volkes. Ich warf mich mit glühendem Eifer auf ihr Studium. Das war mein Unglück, wenn Sie es so nennen wollen. Ich machte jene Zeit durch, die jedem denkenden Jüngling nicht erspart bleibt, die Zeit, wo ihm der Glaube zur Lüge wird, wo er kühn und vermessen das Unfaßbare erfassen will. Mein Wissen erschien mir beschränkt und kleinlich. Ich strebte nach Höherem. Das Volk der Dichter und Denker, das deutsche Volk, zog mich mächtig an und Deutschland ward meine Sehnsucht. Indes ich unablässig seine Sprache studierte, erwarb ich mir durch Lehrstunden, durch Sparen und Geizen die nötigen Mittel. Endlich konnte ich reisen. Der Zufall war mir günstig. Auf der Reise, in einem kleinen, lithauischen Grenzstädtchen, lernte ich den greisen Fürsten Sugatscheff kennen. Der Mann war vom echtesten Adel: ein edler Mensch – der Vater des Fürsten Alexius, den Sie in Baden-Baden kennen gelernt haben, Frau Gräfin.«

»Ich erinnere mich,« sagte sie leise.

»Der junge polnische Jude,« fuhr er fort, »der Lessing kannte und für Schiller schwärmte, erweckte seine Teilnahme. Er nahm sich meiner an, er ließ mich studieren. Die Welt der Alten erschloß sich mir, – in ihrem vielheiteren, bunten Gewimmel, aber auch in ihrem Ernste und in ihrer Tiefe. Doch mein Sehnen, [248] mein Forschen erfüllte sie nicht. Dann wurden die Naturwissenschaften mein Hauptstudium und immer stärker regte sich in mir der Trieb nach praktischer Thätigkeit. Das Feuer des Jünglings war allmählich gedämpft; den Schleier der Isis aufzuheben, das Wesen des Bestehenden zu erforschen, hatte ich aufgegeben. Ich wurde Arzt – und jetzt darf ich's ja sagen, ein viel begehrter, wohl auch geschickter Arzt. Meinen Namen hatte ich geändert. David Blum hätte manchen nutzlosen Kampf zu kämpfen, manche herbe Kränkung zu erdulden gehabt, die Friedrich Reimann erspart blieben. Meinen Glauben wechselte ich nicht; wenn Sie wollen – aus Gewohnheit, denn damals war mir die eine Form der Religion so bedeutungslos wie die andere. Meine Praxis wuchs, ich ward einer der ersten Ärzte in der norddeutschen Hafenstadt, wo ich mich angesiedelt hatte. Da erkrankte der greise Fürst Sugatscheff und berief mich nach Paris an sein Lager. Es war sein Sterbelager. Vor seinem Tode hatte er mich angefleht, ein treuer Freund seines jungen Sohnes zu sein, ihn als sein Arzt so lange zu begleiten, bis ich glaubte, daß er dem verführerischen Treiben der großen Welt selbständig werde entgegentreten können. Ich leistete ihm das Versprechen, das meine eben gegründete Lebensstellung vernichtete, aber er war der einzige Mensch, der mir im Leben wohlgethan, den ich bis dahin nächst meiner Mutter geliebt hatte. Nach seinem Tode ward mir erst die ganze Peinlichkeit meiner Stellung klar. Fürst Alexius war ein leichtsinniger, früh verderbter Mensch. Ich that meine Pflicht ohne Rücksicht auf seine [249] Liebe; seine Achtung wußte ich mir zu erzwingen. Es waren sorgenvolle Tage und Eins nur stärkte mich: das Bewußtsein erfüllter Pflicht. Da kamen wir nach Baden-Baden, da lernte ich Sie kennen, Frau Gräfin! ...«

Sie hatte ihm bisher mit gesenktem Haupte zugehört. Nun erhob sie ihre Augen und ließ sie auf seinem Antlitz haften, als erwarte sie von seinen Worten Leben oder Tod. Und er fuhr fort, warm und bewegt:

»Ich habe Sie geliebt, mit ganzem Herzen und aus voller Seele; daß auch Sie mich geliebt haben, weiß ich. Und wenn es Ihnen heute zum Troste ist, so kann ich Ihnen sagen, daß ich nie daran gezweifelt habe, nie, selbst in jenem Momente nicht, wo Sie mir die tiefste Wunde schlugen. Aber Eins bin ich verpflichtet, Ihnen zu sagen: warum ich Ihnen nicht schon damals erzählt habe, was Sie heute vernehmen. Ich that es nicht, nicht etwa aus falscher Scham über meine Vergangenheit, ich that es nicht, weil ich einfach nicht daran dachte. Sie waren meine erste Liebe, und mein Herz, das nun seine Ruhe gefunden hat, dieses einst ruhelose, vielgequälte Herz wird Ihnen ewig danken für jene kurze Zeit des Glücks. Die erste Liebe aber weiß nichts von der Vergangenheit und denkt nicht an die Zukunft. Der deutsche Dichter hat Recht: ›Die erste Liebe weiß noch nicht, daß sie sterben muß, wie das Kind nichts weiß von dem Tode, den es oft um sich sieht.‹ Und im Bewußtsein dieser meiner Liebe ahnte ich nicht, daß es Ihre Liebe ändern könnte, wenn Sie erführen, eine Judenmutter habe mich geboren und ich sei ein armer Talmudist gewesen. Liebte ja auch ich [250] nicht die Gräfin Jadwiga Bortynska, nur Sie, Sie allein – ein edles, starkes Herz, das dem meinen entgegenschlug. Eine anders geartete Liebe könnte ich wohl auch nicht empfunden haben, ich, den das Leben ernst und stolz gemacht hatte. Und daß ich mich in dieser Überzeugung täuschte, daß Sie sich nicht zu einem gleich freien Gefühle aufzuschwingen vermochten, das stellt sich für ewig zwischen Sie und mich, das trennt uns für immer – das allein!...«

»Ich habe mir diese Überzeugung,« fuhr er fort, und seine Stimme klang wieder klar und voll, »nicht erst in den langen Jahren seit unserer Trennung errungen; sie durchzuckte mich schon klar und furchtbar schmerzlich, als ich in jener dunklen Stunde die wenigen flüchtigen Zeilen las, die Sie mir schrieben: ›Wenn Sie wirklich ein Jude sind, wenn das Gerücht recht erzählt von Ihrer seltsamen Vergangenheit, so sind wir geschieden.‹ Und weil ich damals schon erkannte, daß der Bruch unheilbar sei, darum handelte ich nicht, wie vielleicht ein anderer an meiner Stelle gehandelt hätte, ich suchte nicht zu retten, was noch in Ihrem Herzen an Liebe für mich zu retten war – ich ging.

Ich ging. Nach Frankreich, nach England, von da nach Amerika. Aber ich hatte meinen Schmerz nur über das Weltmeer getragen. Er heilte langsam und ich kämpfte viel, bis ich der Liebe zu Ihnen nur noch mit leiser Wehmut zu denken vermochte. Denn Sie waren meinem Leben das Sonnenlicht und der Frühling. Und als der Glaube an Sie in mir zusammenbrach, da schien es mir, als müßte in mir Alles brechen und [251] lügen und fallen. Aber ich überwand. Und in jenen Stunden des herbsten Seelenkampfes habe ich auch mein Leben den Kranken gewidmet und den Elenden. Denn ich war im Innern ein Anderer geworden. Hatte ich früher nur um meiner selbst, um der Befriedigung meines Stolzes willen nach den Früchten der Erkenntnis getrachtet, hatte ich früher einzig um dessentwillen nach dem Quell des Wissens gedürstet, um, durch die Labe gestärkt, vor der Welt stark und unbeugsam dazustehen, so fühlte ich nun das Bedürfnis, Anderen zu nützen, Andere zu erheben und zu stärken. Und wieder andererseits war ich so müde, so entsetzlich müde. Ich bin aus jenem Holze, das sich dem Drucke nicht beugt, sondern darunter bricht. Es wäre nutzlos, wenn ich dagegen ankämpfen würde, meine Natur ist so. So wies mich denn dies Alles auf die Heimat. Und ich kam wieder in die Mitte jener Menschen, die mir in meiner Kindheit viel Liebe erwiesen, und zu den Grabhügeln meiner Eltern ... Ich kehrte zurück zum Glauben an einen Gott der Liebe und des Erbarmens und verehre ihn, der Allen derselbe ist, in jener Form, die mir gewohnt und vertraut ist. Es war nicht Reue, die dies bewirkte, denn ich bin kein Sünder. Es war nicht der Wunsch, die Gottheit möglicherweise zu versöhnen, denn ich hoffe und wünsche nichts mehr. Es war ein unaussprechlich tiefes, ein unaussprechlich banges Sehnen nach einem festen Halt in all' der Nacht und Not und Wirrnis ... Ich lernte mein armes, verachtetes, zertretenes Volk wieder lieben, und um ganz Einer der [252] Seinen zu sein, legte ich auch seine Kleidung an. Ich bin kein berühmter Mann geworden, ein armer, schlichter Krankenpfleger, aber mancher Mensch unten, Jude und Christ, gedenkt wohl auch meiner, wendet er sich zu seinem Gotte. Ich hätte vielleicht draußen im Getriebe des Lebens berühmt und reich werden können, aber schmerzlos bin ich hier, in meinem dumpfen Stübchen. Und nun frage ich auch nicht mehr, was ich einst in Zorn und Schmerz habe oft fragen müssen: warum es so gekommen ist, warum gerade mir so unendlich viel des Schmerzes und Kampfes beschieden gewesen ist. Nun bin ich ruhig und darum glücklich: ich habe entsagt! ...«

Er schwieg. Draußen warf die Abendsonne ihren Schimmer über den Weiher und die Blütenbäume, und sie ruhte auch wie verklärend auf dem stillen, bleichen Antlitz des Sprechers.

»Daß Sie die Besitzerin meines Geburtsstädtchens seien,« so schloß er nach kurzer Pause, »erfuhr ich erst, als Sie vor wenigen Wochen hier ankamen. Ich wünschte kein Wiedersehen, um Ihretwillen. Ihnen mußte es Schmerz und Reue erneuen. Denn auch Sie haben mich geliebt, wenn auch mit anderer Liebe.«

Er schwieg abermals. Sie antwortete nichts; sie schluchzte nur leise, tief auf, wie aus gebrochenem Herzen. Er erhob sich, um zu gehen. Da trat sie noch einmal an ihn heran. Sie war entsetzlich bleich; aus den weit geöffneten, fast starr blickenden Augen rollten schwere Thränen. »So wäre denn Alles aus,« schluchzte sie fast unhörbar, »Alles ... ich habe Dich gefunden, um Dich auf ewig zu verlieren. Friedrich! ... es wird mein Tod sein! ...«

[253] Er blickte voll tiefer Rührung auf die gebrochene Gestalt der Weinenden. »Auch Sie werden ruhiger werden,« sprach er sanft. »Und dann auch glücklicher. Dann werden Sie erkennen, daß ich nicht anders zu handeln vermochte«!

Sie seufzte tief auf. »Ich büße hart,« sagte sie mit zuckenden Lippen. »Für einen Augenblick der Schwäche mit einem langen Leben voll Elend! Aber Eins will ich nicht: daß Du mich verachtest. Daß ich jene Zeilen schrieb, war das Werk eines Elenden, der das Vorurteil zu nützen wußte, das in meinem Volke gegen das Deine lebt, das man auch in mir seit frühester Kindheit großgezogen hat.«

»Ich dachte daran,« unterbrach er sie milde. »Ich habe jenes Vorurteil schwer gefühlt. Ich verzieh Ihnen darum um so leichter. Aber wer war jener Mensch?!«

»Fürst Alexius Sugatscheff,« erwiderte sie finster.

»Also doch!« rief er verachtungsvoll. Aber er bezwang sich. »Ich danke Ihnen für diese Mitteilung,« sprach er. »Sie macht es mir leichter, daran zu denken, daß ich mein Versprechen gegen den alten Fürsten nicht ganz gehalten habe ...«

Es ward dunkler im Gemach, die Sonne war gesunken. »Leben Sie wohl, Jadwiga,« sagte er leise. »Leben Sie glücklich!« Er faßte warm ihre kalte Hand, an der die Pulse fieberten. »Und denken Sie daran, daß wir uns einst wiedersehen.«

Sie vermochte nichts zu erwidern. Sie stand in der Mitte des Gemachs und horchte seinen verhallenden Schritten. Dann stürzte sie gebrochen zusammen ...

[254] Der nächste Tag fand Baron Starsky, wie der vorige, schwer betrübt und in tiefen Gedanken. Gräfin Jadwiga war Morgens mit dem Frühesten abgereist. Niemand wußte wohin. Und er hätte sie, trotz der gestrigen Scene mit dem »lumpigen Juden«, vielleicht – doch geheiratet.

Der Mann seines Zornes aber streichelte in demselben Momente liebevoll das Knabenhaupt des Erzählers dieser Geschichte und tröstete den Weinenden. Er hatte ihm eben gesagt, daß er nicht mehr sein Lehrer sein könne, denn seit gestern dürfe er auch nicht mehr eine Minute seines Lebens den Kranken entziehen und den Elenden.


*


Der Judenfriedhof zu Barnow ist ein stiller Ort, eine Stätte des Friedens, nicht des Schreckens. Namentlich zur schönen Zeit, wo der blaue Himmel so freundlich auf das kleine Feld herablächelt, das ganz eingehüllt ist in frisches Grün und Frühlingsduft. Über den verfallenen Denksteinen, über dem Moder der Gräber wiegt sich in hellen, duftenden Sträußen die Holunderblüte.

Auch auf des Bochers Grabe blüht ein solcher Strauch. Ich bin oft darunter gesessen und habe des Mannes gedacht, der da schlummert, und habe immer wieder die Grabschrift gelesen, die in schönen, rührend einfachen Worten sagt, wie er ein Helfer und Pfleger gewesen den Kranken und den Elenden, und wie er – ein rechter Held – mitten in seinem Wirken gestorben ...

Er ist ein Jahr nach dem, was ich hier erzählt habe, heimgegangen. Der Winter hatte einen bösen Gast in die »Gasse« gebracht, das Nervenfieber. David half und rettete, wo er konnte, bis ihn selbst die Krankheit[255] niederwarf. Er überwand sie, aber seine Lebenskraft war zerstört; er siechte langsam dahin. Von seinem Werke aber ließ er nicht ab, bis er zusammenbrach. Dann legte er sich still hin und duldete kaum, daß man ihn pflege.

Wenige Tage vor seinem Tode hatte er mich zu sprechen gewünscht. Ich ging zu ihm. Er sah bleich und gebrochen aus und lehnte am offenen Fenster, durch das eben der erste Hauch des Frühlings in die dumpfe Stube drang. »Es freut mich, daß Du gekommen bist,« sagte er milde lächelnd. »Ich habe Dir noch etwas zu sagen, ehe ich scheide ...«

Er hielt einen Augenblick inne, dann fuhr er fort:

»Ich habe Dir einmal ein böses Wort gesagt, ein Wort von Rache und Vergeltung für erlittene Schmach. Ich bitte Dich: vergiß dieses Wort und handle nie darnach und gedenke nur dessen, was ich Dir damals gesagt habe: ›Verzeihe ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun.‹ Ich weiß, ein Wort haftet tief im Kindergemüt. Aber Du giebst mir die Hand darauf, mir in diesem Letzten getreu zu folgen.«

Ich versprach es unter Thränen. Ich weinte, als wollte mir das Herz zerspringen. Denn dem Knaben war eine Ahnung von der Seelengröße des Mannes gekommen, der da noch im Sterben segnen und erheben wollte.

»Du weinst, mein thörichtes Kind!« verwies er mir, wehmütig lächelnd. »Du thust Unrecht daran. Hab' ich doch oft genug dem Tod ins Auge gesehn! Und er ist nicht schrecklich, er ist nicht grauenhaft – [256] er ist ein milder Freund und Tröster der Menschen Wohl hätte ich länger hier zu weilen gewünscht, um die Pflicht zu erfüllen, die ich für mein Leben auf mich genommen habe, aber Er, der unser Schicksal lenkt, hat es anders gewollt. Sein Wille sei gelobt ...«

Er strich mir das Haar aus der Stirne, er ließ seine Hand wie segnend auf meinem Haupte ruhen.

»Leb' wohl, mein Kind! Leb' wohl und ... werde glücklicher, als Dein Lehrer.« Dies Letzte, sagte er leise, so leise, daß ich es kaum verstand.

An einem schönen, lichten Frühlingsmorgen fanden ihn seine Pfleger tot, ein Lächeln auf den Lippen.

Die Gräfin Jadwiga aber lebt noch. Sie ist noch immer eine schöne Frau. Ob eine glückliche?! Ob ihr leise, leise die Erinnerung an das verfallene Landstädtchen durch das Herz zuckt und an den Mann, den sie ja trotz alledem in ihrer Art heiß geliebt hat?!

Das Christusbild, dieses seltsame Werk religiöser Schwärmerei und irdischer, nicht zu besiegender Liebe, hat sie in einem stillen Thale der Schweiz im Sommer gemalt, der jenem Frühlingstage folgte. Die Kunst, die sie früher vielleicht nur der Mode wegen betrieben hatte, mochte ihr da zur Trösterin geworden sein. Und dieses Bild zeigte auch wohl, daß sie den Edelmut und die Größe der Entsagung begriffen, die der Jude um ihret- und seinetwillen geübt hat.

Das ist die Geschichte des Christusbildes zu Barnow.

[257]

Ohne Inschrift

Es war ein schöner, stiller Herbsttag, da ich zuletzt hinausging. Der Weg läuft eigensinnig genug über Gärten und Felder, und mit mir war Niemand als der Sonnenschein und ein leises Wehen im welkenden Gesträuch, aber ich brauchte auch Niemand zu fragen. Ich kenne den Weg, ich gehe ihn jedesmal, so oft ich die Heimat grüße, und von Jahr zu Jahr gehe ich ihn lieber. Denn die Zahl der Bekannten, zu denen er mich führt, wächst von Jahr zu Jahr, und es kommt wohl der Tag, da ich schließlich nichts mehr zu suchen habe drinnen im Städtchen ...

Der »gute Ort« war es, wohin ich ging. Und da dies das einzige Plätzchen ist, wohin weder die Peitsche des Polen reicht, noch die gierige Hand des Wunderrabbi, so mag der Manne immerhin gelten. Hier ist die arme Seele erlöst von dem doppelten Banne, der sie drückt und – wer zählt die Opfer? – erstickt, von der äußern Schmach und der innern Nacht. Diese armen Menschen werden eigentlich erst glücklich, wenn sie gestorben sind. Dann wissen sie leider freilich nichts davon, aber sie ahnen es doch schon im Leben. Darum haben sie ihren Friedhöfen den schönen Namen gegeben, [258] und sie schmücken diese, so gut sie können. Es fällt sonst dem Juden des Ostens nie mals ein, einen Baum zu pflanzen oder eine Blume zu säen; nur zwischen den Grabsteinen keimt frisches Grün, nur über die Toten weht Blumenduft. Ach, war es doch auch der einzige Grundbesitz, der diesen Leuten bis vor einigen Jahren gegönnt war! ...

Auch der »gute Ort« zu Barnow ist eine freundliche, liebe Stätte. Und wie es da im Frühling aussieht, habe ich schon einmal erzählt: Holunderblüten allüberall, dicht an des Wandelnden Fuß und ihm hoch zu Häupten, rot und blau – und in den Lüften ein Duft, daß er fast die Brust beengt. Das ist im Herbste freilich verweht und verwelkt, aber andere, stillere Schönheit schmückt den Raum. Der September bringt der sonst so armen Landschaft eine unsägliche Klarheit des Lichtes und der Lüfte; still, voll und unendlich ergießt sich über Himmel und Heide der goldene Strom, ein gütiger Königssohn, der sich liebend zu einer Hirtin neigt und ihr den Purpurmantel um den braunen Leib legt. Sie jubelt nicht auf; demütig, tief erglühend, beugt sie sich dem erdrückend großen Glück. Die Heide ist niemals heiter und sehr ernst ist sie im Herbst. Aber es ist ein lichter Ernst. Tiefrot und prächtig schimmert das Heidekraut, und mitten darin in milderen Tinten das sterbende Laub der Linden. Dazwischen glänzt hier und da ein Weiher, wie ein stilles, sinnendes Auge. Wer so allmählich zum Friedhof emporsteigt und um sich blickt, muß, glaub' ich, empfinden, daß auch hier herzbewegende Schönheit ist. Übrigens, ich weiß nicht – vielleicht muß man im Heideland geboren sein ...

[259] Der »gute Ort« liegt auf einem Hügel und man kann da weite Umschau halten. Wohl an die zehn Weiher glänzen dem Blick entgegen, einige Dorfschaften, die mit ihren braunen Strohdächern dem Auge wie ein wirrer Haufe von Bienenkörben erscheinen, endlich zu Füßen die Stadt, die hier grau, stattlich und ehrwürdig scheint und in Wahrheit ein erbärmliches, schmutziges Nest ist. Es ist herzbefreiend, wenn man den Blick so frei spielen lassen kann – weit, weit, bis er in den blauen Wellen der Luft ertrinkt. Denn gegen Ost, Nord und Süd ist keine andere Grenze als die Glocke des Himmels. An minder hellen Tagen auch gegen West. Aber wenn die Luft durchsichtig klar ist, sieht man dort eine graublaue, seltsam geformte Wolkenbank. Wer sie zum ersten Male sieht, kann glauben, daß sich dort ein Wetter balle und sachte aufziehe. Aber die Wolke wächst nicht und zerrinnt nicht; wohl zittern leise ihre Umrisse, aber sie steht ewig fest: es sind die Karpathen ...

Doch auch in der Nähe ist es schön. Wohl starren die sonderbaren, knorrigen Arme des Holunders ohne Blatt und Blüte, aber nackt sind sie nicht. Tausend und aber tausend Fäden hat der Herbst daran gewoben und die zittern und glänzen verklärend um das graue Geäst. Auf den Gräbern liegt das tiefrote Laub, dazwischen blühen die Astern. Die Gräber sind wohlgepflegt; es ist in diesem Volk eine unendliche Ehrfurcht vor der Majestät des Todes.

Ein überaus gewaltiger, überaus strenger Herrscher, der es aber doch im Grunde gut mit den armen[260] Menschen meint und sich erbarmend zu ihnen neigt – das ist den Juden der Tod. Auch sie sterben nicht gern, aber sie sterben leichter, getrösteter; nirgendwo wurzelt der Glaube an das Jenseits so tief und ehern. Nicht bloß aus Eigenliebe, sondern auch aus Liebe zu Gott! Denn er ist ja ein Allgerechter und wo wäre seine Gerechtigkeit, wollte er ihnen nicht im Jenseits vergelten, was das Erdenleben auf ihr armes Haupt gehäuft hat? Und dennoch hängen sie sehr an der Erde und alle Seligkeit des Himmels ist nur ein Übergang, eine Zwischenstation zur vollen Seligkeit auf Erden, nachdem einmal der Messias gekommen ist. Darum ist es Gottesdienst, die Toten zu begraben, die Gräber zu pflegen. Selbst der verwittertste Grabstein wird gestützt und erhalten, vielleicht vom Urenkel, vielleicht von Leuten, die nichts von dem Schläfer wissen, oder doch nur so viel, daß er eben ein Mensch gewesen ist, dem gleiche Freuden und Schmerzen durch die Seele gegangen sind, wie ihnen. Er war ein Jude, er soll seine Stätte in Ordnung finden, wenn die Posaune klingt ...

Es geht einem Mancherlei durch Herz und Hirn, wenn man so die Höhe emporwandelt, die Gräberreihen entlang. Ich meine da nicht jene ewigen Fragen, die ein Geschlecht dem andern als qualvolles Erbe vermacht und auf die nur Narren eine Antwort erwarten. Freilich erwarten wir sie Alle, denn wir sind eben alle Narren, arme Narren, die ewige Binde um die Augen, das ewige Dürsten im Gemüt. Aber wozu nutzlos an das Tiefste rühren?! Ich meine andere Fragen. Wer also zum Beispiel den Friedhof dort [261] durchschreitet, wo sich der Hügel sacht zum Thale senkt, dem Flusse zu, der muß darüber nachgrübeln, welche Folgen es oft hat, wenn zwei polnische Große zu gleicher Zeit human sein wollen. Auf vierhundert Grabsteinen steht dasselbe Todesjahr eingemeißelt, dasselbe Jahr, derselbe Tag, dieselbe Stunde – es ist eine unsägliche Geschichte – benetzt, nein, überströmt von Blut und Thränen! Und doch Alles nur wegen gleichzeitiger Humanität! So lange nämlich die polnische Königsmacht aufrecht stand, da schützte der Jagellone den Juden und erhielt den Tribut dafür. Aber als diese Macht dahinsiechte und zum armseligen Gespenst ward, das nicht leben noch sterben konnte, da rissen die Wojewoden und auf dem flachen Lande die Starosten den Judenschutz an sich, denn es war eine große Menschenliebe in diesen Leuten. Und in Barnow lebte eine große, reiche Gemeinde, also war es ein großes Verdienst vor Gott, so viele zahlungsfähige Menschen zu beschützen. Darum zogen zwei Starosten zugleich vor die Stadt, der von Tluste und der von Alt-Barnow, und Beide ließen gleichzeitig der Judenschaft sagen: »Entweder beschütze ich euch oder ich schlage euch tot!« Die armen Juden waren in einer Lage, welche kein langes Nachdenken ermöglicht: sie griffen rasch sehr tief in den Sack und sicherten sich Beider Schutz. Aber gerade dies ward ihnen zum Verderben. Denn die beiden Starosten waren in der That Menschenfreunde, jeder nahm es ernst mit der übernommenen Pflicht, aber keiner traute es dem andern zu, und jeder wollte den andern auf die [262] Probe stellen. Darum begann Der von Alt-Barnow an dem einen Ende der Stadt zu morden und zu plündern, und wartete ab, ob sein Rival seine Pflicht thun und die Juden schützen werde. Aber leider machte dieser am andern Ende gerade dieselbe Probe, und durch dieses bedauerliche Zusammentreffen der Umstände ward Beiden ihr Zweck vereitelt. Gute Menschen erreichen selten, was sie wollen. Und drei Tage und drei Nächte dauerten die furchtbaren Greuel ...

Auch über diese dicht gereihten Gräber glänzt die milde Herbstsonne; auch hier blühen die Astern, hier voller und reicher, weil der Boden besser gedüngt ist; die Grillen zirpen friedlich im Moose und die Herbstfäden schiffen langsam durch die leise bewegte Luft. Auch hier ist Frieden und Stille, friedlichste Stille. Und dennoch war es mir, als müßte plötzlich ein Schrei wach werden, ein gellender, furchtbarer Schrei, und diese Stille zerreißen und diese mildlächelnde Himmelsglocke. Ein Schrei, nicht der Klage, sondern der Anklage, und nicht bloß gegen Den von Tluste und Den von Alt-Barnow ...

Auch sonst finden sich viele Gräber, die das gleiche Todesjahr tragen ... So aus jenen Tagen, da ein Czartoryski Juden jagte, weil sich so wenig anderes Wild vorfand. Oder aus diesem Jahrhundert: aus jenen drei gräßlichen Sommern, da der Zorn Gottes, die Cholera, in der großen Ebene wütete. Das Gras setzt der Sense mehr Widerstand entgegen, als damals diese Menschen in ihren engen, verpesteten Städten der grauenvollen Seuche. Die Gräber sind [263] zahllos und es ist ein überaus großes Leichenfeld, obwohl die Gemeinde gerade nicht übergroß ist. Aber wer hier Schlafstätte und Grabstein erhalten hat, der behält auch beide, sogar der Ärmste, für immer – wie gesagt, bis die Posaune klingt ...

Und Jeder hat den gleichen Grabstein, mindestens was die Form betrifft. Nirgendwo ein eigen geformtes Denkmal, nirgendwo ein kunstvolles Gebild – das verbietet der Glaube. Nur daß der Stein des Armen klein ist, der des Reichen groß, daß der Arme der Inschrift zufolge ein braver Mann war, der Reiche der edelste Mensch, der je gelebt hat. Das ist aber auch Alles. Denn selbst die Anordnung der Inschrift ist streng durch das Gesetz der Talmodim geregelt: zu oberst das Merkzeichen des Stammes, dann der Name des Toten und seiner Eltern und darauf der Stand. Manchmal fehlt auch dieser, denn Wucherer oder Bestechungsagent würde nicht gut klingen, von Schlimmerem zu schweigen. In solchen Fällen heißt es bloß: »Er forschte in der Lehre und liebte seine Kinder«, und Beides ist auch in der Regel wahr. Wer diese Inschriften liest, wird nicht länger nach der Insel der Seligen suchen, und nach dem Eden, wo Engel in Menschengestalt wandeln. Das heißt: wenn er den Inschriften glaubt. Der jüdische Stamm geht in der Pietät gegen die Toten weiter als jeder andere. Der Römer begnügt sich mit dem: »De mortuis nil nisi bene.« Er verlangt, daß man von dem Toten nur gut, nur würdig rede, wie dies eben der Majestät des Todes und der Hilflosigkeit des [264] Toten gebührt. Der Jude geht weiter: man soll von den Toten nur das Gute reden. Und wer ein solcher Sünder war, daß man ihm nichts Gutes nachsagen kann, von dem schweigt man ...

Man schweigt von ihm. Die finsterste Verwünschung dieses Volkes lautet: »Sein Name soll nicht gedacht werden.« Darum setzt man seinen Namen auch nicht auf den Grabstein. Es steht mancher blanke, unbeschriebene Stein auf den Friedhöfen Podoliens. Zur Strafe, zur Vergeltung. Und doch wieder aus Barmherzigkeit. Denn am Tage, da das Reich Gottes beginnt, wird nicht allein die Posaune die Schläfer wecken, sondern auch der Engel des ewigen Lebens. Er wird von Stein zu Stein gehen und den Namen rufen, der darauf geschrieben steht, die Gerechten zu unsäglicher Belohnung, die Sünder zu unsäglicher Strafe. Und wenn er keinen Namen findet, so wird er vielleicht vorübergehen und den Schläfer nicht aufstören. Vielleicht! – man wagt es nur eben aus Barmherzigkeit zu hoffen!

Auch am »guten Ort« zu Barnow steht mancher Stein ohne Inschrift, und in einigen Fällen mag die Strafe eine wohlverdiente sein. Nicht selten ist es die härteste, die den Verbrecher getroffen hat. Die dunkle That ward begangen, das Dunkel des Ghetto schützte sie. Diesen Leuten bangt es vor der Welt, in der k.k. Amtsstube sitzt ja ein Christ. Darum liefern sie selbst den sündigen Bruder nicht gerne aus. Sie strafen ihn so gut sie können: er muß Geld zu frommen Zwecken opfern, oder als Pilger nach Jerusalem wandern, oder jahrelang jeden zweiten Tag fasten. Dann bleibt [265] er sein Leben lang unbehelligt, und erst nach dem Tode erweist es sich, was er gegolten hat.

Aber auch gar sonderbarliche Verbrechen sind auf gleiche Weise bestraft worden. Und wer daran denkt, wird sich gleichfalls kaum einer bittern Frage erwehren können, einer uralten, herben Frage, die gleichfalls nie ersterben wird, so lange Menschen auf Erden wandeln ...

Da war zum Beispiel einst ein alter Bettler in der Gemeinde, ein verabschiedeter Soldat, der hilflos und verkrüppelt heimgekommen. Niemand nahm sich seiner an. Die Christen nicht, weil er ein Jude war, und die Juden nicht, weil er so lange christliche Kost gegessen hatte und weil er sehr lästerlich fluchte. Es war vielleicht Beides nicht ganz seine Schuld; denn es giebt nun einmal, seit die Makkabäer schlafen gegangen sind, keine Armee der Welt, in der die Kommißknödel unter Aufsicht eines Rabbi bereitet werden, und was das Fluchen betrifft, so mag es an einem alten Soldaten eben so natürlich sein, wie an einem Eichbaum die Eichel. Aber sie nahmen ihm doch Beides sehr übel und er bekam täglich nur ein Stück schimmeligen Brotes und jeden Freitag Nachmittag sieben Kreuzer. Davon kann selbst ein alter Bettler in Barnow nicht standesgemäß leben; der zitterige Greis hungerte sehr viel. Und als wieder einmal der Versöhnungstag kam, der strengste Bußtag des Jahres, da hatte das Fasten keinen Reiz für ihn, nicht einmal den des Außergewöhnlichen. An diesem Tage also ertappten sie den Alten hinter einem Brückenpfeiler, ein Stücklein Wurst in der Hand. Sie mißhandelten ihn nicht, auch seine Benefizien erlitten keine Einschränkung. Und doch! wäre das [266] Schicksal gütig gewesen, es hätte ihn zur selben Stunde sterben lassen. Denn wollte ich berichten, was dann über den Greis gekommen, ich glaube, dem Härtesten würde sich das Auge feuchten. Aber das Schicksal ist selten gütig – er hat noch lange Jahre gelebt. Nachdem er gestorben war, setzten ihm reiche Verwandte den Stein, aber ohne Inschrift. Ich vermute, ich vermute sehr, daß dies den Toten lange nicht so schmerzt, wie Manches, was sie dem Lebenden angethan hatten ...

Hart neben dem alten Soldaten schläft ein Mensch, den ein gleiches Geschick getroffen hat. Ein sehr seltsamer Mensch, Chaim Lipiner mit Namen, seines Zeichens ein Schuster. Die Leute dieses Handwerks haben einen starken Hang zur Philosophie, der sitzenden Lebensweise wegen. Auch unser Chaim war ein Philosoph, aber von eigenartigem Zuschnitt. Über den Untergrund allen Forschens, den Zweifel, kam er eigentlich nicht hinaus, und sein Lieblingswort war: »Wer weiß die Wahrheit?« Das kleine, blasse Männchen vermochte der Frage nicht auf dem Wege der Spekulation beizukommen und versuchte es darum auf dem der Erfahrung. Er ging von einer Sekte zur andern über, von den »Chassidim«, den Schwärmern, zu den »Misnagdim«, den Bibelgläubigen, ward wieder Chassid, setzte sich hierauf mit den Karaiten in Verbindung, flüchtete dann zur Fahne des Wunderrabbi von Sadagóra, hielt es ein Jahr lang mit den »Aufgeklärten«, den Freunden deutscher Bildung, und ward endlich Kabbalist. Das blieb er lange, und da seine Stiefel trotzdem vernünftig und dauerhaft waren, so kümmerten [267] sich die Leute nicht viel um seine einsamen, nächtlichen Studien und seine tiefsinnigen, mystischen Reden. Da traf es sich einmal in einer kalten, weißen, mondhellen Nacht, daß einige verspätete Zecher vor dem großen Christusbilde, das sich an der Klostermauer der Dominikaner erhebt, einen Mann fanden, der regungslos im Schnee kniete und die Arme sehnsüchtig ausgebreitet hielt, als wollte er den Gekreuzigten umarmen. Erstaunt blieben sie stehen, aber ihr Staunen ward zum Entsetzen, als sie in dem einsamen Beter den frommen Chaim erkannten. Endlich schlichen sie näher, aber er hörte sie nicht in seiner Versunkenheit, und plötzlich begann er zu sprechen und rief mit schluchzender, zitternder Stimme ein Gebet in der heiligen Sprache, den Segensspruch, der dem Wandersmann vorgeschrieben ist, wenn er auf seinem Wege die Sonne aufgehen sieht. Da übermannte die Lauschenden ein frommer Zorn, sie warfen sich über das Männchen, prügelten es ganz fürchterlich durch und pufften es heim. Am nächsten Morgen war eine ungeheure Aufregung in der Gasse, selbst die Lässigsten fanden sich zum Gebet in der Schul' ein; halb aus Frömmigkeit, weil es galt, Gott mit vereinten Kräften anzuflehen, den Frevel des Einzelnen nicht an der Gesamtheit zu rächen; halb aus Neugier, weil Jeder erfahren wollte, welche Buße der Rabbi und sein Rat dem Sünder auferlegen werde. Nach Schluß des Gebetes blieb die Gemeinde versammelt und das Gericht begann. Aber der Sünder fehlte. Die Aufregung und die Prügel hatten das schwache Männchen niedergeworfen. [268] Doch mußte er dabei sein; und so wurden einige Knechte entsendet und die brachten ihn in seinen Kissen herbeigetragen. Es erhob sich ein großer Lärm, als er durch die Reihen geschleppt wurde, und wer nahe genug stand, erleichterte sich das Herz und spie ihn an. Dann gebot der Rabbi Ruhe und hielt eine lange Rede, in welcher jener ewig kalte, ewig dunkle Raum, der nach der Vorstellung dieses Volkes die abgeschiedenen Sünder beherbergt, keine geringe Rolle spielte. Dann fragte er den Angeklagten, wie er sich verantworten könne. Aber sei es, daß der kranke Mann nicht reden konnte oder nichts zu reden hatte – er blieb stumm und schüttelte nur leise das Haupt. Das steigerte nur die Entrüstung, der Rabbi drängte und die Anderen spieen. Da richtete sich der kleine Mann endlich aus seinen Kissen auf, blickte die Eifernden mit einem stillen, ruhigen Blick an und sprach eine sehr kurze Rede, nichts als sein gewöhnliches Wort: »Wer weiß die Wahrheit?« Man kann denken, was darauf folgte. Die Besonnenen mußten ihn mit ihrem eigenen Leibe schützen, sonst wäre kein weiteres Gericht nötig gewesen. Aber sie wahrten den Kranken vor dem Äußersten und so kam der Rabbi endlich dazu, das Urteil zu fällen. Welche Buße an Geld und Gut ihm auferlegt wurde, ist mir nicht mehr genau erinnerlich, nur so viel weiß ich: Chaim Lipiner sollte Weib und Kind lassen und nach Jerusalem pilgern und nie wiederkehren. In jeder Gemeinde am Wege sollte er seinen Frevel erzählen und die Leute bitten, ihn mit Füßen zu treten und ihn anzuspeien.

[269] Aber der furchtbare Reiseplan ist nicht mehr zur Ausführung gekommen. Das arme Männchen siechte und schwand seit jenem Tage dahin, wie vor der Sonne der Schnee. In seinen letzten Monaten betete er immer fleißig und die Leute waren der Überzeugung, daß er sich bekehrt habe. Ich bin wohl der einzige Mensch, der das besser weiß, und da es meinem Schuster nicht mehr schaden kann, so darf ich wohl auch dies erzählen. Als ich im Juli zu den Ferien heimkam, suchte mich sein Weib auf und bat, ich möchte zu ihm kommen, aber des Abends, damit es Niemand merke. Ich that's, der Kranke war schon sehr schwach, hielt aber gleichwohl noch einen ungeheuren Folianten auf den Knieen, in dem er eifrig las. Er bitte um eine Auskunft, sagte er endlich nach langer, wirrer Entschuldigung; ob es nämlich wahr sei, daß auch die Christen eine heilige Schrift hätten. Und als ich dies bejahte – ob ich ihm das Buch nicht schaffen könne? Das berührte mich eigentümlich, aber ich versprach es doch, es war eben der Wunsch eines Sterbenden und – »wer weiß die Wahrheit?« Aber es hatte seine Schwierigkeit, denn der Mann las nur hebräisch, und ich mußte mich erst nach Wien wenden, um eine Übersetzung, wie sie die Engländer zu Missionszwecken für Palästina haben anfertigen lassen. Das Buch ließ zwei Wochen auf sich warten und als es endlich kam, da konnte ich es dem Manne nicht mehr einhändigen. Es war auch überflüssig, denn damals wußte er wahrscheinlich schon mehr, als er aus diesem Buche und aus allen Büchern der Welt hätte erfahren können ...

[270] Ach ja! sonderbarliche, sehr sonderbarliche Verbrechen! Und wie ich an jenem Herbsttag vor den beiden Gräbern stand, da war es mir, als müßte ich mich hinabbeugen zu den Toten und ihnen zurufen: »Verzeihet euren armen Brüdern, zürnet ihnen nicht, denn sie wissen nicht, was sie thun!« ...

Ach! wie eigen ist es den Juden ergangen! Ihr frommer, felsenfester Glaube ist ihnen einst der Schutzhut gewesen, der ihr armes Haupt vor den Keulenschlägen und Beilhieben des Feindes schützte. Es wäre zerschellt ohne diesen Schutz, denn es waren furchtbare Schläge, furchtbare Hiebe. Aber eben dadurch ward ihnen auch jener Schutzhut immer tiefer ins Gesicht hineingetrieben und schließlich über die Augen hinab, daß sie nichts mehr sahen. Das war einst nicht so sehr zu beklagen, denn es herrschte ja Nacht rings umher, und nichts, gar nichts war zu sehen, auch ohne Hut vor den Augen. Aber nun ist es im Westen Tag geworden, und im Osten tagt es und dennoch rücken sie sich den Hut nicht höher. Es wäre nicht nötig, daß sie ihn lüften, und vollends verderblich wäre es, wollten sie ihn ganz fortwerfen, aber ebenso verderblich ist es, wenn er ihnen die Augen deckt. Er muß höher gerückt werden, und diese unglücklichen Menschenmüssen sich daran gewöhnen, dem jungen Tage ins schöne, morgenrote Antlitz zu sehen ...

Es muß geschehen. Und darum wird es geschehen. Die Notwendigkeit ist die einzige Gottheit, an die man glauben darf, ohne je zweifeln oder verzweifeln zu dürfen.

Es wird geschehen. Aber Niemand kann wissen,[271] wie lange noch die Nacht währen wird, und Niemand kann die Opfer zählen, die sie kostet.

Es ist immer ein Zufall, wenn man von ihnen erfährt. Die Lebenden schweigen und die Steine sind stumm; besonders jene, wo eine Inschrift steht. Auf den unbeschriebenen steht doch mindestens ein Fragezeichen, und es kann gelingen, die Antwort zu erforschen.

So ist es mir mit dem jüngsten solchen Stein ergangen, den sie auf dem »guten Ort« zu Barnow gesetzt haben. Ich fand ihn erst bei meinem letzten Besuch, eben an jenem goldklaren Septembertag.

Es war ein einsames Grab, ganz einsam. In der Niederung lag es, hart am Flusse, nahe der schadhaften Hecke. Schon dies war auffallend; sonst werden hier die Toten in jener Reihenfolge gebettet, in welcher sie anlangen. Nur zuweilen sichert sich eine Familie einen eigenen Raum. Aber es geschieht nicht allzuoft; hier sind alle Schläfer eine einzige große Familie.

Mit diesem Grabe war eine Ausnahme gemacht worden. Weit und breit war kein anderer Stein zu sehen. Nur ganz nahe, rechts und links, zwei andere Gräber. Kleine, dürftige Gräber ohne Stein. Man konnte sie nur in nächster Nähe gewahren, so dicht wuchs darüber der Wacholder und die wilde, rote Heideblume.

Es war leicht zu erraten, wer da schlief: Knäblein, die vor dem achten Tage dahingestorben, ehe man ihnen einen Namen gegeben. Und die in der Mitte ruhte, war wohl ihre Mutter. Denn es war der Grabstein einer Frau; man konnte es an der Form sehen.

Sonst setzte man nur Männern Steine ohne Inschrift, [272] weil nur sie Verbrechen begehen. Das jüdische Weib ist gut und fromm. Es war der erste solche Frauenstein, den ich sah. Was hatte diese Mutter verbrochen?

Ich grübelte lange darüber in der tiefen, sonnigen Stille jenes Herbsttags. Ich erfand mir eine Geschichte nach der andern, eine sonderbarer als die andere. Aber auch hier sollte es sich wieder einmal bewähren, daß das Schicksal erfinderischer ist als der Mensch.

Wie ich also sinnend dasaß und auf das einsame Grab schaute und darüber empor, in die hellen, hellen Lüfte, durch welche unzählige Mücklein dahinflogen, daß sie im Sonnenlicht mit ihren zarten, glänzenden Flügeln oft wie ein feiner Goldregen anzusehen waren – wie ich denn also saß und sann, klang mir plötzlich einförmiges, langsames Getön dumpfer Stimmen ins Ohr, und als ich aufblickte, sah ich zwei Greise langsam die Hecke entlang schreiten und auf mich zu.

Sie waren eben in Übung eines frommen Brauches begriffen, den ich so lange schon nicht gesehen hatte, daß er mir jetzt auf den ersten Blick wie ein Fremdes erschien. Es trug nämlich jeder der beiden Männer ein gelbes, hölzernes Stöckchen in der Rechten und auf den beiden Stöckchen war ein Faden dicht und dick aufgewickelt; derselbe Faden, hier das eine, dort das andere Ende, so daß der Faden die beiden Stöckchen verband. Standen die Männer zusammen, so lehnten sie die Stöckchen an einander und sangen dumpf und unison ihr sonderbares Duett. Dann aber verstummte der Eine, hielt sein Stöckchen senkrecht und stand wie eingewurzelt, während sich der Andere in Bewegung[273] setzte und langsam und gravitätisch die Hecke entlang schritt, indem er in hohen Tönen durch die Nase dazu sang und von seinem Stöckchen so viel des Fadens abhaspelte, als eben der Weg betrug, so daß der Faden straff gespannt blieb. Nach etwa dreißig Schritten blieb er stehen und verstummte; der Andere aber setzte sich näselnd in Bewegung und haspelte den Faden auf, so daß der Wulst auf dem einen Stöckchen immer dicker, auf dem andern immer dünner ward. Dann abermals ein Duett und wieder die sonderbaren Soli.

Man nennt diesen Brauch das »Feldmessen« und wenn er auch nur in einigen Gegenden Podoliens in der beschriebenen Art vollzogen wird, so übt man ihn doch in anderen Formen überall, wo Juden wohnen. Am Sterbetage teurer Toten läßt man den Umfang des Friedhofs, wo sie ruhen, mit einem Faden abmessen und gebraucht diesen zu irgend einem frommen Zwecke: als Docht für Opferkerzen oder zum Nähen eines Betmantels. Es ist dies der Ausfluß einer trüben, schweren Symbolik und es würde hier zu weit führen, sie zu deuten.

Ich schaute den Männern eine Weile zu, dann trat ich an sie heran und fragte, wer in jenem Grabe ruhe. Die Männer blickten mich scheu an. »Warum fragt Ihr?« sagte endlich der Eine zögernd.

»Weil ich es wissen will.«

»Und warum wollt Ihr es wissen?«

Darauf wäre die direkte Antwort zu lang gewesen und ich wählte eine kürzere, indirekte. Der Eine der beiden ehrwürdigen, aber überaus schmutzigen Greise – es war ein Wunder, daß sie nicht zusammenpickten, [274] wenn sie dicht beisammen standen – trug in seinem Antlitz eine überaus rote Nase. Das deutet immer auf Durst und ein heiteres Gemüt. Und wer durstig und heiter ist, mit dem kann man sich leicht verstehen. Ich blickte also den Mann innig an, wie einen alten Freund, und griff dabei in die Tasche ... »Nun – wer?« Er folgte dieser Bewegung mit sichtlichem Interesse, aber er ergab sich noch nicht. »Steht es auf dem Stein geschrieben?« fragte er.

»Da würde ich Euch nicht fragen!«

»Aber warum steht es nicht dort geschrieben?«

Meine Hand kam wieder zum Vorschein, aber der ehrwürdige Greis ergab sich noch immer nicht. »Warum?« wiederholte er. »Weil es eine Sünde wäre, des Namens zu gedenken!« Also warum soll ich sündigen und den Namen sagen? Warum sollt Ihr sündigen, indem Ihr ihn anhört? Warum soll Reb Nathan hier sündigen, indem er uns Beiden zuhört?

»Ein Opfer für die Armen tilgt die Sünde,« beruhigte ich und drückte dem Manne warm die Hand.

Aber dem ehrwürdigen Greise lag offenbar sehr viel an seinem Seelenheil und er zählte darum halblaut nach, ob es genügend gesichert sei. Dann war zwar er getröstet, aber Reb Nathan wurde unruhig. Nun hätte er sich freilich der Sünde des Zuhörens leicht entziehen können, denn wir waren im Raume gerade nicht beschränkt. Aber er zog ein anderes Mittel vor, obwohl er keine rote Nase hatte.

Und erst nachdem dies geschehen war, sagte der Eine: »Wer dort liegt?« – und der Andere: »Lea Rendar's [275] liegt dort«. Das heißt zu deutsch: »Lea, die Tochter des Schenkwirts«. Aber ich mußte dennoch fragend blicken. »Wer hat die nicht gekannt?« meinten die Männer erstaunt. »Lea aus der gelben Karczma (Wirtshaus). Die Frau des langen Ruben, des Ruben neben dem Rathaus! Lea mit den langen Haaren!«

Nun wußte ich freilich, wen sie meinten. Und was bisher nur Neugier gewesen, ward innigste Teilnahme. »Und die war eine Sünderin?« rief ich erstaunt. – »Ob sie eine Sünderin war?« rief Reb Abraham, der Rotnasige. »Hat es je eine größere gegeben? Es hat nie eine größere gegeben! Was Gesetz ist, hat sie mit Füßen getreten! Und wer wird dafür verdammt sein? Sie wird dafür verdammt sein! Sie und ihr Mann – Ruben, der Rathauser! Denn wenn er es ihr gewehrt hätte, der Frevel wäre nie geschehen!«

»Und noch Einer wird verdammt sein um ihrer Sünde willen!« rief Reb Nathan. »Gawriel Rendar, ihr Vater! Denn wenn er sie anders erzogen hätte, der Frevel wäre ihr nie in den Sinn gekommen!«

»Richtig! Der auch!« bekräftigte Abraham. Aber dann faßte ihn doch leises Mittleid mit dem Manne, in dessen Hause seine Nase den schönen Glanz bekommen, und er fügte milder hinzu: »Dem wird der Allmächtige vielleicht vergeben. Hat er denn so Furchtbares ahnen können? Das hat kein jüdisch Kind ahnen können! Aber Ruben – das ist etwas Anderes, der ist gewiß verdammt!«

»War es wirklich so furchtbar?«

»Furchtbar? Das Gräßlichste! Habt Ihr wirklich[276] noch nicht davon gehört? Eine unerhörte Geschichte! Eine merkwürdige Geschichte!«

Und sie erzählten mir die merkwürdige, unerhörte Geschichte. Denn das ist sie wirklich, freilich wohl in anderem Sinne, als die beiden Ehrwürdigen ahnten.

Es wird mir eigen zu Mute, nun ich sie wieder berichten soll. Vor Allem: sie klingt so unglaublich. Und nur wenigen Menschen des Westens ist eine Brücke des Verständnisses geschlagen in diese fremde, düstere Welt. Die anderen Alle werden den Kopf schütteln. Ich aber kann nur sagen: es ist wahr, es ist nicht erfunden, es hat sich wirklich so begeben!

Und dann: die Geschichte ist so traurig ...

Die Lea war ein sehr schönes Mädchen. Ererbt war das nicht, denn die Mutter war ein kleines, dickes, puterrotes Weib und »Gawriel Rendar«, der Wirt in der großen, gelben Schenke am Wege gegen Alt-Barnow, ein ungeschlachter Riese, mit einem mißfarbigen, von Pockennarben zerrissenen Gesichte. Auch die beiden Söhne, die im Hause umherlümmelten, waren nicht eben Zierden der Menschheit. Eine finstere, verdrossene, gewaltthätige Familie, die da im unheimlichen Hause hantierte, ewig damit beschäftigt, den Durstigen Fusel einzuschenken und die Allzubetrunkenen hinauszuwerfen. Und in diesem Hause erwuchs das heiterste, lieblichste Kind, in dieser Familie erblühte die schönste, holdseligste Jungfrau, die vielleicht je meine Augen schauen gedurft. Die Lea Bergheimer war wie ein Sonnenstrahl. Und eine Fülle goldigen Lichts trug sie ja auch um das stolze Haupt – so reiches, so leuchtendes [277] Goldhaar hab' ich alle meine Tage nicht wieder gesehen. Eine Jüdin ist selten blond und vollends findet man keine blonden Schönheiten unter den Frauen dieses Volkes. Die jüdischen Schönheiten sind braun oder schwarz. Aber die Lea war eine Ausnahme, wie sie denn überhaupt wenig vom jüdischen Typus hatte, sofern man nicht ihren herrlichen, schlanken und doch üppigen Wuchs als solchen gelten lassen will.

Das Antlitz war ganz germanisch: feine, rosige Züge und tiefblaue Augen. Der Ausdruck dieser Züge freilich war nicht gretchenhaft, sondern fröhlich und glühend. Im Wiener Belvedere hängt in einem Nebensaale ein Bild aus dem siebzehnten Jahrhundert, ein Wiener Bürgermädchen von einem Spanier gemalt. Das Original war ein deutsches Mädchen, aber der Südländer hat viel von seinem heißen Wesen hineingemalt. Dies Bild könnte für ein Porträt der Lea gelten, es ist eine merkwürdige Ähnlichkeit.

Wo ein Sonnenstrahl hinfällt, da wird selbst das Düster verklärt: die schöne Lea brachte Licht und Freude in die wüste Schenke. Es ist kaum zu sagen, wie Eltern und Geschwister an ihr hingen, mit welcher zitterigen Liebe sie das Mädchen umfaßten, mit welchem thörichten, unbeholfenen Stolze sie es feierten, mit welcher rührenden Hingebung sie sein Leben schmückten und bewachten. Der alte Gawriel war ein wohlhabender Mann, denn die Schenke lag auf gutem Posten und den Schnaps zu wässern und das Geborgte mit doppelter Kreide anzuschreiben, verstand kein Wirt in Podolien besser. Aber es ist doch eigentlich ein Wunder, daß er zu einigem [278] Besitztum kam, so ungemein viel wandte er an die Lea. Freilich in seiner Weise; das Kind lernte nichts, als notdürftig die Gebete lesen, aber dafür behing er den schönen Leib mit den schwersten Stoffen und Ketten, und sie ging an Wochentagen umher, wie nicht einmal des reichsten Mannes Tochter am Neujahrstag.

Schon die Familie hätte also genügt, das Mädchen eitel zu machen, wohl auch hoffärtig. Aber ebenso sorgten die anderen Leute ehrlich dafür: die Frauen durch ihren Neid, die Männer durch ihre Bewunderung. Die Lea weckte in den jungen Juden von Barnow Empfindungen, wie sie sonst selten in solchem Busen zu keimen pflegen. Denn gewöhnlich denkt so ein langlockiger Jüngling an kein Mädchen der Welt, bis ihm endlich sein Vater eines Tages sagt, er sei verlobt. Bei der Verlobung, oft genug erst bei der Hochzeit, sieht er sich dann seine Braut an und ob sie ihm nun gefällt oder nicht, er beschließt, sich an sie zu gewöhnen, was ihm denn auch in den meisten Fällen gelingt. Aber an die Lea dachten Viele, und wenn sie über die Straße ging, so ereignete sich oft sogar das Unerhörte und es blickte ihr Einer nach. Ja sogar in der »Klaus«, wo die stillen, frommen, sehr träumerischen und sehr wasserscheuen Talmudisten über den großen Folianten nickten, ward zuweilen ihr Name genannt und mancher tiefe Seufzer hörbar, der nur ihr galt.

Das erfuhr die schöne Lea freilich nicht. Aber andere Leute sorgten dafür, daß sie nicht darüber im Zweifel bleibe, ob sie gefalle oder nicht. Da waren [279] die kühnen Gymnasiasten von Barnow, die sich immer zu den Ferien sterblich in sie verliebten, in sie und in die »Esterka Regina«, ein anderes schönes Judenmädchen, das gleichfalls ein trauriges Ende genommen hat. Da waren die noch kühneren Edelleute, die oft vor der Schenke hielten, auf ein Gläschen Schnaps und auf ein kleines Gespräch. Da waren die Allerkühnsten, die Husarenoffiziere, die in dem fuselgeschwängerten Raum ihre Zeit vergeudeten, welche übrigens auch sonst schwerlich nützlich angewandt worden wäre.

Hier freilich geschah es ohne jeglichen Nutzen. Denn eitel war die Lea, aber auch brav, gut und rein. Ihr Herz war so weich und mitleidig, wie man es selbst unter den grundgütigen Frauen dieses Volkes selten findet, und jeder Arme nannte ihren Namen mit inbrünstiger. Nur war sie eben verliebt in die eigene Schönheit und besonders in ihr Haar, das ja auch von seltener Herrlichkeit war. Wenn sie die schweren, kunstvollen Flechten löste, dann flutete es herab wie eine mächtige Goldwelle und schmiegte sich bis an die Kniee um den Leib, ein leuchtender, seidener Mantel, wie ihn keine Königin je schöner getragen. Von diesem ihrem Schmuck hatte sie auch ihren Beinamen: »Lea mit den langen Haaren« ...

Die Juden von Barnow waren der festen Überzeugung, daß die Lea nie heiraten würde; die Frauen hofften, die Männer fürchteten es. Denn sie reifte heran, ward siebzehn-, ward neunzehnjährig und hatte noch immer keinen Freier wert erachtet, sie zu besitzen. Das war unerhört unter den Leuten dieser Landschaft, [280] die sonst schon halb entwickelte Kinder mit einander verheiraten. Aber hier ging es auch anders zu als sonst. Der alte Gawriel fragte seine Tochter um ihren Willen, und Lea sagte regelmäßig kurz und entschieden: »Nein!« Die Bewerber wagten sich schließlich gar nicht mehr heran, nachdem sogar Jossef Purzelbaum einen Korb bekommen hatte, der Sohn des reichsten Mannes im Kreise, und der kleine Chaim Machmirdas, der im dritten Gliede mit dem Rabbi von Sadagóra verschwägert war. Daß man einen Menschen aus so heiliger Familie verschmähen konnte, war unfaßbar und kam einer persönlichen Beleidigung Gottes fast gleich. Aber die Lea wagte diesen Frevel und fuhr fort, die Heiratsvermittler zur Verzweiflung zu treiben. Schließlich wagten es diese Leute kaum mehr, die Schenke zu betreten, obwohl es im Allgemeinen Menschen giebt, welche scheuer, schamhafter und rücksichtsvoller sind, als jüdische Heiratsvermittler in Podolien. Und einer von ihnen, Herr Itzig Türkischgelb, pflegte zu sagen: »Ich bin ein alter Mann, aber ich hoffe doch noch die Verheiratung der Lea und die Ankunft des Messias zu erleben. Das Letztere freilich eher als das Erstere.« Denn Itzig Türkischgelb war ein munterer Mann.

Da sollte dennoch das Entgegengesetzte wahr werden. Und als der Name des Glücklichen bekannt wurde, da war das Staunen darüber noch größer, als über die Thatsache selbst. Denn Ruben Rosenmann oder Ruben der Rathauser, wie er wegen der Lage seines Kramladens im Städtchen genannt wurde, [281] war weder reich noch aus frommer Familie und obendrein Witwer. Aber ein schöner Mann, hoch und stattlich, dabei ernst und still. Er hielt etwas auf sein Äußeres und trug den Kaftan um eine Spanne kürzer als die Anderen. War er doch auch zwei Jahre in einer größeren Stadt gewesen, in Brody, und las, sprach und schrieb das Hochdeutsche. Wahrscheinlich darum stand er im Rufe eines Freigeistes, den er sonst durchaus nicht verdiente; er befolgte sklavisch alle Gebote, nicht bloß des Glaubens, sondern auch des Aberglaubens. Warum die Lea gerade ihn gewählt hatte, darüber gab sie Jedem, der es hören wollte, Aufschluß: »Weil er mir gefallen hat.« Das war freilich ein Grund, der bei einem podolischen Judenmädchen unerhört war. Darum forschte man bei den Heiratsvermittlern, ohne jedoch auch hier mehr erfahren zu können. Selbst Türkischgelb mußte zugestehen, daß diese Verlobung nicht seinem Talent zuzuschreiben sei. Wohl hatte ihn Ruben ausgesendet, aber Lea hatte erklärt: »Er selbst soll kommen, wenn er mir etwas zu sagen hat.«

Ruben war gekommen. Die jungen Leute hatten eine lange Unterredung, wohl an die zwei Stunden. Was sie da verhandelt hatten, erfuhr Niemand, nicht einmal die Eltern des Mädchens. Nur der alte Gawriel erlauschte, wie Ruben einmal laut und bewegt, fast feierlich sagte: »Willst Du es – gut, ich wehre Dir nicht. Vor Gott ist es wohl keine Sünde, aber vor diesen Menschen. Darum hüte Dein Geheimnis, sie würden Dich und mich vernichten, wenn sie es je erführen!« Aber der Alte drang vergeblich in die Tochter, auch ihm das Geheimnis zu offenbaren.

[282] Bald darauf war die Hochzeit. Die Lea war unter dem Trauhimmel schöner anzuschauen, denn je. Und doch fehlte ihr nun ihr schönster Schmuck: das Goldhaar. Keine verheiratete Frau darf ihr eigenes Haar tragen, es wird vor der Trauung kurz abgeschnitten, hie und da auch der Kopf rasiert. Die Blöße bedeckt man mit einem hohen wollenen oder seidenen Aufsatz, dem »Scheitel.« So will es der alte, starre Glaube, und so wird es gehalten. Sein eigenes Haar zu tragen würde nicht bloß als Zeichen der Schamlosigkeit gelten, sondern eine ungeheure Versündigung gegen Gott bedeuten. Aber die Lea duldete es wenigstens nicht, daß sich Fremde an ihr vergriffen; mit eigener Hand schnitt sie sich in verschlossener Kammer das Haar vom Haupte.

Es ward eine sehr glückliche Ehe. Dabei begab sich noch ein weiteres Wunder: Lea wurde demütig und gehorchte ihrem Gatten. Selbst der Neid mußte eingestehen, daß der lange Ruben ein treffliches Weib habe. Das fühlte er auch, und als ihm bald darauf eine süße Hoffnung winkte, kannte sein Glück keine Grenzen. Aber diese Hoffnung erfüllte sich nicht, das Kind kam vorzeitig und tot zur Welt. Der Arzt schob dies auf eine Erkältung der Mutter. Aber der Rabbi von Barnow war anderer Ansicht. Er ließ Lea holen und fragte sie, ob sie sich nicht etwa diese Strafe Gottes zugezogen habe, weil sie heimlich eines seiner Gebote übertreten. Lea wurde totenbleich, aber sie sagte fest: »Nein Rabbi!«

Das war im Frühling gewesen. Im zweitnächsten Herbste gebar die Lea einen Knaben, aber er starb nach sechs Tagen. Der Arzt meinte, an einem Gehirnschlag, [283] wie er bei Neugeborenen so oft eintritt. Lea zerfloß in Thränen; aber als der Rabbi nun selber kam und seine einstige Frage wiederholte, sagte sie auch diesmal kurz und fest: »Nein, Rabbi!«

Im nächsten Sommer fühlte sich Lea zum dritten Male Mutter. Die Erinnerung an ihre beiden schmerzlichen Verluste durchzitterte sie unablässig und ward ihr zur bangen Ahnung. Ängstlich wachte sie über sich, und Ruben wich kaum mehr von ihrer Seite. Aber als der Versöhnungstag herankam, da ließ sie sich's trotz seiner Abmahnung und trotz des ärztlichen Verbotes nicht nehmen, den ganzen Tag fastend in der alten Betschul' zuzubringen.

Das sollte ihr zum Verderben werden. Es herrscht an diesem Tage in der alten Betschul' eine fürchterliche, verpestete Schwüle, erzeugt durch die unzähligen Wachskerzen und die Ausdünstung so vieler Menschen, welche da so lange Stunden beten, weinen und leider auch schwitzen. Es war also eine Atmosphäre, in der auch der gesündeste Mensch hätte ohnmächtig werden können, um so mehr ein zartes Weib in solchem Zustande, wie damals Lea. Die Sinne vergingen ihr, mit einem leisen Angstschrei sank sie vom Betschemel.

Die Weiber drängten sich herbei und mühten sich um sie. Sie lösten ihr die Kleider und brachten der Ohnmächtigen zwanzig Riechfläschchen zugleich an die Nase. Aber plötzlich stoben sie blitzschnell auseinander – ein hundertstimmiger, gellender Schrei – und dann wieder Stille, die Stille des tiefsten Entsetzens ...

Der »Scheitel« der Lea hatte sich verschoben und[284] darunter quoll das zusammengedrückte Goldhaar unwiderstehlich hervor und legte sich wie eine lichte Wolke um das totenblasse, schöne Antlitz.

Das war das Geheimnis der Lea gewesen.

Was nun folgte, läßt sich nicht beschreiben, kaum andeuten. Die Stille wich wildem Zetern, Fluchen und Toben. Blitzschnell durchflog die Kunde auch jenen Raum, wo die Männer beteten, und übte hier gleiche Wirkung. Unter wilden Verwünschungen drängten die Rasenden in die Weiberschul'. Hätte die Lea soeben gestanden, daß sie ihre Kinder selbst getötet – und Kindesmord gilt unter den Juden als gräßlichstes Verbrechen, ärger als Vatermord – die Wut hätte kaum größer sein können. Aber in den Augen der Verblendeten hatte ja das Haar der Lea in der That dies stumme, furchtbare Geständnis abgelegt! ...

Es war am heiligsten Tage des Jahres und Jene, gegen welche die Wut sich richtete, war ein schwaches Weib, in einem Zustande, der den Rohesten zu zügeln vermag. Gleichwohl läßt sich nicht übersehen, wozu damals der fromme Wahn die Verblendeten hätte führen können. Aber da drängte Ruben wild durch die Reihen, Schmerz und Zorn verzehnfachten seine Kraft, er hob die Ohnmächtige auf den linken Arm wie ein Kind, mit dem rechten bahnte er sich den Weg durch die Menge, daß Alles, was ihm entgegenstand, nur so rechts und links auseinanderflog. So stürmte er die Treppe hinab und durch die Gassen heim, von Flüchen und Verwünschungen verfolgt; das Haar des Weibes umpeitschte im Oktoberwinde sein furchtbar blasses Gesicht, [285] aus dem die Augen glühend, wie im Wahnsinn, starrten. Es gelang bald, die Ohnmächtige zu erwecken, aber als sie um sich schaute und ihr gelöstes Haar erblickte, schrie sie gellend auf und verfiel in heftige Krämpfe. Der Arzt eilte herbei, aber er vermochte nur das Leben der Mutter zu wahren, nicht das junge Leben, das in ihr keimte. Und am nächsten Morgen konnten die Juden von Barnow einander erzählen, daß sich das Gericht Gottes zum dritten Mal an der Sünderin erfüllt habe.

Ruben war wie versteinert im Schmerz. Und als er am selben Morgen vor des Rabbi Gericht entboten war, da schritt er so unbewegt dahin, als ginge ihn die Sache eigentlich nichts an. Auch auf die Verwünschungen, mit denen man ihn empfing, hatte er keine Antwort und gab im Verhör kurzen und unerhört verwegenen Bescheid. Er ward gefragt, ob er um den Frevel seines Weibes gewußt. Er habe darum gewußt. Warum er die Sünde geduldet? Weil es in seinen Augen keine Sünde sei. Ob er nun Gottes Strafgericht erkenne? Nein, denn er glaube an einen allweisen, allgütigen Gott. Ob er nun wenigstens seinem Weibe den sündigen Schmuck vom Haupte schneiden wolle? Nein, weil das gegen sein Versprechen als Bräutigam wäre. Ob er die Strafe kenne, der er entgegengehe? Er kenne sie und werde sie abzuwehren wissen.

Diese Strafe ist der »große Cherem«, der strenge Bann, die herbste Strafe, welche die Gemeinde über eines ihrer Glieder verhängen kann. Wen man in den »Cherem« gethan hat, der ist vogelfrei; es ist keine Sünde, sondern ein Verdienst, ihn an Gut und Leben[286] zu schädigen. Nur in feindlichster Absicht darf man seinen Leib berühren oder eine Sache, die ihm gehört; nur wer ihn verderben will, darf dieselbe Luft atmen wie der Verdammte. Der »Cherem« löst die heiligsten Bande, und was sonst schlimmste Versündigung ist, wird hier zum frommen Gebot: die Gattin darf den Gatten verlassen, der Sohn die Hand gegen den Vater erheben. Es ist ein Krieg Aller gegen Einen, ein erbarmungslos geführter Krieg, in welchem alle Mittel gelten. Es ist ein unerträgliches Schicksal, das den starrsten Willen zu brechen vermag. Wer im »Cherem« ist, beeilt sich gewöhnlich, schnellstens seinen Frieden mit dem Rabbi zu machen – um jeden Preis, selbst um den der Selbstachtung.

Dem Ruben erschien dieser Preis zu hoch. Wohl ward er durch die Strafe doppelt hart getroffen, denn sie legte auch die Axt an seinen Erwerb. Der Kramladen stand verödet. Aber er beugte sich nicht und suchte da Schutz, wo man ihn ihm zu gewähren verpflichtet war, beim k.k. Bezirksgericht. Der »Cherem« ist als Erpressungsmittel strafbar, und im besten Falle, wenn er aus guten Gründen verhängt wird, bleibt er ein Eingriff in das Justizrecht des Staates. Der Bezirksrichter, Herr von Negrusz, hatte in der Sache auch sicherlich den besten Willen und that, was er konnte. Aber er konnte nicht viel thun. Er leitete die Untersuchung gegen den Rabbi ein und strafte jede Beschimpfung oder Schädigung, die Ruben von einem nachweislichen Urheber angethan wurde. Aber in den meisten Fällen barg sich die Tücke im Dunkel der Nacht, und [287] die strafgerichtliche Verfolgung des Rabbi mehrte noch die fromme Wut. Und was vollends den Kramladen betrifft, so konnte auch der Bezirksrichter Niemand dazu verhalten, seinen Zucker und Kaffee beim Rathauser zu holen.

Der Krieg dauerte den Winter über und in den Frühling hinein. Im April war der Rabbi auf sechs Wochen eingesperrt worden. Als er frei wurde, feierte die Gemeinde das festliche Ereignis durch eine Beleuchtung und indem sie dem Ruben die Fenster einwarf. Sonst änderte sich nichts; der Mann beugte sich nicht. Er verarmte sichtlich; sein Schwiegervater ließ nicht ab, zu flehen und zu beschwören, aber Ruben beugte sich nicht. Ja noch mehr – die Lea, die sich in jenem schrecklichen Winter um alle Schönheit und Frische gegrämt, fühlte sich im Frühling wieder Mutter und flehte den Gatten nun selbst an, den verhängnisvollen Schmuck ablegen zu dürfen. Vielleicht, meinte das arme Weib, könne das wirklich dem jungen Leben schaden. Aber Ruben schüttelte finster den Kopf: »Es bleibt dabei; Du behältst Dein Haar. Und wenn es einen Gott giebt, so wird er uns nicht verlassen und ich werde siegen!«

Ruben ist unterlegen. Und was nun folgt – davon habe ich die Empfindung, als ob ich es nur sehr kurz erzählen müßte ...

Im November gebar die Lea wieder einen Knaben. Das Kind war frisch und gesund, auch die Mutter befand sich leidlich wohl. Sechs Tage verstrichen. Da versammelte der Rabbi seine Getreuesten. »Der Vater ist im Cherem, die Mutter trägt ihr eigen Haar. Aber das Kind ist schuldlos. Sehen wir wieder thatlos zu,[288] so muß das Kind sterben, wie sein Brüderchen starb, weil die Sünde der Mutter fortwährt.« Das heißt: wahrscheinlich war's der Rabbi, der so sprach. Der Urheber der grauenvollen That ist nie entdeckt worden. Thatsache ist nur, daß der Frevel verübt wurde.

Um die Mitternacht des sechsten Tages brachen Vermummte in das Haus des Ruben, überwältigten ihn und die Wehefrau, rissen die Wöchnerin aus dem Bett und schnitten ihr das Haar vom Haupte. Zwei Tage darauf war die Lea tot. Die Folgen des Schreckens hatten sie getötet. Das Kind, das seit der Frevelthat in Krämpfen gelegen, war ihr um einige Stunden vorausgegangen.

Ruben blieb im Städtchen, bis die Untersuchung beendet war. Sie mußte eingestellt werden. Wenn diese Menschen schweigen wollen, so bringt sie keine Macht zum Reden. Dann zog Ruben fort. Es ist man ches Jahr seitdem verflossen. Auch er hat wohl schon Ruhe gefunden und schläft in einem andern Winkel der Erde die dunklen Schmerzen seines Lebens aus.

Des Grabes der Lea habe ich bereits gedacht. Es bleibt nichts mehr zu berichten übrig. Nur ein Wort noch will ich hinzufügen, das mir aus tiefstem Herzen aufquillt:

Verzeihet ihnen, zürnet ihnen nicht, denn sie wissen nicht, was sie thun!


Notes
Die Novellen entstanden 1868 bis 1872. Erstdruck: Stuttgart und Leipzig (Hallberger) 1877. Der Text folgt der siebten Auflage, Stuttgart und Berlin (Cotta) 1905, die ihrerseits auf der sechsten Auflage der mehrfach erweiterten und überarbeiteten Novellensammlung basiert.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Franzos, Karl Emil. Die Juden von Barnow. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-B23C-B