Caroline de la Motte Fouqué
Die Frau des Falkensteins
Ein Roman in zwei Bändchen
von der Verfasserin des Rodrich

Erstes Bändchen

Zueignung
Mit der Bescheidenheit gesenkter Wimper
Tritt vor die hohe, königliche Herrin
Die Frau des Falkensteins verlegen hin.
Sie fühlt sich ihr genaht durch das Geschlecht,
Das zarte, weibliche, dem sie gehört;
Genaht ihr, weil auch sie den Namen trägt,
Den unsre Königin ihn führend ehrt.
Doch ach, wie fern, wie fern in Allem sonst!
Mich Frau des Falkensteines traf der Himmel
Barmherzig, aber strafend, mit Gewittern,
Abbrennend mir des schwachen Herzens Schuld.
Und wenn auch um die schöne Königin
Gewitter einst sich hoben, Blitze zuckten,
So war es nur glorreiches Prüfungsfeuer,
Aus dem das Gold, vorher schon rein und klar,
Gleich rein und klar hervorgeht, unverwandelt.
Daher auch scheidet streng' sich meine Bahn
Von jenen seegensreichen, freud'gen Wegen,
[3]
Zu denen trüb' mein Blick hinüberstreift.
Ich, aus des Unheils Gluthen kaum gerettet,
Trat still ergeben in die Klosterwelt
Der Abgeschiedenheit und der Entsagung;
Kein zartes Kind hat Mutter mich gegrüßt.
Der Herrin blüht nach finstrer Wetternacht
Ein Frühlingsmorgen wundersam hervor,
Als holde Kinder leuchten um sie her
Viel künft'ge Helden, rühmliche Regenten,
Und künft'ger edler Frau'n ein schöner Kreis.
O, reicher Seegen zeigt sich meinem Blick
In ferner Jahre labendem Gefild!
Was Deine Völker beten, hohe Kön'gin,
Dein Heil und Deines Stamm's, es wird erhört,
Denn Reinheit, frommer Muth und edle Huld,
Die in der Prüfungszeit Dich treu umwallten,
Sie bringen nun des gottgesandten Lohnes
Frischlaub'ge Kränz' aus Paradiesesland.
Erstes Buch

[1] [3]Komm, ich bitte Dich, rief Mathilde, indem sie ein verhülltes Körbchen in die Höhe hielt. Wüßtest Du – Luise flog den Lindengang hinunter, in dessen Schatten die geliebte Mutter, durch kränkelndes Unvermögen gehalten, sie unruhig erwartete. Der Wind strich spielend durch die Zweige und hob das Tuch, ehe noch Luise jenes geheimnißreiche Körbchen ergreifen konnte. Ein reiches Stirnband blitzte ihr wie tausend Liebesblicke daraus entgegen. Geschenke von Julius, rief sie, und sank überrascht zu den Füßen der Mutter, die behaglich die hellen Steine zwischen den braunen Locken der Tochter spielen ließ. Luise küßte gerührt die schönen Hände, die so oft in lieber Ungeduld ihre Lippen streiften. Das schwindende Leben in Mathildens Zügen, ihr naher Tod und der bräutliche Schmuck, der so sichtlich auf die kommende Feier hindeutete, alle Freuden ihres jungen Lebens und der ernste Wechsel desselben, das ganze wunderbare Gewebe der Zukunft schien sich in den Steinen zu spiegeln, die sie [3] schnell wieder verbarg, indem sie bittend sagte: noch nicht, beste Mutter, noch nicht! und als habe sie das goldne Band gedrückt, so strich sie die Locken aus der Stirn und ließ sich anmuthig von den streifenden Lüften kühlen. Wie seltsam! sagte die Mutter, sie unruhig betrachtend, Du fragst nicht einmal, wie Dir die reichen Gaben kommen, und ob sie nicht irgend ein geliebtes Wort begleitet? So, – fiel Luise zerstreut ein: hat er geschrieben? Ja lies nur, du unstätes Kind, erwiederte Mathilde, indem sie ihr ein offnes Blatt hinreichte. Luise ward bei dem Anblick der festen, sichren Schriftzüge, die ihr den gehaltnen Sinn des ernsten Mannes so klar aussprachen, plötzlich gesammelt, und eine innre Aengstlichkeit kaum beachtend, gab sie sich gern dem Dank und der Rührung hin, die folgende Worte in ihr erregten.

»Ihre Hand, geliebte Mutter, möge meine Luise mit dem Schönsten zieren, was ich für sie auffinden konnte. Sah ich doch immer mit Entzücken, wie sich das mütterliche Auge in dem Glanz des aufblühenden Kindes belebte, und wie jedes Gefühl durch diese heilige Liebe erhöht wird. Darum lege ich auch heute all mein Wünschen und Hoffen einzig an Ihr Herz, und bitte Sie, es so erfreulicher vor Luise hintreten zu lassen.

[4] Liebe Mutter, mich quält so oft der Gedanke, daß ich überall nicht fähig sei, ein weibliches Gemüth zu beglücken, am wenigsten ein solches, das sich im zartesten Liebeshauch erschloß.

Der schwerfällige Ernst unsrer Altväter, der auf mir und meinen düstren Umgebungen ruht, und den die Gluth meiner italienischen Mutter nur im Innern, wie eine zuckende Flamme, durchbricht, läßt mich so wortarm, so schroff, wo ich voll Liebe die Menschen an meine Brust drücken und das tiefste innerste Leben ausweinen möchte! Oft ist es grade das Gefühl dieser äußren Starrheit, was meine Zunge lähmt und mich in wildem Unmuth über die Welt und mich selbst hinaustreibt. Und wie ich dann so einsam hier im dunklen Harzwalde auf mich und den uralten Sitz meiner Ahnen blicke, und es inne werde, daß so wenig modische Macht dem alten Falkenstein ein heitres Ansehn geben konnten, auch mich Jahre langes Reisen und ein bewegliches Leben unter fremdem Himmel unverändert ließen, so denke ich zagend an die lachende Luise und den seltsamen Willen des Schicksals, das uns beide verband.

Sie sehen, der wunderliche Knabe blickt noch überall hindurch, der einst Musik und Kerzenschein verschmähend, ruhig in der nahen Klosterkirche, unter dem steinernen Bilde seiner Ahnfrau schlief, [5] bis Sie und die bunte Schaar der Gäste ihn dort erweckten. Aber es soll nun alles anders werden. Ich eile zu Ihnen und führe Sie und Luisen hieher. Gewiß, Sie dürfen mir keinen Augenblick länger fehlen. Sie allein verstanden mich immer. Ihre milde Güte söhnte mich zuerst mit mir selbst aus und öffnete mir die seligste Zukunft. – Ach ich erschrecke, wie ich das Wort schreibe! – Wer kennt ihre verborgne Tiefen! und wem hat sie nicht mit neckenden Zauberkünsten gelogen! Schelten Sie nicht über den ewig wiederkehrenden Trübsinn. Mir wird so wehmüthig wie ich von Ihnen scheide. Schon gestern ließ ich das Blatt unvollendet, und lief hinaus in den Wald, mich selbst und meine Träumereien zu vergessen. Ich traf hier zufällig den Mönch, dem ich schon mehreremale begegnete, ohne gleichwohl je ein Wort mit ihm zu wechseln. Diesmal begrüßte er mich auf eine feine, sittige Weise. Seine Stimme hat eine Weichheit, die die schärfsten Töne verschmilzt und unsrer Sprache etwas Fremdes, unendlich Anmuthiges leiht. Ich gesellte mich gern zu ihm. Wir sprachen bald vertraulicher, und mein Herz, das sich selten verschließt, lag in der heimlichen, stillen Sommernacht offen vor ihm da. Er sprach mit leutseligem Ernst über das trübe Versinken jugendlicher Gemüther, und warnte mich vor jener [6] zagenden Unthätigkeit, die so oft die besten Kräfte untergrabe. Zwar, setzte er lächelnd hinzu, sei dies eine Klippe, an welcher nur Wenige scheitern, da die meisten Menschen durch freches Eingreifen ihr Leben verwirrten. Ueberall sprach eine große Kenntniß der Welt aus seinen Worten, deren Andenken ihn wohl oft wehmüthig bewegen mag. Wir schieden endlich mit dem Versprechen, uns öfter zu begegnen, was mir einen neuen Zuwachs von Freuden verheißt.

Mein alter Georg drängt mich, zu schließen, er will Ihnen selbst diese Zeilen und das Geschmeide überbringen. Leben Sie denn wohl, meine gütige, liebe Mutter! In wenig Tagen bin ich bei Ihnen, um endlich an Luisens Seite ein freudigeres Dasein kennen zu lernen. Mit tiefer Rührung schließe ich Sie Beide an mein Herz.

Der Ihrige,

Julius von Falkenstein


Der arme, gute Mensch, sagte Luise, indem sie den Brief gedankenvoll zusammenfaltete. Ist denn, fuhr sie nach einer Weile fort, das alte Schloß wirklich so öde und düster, wie es ihm erscheint? Es sieht fremd und sehr erhaben aus einer verschollnen Zeit hervor, sagte Mathilde, und scheint mit seinen gewaltigen Mauern und Gewölben des [7] kindischen Flitters zu spotten, den Julius Mutter ersindrisch verbreitete, um die Riesengestaltung der Vorzeit zu vergessen. Sie konnte sich nie recht mit der freundlichen Stille dieser Gegend vertragen, am wenigsten aber mit ihrem Wohnsitz und dessen Umgebungen. Was war es doch eigentlich mit ihr? fragte Luise, ich entsinne mich, sie in einem hellen Kleide und vielen Blumen gesehen zu haben. Sie erzählte Julius und mir wunderliche Mährchen, worin etwas von einem Salamander vorkam, und dabei leuchteten ihre großen, dunklen Augen so hell, daß ich die Meinigen gar nicht wieder abwenden konnte. Seitdem sah ich sie niemals wieder, aber das Bild ist mir für mein ganzes Leben geblieben. Sie starb bald darauf, sagte Mathilde, durch eine eigne Vorstellung geängstet, die sie ins Grab zog. Ich habe mir niemals einen rechten Begriff von einer so ungleichen Gemüthsart, als die ihrige, machen können, da mein Leben stets sehr einfach blieb und nur durch fremde Stürme getrübt ward; noch weniger konnte ich die phantastische fast wilde Fröhlichkeit mit dem Trübsinn vereinen, der ihr zu Zeiten wie ein fremder Geist inwohnte und ihrem Wesen eine Einförmigkeit lieh, die jeden ermüdete. Und dennoch so durch Sitte und Gemüth als Vaterland und Sprache von einander geschieden, verband uns in der Ferne ein unglückseliges Verhältniß, [8] das meinem Herzen die erste Wunde schlug. Hier schwieg Mathilde und ließ in Luisen das lebendigste Verlangen, mehr von einer Begebenheit zu erfahren, die ganz dunkel aus den frühesten Erinnerungen hervorsah. Das Andenken der schönen Viola, wie sie ihre Mutter sonst wohl mit Rührung nannte, hatte immer einen eignen Zauber über sie ausgeübt, und ohnerachtet sie nur in flüchtigen Hindeutungen von ihr hörte, so setzte sich dennoch der kindische Sinn ein Bild zusammen, das noch jetzt sehr reizend in ihrer Phantasie fortlebte. Ich weiß, sagte sie, in der Hoffnung mehr zu erfahren, die Gräfin Falkenstein trug früher den Schleier, den sie bald darauf willig zerriß, um dem Grafen nach Deutschland zu folgen, allein der eigentliche Zusammenhang des Ganzen ist mir fremd geblieben. Liebes Kind, hub die Mutter nach einer Weile an, man soll die Vergangenheit nie absichtlich aufdecken. Was ihr Schoos verbirgt, das ruhe, bis im Laufe der Zeiten die junge That unwillkührlich auf ihren frühern Ursprung zurückweist. Das Verborgene tritt so ungerufen allmählig ans Licht, und verliert im Zusammenhang des Ganzen das Fremde, was den gewagten Rückblick in die Tiefe oft schwindelnd zurückstoßt. Allein wie Julius Brief längst verklungene Saiten in mir anschlägt, so geht auch der Ton in Deine Seele über [9] und könnte Dich verwirren, wenn ich nicht dreist fortgriffe, um den reinen Akkord wieder aufzusuchen. Aber laß uns hinunter an den See gehn, die Sonne neigt sich so groß und herrlich in die Fluth! Sieh wie der Harz in seiner bläulichen Hülle feierlich dasteht, als wolle er ihr ein langes Lebewohl sagen. Es ist wohl schön, daß sich so oft am Abend die aufgeregte Natur sänftigt! alles wird stiller, die Luftzüge wehen wie lange, heilige Seufzer, und ganz zuletzt reißen die Nebel und glänzen in tausend wehmüthigen Thränen auf der Erde! Sie setzten sich an das Ufer; den Blick nach dem Harz gewandt, fuhr Mathilde fort: das dunkle Gebürge, das dort wie eine Wolke vor uns aufsteigt, scheint mir in diesem Augenblick die ganze Welt zu umfassen, wie es denn auch wirklich alle Bilder meines Lebens umfängt, die allesammt wie ein Punkt in der hereinbrechenden Nacht verschwinden. Es fließt schon so manches ineinander, was ich nicht mehr deutlich erkenne; nur der frische Duft einer ungetrübten Jugend durchdringt mich jetzt wie ehemals und läßt mich mit Wehmuth auf die spätere Störungen blicken.

Ich erzählte Dir wohl früher von einem geliebten Bruder, den die Lust an den Waffen in fremde Dienste, fernhin nach Italien zog. Es war wenige Tage nachdem ich mich Deinem Vater verlobte, [10] als das Schicksal so über ihn entschied. Meine junge Seele kämpfte zum erstenmal gegen die eigenen Wünsche und das Verlangen meines Bruders, der von je mein ganzes Herz besaß und mir den Verlust einer früh beweinten Mutter allein ersetzte, da mein Vater, in Geschäften versunken, wenig auf mich achtete. Ich hatte indeß nicht den Muth, meinen Schmerz zu äußern, da Eduards laute Freude jedes andre Gefühl überhörte. Ich ging daher bang und verschlossen neben ihm hin, bis endlich am Abend vor unsrer Trennung, als wir allein in seinem aufgeräumten Zimmer standen, und die öden Wände seinen Namen, den er lachend ausrief, dumpf erschallen ließen, sein Herz brach, und er weinend in meine Arme sank. Es war, als rühre ihn die Zukunft warnend an, er blickte zagend um sich her, und wiederholte mehremale: liebe, liebe Mathilde, ich verliere Dich nicht, Du bleibst mir gewiß, Deine treue Liebe begleitet mich unter fremden Himmel und findet unverändert ein deutsches Herz in meiner Brust! Ich konnte nicht sprechen. Seine Thränen lösten den lang verhaltnen Schmerz unwiderstehlich auf, ich glaubte in seinen Armen zu vergehen. Bald darauf riß er sich von mir los und eilte seiner Bestimmung entgegen. Dein Vater führte mich mit schonender Güte hieher. Allein ich konnte mich an nichts erfreuen, [11] bis ich endlich nach mehrern Monaten einen Brief aus Neapel erhielt. Ich glaubte Anfangs, Worte einer fremden Welt zu lesen. Eduard wogte in dem frischen Strom eines neuen Lebens. Die reiche Natur rauschte wirbelnd durch sein Innres. Alle Worte klangen wie abgerißne Töne, die in innrer Gluth erzitternd, Violas Nahmen heraufbeschworen. Er hatte sie gesehn und ihre Gunst ohne Wissen der Eltern gewonnen. Der lockende Zauber verborgner Seligkeit riß ihn fort, er verlor sich im üppigsten Taumel. Ich konnte lange den Eindruck jener Worte nicht los werden, die unwillkührlich mein Gemüth erschütterten und einen trüben Schein auf die einfache Gestaltung meiner Umgebungen warfen. Traurig blickte ich hinauf zu dem wolkigen Himmel unsers Vaterlandes und maaß beklommen den langen, einförmigen Gang einer farblosen Zukunft. Nach und nach versöhnte ich mich indeß mit meinem Loose, das sich mir in der stillen Wirksamkeit eines thätigen Lebens allmählig freundlicher erschloß. Eduard schrieb jetzt seltner. Sein Glück ward häufig durch äußre Stöhrungen getrübt. Viola sollte die Hand eines reichen Deutschen, den er gleichwohl nicht nannte, nach dem Willen ihrer Eltern annehmen. Ihr standhaftes Weigern erregte Argwohn und setzte sie harten Verfolgungen aus. Nach langem, ängstigendem [12] Schweigen meldete er mir endlich aus Venedig, alles sei entdeckt, Viola habe den Schleier genommen, und er irre, verfolgt, halb sinnlos vor Schmerz, umher, ohne zu wissen, wohin er seine Schritte lenken sollte. Ich bat ihn dringend, zu mir zurückzukehren; allein meine Briefe blieben unbeantwortet, wie späterhin alle Nachforschungen fruchtlos. Ich sah mit wachsender Angst, bei jedem wiederholten Versuche, Nachricht von ihm einzuziehen, der Gewißheit seines Todes entgegen, und ich versank zuletzt in jene dumpfe Muthlosigkeit, an welcher alle Freuden des Lebens unbemerkt vorübergehn. Eines Abends saß ich einsam in meinem Zimmer und überschaute mein freudloses Dasein, als sich die Thür öffnete, und Dein Vater mit einer verschleiereen Dame hereintrat, welcher ein Mann von hohem Ansehn und ausgezeichneter Kleidung folgte. Der Graf und die Gräfin Falkenstein, sagte er, mit sichtlicher Freude, die kürzlich aus Italien zurückkehrten. Aus Italien! rief ich, von tausend Ahndungen durchbebt, und eilte der Gräfin entgegen. Sie warf den Schleier zurück, und indem sie sich mit vieler Anmuth zu mir neigte, überzog eine flüchtige Röthe ihr etwas bleiches Gesicht, dessen bewegliche Züge keinen bleibenden Eindruck gestatteten. Aus Italien! wiederholte ich mit bangem Zagen, haben Sie – – [13] Der Graf trat hier zu mir, und entschuldigte auf eine feine Weise sein unerwartetes Erscheinen mit der unveränderten Anhänglichkeit an meinem Gemahl, für dessen Jugendfreund er sich erklärte, und von welchem, wie er verbindlich hinzusetzte, ihn nur widerstrebend ein vieljähriger Gesandschaftsposten habe entfernen können. Ich sah mich in ein gleichgültiges Gespräch verwickelt, während die dringendste Frage auf meinen Lippen schwebte. Die Gräfin maß mich mit ihren großen vielsagenden Augen, und sagte hinterher, in gebrochnem Deutsch, mit der lieblichsten Stimme, ein schmeichelndes Wort. So hielten mich beide gefangen, und ich verzweifelte fast, irgend etwas Näheres zu erfahren, da des Grafen wortreiche Höflichkeit mich immer mehr in mich selbst zurückdrängte, als dieser hinzusetzte, er habe nicht gehofft, seiner Viola so bald eine Freundinn zuzuführen, da er erst seit wenigen Stunden von der Heirath seines Freundes unterrichtet sei. Dieser Nahme überflog jede anderweitige Rücksicht. Ich bitte Sie, rief ich, ihn unterbrechend, kannten Sie in Neapel eine Viola, welche den Schleier nahm, die mein Bruder Eduard von Mansfeld – Viola lag schon längst zu meinen Füßen, drückte meine Knie an ihre Brust und rief unter lautem Weinen: ich – ich – die arme Viola. – Mit stummer Verwunderung blickte ich [14] auf sie und den Grafen, der, eine kleine Verlegenheit verbergend, sich von mir abwandte; indeß bald darauf mit beispielloser Ruhe sagte: hätte ich ahnden können, wie nahe jene Begebenheit Sie angeht, ich würde Sie ohnfehlbar vorbereitet haben, denn ich hasse sicher nichts so sehr als Erschütterungen, die den gebildeten Menschen aus dem schicklichen Gleichgewicht reißen. Jetzt ist indeß die Entdeckung gemacht, und ich zweifle nicht, wir Alle gewinnen bald die Fassung wieder, die wir dem äußren Anstand schuldig sind. Die Gräfin lag wie zerschmettert am Boden, und schien auf nichts zu achten. Ich fuhr aufs neue wie ein Blitz durch den ruhigen Gang seiner Rede, indem ich dringend nach meinem Bruder fragte. Verzeihen Sie, erwiederte er gütig, wenn ich dieser Frage nicht früher zuvorkam, ich glaubte Sie besser unterrichtet. Herr von Mansfeld ist wohl, und in diesem Augenblick auf einem Schiff, das nach Constantinopel unter Segel ging. Um jede verletzende Erklärung, fuhr er fort, schnell zu beendigen, sage ich Ihnen noch, daß Viola zwischen mir und dem Schleier zu wählen hatte, daß ein kurzer Aufenthalt im Kloster, der Anfang des Probejahrs, sie auf immer mit einer so düstern, ihrem Gemüth wenig angemessenen, Zukunft entzweite, und sie es vorzog, eine fremde Blume, in deutschen Wäldern [15] zu glänzen, als zwischen hohen Mauern zu verschmachten. – Lassen wir jetzt, setzte er lächelnd hinzu, die kleine Wolke vorüberziehn, glauben Sie mir, der heitre italienische Himmel durchbricht diese Nebelstreifen leicht! Ich blickte auf die schone Frau, der ich um so weniger feind sein konnte, da sie durch ihr unstätes Betragen jeden Einfluß auf das künftige Schicksal meines Bruders verloren hatte. Diese Sicherheit und die Freude, ihn wohl und kräftig neuen Unternehmungen entgegen eilen zu sehen, setzte mich schnell über die augenblickliche Störung hinaus. Ich wandte mich versöhnt zu Viola, die sich willig an mir aufrichtete und in ein andres Zimmer führen ließ. Es gelang mir bald (indem ich sie französisch anredete) ihr Vertrauen ohne Rückhalt zu gewinnen. Sie klagte sich selbst mit vernichtender Reue an, und beweinte in ihrer dunklen Zukunft alle verlorne Freuden der Liebe. Allein während die glühendste Phantasie sie immer weiter und weiter fortriß, schuf sie sich selbst die besten Trostgründe, und endete damit, ein behagliches Licht auf ein Leben zu werfen, in welchem, wie in ihrem Ideengange, Eines ganz natürlich aus dem Andren zu entspringen schien. Ich kannte die Fertigkeit wenig, Ursach und Wirkung so geschickt zu folgern, daß alles gerade und eben dasteht, während der eigentliche Grund der Handlung [16] in den innren Tiefen des Gemüths verschüttet wird. Daher blieb ich in dem künstlichen Netze gefangen, und schwieg, wie es mir nachher oft geschah, ohne gleichwohl eine innre Unbehaglichkeit los werden zu können. Mit unwiderstehlicher Anmuth schmiegte sie sich darauf an meine Brust, und bat mich, sie nicht auf dem einsamen Wege zu verlassen, den ihr jetzt des Grafen kaltes Herz vorzeichne. Ich habe niemals dem Zauber ihrer Worte und Mienen widerstehen können, und wie bei ihr bestechende Erinnrungen die Ungleichheit unsrer Gemüther ausglichen, so hielt mich der glänzendste Farbenschmuck einer glühend weiblichen Natur an sie gefesselt. Ich sicherte ihr eine Freundschaft zu, die durch lange Jahre unerschüttert blieb. Als wir bald nachher zu den Herren zurückkehrten, fanden wir sie im Gespräch vertieft über italienische Weine, und die Möglichkeit, ähnliche Sorten auf unsern kalten Boden fortzupflanzen. Ich mußte aufs neue über die gemeßne Haltung des Grafen staunen, die Violas Leichtigkeit, in jeden Gegenstand der Unterhaltung einzugehn, nichts nachgab. Ich gerieth in Verlegenheit, die ganze Begebenheit für einen Traum zu halten, da auch die leiseste Erinnrung daran verwischt schien, und wirklich ist nie wieder öffentlich die Rede davon gewesen, ob wir gleich von da an fast unzertrennlich verbunden [17] blieben. Ich brachte nach diesem Tage die meiste Zeit auf dem Falkenstein zu, wo die Gräfin bald ein neues Leben verbreitete, das fast spottend an dem alten Geist dieser Mauern vorüberzog. Der Graf sonnte sich im Glanz seines Hauses, und sah es gern, daß Viola den rauhen Einflüssen des Klimas wie dem farblosen Einerlei geselliger Unterhaltung zu Hülfe kam, wobei Kunst und Sitte sie immer auf der Bahn des Schicklichen erhielten. Allein ohnerachtet dieser stets erneueten Anregungen, versank sie dennoch augenblicklich in eine Abspannung und ein Mißbehagen, das sich nicht selten mit zerreißender Heftigkeit in bittern Thränen auflöste. Mir schien es oft, als ruhe irgend etwas in ihrer Brust, das sie drücke, ohne es gleichwohl kund geben zu wollen: weshalb ich auch niemals in sie drang. Zu diesen innren Störungen kam noch die gänzliche Unwissenheit, in der wir über Eduards Schicksal lebten. Ich hatte mich vergebens an den Gesandten in Constantinopel gewandt, und der Graf, der uns vielleicht allein behülflich sein konnte, verscheuchte jedes Vertrauen dieser Art. Unter so streitenden Einflüssen ward Julius geboren. Viola hatte sich eine Tochter gewünscht, und war mehr über das Dasein des Kindes gerührt, als erfreut. Oft sah ich ihre Blicke schmerzlich auf den seinen ruhen und Erinnrungen einer [18] Zeit erwachen, wo Glück und Liebe Hand in Hand gingen. Als Du mir einige Jahre darauf, nachdem ich lange kinderlos blieb, vom Himmel geschenkt wardst, beschloß die Gräfin sogleich eure Verbindung. Dieser Gedanke beschäftigte sie angenehm und ließ sie den Verlust eigner Glückseligkeit weniger empfinden. Wie sie alles an sich zog, was sie gewinnen wollte, so hingst auch Du mit solcher Liebe an ihr, daß Du nie von ihrem Arm fortzulocken warst, und jener Augenblick, der noch in Deiner Erinnrung lebt, war einer von den vielen, wo sie Deine Aufmerksamkeit durch Gesang und Erzählung fesselte, ohnerachtet noch kein festes Bild in dir haften konnte. So verfloß uns die Zeit in Hoffnung und Glauben an eine heitre Zukunft unsrer Kinder, als ich bei der Gräfin ein trübes Nachdenken wahrnahm, das sie häufig von allem Aeußern abzog. Sie verschloß sich Stundenlang in ihr Kabinet und ging öfter als gewöhnlich zur Messe ins benachbarte Kloster. Einst begleiteten ihr Gemahl und ich sie dorthin. Auf dem Wege sprachen wir über die seltsame Lage des Gebäudes, das in sumpfigem Grunde, von Klippen umgeben, recht wider Gewohnheit der Klöster, öde dasteht. Darüber, sagte der Graf, giebt die Geschichte meines Hauses völligen Aufschluß, und wenn auch der dumpfe Glaube meines Ahnherrn manches [19] Wunderbare hinzusetzte, so liegt doch eine zuverlässige Wahrheit zum Grunde. Wir drangen in ihn, uns das Nähere mitzutheilen. Frauen, erwiederte er lächelnd, lieben alles, was sie aus dem eintönigen Gange ihrer Bestimmung hinauszieht, und staunen mit offnen Sinnen an, was diese beweglichen Sinne ungewohnt anregt, vorzüglich hat Sie, liebe Mathilde, ihr abgeschloßnes Leben noch begieriger auf dergleichen gemacht, und darum hören Sie nur.

Vor mehrern hundert Jahren herrschte eine Frau von Falkenstein über diese Gegend, die, wie die Sage erzählt, in geheimer Verbindung mit den Geistern des Waldes stand. Durch diese wußte sie, daß ihre Söhne einander nach dem Leben trachten und Unheil über ihr Geschlecht bringen würden. Sie beschloß daher, zu Gunsten des Einen den Andern bald nach seiner Geburt aufzuopfern, und ließ ihn zwischen diesen Klippen, die damals ein reißender Bach durchzog, aussetzen. Der Aeltere wuchs nun ungestört heran, ward tapfer und fromm, weshalb er auch eine Reise nach dem heiligen Lande unternahm. Die Mutter verwaltete während dem die Geschäfte, und erwartete ungeduldig seine Rückkehr; allein nach zwei langen Jahren kamen seine Begleiter ohne ihn zurück und meldeten seinen Tod. Die Frau vom Falkenstein sah nun alle ihre Erwartungen vereitelt, entzweite [20] sich mit der Welt und ihren verbündeten Geistern und beschloß keinen Fuß aus ihrer Burg zu setzen, weshalb auch nach und nach Sand und Steine die Zugänge bedeckten. Da trat einst ein Bettler in ihren Hof, und bat sie dringend um die Erlaubniß, den Schutt von ihrer Schwelle wegräumen zu dürfen. Sie gestattete das, ohne sich um die Ursach einer so seltsamen Bitte zu bekümmern. Nicht lange darauf kam der Bettler voller Freuden zu ihr hin, zeigte ein breites, schönes Schwerdt, das er unter dem Schutte gefunden hatte und welches er für das seine erklärte, wobei er eilend hinzusetzte, daß er, in der Wildniß aufgewachsen, endlich in eine Schmiede gerathen sei und dies Gewerbe mit Lust gelernt und getrieben habe. Nun sei vor kurzem ein kleiner, grauer Mann auf einem weißlichen Pferde gekommen, welches er habe beschlagen lassen. Während der Arbeit habe er ihm einen goldnen Siegelring gegeben und gesagt: er solle das dazu gehörige Schwerdt, welches am Knopf ein ähnliches Zeichen führe, sorgfältig unter Trümmern und Steinen alter Vesten suchen, und müsse er auch Jahrelang als Bettler umherwandern; beides gehöre seinem Vater, und werde ihm zu hohen Ehren bringen. Die beglückte Mutter erkannte sogleich die Waffen ihres Gemahls, und den Bettler für den einst freventlich geopferten [21] Sohn, den sie unter besonderm Schutz der Geister wähnte und ihn mit erhöhtem Glauben in seine Würden einsetzte. Sie beschloß sogleich, hier am Rande des Baches eine Kapelle zu erbauen, und ging oft mit ihrem Sohn dahin, der Arbeit zuzusehen. Da kam eines Tages derselbe kleine Mann im Gefolge eines schwarzen Ritters auf sie zu, indem er neckend sagte, jetzt sei es Zeit, das gefundne Schwerdt zu brauchen, worauf er sich schnell wieder zwischen den Klippen verlor. Der schwarze Ritter aber rief der erschrocknen Frau zu, warum sie es dulde, daß ein Fremdling in seinem Eigenthum herrsche, und ob sie so seine Rückkehr zu feiern gedächte? Ohne eine Erklärung zu erwarten, fielen sich nun die Brüder in wildem Grimm an und stürzten bald darauf sterbend nieder. Der Bach stockte den Augenblick, nur die Erde blieb feucht von dem Blute der Erschlagnen.

Der Graf lachte hier laut über mein ängstliches Aussehen, da ich wirklich unwillkührlich zusammen fuhr, wie wir über den nassen schlüpfrigen Boden hingingen. Das Abentheuerliche der Geschichte abgerechnet, fuhr er fort, ist es wahr, daß sich hier zwei Brüder erschlugen, und daß die Mutter auf derselben Stelle das Kloster errichten ließ, weshalb ihr steinernes Bild noch darin aufbewahrt ist. Jesus! rief Viola, und ich sah sie bleich und zitternd [22] an des Grafen Brust sinken. – Mein Gemüth war so ergriffen von den eben empfangenen Eindrücken, daß ich überall ähnliche Schrecken sah und ganz trostlos rief: sie stirbt, sie stirbt! Der Graf, durch nichts erschüttert, trug Viola zu einer Anhöhe, die eine freie Aussicht in das Feld eröffnete, aus welchem uns die Luft rein und erfrischend entgegen wehete. Hier erholte sich die Gräfin bald genug, um über einen Zufall zu lächeln, der, wie sie sagte, leicht hätte glauben lassen, jene mährchenhafte Sage könne solche Gewalt über sie ausüben. Ich war nicht einen Augenblick im Irrthum hierüber, erwiederte der Graf; allein unsre Freundin, die alles zu ernst und wichtig für das wirkliche Leben nimmt, sah Dich schon von den feindlichen Geistern der Falkensteine gefangen. Wir scherzten bald alle über die Begebenheit, und als wir bei unsrer Rückkehr Besuch aus der Nachbarschaft antrafen, überließ sich Viola der allerheitersten Laune, die sich immer mehr steigernd, zuletzt alles wie im Rausche fortriß. Ich war daher sehr überrascht, als sie in der Nacht ernst und mit sichtlicher Anstrengung vor mein Bett trat. Erschrick nicht, liebe Mathilde, sagte sie leise, ich habe mit Dir zu reden, und Du mußt besonnen sein, um mich anhören zu können. Sie zündete darauf mehrere Lichte an, und vertheilte sie so, daß das ganze [23] Zimmer hell erleuchtet war, dann setzte sie sich zu mir, und, indem sie den Kopf fest in meine Kissen verbarg, sagte sie: ich bin thörigt genug gewesen, eine Unruhe übertäuben zu wollen, die schon längst an mir nagt und gestern stechend hervorgerufen ward. Es ist vergebens, ich bin erschöpft und kann den peinlichsten Vorstellungen nicht länger widerstehn, die nun mit doppelter Gewalt über mich herfallen. Sie schwieg einen Augenblick und überließ mich einer unbestimmten, fast scheuen Begier, mehr zu erfahren. Schon vor mehrern Monaten, hub sie nach einer Weile an, während ich, über sie gebeugt, mit gespannten Mienen meine Blicke auf sie heftete, schon vor mehrern Monaten träumte mir, ich höre in der Klosterkirche die Messe, und wolle nun den Rückweg antreten. Es war, als sei der Graf mit mir, denn ich sah mich wiederholt nach jemand um, der zu mir gehörte und in der Kirche zurückblieb, weshalb ich auch den rechten Ausgang verfehlte. Ich stieg mehrere Stufen hinunter und lief lange in den dunklen Gängen umher, wobei ich eine entsetzliche Angst vor dem Fallen hatte. Endlich kam ich wieder in die Kirche zurück. Es war Niemand mehr darin, die Kerzen waren ausgelöscht und alle Zugänge verschlossen. In der bittren Noth schrie ich laut um Hülfe; da bewegte sich das große steinerne Bild der Ahnfrau [24] und schritt auf mich zu. Ich wollte fliehen; allein sie faßte mich, und als ich recht hinsehen mußte, erblickte ich zwei wunderschöne Knaben an ihrer Hand, wovon der eine, wie eben geschoßnes Wild, stark an der rechten Seite blutete. In dem Augenblick öffnete sich die Pforte, mir war, als hörte ich eine bekannte Stimme, und ich stürzte mit dem blutenden Knaben heraus. Der Traum ließ einen Eindruck zurück, den die Gewißheit, aufs neue Mutter zu werden, mit jedem Tage schärfte. Du kannst nun begreifen, wie mich die Erzählung des Grafen, die mir erst den rechten Aufschluß gab, erschüttern mußte. Liebe Viola, sagte ich fast so bewegt als sie, Dein Zustand führt ganz naturlich schwere Träume und düstre Vorstellungen mit sich. Das darf Dich weiter nicht befremden, laß sie nur nicht so unbeschränkt über Dich herrschen, Du wirst das alles sicher in Kurzem leichter ansehn, und die Erste sein, die darüber lacht. Viola blieb indeß still und sinnend. Von da an konnte sie nichts zerstreuen, und ich weiß nicht, ob es ein Glück zu nennen ist, daß sie, durch innre Qualen zerstört und aufgerieben, vor ihrer Niederkunft an einem Nervenfieber starb.

O gewiß, gewiß, fiel Luise schnell ein, denn so etwas, das unaufhörlich im Innern drückt und nagt, ist zehnfacher Tod. Das kennst Du doch wohl schwerlich aus Erfahrung, sagte die Mutter. Nein, [25] erwiederte Luise; allein schon der bloße Gedanke daran hat so etwas Peinliches für mich, daß ich ihn nicht lange festhalten mag.

Mathilde bemerkte, daß es kühl werde, und ließ sich nach Hause führen. Hier begrüßte sie der alte Georg mit der herzlichen Theilnahme, die er für alles empfand, was seinem Herrn theuer war. Luise freuete sich, jemand zu sehen, der Viola gekannt und lange Zeit auf dem Falkenstein gelebt hatte, da ihre Phantasie kein andres Bild festhalten konnte und unaufhörlich in jenen Kreisen umherschweifte. Allein Georg blieb hierüber sehr einsilbig. Die Gräfin hatte nie in seine einfache Art und Weise gepaßt und er fand an manchem Aergerniß, was den Sitten seines Landes fremd war. Luise schalt den guten Alten herzlos, und rief sich selbst jeden interessanten Moment aus Mathildens Erzählung herauf.

Sie starb also, sagte sie am Abend zu ihrer Mutter, ohne Eduard wiederzusehn? Erfüllte er denn nicht noch in den letzten Augenblicken ihre ganze Seele? Ich habe Dir gesagt, erwiederte Mathilde, daß die Gräfin zuletzt nur einen Gedanken festhielt, der alle Erinnerungen erstickte. Mein Bruder war längst für sie, wie für mich, verloren, da wir wohl Beide nicht länger an seinen Tod zweifeln konnten, seit der Graf einst unaufgefordert [26] von ihm sprach, und versicherte, keine Nachforschungen gespart zu haben, ohne gleichwohl etwas Beruhigendes zu erfahren. Ihn hatten wohl früher die Wellen begraben und alle Gluth seines kranken Herzens gestillt!

Mathilde öffnete, während sie sprach, ein elfenbeinernes Kästchen, das sonst immer verschlossen auf ihrem Schreibtisch stand und von jeher Luisens Aufmerksamkeit erregte. Wohl tausendmal hatte diese mit einer Nadel an dem feinen Schlößchen gedreht, und erwartet, es solle aufspringen und ihr die verdeckte Herrlichkeit zeigen. Heute geschah nun ganz von selbst, was sie so lange wünschte: der Deckel sprang auf und Mathilde zog unter einem Packet Papieren eine goldne Kapsel hervor, die Eduards und Violas Bildniß enthielt. Luise betrachtete wehmüthig die edlen Züge, die in Glück und Freude erblüht, in eine Zukunft voll Schmerz und unerfüllten Hoffnungen hinaussahen. Viola war einfach, dennoch der herrschenden Mode zuwider, phantastisch gekleidet; farbiger Stoff wand sich vielfach, wie ein Turban, um ihr dunkles Haar und ein hellblauer Mantel hing nachlässig über der rechten Schulter. Beides gab ihr ein fremdes Ansehn, das Luisen besonders wohlgefiel. Die großen, wunderbaren Augen und das feine Lächeln um den schön geschweiften Mund, wurden ohnehin durch [27] den orientalischen Kopfputz noch mehr herausgehoben. Eduard trug eine rothe Uniform, die unmittelbar in die heutige Zeit versetzte. Schöne Züge im reinsten Verhältniß, ein frisches, festes Ansehen und blondes Haar zeigten den Norddeutschen unverkennbar an.

Als Luise die Kapsel wieder zu den Papieren legte, bemerkte sie, daß diese von einer breiten Flechte der schönsten schwarzen Haare zusammengehalten wurden, während ein kleines Siegel, gleichsam zum Wahrzeichen, darüber hing. Dies Packet, sagte Mathilde, ihren Blicken folgend, fand ich nach dem Tode der Gräfin in einem verborgenen Fach ihres Schreibetisches. Da es versiegelt war, durfte ich es nicht eröffnen, und aus andren Rücksichten mochte ich es nicht verbrennen. Viola hatte eine Freundin in Neapel zurückgelassen, die früher ihre Vertraute war und von der sie öfters Briefe empfing, die sie jedesmal sehr bewegten. Wahrscheinlich sind dies jene Briefe, deren sorgfältiges Aufbewahren von einer innren Wichtigkeit zeugt. Ich erwartete lange, daß man sie zurückfodern würde, da ich ohne hinlängliche Gewißheit sie unmöglich fremden Händen zuschicken konnte. So sind sie denn bis hieher unversehrt in dem Kästchen geblieben; jetzt möge Julius darüber entscheiden, dem ich sie nächstens zu übergeben gedenke. Könnten es[28] nicht Briefe von Eduard sein? fragte Luise. Nein, erwiederte Mathilde, das Kästchen verschließend; ein flüchtiger Blick auf die Handschrift hat mich vom Gegentheil überzeugt.

Beide schwiegen eine Zeitlang, in eignen Gedanken verloren. Liebes Kind, hub Mathilde nach einer Weile an, ich sah noch einmal in die Vergangenheit zurück und ließ jene Begebenheiten an Dir vorübergehn, um Dich von dem Glück zu überzeugen, das Deiner in einer Verbindung erwartet, die stille Anhänglichkeit in ungestörtem Fortschreiten gründete. Glaube mir, jene leidenschaftliche Wallungen, die den Sinn aus der Ferne durch ein scheinbar regsames Leben bestechen, welken die eigentliche Frische des Gemüths und geben ihm eine bloß kränkliche Heftigkeit, die aus Mangel an Kraft entspringt. So verwirrt sich der Mensch im Innren und findet niemals wieder das rechte Gleichgewicht. Deine Liebe zu Julius ist mit Dir aufgewachsen und hat sich mit allen andren Kräften Deiner Seele zugleich entwickelt. Ich ließ Dich den Weg ungehindert fortgehn, der Dich einer ruhigen Bestimmung zuführt. Nichts widersprach Deiner Neigung, und reizte sie, ihre Schranken zu überfliegen. Kein ungewöhnliches Ereigniß unterbrach den einfachen Gang Deines Lebens. Die Welt, mit allem was sie Täuschendes enthält, blieb [29] Dir fremd. Du trittst jetzt an der Hand des edelsten Mannes in einem Augenblick hinein, wo sehr ernste Pflichten Deine Aufmerksamkeit fodern. Wie sollte ich an Deinem Glück zweifeln, wie solltest Du je etwas Wünschenswertheres begehren können? Ich weiß nicht, warum mich dennoch Deine regsame Phantasie, die jedes neue Bild begierig auffaßt, warum mich Dein heftiges Gemüth, selbst in seinen edelsten Aufwallungen, ängstet. Du bist jetzt so oft gedankenvoll; ich sah Dich wohl früher die Hand nach Kleinigkeiten ausstrecken, um sie bald darauf gleichgültig zurückzuziehen. Dein Sinn schweift umher, auch jetzt – Du hörst mich nicht – Luise! – Liebe Mutter, erwiederte jene, ich denke an Julius, und wie es möglich ist, daß er seinen beiden Eltern so unähnlich ward. Möchtest Du ihn anders? fragte Mathilde ernst. Auch ist er ihnen, fuhr sie fort, nicht so unähnlich als Du denkst; ihre gänzlich widersprechende Naturen haben sich sehr glücklich in ihm verschmolzen, und was äußerlich schwer und trübe an ihm haftet, das hat ihm des Grafen absichtsvolle Erziehung gegeben, der, allen natürlichen Anlagen zuwider, einen schlauen Weltmann aus ihm bilden wollte, und eben dadurch den freimüthigen Knaben mißmüthig und unsicher machte. Wie es wohl auf dem Falkenstein aussehen mag? fragte Luise, durch neue Vorstellungen [30] abgezogen: hat die Zeit nicht allmählig alle Spuren von Violas Glanz verwischt? Ich weiß es nicht, erwiederte Mathilde, seit dem Tode Deines Vaters, der der Gräfin bald folgte, bin ich nicht dort gewesen. Allein sowohl der Graf, als neuerlich der Baron Veltheim, Julius Vormund, sollen alles wohl erhalten haben. Sie schwieg hier, durch Luisens stetes Abspringen verletzt, und beide trennten sich bald darauf, beklommen, und im Gefühl eines innern Mißverstehens, geängstet.

Als Luise am folgenden Morgen die Augen aufschlug, stand Mariane, die Kammerfrau ihrer Mutter, mit bekümmerten Mienen vor ihrem Bette, und schien den Augenblick ihres Erwachens erwartet zu haben. Ach, liebes Fräulein, hub sie sogleich an, die gnädige Frau hat die ganze Nacht hindurch gelitten und ist jetzt kränker als zuvor; Sie werden am besten bestimmen können, ob man den Arzt holen soll? Luise war an das stete Uebelbefinden ihrer Mutter gewöhnt, und wußte, daß es nie gefährlich ward; allein jetzt traf diese Nachricht ihre vom Schlaf befangnen Sinne so unerwartet, daß sie lange wie betäubt vor sich hinsah, und nicht den Muth hatte, ihr dumpfes Gefühl zu befragen. Gleich, gleich, rief sie, halb träumend, Marianen zu, und schlich sich, von innrer Angst gelähmt, an Mathildens Thür. Hier war alles still; sie trat [31] leise hinein an das Bett der Kranken, die grünseidnen Vorhänge waren zugezogen, sie konnte nichts sehen, hörte indeß schnell und hohl athmen. Mit zitternder Hand theilte sie ein wenig die Gardine, und sah die geliebte Mutter mit zurückgebognem Kopf und halboffnen Augen im ängstigendsten Fieberschlaf daliegen. Luise beugte sich über sie hin und bemerkte mit Entsetzen ein innres Zucken der Nerven, das wie ein Blitz über das Gesicht hinfuhr. Zum erstenmal in ihrem Leben traten die Schrecken des Todes vor sie hin, zum erstenmal fühlte sie deutlich, daß das treueste, liebevollste Herz sich von dem ihren losreißen werde. Sie stürzte, halb bewußtlos, aus dem Zimmer und rief wiederholt: den Arzt, um Gotteswillen den Arzt. Man traf alle Anstalten; allein die nächste Stadt war über zwei Meilen. Der Doktor, oft verreist, kam erst am andern Morgen, nachdem Luise die Nacht unter den heftigsten Qualen an Mathildens Bett zugebracht hatte. Es war ein kleiner, wohlbeleibter Mann; voller Kenntniß, allein unaufhörlich mit sich selbst beschäftigt, so lange die dringendste Noth nicht seine ungetheilte Aufmerksamkeit forderte. Daher unterhielt er Luisen zuerst mit vielen Worten von seinem eignen Uebelbefinden in den letztern Tagen, und trat ganz sorglos zu der Kranken, die, sich etwas ermunternd, voll [32] Theilnahme auf seine Klagen hörte. Luise hatte indeß die Vorhänge aufgezogen und bemühte sich, in des Doktors Zügen irgend ein entscheidendes Urtheil zu lesen. Dieser hielt Mathildens brennende Hand in der seinen, ward immer ernster, und sagte endlich, durch die ungeahndete Gefahr hingerissen: Mein Gott, der Puls intermittirt! Was heißt das? fragte die Kranke ruhig. Unregelmäßigkeit in der Cirkulation des Blutes, erwiederte er, sich fassend; ich hoffe, es hat nichts zu bedeuten. Er trat in ein Nebenzimmer, wohin ihm Luise sogleich folgte. Was heißt es, lieber Doktor, rief sie mit bebender Stimme, um Gottes willen, was heißt es? Gefahr, liebes Kind, erwiederte er bewegt, große Gefahr. Ach retten Sie! schluchzte sie, ihn mit beiden Armen umschlingend. Das vermag Gott allein, erwiederte er; thun will ich, was ich kann, das Uebrige muß man erwarten. Erwarten – dachte Luise; wer hat hier Muth und Besonnenheit, auf eine langsame Wirkung der angewandten Mittel zu hoffen! Das Schrecklichste sieht mir ganz nahe, ich muß es weggeräumt wissen, oder erliegen!

Sie konnte von da an nur Augenblicke an Mathildens Bett zubringen. Ihr ganzes Innre war zu gewaltig aufgereizt, um irgend eine Fassung zu gewinnen. Still weinend kniete sie hinter einem [33] Schirm, der ihr indeß nicht die leiseste Bewegung im Zimmer entzog. Oft konnte sie es auch da nicht aushalten; sie schlich leise zu der Kranken und harrte mit zurückgehaltnem Athem auf jede ihrer Bewegungen. Mathilde reichte ihr dann, wehmüthig lächelnd, die Hand, und Beide wandten das Gesicht ab, um die hervorbrechende Thränen zu verbergen.

So schlichen die Stunden langsam hin; niemand wagte seine innre Angst auszusprechen. Jeder ahndete und schob dennoch die Gewißheit des nahen Unglücks schaudernd zurück.

Gegen Abend bemerkte Luise, daß ihre Mutter ganz still werde. Mariane glaubte, sie schlafe, und saß ruhig zu ihren Füßen. Nach einer Weile öffnete sie dennoch die Gardinen, und da sie Mathilden wachend fand, fragte sie, ob sie leide und ob nichts zu ihrer Erleichterung geschehen könne? Nein, gutes Kind, antwortete diese mit ihrer gewohnten Milde, mir fehlt nichts, ich wünsche auch nichts mehr – aber die lange, lange Trennung! – Hier schlug eine Uhr, die Viola einst, ihres künstlichen Glockenspiels wegen, Luisen schenkte, sieben. Sieben, wiederholte die Kranke langsam zählend, ach nun muß ich noch siebenmal sterben. – Hier hielt sich Luise nicht länger; sie eilte hinaus in den Garten und warf sich laut weinend auf den [34] Boden. Ihre Arme streckten sich betend empor; aber Worte und Gedanken verwirrten sich in abgerißnen Tönen, die schreiend aus ihrer Brust heraufdrangen. Der Himmel blickte im stillen Abendglanz auf sie nieder, Blumen und Sterne begrüßten sich wie lang getrennte Freunde, und zwischen ihnen hin glänzte der klare Strom in leichten, kreisenden Wellen. Da hörte Luise jemand schnell den Lindengang heraufgehen, sie wandte sich und erkannte Julius, der auf sie zu eilte. Meine arme, arme Luise! rief er, sie an seine Brust drückend. Du weißt? fragte sie. Alles, alles, erwiederte er; Georg hat nicht gesäumt – O Julius, sagte sie, die schönen Hände dankbar faltend, Dich hat Gott gesandt. Komm nur – komm. Sie gingen stumm neben einander hin. In Julius Zügen malte sich der tiefe Schmerz einer starken Seele, die, Klagen verschmähend, still im Innern ringt. Luise wagte nicht, an ihm hinauf zu sehen. Seine Blicke, die zwischen eigner Verzweiflung und anscheinender Ruhe kämpften, drückten sie doppelt nieder. Langsam, den Augenblick der Entscheidung vor sich hindrängend, kamen sie zu Mathilden zurück. Sie saß, von Marianen unterstützt, aufgerichtet im Bett, und schien ihre Blicke auf die Uhr zu heften. Bei ihrem Eintreten bellte der kleine Hund, der während diesen Tagen nicht von der Kranken wich, [35] und als diese Julius erkannte, rief sie neu belebt: Gott Lob, mein Sohn, mein lieber Sohn! Julius Festigkeit erlag bei dem ernsten Ton dieser gebrochnen Stimme. Seine Thränen rannen unaufhaltsam, er konnte kein Wort hervorbringen, und als er beim unsichren Schein der Lampe nach und nach die verfallnen Züge des geliebten Gesichtes wahrnahm, barg er seinen Kopf in die Kissen und gab sich ohne Widerstand dem heftigsten Schmerze hin. In diesem Augenblick war Mathilde für ihn todt, und was nachher wirklich erfolgte, erregte nur den Wiederschein jenes ersten heftigen Gefühls in ihm. Der Doktor näherte sich jetzt und wünschte, man möge jede Erschütterung vermeiden. Wozu das? fragte Mathilde. Lassen Sie doch die letzten, freien Ergießungen durch keine Rücksicht hemmen. Man erwägt ja das Leben hindurch Vortheil und Schaden; in dieser Stunde darf uns dergleichen wohl nicht stören.

Ihre Augen belebten sich, während sie sprach und fachten in Luisen neue Hoffnung an. Allein sie selbst fühlte wohl, daß dieser rückkehrende Lebensblitz nur ein Wiederschein des schwindenden Geistes sei, der noch einmal der lieben, befreundeten Welt Lebewohl sagte; daher eilte sie, die gegönnte Frist zu benutzen und wandte sich zu ihren Kindern, die, von tausend Gefühlen zerrissen, sich [36] fest umschlungen hielten. Lieber Julius, sagte sie, Deine unerwartete Ankunft ist mir ein erfreuliches Zeichen. Luise wird nie allein siehn, im Augenblick der Gefahr bist Du ihr zur Seite; schütze sie, mein lieber Sohn, vergiß nicht, daß sie nun niemand mehr auf der Welt hat als Dich. – Laß jetzt – fuhr sie nach einer Weile fort, den Prediger rufen, ich will zu des Himmels Segen noch den meinigen fügen.

Julius schwankte betäubt zur Thür hinaus. Jetzt, dachte er, jetzt! mit diesem blutenden Herzen! Luise fühlte nichts als die unbeschreiblichste Angst, mit der sie unaufhörlich ihrer Mutter Hand küßte und drückte und durch tausend Liebkosungen den nahenden Tod zu besänftigen meinte. Mariane allein dachte an die Trauung: sie pflückte einige Zweige von einem schönen Myrtenbaum und wand sie zwischen Luisens Haar. – Der Geistliche trat bald mit Julius herein. Herr Prediger, sagte Mathilde, sie sollen drei Menschen mit Gott vereinen, durch Liebe und Tod. – Niemand konnte in dem Augenblick sprechen. Julius sah umher in der düstren Krankenstube, auf Luisen, die der bräutliche Kranz wie ein Todtenopfer schmückte. Das also, sagte er in sich selbst, ist die lang gewünschte, von Kindheit an ersehnte, Feier! Er reichte dem bleichen Mädchen die Hand, die sich nicht von der [37] Mutter losmachen wollte, und, indem sie Beide an ihrem Bett knieten, ihre drei Hände ineinander verschlang. Der Prediger stand gegenüber, sprach mit bebender Stimme den Seegen, und endete in folgenden Worten: Der Tod ist verschlungen in den Sieg, und der Sieg leuchtet uns in der Liebe, die das Band ist aller Vollkommenheit. – Hier schlug die Uhr Eins. – Mathilde dehnte sich mit leisem Wimmern, und ihre kalte Hand hielt die ihrer Kinder krampfhaft zusammen. Eilen Sie, rief der Doktor, wenn der Schreck ihre Braut nicht tödten soll! Mathilde schloß die Augen, und Julius trug die ohnmächtige Luise aus dem Zimmer.

[38]
Zweites Buch

[39] [41]Der Wagen hielt vor der Thür, alles war bereit, Luise warf noch einen wehmüthigen Blick hinter sich und stieg an Julius Hand hinein. Als Georg den Schlag zumachte, war ihr, als sei sie nun auf ewig von allen lieben Erinnerungen der Vergangenheit geschieden. Der enge Raum, der sie umfing, ängstete sie. Sie lehnte sich weit heraus, und grüßte im Vorübereilen, mit doppelter Herzlichkeit, alle Bekannte des Dorfes, die vor den Thüren standen und ihr laut Heil und Glück wünschten. Auch der Geistliche bog sein weißes Haupt zwischen grünen Weinranken hervor und blickte segnend auf das junge Paar, das bis jetzt nur Dornen auf dem neuen Lebenswege fand.

Bei einer Beugung der Straße wurden Mathildens Fenster noch einmal sichtbar. Sie glänzten hell in der aufgehenden Sonne und ließen die herabgelassenen Vorhänge sehen, die sich dicht an das Glas anschmiegten. O Gott! O Gott! rief Luise, seit vier Wochen sind sie geschlossen und [41] ihre Hand wird sie nie mehr öffnen! Sie drückte sich fest in die Ecke des Wagens und weinte, von erwachenden Schmerzen ergriffen. Julius bemühete sich, ihr etwas Tröstliches zu sagen; allein er fürchtete jetzt, wie so oft, das Rechte zu verfehlen und ihr Gefühl durch irgend ein gewagtes Wort zu verletzen, daher schwieg er ganz und überließ sie ihren eignen Vorstellungen.

Sie fuhren lange Zeit über weiten Ebnen zwischen vollen Kornfeldern hin, die, außer dem behaglichen Gefuhl des reichen Gewinnes, die Sinne unbeschäftigt lassen. Da trabte ein junger, blonder Mann auf einem schönen Pferde vorbei; ihm folgte in einiger Entfernung ein Knabe in grüner Livree, der einen kleinen türkischen Schimmel ritt. Luise blickte unwillkürlich auf; das feine kindliche Figürchen auf dem weißen Pferde sah fast weiblich aus und erweckte in ihr die Lust zu reiten, die sie schon längst hegte, ohne sie in ihrer abgeschloßnen Lage befriedigen zu können. Julius bemerkte nicht so bald das flüchtige Wohlgefallen auf ihrem Gesicht, als er, die Veranlassung errathend, sogleich ein erheiterndes Gespräch anstimmte, und ihr selbst Gelegenheit gab, ihre kleinen Wünsche laut werden zu lassen. Der Knabe, sagte er, erinnert mich, im Vorübereilen, an eine junge Italienerin, die ihren Geliebten, in ähnlicher Tracht, [42] auf seinen Streifereien begleitete, und mit vieler Gewandheit ein kleines Pferdchen nach den wilden Launen ihres Freundes lenkte. Luise fand das sehr reizend, es paßte in ihre phantastische Welt und schmeichelte dem ihr eignen Wohlgefallen an jeder ungewöhnlichen Erscheinung. Sie hörte daher aufmerksam zu, als Julius fortfuhr. Ich lernte Beide in Rom kennen, wo wir in einem Hause wohnten, ohne einander zu Anfang eine große Aufmerksamkeit zu schenken. Der junge Mann schloß sich indeß aus angebornem Widerspruch des Gemüthes an mich an und sagte oft lachend, er liebe mich der Natur zum Trotz, die uns in allen Richtungen unsres Innern von einander geschieden habe. Wirklich war nichts Unähnlicheres zu finden und dennoch widerstand ich seiner Liebenswürdigkeit nicht, die im steten Wechsel immer einen originellen Charakter behielt. Ich habe es oft versucht, ein festes Bild in der Erinnerung von ihm aufzufassen; allein das ist durchaus unmöglich, da in diesem Augenblick die sittigste Gewandheit, schmeichelnde Worte und Mienen, ja inniges Gefühl, von den allerwildesten Ausbrüchen toller Laune verdrängt werden und, mitten aus diesem Tumult, der Verstand wieder klar und besonnen hervortritt und über die wechselnden Eindrücke lächelt, die solch täuschendes Spiel erzeugt. Ich weiß nicht, ob ihn [43] diese Besonnenheit immer leitet, ob er stets absichtlich handelt, oder ob seine brennende Phantasie ihn fortreißt, die er aus eigner Kraft dann selbst wieder zügelt und vielleicht sich wie die Welt glauben läßt, ruhige Ueberlegung leite seine Schritte. Ich mag bei dem Letztern gern stehen bleiben, weil ich einmal ein bestechliches Wohlwollen für ihn empfinde, und auch nicht denken kann, daß der Mensch, bei so großen Anlagen, ein bloß mechanisches Kunststück aus sich machen werde. Allein, er hat mir öfter gesagt: es sei die Schuld aller nicht Blindgebornen, wenn sie schwarz für weiß ansehen. Die Phantasie der Meisten sei so arm, ihr Gefühl so nüchtern, daß sie es immer dankbar annehmen, wenn man ihnen von außen etwas aufdringe, was sie beschäftigen könne. Es sei eine Lust, wie sie sich hin und her werfen ließen, ohne nur einmal den Wunsch in sich aufkommen zu lassen, durch innre Haltung solchem Spiel zu widerstehen. Dieser Zustand halben Denkens, diese augenblickliche Anregung des Verstandes, der sich sogleich voll Eitelkeit über sich selbst erhebe und der Sache auf den Grund zu schauen meine, dies vornehme Verachten jeder ungewöhnlichen Handlung, alles dies thue den Menschen so wohl, daß sie zu Dutzenden in sein Netz liefen und, selbst nach erkannter Täuschung, willig bei ihm aushielten.

[44] Luise faßte einen lebhaften Widerwillen gegen solch Gemüth und erklärte es geradezu für boshaft. Julius bestritt das und versicherte, daß es ihm mit der Verachtung der Menschen sicher nicht Ernst sei, da er ihn nicht selten mit gänzlicher Selbstverläugnung für Andre thätig gesehen und, ohnerachtet eigner Zügellosigkeit, dennoch eine richtige Würdigung des Guten in ihm gefunden habe. Die Frauen, setzte er lächelnd hinzu, haben freilich Fernando nicht zu loben, denn ob er gleich ihren Reizen huldigt, so sieht er dennoch in ihnen nur ein liebliches Spielwerk, das man ohne sonderliche Reue zerbrechen und nach Gefallen wegwerfen kann. Die kleine Francesca mußte das erfahren; – ob sie ihn gleich mit einer Ergebenheit liebte, die sie oft zur Vertrauten, ja Helferin, neuer Abentheuer machte, so verließ er sie dennoch, um mich nach Paris zu begleiten, wo er einen Theil seines Lebens zubrachte und alte Verbindungen wieder anknüpfen wollte. Sie gerieth ganz außer sich, als er sie am Abend vor unsrer Abreise auf die ruhigsie Weise mit seinen Plänen bekannt machte. Sie überhäufte ihn mit Schmähungen und zerschlug sich mit den kleinen Händen die Brust, um sein trügerisches Bild darin zu vernichten. Er begegnete allen ihren Ausfällen sehr sanft, lachte aber überlaut, als sie ihm auch Vorstellungen [45] über seinen Wankelmuth machte. Du Neuling in der Welt! rief er, solche Thränen sind morgen getrocknet. Du bist unwiederbringlich verloren, wenn Du Dich von Ihnen berücken läßst. Sage mir, was sollte aus uns werden, wenn dies verführerische Geschlecht alle Macht über uns ausübte, die es gern über den ganzen Erdkreis verbreiten möchte! Sei kein Kind, Francesca, sagte er, die Kleine küssend, Du weißt wohl, wie kalt mich Auftritte dieser Art lassen und wie sie immer ihren Zweck verfehlen. Verweine Deine schönen Augen nicht, Du kannst sie besser gebrauchen. Ich war ganz empört über diesen Nachsatz; allein Francesca lachte mitten unter ihren Thränen, und sagte: geh nur! Du kommst doch wieder zu mir zurück, denn Dich versteht Niemand so gut als ich, und Du bist nirgend so recht eigentlich zu Hause, als in dem Umgang mit mir. Fernando gab ihr gern Recht, und wir brachten den Abend sehr vergnügt zu.

Sie waren während dieser Unterredung, die Luisen einigermaßen von sich selbst abzog, nach Quedlinburg gekommen, wo sie die Mittagstunden zubringen wollten. Die kleine schmutzige Stadt, das ungleiche Steinpflaster, das den Wagen hin und her warf und sie zwang, langsam an den niedren Fenstern der Einwohner vorüber zu fahren, wobei sie unwillkürlich einen Blick in das Innre [46] bedürftiger Haushaltungen warfen, alle diese unerfreulichen Eindrücke wurden bei dem Anblick des kleinen, grünen Jokeis, den Luise aus der Ferne vor der Thür des Gasthofes wahrnahm, vergessen. Allein bei näherer Betrachtung zeigte sich's, daß das türkische Pferdchen und das zierliche Kasket, welches jetzt auf einem Pfeiler der Treppe hing, dem armen Knaben allen Zauber und jede Aehnlichkeit mit Francesca nahmen. Ein frisches, halberstädtisches Gesicht sah ihnen aus dünn verschnittnem Haar entgegen, und verwischte alle Erinnerungen aus der italienischen Welt. Julius lächelte im Vorbeigehn über sich und die Bestechlichkeit der Sinne, als ihnen der Wirth entgegentrat und sie höflichst befragte, ob sie nichts dawider hätten, mit einem anständigen Herrn hier im nächsten Zimmer zu speisen. Sie nahmen es an und traten hinein. In's Fenster gelehnt stand ihr blonder Reisegefährte, der sie, aus einem flüchtigen Blick im Vorbeireiten, erkannte und höflichst begrüßte. Das Gespräch ward bald, wie gewöhnlich im Leben, an unbedeutende Gemeinplätze angeknüpft, die es denn endlich ganz natürlich herbeiführten, daß der junge Mann, Jagdjunker eines benachbarten Fürsten, auf dem Wege zu dessen Residenz begriffen sei. Er hatte eine etwas raube Stimme; sonst viel gutmüthige Herzlichkeit, die [47] leicht Eingang fand; vorzüglich war er aufmerksam um Luisen bemüht und liebkoste tändelnd Mathildens Hund, der sie nach dem Falkenstein begleitete. Julius sagte ihm: daß ihnen dies kleine Thier als ein liebes Andenken einer kürzlich verstorbnen Mutter sehr werth sei, wobei Luise ihre feuchten Augen senkte und die Rührung des Fremden nicht wahrnahm, der fast kindlich ausrief: ach Gott! ich habe meine Mutter niemals gesehn und habe auch kein Andenken von ihr! Sein Gesicht drückte dabei so wahr die Sehnsucht nach dem ungekannten Glücke aus, daß Julius voll Theilnahme seine Hand faßte und alle Drei recht von Herzen zu reden begonnen. Es zeigte sich nun bald, im Laufe der Unterhaltung, daß der junge Mann ein Neffe des Baron Veltheim und Julius, aus seiner Kindheit, unter dem Nahmen Carl bekannt war. Sie hatten nicht sobald diesen gemeinschaftlichen Berührungspunkt gefunden, als die Familie des Barons Luisen aus manchen treffenden Zügen bekannt gemacht, und der Wunsch, sie kennen zu lernen, in ihr erregt wurde, wobei Carl lustig hinzusetzte, er käme sich dort wie ein Ostrogothe vor, da ihn die Tante jeden Augenblick versichre: er habe nicht die geringste Leichtigkeit im Umgang mit Frauen, keine Gewandheit in der Unterhaltung; eine Reise nach Paris könne ihm beides allein geben, [48] und, statt einen so untergeordneten Posten an einem kleinen Hofe anzunehmen, hätte er suchen sollen, in Verbindung mit einem weltklugen Freunde, die Reise zu unternehmen. Der Onkel hingegen lebe in der alten und neuen Literatur, rufe einen Kreis von Gelehrten um sich her, in welchem er ihn gänzlich übersehe. Selbst in der Gefälligkeit der kleinen Cousine liege eine Art von Spott, denn sie rede von nichts als Hunden, Jagd und Pferden mit ihm, und zeige wohl, daß sie sich gütig bemühe, zu ihm herunter zu steigen. Julius entschuldigte das mit der Unkunde der meisten Menschen, eine allgemeine Unterhaltung herbei führen zu können, wodurch allein die gesellige Mittheilung frei bleibe und jeder in den Stand gesetzt werde, das Seinige dazu beizutragen, ohne ihn auf eine angreifende Weise in den abgeschlossenen Kreis seines täglichen Thuns und Treibens zurückzudrängen. Ja, sagte Carl, und das Zurückdrängen hat denn noch den Fehler, daß man es dem Andren gleich ansieht, er ritte lieber seinen eignen Gaul, da er auf dem fremden mein Leben nicht recht im Sattel ist. Die Leichtigkeit, fuhr Julius fort, in die abgeschloßnen Verhältnisse jedes Menschen einzugehen, wird größtentheils als der Gipfel der feinern Bildung angesehen, aber es muß wie von selbst aus dem Vorhergehenden entspringen [49] und sich leicht und gefällig der allgemeinen Unterhaltung anschließen, sonst hat es etwas Demüthigendes für den, der einmal aus dem alten Geleise heraustreten wollte und dem man dadurch freundschaftlichst winkt, stehen zu bleiben. Das ist wahr! rief Carl ganz entzückt, das ist wahrhaftig wahr. Das werde ich Emilien nächstens sagen, wenn sie mich wieder in meine Wälder schickt, aus denen ich eben komme, um mit ihr ganz andre Dinge zu reden.

Der Wagen war indeß vorgefahren. Julius wünschte Luisen bald in ihr neues Reich einzuführen und eilte daher, den Rest der kleinen Reise bald zurückzulegen. Carl trennte sich wie ein alter Freund von ihnen, der sich in ihrer Nähe leicht und wohl fühlend, ehestens zu ihnen zurückzukehren versprach. –

Ich erinnere mich, sagte Julius, als sie allein waren, daß mein Vater fast auf ähnliche Weise wie die Baronin über Carl urtheilte, und es hat sich dennoch ein recht frischer, gesunder Sinn und zuverlässig ein treu es Herz in ihm entwickelt. Luise hatte in der Einsamkeit eine sehr gebildete Erziehung genossen; sie besaß viel Kenntnisse und war durch Mathilden an eine unterrichtende, fast gewählte, Unterhaltung gewöhnt. Sie hegte daher eine Art von Verachtung gegen alle Unwissenheit [50] und übersah Menschen ohne hervorstechende Gaben fast gänzlich. Carls Gutmüthigkeit hatte sie bewegt, indeß glaubte sie, mitleidiges Wohlwollen sei nicht das Rechte, was Einer für den Andern empfinden solle. Julius versicherte sie, oft bei dem reichsten Schatz von Kenntnissen, mehr Einseitigkeit und ermüdendes Einerlei, als bei diesem offnen, freien Gemüthe gefunden zu haben. Frei? – wiederholte Luise, das bestreite ich, er fühlt sich alle Augenblicke einmal beschränkt und hat weder die Mittel, noch sucht er die Wege, sich los zu machen. Liebe Luise, erwiederte Julius, verdamme die Unbeholfnen nicht so gradehin, ein jeder hat seinen Kreis, in welchem er sich frei bewegt; führe ihn da heraus, so steht er wie Carl da, der wenigstens gescheut einlenkt und seine Freiheit dadurch behauptet, daß er nicht mehr will als er kann. Ich weiß wohl, fuhr er fort, daß der Kreis des Einen größer ist als des Andern; allein ein jeder zieht ihn sich am Ende selbst und kann nicht über seine Kräfte hinaus. Manche, die weit ausholten, wurden am Ende auf den Ausgangspunkt zurückgedrängt. Luise hätte dagegen noch Manches einzuwenden gehabt und meinte im Innern, dies sei aller Dumpfheit das Wort geredet; allein sie war wenig zum Streiten aufgelegt, und kämpfte genugsam gegen manche peinliche Vorstellungen, die sie [51] bei der Annäherung an den Falkenstein befielen. Der Weg dahin ward immer verschlungener, das Gebüsch dichter, und ein schwerer, glühender Himmel machte die eingeschloßne Gebirgsluft unerträglich; dazu kam, daß ein starker Gewitterregen Quellen und Bäche angeschwellt und die Wege überschwemmt hatte; sie konnten daher nur langsam auf dem schlüpfrigen Boden fahren. Luise war bemüht, die trüben Bilder, die auf sie zu traten, durch eine Menge unzusammenhängender Fragen zu verdrängen; allein ihre Unruhe wuchs so sehr, daß sie endlich Julius bat, mit ihr den Berg hinan auf einem festen ebnen Fußpfad zu steigen. Er willigte gern ein, und Beide hatten Ursach, sich über diesen Entschluß Glück zu wünschen; denn nicht lange darauf schlug der Wagen mit solcher Gewalt gegen einen Stein, den das übergetretne Wasser verbarg, daß das Rad absprang und der Wagen auf die Seite fiel. Luise that einen lauten Schrei, da sie dies von fern sahe, und Julius gerieth in solche Wuth auf seine Leute, als sei Luise wirklich beschädigt. Sie sah ihn zum erstenmal, durch die losbrechende Heftigkeit seines Gemüthes hingerissen, ohne Besonnenheit handeln. Die Verlegenheit, in der sie sich befanden, zwang ihn indeß, in sich selbst zurückzugehn. Sie waren schon zu weit von der Stadt, um dort Hülfe [52] zu suchen, und eben so wenig wollten sie um solche Veranlassung jetzt nach dem Falkenstein schicken, wo man sie in Lust und Freude erwartete. Julius erinnerte sich, daß hier in der Nähe die Wohnung eines Heideläufers sein müsse, zu der jener Fußsteig, in gleicher Richtung der großen Straße, vorbei führe. Er entschloß sich, Luisen hinzuführen, und dort ein Mittel, wie ihnen schnell geholfen werden könne, zu erfahren. Sie waren bald bei dem kleinen Häuschen, das, wenige Schritte davon, im Gebüsch versteckt lag. Lieber Gott, sagte eine Stimme von innen, schlage doch nur noch einmal, nur ein einzigesmal, die Augen auf! Julius zog die Hand zurück, die schon die Thür gefaßt hatte; er besann sich einen Augenblick und pochte dann leise an. Sogleich trat eine junge Frau heraus, wischte die hellen Thränen aus den Augen und erwiederte auf die Frage nach ihrem Manne, mit angenehmer Stimme, daß er dort im Hofe arbeite. Dieser trat jetzt zur Hinterthür herein und stellte, die Fremden im Vorbeigehn grüßend, einige glatt gehobelte Bretter in die Luft. Es wird wohl Noth haben, sagte die Frau, auf die Bretter sehend, es ist bald vorbei! – Ein Sarg! dachte Luise, und schauderte zusammen. Danke Gott, erwiederte der Mann, das Wurm hat viel gelitten! Julius hatte nicht das Herz, sein Gesuch vorzutragen; allein der[53] Mann fragte ihn gleich darauf ganz ruhig, was zu seinem Befehle stände, und meinte nach erhaltner Auskunft, wenn es nichts als ein abgesprungenes und etwas beschädigtes Rad sei, so könne er wohl allein helfen, ohne deshalb noch weiter zu gehn. Er versah sich mit dem Nöthigsten und machte sich sogleich mit Julius auf den Weg.

Wollen Sie nicht hinein treten? sagte die Frau zu Luisen, ansteckend ist die Krankheit nicht. Luise zögerte noch einen Augenblick und fragte, was es für ein Uebel sei. Das weiß der Himmel, antwortete die Frau; seit dreizehn Wochen leidet das Kind. Wir haben wohl einen Chirurgus befragt, aber das hat bei armen Leuten keine Art. Man kann auch nicht alles so haben, – (sie waren während dem in ein niedriges, enges Stübchen an das Bett der Kleinen getreten) und heute, fuhr die Frau fort – sie konnte nichts weiter sagen, bückte sich zu dem Kinde und drückte seine welke Händchen an ihre Lippen. – Luise sah überall Spuren der allerhöchsten Dürftigkeit; sie glaubte fast, daß Mangel an kräftiger Nahrung das Kind, nach früher überstandner Krankheit, allein tödte, und dachte mit Wehmuth, daß so mancher unbeachtet hinstirbt, den oft eine Kleinigkeit retten könne. Ein kristallnes Büchschen öffnend, ließ sie einen Tropfen starken Balsams unter die Zunge der Kranken fallen, die [54] sogleich stark nieste und die großen Augen verwundert aufschlug. Mariechen, liebes Mariechen! rief die Mutter, kennst Du mich? Das Kind schloß aufs neue die Augen und wandte sich auf die Seite. – Luise schickte die Frau nach dem Wagen, indem sie ihr auftrug, sich dort den mitgebrachten Wein und Zwieback geben zu lassen, und fuhr fort, der Kleinen die Schläfe mit dem Balsam zu reiben. In Kurzem kam die Mutter zurück. Luise nahm das Kind in den Arm und flößte etwas Wein in den halbgeöffneten Mund. – Nach einer Viertelstunde ermunterte sich Marie, sah umher, und spielte mit Luisens Fingern, an welchen mehrere Ringe glänzten. Liebe Frau, sagte diese, unter den freudigsten Thränen die sie jemals vergoß, das Kind wird gewiß besser, wenn es alle Stunden, von jetzt an bis morgen Mittag, einen Löffel von dem Weine bekömmt. Dann werde ich wieder herschicken und für weitre Hülfe sorgen. Die Frau faßte Luisens Hände, streichelte ihr die schönen frischen Wangen, bog sich dann wieder zu der Kleinen, küßte und drückte sie, ohne ein Wort hervorbringen zu können. Nachdem ihr Luise noch manches über die Behandlung der Kranken gesagt hatte, fragte sie nach den nähern Umständen der kleinen Haushaltung. Ach Gott, sagte die Frau, ich bin von je her an Kummer und Trübsal gewöhnt, und habe auf Erden [55] nichts, als den festen Glauben an die große Güte des Himmels, die niemand verderben läßt. Mein Vater, der ein armer Nadler in Goslar war, lebte und starb in dieser Ueberzeugung, und ließ mich, voll Vertrauen, im vierzehnten Jahre, ohne Beistand auf der Welt zurück. Unsre Nachbarn nahmen sich meiner an, trugen mir allerhand kleine häusliche Verrichtungen auf und gebrauchten mich zu Aufträgen in der Stadt, wobei ich indeß nur kärglich mein Brod hatte, und, an ein beständiges Herumlaufen gewöhnt, zu aller sitzenden Arbeit verdorben wurde, daher es auch niemand einfiel, mich als Magd in den Dienst zu nehmen. Ich hatte mehrere Jahre so verlebt, als es mir einmal schwer aufs Herz fiel, daß ich doch nirgend zu Hause sei, keinen Anhang habe, von niemand geliebt, höchstens aus Mitleid geduldet werde. Ich weiß es noch, es war an einem Sonntag, die Mädchen aus der Stadt gingen geputzt nach der Kirche, ich hatte nichts in meinem Vermögen, als einen schlechten Rock und eine zerrissene Schürze; ich sah betrübt auf die Letztre und trocknete mir die nassen Augen damit. Ein hübscher Knabe ging, mit dem Gesangbuch unter dem Arm, recht sittsam vorbei, und sagte sein: Gott grüß, Jungfer! so gutmüthig, daß ich ihm zurief: beten Sie für mich, liebes Kind, ich darf doch nicht in die Kirche hinein. [56] Warum nicht? fragte eine etwas rauhe Stimme. Es war Anton, den ich zum erstenmal in meinem Leben sah. Ich schämte mich, vor einem fremden Menschen zu klagen, und schwieg. Er mochte wohl was Arges denken, denn er wandte sich ab, als wolle er gehn, da sagte ich ihm, daß ich zu arm sei, um mir anständige Kleider zu kaufen, und so abgerissen nicht neben Andren sitzen wolle. Er schüttelte den Kopf, drückte mir aber doch ein blankes Stück Geld in die Hand und ging, ohne ein Wort zu sagen. Ich begegnete ihm nach der Zeit oft. Er grüßte jedesmal und sah mir lange nach, wenn ich die Straßen entlang schwere Lasten für geringen Lohn tragen mußte. Einmal bot er mir die Hand, erzählte mir, daß er einen kleinen Posten, ein Häuschen unb eine Strecke Landes zu einem Garten bekommen habe, hier draußen ganz allein wohne, und mich, da er höre, daß ich fromm und ehrlich sei, frage, ob ich mit ihm hinausziehn und als seine Frau bei ihm leben wolle? Ich fiel wie aus den Wolken, besah mich selbst verwundert, und wußte nicht, was ich denken sollte. Er merkte wohl, daß ich nicht nein sagen würde, und redete nun weitläuftiger über alles. Wir wurden bald einig; ich hatte von da an keinen Willen als den seinen, und hörte und sah auch überdem nichts, da mir das Häuschen und der Garten immer vor Augen[57] schwebten. Ich dachte wohl an meinen Vater und dankte Gott recht aus zufriednem Herzen. Meine ehemaligen Wohlthäter schenkten uns allerlei zur Einrichtung und wir zogen nach kurzer Zeit hierher. – Der arme Anton sah bald so gut wie ich, daß es mit der Herrlichkeit nicht weit her und das Brod für zwei knapp zugeschnitten sei. Er ist heftigen Gemüths und erbittert sich selbst, wenn es nicht so geht wie er denkt; darum verzweifelt er gar zu bald und hat keinen rechten Glauben. Es ging denn auch freilich schlecht, ein schweres Wochenbett machte mich zu harter Arbeit untüchtig, und nun kam das lange Leiden mit dem Kinde; es ging alles zurück, wir machten Schulden und geriethen in große Noth. Bis heute blieb ich indeß voll Zuversicht; wenn ich so recht aus Herzensgrund geweint hatte, dann fiel mir mein Vater ein, und der liebe Gott, der alles wohl macht, und ich hoffte gleich aufs neue wieder. Aber vor ein paar Stunden, da brach mit Mariechens Augen mein Herz und aller Muth zusammen. Ich wünschte mir recht sündlich den Tod – und nun – ach du Herzenskind, sagte sie, und betrachtete es mit Blicken, die Luisen in den Himmel erhoben. Julius und Anton kamen jetzt zurück. Sieh doch, sieh! rief die Frau Letzterm entgegen, und zeigte auf die Kleine, welche mit sichtlicher Lust von einem Zwieback [58] aß. Dahin hat es die liebe, schöne Dame in so kurzer Zeit gebracht. Julius betrachtete Luisen, die, mit dem Kinde im Arme, wie ein Engel da saß und ihr verklärtes Auge freudig auf ihn richtete. Anton hingegen lächelte ungläubig und sagte, das wird nicht lange währen, Angst und Noth sind nun einmal bei uns eingekehrt und kommen immer wieder. Schäme Dich, lispelte die Frau leise, vertraust Du nicht mehr auf Gott? – Luise sah ungern ihr Gefühl gestört, drückte dem zagenden Mann ein paar Goldstücke in die Hand und eilte mit Julius zu dem Wagen, der sie unten erwartete. Ihr war unbeschreiblich leicht und wohl ums Herz. Sie umfaßte noch einmal die langen Leiden der armen Frau, die gleichwohl ihre Gefühle nicht einengen und die Gemeinschaft mit Gott nicht aufheben konnten, und drückte dann voll Dankbarkeit Julius Hand, der sie einer sorgenfreien, heitern, Zukunft entgegenführte. Ihr war, als sähe ihre Mutter auf sie herunter und wiederhole jene Worte: Wie sollte ich an Deinem Glücke zweifeln, wie solltest Du je etwas Wünschenswertheres begehren können!

So mit sich und ihrem Loose zufrieden, setzte Luise ihre Reise fort, während sie mit Julius jede Möglichkeit erwog, wie den armen Leuten dauernd zu helfen sei, und den kleinen Unfall segnete, der so viel Glück herbeigeführt hatte. Julius schämte [59] sich seiner vorigen Heftigkeit, daher ging er um so eher in Luisens Pläne ein, das kleine Unrecht auf diese Weise vor sich selbst wieder gut zu machen.

Es war indeß spät geworden. Der Mond stand hoch am Himmel, von den Wiesen stieg ein frischer Dampf herauf, der sich wie ein Flor über die grüne Fläche hinzog. Glühwürmchen leuchteten, herabgefallnen Sternen gleich, aus den Büschen, und kreisend durchzogen einzelne Vögel die Luft, um dann von den letzten Geschäften des Tages auszuruhen. Luise fuhr unwillkührlich zusammen, als Julius freudig rief: das ist der Falkenstein! Sie blickte auf. Graue Thürme sahen im bleichen Mondenlicht zwischen Felsenwänden und dunklen Tannen hervor. Das ist der Falkenstein, wiederholte sie langsam. Sie fuhren jetzt einem Wasserfall vorüber, der sich in einen breiten Graben ergoß. Eine wohlerhaltne Zugbrücke führte über letztern in den Schloßhof hinein. Luise trat mit wankenden Knien aus dem Wagen, in das weite Portal, wo die Dienerschaft des Hauses sie unter tausend Glückwünschen erwarteten. Willkommen, meine Luise! rief Julius aus bewegter Brust; willkommen! tönte es von mehrern Stimmen durch die gewölbten Hallen. Luise neigte sich freundlich gegen Alle und folgte Julius die Steintreppe hinauf zu Violas Zimmer, die er, als die heitersten und schönsten, für sie bestimmt [60] hatte. Sie ward angenehm überrascht, als sie in einen kleinen wohlerleuchteten Saal trat, dessen Wände, grün, mit Basreliefs von der auserlesensten Arbeit verziert waren. Ringsumher standen, auf kleinen Fußgestellen, hohe Vasen mit Blumen, dazwischen Statuen, Abgüsse der besten Meister. Einem großen Spiegel gegenüber sah man durch eine geöffnete Glasthür in einen blühenden anmuthigen Garten, der am Abhange des Felsen angelegt war. Mariane, eilig bemüht alle Herrlichkeiten in Augenschein zu nehmen, trat voll Freude aus demselben hervor, und begrüßte Luisen wie eine liebe Bekannte. Alles gewann hier ein lustiges, vertrauliches Ansehn. Der düstre Eindruck des alten Gebäudes verschwand, jede Spur, jede Erinnerung daran war durch Violas Andenken verwischt. Mit liebevoller Ehrfurcht nahm Luise von den übrigen Gemächern Besitz, die noch aller Zauber ihrer ehemaligen Bewohnerin erfüllte. Ahndungen und Sorgen waren vergessen. Mathilde und die Gräfin schienen ihr überall zur Seite zu gehn und sie zu jedem reinen Genuß zu ermuntern.

Die schöne Zeit, wo der Mensch mit erwachender Lebenslust eine neue Laufbahn betritt, wo die Seele sich in den weitren Kreisen dehnt und jede Kraft muthiger übt, hob auch Luisen über innre Störungen hinaus und öffnete ihr ein frisches thätiges [61] Leben, das der reinste Wille und die andächtige Feier entschwundner Geliebten mehr und mehr veredelte. Die arme Familie im Walde wurde in dieser Stimmung am wenigsten vergessen. Ihre Segnungen tönten in Luisens Herzen wie der Ruf des Himmels zu neuen guten Werken.

Julius ging indeß seinen einsamen Weg. Zu Anfang war es wohl, als wenn Luisens erheitertes Dasein auch erfrischend durch ihn hinzöge; allein er fiel bald wieder in sich selbst zurück. Die Sorge für die Dauer ihres Glückes beschäftigte ihn ängstlich, und machte ihn über die Mittel, es zu erhalten, unschlüssig. Gleichwohl vermochte er nicht, mit ihr darüber zu reden, weil er überall dem innern Reichthum seiner Gefühle keine Worte leihen konnte, weshalb er in ihrer Gegenwart einsilbig, oft verlegen blieb. Dieser innre Druck ward noch dadurch vermehrt, daß ihn Luise, so oft sie bei einander waren, drängte, ihr etwas vorzulesen, Klavier zu spielen, oder auf einem Spaziergange den Mönch aufzusuchen, den sie oftmals antrafen, und für den sie eine große Anhänglichkeit gewann. Julius fühlte wohl, daß die Armuth seiner Unterhaltung nach und nach alle gegenseitige Mittheilung hemmen und Luisens lebendigen Sinn mit Gewalt nach Außen treiben werde. Er versuchte es daher mit der gutmüthigsten Anstrengung, sich freier und [62] lebendiger zu zeigen; allein die Natur widersteht jeder Absichtlichkeit, und nur in einzelnen Augenblicken, wenn irgend eine Saite seines Innren ungewohnt berührt ward, rauschte der Klang erschütternd durch ihn hin, und sprengte die Bande, die den edelsten Geist gefesselt hielten. Der Mönch verstand es fast allein, solche Momente herbeizuführen. Durch ihn lernten Beide die Bibel kennen, die sie bis dahin nur, als ein nothwendiges Glied in der Stufenfolge menschlicher Entwicklung, geschichtlich, betrachtet hatten. Er sagte ihnen oft: wenn es nur zu wahr ist, daß der schwankende Mensch äußrer Anregungen bedarf, wo kann er sie würdiger finden, als grade hier? Das Leben, fuhr er fort, ist reich in Vergangenheit und Gegenwart, die Entwicklung des einen, ewigen, Geistes in Natur und Menschen sichtbar; allein dies in jeder Zeit wahrzunehmen, erfordert einen wachen, geübten Blick. Das halbgeöffnete Auge schweift an den großen Offenbarungen vorüber, die, wie einzelne Chiffern, nur dem eine lesbare Schrift sind, der ihren Sinn erkannt in sich trägt. Die leisere Fühlbarkeit, das schnelle Erfassen und Vereinen vorüberfliegender Töne, ist nur einem sehr reichen, in sich beweglichen Gemüth gegeben, einem solchen, dem alles durchsichtig erscheint, und das ohne fremde Kraft die ätherischen Regionen durchzieht, die sein [63] eigentliches Lebenselement sind. Die Meisten wollen einen lauten, ans Herz dringenden Ruf, der sie fast unwillkührlich erweckt. Sie sind verloren, wenn sie sich hingebend und erwartend eignen Einwirkungen überlassen. Ich fühle das oft beschämt, und flüchte zur Bibel, als dem vollsten und reichsten Schatz ans Licht getretner Herrlichkeit. Was die Geschichte im Aeußren und Allgemeinen darstellt, den Menschen in der Folgereihe fortlaufender Begebenheiten, das Zusammenfallen großer Naturerscheinungen und innrer Umwälzungen, das tritt hier wie ein Blitz der Offenbarung unmittelbar, und in der beredtsten, dem Herzen verwandtesten, Sprache aus dem Innren hervor. Luise fühlte besonders die Wahrheit des Letztren, denn sie konnte nie ohne tiefe Rührung die Worte der Schrift lesen, und blieb noch lange nachher in einer weichen, jedem beßren Eindruck offnen, Stimmung.

Um diese Zeit traf Carl, seinem Versprechen gemäß, bei ihnen ein, und beredete sie freundlich, ihn auf eine kleine Lustreise zu dem Landsitz seines Onkels zu begleiten. Es sei dort, setzte er hinzu, jetzt bunter als jemals; Gelehrte und Ungelehrte, Pharisäer und Leviten, Jude und Teufel, alles ginge Hand in Hand. Luise fürchtete ein wenig die Baronin; allein Julius sah es als eine Art von Schuldigkeit an, sie dieser vorzustellen, und [64] willigte um so lieber ein, da er sich von Carls Gesellschaft und seinen naiven Anmerkungen manche Freude versprach.

Schon des andern Tages machten sie sich bei heiterm Wetter und der besten Laune auf den Weg. Carl ward nicht müde, von dem glänzenden Kreis zu reden, in den sie eintreten wollten, und dabei die Gelehrten und Dichter zu verspotten, welche Letztre er nun einmal in den Tod haßte und gradehin für Lückenbüßer in der menschlichen Gesellschaft erklärte. Ich habe nicht viel gelernt, setzte er mit komischer Zuversicht hinzu; allein ich gehe meinen Weg rüstig fort, und stoße ich auf irgend ein Hinderniß, so räume ich es weg, oder kehre still um, ohne die ganze Welt zum Zeugen aufzurufen; solch Himmelskind hingegen weiß niemals ob es fest auftreten darf, und faßt bei aller Gelegenheit nach einem tüchtigen Arm an den es sich halten kann. Julius lächelte, ohne Carls Meinung anzugreifen, da sie ihm vielleicht nothwendig war, um ruhig in den Schranken auszuhalten, die seine individuelle Natur ihm gesteckt hatte. Allein Luise sagte, Sie nannten die Dichter vielleicht mit Recht Himmelskinder; gönnen Sie ihnen also ihre eigne Welt, und wundern Sie sich nicht, wenn sie der unsrigen fremd bleiben. So sind die Frauen, rief Carl ungeduldig aus, solch unzusammenhängendes Wesen [65] gefällt ihnen. Liebe, schöne Gräfin, wer in den Himmel will, muß auch auf der Erde zu Hause sein, sonst hätte ihn unser Herr Gott weggelassen. Und übrigens sind die Herren auch nicht so himmlisch wie es in den Büchern aussieht; sie greifen mit allen Sinnen umher wie jeder andre Erdensohn, und genießen wo es etwas Gutes giebt. Wenn so einer von Nektar schlürfen redet, denn weiß ich schon was die Glocke geschlagen hat. Die Seligkeit kenne ich auch, wo alles blau ist wie der Himmel über uns! Diese Gleichstellung des phantastischen Dichterrausches mit den gemeinen Wirkungen des Weines brachte alle zum Lachen, und niemand stritt weiter mit Carl, der im Zuge des Erzählens blieb. Sie werden, fuhr er fort, bei dem Onkel wunderliche Heilige erblicken, zu deren Sekte ich mich nun einmal nicht bekennen mag. Einer ist indeß unter ihnen, den ich ausnehme. Ein braver, excellenter Junge, ehemaliger hannöverscher Offizier, der bei der Auflösung der Armee auch um seinen Degen kam, und nun vor Angst und Kummer Dichter geworden ist. Seitdem klagt er ein bischen zu viel über sein eigen Leid; allein das gehört nun einmal zu seinem Gewerbe, sonst ist er noch eben so gut und anspruchlos wie ehemals. Auch hat die Tante eine gewisse Vorliebe für ihn, weil er von guter Familie ist, denn bei aller Verachtung andrer [66] Vorurtheile hält man doch in dem Hause gewaltig auf den alten Erbadel, als ein Ueberbleibsel des Ritterthums, das jetzt wieder bei den Gelehrten in Ansehn kommt.

Sie hatten indeß mehrere Meilen zurückgelegt, und sahen nun von fern das Ziel ihrer Reise, ein schönes, im modernen Styl erbautes Landhaus, von hohen italienischen Pappeln und Schwarztannen beschattet. Unmittelbar daran schloß sich ein englischer Garten, an welchem sie jetzt vorüberfuhren, und die Gesellschaft auf einem frischen Rasenplatz, zwischen verschiednen Gruppen ausländischer Bäume, beim Thee versammelt fanden. Luise bemerkte zuerst eine junge Blondine, die mit gefälligem Wesen zu mehrern jungen Männern redete und sie fast allein zu beschäftigen schien, während sie nachlässig mit ihnen unter den Bäumen hin und her ging. Ihr Haar war vorzüglich schön geordnet und schmiegte sich lockig an die weichen Umrisse des Gesichtes. Das ist Emilie, rief Carl, der werden die Poeten auch noch den Kopf verrücken! Der hübsche, junge Mann an ihrer Seite ist jener Offizier, von welchem ich ihnen zuvor sprach, ein Herr von Stein, in der Gelehrtenwelt Reinhold genannt; ihm zunächst geht ein Engländer mit einem Juden, der ihm die deutsche Dichtkunst um ein Billiges abläßt. – Hier trat ihnen die Baronin, von ihrer [67] Ankunft benachrichtigt, entgegen. Luise ward durch die Schönheit und Würde ihrer Gestalt überrascht. Ohnerachtet sie von Mathildens Alter zu sein schien, war die fast plastische Ruhe ihrer Züge, durch ein gleichförmig fortlaufendes Leben, ungestört geblieben, und ihre Schönheit über die Zeit hinausgehoben. Sie redete mit der einfachen Sicherheit, die ein längerer Umgang mit der Welt fast einem Jeden giebt. Vor Julius hatte sie eine Art von Ehrfurcht, weil er über die Gränzen Deutschlands hinausgekommen war, was sie ihm auch, durch bescheidne Zurückhaltung, die seinem Verdienst den Vorzug einzuräumen schien, bezeigte. Luise ward einigen Damen aus der Nachbarschaft vorgestellt, und dann von Emilien, die sie mit besondrer Herzlichkeit empfing, in den Kreis um den Theetisch eingeführt. Ihr zunächst saß eine hübsche junge Frau, die lebhaft mit einem bleichen, sehr ruhig scheinenden, Mann redete, und sich oftmals ärgerlich von ihm abwandte, ohnerachtet sie es nicht lassen konnte, immer wieder hin zu hören, so oft er mit einem weichen, fast leisen Organ, etwas Beißendes sagte, was sie unwillkührlich zur Antwort reizte. Der Baron war indeß mit einigen andern Herren hinzugekommen. Herr Werner, sagte die junge Dame zu einem derselben, tritt heute aufs neue wie der Baum der Erkenntniß zwischen die unschuldigsten [68] Genüsse der Menschen, und ist bemüht uns durch die Früchte seines Witzes die Augen zu öffnen. Ich wiederhole nur, erwiederte jener, gleichgültig mit seinen Lünetten spielend, die er eben abgenommen hatte, um Emiliens Stickerei genauer zu betrachten, ich wiederhole nur, was die öffentlichen Blätter sagen. Ein von der gnädigen Frau beschütztes Buch, Rodrich, ist darin wie ein Rezept zu einer Torte zerlegt, so und so viel Orangenblüthen, Citronen nach Belieben, mehrere poetische Süßigkeiten, einige ergreifende Scenen als pikante Gewürze, und zuletzt zur Dekoration die Gruppe des Laokoon. Was meinen Sie dazu, Herr Professor, unterbrach ihn die Dame heftig, sich zu demjenigen wendend, welchen sie zuvor anredete, ich bitte Sie, was heißt das? – So viel als nichts, erwiederte dieser, das könnte man so ziemlich von den mehrsten Romanen sagen, die im Süden spielen; das bezeichnet äußre Zufälligkeiten, die keinesweges die Idee des Ganzen darstellen. Allein wer diese richtig auffaßt und sie angreift, ist meiner Meinung. – Werner lachte in sich. Ihrer Meinung? wiederholte die hübsche kleine Frau ganz betroffen, und stand von ihrem Stuhl auf, als wolle sie jenes nachtheilige Urtheil fliehn. Räume ihnen nicht das Feld, liebe Auguste! rief Emilie, vertheidige den armen Rodrich, Du weißt wohl – Gnädige Frau, hub der Professor [69] aufs neue an, Sie forderten mich auf; ich kann nicht anders als wahr sein. Nun denn, erwiederte Auguste, auf alles gefaßt, so sagen Sie nur was Sie denken. Ich denke, fuhr jener fort, was Ihrem Scharfsinn bei näherer Betrachtung nicht entgehen kann, wenn der erste Eindruck mancher anziehenden Verhältnisse verwischt sein wird. Es ist in dem Buche nicht sowohl die Rede von der Nichtigkeit des menschlichen Thun und Treibens in seinen verworrenen Richtungen, sondern ein völlig abwärts gehendes Streben bei früh erkanntem Ziel. Der Sündenfall nach der Erkenntniß. Rosalie personifizirt das Ganze, absichtlicher Wahnsinn. Alle sind klug, besonnen, ermessen und prüfen, heben sich über sich selbst hinaus, und neigen sich am Ende zur gemeinen Alltäglichkeit herab. Das kann ich so strenge nicht tadeln, sagte Werner, das bezeichnet eine Ansicht wie eine Seite des Lebens; warum soll die nicht ausgesprochen werden? Störender ist mir, daß das Buch weder ein Roman, noch eine Novelle oder ein Mährchen ist; diese äußerliche Unvollkommenheit verrückt alle Augenblick den Standpunkt, aus welchem man es betrachten soll, und verwirrt es in sich selbst. Noch bemerke ich, daß die sogenannten poetischen Situationen gekünstelt und absichtlich erscheinen, und die einzige Wahrheit des Gefühls in der anspruchlosen[70] Aline niedergelegt ist. Das eben, das eben, unterbrach ihn der Professor, ist das frevelhafte Spiel, was durch das ganze Buch geht. Das Heiligste wird niedergetreten, weil es schwach, ohnmächtig, abhängig, erscheint, indeß die reichste Kraft sich in sich selbst zernichtet.

Für mich ist es immer schwer, von diesem Buche reden zu hören, sagte Reinhold, im Guten sowohl als im Bösen, denn ich möchte gegen Beides anstreiten, und gerathe deshalb unausbleiblich ins Gefecht, oft gar auch in ein kreuzendes Feuer, wie es mir zum Beispiel hier gehen würde. Aber eine bloße Gefühlsäußerung, die keinen Anspruch auf irgend eine richtende Kraft hegt, zieht wohl als ein friedlicher Gesandter durchhin, und ich will es daher nur dreist heraussagen, daß ich von dem Rodrich tief angesprochen werde, dann wieder unendlich hart abgestoßen, dann wieder zum allerkühnsten Spott gereizt. Oft tritt er ganz fremd vor mich hin, als wäre gar keine Berührung zwischen uns Beiden, treibt mich durch gezierte Gesellschaften vornehm umher, erinnert mich an andre Bücher, die eben so vornehm thun und die ich nicht leiden kann, der Unwille runzelt meine Stirn, der Hohn schwebt auf meiner Lippe – und plötzlich brechen die Stralen des reinsten, seligsten Friedens hervor; das Wehmüthigste aus meinem Leben, das Lieblichste aus [71] meiner Kindheit tritt vertraulich kosend auf mich zu; ich zürne über meinen Hochmuth, über meinen Spott, und lösche mit linden Thränen Rodrichs und meine Fehler zugleich aus. Gottlob! rief Auguste, das ist doch etwas Andres, als der bloße Verstand, das empfind' und begreife ich zugleich! Luise blickte zufrieden auf das edle Gesicht des jungen Mannes, das eine fromme, fast demüthige, Rührung überzog. Lieber Reinhold, hub Werner an, Sie sagten mit Unrecht, daß Ihre poetische Ergießungen wie ein Friedensbote durch jene Urtheile hingingen; sie gehen darüber hin und schwemmen die einfache Wahrheit derselben in ein unsichres Rauschen der Gefühle weg. O! nichts weiter, sagte Auguste ungeduldig, wir wollen uns lieber auf dem warmen Strom seiner Gefühle hin und her schwingen, als mühsam an Ihre Weisheit hinanklimmen! Die Baronin, der das Gespräch schon lange nicht angenehm war, weil es durch seinen Gegenstand kein allgemeines Interesse gewinnen konnte, schlug der Gesellschaft einen Spaziergang vor, und man machte sich bereits auf den Weg, als Herr Aaron, wie vor sich selbst redend, bemerkte, daß man dem Buch zu viel gethan habe, da es doch wirklich mehrere glückliche Momente und eine große Pracht und Reichthum der Phantasie enthalte. Ich lasse mich hängen, flüsterte [72] Carl Luisen zu, wenn das alles nicht eine abgeredete Karte ist; der Jude steckt mit dem Buchhändler unter einer Decke und hat den Andren zugeredet, das närrische Zeug anzugreifen, damit man neugierig werden und es lesen möchte. Carl, sagte Luise sehr ernsthaft, Ihr Vorurtheil macht Sie boshaft. Nehmen Sie sich in Acht, Ihre Gutmüthigkeit läuft Gefahr, von einem häßlichen Gifte befleckt zu werden. Emilie, die herzu gekommen war, drückte ihr die Hand und sagte (einen strafenden Blick auf Carl), wie ist es möglich, daß Sie Herrn von Stein fähig halten – O ich weiß, ich weiß, unterbrach sie jener, Reinhold nicht beachtend, der ihn in dem Augenblick gutmüthig umfaßte und durch einige freundliche Worte beschämt in sich selbst zurückdrängte. Trauen Sie dem wilden Jäger nicht, er geht auf eine gefährliche Jagd aus, lispelte Werner im Vorübergehen. Gefährliche Jagd? wiederholte Carl; was soll das heißen. Gott weiß, sagte Reinhold, aus dem wird niemand klug; aber lassen Sie ihn nur, er meint es nicht böse.

Luise dachte anders, sie konnte sich einer innern Scheu nicht erwehren, die ihr Werners höhnende Ruhe aufdrang. Uebrigens gefiel sie sich ganz wohl in dem gemischten Kreise und beantwortete Emiliens vertrauliche Liebkosungen, wie der [73] Baronin feines Zuvorkommen, mit dankbar frohem Herzen. Bei einer großen Empfänglichkeit für fremde Eindrücke, ward es ihr leicht, den herrschenden Ton der Gesellschaft aufzufassen, wodurch sie, zu ähnlich freier Mittheilung angeregt, sehr bald vortheilhaft ausgezeichnet wurde. Der kleine Triumph entging ihr nicht, so wenig wie Augustens Empfindlichkeit darüber, die sich verstimmt zurückzog, indeß die unbefangne Emilie nur noch liebreicher und heitrer wurde. Gewohnt, Huldigungen zu empfangen, war diese niemals bemüht, irgend eine Aufmerksamkeit gewaltsam an sich zu reißen, sondern alles gehen zu lassen wie es gehen wollte und konnte, weshalb sie auch das Wohlwollen der Männer, bei ganz veränderter Beziehung des Gefühls, immer rein erhielt.

Ein kleiner Regen trieb die Gesellschaft in die Zimmer zurück. Emilie verbarg sich unter Luisens Shawl, und, indem sie sich Beide umschlangen, rannten sie schnell dem Hause zu. Der weiche indische Stoff, der sich um die schlanke Gestalten schmiegte, bildete eine Gruppe, die von allen Herren unter lautem Beifallruf bewundert wurde. Nun nur schnell Musik! rief Auguste im Hereintreten, durch jenes Lob verletzt, die Worte tödten uns sonst heute in der ängstlichen Stubenluft; Herr von Stein, Sie versagen mir es nicht! Reinhold, [74] immer bereit, Andren Freude zu machen, trat zum Clavier; Werner stellte sich zu Augusten, und, während er die Gruppe von vorhin in farbigem Papier sehr geschickt ausschnitt, lockte er ihr unter künstlichen Wendungen die Ursach ihrer trüben Laune ab. Die andern hörten indeß auf folgendes Lied:


Ein weiches Herz im Busen,
Ein krieg'risch glüh'nder Sinn,
Manch holder Wink der Musen,
Das ward mir zum Gewinn.
Und früh besonnte Bahnen,
Sie schlossen mir sich auf;
Beifällig sah'n die Ahnen
Auf ihres Enkels Lauf.
Wie schnell, wie hart geendet!
Wie nah' der Freude Grab!
Vom weichen Herzen wendet
Die kluge Welt sich ab.
Die ehmals tapfre Klinge
Blitzt matt in Trümmern auf,
Und wenn ich Lieder singe,
Wer hört in Liebe drauf? –
Zwar edle Kränze rauschen
Fernher zu meinem Preis;
Die möcht' ich gerne tauschen
Um ein demüth'ges Reis.
[75]
Um's Reis der süßen Minne,
Das welkend mir verblich.
Umsonst! Im stillen Sinne
Verzehrt mein Sehnen mich. – –

Emilie reichte mit ihrer gewohnten Gutmüthigkeit, Reinhold, nachdem er geendet, die Hand, und ließ ganz rücksichtslos die Rührung blicken, welche jene Worte in ihr erregten. So viel Theilnahme überraschte ihn. Er drückte die schönen Finger an seine Lippen, während er, über ihren Stuhl gelehnt, einen langen, fragenden Blick auf sie richtete. Luisens Herz klopfte unwillkürlich. Eine seltsam dunkle Ahndung stieg in ihr auf, ihr Athem stockte, helle Thränen drangen aus ihren Augen; da unterbrach Werner die augenblickliche Stille mit einem lauten Gelächter und zeigte auf den Professor, der in einer Ecke des Sophas in guter Ruhe schlief. Geschwind, Herr Professor, rief Auguste, geschwind eine Vorlesung über die Trägheit der Menschen. Der kleine Mann rieb sich die Augen, sprang mit einem Satze auf, als treibe ihn angeborne Schnellkraft, während er sich mit zusammengebißnen Zähnen die Sporen gab, setzte sich mitten ins Zimmer und hub dann mit einer Stimme, die noch heiser vom Schlafe war, folgendermaßen an.

»Keine Gefahr steht dem Menschen näher, als zu jener trägen Dumpfheit herabzusinken, die, indem [76] sie die Regsamkeit der Sinne hemmt, oder doch nur einseitig und mechanisch übt, den innern Reichthum der Gefühle einengt, den Blick verdunkelt und den Geist mit bleiernen Gewichten zu dem kurzgesteckten Ziele hinabdrängt.«

Alle lachten, denn seine Augen schienen noch jetzt von diesen bleiernen Gewichten herabgezogen. Der Engländer aber meinte, es gehe ihm wie den Somnambülen, die im Schlafe das Beste zu Tage fördern; denn, setzte er hinzu, im Grunde hat er doch eine Saite angeschlagen, die jeden mehr oder weniger trifft. Wahr ist es am Ende, daß wir alle nach und nach von der innern Regsamkeit verlieren, und daß selbst das wackerste, mit Lust und Liebe unternommne Geschäft den Mehrsten unter den Händen zum abschmeckenden Einerlei wird. Das müde Auge heftet sich dann auf irgend einen befreundeten Gegenstand, und starrt ihn so lange gedankenlos an, bis es gar nichts mehr sieht und alle Dinge in einem trüben Dämmerlichte vor ihm hinziehn.

Der Professor ward von einem kleinen Froste überfallen, den ein unterbrochner Schlaf allemal zurückläßt; er schüttelte sich gähnend und sagte dann, um die an ihn gerichtete Rede einigermaßen zu beantworten: was sich nicht unaufhörlich aus sich selbst erzeugt, das gehört einer fremden Gewalt [77] an, die mit tausend Händen nach uns greift und uns ohne Leben und Bewegung in ihren Banden gefesselt hält. Viele schmachten, sich selbst unbewußt, in diesem Zustande, indeß Andre den innren Funken im eignen Dunstkreis ersticken und sich überreden, Eines sei wie das Andre und das Nächste das Beste. Eines ist wie das Andre, sagte Werner kalt; der Rangstreit, dächte ich, wäre lange abgemacht. Freilich, erwiederte der Professor, durch diesen Widerspruch schnell aufgeregt, freilich alles ist schön und herrlich, wie es der wache Sinn erkannt und geprüft in sich trägt, aber das innre Licht soll in tausend Blitzen durch den festen Kern glühen und ihn überstralen, daß man es inne werde, welch ein Geist hier waltet. In der Liebe, sagte Reinhold, Emiliens Hand, die er noch immer in der seinigen hielt, sanft drückend, wird das jedem anschaulich. Alles ist ihr Zeichen, Hindeutung überschwenglicher Fülle; unter ihrer Berührung erweitert sich das beschränkteste Dasein und ruft Kräfte hervor, die sonst wohl ewig schliefen. Bei den Mehrsten, fiel der Engländer ein, währt dieser Zustand des innern Wachens nur nicht lange. Sie sinken sogleich in den vorigen Traum von Leben und Thätigkeit zurück und blicken höchst vornehm auf die wenigen lichten Punkte ihrer dunklen Wirksamkeit. Wer es nicht scheut, fuhr er fort, in sich [78] selbst zurückzugehn, wird über die kunstreichen Wiegenlieder erstaunen, mit denen man sich selbst in träge Ruhe singt. Das ist es aber eben, erwiederte der Professor, was fast ein jeder scheut. Das Denken ist dem ungeübten Denker wirklich eine Last. Wie sich die dunkle Fluth von Ahndungen, Begriffen, Empfindungen und Ideen regt, reißt sie das blöde Auge mit sich fort, bis es sich angstvoll verschließt und nur den gewohnten Kreisen eröffnet. Ohne gewaltsamen äußren Stoß wiederholt selten jemand ähnliche Versuche, bis die innre Beweglichkeit immer mehr stockt und der Geist zuletzt nur noch bang an die enge Klause anpocht und sich durch ein gespenstisches Rauschen verkündet. Das gilt doch nur von einzelnen Augenblicken, sagte Reinhold, in andren regt sich in eines jeden Brust irgend ein Laut, der sein innerstes Wesen kund giebt. Bei dem Tode eines geliebten Freundes, oder beim Erwachen der Natur durchzieht ihn ein wehmüthiger Ruf, den er versteht, wie man Gott fühlt und empfindet, ohne eigentliche Worte für dies Gefühl zu haben.

Werner, dem jene Rührung in Luisens Seele nicht entgangen war, hatte sich indeß zu ihr gestellt und fragte sie um ihre Meinung über den eben behandelten Gegenstand. Sie dachte an ihre Mutter und die Bibel, und sagte mit bewegter [79] Stimme, daß, wenn den Frauen auch das eigentlich künstliche Denken fremd sei, sie dennoch in Religion und Liebe eine stete innre Anregung fänden, der sie sich nur überlassen dürften, um vor der gefürchteten Dumpfheit sicher zu sein! – Indem trat der Baron mit einem jungen Mann in das Zimmer, den er der Gesellschaft als Künstler und Freund des Hauses vorstellte, welcher, nach geendigten Reisen, in seine Heimath zurückkehre. Es war der Sohn des Pfarrers aus dem Dorfe, von dem Baron früh hervorgezogen, und, bei der Entdeckung eines aufblühenden Talents, auf alle Weise begünstigt. Emilie begrüßte ihn herzlich und machte ihn sogleich mit allen Anwesenden bekannt. Der junge Mann hörte nicht sobald, daß sich der Graf Falkenstein hier befinde, als er aus seiner Brieftasche ein Schreiben hervorzog, welches er Julius sogleich einhändigte. Von Fernando! rief dieser, angenehm bei dem Anblick der Schriftzüge überrascht. Wo verließen sie ihn? In Wien, erwiederte der Maler, wohin wir von Venedig mit einander reisten. Dort, setzte er lächelnd hinzu, wird er nun wohl so lange bleiben, als ihn seine Grillen fesseln.

Julius hatte indeß das Siegel erbrochen und stellte sich hinter Luisens Stuhl, so daß Beide folgende Worte lasen.

[80] »Du weißst, lieber Julius, ich liebe die Coltsequenz im Leben. Du hast geheirathet, und das ist weise; ich durchziehe die Welt, und das ist ebenfalls weise. Jetzt bin ich hier, die deutsche Häuslichkeit zu bewundern, von der ihr selbst viel Aufhebens und einige schlechte Schauspiele gemacht habt. Daß ich nächstens nach Deinem Hexensteine komme, begreifst Du wohl; der Himmel bewahre mich dort nur vor Bezaubrung.«

Luise entfärbte sich etwas, und sagte, ohne das Ende des Briefes abzuwarten, sie wünsche, daß er in Wien bleibe, da sie auf seine Bekanntschaft weiter nicht begierig sei. Julius fragte indeß den Maler, indem er den Brief zusammenfaltete, was Fernando abgehalten habe, ihn sogleich zu begleiten. Eine Begebenheit seiner Art, erwiederte dieser. Die Blicke der Gesellschaft richteten sich bei dem Worte, das immer etwas Ungewöhnliches erwarten läßt, auf den jungen Mann, und schienen eine nähere Erklärung zu verlangen. Er fuhr auch sogleich fort: Es war wenig Tage vor meiner Abreise, als wir bei dem Herausgehn aus dem Schauspiel einen Knaben begegneten, welcher auf seiner schnarrenden Leier unaufhörlich dasselbe Lied spielte und die Vorübergehenden so um Almosen ansprach. [81] Fernando warf ihm ein Stück Geld hin und bat ihn, zu schweigen; allein der Knabe folgte uns durch eine lange Straße, immer dasselbe leiernd. Fernandos Ohr ward aufs äußerste verletzt; er wandte sich ungeduldig, um den Knaben zu fassen, der angstvoll vor ihm hinrannte – indem öffnete sich die Thür eines ansehnlichen Hauses, an welchem beide streiften; der Knabe drängte sich hinein und riß Fernando in seinem Grimme nach. Gleich darauf fiel die Thüre wieder zu, die Leier ertönte einen Augenblick, dann ward alles still, der Knabe trat allein heraus und ging frisch und fröhlich an mir vorüber. Ich war noch voll Verwundrung über den seltsamen Zufall, als ich einen Mann in einem dunklen Mantel auf das Haus zueilen sah. Ich zog mich sogleich hinter einen hervorspringenden Pfeiler zurück, und bemerkte daß der Unbekannte an dem Schlosse drehte, dann unmuthig mit dem Fuße stampfte und sich auf der andern Seite der Thür hinter einem ähnlichen Pfeiler verbarg. Wir mochten beide ohngefähr eine halbe Stunde auf diese Weise gestanden haben, als mir, bei einer unvorsichtigen Bewegung, der Stock aus der Hand fiel und mit ziemlichem Geräusch auf den Steinen hinrollte. Mein ungekannter Feind bog sich, auf den nahen Lärm, sogleich hervor, [82] und da er mich in einer peinlich-lauernden Stellung wahrnahm, sprang er ungestüm auf mich zu und fragte keck nach der Ursach meines Dortseins. Ich war nicht in der Stimmung, ihm auf eine geschickte Weise auszuweichen, noch weniger Rechenschaft von meinem Thun und Lassen abzulegen, daher antwortete ich eben so heftig, ohne eigentlich zu antworten. Das Gespräch erhitzte sich immer mehr und riß uns vom Gegenstand desselben zu persönlichen Beleidigungen fort. Während der Zeit war Fernando unbemerkt aus der Thüre geschlüpft. Von dem, was ihm eben begegnet war, konnte er sehr leicht auf die Veranlassung unsers Wortwechsels schließen. Er trat daher zu uns, und nachdem er sich für meinen Reisegefährten und uns beide für Fremdlinge in dieser Stadt erklärt hatte, bewies er dem armen Betrognen, daß wir uns bei verschiednen, von einander abweichenden, Geschäften in dieser Gegend dies ausgezeichnete Haus, zum Wahrzeichen gemeinschaftlichen Zusammentreffens, ausersehen hätten. – Eine Fluth von Worten und feinen Wendungen drückte jeden Zweifel in unserm Gegner nieder, der sich am Ende beschämt und reuig zurückzog. Kaum waren wir allein, so riß mich Fernando, unter tollem Lachen, nach einem nahgelegnen Kaffeehause. Hier machte [83] er endlich seinem Herzen Luft, und, während er seine eigne kleine Geschichte als eine fremde Begebenheit erzählte, zog er die Aufmerksamkeit mehrerer Anwesenden auf sich. Der Zusammenhang war übrigens nicht schwer zu errathen. Die Leier hatte das Ende des Schauspiels und den Augenblick einer verabredeten Zusammenkunft anzeigen sollen. Fernandos Ungeduld verwirrte alles, indem er den Knaben mit Gewalt zu seinem Ziele drängte. Bei Annäherung der Töne sprang die Thüre auf, Fernando fuhr hinein, eine weiche kleine Hand drückte sich schmeichelnd auf seine Lippen und zwang ihn, zu schweigen. Er stand einen Augenblick unschlüssig; allein als dieselbe kleine Hand ihn ungeduldig fortzog, folgte er in der Dunkelheit durch mehrere Zimmer, bis ihn seine Führerin am Eingang eines schwach erleuchteten Vorsaals verließ. Alles war hier still, nichts regte sich, er blickte neugierig umher und sah endlich durch einen gegenüber hangenden Spiegel eine zierliche Gestalt, die sich, fast schwebend, auf den Zehen, in der Thür eines anstoßenden Cabinets hielt und ihm winkte, sich zu nähern. Er that, wie man ihm gebot. Ein lauter Schrei empfing ihn, den er indeß, wie er lächelnd hinzusetzte, bald zu unterdrücken und die arme Kleine überall zu trösten verstand. Fernando [84] gefiel sich so wohl in diesem Abentheuer, daß er auch noch das Ende desselben und das Zusammentreffen mit dem wahren Geliebten wiederholte, worüber ein kleiner, sehr weiß gepuderter Herr, der ein besondres Behagen an der Geschichte fand, fast vor Lachen sticken wollte. Er konnte sich gar nicht wieder von Fernando losreißen und nöthigte uns beim Weggehn, den Abend bei ihm zuzubringen. Wir willigten ein, und er führte uns zu unserm Erstaunen in dasselbe Haus, das nun einmal der Schauplatz der lächerlichsten Begebenheiten bleiben sollte. Wir traten endlich in das bekannte Cabinet, wo uns der Herr Rath mit vieler Artigkeit seiner halbtodt erschrockenen Gemahlin vorstellte. Fernandos geschickte Haltung beugte indeß jeder Unvorsichtigkeit vor und erhielt uns den Abend in der besten Laune. Er hat nun einmal Zutritt bei der Familie und reißt sich vielleicht nicht so schnell wieder los, da ihn alles, was von der hergebrachten Weise abweicht, fesselt.

Luise war aufgestanden und redete mit der Baronin sehr eifrig über eine vor ihr liegende Handarbeit, die nach französischem Dessein gemacht war, Werner aber hörte nicht auf, von Fernando zu reden, und warnte Emilien vor seiner Bekanntschaft. [85] Nach dem, was wir eben gehört, fiel Luise schnell ein, setzen Sie den Geist wie das Zartgefühl des Fräuleins durch solche Warnung sehr herab, da sie gewiß etwas Edleres zu würdigen versteht. Werner zuckte spöttisch mit der Oberlippe, und meinte, sie gerade lasse dem Fräulein keine Gerechtigkeit wiederfahren, da es ihren Reizen wohl gegeben sei, solchen Unbeständigen zu fesseln. Nach der Annahme des Aristophanes beim Platon, fuhr er fort, der ich nun einmal zugethan bin, waren die Korper ursprünglich sphärisch geformt und beschrieben ungestört ihre Bahnen. Nach dem Fall der ganzen Welt wurden sie mitten von einander getheilt und laufen irrend umher, bis ein jedes seine Hälfte findet. Wer sagt uns nun, daß Fräulein Emilie nicht die Hälfte ist, welche der interessante Fremde unter tausend vergeblichen Bemühungen aufzusuchen strebt? – Emilie lachte. Wer ist denn eigentlich dieser Fernando? fragte die Baronin. Ein in der That sehr liebenswürdiger Mann, erwiederte Julius, von den seltensten Anlagen, aus guter Familie und von einem Vermögen, das ihm eine unabhängige Existenz sichert. – Hm – sagte die Baronin beifällig. – Carl aber fragte schnell, ob er auch ein Dichter oder sonst so etwas sei. Mein Gott! rief Emilie, und zuckte die kleinen, beweglichen Schultern, [86] lassen Sie ihn doch sein was er will; es ist ja noch die Frage, ob wir ihn jemals sehen, er gefällt sich so gut in Wien. Alle lachten über ihre naive Ungeduld. Luise blieb indeß unruhig und verbarg es sich auch weiter nicht, daß sie eine Scheu vor Fernandos Ankunft habe, die sie hinderte, an der Heiterkeit der Gesellschaft Theil zu nehmen, weshalb sie des andern Tages auch gern ihre Rückreise antrat und sich von den neuen Bekannten, in der Erwartung, sie nächstens auf dem Falkenstein zu sehen, ohne sonderlichen Kummer trennte.

Sie fuhren durch ein trübes, feuchtes Wetter hin. Der graue Nebel lag schwer auf Luisens Seele. Sie sprach wenig; auch Julius war einsilbig. So trat sie, beklommen, mit einer ängstigenden Leere im Innren, in ihre Zimmer. Julius ging seinen Geschäften nach; sie blieb allein, ohne ein lebendiges Wesen, außer die bewegliche Flamme im Kamine, um sich zu haben. Gedankenvoll trat sie an das Feuer, und warf einzelne Blumen, die sie aus einer nahstehenden Vase zog, hinein. Da hörte sie einen Postillon blasen; ein Wagen rollte in den Hof, hielt vor der Thür. Sie fühlte im Augenblick, wer es sei, und blieb unbeweglich, den Kopf zwischen beiden Händen auf [87] dem Kamin gestützt, in dunklen Ahndungen verloren. Julius trat mit einem jungen, schönen Mann herein, welcher sie auf den ersten Blick Fernando erkennen ließ.

[88]
Drittes Buch

[89] [91]In einem Gemisch von Bangigkeit und Ueberraschung begrüßte Luise ihren Gast, mehr kalt als würdig; er hingegen maß sie mit einem seltsam lächelnden Blick, der sich gleich darauf unter den schönsten Wimpern senkte, und dem beweglichen Mienenspiel einen Anflug von bescheidner Zurückhaltung gab. Julius Augen ruheten forschend auf Luisen. Er fürchtete jedes störende Gefühl in ihrer Seele und eben deshalb ihr Mißfallen über Fernandos Ankunft. Allein sie verbarg alles was in ihr vorging unter einer scheinbaren Gleichgültigkeit, und beschäftigte sich angelegentlich bei dem Theetisch, den man vor den Kamin gestellt hatte. Fernando setzte sich ihr gegenüber; die Unterhaltung blieb einsilbig. Julius fühlte wohl, daß sein gewandter Freund leise auftrat, um erst den herrschenden Geist seiner Umgebungen aufzufassen; er suchte ihn daher durch die Frage: was ihn so schnell zu einer Reise nach Deutschland bewogen habe? mehr auf sich selbst zurück, und zugleich [91] einen Gegenstand herbeizuführen, über welchen beide öfter schon mit vieler Laune gestritten hatten. Sonst, fuhr er fort, lag Dir solch ein Gedanke sehr fern; Berlin und Novazembla stellten sich Dir ziemlich unter einem Bilde dar. Du hast unmöglich, erwiederte Fernando ernsthaft und mit weicher Stimme, Du kannst keinen Begriff von einem Gemüth haben, was ewig zu suchen und nie zu finden verdammt ist. Luise sah ihn zum erstenmal genauer an. Er hatte sich etwas vorgebeugt, so daß die Flamme aus dem Kamin einen hellen Schein auf sein Gesicht warf und den Glanz seiner Augen erhöhte. Mich, fuhr er fort, schleudert das Schicksal vielleicht noch durch ganz Europa, indeß Dich das schönste Glück gefesselt hält. Ein Loos wie das Deinige könnte mich auf ewig mit mir selbst entzweien, da ohnehin die Täuschungen der Jugend immer schneller und gedrängter an mir vorübergehn! Seit Wien –? fragte Julius lächelnd. O mein Gott! rief jener, aufspringend, solche Erinnerungen können wohl niemand bis hieher begleiten, am wenigsten finden sie in diesem Zimmer Raum. Luise blickte unwillkührlich auf. Dasselbe zweideutige Lächeln schwebte um seinen halbgeöffneten Mund und wandte sie schnell wieder von ihm ab. Ueberall, fuhr er fort, sie scharf ins Auge fassend, möchte ich die Vergangenheit unberührt [92] lassen, sie paßt nicht zur Gegenwart, und ich will in dieser gern ganz und ungetheilt leben.

Luisens Verlegenheit ward jetzt noch vermehrt, da man Julius abrief und sie nun allein mit dem gefürchteten Fremden blieb. Es fiel ihr schwer aufs Herz, daß solche Augenblicke oft wiederkehren und sie der peinlichsten Unruhe aussetzen würden. Sie beschloß daher bei sich, noch diesen Abend die Baronin dringend zu einem Gegenbesuch einzuladen, und die dortige bunte Welt um sich zu versammeln. Fernando weidete sich schweigend an der Verwirrung, die über ihr ganzes Wesen ausgegossen war. Er sah wohl, daß sie auf eine gleichgültige Anrede sann, die das Gespräch anknüpfen sollte; er wußte eben so wohl, daß es ihm ein kleines Wort kostete, um dieses in den Gang zu bringen; allein er sah ruhig zu, wie sie die Tassen hin und her rückte, übermäßig Zucker hineinschüttete, für weit mehr Menschen Thee eingoß, als ihr kleiner Cirkel in sich faßte und endlich höchst trocken fragte: ob er den deutschen Maler schon lange kenne, da er ihn sich zum Reisegefährten gewählt habe? Ich kenne, erwiederte Fernando, die Menschen entweder gar nicht, oder sehr lange. Sie gehn unbemerkt neben mir hin, oder ein unwiderstehlicher Zug reißt mich ihnen nach; dann schließt sich meine ganze Seele auf, und strömt wie [93] eine Feuerfluth in die ihrige über, so daß ich sie plötzlich durchdringe und kenne. – Er hatte sich Luisen genähert und faßte ihre Hand, die spielend das siedende Wasser in den Theetopf tröpfeln ließ. Ich bitte Sie, fuhr er fort, schöne Gräfin, vergessen Sie es nicht, daß ich ein Fremdling in ihrem Norden bin, messen Sie mich nicht mit dem gewohnten Maßstab Ihrer einmal angenommenen Weise. Die deutschen Frauen, sagt man, sind sehr ernst und an einen ruhigen, besonnenen Umgang gewöhnt; übersehen Sie daher die Funken, die bei der leisesten Berührung aus diesem glühenden Innern sprühen, und denken Sie darum nicht nachtheiliger von mir als – Julius trat herein. Ich habe, fuhr er fort, diesem die andre Hand reichend, nur kurze Zeit in einem Familienkreis verlebt und wenige Erinnrungen aus meiner Kindheit von so friedlichen Augenblicken gerettet; allein sie wollen hier wieder erwachen, und ich bitte zwei gute Menschen, mich auf eine Zeitlang in ihre Mitte aufzunehmen. Julius umarmte ihn gerührt; Luise sagte mit unsichrer Stimme; sie wünsche, daß er sich in den einförmigen Umgebungen gefallen könne, und eilte dann in ihr Cabinet, folgende Zeilen an Emilien zu schreiben.

»Sie ahnden schwerlich, daß ich Ihnen aufs neue den Nahmen jenes berüchtigten Fremden nennen, [94] und Sie von dessen plötzlicher Erscheinung benach richtigen will. Er ist wirklich hier, und was noch mehr ist, gesonnen, lange hier zu bleiben. Sein Anblick hat den Eindruck nicht verwischen können, den sein früher aufgefaßtes Bild in mir zurück ließ. Ich weiß es nicht, warum mir alles, auch das Einfachste in ihm, zweideutig und falsch erscheint; allein in dieser Stimmung muß ich befangen und wir alle drei müssen in einem gespannten Verhältniß bleiben. Vielleicht wirkt er auf Andre günstiger, vielleicht sehe ich auch hier in mei ner Einsamkeit zu ängstlich auf ihn und lasse mich von Kleinigkeiten stören, die sonst wohl unbemerkt hingingen. Ich wage es daher, liebe Emilie, Ihre Mutter an die Erfüllung ihres Versprechens zu erinnern, und erwarte Sie mit allen Ihren Gästen in diesen Tagen auf dem Falkenstein. Sagen Sie ihr, daß ich, an die Leitung der besten Mutter gewöhnt, ihrer feinen Gewandtheit und Weltkenntniß bedürfe, um eine schickliche Haltung zu gewinnen, und daß ich sie dringend bitte, mir den Beistand nicht zu versagen, den sie mir so mütterlich zugesichert habe.

Leben Sie wohl, beste Emilie. Empfehlen Sie mich Ihrer gelehrten Welt und dem guten Carl, wenn er noch bei Ihnen ist. Vergessen Sie auch nicht, den Maler mitzubringen, der Fernando vielleicht am besten unter uns allen kennt.«

[95] Als Luise siegelte, hörte sie im Hofe ein italienisches Lied singen; gleichwohl war Julius mit seinem Freunde im Nebenzimmer. Francesca – dachte sie, und sprang zum Fenster. Ein finstres, ältliches Gesicht sah ihr zwischen zwei Mantelsäcken entgegen, die Fernandos Bedienter auf beiden Schultern geladen, dem Hause singend entgegen trug. Sie holte tief Athem. – Warum auch nicht? fragte sie beschämt. Warum? – wiederholte sie heftig – welche Unschicklichkeit! wenn er hier – – Sie mochte den Gedanken nicht festhalten, und eilte zu ihrem kleinen Geschäft zurück. Julius unterbrach sie auf's neue, indem er sie freundlich erinnerte, Fernando nicht so geflissentlich zu meiden, was ihn nothwendig verletzen müsse. Sie machte ihn darauf mit ihrem Vorhaben bekannt, mehrere Menschen um ihren Gast zu versammeln, der ohnehin wohl die deutsche Häuslichkeit sehr todt finden werde. Julius war es gern zufrieden, worauf sie beide in den Saal zurückgingen.

Fernandos lebendiger Sinn durchbrach sehr bald die Schranken überlegter Zurückhaltung, die er sich für den Augenblick selbst gezogen hatte. Er konnte den gewohnten Gang der Unterhaltung, den ruhigen Strom der Worte, die in gegenseitiger Mittheilung still hinfließen, und in ihrem Lauf Gedanken und Gefühle allmählig entwickeln; er [96] konnte das nicht ertragen, ohne wie ein ungeduldiges Kind einen Stein hinein zu werfen, daß die Wellen kreisend über einander schlugen und sich alles verwirrte. Ueberdem wußte er, daß solch plötzliches Unterbrechen, solch gewagter Wurf oft die klarsten Gemüther befängt, und man bei kühnem Vordringen leicht den Platz einnimmt, den man behaupten will. Er ließ sich daher von seiner Phantasie ungestört forttragen, und bemerkte nicht ohne innre Lust Luisens Kampf, mit dem sie gegen das Feuer seiner Unterhaltung anstritt, um sich vor sich selbst in ihrer angenommenen Kälte zu behaupten.

Als sie am folgenden Abend bei dem Wasserfall nicht weit vom Schlosse saßen und sich alle Drei unwillkührlich in das stille Rauschen verloren, ohne die innren Gefühle laut werden zu lassen, sagte Julius endlich: Du hast uns immer noch so wenig von Deinem eignen Leben erzählt, lieber Fernando, und dennoch ist es sicher reich an merkwürdigen Begebenheiten. Mein Leben? erwiederte dieser, wie aus sich selbst erwachend, das besteht aus Fragmenten, aus nichts als Fragmenten! es hat sich mir so unter den Händen zerstückelt; ich finde seit Kurzem selbst keinen Zusammenhang darin. Er sah auf Luisen, zu deren Füßen er auf einem Stein saß, so daß ihr Kleid bei einer kleinen Bewegung seine Locken streifte. Dies luftige Berühren ging wie [97] ein elektrischer Funke durch sein Innres; er bog sich noch mehr zurück und drückte einen leisen Kuß auf den weichen Mußelin. Fragmente? wiederholte Julius – Nun wenn sie rechter Art sind, so enthalten sie dennoch ein Ganzes. Gieb uns nur immer einige derselben zum Besten. Seltsam! rief Fernando aus, daß jetzt, grade jetzt einer der furchtbarsten Momente vor mich hintritt. Er war aufgesprungen, und heftete seine Blicke, wie unwillkührlich angezogen, auf einen Fleck. Luisens Herz klopfte, sie erwartete ängstlich, daß er das Schweigen breche. Du weißst, hub er endlich an, sich zu Julius wendend, daß ich nach dem Tode meiner Eltern, die ich niemals sahe, in Neapel bei einer Verwandten erzogen und späterhin, in Begleitung eines deutschen Gelehrten, auf Reisen geschickt ward. Du hast es so wenig als ich verstanden, warum mich mein Mentor nicht nach seinem Vaterlande, sondern nach Paris führte, womit ich übrigens ganz zufrieden war und mir dabei so wohl gefiel, daß ich meiner Tante sehr mißfiel und nur eilen mußte, sie durch eine baldige Rückkehr zu versöhnen. Die liebe, gütige Frau herrschte mit einer so unwiderstehlich sanften Gewalt über mich, daß ich den Gedanken ihres Unwillens nie ertragen konnte, und es jedesmal herzlich bereute, sie gekränkt zu haben. Meine Bereitwilligkeit, zu ihr zurückzukehren, entzückte [98] sie; jede Spur des Unwillens war bei meiner Ankunft verwischt. Sie betrachtete mich mit rührendem Wohlwollen und führte mich durch tausend theilnehmende Fragen so leicht und gefällig in den Kreis meiner verlassenen Freuden zurück, daß ich sie noch einmal an ihrer Seite heraufführte und mit froherm Sinn genoß. So schwatzten wir die ersten Abende bis tief in die Nacht hinein. An einem derselben, als sie gefällig auf jedes kleine Abentheuer hörte, ward noch ganz spät ein Fremder bei ihr gemeldet, der ihr zugleich ein Blatt überschickte, auf welchem ich griechische Schriftzüge wahrnahm. Sie überflog es schnell, schlug beide Hände in höchster Bewegung zusammen, indem sie wiederholt ausrief: er lebt! – er lebt, Fernando, um Gottes Willen! Ein ältlicher Mann, von hoher, etwas gebeugter, Gestalt trat hier in das Zimmer. Er trug ein langes, graues Oberkleid, das mit einem weißlichen Gürtel zusammengehalten war; sein gebleichtes Haar hing noch voll und lockig über große tiefliegende Augen, die sich unverwandt auf mich hefteten. Es war etwas Fremdes, Auffallendes, in dieser Erscheinung, was mich unwillkührlich anzog. Die Markise schrie laut auf und riß mich zu dem Fremden, der uns Beide fest umschlang, ohne ein Wort zu sagen, als fürchte er, aus einem glücklichen Traum zu erwachen. Ich [99] wußte nicht wie mir war, mein Herz klopfte ungestüm; alles Geheimnißvolle war mir von je her ängstlich. Ich hätte gern das dumpfe Schweigen durch eine dreiste Frage unterbrochen; allein ein Blick auf den Fremden hielt mich gefangen. Meine Tante flüsterte zuerst einige Worte, wir traten auseinander; die Beiden sprachen leise und heftig in einem Fenster, ich ging wie auf glühenden Kohlen auf und nieder. Todt? – rief der Fremde plötzlich. – Großer Gott, ich wußte es, und dennoch –! Der klagende Ton ging mir durch die Seele. Ich näherte mich ihm; er streckte mir beide Arme entgegen und weinte heftig an meiner Brust. Morgen, lieber Fernando, sagte meine Tante, mich sanft wegdrängend, morgen sollst Du – Heute laß uns – Ich ging zur Thür; ein leises Wimmern riß mich noch einmal zurück. Der Fremde lag, das Gesicht mit beiden Händen verdeckt, zusammengesunken in einem Stuhl und klagte in zerreißenden Tönen. Die Markise winkte mir; ich ging still nach meinem Zimmer, ohne etwas Deutliches zu denken, ohne mich selbst einem bestimmten Gefühl zu überlassen. Die Luft ward mir hier zu enge; ich öffnete das Fenster und starrte in die dunkle Nacht hinein. Morgen, dachte ich – Morgen! warum nicht jetzt, nicht diesen Augenblick? Was soll die geheimnißvolle Weise, was will der [100] bekümmerte Alte? Ich hatte große Lust, die ganze Begebenheit zu verspotten und in einigen lustigen Ausfällen die wehmüthige Unruhe von mir zu werfen, die mir fremd und drückend war; allein es ging nicht, meine Brust zog sich ängstlich zusammen, ich fand nirgend Ruhe. Nach einer Weile hörte ich eine Thür öffnen, die aus dem Cabinet meiner Tante in den Garten ging. Ich lehnte mich weit aus dem Fenster, konnte indeß in der Dunkelheit keinen Gegenstand unterscheiden. Ein leises Rauschen, wie ferne menschliche Tritte, ging über den Rasen hin; dann ward alles wieder still. Ich warf mich halb ärgerlich, halb erschöpft, aufs Bett, ohne gleichwohl schlafen zu können. Nach einigen Stunden wiederholte sich dasselbe Geräusch. Thüren knarrten, Fußtritte gingen durch das Haus, alles leise, kaum hörbar. Zu Anfang strengte ich meine Aufmerksamkeit an, etwas Wahres zu unterscheiden; allein es war, als senke sich der Schlaf bleiern auf meine Augen; ich widerstand nicht lange und schlief fest, als mich am Morgen ein furchtbares Angstgeschrei erweckte. Mein erster Blick traf das versammelte Hausgesinde der Markise, das voll Entsetzen zu mir hereinstürzte. Ich sprang wie betäubt unter sie; verworrene, dunkle Worte, Thränen, lautes Jammern umfing mich von allen Seiten und riß mich zu dem Cabinet meiner Tante. [101] Nein, niemals, niemals wird mich das Entsetzen jenes Augenblickes verlassen! – Er faßte Luisens beide Hände und bedeckte sein Gesicht, auf welchem alle Schrecken jener Erinnrung lagen. Ich fand sie todt – sagte er nach einem augenblicklichen Schweigen, mit stockender, verhaltener Stimme, todt – ermordet, die schönen Hände gebunden, alle Zeichen eines gewaltsamen Ueberfalls und der schändlichsten Beraubung ihrer Kostbarkeiten um sie her. Der Fremde, der Fremde, tönte es wie aus einem Munde von den Umstehenden. Ich weiß nicht, warum mich dieser Verdacht mehr als die That empörte. In der höchsten Wuth stritt ich dagegen, sank indeß bald darauf erschöpft und bewußtlos zu den Füßen meiner geliebten Freundin, von der man mich, ohne ein Zeichen des Lebens, den Gefahren einer langen Krankheit entgegenführte. Als ich endlich genas und die Erinnrungen des Vergangnen langsam wieder hervortraten, sagten mir meine Freunde, jene grauenvolle That wiederhole sich auf ähnliche Weise, fast jede Nacht, in den angesehensten Häusern Neapels. Eine ängstigende Scheu liege auf den bleichen Gesichtern der Einwohner, die still auf den Straßen hinschlichen, ohne Lust und Muth, einander anzureden. Niemand traue dem geliebtesten Freunde, die Häuser blieben verschlossen, und gleichwohl glaube man an [102] eine unsichtbare Gewalt, die dem angstvoll Schlafenden überfalle und das frischeste Leben schnell beende. Nöthigen Vorkehrungen gemäß, habe man auf bloßen Verdacht hin, eine Menge Personen in Verhaft gezogen, ohne gleichwohl irgend eine zuverlässige Spur aufzufinden. Ich dachte sogleich an den Unbekannten, und mit einer Angst, die unbeschreiblich ist, forschte ich, ob er sich unter den Beschuldigten befände. Allein niemand wußte etwas von ihm. Die Leute im Hause meinten, er sei gar nicht sichtbar in der Stadt geworden, kein Mensch wolle ihn gesehn haben. Ich ward wieder ruhiger, und ließ in einer Art von Dumpfheit, die wohl noch Folge meiner Krankheit war, alles um mich her geschehen, ohne sonderlichen Antheil zu nehmen, als eines Tages die Haushälterin der Markise im höchsten Unwillen zu mir hereintrat und mit Thränen sagte: das Maaß der Leiden dieser armen Stadt sei gefüllt, da auch die geprüfteste Unschuld nicht mehr vor erniedrigendem Verdacht sicher sei. Sogar der arme Schuster, fuhr sie fort, hier im Nebenhause, dessen stilles, heiliges Leben wohl manchem ein Vorwurf sein mochte, ist diesen Morgen, da er sich zufällig mit mehrern seines Gewerbes in der Herberge befand, aufgegriffen und eingezogen worden. Ich kannte den Mann sehr wohl; er gehörte zu den Frommen Neapels, [103] und war sowohl wegen seines strengen, enthaltsamen, Wandels berühmt, als wegen der erschütternden Reden, die er öfters dem Volke auf den Straßen hielt. Er redete in wahrhafter Verzückung mit einem Feuer und in so phantastischen Bildern, daß man unwillkührlich hingerissen ward, weshalb er denn auch in den vornehmsten Häusern Zutritt fand. Ich tröstete die bekümmerte Frau, der er wohl oft das Herz mochte erweicht haben, mit der allgemeinen Achtung, die Antonio genoß, und versprach ihr, mich noch persönlich wegen seiner Freilassung zu verwenden. Der Gang des Rechts ist indeß langsam, die Anhäufung der Klagen und Fürbitten war so groß, die ganze Verhandlung so dunkel, daß es mir erst nach vierzehn Tagen gelang, Antonio zu befreien. Seine Anhänger erwarteten ihn mit stürmischer Freude an den Thüren des Gefängnisses. Er trat mit ernster Ruhe unter sie, und duldete es nicht, als man ihn im Triumph nach Hause führen wollte; indeß geschahen mehrere Tage hindurch förmliche Wallfahrten nach seiner dunklen, öden Wohnung, in der er sich eingeschlossen hielt. Man nahm allgemeinen Antheil an dieser kleinen Begebenheit, und ward eben so sehr allgemein bestürzt, als es verlauten wollte, daß der Verdacht gegen den Schuster aufs neue erwache, da während der ganzen Zeit seiner [104] Gefangenschaft kein Mord geschehen, die blutige That indeß an einem der vornehmsten Richter in der Nacht nach Antonios Freilassung verübt sei. Ich, wie Mehrere, erklärten dies für einen Zufall. Man ward dennoch aufmerksam, beobachtete ihn, forschte nach seinem Thun und Treiben, ohne jedoch etwas zu entdecken. Ein fremder Rechtsgelehrter hatte den Einfall, den Angeklagten mitten in der Nacht überfallen, aus dem Bett reißen und vor das Gericht führen zu lassen. Halb vom Schlaf befangen, aus den unruhigen Träumen eines bewegten Gemüthes in die fremde Wirklichkeit hinübergezogen, trat Antonio vor die ernste Versammlung der Richter. Sein Gleichmuth verließ ihn, er fand keinen Ausweg, und bekannte, daß er seit zwei Monaten fast jede Nacht, allein, ohne eines Menschen Wissen, in die Häuser der Reichen, deren geheime Zugänge er kenne, gedrungen, sie ermordet und beraubt habe. Eine so ungewohnte Erscheinung veranlaßte tausend Nachforschungen, was diesen Frevel in ihm veranlaßt habe. Er sagte darauf immer dasselbe: vom Guten zum Bösen, wie von der Demuth zum Uebermuth, führe oft nur ein Schritt. Die Eitelkeit habe ihn in des Teufels Arme gelockt. Als er keine Rettung sah, stieß er sich den Kopf an den Mauern seines Gefängnisses ein.

[105] Als Fernando hier endigte, die Eindrücke der Erzählung in eines Jeden Brust hin und her wogten, und niemand ein beruhigendes Bild festhalten und den innern Aufruhr stillen konnte, bemerkte Julius ihnen gegenüber den Mönch, der, mit verschränkten Armen an einem Baumstamme gelehnt, wohl schon lange dort in stiller Beschauung mochte gestanden haben. Er ging ihm, wie gewöhnlich, mit herzlicher Freude entgegen. Fernando achtete nicht viel darauf. Er war um Luisen beschäftigt, die, heftig erschüttert, ihre Thränen nicht zurückhalten konnte. Hätte ich früher, sagte er leise, einen Begriff von dieser zarten Regsamkeit gehabt, wäre es mir überall gegeben, in Ihrer Nähe lange zu überlegen, glauben Sie sicher, ich würde jene grauenvolle Erscheinung nie an Ihnen vorübergeführt haben. Werden Sie mir verzeihen? fragte er schmeichelnd. Luise lächelte freundlich unter ihren Thränen, und nickte wiederholt mit dem Kopfe, ohne ein Wort sagen zu können. Werden Sie mich eben so wenig roh und ungeschickt nennen, fuhr er fort, wenn ich die rührende Beweglichkeit ihres Sinnes nicht ganz verstehe, und Sie frage, was Sie eigentlich so ungewohnt bewegt? Ich weiß es nicht, erwiederte sie, sich fassend, ich weiß es durchaus nicht; allein mir ist, als wären mir einige der erwähnten Personen nicht fremd, als ginge es [106] mich mit an. Als ginge es Sie mit an? unterbrach sie Fernando, ihre Worte falsch deutend; Luise – Sie stand auf und wandte sich zu Julius, der mit dem Mönch auf sie zutrat. Guten Abend, lieber Vater! rief sie dem Letztren zu. Dieser blieb einen Augenblick in sich versunken, dann sagte er mit bewegter Stimme: der Herr segne und behüte Euch! und schlug einen andren Weg zum Kloster ein.

Was war das, rief Fernando! seltsam! wie sich heute alles in mir verwirrt! –

Sie traten Alle jetzt den Rückweg zum Schlosse an, und trennten sich dann alle drei in eignen Vorstellungen befangen.

Luise warf sich geängstet in ihrem Bett hin und her, ohne einen Augenblick Ruhe zu finden. Die Scheu gegen Fernando, und das Mißtrauen, das ihr früher sein Lächeln eingeflößt, kämpften peinlich mit Wohlwollen und Bewundrung. Umsonst suchte sie ihre gestrige Stimmung hervorzurufen, umsonst blieb sie bei jeder zweideutigen Aeußrung stehn, umsonst drängte sie sein Bild von sich weg, es rang sich tief aus der gepreßten Brust herauf, und riß sie in einen Wirbel widersprechender Gefühle fort. Die Nacht dehnte sich in ewig langen Stunden hin, in denen der unsichre Blick, durch nichts Aeußres angezogen, hin und her [107] schweifte, und, wie in Fieberträumen, immer nur das Gefürchtete sah. Am Morgen endlich raffte sie sich aus dem Taumel empor. Mit den ersten Lichtstralen ward es klarer in ihrer Seele, die bangen Vorstellungen wichen immer weiter und weiter zurück. Der junge Tag sah ihr wie ein neues Leben frisch und freudig entgegen. Lieber Gott, sagte sie bewegt, gieb mir einen stillen Sinn, deinen Frieden rein in meiner Brust zu bewahren. So sahe sie, wohl noch etwas schwankend, aber doch mit offner empfänglicher Seele ins Freie, als man ihr folgenden Brief der Baronin überbrachte.

»Erlauben Sie, meine junge Freundin, daß ich Ihre gütige Zeilen in Emiliens Nahmen beantworte. Vieles darin ist ohnehin an mich gerichtet, und ich will sogleich von dem Vorrechte Gebrauch machen, welches Sie mir, mit der liebenswürdigsten Hingebung, einräumen. Man beschuldigt jeden, dessen Wirksamkeit beschränkt ist, und vorzüglich Frauen in meinen Jahren, daß sie gern Rollen in fremden Angelegenheiten übernehmen, und sich sehr wichtig auf dem Platze erscheinen, den ihnen Alter und Erfahrung ganz natürlich anweisen. Die Eitelkeit schleicht sich wohl oft unbemerkt in unsre Herzen, und wirft einen vornehmen Schein über nichtswürdige Motive; dennoch kann ich hier wohl mit Wahrheit versichern, [108] daß mich die allerherzlichste Theilnahme an Ihnen zu der freien Mittheilung meiner Gesinnungen zwingt, zur der Sie mich gewissermaßen auffordern.

Ich kann es Ihnen nicht verhehlen, Ihr Brief hat mich erschreckt. Es ist ein gewisses unsichres Herumfassen nach fremder Hülfe darin sichtbar, eine Angst vor sich selbst, die sich unter unnatürlichem Haß gegen einen Unbekannten verbirgt. Was reizt Sie zu dieser Heftigkeit, die Sie in sich selbst irre macht? Glauben Sie mir, es ist den Frauen selten etwas gefährlicher, als einem ausschließenden Gefühl für irgend einen Mann, der nicht der ihrige ist, Raum zu geben, am wenigsten aber dürfen Sie es sich und Andren so klar und mit dieser Leidenschaftlichkeit aussprechen. Haß und Liebe berühren sich schon darin, daß uns der Gegenstand beider Empfindung niemals gleichgültig ist, und gleichgültig sollte Ihnen der fremde Jüngling billig sein. Was haben Sie mit seinen Fehlern und Tugenden zu schaffen? Lassen Sie ihn ruhig neben sich hingehen, Ihre Wege sind ohnehin von einander geschieden. Und von mir, liebes Kind, von meinem Rath erwarten Sie die schickliche Haltung in Ihrer mißlichen Lage? Fühlen Sie wirklich diese schon in irgend einem Augenblick verloren zu haben? Welch Gefühl, ich bitte Sie, ist so mächtig in Ihre Brust, daß es [109] die große Ehrfurcht vor dem äußren Anstand, vor Ihrer ganzen Lage und Ihren Verhältnissen, nur in mindesten schwächen könnte? Bewahren Sie doch um Alles das ruhige Gleichgewicht Ihres Seyns und Wirkens, ohne welches Sie die strenge vorgezeichnete Bahn leicht übertreten könnten. Ich sollte vielleicht schweigen, und Sie ruhig neben dem Abgrund fortgehen lassen. Vielleicht sicherte Sie eigne angeborne Kraft, vielleicht sähen Sie selbst noch klarer die Gefahr. Ich würde es darauf ankommen lassen, wenn Ihre freundliche Einladung und das Drängen meiner Hausgenossen, sie anzunehmen, mich nicht zu reden zwänge. Sie wissen, wen ich Ihnen zuführe. Sein Sie auf Ihrer Hut. Morgen Abend umarme ich Sie, und hoffe im voraus Verzeihung für meinen treuherzig mütterlichen Rath, den meine Liebe und Theilnahme allein entschuldigen können.« –

Luise ward unangenehm durch den Inhalt dieser Zeilen ergriffen, so als wenn man unversehens eine wunde Stelle berührt und den ungeahndeten Schmerz hervorruft. Was ist denn geschehen, fragte sie sich selbst, das diese ernste, eindringliche Worte veranlaßt. Schicklichkeit – äußrer Anstand! nein, nein, das nicht! Dein heiliger Wille, mein Gott, der ist es, den ich nicht verletzen darf, und der zum Glück noch laut und vernehmlich genug [110] in meiner Seele spricht, um ihn nie zu überhören.

Guten Morgen, liebe Luise! rief hier Julius, der eben unter ihrem Fenster, an welches sie sich gedankenvoll lehnte, vorüberging. Sie fuhr unwillkührlich zusammen. Seine Stimme traf sie wie ein innrer Vorwurf. Er sah so gut, so herzensgut, aus, die Thränen traten ihr in die Augen. Guten Morgen! rief sie aus voller Seele, als er in dem Augenblick zu ihr hereintrat. Er hatte ihr heut tausend Dinge zu sagen. Sein Herz öffnete sich wie unter freundlicher Berührung; es war klar, irgend etwas Aeußres regte ihn ungewöhnt an. Luise lenkte das Gespräch auf den gestrigen Abend, und bemerkte bald, daß er auch in ihm einen Eindruck zurückgelassen, der noch jetzt fortwirkte. Es ist nicht jene Geschichte, sagte Julius, ihre Fragen beantwortend, was mich bewegt. Ich möchte ihren Inhalt vergessen können, der die Möglichkeit des plötzlichen Sündenfalls in einer bis dahin frommen und reinen Seele, so schauderhaft, in dieser blutigen Verzerrung hinstellt. Nein, es ist der Mönch, den ich nicht vergessen kann. Wie verzückt sah er auf eine Stelle, als ich zu ihm hintrat, und ohne meinen Gruß zu beachten, sagte er vor sich hinredend: unbegreifliches, unbegreifliches Schicksal! dann fragte er mit einer Heftigkeit, die ich ihm [111] niemals kannte, seit wie lange der fremde Jüngling bei mir sei? Ich gab ihm in einigen Worten Auskunft über unsre Bekanntschaft und Fernandos unstätem Herumstreifen. Er machte eine schnelle Bewegung zu diesem hin, wandte sich aber wie von deiner Stimme aufgeschreckt, von uns ab, und ging still dem Walde zu. Beide fanden das höchst sonderbar, und Luise erschöpfte sich, nach Frauenart, in tausend Muthmaßungen, als Fernando zum Frühstück hereintrat. Er war ernst und einsilbig, allein so, daß man nicht recht wußte, ob ihn Kummer oder Mißmuth verstimme.

Als er späterhin mit Luisen allein war, bemerkte er theilnehmend, daß sie bleich aussähe, und in ihren Augen Spuren vergossener Thränen. Sie lehnte seine Fragen ziemlich unbefangen ab, und erzählte ihm von den Gästen, die sie morgen erwarte, unter denen sie Emilien sehr anziehend heraushob. Er schien nicht viel darauf zu merken, als sie aber fortfuhr, die Vortrefflichkeit einiger Mitglieder der Gesellschaft zu schildern, und der Baronin einfaches, würdiges Wesen rühmte, sagte er höhnisch, sie wollten wohl den Teufel durch fromme Geister bannen. Luise entfärbte sich und fühlte mit Unmuth, daß sie, wie sie es auch anfangen möchte, ihm gegenüber immer auf irgend eine Weise in Verlegenheit gerathen müsse. Gestehn [112] Sie es nur, fuhr er fort, die Bekannten und Freunde sollen doch den lästigen Fremdling nur übertragen helfen; Luise, was habe ich Ihnen gethan, daß Sie mich hassen. Jenes Berühren von Haß und Liebe, in dem Briefe der Baronin, fiel ihr plötzlich ein. Mein Gott, sagte sie schnell, nein, ich hasse Sie nicht, gewiß nicht! Warum fürchten Sie mich denn? fragte er ernst. Mit vollen Schwingen hob sich bei diesen Worten die eingeborne Würde der Weiblichkeit in Luisens Seele. Sie sah ihn ruhig an, und sagte fester, als sie es vor einem Augenblick noch gekonnt hätte, wie sollten Sie mir furchtbar sein, ich kenne Sie weder im Guten noch Bösen. Fernando wollte einlenken, allein Luise blieb für jetzt gefaßt und sicher, weshalb er sich denn auch verletzt zurückzog, und gedankenlos am nächsten Fenster in einem Buche blätterte. Einige Anordnungen nöthigten sie, sich zu entfernen; als sie wieder hereintrat, fand sie das Zimmer leer; allein, zu ihrem großen Schreck, den Brief der Baronin, den sie bei Julius Eintritt in ein Buch gelegt hatte, offen auf demselben Fenster, an dem sie Fernando verlassen. Ich bin verloren, sagte sie, das Blatt in tausend Stücke reißend, wenn er ihn gelesen hat. O über meine Thorheit, jedem Gefühl, das flüchtig durch meine Seele hinzieht, Worte zu leihen, und dadurch so [113] unnütze, so verderbliche Erklärungen zu veranlassen! Und nun noch diese Unachtsamkeit! – Sie blieb den ganzen Tag in der peinlichsten Unruhe, die Fernandos zweideutiges Wesen noch vermehrte. Recht von Herzen fühlte sie sich daher am folgenden Abend erleichtert, als nun endlich die ersehnte Gesellschaft eintraf. Sie begrüßte jeden der Angekommenen mit sichtlicher Freude, und hatte selbst denjenigen, die ihr bis dahin gleichgültig geblieben waren, etwas Verbindliches zu sagen. Emilie sah sehr reizend in einem kleinen Strohhut aus, der zwar das schöne Haar verbarg, allein übrigens zu der zierlichen Gestalt sehr wohl stand. Es mußten sie schon häufige Neckereien über Fernando getroffen haben, denn sie konnte sich eines kleinen Lächelns nicht erwehren, als sie diesen begrüßte und ihre Blicke zufällig denen ihrer Reisegefährten begegneten.

Zu Anfang blieb man einander fremd, ohnerachtet der Cirkel nur klein war, da der Baron mit dem Professor und dessen beiden Anhängern, dem Engländer und Herrn Aaron, die Uebrigen nicht begleitet hatten. Fernando beschäftigte sich ausschließend mit dem Maler, und andrer Seits hatte man das Ansehen, auch nicht viel auf ihn zu merken. Doch nach und nach ward die Unterhaltung allgemeiner, wenigstens verschmähete es keiner, in das Gespräch des Andern einzugehn. Stein konnte [114] sich nicht genugsam über die Herrlichkeit des altväterlichen Gebäudes und dessen romantische Umgebungen auslassen. Nur blickte er mit einer Art von Unmuth auf den modernen Glanz, der ihn umgab. Das ist deutsche Sitte heutiger Zeit, sagte der Maler, das sollte Sie nicht mehr befremden. Warum, fragte Fernando, machen Sie den Deutschen allein diesen Vorwurf, da er jede Europäische Nation fast in gleichem Maaße trifft? Finden Sie in Italien nicht auch das Alte mit dem Neuen gepaart, ohne daß es unangenehm auffällt? Das ist ganz etwas andres, unterbrach ihn Stein. Dort ist Vegetation, Kultur, Kunstsinn, ja der Charakter der Kunst, durch viele Jahrhunderte gleich geblieben, keine der heutigen Erscheinungen ist in sich widersprechend mit ihren Umgebungen; aber wenn wir zu unsern alten, auf rauhem Boden erwachsnen, Eichen, zwischen den Steinmassen, die ein Riesengeist aufthürmte, die Griechheit hinüberziehn und diese noch mit französischem Schimmer bedecken wollen, so ist das wohl ein Uebelstand zu nennen. Dann werden wir nur die ehrenwerthen Denkmäler schleifen müssen, sagte Werner, denn in der Nachbarschaft wird sich bald ein Häuschen finden, das, nach modernem Maßstab erbauet, nicht zu ihm paßt. Niemand darf sich einfallen lassen, es bewohnen zu wollen, denn niemand schickt sich [115] dort hinein, nicht der Hausherr, nicht die Frau, nicht die Gäste. Was hülfe es Ihnen, wenn hier alles nach alter Weise, derb und tüchtig zugeschnitten wäre, und wir mit den französischen Kleidern und den Pigmäengestalten herumliefen, die Damen mit griechischem Kopfputz und üppigen Gewändern am Arm. Julius sagte hierauf, daß er sie alle mit Rüstungen und Waffen versehen könne, da sich noch eine vollständige Rüstkammer im Schlosse befinde, worüber Stein eine große Freude hatte, die noch erhöht ward, als er auch von einem künstlich ausgelegten Schrein hörte, welcher theils alte Handschriften, theils schon gedruckte Erzählungen und Legenden enthalte. Er versprach sich davon eine reiche Ausbeute für den folgenden Tag, welche Aeußerung Carl mit einem mitleidigen Achselzucken begleitete, und sich ordentlich mit einer Art von Geringschätzung von ihm abwandte.

Die Baronin fand bald Geschmack an Fernandos Unterhaltung, der sich sehr eifrig um sie und Emilien bemühte. Je länger sie ihn ansah und sein Lächeln und Mienenspiel beachtete, desto auffallender fand sie eine Aehnlichkeit zwischen ihm und der verstorbenen Gräfin Falkenstein, was sie auch Luisen sogleich mittheilte. Mit Viola, dachte diese – ihre Augen hefteten sich unwillkührlich auf die seinigen, und das kleine Bild aus der Kapsel schien wachsend [116] und belebt vor sie hinzutreten, so daß die beiden Gestalten sich auf eine ängstende Weise in ihrer Phantasie verschmolzen. Die Worte der Baronin sollten nun einmal auf alle Weise ihre Unruhe vermehren. Alles was sie von Julius Mutter hörte, ihre Liebe und ihre Leiden, der ganze herbe Kampf ihres Lebens, alles erwachte in ihr. Als sie allein war, warf sie sich auf ein Ruhebett, das Viola besonders liebte, und den Kopf in die Kissen verbergend, dachte sie, wie viel tausend Thränen mögen hier geflossen sein, wie oft mag das arme Herz hier umsonst Ruhe gesucht haben. Sie bemühete sich, das Bild der Gräfin festzuhalten; allein Fernando trat unaufhörlich dazwischen. O warum, warum! rief sie aufspringend, warum diese unglückliche Aehnlichkeit! bedurfte es dieser Täuschung noch? Sie wollte sich so gern überreden, daß die Baronin falsch gesehen und sie mit in den Irrthum befangen habe, daher eilte sie, nach dem elfenbeinernen Kästchen zu fragen, das sie bis dahin vergessen hatte; allein es fand sich, daß es in den Zimmern ihrer Mutter stehn geblieben war, welche niemand wieder nach deren Tode betreten hatte. Diese Erinnrungen, das Andenken an den ernsten, furchtbarsten Moment ihres Lebens, weckten andre Vorstellungen in Luisens Seele. Sie weinte still vor sich hin, weich und hingebend, ohne eigentlichen[117] Vorsatz und Willen, aber doch in reinem, heiligem Gefühl.

Am andren Morgen war Carl der Erste, welcher sich von den angekommnen Fremden sehen ließ. Mit großen Schritten ging er im Vorhofe auf und nieder, bis ihn Julius nöthigte, herauf zu kommen. Nein, sagte er im Hereintreten, lieber will ich in einer Synagoge schlafen, als neben solchem welschen Teufel; hat er nicht gestern Abend mit seinem Schurken von Bedienten geschabbert, daß mir noch die Ohren gellen, so will ich nicht selig werden. Zu Anfang ließ ich mirs gefallen; wie aber das ausländsche Geleiere nicht aufhörte, warf ich meinen Pantoffel gegen die Thür, daß alles so krachte; glauben Sie, daß sie sich stören ließen? recht wie die Mäuse, waren sie einen Augenblick still, und dann ging es wieder, hast du nicht, so siehst du nicht. Luise mußte trotz ihrer innren Verstimmung über diesen komischen Zorn lachen. Na, fuhr er fort, und wie der Bediente heraus war, kam der Maler hinein, da wisperten sie eine Weile leise, nachher ging es aber wieder lustig zu, doch sprachen sie deutsch, denn ich hörte die Baronin nennen, und den Italiener sagen, ich bin der Frau größere Verbindlichkeiten schuldig als irgend jemand ahndet; dann kam was von Aufruhr in der Seele, und Kampf und Sieg, das [118] war mir zu gelehrt, ich zog die Bettdecke über den Kopf und schlief über dem Gesumse ein.

Luisens Wangen glühten bei diesen letzten Worten, die recht wie ein unerwarteter Schlag ihr Innres trafen. Da erschien Emilie an Fernandos Arm, der ihr zufällig auf der Treppe begegnet war, und sie frisch und freudig in das Zimmer führte. Die kleine hingebende Blondine nahm sich recht wohl an der Seite des schönen Jünglings aus. Beider Anblick machte einen angenehmen Eindruck, das konnte sich auch Luise nicht verhehlen, ohnerachtet sie ein peinliches Gefühl dabei ergriff.

Nach und nach versammelte sich die übrige Gesellschaft. Stein hatte die ganze Nacht von den alten Helden und Geistern des Schlosses geträumt, und viel wunderliche Gestalten gesehn. Er erzählte, daß ihm vorzüglich ein kleiner grauer Mann auf einem weißlichen Pferde einen seltsamen Schauer eingeflößt habe. Dieser sei unaufhörlich um den Felsen umhergeritten, ohne dem Pferde Ruhe zu gönnen, welches dabei stark gehinkt, als habe es ein Eisen verloren. Werner schlug vor, ein jeder solle die Träume, Eingebungen und Begebenheiten dieser Nacht erzählen, wobei sicher recht seltsame Bilder ans Licht treten würden. Nun, sagte Carl, ich bin bald fertig damit, denn ich habe die ganze Nacht eine Wassermühle gehört, die so brummte [119] und sauste, daß mir noch der Kopf wehe thut. Alle lachten über den seltsamen Contrast mit Reinholds Erscheinungen, ohnerachtet nur Luise und Julius den eigentlichen Sinn dieser Worte verstanden.

Fernando hatte indeß nicht so bald von Emilien gehört, daß Stein Dichter und musikalisch sei, als er ihn bat, die Gesellschaft mit einem Liede zu erfreuen, worauf dieser, durch einen Blick von Emilien bestimmt, folgende Worte zur Guitarre sang, auf welcher ihn Fernando sogleich accompagnirte.


Der Sklave singt am Ruder,
Auf wogender Galeere,
Ein Spiel empörter Meere,
Vom Vaterlande fern.
Sein Leiden hört kein Bruder,
Er folgt dem strengen Herrn,
Oft rinnt die heiße Zähre!
Doch auf Gesanges Wogen,
Schwebt süße Täuschung nieder,
Schafft ihm die Heimath wieder,
Und trautes, festes Land,
Wo er, noch nie betrogen,
Die Welt so freundlich fand;
O holder Geist der Lieder!
[120]
So tanzt um mich Gesänge,
Ihr immer neu erglühten,
Und treibt empor zu Blüthen,
Die Bilder meiner Brust.
Stürm' nur du Weltgedränge!
Lock' nur du Sinnenlust!
Mich soll das Lied behüten.

Man drang darauf in Fernando, ebenfalls zu singen. Er meinte, er wisse kein passendes Lied auswendig, wenn man ihm indeß erlauben wollte, seinem Gefühle in seiner Muttersprache Worte zu leihen, so werde er wohl eine angemessene Musik dazu auffinden. Man war das gern zufrieden. Er stimmte daher einen Gesang an, den Werner nachher also übersetzte:


Lang auf fremden Seen geschwommen,
Lang durchzogen fremde Nacht,
War der Sänger heimgekommen,
Wo Italiens Sonne lacht.
Wie er von den Alpenzinnen,
Froh ins Land hinunterschaut,
Lehnt an ihn, in süßes Sinnen
Ganz verloren, seine Braut.
[121]
Aus des hohen Nordens Pforten,
Hat er mit sie hergeführt,
Und sie spricht mit leisen Worten,
Von des Südens Hauch berührt.
»Lieber, welch ein großer Garten,
Welch erquicklich Blumenspiel,
Ihn zu hüten und zu warten,
Braucht es wohl der Gärtner viel?«
»Schöne, nur der Sonne Lächeln,
Hütet unsre Blumenflor.
Gärtner ist der Lüfte Fächeln,
Lockt sie überall hervor.«
»Und die Häuserchen dahinter,
Hell mit Farb und Gold geschmückt!
Doch was birgt Euch, wenn nun Winter,
Hart auf Eure Fluren drückt?«
»Nie so grämlichen Bekannten,
Triffst du an auf dieser Flur,
Denn wir spotten des Verbannten
Lieblingskinder der Natur.«
»Wie viel schön umkränzte Bräute,
Wie Musik sich hören läßt!
Dort im lust'gen Tanz die Leute!
Sicher giebt's ein hohes Fest.«
[122]
»Kränze, Lieder, lustge Reigen,
Sind uns immer frisch und wach.
Vor der heitren Sonne Steigen,
Wird zum Fest ein jeder Tag.«
»Oft ist mir dein Lied erklungen,
Von Elysiums Lorbeerwald,
Hast uns wohl emporgeschwungen,
Zu der Sel'gen Aufenthalt?«
»Schöne, nein, wir sind auf Erden,
Ziehn in unsre Heimath ein;
Doch Elysium ganz zu werden,
Braucht sie nur der Liebe Schein.«

Die Baronin hatte indeß leise mit Luisen geredet, welche halb auf sie, halb auf die Musik hörte, dennoch zuletzt, durch die Wendung des Gesprächs, gezwungen ward zu antworten. Sie verzeihen mir also, sagte die warnende Freundin, wenn meine Besorgnisse ungegründet waren? O gewiß, von ganzem Herzen, erwiederte Luise. Und sind nun ganz in der ruhigen Stimmung, fuhr die Erstre fort, in der ich Sie wünschte? Luisen fiel eine Stricknadel aus der Hand, welche sie langsam aufhob, während sie die schönen Locken über das glühende Gesicht fallen ließ, in der ruhigsten von [123] der Welt, erwiederte sie kaum hörbar. So – sagte die Baronin etwas trocken. Gleichwohl scheint eine Art von Mißverständniß zwischen Ihnen und Ihrem Gast obzuwalten, er meidet Sie auf eine seltsame Weise. O, fiel Luise halb verletzt, halb geängstigt, ein, das ist so seine Art, er ist heftigen Gemüthes und ergreift alles Neue mit ausschließender Aufmerksamkeit. Liebes Kind, sagte die erfahrne Frau, woher kennen Sie ihn denn so genau? Sein Sie doch unbefangen im Gefühl Ihres eignen Werthes mit mir, wie mit der ganzen Welt. Glauben Sie nur, Ihre kleine Verlegenheiten entgehen ihm nicht, er treibt ein leichtfertiges Spiel damit.

Die Musik schwieg hier. Die Baronin erinnerte, daß es Zeit sei, Toilette zu machen, und führte die von Myrtenhainen und Kränzen träumende Emilie mit sich fort.

Luise empfand eine Art Scheu vor dem kalten Blick dieser Frau, der wie ein Senkblei in ihr Herz fiel. Sie schrak vor ihr zusammen, so oft sie sie jene Ueberlegenheit und die Entfernung des Platzes fühlen ließ, auf welchem sie eigentlich stehn sollte. Die Aufforderung, unbefangen zu sein, konnte sie am wenigsten erfüllen, da sie die ernste Beobachterin fürchtete, und nur noch unsichrer in ihrem Betragen ward.

[124] Die Zeit verfloß indeß fast auf ähnliche Weise. Fernando hatte nur Augen und Sinn für Emilien, wodurch er wechselsweise Luisens Stolz hob, und ihr Gefühl zerriß.

An einem Nachmittage, als eine zahlreiche Gesellschaft aus der Nachbarschaft sich noch zu der des Schlosses gesellte, und alle im Freien versammelt waren, zog ein Trupp Bergleute singend den Harz hinunter. Sie trugen vielfache musikalische Instrumente und schienen bereit, sie in Bewegung zu setzen, als Fernando vorschlug, ob man, da es schon spät und dunkel werde, nicht nach dem Schlosse zurückkehren und dort einige Stunden nach der lustigen Musik dieser Leute tanzen wolle. Alle stimmten freudig ein. Man machte sich sogleich auf den Weg. Die Bergleute gingen spielend voran, und das bunte Gemisch von Frauen und Männern zog, durch eine dunkle Tannenallee, dem lustigen Saale zu, der Luisen bei ihrem Eintritt zuerst mit ihrer neuen Wohnung versöhnt hatte. Fernando walzte sogleich mit Emilien. Die Kleine schmiegte sich mit einer anmuthigen Bewegung des Kopfes lächelnd in seine Arme, und schien sich und die ganze Welt zu vergessen. Stein sah an einem Pfeiler gelehnt, dem Spiele wehmüthig zu; er war im Begriff, Luisen seine Hand zu reichen, und im allgemeinen Taumel die Schmerzen seiner [125] Brust zu betäuben, als sich dieser einer der neuangekommnen Gäste, ein schon längst bemerkter und bewunderter Fremder, nahete, und sie auf eine feine, sittige Weise zum Tanze führte. Er war russischer Obrist, von hohem, edlem Wuchs, und jener Gewandheit, welche die höhern Stände seiner Nation auszeichnet. Eine Sendung seines Hofes nach einer nahen Residenz führte ihn in diese Gegend, zu einem Theil seiner Familie, der sich in Deutschland niedergelassen hatte, und auf die Weise kam er heute nach dem Falkenstein. Es sah schön, ja königlich aus, wie sich die beiden herrlichen Gestalten langsam, nach Norddeutscher Sitte, durch den Saal bewegten. Die dunkelgrüne, geschmackvoll verzierte, Uniform paßte wohl zu Luisens einfachem weißen Kleide und dem grünen Zweige, der sich durch ihre Locken wand. Fernando betrachtete sie mit einem tiefen, düstren Blick, der dann, wild auflodernd, ihre Brust wie zwei Flammen traf. Sie hatte kaum geendet und sich gegen ihren schönen Tänzer verneigt, als Fernando auf sie zutrat und sie, nach einigen flüchtigen Worten, umschlingend, in raschem kreisendem Wirbel mit sich fortriß. Die rauschende Musik, das dunkle, in sich zurückgezogne Feuer seiner Augen, die ganz eigne, unruhige Heftigkeit in Mienen und Bewegungen ergriff sie so sehr, daß sie [126] sich nach einigen Augenblicken halb ohnmächtig an ihn lehnen und ihn bitten mußte, aufzuhören. Er drückte sie leise an die glühende Brust und ließ sie dann schweigend aus seinen Armen. Sich kaum noch besinnend, trat sie in die offne Gartenthür, und eilte von da weiter den Felsengang hinauf, zu einem Sitz, der in dem Stein gehauen und von einer überhangenden Buche versteckt war. Nicht lange darauf hörte sie neben sich reden; die Stimmen kamen näher, und sie erkannte bald Stein und Werner, die, sich an den Baum lehnend, mit einander sprachen. Also wirklich, wirklich, sagte der Erstre, Sie glauben nicht, daß er Emilien liebt? Mein Gott, erwiederte Werner, das liegt ja so klar am Tage, wie der Zweck des ganzen Spieles! Nein, nein! fiel jener heftig ein, das nicht, das gewiß nicht! Werner lachte laut. Nun wahrhaftig, sagte er, Sie sind von einer seltnen Unschuld des Sinnes. Was liegt denn darin so Unerhörtes? Es könnte in der That interessant werden, wie der ganze Mensch, der große Anlagen hat, wenn er sich nicht selbst zur abgerichteten Puppe wie sein Unternehmen zu einer auswendig gelernten Posse machte. Auch will ich wohl wetten, daß er den bekannten Weg hier nicht zum letztenmal einschlägt! Reizend ist bei allem dem dies Ringen einer schuldlosen Seele, in der die Welt und Sinnenlust [127] plötzlich hervorbricht und sie hin und her treibt, daß sie nach allen Seiten faßt und greift und zwischen Himmel und Hölle schwebt. Hier zwar wird nun der Kampf nicht lange unentschieden sein, denn die ganze Richtung des Gemüthes spricht sich bei der schönen Frau in Gestalt und Wesen aus. Sie erscheint recht wie eine erhabene Sünderin, die im stolzen, kühnen Fluge hinaufstrebt und durch die Eigenthümlichkeit ihrer Natur alle Augenblicke einmal das edle Haupt senkt und sich von den irdischen Banden umstricken läßt. Daher ist auch ein eigner Streit von Stolz und Hingebung in ihrem äußren Erscheinen, und ich bin sehr überzeugt, daß in diesem Streit ihr ganzes Leben hinfließen wird. Sie haben eine ordentliche Freude, sagte Stein, an solcher innren Verwirrung. Nein, entgegnete Werner; allein ich muß so lange forschen und beobachten, bis ich einen jeden auf den Platz gestellt habe, wo er eigentlich stehen muß, sonst bin ich in mir selbst unsicher. Beide gingen hierauf weiter. Luise saß lange Zeit in dumpfer Betäubung da. Endlich raffte sie sich auf, und eilte, ohne den Saal zu betreten, durch einen Umweg dem Schlosse zu. Sie mußte, um zu ihren Zimmern zu gelangen, durch einen langen, schmalen Gang, an dessen Wänden mehrere Familiengemälde hingen. Der Mond schien hell [128] durch die hohen Fenster und beleuchtete vorzüglich das Bild einer Dame, die als Leiche gemalt war, und aus einem reichen Schmuck dunkler, mit Perlen durchflochtener Haare, bleich und etwas verzerrt hervorsah. Man glaubte allgemein im Schlosse, es sei das Bild der Ahnfrau, was auch eine Vergleichung der Züge mit dem im Kloster wahrscheinlich machte. Eine Bewegung der Bäume vor den Fenstern bewegte auch itzt den Schein auf dem Bilde so, als rege sich das Gesicht und öffne den ohnehin verzognen Mund. Luise verhüllte die Augen und stürzte laut schreiend in ihr Cabinet. Hier lag sie, heftig weinend, ohne klares Bewußtsein, mit einem tiefen, schneidenden Schmerz im Innern, lange Zeit auf ihren Knieen, als eine warme Hand leise die ihrige berührte. Jesus! rief sie, aufspringend. Fernando stand vor ihr. Luise, sagte er mit einem wehmüthigen Ton, verdiene ich denn wirklich nur Ihren Abscheu? – Ich weiß es nicht, stammelte sie, Gott allein weiß es; allein jetzt bitte ich Sie, verlassen Sie mich. O bei allem was Ihnen heilig ist, verlassen Sie mich! Sie stoßen mich also ganz und auf immer von sich? fragte er, ihre Hand an sein Herz drückend. Auf ein Vorurtheil hin verdammen Sie mich, zwingen Sie sich selbst, mich zu hassen! Luise versuchte, sich zu entfernen. Nein, nein! rief er, ich lasse Sie nicht, jetzt nicht, [129] ich will einmal in meinem Leben wenigstens zu Ihnen reden; rechnen Sie es dem glühenden, heftigen Jüngling nicht zu gering an, daß er die ganze Zeit über schwieg, daß er ein Feuer in sich zurückdrängte, was Sie erschrecken würde, wenn es einmal ungehindert aufflammte. Beide schwiegen einen Augenblick. Was that ich Ihnen, sagte er darauf, um dies abstoßende, geringschätzige Betragen zu verdienen? Mußten Sie mich niedertreten, um sich zu heben? Fand Ihr Stolz Nahrung in den lauten Aeußerungen eines ungerechten Hasses? Jener Brief – O Gott! o Gott! rief Luise ganz erschöpft; ihr Kopf senkte sich und heiße Thränen flossen auf die schönen Hände, die sich kreuzend auf der Brust falteten. Wer hat Sie, rief Fernando, so in sich selbst aufgeschreckt, daß Sie aufhörten, der einfachen Richtung Ihres Gefühls nachzugehn? Warum strafen Sie mich, so oft eine mildere Regung aus Ihren Augen spricht; warum reizen Sie sich zu einem unnatürlichen Kampf, der Sie und mich zerstört? Luise, ich habe seit dem Tode jener Frau, die meine Jugend bildete, niemand auf Erden, der mit einem reinen heiligen Gefühl an mir hinge; ich habe auch niemand gefunden, dem ich mein ganzes Dasein so ungetheilt hingegeben hätte. In Ihre Hände allein lege ich es, wenn Sie meine Freundin, meine Schutzheilige sein wollen! [130] Ich bin nicht schlecht! bei dem ewigen Gott, ich bin nicht schlecht! Wollen Sie? fragte er weich und schmeichelnd. Auf Luisens Augen schwebte ein zitterndes Ja. Ihre Augen schlossen sich an seine Brust, indem er sie leise auf die Stirn küßte.

Wie die ewige Versöhnung tönte das Wort Freundin in ihre Seele. Der schwere Kampf schien geschlichtet, Gott und Menschen versöhnt. Ist es denn wahr, sagte sie aufblickend, ich soll das nicht scheuen und verdammen, was ich mit unsäglicher Angst – Meine Luise, unterbrach sie Fernando, wie glücklich konnten wir lange sein, wenn Sie sich früher selbst verstanden! Ein Geräusch im Nebenzimmer machte ihn aufmerksam. Er führte Luisen zu einem Stuhl und stand ihr gegenüber, am Clavier gelehnt, als die Thür aufging, und Georg, mit zwei Lichten in der Hand, hereintrat. Immer aufmerksam auf alles, was seinem Dienst anging, hatte er sich erinnert, daß diese Zimmer noch nicht erleuchtet waren und daß sich die Gräfin, da er sie nicht in der Gesellschaft fand, wohl hieher könne begeben haben. Auf Fernandos Stirn lag der tiefste Unmuth über die unwillkommne Störung; er ging heftig auf und nieder, während der alte Diener alles gehörig ordnete, die Fensterladen schloß, und sich bei manchem kleinen Geschäft verweilte. Luise schien von allem [131] nichts zu bemerken; in der seligsten innern Stille ließ sie ihre Thränen ungehindert fließen. Georg betrachtete Beide kopfschüttelnd, und ging in der Ueberzeugung hinaus, daß der wüste Fremde seiner jungen Herrschaft recht zur Qual und Aergerniß hier sei. Bei dem Oeffnen der Thür schallte die Musik hell aus den Nebenzimmern herüber. Luise ward durch die Töne aufgeschreckt. Gehn Sie, lieber Fernando! rief sie eilig, gehn Sie zur Gesellschaft, ich folge Ihnen sogleich! Ist das die erste Bitte, Luise, fragte er verletzt, die Sie dem neuen Freunde zu thun hatten? Werde ich nie andre Worte aus Ihrem Munde hören? Gilt es denn immer nur, mich zu entfernen? Mein lieber Fernando, erwiederte sie, wenn Sie wüßten – Aber Sie sollen sehn, fiel er rasch ein, selbst einen neuen Ueberfall fürchtend, Sie sollen sehn, daß mir Ihr Wille in jedem Augenblick heilig ist, ich gehe; allein, Luise, wenn ich Sie jetzt ruhiger verlasse, wenn die Rührung Ihrer Engelseele mich entzückte, wenn ich mich einen Augenblick einer glücklichen Zukunft überließ, werden Sie fest bleiben? werden Sie nicht auf's neue, durch tausend Grillen erschreckt, wanken, und ein flüchtiges Wohlwollen bereuen, was mich auf ewig an Sie kettet? Nein, nein! rief sie aus vollem Herzen, ach nein, ich kann ja nicht anders als Ihnen vertrauen! Werden [132] Sie das immer? fragte er, auch wenn Zweifel Sie ängsten, auch wenn weise Rathgeberinn – O still, still! unterbrach ihn Luise, und drängte ihn bittend zur Thür.

Als sie zur Gesellschaft zurückkam, fand sie Emilien zwischen Carl und dem Maler, nachlässig auf einen Stuhl geworfen und ziemlich unwillig über den allzuoffnen Vetter, der sie, ohne Rücksicht auf ihren Nachbar, mit Fernandos Vernachlässigung und scheinbarer Erkaltung neckte. Sehn Sie! rief er, da sitzt er wahrhaftigen Gotts, tiefsinnig wie ein Engländer! er sieht nicht, er hört nicht. Wissen Sie was, wir wollen einmal mit einander walzen, vielleicht sieht er das, er wird eifersüchtig – Auf Sie? fragte Emilie spöttisch. Cousinchen, erwiederte Carl, werfen Sie die deutschen Männer nicht weg, es ist Verlaß auf sie; die Fremden sind Zugvögel, sie bauen sich hier keine Nester. Der Maler wollte sticken vor Lachen. Emilie stand endlich auf und ging zu ihrer Mutter, die sehr eifrig mit Stein redete. Der ernste Russe hatte sich zu Luisen gesetzt, und sprach verbindlich und mit vieler Einsicht über das Charakteristische deutscher Geselligkeit. Bei der unvermeidlichen Annahme und nothwendigen Verschmelzung fremder Sitten, meinte er, sei eine eingeborne Würde, ein gewisses häusliches Zusammenhalten [133] und meistentheils größere Tiefe des Gefühls ganz unverkennbar, was vorzüglich die Frauen sehr anmuthig zwischen die Engländerinnen und Französinnen stelle, und auch den Umgang der Männer, ohnerachtet ihres frühen Zurückziehens von aller geselligen Mittheilung, dennoch interessant mache. Sie war genöthigt, so verbindliche Worte aufmerksam anzuhören, und, indem sie sie schicklich erwiederte, das Gespräch länger als sie wünschte fortzusetzen. Fernando hatte sich ihr indeß genähert, und flüsterte, über ihren Stuhl gebeugt: Sie ahnden nicht, wie wehe Sie mir thun; müssen Ihre Freunde so schnell zurückstehn? Sie ward höchst verlegen, antwortete höchst einsilbig und unpassend, worauf der Obrist auch geschickt abbrach und sich zurückzog.

Mehrere der Fremden hatten noch einen weiten Weg zu machen; man trennte sich daher nach und nach, und die Baronin, die durch ihr Gespräch verstimmt schien, erklärte, daß es überall Zeit sei, der Ruhe zu genießen, worauf alles für heute auseinander ging.

Fernando hatte mit Recht neue Erschütterungen in Luisens Seele vorausgesehn. Sie war nicht sobald allein, als sie eine Bangigkeit befiel, die Hand in Hand mit der eingebornen Scheu vor dem Unrecht geht. Es regte sich jenes Zagen in ihr, [134] was zuerst die Bilder lockender Erinnrung unruhig hin und her wirft, bis das verlangende Auge nicht mehr darauf haften kann. Und wie dann alles so innerlich erzittert, so fliehen die Ahndungen höherer Liebe, die ein Gott uns einhaucht, die Erde öffnet ihren Schoos und zeigt uns alle Schrecken, die unsrer warten. Dazwischen hörte Luise Werners zernichtende Worte. Alles fiel ihr plötzlich zusammen. Sie erschien sich strafbarer, verlorner, als sie war; sie wußte nicht, wie sie sich selbst entfliehen sollte. Ach es war ja so wahr, so unwidersprechlich wahr; sie liebte ihn mit allen Kräften ihres empörten Herzens. Unter tausend Qualen war sie spät am Morgen eingeschlafen, als Julius vor ihr Bett trat. Sie schreckte bei dem leisen Geräusch auf. Ich wollte Dich nicht stören, sagte er, gutmüthig besorgt, aber ich bin Deinetwegen beunruhigt, liebe Luise, und muß Dich endlich fragen, was so schwer auf Deiner Seele drückt? was Dich so ausschließend beschäftigt, daß Du fast für nichts außer dem Sinn hast? Liebe, liebe Luise, verhehle mir doch nichts; glaube nur, ich habe Deine Schmerzen, ohne sie zu kennen, zerreißend gefühlt. Ach ich trage ja kein andres Leben in mir, als Dein Glück, Deine Ruhe. Sie sank weinend in seine Arme. O wäre er mein Bruder, dachte sie. Erinnerst Du Dich, fuhr er [135] fort, was die Mutter sagte: Luise hat nun niemand auf Erden als dich, verlasse sie nie, stehe ihr im entscheidenden Augenblick zur Seite. Meine Luise, sei offen. – Wie Himmelsthau fielen diese Worte in ihr Herz; sie rang noch einen Augenblick mit der Furcht, Julius durch ein freimüthiges Geständniß wehe zu thun; dann aber siegte die Wahrheit, ihr Innres schloß sich auf, die Worte schwebten auf ihren Lippen; da stürzte Mariane herein und sagte eilig, der Herr Jagdjunker und Herr Werner seien im Vorzimmer in heftigem Wortwechsel und sie habe von Schießen und Schlagen gehört. Julius sprang auf; er fürchtete Carls Ungestüm, und eilte, einem Unglück vorzubeugen. Nach einer Weile kam er sehr bleich und erschüttert zurück. Es ist nichts, sagte er angestrengt; ein Mißverständniß, das sich schon wieder aufgeklärt hat. Sonst nichts? fragte Luise, wirklich nichts? Nein, nein, wirklich nicht, erwiederte er und ging dann schweigend auf und nieder. Luise erwartete mit klopfendem Herzen, daß er das vorige Gespräch wieder anknüpfen und auf's neue in sie dringen sollte. Allein Julius sagte kein Wort. Sie selbst hatte nicht den Muth, wieder anzufangen. Ueberdem war der rechte Augenblick vorüber, und so blieb es zwischen Beiden still, bis Mehrere hinzukamen und im Allgemeinen ein leidliches Gespräch [136] in den Gang brachten. Ein flüchtiger Blick zeigte Fernando die Wolken auf Julius Stirn und Luisens trübe, gesenkte Augen. Er neigte sich daher zu Emilien und redete auf's neue angelegentlich mit ihr. Werner trat zu Stein, der in einem alten Buche, das er in jenem Schreine fand, verblichene, kaum noch kenntliche, Holzschnitte betrachtete. Die Worte darunter schienen häufig gelesen, denn zwischen den feinen Blättern lagen mehrere Zeichen, Goldfäden, auch Stückchen farbiger Stoffe, die wohl eine längst vertrocknete Hand da hinein gelegt hatte. O lassen Sie sehn! rief er, als Reinhold eben ein Blatt umschlagen wollte und er die Worte in kunstreich gezirkelten Buchstaben las: Von getreuer und sittsamer Minne. Die Andren näherten sich nach und nach auch. Man ward begierig, die Bedeutung der Bilder zu wissen. Eine innre Ehrfurcht vor den alten, ehrenwerthen Gestalten, ja vor dem Buche selbst, das wie ein edler, fremder Geist mitten unter ihre neue Ansichten und Gefühle trat, verscheuchte jede Spötterei. Man drang in Stein, die kleine Geschichte vorzutragen, und er, ohne sich lange bitten zu lassen, fing sogleich an:

Von getreuer und sittsamer Minne.

»Ein sehr edler und schöner Ritter hatte sich in die Tochter des Königs verliebt, die unter allen [137] fürstlichen Jungfrauen weit und breit, nicht allein als die anmuthigste und liebreizendste, sondern auch als die sittigste und in aller wohlanständigen Geschicklichkeit erfahrenste, berühmt war. Wie nun die Liebe von keiner Macht in der Welt Gesetze annehmen will, half es auch ihm nichts, daß er sich die Schwierigkeiten, ja die Thorheit eines solchen Beginnens, unablässig vor Augen stellte. Jemehr er sich schalt, um desto mehr entbrannte er in den gewaltigen Flammen, von denen sein ganzes Gemüth durchhitzt war, und es hätte wohl noch ein frühes Ende mit seinem Leben genommen, wenn ihm nicht ein günstiger Zufall, (so deren viele, sagt man, im Solde des Liebesgottes stehn sollen,) zu Hülfe gekommen wäre. Auf einem großen Jagen nämlich, als er sich in den tiefsten Wald begeben hatte, um seinen schwermüthigen Gedanken nachzuhängen, begab es sich, daß er auf die Prinzessin traf, indem sie durch ihren scheuen Zelter weit von dem ganzen Hofgefolge auf ungebahnten Wegen fortgerissen ward. Er that dem wilden Thiere Einhalt, und nachdem er die schöne Jungfrau herabgehoben hatte, wollte sie sich nicht wieder der einmal bestandnen Gefahr anvertrauen, sondern zog es vor, sich von dem jungen Helden zu Fuß nach dem Schlosse heimgeleiten zu lassen. In dem dunkelgrünen, sonnendurchblitzten Laubholz schlug [138] dem Ritter das Herz immer höher und höher; er sing an zu bedenken, daß, wenn es doch einmal umgekommen sein müsse, der Schrecken ein schnellres und leichteres Ende bescheere, als der Gram, und daß er lieber an der Grausamkeit seiner Dame, als an der eignen Zaghaftigkeit sterben wolle. Deshalben begann er erst mit stotternder, dann mit überströmender Zunge und weinenden Augen, der Schönen sein Leid zu klagen. Sie gedachte ihn anfänglich zum Schweigen zu verweisen, aber weil der einsame Weg so gar lang währte, konnte sie letztlich das Heben und Senken ihrer zarten Brüstlein, das Erröthen ihrer Wangen, das Blitzen ihrer Augen sich und dem Ritter nicht länger verbergen. Sie gestand ihm, daß sie vor allen Männern auf der ganzen Erde nur ihn allein mit herzlicher Treue meine, und hiermit zu ihrem Verlobten auserwähle. Als sich nun der Liebhaber recht versann, daß er nicht etwa dergleichen blos im Traum, oder sonst in phantastischen Gesichtern erblicke, sondern in der That die schöne Königstochter ihm ihre Liebe gewähre, dachte er vor Freuden zu sterben, wie noch wenige Stunden früher vor Herzeleid. Kaum aber daß er sich ein wenig erholt hatte, so schlug er eine Menge Mittel vor, wie sie beide recht bald zu dem ehrlichen Ziel ihres Liebhabens in einer vergnügten Ehe gelangen möchten. [139] Die kluge Jungfrau aber sagte: Laßt es uns wohl bedenken, mein herzlieber Herr Adelhof, (denn also war der Ritter bei seinem Taufnamen geheißen,) daß wir auf ein gar ängstliches und gefährliches Unternehmen ausgehn. Mein Vater, wie Euch nicht fremd sein kann, ist gar ein ernster und hochtrachtender Herr, eines recht fürstlichen Heldengemüthes, der nimmermehr zugeben wird, daß seine Tochter einem Vasallen zu Theil werde, es sei denn, daß sich dieser durch unerhörte Thaten den regierenden Häuptern gleich zu stellen wisse. Nun aber habe ich das gute Vertrauen zu meinem Gott (wohl spürend, daß meine Liebe keusch und rein, und seines heiligen Schutzes werth sei), daß er Euch eine Gelegenheit geben wird, Euern schon erprobten Rittermuth zum Heil des Königs und des lieben deutschen Landes auf eine solche Weise leuchten zu lassen, daß Euch meine Hand als ein billiger Ehrenpreis nicht versagt werden mag. Wollet deshalb damit zufrieden bleiben, süßer Freund, daß meine unsterbliche Seele, nächst Gott, Euch allein angehört, und in Geduld stehen, bis sich eine günstigere Zeit offenbart. Auch wollet nichts von heimlichen Zusammenkünften oder dergleichen Leichtfertigkeiten begehren, sintemal das Euerm eignen künftigen Eheweib eine große Schmach sein würde.

Unter dergleichen liebevollen, doch frommen, [140] Gesprächen waren sie zu dem Schloß gekommen, wo der König eine große Freude über die Rettung seiner Prinzessin Tochter bezeugte, ohne nur im geringsten zu ahnen, was sie im Walde mit dem Ritter Adelhof könne verabredet haben.

Von diesem Tage an lebten die beiden jungen Leute in aller züchtigen Liebe und Ergötzlichkeit unterschiedliche Monden hintereinander sonder Störung fort. Wenn es auch bisweilen geschah, daß bei dem Ritter, wie es der Männer Art ist, ein ungeduldiges Feuer aufgehn wollte, so wußten doch alsbald die sittigfreundlichen Blicke der Jungfrau die ungestüme Lohe dergestalt zu bezähmen, daß nur ein stiller, labender Schein daraus übrig blieb, dessen niemand als sie selbst wahrnehmen mochte. Der Ritter ward mit jedem Tage frömmer und linder gegen Menschen sowohl als jede andre Creaturen, und wenn er einen deutsamen Gruß von seiner Herzliebsten gewonnen hatte, schien es gar, als lächle der Himmel selbst aus allen Zügen seines Antlitzes.

Ein so recht paradiesisches Erquicken jedoch kann auf unsrer Erde nicht von langem Bestand sein. Es verbreitete sich nach kurzer Zeit das Gerücht, als habe der König seine Tochter an einen benachbarten Prinzen verlobt, welcher auch gleich darauf selbst an den Hof kam, öffentlich in den [141] Farben der schönen Jungfrau prangend, und überhaupt weder seine Werbung noch die Begünstigung des Brautvaters im geringsten verhehlend. Wie da dem armen Ritter Adelhof zu Muth gewesen sei, kann leichtlich ein jeder selbst ermessen, sofern er nur einmal die ergötzlichen und doch auch oft so schmerzlichen Blumenketten der Minne getragen hat. Wenn dem Ritter auch kein Zweifel an die Beständigkeit seiner tugendhaften Liebschaft in den Sinn kam, so wußte er doch auch recht gut, wie weit eines gekrönten Königs Arm reiche, und wie schwer es halten müsse, durch einen so hartnäckigen und vielfach unterstützten Willen zu brechen. Doch tröstete er sich damit, daß es auch kein Leichtes sei, getreuer Liebe einen Kampf abzugewinnen, und daß seine Gegner daher wenigstens eben so schwieriges Spiel vorfänden, als er. Entschlossen, das Alleräußerste mit tausend Freuden zu wagen, trachtete er nur darnach, wie er seiner geliebten Prinzessin von diesen Gedanken Nachricht geben und gehörige Abrede treffen möchte.

Auf einem Turniere, das man dem fremden Brautmann zu Ehren angestellt hatte, gebrauchte sich der Ritter Adelhof so männlich, daß man ihm vor allen Anwesenden den Preis zuerkennen mußte, und zugleich die Ehre, am Abende den Reihen mit der Prinzessin zu beginnen. Das war es eben, [142] was er so eifrig gesucht hatte, und während nun die Musik recht kunstreich und gewaltig durch den Saal schmetterte, er aber mit zierlichgemessenen Schritten neben der Jungfrau hertanzte, nahm er Gelegenheit, ihr auf eine geschickte Weise zuzuflüstern, wie er Willens sei, sie am folgenden Abend zu entführen, der Hoffnung, daß sich jenseit des Meeres Sicherheit und ein bessres Glück antreffen lasse. Sie aber entgegnete voller Schrecken: Wie sollte ich ein so großes Uebel thun, und als eine unverehelichte Magd heimlich mit Dir aus dem Hause meines Vaters wegziehn! – Adelhof sagte mit herzlichem Bedauern: ich merke leider schon, wo das hinaus will. Die Pracht des Fremden hat Dein Gemüth befangen, und Du möchtest des armen Edelmanns nun gern entledigt sein. – Nicht also, sprach die Jungfrau. Keinem andern Mann als Dir will ich jemals angehören, aber auch ein reines, fleckenloses Weib bleiben, so weit es einem sündigen Menschenkinde möglich ist. – Ach, bedenke Dich wohl, was du thust, sagte der Ritter. Du stößest ein getreues Herze von Dir, denn wenn Du nicht einwilligest, mit mir von hinnen zu ziehn, so erwähle ich mir selbst die Verbannung aus diesen Landen, allen glatten Worten unvertrauend, die so übel mit der That zusammenstimmen. – Was recht und ehrlich ist, soll geschehn, mehr aber [143] nicht, sagte die Jungfrau, und damit hatte eben der Tanz ein Ende genommen. Sie mußten von einander gehn, ohne daß sie die Gelegenheit finden konnten, ihre Angelegenheiten des weitern zu besprechen. Der Ritter sah die Jungfrau wohl bisweilen flehend an, in Hoffnung, irgend eine günstigere Entscheidung aus ihren Augen zu schöpfen; aber ob sich diese gleich vielmals mit recht perlenglänzenden Thränen füllten, wiegte sich doch das schöne Haupt dabei leise verneinend hin und her, daraus wohl abzunehmen stand, wie es bei dem einmal gefaßten Entschluß bleibe.

Sich selbst und Alle scheltend, die jemals ihr Vertrauen auf das eitle Gemüth eines Weibes gesetzt, verließ der Ritter den Tanz, in Willens, mit dem frühsten Morgen davon zu reiten, je weiter je lieber, von einer Gegend, wo es ihm mit seinen liebsten Wünschen so widerwärtig gegangen war. Deßungeachtet kamen ihm mit dem hellen Morgenrorh andre Gedanken zurück. Er meinte, wie doch immer Licht aus Nacht entsprieße, möge es auch wohl mit seinen Schicksalen ergehn, die Jungfrau habe sich vielleicht ihr furchtsames Verweigern schon längst gereuen lassen, und es komme nur auf einen kühnen Versuch an, sie für seinen Entwurf zu gewinnen. Dieses Vertrauens voll, richtete er Alles zur Reise ein, ohne sich dabei [144] einer lebendigen Seele anzuvertrauen, erhandelte auch unter anderm Vorwand einen leichten Zelter mit bequemem Geschirr für seine schöne Genossin, und harrte ganz allein, die beiden Rosse am Zügel, unter ihren Fenstern, bis er an dem Lampenschimmer vermerken konnte, sie sei nun von dem Nachtmahle zurück gekehret und allein in ihrem Gemach. Da begann er folgende Verse zu singen:


Nicht allzuhoch die Fensterwand,
Strickleiter in des Liebsten Hand;
Ein Wink aus Liebchens Fensterlein,
So stiegt die seidne Trepp' hinein,
Und will sie dran hernieder gleiten
So können, eh' der Morgen graut,
Von stiller Nacht allein beschaut,
Zum Meerstrand die Verliebten reiten.

Er sah wohl, daß sich die Schöne dem Fenster zu nähern schien, und sang deshalb in froher Hoffnung fort:


Was ist der ächten Minne gleich?
Nicht Fürstenthum, nicht Königreich.
Zwei Herzen fromm, zwei Herzen treu,
Sie ziehn sich an in süßer Scheu,
[145]
Mit Mond und Stern im frohen Bunde
Wird ihnen Nacht zum heitern Tag,
Das Waldesgrün zum sichern Dach.
O Liebchen komm, gut ist die Stunde.

Die Jungfrau stand an dem Schieber, es war schon, als wolle sie das Fenster öffnen; aber mit einemmale ließ sie den Vorhang herunter rollen und floh zurück. Der Ritter sang mit weinenden Augen:


O schwacher Sinn! O falsches Herz!
Du wählst und giebst für Freude Schmerz!
Warst doch allein all' meine Lust,
Trug nur Dein Bildniß in der Brust,
Und soll Dich nun so gar entbehren,
Trüb scheiden, der so fröhlich kam.
Ach Gott, erstärk' nur meinen Gram,
So wird er früher mich verzehren.

Es kam ihm vor, als sähe er durch die Vorhänge, wie die Prinzessin mit vor den Augen gehaltnen Händen heftig weine, ja als vernähme er ihr leises Schluchzen; plötzlich aber löschte sie ihr Licht und es ließ sich keine Regung in dem dunklen Zimmer mehr vernehmen. Da riß er in wildem Unmuth den Zügel von des Zelters Hals und jagte ihn von sich, während er auf seinen [146] Streithengst sprang und diesen mit wilden Sporenstößen in den Wald hinein trieb.

Eine lange Zeit hindurch zog er in fremden Landen umher, in solchen am liebsten, wo man gar nichts von der lieben deutschen Muttersprache verstand, auf daß er nur von aller Erinnerung an die Jungfrau befreit werden möchte. Ja, so oft sie ihm des Nachts in Träumen vorkam, pflegte er am folgenden Tage recht geflissentlich Festlichkeiten oder Gefechte aufzusuchen, um seine Betrübniß gleichsam in derlei ungestümen Meeren zu ertränken. So geschah es, daß er endlich am Hofe einer italischen Fürstin bekannt ward, die von allen Hofleuten sowohl, als auch von den kunstreichsten Bildhauern und Malern für die schönste Person auf der ganzen Welt gehalten ward. Der Ritter Adelhof meinte, wenn er deren Minne verdienen könne, sei er auf's beste an der Königstochter gerächt, und müsse es ihr zum absonderlichen Kummer gereichen, ihren verstoßnen Liebhaber so glänzend entschädigt zu wissen. In dieser Absicht strebte er nach allen Kräften, die Gunst der schönen Italienerin zu gewinnen; da er aber (wie sich leichtlich denken läßt) eine große Schaar von mannlichen und schönen Mitwerbern vorfand, konnte er sich nie vergewissern, wie er eigentlich bei der Dame stehe, ob er gleich [147] täglich auf das freundlichste empfangen ward, ja sich sogar mancher sehr günstigen Blicke und Worte zu rühmen hatte.

Viele Ritter und Herren, denen es auf gleiche Weise erging, wurden endlich eins, die Schöne um eine bestimmte Erklärung anzugehn, und wenn sie auch noch von keiner bestimmten Wahl hören wollte, sie doch wenigstens um die Aufgabe irgend einer That oder eines Geschenkes zu bitten, wodurch man des Glückes ihrer Minne theilhaftig werden könne; des vergeblichen Harrens und Seufzens, wie aller fortdauernden Ungewißheit, sei man nun einmal durchaus überdrüssig. Man brachte ihr auch diese Willensmeinung vor, obgleich mit den allerzierlichsten und verbindlichsten Worten, welche sich nur erdenken lassen. Die Schöne aber entgegnete den versammelten Werbern: Ihr Herren, meine Antwort wird kurz sein, wie Ihr Euch denn die Aufgabe leicht selbst hättet machen können, wenn irgend etwas Wahres an Eurer Bewundrung meiner Schönheit zu finden wäre. Ist die Gestalt, in welche es dem Himmel beliebt hat, mich zu kleiden, so gänzlich makellos, als Ihr zu glauben vorgebt, wie ist es dann noch Keinem eingefallen, daß einer solchen auch ein makelloses Gewand gebühre? Was ich aber bis jetzt von Seide, Stoff, Leinen, Flor und irgend andern Kleidungsstücken gesehn [148] habe, trug beständig irgend einen Mangel an sich. Auf dann, Ihr Werber, mir ein Gewebe sonder Fehl zu verschaffen, und wem es damit gelingt, der soll mich in eben diesem Kleide zur Trauung führen.

Die Ritter standen eine Zeitlang bestürzt, vermeinend, man würde ihnen eher ein kühnes Wagstück aufgegeben haben, als das Erkiesen eines tadelfreien Gewebes, worauf sich die Wenigsten von ihnen verstehn mochten. Demohngeachtet grübelten sie nicht allzulange; wollten sie die Braut haben, so mußten sie nach deren Willen tanzen, weshalb sie auch mit dem nächsten Tage nach allen vier Weltgegenden hinauszogen.

Der junge Deutsche Weigand Adelhof nahm seine Richtung noch weiter gegen Mittag, des Glaubens, wie die Lüfte klarer, die Flüsse heller, die Sonnenstralen lichter würden, müßten auch die Werke aller Menschenkinder an Zierlichkeit und Zartheit zunehmen.

Ein heilsames Verirren brachte ihn jedoch bald darauf in dunkler Nacht zu der Hütte eines Klausners, der ihn gastlich aufnahm, und während des mäßigen Mahles ungefragt durch ihn selbst (wie denn das der Jugend Art zu sein pflegt) von seiner Reise und ihrem Ziel umständlich benachrichtigt ward.

[149] Ei, rief der Siedler am Ende der Geschichte aus, Ihr kommt mir vor wie ein sehr thörichter Gesell. Nicht allein, daß Ihr Eurer Spinne selbsten die Gewebe zutragt, darin sie Euch desto besser fangen möge, sucht Ihr auch das noch auf ganz verkehrten Wegen! Seid Ihr ein geborner deutscher Edelmann und wißt noch nicht, daß in Eurem Land fast einzig und allein die rechte ernste Freudigkeit und Treue, vermöge deren man kunstreiche Arbeiten verfertiget, daheim sind? Halte dafür, Eure fremden Nebenbuhler wissen besser Bescheid, und haben gewiß sämmtlich ihre Richtung nach der deutschen Gränze genommen.

Herr Adelhof schämte sich sehr, daß er dieser Zurechtweisung bedurfte, und machte sich in aller Frühe und Eilfertigkeit auf den Weg nach Deutschland.

In der That war er auch kaum einige Tage lang in dem guten Lande Tyrol, als er schon von einer wundersamen Frau hörte, welche Gewande zu weben und zu sticken verstehe, dergleichen man in der ganzen weiten Welt nicht finde. Sie wohne, sagte man ihm ferner, bei einer alten Hirtenfrau im Gebirge, welche ihr vor etwa zwei Jahren aus Erbarmen, fast ungern, Obdach gestattet habe, nun aber sich durch die Arbeiten der Fremden in einen großen Wohlstand versetzt[150] befinde. Das meiste ihres reichlichen Gewinnstes wende jedoch die fromme Weberin auf Capellen und Kirchen, deren sie schon unterschiedliche in dem sonst wilden Thale mit aller Pracht und Zierlichkeit habe erbauen lassen. Sie selbst führe ein wahres Klosterleben, und erlaube nur ihrer alten Wirthin den Eintritt in ihre Zelle. Der Ritter, voller Ungeduld, das Ziel seines Suchens zu erreichen, kam noch selben Abends vor der Meierei der Hirtenfrau an, von welcher die Klause, darin die gottesfürchtige Fremde ihr einsames Wesen trieb, etwa fünfhundert Schritt oder mehr entlegen sein mochte. Die alte Wirthin nahm ihn zwar anfänglich ganz willig auf, als er aber sein Begehren nur kund zu thun anfing, unterbrach sie ihn sogleich, versichernd, die Gedanken daran könne er sich auf alle Weise vergehn lassen. Es seien schon viele reiche und edle Herren in der nämlichen Absicht hier gewesen; da habe die fromme Dame erklärt: um kein Geld, noch Gut, noch Ehrenbezeigung, wolle sie die Hand für die Befriedigung solch toller Eitelkeit anlegen, die sich ja in der That an Uebermuth den Einfällen vergleiche, womit ehemals Feien und andre böse Heidinnen die Welt geplagt hätten, wie man davon manche furchtbare Geschichte vernehme. Der Ritter Adelhof ward zwar über diese Weigerung [151] sehr bestürzt, jedoch wollte er nicht minder als seine Nebenbuhler versucht haben, und drang daher in die Alte, sein Anbringen doch wenigstens der Dame vorzutragen. Man müsse alles zu seinem Glücke aufs fleißigste anstellen, meinte er; niemand wisse, was grade ihm aufgehoben sei, und schlage es auch alsdann gänzlich fehl, so dürfe man doch nicht auf sich selber schelten. Die Alte konnte ihm hierin nicht gänzlich Unrecht geben, und verfügte sich daher nach der Klause, wobei sie indeß beständig den Kopf als in vielem Zweifeln schüttelte. In der höchsten Verwundrung aber kam sie zurück, so schnell es ihre wenigen Kräfte erlaubten, die Hände zusammenschlagend, und ausrufend: Ihr thut wahrhaftig wohl, Eurer Fortuna zu vertrauen, denn Ihr seid ein unstreitiges Glückskind. Zum erstenmale, seit ich die fromme Dame kenne, hat sie ihren Entschluß geändert. Sobald ich Euren Namen und Begehr vorgetragen hatte, entgegnete sie: sag' ihm, daß ich in diesem Augenblick an die Arbeit gehe, daß ein tadelfreies Gewebe binnen neun Tagen vollendet sein soll, und daß er so lange bei Dir herbergen mag, um es alsdann gleich mitzunehmen und seiner wunderschönen Braut zu überbringen. Störe mich aber in dieser Zeit mit keinem Worte. Ich bedarf eines [152] frommen, gesammelten Gemüthes und vieles Betens, um eine solche Arbeit zu Ende zu führen.

Der Ritter wunderte sich selbst über die unvermuthete Gewährung seiner Wünsche; da ihn aber eine große Ungeduld nach Welschland zurück trieb, dachte er nur daran, es ins Ungewisse stellend, woher ihm ein so großes Glück aufgegangen sei, und ergab sich während der langen neun Tage fast in einem fort dem Zeitvertreib des Jagens, wie es denn einem so rüstigen und vornehmen Herrn auch wohl geziemte. Eines Abends kam er ganz spät aus dem Forste zurück, und, indem ihn sein Weg zufälliger Weise an der Klause vorbei führte, hörte er darin singen. Er stand neugierig still und vernahm folgende Worte:


O schwacher Sinn! O falsches Herz!
Du wählst und giebst für Freude Schmerz.
Warst doch allein all' meine Lust,
Drug nur Dein Bildniß in der Brust,
Und soll Dich nun so gar entbehren,
Trüb scheiden, der so fröhlich kam.
Ach Gott, erstärk' nur meinen Gram,
So wird er früher mich verzehren.

Er wußte nicht, ob er wache oder träume, denn ihm waren diese Verse, welche er am Abende seines Abschieds von der Königstochter gesungen [153] hatte, noch wohl im Sinn geblieben. Nach Endigung des Liedes hörte er die Dame bitterlich weinen und sagen: o mein herzallerliebster Freund, wie großes Unrecht hast Du mir mit solchen Klagen gethan, und wie viel besser passen sie nun für mich. Damit ward sie wieder stille, und man vernahm nichts mehr, als den Gang des fleißig angeregten Webestuhls.

Es ward dem Ritter unheimlich zu Muth; er mußte beinah glauben, daß die Königstochter vielleicht gestorben sei, und ihm nun mit gespenstischem Treiben verfolge, denn wie sollte sie lebendig, von Vater und Bräutigam weg, allein in dieses Gebirge gekommen sein, und wem hinwiederum war das Abschiedslied bekannt, als ihm und ihr? – In solcher Zweifelhaftigkeit verging ihm die Nacht, und auch ein Theil des folgenden Tages, ohne daß er sich der Klause wieder näher gewagt hätte, als er aber im Forste einen Jäger antraf, mit dem er schon vor einem Paar Tagen Bekanntschaft gemacht hatte, konnte er nicht umhin, ihn wegen der Königstochter zu befragen, ob man nicht in deutschen Landen höre, wie lange sie schon mit dem Fürsten verheirathet sei, und wie es ihr mit ihm ergehe?

Ei mein Gott, wißt Ihr das nicht? sagte der Jäger. Da ist an keine Heirath zu denken, [154] und wer weiß, ob das schöne Fräulein nicht längst in Noth und Elend vergangen ist. Der König bestand wohl auf diesen Eidam, sie aber soll einen Andern im Herzen getragen haben, oder der Bräutigam war ihr sonst zuwider. Da gebot ihr der König kraft seiner väterlichen sowohl als herrschaftlichen Gewalt, sie solle sich des nächsten Sonntages in der Kirchen einstellen, geschmückt, wie es einer fürstlichen Braut gezieme. Sie kam auch dem Befehl mit allem Gehorsam nach, vom Priester aber befragt, entgegnete sie laut vor allem Volke, wie sie zwar wohl wisse, daß sich keine Magd ohne Vergunst ihres Vaters verehelichen dürfe, daß sie aber auch ein so heiliges Sakrament, als die Ehe, nicht durch eine lieblose, aus weltlichen Rücksichten gegebne, Einwilligung, entweihen könne. Bitte derohalben um Erlaubniß, dieser Verbindung überhoben zu sein, und sich erst dann einem Gemahl zu ergeben, wenn solcher, als ein vom Himmel beschiedner, dem Willen ihres Herrn Vaters und ihrem eignen Gemüthe gleich angenehm sei. – Alle Leute verwunderten sich und erfreuten sich über die sittsame Festigkeit, mit welcher sie diese Worte vorzubringen wußte. Der Bräutigam aber ritt im Zorne davon, und der König zog seine Hand gänzlich von ihr ab. Sie könne heirathen wem sie [155] wolle, erklärte er feierlichst, solle sich aber bei Todesstrafe nicht länger an seinen Hoflager sehn lassen. Nachdem sie mit demüthigen Thränen auf's unterwürfigste Abschied genommen, hat zum größten Leidwesen der Unterthanen Niemand erfahren können, wohin sie gekommen sei, ob sie noch zu den Lebendigen, oder schon lange zu den Todten gehöre.

Hiermit schloß der Jäger seinen Bericht, und Adelhof, von einem heißen Reumuth durchdrungen, dachte nur daran, wie er seine verkannte und verlaßne Geliebte, (denn als solche erkannte er nun die fromme Weberin wohl) nach Gebühr an ihm selbst rächen wolle. Als daher die Alte nach Verlauf der neun Tage ihm das Gewand einhändigte, bat er, sie möge, da ihm die Dame doch so gnädig gewesen sei, ihr noch seine Bitte um mündliche Empfehlung und Danksagung vortragen. Die Alte berichtete zurück, wie die schöne Dame sehr betrübt gewesen sei, und nach einem schweren Seufzer gesagt habe: Herr Gott, auch das noch! aber er mag nur kommen.

Adelhof fand sie in tiefe Schleier gewickelt, in welchen sie ihm unerkannt zu bleiben meinte; er aber ließ sich vor ihr auf ein Knie nieder, und während er ihr seinen Dolch darreichte, sprach er: Wollet zu der mir erzeigten Huld [156] auch noch die fügen, schöne Königstochter, einem thörichten, undankbaren, aber bereuenden Jüngling mit Euern Händen den verdienten Tod zu geben, und ihm solchermaßen zur Ruhe zu verhelfen. Ich habe schwer an Euch gesündigt, und wohl wissend, wie ich Eurer gänzlich unwerth bin, erbitte ich mir nur noch diese einzige Milderung meines Elends. Sie aber schlug die Schleier zurück, und, ihn in all ihrer Schönheit und Frömmigkeit anlächelnd, sagte sie: willkommen sei, mein süßer Freund und Gemahl. Mein Vater hat mich der Schuldigkeit entbunden, die mich von Dir geschieden hielt. Hast Du mich nun noch lieb, so ist mein Leid in Freude verwandelt, und wir wollen als liebevolle Eheleute mit einander leben, das Eine jedoch bedungen, daß Du aller Klag' und Schmähung gegen meinen Herzgeliebten, den edlen Ritter Adelhof, entsagst. – Hierauf breitete sie ihm ihre zarten Arme entgegen, und er, sie umfangend, sagte: O lieber, getreuer Gott, wen Du auf Erden froh, im Himmel selig haben willst, dem gieb zur Geleiterin eine fromme deutsche Frau.

Der welschen Fürstin ward fortan unter den Beiden nicht mehr gedacht, und nach langem, freudvollen Ehestande hinterließen sie ein zahlreiches und höchst ruhmwürdiges Geschlecht.«


[157] Als Stein geendet hatte, legte er das Buch schweigend aus der Hand. Niemand redete. Manchem hatte die Erzählung Langeweile gemacht, Andren riefen jene einfache Töne alter fester Zeit wehmüthige Vergleiche mit der zerfallnen, zerstückelten, Gegenwart herauf. Luise allein lebte ganz in den vorübergeführten Begebenheiten. Diese stille Sicherheit, im schwersten Kampf zwischen Neigung und Pflicht, dies reine Wollen und Vollbringen, ja die ganze prunklose Tugend altdeutscher Sitte, der ungetrübte Spiegel einer jungfräulichen Seele, warf einen so klaren Schein zurück, daß sie scheu in sich zurückbebte. Ich will fliehen, dachte sie, weit weg von hier, zu dem Grabe meiner Mutter. Ach meine Mutter! sie schlug die schönen Augen gen Himmel, rufe mich zu dir, sagte sie leise, wo keine Sünde ist, und kein Verbrechen dein schwaches Kind irre leitet!

Wollen wir noch einen Gang im Freien machen? sagte die Baronin aufstehend. Die Luft wird Allen nach dem gestrigen Tanze wohlthun. Sie hatte nicht viel auf die Vorlesung geachtet, ihr lagen andre Dinge im Sinne, daher sie auch, sobald sie einige Schritte mit Luisen vorausgerückt war, anhub: Wir verlassen Sie diesen Nachmittag, liebes Kind, es ist Zeit, glauben Sie mir, auch für Emilien! – Fürchten Sie, fiel Luise ein, daß [158] Fernando? – hierüber bin ich eben so wenig als irgend jemand im Irrthum, erwiederte sie etwas heftig, allein, Emilie wird unsicher in sich selbst, und das könnte ihrem Gefühl grade eine Richtung geben, die mir nicht willkommen wäre. Wenn ich sie bis jetzt mit scheinbarer Sorglosigkeit sich selbst überließ, so geschahe das auf die Ueberzeugung hin, daß ich sie in jedem Augenblick verstehe, und bei der Gewalt, die ich über sie habe, einlenken kann wenn ich will. Emilie ist sehr unbefangen hingebend, aber auch eben so fügsam in die Nothwendigkeit äußrer Verhältnisse. Sie schließt sich an, und wendet sich ab, wenn es die Umstände gebieten, ohne sonderlichen Kummer zu empfinden. Mein Gott, unterbrach sie Luise, fürchten Sie denn nicht, daß, bey diesem steten Herumschweifen, ihr eigentliches Gefühl zu Grunde geht? Ihr eigentliches Gefühl? erwiederte die Baronin; verwechseln Sie doch damit ein flüchtiges Wohlwollen nicht. Die jungen Leute halten gemeinhin Eins für das Andre, und wenn man denn recht viel Aufhebens damit macht, so künsteln sie sich eine Leidenschaft zusammen, die sie und Andre erschreckt. Ueber die große Ruhe, ja Nichtachtung, mit der ich jede Bewegung in Emiliens Herzen kom men und schwinden sah, ist es bei ihr niemals recht zur Sprache gelangt, und ich denke, sie soll die Tiefe[159] und den Umfang ihres eigentlichen Gefühles, wie Sie sagen, unter ernstren Beziehungen kennen lernen. Hier ist sie indeß in einer mißlichen Lage. Wenn Fernando ein künstliches Feuerwerk vor ihr aufsteigen läßt, so ruft Stein mit seinen bilderreichen mystischen Worten Irrlichter aus der Tiefe, die sie vollends verwirren. Er hat gestern lange mit mir über sie geredet. Ich habe eine herzliche Achtung vor ihm, allein für Emilien paßt er nicht. Seine Welt ist nicht die ihrige, und eben, daß sie sich für einen Augenblick in jene könnte hinüberziehn lassen, machte unsre Abreise nothwendig. Von hier aus trennen wir uns alle. Stein geht mit Herrn Werner nach Berlin, Carl zu seinem Fürsten, und der Maler bleibt bei Fernando zurück. Luise sagte noch einige höfliche Worte, um sie länger zurückzuhalten. Lassen wir das, erwiederte jene, unsre Gegenwart hat Ihnen nicht wohl gethan; allein besser, wir reden davon nicht weiter! ich hätte vielleicht überall besser gethan, zu schweigen. Doch war es bei Ihnen ganz anders als bei Emilien. Die leidenschaftliche Heftigkeit Ihres Gemüthes war früher durch den steten Kampf aufgeregt, zu dem Sie eine verfehlte Wahl verdammt. – Bis dahin hatte es Luise noch nie gewagt, klar zu denken, daß sie besser hätte wählen können. Wie eine schwere, drückende, Kette schlang sich plötzlich [160] das Band, das sie an Julius fesselte, um ihr Herz. Tausend frevelhafte Wünsche flogen kreuzend an ihr vorüber; das Unmögliche zeigte sich aus der Ferne erreichbar; es trat immer näher und näher auf sie zu. Verzeihen Sie, sagte die Baronin, wenn diese Worte Sie verletzen. Sie sind nicht glücklich, liebes Kind; aber eben darum müssen Sie auf sich achten und Ihr Gefühl vor der Welt verbergen. Ein Wort, Luise, um Gotteswillen, ein Wort, flüsterte Fernando, der sich an sie herangedrängt hatte, ich kann den Druck nicht länger ertragen, der bittre Schmerz liegt auf Ihren gesenkten Augen, auch Julius – was ist vorgegangen? Gleich, lieber Fernando, erwiederte sie, in der tödtlichsten Angst, daß die Baronin alles hören werde, – so bald wir allein sind. Wann werden wir das sein, fragte er unmuthig, es umringt Sie ja immer die halbe Dienerschaft; wann denn, Luise; wann meinen Sie? Bald, bald; diesen Abend, sagte sie, sich schnell wieder zu ihrer aufmerksamen Gefährtin wendend. Nun denn! rief er, bis dahin! Die Baronin hatte sich zu Emilien gekehrt, und Carl trat in ihre Stelle an Luisens Seite. Liebe Gräfin, sagte er, ich habe Sie noch um Vergebung zu bitten, wegen des Lärmens von heute Morgen. O ich weiß, unterbrach sie ihm, ich weiß alles. Sie wissen? fragte er, Sie? Nein, Sie wissen nicht, [161] Sie sollen auch nicht wissen, bewahre Gott, das fehlte noch! Nein, setzte er hinzu, es war nur von dem kleinen Schreck die Rede. Ich hatte nicht auf die Kammerfrau gemerkt, die im Vorzimmer das Frühstück besorgte, sie hat denn auch mehr davon gemacht, als dran war. Julius kam sehr ungerufen dazu! Na, es ist vorbei, alles ist gut, Sie sind es doch auch? Gewiß, mein guter Carl, erwiederte Luise. Er hatte sie bei der Hand gefaßt, und ging einige Schritte mit ihr voraus. Nun, und Julius, fuhr er fort, hat auch weiter keinen Unwillen gegen den Italiener? Gegen Fernando? fragte Luise, die es wie eine Ahndung anflog, daß Werner etwas in Beziehung auf ihn und sie könne gesagt haben. Um's Himmelswillen, ist er denn auch in dem Streit vermischt? Nun, so halb, erwiederte Carl. Ich bitte Sie, sagte Luise dringend, was ist vorgefallen? Nichts, nichts, antwortete er, was Sie jetzt noch ängstigen darf. O ich weiß es dennoch! rief sie ganz trostlos. Fernando – Herr Werner hat von mir und ihm – sie barg das Gesicht in den Tuch und weinte. Wenn Sie es denn doch wissen, sagte Carl, so will ich es weiter nicht leugnen; ja, er sagte so etwas, mit dem kalten, spitzen Ton, was ich nicht ganz verstand, was doch aber so zweideutig klang, und wie ich es nicht leiden mag, daß man über Sie [162] redet. Ich bat mir eine Erklärung aus. Da lachte er höhnisch, und meinte, die läge in der Natur der Sache, wie er sich denn immer so gelehrt ausdrückt. Ich versicherte ihn aber, ich verstände ihn noch nicht. Mein Himmel, sagte er, was ist denn Dunkles darin, daß ein hübscher, junger Mann sein Glück bei einer hübschen Frau versucht? Nun verstand ich ihn freilich, aber es kochte auch alles in mir, ich hätte ihn mögen zum Fenster 'raus werfen. Er blieb aber fest und keck bei seinem Satz, und, wie nachher Julius herzukam und sich nach der Ursach unsers Streites erkundigte, wiederholte er auf eine recht geschickte Manier beinahe dasselbe, so daß er eigentlich nichts widerrief und man ihm auch nichts anhaben konnte; dabei sah er unverändert so ruhig und blaß aus, wie immer, indeß ich über und über glühete. Wir gingen darauf ruhig auseinander, aber Julius kriegte doch einen Stich weg, das merkte ich ihm an. Er zuckte ein paarmal mit der Oberlippe, konnte aber kein Wort hervorbringen.

Armer, armer Julius, dachte sie, als sie eben wieder das finstre Schloß betraten, und ihr eignes Leid und das seine ihr doppelt schwer auf's Herz fielen. Sie wollte fort, nach dem Landhause ihrer Mutter; von dort aus wollte sie Fernando schreiben und ihn dringend bitten, diese Gegend zu verlassen. [163] Ihr ödes, freudloses Leben, hoffte sie, solle so nicht lange währen. Sie machte im Geheim alle Anstalten zu ihrer Reise, und als ihre Gäste sie nun endlich gegen Abend verließen, suchte sie Julius auf, und sagte ihm so ruhig als sie konnte, daß sie schon längst den Wunsch gehegt habe, das Grab ihrer Mutter zu besuchen, und daher gesonnen sei, auf ein paar Tage nach ihrem kleinen Dörfchen zurückzukehren. Julius drückte ihr gerührt die Hand und sagte: geh' nur, meine Luise, wohin Dein guter Geist Dich ruft. Der Maler und Fernando kamen darauf, sie zu einem Spatziergang abzuholen, und alle Viere bestiegen die nahen Berge. Luise, sagte Fernando, als sich Julius, eben mit dem jungen Künstler in einem Gespräch verwickelt, abwärts wandte, ich erinnre Sie an Ihr Versprechen. Hoffen Sie nicht, mir zu entgehn. Bei allem was heilig ist, ich muß Sie sprechen. Sie zögern – Bei dem ew'gen Gott, Sie wissen nicht was Sie thun! Ich zerreiße alle Bande, ich ehre kein Gesetz, nichts mehr. Auf diesen Armen trage ich Sie weit, weit weg von hier, wo keine Pflicht Sie bindet, wo Sie nichts hindert, mein zu sein – jetzt – Luise – jetzt in diesem Augenblick! – Er trat mit einer Heftigkeit auf sie zu, daß sie zusammenfuhr und ihre Hände flehend gegen ihn aufhob. – Um Gotteswillen, eine Entscheidung![164] ich ertrag' es nicht länger! Der Traum von Freundschaft ist hin, ich fühle nichts als die glühendste, zerstörendste Leidenschaft; ich muß Sie sprechen, heute noch – gewiß, Luise, heute noch – oder wir sehen uns nie wieder, oder dieser Augenblick ist der letzte meines Lebens. Er trat dicht an den Abhang des Felsens; den Kopf weit vorgebeugt, sah er schwindelnd in den Abgrund. Ich will, ich will Sie ja sprechen! rief Luise. O, mein Gott, wann! fragte er mit einem wilden Blick. Ich weiß es nicht, sagte sie zitternd. Ach Gott! wie soll ich in der Todesangst – Nun denn, hub er milder an, diesen Abend, wenn alles schläft, dann erwarte ich Sie da drüben in dem stillen Buchengange vor dem Kloster. Luise schauderte zusammen. Fernando hatte sich schnell zu dem rückkehrenden Julius gesellt. Sie hatte nicht die Kraft, den Fuß von der Stelle zu bewegen. Wie gebannt stand sie an die Felswand gelehnt. Luise! rief Julius, Du wirst Dich in der feuchten Abendluft erkälten. Sie schwankte unsicher an seiner Seite zum Schlosse zurück.

Als nun in der Nacht die Uhr, welche die Todesstunde ihrer Mutter anzeigte, Eins schlug, hüllte sie sich in einen Shawl und ging, die Hölle in der Brust, dumpf und zagend zur Gartenthür hinaus. [165] Sie warf einen scheuen Blick auf Julius Fenster. Das Licht brannte hell dahinter. O Gott, dachte sie, wenn er ahndete – Sie lief, ohne sich umzusehen, mit klopfender Brust, bis sie plötzlich vor dem Mönch zurückprallte, der ihr wie ein Geist aus dem Gebüsch entgegentrat. So spät, sagte er verwundert, in dem kalten Nebel! – Ich muß, guter Vater, erwiederte sie, ohne zu wissen was sie sagte; ich muß, ich kann nicht schlafen – Armes Kind! rief er ihr wehmüthig nach. Armes Kind, wiederholte sie; ja wohl, armes, armes Kind! Sie weinte heftig, als ihr plötzlich der Anblick des nahen Klosters ein unbeschreibliches Grausen einflößte. Hier! rief sie, ohne zu wissen was sie mit diesem Hier ausdrückte. Fernando trat ihr entgegen. Sie sank schweigend an seine Brust. Täusche Dich nicht, meine Luise, sagte er sanft, Dir ist dieser Augenblick so erwünscht als mir; du hast ihn durch schwere, unnütze, Kämpfe erkauft. Die kleine Unruhe wird sich legen. Es war Luisen, als zupfe sie etwas am Kleide. Sie sah sich um; der Hund ihrer Mutter sprang spielend um sie her. Wie vor einem menschlichen Auge schreckte sie bei dem Anblick des kleinen Thieres zusammen. Ihr war, als müsse er Zeugniß der dunklen, verbotnen That ablegen. Ach Fernando! rief sie angstvoll, verbirg mich vor mir [166] selber. Ja, Unglückliche! rief eine bekannte Stimme, verbirg Dich in die innerste Tiefe Deiner Seele. Luise erkannte, laut schreiend, Julius. Wie das rächende Schicksal trat er vor Beide. Alle zurückgedrängte Gluth seiner entzündeten Brust flammte lodernd auf. Er griff Fernando heftig beim Arm. Verflucht! rief er, verflucht sei die Stunde, wo Dich Deine Mutter gebahr, unwürdiger Freund! Lösche Dein Verbrechen mit Deinem oder meinem Blute. Er warf ihm ein Pistol hin. Fernando hob es still auf. Sie stellten sich gegenüber. Luise sank sprachlos zu Boden, indem sie ihre Arme flehend gegen Beide aufhob. Um aller Heiligen Willen! rief der Mönch herzustürzend, haltet ein, ihr seid Brüder, Fernando ist mein, ist Violas Sohn; ich bin Eduard von Mansfeld! Der Knall beider zugleich abgedrückten Pistolen fuhr schneidend durch die Luft, ehe er noch endete; Fernando fiel blutend in seine Arme.

Zweites Bändchen

Erstes Buch

[1] [3]Nach langem Todesschlaf blickte Luise zuerst, wie durch einen Zauberspiegel, in die Umgebungen ihrer Kinderwelt. Hell, wie der Morgen des Lebens, stralten ihr die blaßrothen Wände ihres kleinen Zimmers in der mütterlichen Wohnung entgegen. Alles stand und lag hier wie ehemals. Die reiche Sammlung bunter Schmetterlinge, die Julius mit unsäglicher Liebe in der Schweiz und Italien für sie sammelte und in Rahmen von seltnen Holzarten einfassen ließ, hing wie sonst an den Pfeilern umher. Vom Kamin glänzten noch all die bunten Steinchen, Kristallspitzen und die tausend Spielereien, die er ihr ebenfalls von den Alpen und seinen andren Reisen mitbrachte. Ach! und die vielen Schildereien, unter denen sein Bild und das ihre so still aus jenen Tagen herübersahen, daß Luise unbewußt lächelte und durch die schneeweißen Gardinen des jungfräulichen Bettes wie in leichten, wogenden Morgenduft hineinsah.

[3] Ihr Innres war zusammengestürzt. Die Vergangenheit lag in dunkler Tiefe verschüttet, keine Spur führte dahin zurück, der gewaltige Schlag lag betäubend auf allen ihren Sinnen. Da traf ein leises Wimmern ihr Ohr. Sie richtete sich schnell in die Höhe, und sah Marianen, wie an jenem Tage, als der erste Schmerz ihr nahete, unter stillem Weinen an ihrem Bette stehn. Luise sah sie starr an, dunkle Gestalten schwebten an ihr vorüber, sie wollte sie festhalten, behielt aber nichts als das Bild des Todes. Schaudernd sank sie in die Kissen zurück. Allein das tiefe Schweigen ihrer Brust war nun gebrochen, die erstorbne Welt regte sich darin, und zahllose Erinnrungen fuhren wie Geister aus ihren Gräbern herauf. Von allen Seiten faßte es sie mit unnennbarer Angst, so daß sie laut aufschrie und die Arme fest auf der Brust zusammenschlang, als wolle sie das beginnende Leben darin ersticken.

Ihr banger Ruf hatte mehrere der Umstehenden herbeigelockt. Unter ihnen trat der alte Geistliche zunächst zu ihr hin, und fragte sie leutselig: ob sie irgend einen Schmerz empfinde. Aber Luise antwortete nicht, sondern ergriff mit Heftigkeit seine Hand, die sie vor wenig Monaten an Julius Seite einsegnete. Zufällig heftete sie den Blick auf die verschlungnen Hände. Der Trauring glänzte hell [4] an ihrem Finger, und mahnte sie, wie das leuchtende Antlitz des Greises, an den gebrochnen Eid. O mein Gott! o mein Gott! stammelte sie wiederholt, und verhüllte unter lautem Schluchzen ihr Gesicht in die Decke. Der fromme Alte sah sie verwundert an. Ihm war wenig von der Veranlassung ihres Kummers bekannt, und wäre er auch davon unterrichtet gewesen, er würde schwerlich Luisen verstanden haben, da er durch ein langes, gedrängtes Leben jeder Widerwärtigkeit nur mit stillem Sinn zu begegnen wußte. Wenn Sie sich etwas sammeln könnten, hub er nach einer Weile an, ein Brief des Herrn Grafen wartet schon so lange auf Sie, vielleicht würde Sie dieser beruhigen. Luise sah auf, ihre Thränen stockten, ihr war, als bräche das Strafgericht über sie ein. Zitternd, ohne Muth, das unvermeidlich scheinende abzuwenden, saß sie aufgerichtet im Bette. Der Prediger hielt diese beredte Zeichen für eine stille Einwilligung. Den Brief vor sie hinlegend, stand er auf, und eilte, durch ein Amtsgeschäft berufen, sich für den Augenblick zu entfernen. Luise erbrach das Siegel, ohne recht zu wissen was sie that, und las Folgendes:

»Laß Dich nicht von dem Anblick dieser Zeilen erschrecken, liebe Luise. Es steht alles besser als Du denkst. Fernando lebt, und wird im Kloster [5] bei den frommen Brüdern bald genesen. Ich bin ja nun auch nicht so unglücklich, als ich hätte werden können; und doch liegt es so schwer, so entsetzlich schwer auf meiner Seele, ich weiß auch nicht, wie das jemals anders werden soll! Ueberhaupt kann ich nicht mehr an den nächsten Augenblick denken. Es ist alles so losgerissen, so dunkel; ich weiß mich in nichts zu finden. Du eiltest auch so schnell vom Falkenstein! Ach Du hattest wohl Recht! Was solltest Du auch bei mir! Ich war Dir nichts, konnte Dir nie etwas sein! Ich habe das immer mit unsäglichem Schmerz gefühlt; aber es mußte so kommen, damit ich es Dir wie mir gestand. Nun ist alles aus; der lange, schöne Traum meines Glückes ist aus! Ach und ich habe Dich doch so sehr, so sehr geliebt. Sieh, ich könnte denken Du seist meine Schwester, und mit Dir reden wie ehemals. Aber dann fällt mir's mit Todesangst ein, daß du das nicht bist, daß es sonst anders war, und ich frage mich und Gott und die Natur, was Du mir bist. Sage mir, Luise, was bist Du mir denn? Ich könnte über die Frage den Verstand verlieren! Zuweilen ist's auch, als verwirrten sich mir alle Begriffe. Ich fodre Dich dann mit bittrem Trotz vom Schicksal, als mein heiligstes Eigenthum; ich will hin zu Dir, ich will [6] Dich fragen, ob Du ein theuer gelobtes Wort brechen, ob Du alle göttliche Ordnung verhöhnen darfst? Ach ich vergesse, daß mein Glück wie mein Recht nur in dem kunstreichen Gewebe zweier geschäftigen Frauen erwuchs, daß mein Sinn zufällig in die Dichtung verstrickt ward, während der Deine sie weit überflog, daß nichts von dem allen wirklich bestand, als meine Liebe, meine qualvolle Liebe, die nun, da die bunten Fäden zerschnitten sind, in meiner Brust ihr Grab findet. Ach Luise, Luise, wie elend sind wir! Ja, Du bist es auch; ich fühle es wohl, wie Reue und Sehnsucht zerstörend um Dich kämpfen, wie alles in der Zukunft Dich anzieht und abstößt, wie Du zwischen mir und Fernando, zwischen dem alten, befreundeten Jugendgespielen, dem Liebling Deiner Mutter, und dem heißersehnten, durch Blut und Sünde erkauften, Geliebten dastehst, und bei keinem, keinem die Ruhe Deines Herzens wiederfindest. Armes Kind! wärst Du hier, Dir wäre doch wohl besser! Denn ich – sieh, ich würde Dich in meine Arme nehmen und mit Dir weinen; wir ständen dann Beide an den Trümmern unsers Glückes! Aber nein, nein, bleib, o bleibe! Ich kann Dich nun nicht wiedersehn. Ich müßte Dich ja fragen, was Du [7] mir bist? und das weißst Du nicht, und ich nicht, und kein Gott kann mir's sagen.

Mir war leichter, als ich anfing mit Dir zu zu reden. Nun zieht sich wieder alles dicht um mich her; ich kann kaum athmen! Lebe wohl! ach lebe tausendmal wohl, Du schöne Frühlingsblume meines Lebens, Du hast Dir wie mir gelogen, der Sommer bleibt wohl ewig fern! Wärst Du todt, ich könnte sagen, was vergangen, ist dennoch gewesen; aber so ist nichts vergangen und nichts gewesen, und das süßeste Glück meines Lebens, ja mein ganzes Dasein, ist nur ein neckendes Traumgesicht. Noch schwebe ich oft am goldnen Saum des Traumes zwischen Wachen und Schlafen; wenn nun aber der volle bleibende Tag hereinbricht, dann muß ich vergehn wie alle Truggestalten der Nacht. O es ist erschrecklich, Luise, wenn uns die Vergangenheit so zur Lüge wird und wir hinter uns in das öde Nichts sehn!

Ich sollte Dir das alles wohl nicht sagen, aber Du fühlst es, um der Wahrheit willen, die in Deiner Seele ist und die nichts daraus verdrängen kann. Auch bestand ja von je mein lebendigstes Denken aus innren an Dich gerichteten Worten. Gönne mir noch eine Zeitlang die liebe Gewohnheit, sie ist mir zur Natur geworden.

Vielleicht freuet es Dich, wenn ich Dir sage, [8] daß der Mönch seine Liebe und Sorgfalt zwischen mir und dem wiedergefundnen Sohne theilt. Du weißst ja wohl? oder weißst Du nicht? Er meint ja, Du habest die letzten Worte gehört, und seiest erst, nachdem Fernando fiel, verschwunden. Ja wohl, verschwunden! Vergebens strecke ich meine Arme nach Dir aus; das Luftbild ist zerronnen, meine Luise bleibt ewig fern.

Man sagt, Du seiest krank. Ich kann das wohl begreifen; und doch erschrickt's mich nicht wie sonst. Der Tod scheint mir so wünschenswerth, so lösend und beruhigend. Ganz anders fühl' ich die Schmerzen Deiner Seele.«

Luise ward für den Augenblick ruhiger. Fernando lebte, Julius redete zu ihr, keines seiner Worte verdammte sie, ihr Vergehn erschien ihr weniger groß, seit der Ausgang der letzten Begebenheiten milder war als sie fürchtete.

Nach und nach ward es heller in ihrer Seele. Sie konnte das Einzelne festhalten, ansehn und erkennen. Nur war ihr die Zeit zwischen jenem blutigen Ereigniß im Walde und ihrem jetzigen Erwachen ganz entfallen. Sie sann lange darauf, wie sie hieher gekommen sei, konnte aber nichts als einzelne vorüberfliegende Erinnrungen auffinden.

Mariane saß indeß unermüdet zu ihren Füßen und schien bereit, das lange Schweigen auf den [9] ersten Wink zu brechen. Daher schöpfte sie tief Athem, als Luise sie nach den nähern Umständen ihrer Reise befragte, und erwiederte, nachdem sie die letzten Ereignisse noch einmal überflog: Lieber Himmel, gnädge Gräfin, das ging alles so wunderlich zu, daß ich's noch heute am Tage nicht zu erklären weiß. Es war fast Mitternacht, als ich Sie vorigen Mittewochs ausgekleidet hatte, und mich ebenfalls anschickte, schlafen zu gehen, da trat Georg noch zu mir in die Stube, setzte sich still in einen Winkel und sagte lange kein Wort. Ich wußte nicht, was das zu bedeuten hatte, und sahe ihn verwundert an. Jungfer, sagte er endlich halblaut, es geht hier was vor, es ist seit einiger Zeit ein gewaltiges Gepolter in den langen Gängen. Gestern fiel's in der Rüstkammer, daß der Boden dröhnte. Ich sagte es heute Morgen dem Herrn Grafen. Wir gingen hinein, und fanden das breite Schwerdt mit dem Siegelring am Knopf, von dem ich Ihnen oft er zählte, halb aus der Scheide heraus, am Boden liegen. Der Herr Graf nahm's auf, besah's und hing's still wieder an, aber der Nagel war in der Mauer los geworden und fiel heraus. Da hat's der Herr Graf mit auf sein Zimmer genommen. Jungfer, das ist ein Unglückszeichen. Der Todesengel wird kommen und sich's abfordern. Sagen Sie, daß ich's gesagt habe.[10] Heute ist's nun schon dreimal um das Schloß geritten, und so oft ich hinaus sah, war nichts da. Gott bewahre uns! rief ich, was sind das für wunderliche Grillen! aber ich zitterte, wie ich das sagte, und konnte den alten Georg nicht ansehn, der mir in der Angst ganz fremd vorkam. Da rief er mit einemmale: Herr Jesus, was war das! Ich hatte nichts gehört und nichts gesehn; aber ich erschrak so, daß ich mir mit beiden Händen die Augen zuhielt und nicht eher wieder aufsah, als bis der Jäger fluchend hereintrat und den fremden Herrn verwünschte, der nichts als Teufeleien im Schlosse anfange, wodurch ehrliches Gesinde geschoren werde. Er solle, sagte er, noch spät in der Nacht mit einem Handpferde nach Harzgerode reiten und dort Order erwarten. Der Herr Graf sei auch noch ausgegangen, das alles gelte sicher so ein italienisches Stückchen, eine Streiferei im Gebürge, die der Fremde angezettelt habe. Georg saß während dem immer noch mit gefalteten Händen, sein kleines schwarzes Mützchen weit über die Augen gezogen, ohne ein Wort zu sagen. Ja, ja, der Fremde! rief er jetzt, schob sich die Mütze aus den Augen und wankte zur Thür. Der Jäger folgte ihm. Ich war nun ganz allein, und so angst und bange, daß ich mich aufs Bett warf und die Decke dicht über den Kopf zog. Zuletzt mochte ich wohl eingeschlafen [11] sein, als ich's leise um mich herum gehen hörte. Der Athem stockte mir, ich zitterte am ganzen Leibe, und konnte nicht einmal beten, so schnürte mir's die Brust zusammen. Da hörte ich meinen Nahmen; es zog erst sacht, dann stärker an meiner Decke, eine Hand fuhr mir über die Augen, so daß ich sie halb öffnen mußte; da standen Sie, gnädige Gräfin, nein niemals werde ich's vergessen, Sie standen in den langen, dunkelrothen Shawl gewickelt, blaß wie der Tod neben mir, und sagten mit zitternder Stimme: steh auf, Mariane, laß anspannen, wir müssen fort, geschwind, geschwind. Ich weiß nicht, wie ich auf die Beine und zur Thür hinaus kam. Im Flur stieß ich auf Georg. Ich wiederholte ihm Ihren Befehl. Schon gut, sagte er, ohne weiter zu fragen, als wisse er alles. Ich konnte mich lange nicht finden, endlich erinnerte ich mich, daß Sie schon am Vorabend Anstalten zur Reise machten, daß ich eingepackt hatte und noch mancherlei besorgen müsse. Als ich nach einer Weile zu Ihnen zurückkehrte, standen Sie noch, wie zuvor, an mein Bett gelehnt, ohne sich um etwas zu bekümmern oder weiter zu befehlen. Endlich fuhr der Wagen vor. Auf sein erstes Geräusch gingen Sie zur Thür. Georg öffnete sie und sagte: es ist nun so weit. Im Hofe fanden wir das Gesinde versammelt. Der Jäger hielt zu [12] Pferde mitten unter ihnen. Im Walde, hörten wir, sei ein Schuß gefallen, einer sei verwundet, der Herr Graf sei auch dabei; mehr konnten wir in der Eil nicht erfahren, denn Sie, gnädige Gräfin, riefen wiederholt: fort, um Gotteswillen fort! Ich und die Andern glaubten Anfangs, Sie wollten nach dem Walde fahren, der Kutscher lenkte auch dahin; aber als wir bei dem Wasserfall vorbei kamen, sagten Sie aufs neue: Mariane, mach' daß wir nach Quedlinburg kommen, aber bald, recht bald! Wir nahmen den Weg dahin. Sie legten darauf den Kopf auf meine Schulter und schienen einzuschlafen. Da ward mir nun vollends erst recht beklommen. Sie lagen so kalt und unbeweglich in meinen Armen, dazu ward die Nacht immer finstrer, ich konnte nicht vor, nicht neben mir sehen, und wenn wir denn so hart an den Bäumen hinfuhren und die langen, dürren Zweige oft raschelnd an die Wagenfenster schlugen, dann fuhr ich zusammen und wußte vor Angst nicht meines Bleibens. So lange wir im Gebürge reisten, kam mir's immer so vor, als ritte jemand neben dem Wagen, ich konnte aber nichts erkennen. Gegen Morgen zu hörte ich auch einmal ein Pferd dicht neben mir schnauben, dabei pfiff es wie ein kalter Wind durch den Wagen. Mir schauderte, wenn ich an alles zurückdachte. Als wir endlich in die [13] Stadt kamen, redeten Sie ein paar Worte. Wir mußten Pferde wechseln, und Sie verlangten ausdrücklich, hierher gebracht zu werden. Nach einigen Stunden wurden Sie aber ganz still. Ihre Augen schlossen sich, die Brust flog wie im heftigsten Krampfe. So kamen wir hier an. Ich konnte vor Angst und Thränen kaum sprechen. Wir brachten Sie gleich in das nächste Zimmer und schickten eilends zum Doktor, der auch diese Tage immer hier blieb, während Sie im stärksten Fieber und dem ängstlichsten Schlaf dalagen und von nichts wußten, was um Sie vorging. In vorletzter Nacht ward der Doktor abgerufen. Er sagte, er müsse fort, versprach aber, heute vor Abend hier zu sein. Ich bin, so lange er fort ist, ganz trostlos gewesen. Ich glaubte gewiß, Sie müßten nun sterben. Ach Gott! was wäre dann aus mir geworden. Sie beugte sich bei diesen Worten über Luisens Hand, die sie unter stillen Thränen küßte.

Mariane hatte kaum geendet, als ein Wagen in den Hof fuhr, aus welchem Carl und der Doktor stiegen. Luise erfuhr nicht so bald, wer angekommen sei, als sie eine tiefe Beschämung fühlte, Jemand wiederzusehn, mit dem sie die letzten Tage auf dem Falkenstein verlebte. Sie war noch unschlüssig, ob sie nicht Carls Besuch abweisen sollte, als dieser schon hereintrat. Gottlob! rief er, Sie [14] eben. Aber lieber Himmel, wie sehn Sie aus! Er blieb eine Weile schweigend vor ihr stehen. Ich möchte mir eine Kugel durch den Kopf jagen, fuhr er fort, wenn ich denke, daß ich an allem dem Schuld bin! Und doch ist's so; mein verfluchter Streit mit dem Werner hat Sie erst recht in's Elend gestürzt. Und dazu verließen wir Sie wie feige Buben. Sie hatten nun die Qual im Herzen und Angst und Gefahr von allen Seiten, da mußten Sie sich wohl an den Gott sei bei uns selber wenden. Denn daß Sie unschuldig sind, darauf verwette ich meine Seligkeit! Lieber Carl, sagte Luise sehr erschüttert, lassen Sie das Vergangene ruhen. Es läßt mich aber nicht ruhen, fiel er heftig ein. Ich kann an nichts anders denken, und Sie, wenn Sie aufrichtig sein wollen, haben zuverlässig auch keinen andren Gedanken. Zu was sollen wir einander hintergehn und hin und her sprechen, während uns ganz andre Dinge im Sinne liegen. Ich kann mir wohl vorstellen, wie Sie sich innerlich abquälen und doch gegen alle, die um Sie sind, nichts äußern dürfen. Gewiß, Ihre Lage ist recht trostlos!

Der Doktor näherte sich jetzt, nachdem er draußen überall weitläuftige Erkundigungen eingezogen hatte. Nun es geht ja gut, sagte er, Luisens Hand ergreifend. Sein Blick ruhete dabei [15] mit seltsam zurückgedrängter Neugier bald auf Carl, bald auf Luisen. Sie müssen nur Ihr Gemüth beruhigen, fuhr er fort, denn was sich da verletzt und zerstört, kann ich nicht ausheilen, und das hat einen ganz erstaunlichen Einfluß auf den Körper. Das ist wohl leicht gesagt, unterbrach ihn Carl, aber beruhige einer mal, wenn es so recht wurmt und sticht. Der Doktor zuckte die Achseln. Der Wille thut viel, sagte er, indem er den Mund etwas nach der Seite und die Augenbraunen zusammen zog, was er gewöhnlich that, wenn er gerührt war, und dennoch die äußre, mit seinen Geschäften verbundene, Ruhe behaupten wollte. Der Wille – wiederholte Carl, den hat erst alles recht zum Besten, Menschen, Umstände und so mancherlei in uns, was ich nicht nennen kann, was aber recht wie der Teufel hinterm Busche 'rausguckt und einen anpackt, daß man nicht wieder los kann. Das, dächte ich, hätten wir erst gestern gesehn. So ein gescheuter Mann, so fest und ruhig, und nun hin, daß es ein Erbarmen ist. Der Doktor winkte hier Carl bedeutend. Ja so! sagte dieser, und trat einige Schritte zurück. Der Doktor redete hierauf noch einiges mit Luisen und setzte sich dann, eine Zeitschrift aus der Tasche ziehend, in ein Nebenzimmer, um zu lesen.

[16] Carl, sagte Luise, der jener Wink nicht entgangen war, ist es Julius, den Sie eben jetzt meinten? Ich bitte Sie um Gotteswillen, sagen Sie mir die Wahrheit, ist er krank? gefährlich krank? Weiß der Himmel! rief jener nach kurzem Besinnen, wie mir's bei Ihnen mit meinen Geheimnissen geht! Wenn ich einmal unversehens anschlage, so kommen Sie gewiß gleich auf die rechte Spur und erfahren allemal was Sie nicht wissen sollen, denn ableugnen kann ich nicht, und auf solche Kunststückchen, Sie auf falsche Fährte zu locken, verstehe ich mich gar nicht. Also ist es so! rief Luise ganz außer sich. O Gott, auch das noch! Beunruhigen Sie sich nicht vor der Zeit, sagte Carl, das Schlimmste ist noch nicht da, ist vielleicht noch sehr entfernt; aber wahr ist's, Julius leidet viel. Ich traf gestern den Doktor auf dem Falkenstein, wohin ihn Georg in der Herzensangst rufen ließ. Julius hat ein paarmal heftige Fieberanfälle gehabt und sieht sich kaum noch ähnlich. Ich erschrak, als ich zu ihm hineintrat. Er saß da, bleich und abgefallen, wie ein Schatten. Guter Carl, sagte er, als ich ihm die Hand gab, Du hast es immer ehrlich mit mir gemeint, in unsern Kinderspielen wie im Leben selbst; ich danke Dir. Mir gingen diese Worte durch die Seele. Sie klangen wie ein Abschiedsgruß. Ich betrachtete ihn schweigend. [17] So kurze Zeit, und diese Verändrung. Ich kam mir selber steinalt vor. Meine ganze Jugend sah ich mit ihm zu Grabe gehn. Du weißst doch, fuhr er fort, und die Welt weiß es wohl auch schon, was ich gefunden und verloren habe. Wollte Gott, rief ich, Du hättest nichts gefunden, so hättest Du auch nichts verloren! Das mag ich nicht denken, sagte er, immer gleich sanft und ergeben, Gott wollte sicher alles ganz anders, aber ein jeder von uns bat, wie es so oft im Leben geschieht, den eignen Wünschen gefolgt, und nun kreuzt sich's so bunt durcheinander. Du gutes, treues Herz! rief ich unaussprechlich gerührt, was hast Du denn dabei verschuldet? So manche Ahndung, sagte er ernst, flog warnend an mir vorüber, ich habe sie überhört, und selbst das Netz geschürzt, worin ich nun gefangen liege. Ich fragte ihn, wie er das meine; allein er schüttelte schweigend den Kopf, und sah vor sich hin, ohne weiter auf mich zu merken. Mir schossen die Thränen in die Augen, so oft ich ihn ansah. Deshalb ging ich hinunter in den Garten. Aber da war es nun vollends erst recht traurig. Das Laub ist in den wenigen Tagen ganz gelb geworden, vieles liegt vertrocknet auf dem Boden, dort in den langen Alleen rauschte es unter meinen Füßen, oder zitterte knisternd an den Zweigen. Ich ging rasch an dem Rasensitz vorüber, [18] wo wir den Tag versammelt waren, als die Bergleute kamen, es war mir gar zu wehmüthig, an die kurze Freude zu denken; aber wo ich ging und stand ward mir zu Muthe, als käme ich Nachts an einen Kirchhof. Ihre Blumentöpfe lagen meist vom Winde umgeworfen. Von dem einen Myrtenbaume hing die abgebrochne Krone am Bande, womit er angebunden war, und schlenkerte in der nassen Luft hin und her. Ich mochte nicht zu Ihren Fenstern aufsehn, und machte daß ich wieder in das Schloß zurückkam. Auf der Treppe begegnete ich dem Doktor. Ich befragte ihn über Julius. Er meinte, es sei in dem Augenblick vielleicht weniger Gefahr als man denke; allein es arbeite so vieles in seinem Innren, was über den Ausgang nicht entscheiden lasse.

Als ich am Abend mit Julius allein war, redete er sehr viel, und so schnell und heftig, wie ich es nie von ihm gehört hatte. Aber immer kam er auf den Vorgang im Walde zurück, und konnte sich nicht von den Erinnrungen losmachen, die ihn sichtlich ängsteten. Mir selbst ward ein paarmal ganz wunderlich, wenn er mich mit beiden Händen faßte und ausrief: Carl, denke Dir's doch, denke Dir's, es war ja mein Bruder, auf den ich zielte; Herr Jesus, wenn ich ihn getroffen hätte! Ich fragte ihn darauf, wie ihm das Pistol auch sogleich [19] in die Hand und er in den Wald gekommen sei. Ich weiß nicht, erwiederte er, wie ich mir selbst vorkomme, wenn ich an alles zurückdenke! Werners Worte lagen mir immer im Sinn und befleckten und zerrissen mir alles, was mir bis dahin allein lieb war, weniger um das, worauf sie deuteten, als daß sie überall laut werden konnten. Mir war den ganzen Tag, als sei der Boden unter mir aufgewühlt, ich konnte nirgend fest auftreten. Nach langem Hin- und Hersinnen nahm ich mir vor, mit Fernando recht offen zu reden, und zu überlegen, was so unberufne Urtheile könne veranlaßt haben. Ich ging in dieser Absicht den Abend spät nach seinem Zimmer. Die Thür war angelehnt, er nicht darin, wohl aber der Maler, was mich befremdete, schlafend im Nebenzimmer. So wird Luise vielleicht noch wachen, dachte ich, und wandte mich dorthin. Sie wollte am andern Morgen verreisen, und ich muß die arme zagende Seele zuvor noch beruhigen. Allein auch hier fand ich die Thür, die nach dem Vorsaal geht, nur angelehnt. Ich trat hinein, alles war still, Luisens Kleider hingen über einem Stuhl, ihr Bett war noch unberührt, sie selbst nirgend zu finden. In dem Augenblick überfiel mich eine Angst, daß ich mich kaum aufrecht erhalten konnte. Ich stellte das Licht auf Luisens offnen Schreibtisch und lehnte[20] mich an einen davor stehenden Stuhl, um Athem zu schöpfen. Meine Blicke fielen zufällig auf zerstreut liegende Papiere, deren Schriftzüge ich lange anstarrte, ohne zu wissen was ich las; doch nach und nach traten die Worte wie Nachtgesichte vor mich hin und fuhren schneidend in mein Innres. Ich besann mich; es waren fliegende Blätter aus Luisens Tagebuch, die vor mir lagen. Ihr Inhalt schüttelte mich wach. Ich erkannte damals, wie jetzt, die Qual, mit der sie rang, und beschloß, sie zu retten, gleichviel wie. Mit den Pistolen unter dem Arm, stürzte ich aus dem Hause. Im Hofe traf ich den Jäger, der aus dem Walde zurückkam. Ich fragte ihn, ob er dem Fremden begegnet sei. Ja wohl, sagte er, der muß was auf der Spur haben; ich sah ihn, durch die Schonung kommend, rechts über den Graben setzen und dann den Weg nach dem Kloster nehmen. Nach dem Kloster? fragte ich. Mich schüttelte es wie Fieberfrost. Sattle zwei Pferde! rief ich, reite nach Harzgerode und erwarte dort Nachricht. Ich weiß nicht recht, warum ich das sagte; ich dachte wohl an ein Unglück, an mögliche Flucht für Fernando; deutlich war mir nichts, selbst nicht mein Wille. Am Eingang der Buchenallee, die zum Kloster führt, sprang mir Luisens Hund entgegen. Er lief hin und her, bald vor- bald rückwärts. Ich folgte ihm athemlos, [21] mit klopfender Brust, wie ein Getriebener. Plötzlich stand ich vor Beiden. O erlaß mir – ich bitte Dich – – Er schwieg. Ach Gott, ich wußte ja das Uebrige und weinte aus Herzensgrunde mit ihm.

Luise hatte nicht den Muth, die Augen aufzuschlagen. Carls Worte fielen schonungslos in ihre Seele. Seine treue Schilderung zeigte ihr die Dinge wie sie waren, und gestatteten durchaus kein Verkleiden der Wahrheit, die sie derb anfaßte, und zwang, ihr in das strenge Antlitz zu sehen. Hier stand es mit Flammenzügen, die keine Macht der Erde auslöschte, sie habe das Böse herauf beschworen, dadurch, daß sie sich seinen frühesten Lockungen zagend hingab. Jetzt, das fühlte sie, hatte es sie berührt, und alles was ihr lieb war, bis auf die heiligsten Erinnrungen befleckt.

Der arme Julius, hub Carl auf's neue an, hat nun seit dem nirgend Ruhe. Er sagte mir einmal, was ihn am meisten quäle, sei, daß er nicht wisse, wo er mit den eignen Gedanken hin solle. In der Vergangenheit sei ihm alles zusammengestürzt, die vertrautesten Bilder sehen ihn fremd an, er suche und suche, und finde weder Kindheit noch Jugend. Die Zukunft aber stehe wie ein bleiches Gespenst da; ihn schaudre wenn er darauf hinblicke. Ich sprach ihm Muth ein, und [22] sagte, es könne ja noch alles besser werden. Was soll werden? fragte er; es ist ja nichts da, was werden könnte! Das ist mein Elend, daß nichts, nichts von allem dem wirklich ist, worin ich lebte, und ich nur wie eine dunkle Wolke an Luisens Himmel hinziehe. Es muß wohl so sein, wie er sagt, denn recht von Herzen ging es ihm, mir ward fast wie ihm dabei zu Muth.

Der Doktor war indeß, mit einem Licht in der Hand, vor die tausendmal gesehenen und besprochnen Schildereien getreten. Julius Bild, als Knabe gemalt, sprang in voller Beleuchtung hervor. Das Kind sah sinnend und sehr ernst aus großen etwas tief liegenden Augen hervor. Schlichtes Haar, nur an den Spitzen gekräuselt, theilte sich auf der Stirn, so daß diese, fast frei werdend, eine Falte über den Augenbrauen sehen ließ, die dem Gesichtchen etwas Ungewöhnliches, überaus Hohes, gab. Nur um den Mund schwebte ein kindliches Lächeln, das man fast schmerzlich nennen konnte, so wehmüthig fühlte man sich davon ergriffen. Ganz erstaunt getroffen, sagte der Doktor halbleise zu Marianen, die mit ihrer Arbeit zunächst dem Bilde saß; nicht wahr? zum sprechen. Luise hielt sich nicht länger. Ja, ja, es spricht! rief sie. Du liebes, frommes Kind, öffne nur den verschloßnen Mund, und nenne mein Leid und das Deine! [23] Der Doktor wandte sich erschrocken zu ihr. Er glaubte sie zu sehr im Gespräch mit Carl vertieft, um auf jene rücksichtslos gesprochnen Worte zu achten. Luise begegnete seinen Blicken, die sich voll gutmüthiger Theilnahme auf sie richteten. Lassen Sie immerhin Ihr Gefühl laut werden, mein alter Freund, sagte sie gerührt, das Schweigen ist nun gebrochen; ach! und es liegt ja auch ohnehin alles so hell am Tage, mein Unglück und mein Vergehn!

Der Doktor ward lebhaft von der großen Störung eines ruhig bürgerlichen Verhältnisses ergriffen, das früher unter seinen Augen entstanden und in seiner Gegenwart bestätigt war. Diese Störung mehr als das persönliche Leid in's Auge fassend, sagte er mit finsterm Ernst: mein Gott, wer hätte dies vor einem halben Jahre denken sollen, als wir alle das letztemal hier versammelt waren. Ich ahndete es lange, erwiederte der alte Geistliche, der von den Andren unbemerkt schon eine Weile im Zimmer war. Mir stellten sich recht wider Willen unheimliche Ahndungen in den Weg, und im entscheidenden Augenblick ging ich zum erstenmal im Leben zagend an meinen Beruf. Tod und Leben begegneten einander so wunderbar auf demselben Wege Die befangnen Sinne faßten alles unsicher auf, Niemand verstand sich selbst, der Schmerz [24] riß Alle im Taumel fort. So im Streit mit Gottes Willen und den eignen Wünschen soll der Mensch nicht über sich bestimmen wollen. Die Liebe sollte siegen, aber der Tod mit seinen Qualen drängte sie zurück.

Carl stand mit gefalteten Händen vor dem Greise. Reden Sie nicht mehr vom Tode, sagte er erschüttert, ich habe ihn seit gestern immer vor Augen, und das ängstet mich entsetzlich. Der Alte sah den frischen lebenslustigen Jüngling an, nahm seine Hand und sagte: nun, so wollen wir vom Engel des Friedens reden, der alle bösen Träume und auch den Tod verjagt. Er sei uns hier und dort nahe.

Alle schwiegen. Luisen faßte ein leiser, wonniger Schauer. Der Friedensengel neigte sich zu ihr und küßte ihre wunde Brust. Dort und hier? dachte sie. Was birgt das dunkle Jenseit? Sollen dort Blumen blühen, die mir hier fremd waren? Ist der Himmel nicht der ewig Eine? Still dämmernd brach ein neuer Morgen in ihre Seele herein. Sie fühlte eine unaussprechliche Sehnsucht nach Julius, der versöhnend aus der Ferne winkte und das feuchte Auge voll Schmerz und Liebe auf sie heftete. Dahin, dahin, dachte sie, führt der Weg zum Himmel.

Haben Sie gelesen? fragte der Prediger, auf [25] Julius Brief zeigend. Ja, ach ja, erwiederte Luise. Und soll ich – fragte er weiter, soll ich – Nein, unterbrach sie ihn, ich will selbst schreiben, diesen Abend noch, gleich. Das ist recht, fiel Carl ein, das kann vieles wieder gut machen! O! ich hoffte es immer. Hm – sagte der Doktor kopfschüttelnd, und wandte sich ab. Der Riß ist einmal geschehn. Alle Theile sind aus ihren Fugen gesprengt, es hält schwer, so etwas wieder einzurichten. Ich weiß nicht, hub der Prediger an, was Ihre Worte bewirken sollen; aber rufen Sie einen stillen Sinn ans Licht, und den Willen, der zugleich demüthig ist und kühn, so machen Sie vieles gut. Luise drückte ihm schweigend die Hand. Bald darauf äußerte sie den Wunsch, allein zu sein, worauf sie Carl dringend bat, ihm ihre Aufträge nach dem Falkenstein mitzugeben, da er noch diese Nacht den Weg dahin antrete, und alsdann zum Onkel gehe, um dort den Klugen die Köpfe zurecht zu setzen. Die Baronin, setzte er hinzu, habe ihm gleich nach des Malers Rückkehr den fatalen Vorfall gemeldet. Ihre Worte haben wohl traurig, aber doch spitz und vornehm geklungen, weshalb er auch gleich hingewollt, zuerst aber doch zusehen müssen, wie die Dinge eigentlich stehen. Nun werde er wohl Rede und Antwort geben und die Seitenhiebe pariren können. Er ermahnte Luisen [26] noch einmal, alles anzuwenden, das Geschehene ungeschehen zu machen und die Dinge ins vorige Geleis zu bringen. Was mich anbetrifft, setzte er treuherzig hinzu, ich werde keine Mühe sparen, wobei er ihr zuversichtlich die Hand schüttelte und den Andren folgte.

Sie war nicht so bald allein, als sie mit möglichster Anstrengung das Bett verließ und zum Schreibtisch eilte. Ihr Herz klopfte ängstlich, als sie die Feder ergriff. Voll Reue und Vertrauen wollte sie sich dem einzigen Wesen hingeben, das sie auf dieser Welt über alles liebte. Wahr, wie vor Gott, im Bekenntniß ihrer Schuld an die treueste Brust sinken und den verhaltnen Schmerz und die Kämpfe der zagenden Seele laut werden lassen. Demüthig barg sie ihr Gesicht in die gefaltnen Hände und betete noch einmal still. Als sie aufsah, fielen ihre Augen zufällig auf ein Packet ineinander geworfener Papiere. Die Worte zogen sie unwillkührlich an. Es war ihr Tagebuch, welches Mariane in der Nacht ihrer Abreise vom Falkenstein gedankenlos mit andern Sachen zusammengerafft und hier in den offen gefundnen Schreibtisch geworfen hatte. Ach! jene Blätter, die Julius den Todesstoß gaben, lagen obenauf. Der bange Ruf aus jener Zeit riß sie fort. Sie las gleich zuerst:

[27]

»Was bedeutet die Angst, die mich bei des Fremden Anblick, ja bei seinem Nahmen, befällt! Alte Sagen sprechen viel vom Basilisken, dessen Blick vergiftend die fremde Brust berührt. Ich spüre etwas Aehnliches. Der seine zieht mein Herz zusammen. Und warum? Julius liebt ihn, er ist sein Freund. Was geht mich alles andre an! Und dennoch! Mir ist so bang, so wehmüthig! Ich möchte weinen über die schöne stille Zeit, die so rasch verflossen und so widrig gestört ist!

Kann die Natur auch lügen, oder sich in sich selbst widersprechen? Wozu all die Schönheit und Fülle und Herrlichkeit des Geistes, wenn alles ein Gaukelspiel ist und die Sünde und Arglist im Hinterhalt lauern! Ich war auch wohl nur eine Thörin! Das Fremde berührte mich vielleicht nur fremd. Ich werde mich versöhnen lernen.

Nein, nein, es ist vergebens! Ich finde nirgend Ruhe. Es peinigt mich die innre Unsicherheit und die wechselnden Eindrücke, die mich hin und her werfen zwischen Haß und Wohlwollen. Zuweilen besänftigt mich die leise, schmeichelnde Stimme, es wird still in mir, ich vergesse mich selbst und höre aufmerksam auf die Begebenheiten eines reichen Lebens. Dann fährt das Lächeln, das höhnende Lächeln, schneidend durch [28] mich hin; ich erschrecke und fliehe wie vor dem bösen Feind.

Haß und Liebe! – O hätte die erfahrne Frau doch nie gesprochen! Dies also, dies war die Todesangst? Und er weiß es, was mich quält und sieht vornehm darüber hin! Ich wußt' es nicht, ach nein, ich wußt' es nicht, darum mein Gott laß mich's auch bald vergessen!

Ich glaubte, es solle besser werden, die vielen Menschen um mich her werden mich zerstreuen; Ja wohl zerstreuen! das haben sie gethan. Weniger gesammelt als je, verliere ich mich in bangen unsichern Ahndungen. Anfangs war mir leichter, ich konnte freier reden zu allen denen die nicht wußten wie mir zu Sinne ist. Jetzt aber, jetzt –! O Gott im Himmel, du siehst die Angst die mich aus allen Sinnen drängt. Fremd, verlegen, sitze ich in dem bunten Kreise, ohne Muth mich selbst zu behaupten, ohne Kraft, heimlichen Angriffen zu widerstehn. Wie gebannt liege ich in den Schlingen, die eine freche Hand über mich zusammenzieht. Zuweilen mahnt mich noch ein innrer Ruf, ich reiße mich aus der eignen Erniedrigung empor, ich stemme mich gegen die Gewalt, die auf mich eindringt, ach, und wenn dann mein scheuer Blick den seinen streift, der so kalt und hoch über mich hinfährt, dann sinke ich wie ein [29] Kind zusammen, und beweine mein Elend und meine Thorheit. Es ist gewiß, seit er mich haßt, fühl' ich doppelt was mir ewig ein Geheimniß bleiben sollte. Wüßt' ich nur, wohin ich fliehen, an welche treue Brust ich mich verbergen könnte. Julius geht so still, so ruhig neben mir hin. Mein Julius – ach Gott bewahre mich vor dem Frevel, Dein reines Herz mit diesem Mißton zu verletzen! Die Baronin drängt sich wohl an mich, aber sie weiß nicht was sie thut. Ein Spiel, mein Kind, sagte sie diesen Morgen, ein freches Spiel treibt er mit ihnen. O fühlt sie's nicht, wie das die wunde Seele vollends zerreißt! Soll ich denn mit Gewalt verachten, was ich mit unsäglicher Qualund Verzweiflung liebe?

Es ist geschehen! Der Schleier ist zerrissen! Das innre Gift und meine Thränen nagten unaufhörlich an dem luftigen Gewebe. Was es verdeckte, liegt nun offen dar. Es ist laut geworden ihm und mir, was tief in Nacht das Licht scheuete. Was ist die Kraft, was der Stolz edler Naturen, wenn fremde Mächte so mit uns spielen! In sein Herz legte ich alle meine Sorgen nieder! Mir war so wohl, so unaussprechlich wohl. Der Friede lachte mir nach langem Streit. Ich war mit allem ausgesöhnt, ich scheuete Niemand, auch Julius nicht. Ach, ich hätte ihn umfangen und [30] mit voller Wahrheit an meine Brust drücken mögen! Kann der Himmel auch die Hölle bergen? Um ein paar vorüberfliegende Sonnenblicke zu erhaschen, gab ich Ruhe und Glück, ja das Leben selbst hin. Denn ist das ein Leben zu nennen, was unaufhörlich das Leben zerreißt? Wie Grabesnacht sehen mich meine Umgebungen an, und drüber hinaus zieht es wie ein buntes Spiel, das nicht zu mir gehört. O Erinnrungen, könnte ich euch ersticken, daß ihr nicht mit euren Zauberklängen die Sinne wach erhieltet! Aber immer, immer werde ich die Stimme hören, die bald schmeichelnd, bald drohend mein Ohr berührte. Sie riß mich fort; ich mußte folgen! Ich muß auch jetzt – O Julius, Julius! das herbste Gift ward Dir durch mich bereitet. Jetzt mußt Du alles wissen, das ist das härteste von allem, ich darf Dich nicht mehr schonen. Ach schonungslos zerriß ich ja Dich wie mich! –«

Luise legte das Blatt still vor sich hin. Das also, dachte sie, hat Julius gelesen; so unverstellt lag die Wahrheit da, daß ihm kein Zweifel, ach nicht eine arme Hoffnung übrig blieb. Was kann ich ihm jetzt noch sagen, als daß wir Beide untergehn und einer wie der Andre das Leben beweinen müssen!

Sie blieb lange Zeit nachdenkend, als Carl [31] auf's neue zu ihr hereintrat und sie ungeduldig fragte, ob sie geschrieben habe und ihn nun mit ihren Befehlen beehren wolle, da er im Begriff sei, abzureisen. Grüßen Sie Julius, lieber Carl, erwiederte sie verlegen, sagen Sie ihm, wie Sie mich gefunden haben; ich kann heute nicht schreiben, mir ist alles noch so verworren, ich brauche Zeit. Also nicht? unterbrach sie Carl; das ist Schade! Ich habe mich so gefreut! Und Julius weiß nun nichts von Ihnen; denn was soll ich ihm sagen, als daß Sie betrübt sind und nicht schreiben mögen? Guter Mensch, erwiederte Luise, ihm dankbar die Hand reichend, Julius weiß wohl mehr von mir, als Sie und ich ihm sagen können. Aber beruhigen Sie sich, er soll dennoch bald von mir hören, recht bald. Gewiß? fragte Carl. Gewiß, sagte sie, worauf er sich voll neuer Hoffnungen von ihr trennte.

Am andern Morgen sprach Luise noch einige Augenblicke den Doktor, der, ohne sie nach ihrem Wohlsein zu fragen, viel von der eignen Schlaflosigkeit und den beunruhigenden Gedanken erzählte, die er seit den traurigen Begebenheiten nicht los werden könne. Und wie er sich unaufhörlich der verstorbenen Mutter erinnere, die, nur in der Zukunft lebend, alles so wohl darin begründet glaubte, daß sie ohne Sorgen diese Welt verließ. Luise [32] drängte ihn über diese Betrachtungen mit der Bitte hinaus, ihr oft und bald Nachricht von Julius zu geben. Er zuckte bei diesen Worten unsicher die Schultern, und meinte, darüber lasse sich jetzt noch nichts Bestimmtes sagen, die Natur sei noch in der Arbeit, sie müsse erst selbst den Weg angeben, wo man ihr näher treten könne. Indeß zog er aus einer Brieftasche eine Pergament-Tafel, auf welcher er gewöhnlich alle bevorstehende Geschäfte, Krankenbesuche, Aufträge u.s.w. anzeigte, um auch jetzt Luisens Wunsch anzumerken und dem überhäuften Gedächtniß zu Hülfe zu kommen. Das früher Aufgeschriebene laut, und durch Nachsinnen unterbrochen, noch einmal überlesend, nannte er – Kloster Augustin. – Luise machte eine rasche Bewegung. Dort war Fernando. Eine flammende Röthe überzog ihr Gesicht, doch erstarb die Frage auf ihren Lippen. Hm – sagte der Doktor, ihre Erschütterung flüchtig beachtend, da steht es gut. Es war nur eine Streifwunde in der rechten Seite unter den Rippen weg. Die Mönche greifen uns in's Handwerk, und da es sogenannte Heilige sind, darf man nichts sagen. Hier, wo es nun nicht viel auf sich hatte, ging es mit der natürlichen Heilkunde wohl so ab, sonst haben dergleichen Pfuschereien schon manchem sein Grab bereitet. Der Herr Graf, fuhr er fort, indem er die Brieftasche schloß, und [33] wieder zu sich steckte, der Herr Graf forderten mich auf, als ich auf dem Falkenstein war, dem Kranken einen Besuch zu machen. Ich that es ungern, indeß bin ich belohnt worden. Es ist ein ganz scharmanter Mann, von überaus feiner Bildung, sehr zuvorkommend, und dabei von vielen und großen Kenntnissen. Er sagte dies Letztre theils aus Ueberzeugung, theils um Luisen, die er durch frühere Aeußerungen verletzt glaubte, wieder zu versohnen, wobei er gutmüthig verschlagen lächelte, der frühern schmerzlichen Rückblicke und sorgenvollen Aeußerungen uneingedenk. Als aber Luise ernst vor sich hinblickte, wechselte er auch schnell Ton und Mienen; wie aus einem augenblicklichen Vergessen aufgeschreckt und zutraulich ihre Hand fassend, sagte er: Gott stärke Sie. Ihre Gesundheit beunruhigt mich weiter nicht. Sie sind jung, fest, die Natur beruhigt, das hat nichts auf sich; aber, aber –! Nun leben Sie wohl! Er blieb noch einmal vor Julius Bild stehen und ging dann mit den Worten: es ist doch Schade, sehr Schade! aus dem Zimmer.

Luise blieb von da an still und in sich gekehrt, wie jemand, auf dem das Leben gewaltsam lastet und der im Innern keinen Ausweg zu finden weiß. Sie sah, sie sprach Niemand. Viele Tage vergingen ihr so, ohne daß sie den Muth hatte, ihr Zimmer zu verlassen. Die Welt, ja die äußre lebendige [34] Natur schien ihr fremd geworden, sie gehörte nicht mehr zu ihr, sie hatte sie ausgestoßen um der Frevel jener sinnverwirrenden Leidenschaft willen. An ihre Mutter konnte sie nur mit Bangigkeit denken, und nichts hätte sie vermocht, den Fuß in das stille Wäldchen zu setzen, das ihr Grab beschattete. Der Prediger kam wohl von Zeit zu Zeit zu ihr und brachte ihr Blumen, die er mit vieler Liebe aufzog; allein er setzte sie schweigend an ihr Fenster, und ging, ohne ihr düstres Sinnen zu unterbrechen. Einmal indeß, als sie ihm die Hand reichte und ihn mit dankbarem Blick begrüßte, sagte er: es arbeitet recht schwer in Ihrer Seele, ob durch Gottes oder fremde Macht, das muß sich zeigen, ich will's indeß nicht stören, da ich weder etwas nehmen noch geben kann. Doch lassen Sie es bald Tag in sich werden.

Noch am nemlichen Tage rief Luise Marianen zu sich. Ich muß ihn sehn, sagte sie, ich kann nicht eher ruhig sein, darum wollen wir fort, morgen oder heute noch – aber ganz in der Stille; hörst Du? Wohin denn? fragte Mariane zagend. Wohin? wiederholte Luise; kannst Du fragen? nach dem Falkensteine. Mariane schlug freudig in die Hände. Gottlob! rief sie, Gottlob! nun wird alles wieder wie zuvor, nun gehen die schönen Tage wieder an, das wird ein Jubel sein! Die schönen [35] Tage? sagte Luise wehmüthig; ach, armes Kind, die sind längst untergegangen. Ich will nur noch einmal beten, damit ich ruhig die Augen schließen möge. Liebe Mariane, wie könnte ich sterben, wenn ich mich nicht zuvor in Julius Armen mit Gott versöhnte! Doch, Mariane, Niemand darf wissen, wohin wir gehn. Nenne meinen Leuten den ersten, besten Ort; sage, Geschäfte zwängen mich zu einer Reise. In der nächsten Station nehme ich Postpferde; kein Mensch weiß dann, auf welchem Wege wir sind.

Mariane war so voll Hoffnung, daß sie alles schnell betrieb, und sie nach wenigen Stunden schon im Wagen saßen. Bei den trüben herbstlichen Tagen und schlechten Wegen konnten sie indeß nur langsam reisen. Luisens Herz klopfte voll banger Ungeduld. Oft beugte sie sich zum Schlage hinaus und maaß mit unruhigen Blicken den Raum, der sie noch vom Ziele ihrer Reise trennte. Am Abend des folgenden Tages kamen sie endlich in die Nähe vom Falkenstein. Als Luise die Thürme der alten Burg erblickte, ließ sie halten. Den übrigen Weg wollte sie zu Fuß zurücklegen, deshalb stieg sie, von Marianen begleitet, aus, und befahl dem Postillon, sie zu erwarten. Wie sie ging, rauschten die Wipfel der alten Tannen in wunderlich gebrochnen Tönen; ein feuchter Wind blies ihr unbehaglich entgegen [36] und jagte das Gewölk über einzelne hervorblickende Sterne, so daß es oft ganz dunkel um sie her ward und die zagende Mariane nichts als den Schleier ihrer Gebieterin sah, der, vom Winde gehoben, Luisens Gestalt umspielend, wie eine weiße Wolke vor ihr hin zog.

Als sie in den Schloßhof traten, leuchteten ihnen einzelne Lichte matt aus dem obern Stockwerk entgegen. Das weite Portal stand offen, die Thorflügel schlugen knarrend im Winde hin und her, kein lebendiges Wesen begegnete ihnen. Einen Augenblick blieb Luise am Eingang stehen, dann aber eilte sie durch die langen Gänge hin in eine Gallerie zunächst an Julius Zimmer, welches, den innern Raum eines der Schloßthürme einnehmend, so weit von Außen hervorsprang, daß man von der Gallerie zu den Fen stern hinein in das Innre desselben sehen konnte. Luisens erster Blick traf den bleichen Julius, zusammengesunken, in einem Armsessel sitzend, den Kopf in die Hand gestützt, während die andre matt zu dem kleinen Hunde hinabhing, der neben ihm auf einem niedren Tabouret lag, und von Zeit zu Zeit liebkosend an ihm aufblickte. Nach einer Weile fuhr Julius wie aus einem Traume auf. Er stand auf, schwankte zum Clavier, auf welchem er einzelne tiefe Akkorde anschlug, deren bebende Töne Luisen zu rufen schienen. [37] Ohne weiteres Besinnen öffnete sie in dem Augenblick die Thür und sank sprachlos vor Julius nieder. Ach Luise, meine Luise! rief dieser in der heftigsten Erschüttrung. O Gott im Himmel, so sehe ich Dich wieder! Steh' auf, Du armes, liebes Kind! steh' auf, meine Luise! Er faßte sie in seine Arme, er kniete neben ihr. Die Stirn an seine Brust gelehnt, vergoß sie stille, selige Thränen. Weine nicht, weine nicht, bat er sie dringend; Du weißst ja, das brach mir von je das Herz; ach es ist noch darin wie ehemals! Ehemals! wiederholte Luise schluchzend. Julius sah sie fremd an – ja freilich, sagte er, langsam aufstehend, es ist anders wie ehemals! weit, weit anders! Er reichte ihr die Hand und führte sie zum nächsten Stuhl. Beide saßen eine Weile schweigend neben einander. Es ist doch schön von Dir, hub er endlich an, daß Du gekommen bist. Er stockte auf's neue. Plötzlich ließ er ihre Hand fahren, barg das Gesicht in sein Taschentuch und rief wiederholt: nein, nein, es ist nicht gut, daß Du gekommen bist! ach nein, es war so besser! Jede freundliche Täuschung flieht vor Deinem Anblick. Ich will auch gleich wieder fort, lieber Julius, sagte Luise; ich bin nur gekommen, Dich noch einmal zu sehn, meine Angst war so groß, ich konnte nicht mehr leben, bis Du wieder zu mir gesprochen hattest;[38] der Friede, dacht' ich – Ach Julius, wir sind Beide recht unglücklich! Sie wandte sich ab, um ihren Thränen freien Lauf zu lassen. Wie gut Du bist! sagte Julius; Du dachtest so viel an mich, Du kommst sogar zu mir! Ich habe das wohl geglaubt und recht gut gefühlt, wie viel Du littest. Du wirst auch nicht eher ruhig sein, bis Du mich zufriedner weißst. Deshalb will ich fort aus dieser Gegend, Deine Nähe thut mir nicht wohl, die meine drückt Dich. Ich will in der Welt umherstreifen, fremde Menschen suchen, wie jemand, der nirgend zu Hause ist. Seh' ich doch all mein Gut verschüttet, meine Heimath verödet; ich fliehe wie ein Vertriebener. Du gute Seele, fuhr er mildernd fort, als er Luisens heftigen Schmerz sah, Du treibst mich nicht; mein eignes, trübes Loos. Wir gehören nun einmal nicht zu einander. Ich wollte Dich vom Schicksal ertrotzen; den Trotz muß ich büßen. Sage das nicht, Julius, fiel Luise ein, sage das nicht, wir gehörten doch wohl zu einander, alles andre war ein Wahn. Nein, ach nein, erwiederte er sinnend. – Und wenn es dennoch wäre, fuhr er schneller fort – wenn – Herr Gott im Himmel! es war wohl alles nur ein Traum, Du kamst, mich zu wecken; wie schön Du bist, Luise, wie fromm und bittend Dein Auge! – Er hielt lange inne, als bekämpfe er sich selbst. – [39] Geh', gutes Kind, sagte er plötzlich mit verändertem Ton, geh' – Du thust mir wehe, unaussprechlich wehe. Luise stand scheu und zagend auf. Wohin gehst du? fragte er sanft. Zu meiner einsamen Wohnung, erwiederte sie, wo ich Niemand, ach Niemand mehr habe als meinen Gram. O Julius! rief sie, vor ihm niederknieend, Du weißst, ich bin nun ganz allein, gieb mir Deinen Segen, sage, daß Du mir nicht fluchst, damit Dein Andenken wieder rein in mir leben und Du mir dennoch schützend zur Seite stehn mögest! Niemals, niemals! rief er, sie heftig an seine Brust drückend, wird dies Herz eine feindliche Regung kennen! Wie sollte ich Dir fluchen, ohne mich selbst nicht tausendfach zu verwunden! Wie könnte ich Dein Bild vergiften, was mich, wie der Maienmorgen unsrer Kindheit, hell und friedlich ansieht! Nein, Du armes, verwaistes Kind, meine Liebe kann Dich nie verlassen! sie erfleht Dir den Segen des Himmels, der Dich jetzt geleiten möge! Er sagte diese letzten Worte leise, mit erstickter Stimme, indem er sich sanft aus ihren Armen wand. Luise schwankte zur Thür. Lebe wohl, ach lebe wohl, Du schönes Traumgesicht! rief er noch einmal im heftigsten Kampf. Luise machte eine Bewegung, zu ihm zurückzukehren; aber er verhüllte das Gesicht, als scheue er ihren Anblick. Lebe wohl, mein Julius,[40] sagte sie, in stiller Ergebung das Zimmer verlassend. Wie sich die Thür nun hinter ihr schloß, da schrie Julius, seines Schmerzes nicht mehr mächtig, laut auf. Luise schauderte zusammen, und dennoch hatte sie nicht den Muth, jene Thür wieder zu öffnen, wohl fühlend, daß es nicht die dünne Scheidewand, welche sie mit einem Fingerdruck wegräumen konnte, sei, die sie von seinem Herzen trennte. Sie faßte Marianen schweigend unter den Arm und zog diese mit sich aus der Gallerie. Also doch fort? fragte das weinende Mädchen, und wohin denn in der finstren Nacht? Zu dem ehrlichen Anton, im Walde, erwiederte Luise; doch komm, ich bitte Dich! Julius, der arme Julius! Hörtest Du nicht, wie ihn meine Nähe ängstet?

Sie eilten unbemerkt hinunter. Im Hofe warf Luise noch einen schmerzlichen Blick hinter sich und ging dann, still weinend, zu ihrem Wagen.

Nach einer Stunde hielten sie vor Antons Thür. Der Postillon fragte sie, ob sie hier übernachten wolle, in welchem Falle er seiner Wege reiten werde. Luise war es zufrieden, indem sie des andern Tages Pferde aus Ballenstädt bekommen konnte. Auf das Geräusch war die Frau aus dem Hause getreten. Sie erkannte nicht sobald Luisen, als sie freudig aufschrie und sie liebkosend in das bekannte kleine Stübchen führte.

[41] Luise ward im Hereintreten seltsam von einer Gestalt ergriffen, die ihr das helle Kaminfeuer in unsichrem, flackernden Lichte zeigte. Es war ein alter, sehr bleicher Bergmann, der, der Flamme gegenüber, eine Cither im Arm, mit geschloßnen Augen, fast regungslos da saß. Zu seinen Füßen spielte die kleine Marie, die, in die Händchen klopfend, wiederholt rief: mehr, mehr singen! worauf der Alte die Saiten rührte, und, die erstorbnen Lippen öffnend, folgende Worte sang:


Im Tannenschatten ganz allein
Den Berg hinan auf öden Wegen,
Wenn Sterne seh'n zum Wald herein,
Zu Hauf' in Wolken zeucht der Regen,
Da mag ich doch zum liebsten sein.
Ich klopf' an' Berg, ich sag' ein Wort
Davor sich's regt in seinem Herzen.
Mein Bub' erwacht am dunklen Ort
Und ruft nach mir, und will mich herzen,
Nur will die Steinwand noch nicht fort.
Mußt fort zuletzt, du Stein, so hart;
Mein Spruch kann härtre Ding' erweichen.
Horch! wie der Bub' schon drinnen scharrt.
Er wird den seltnen Schatz mir reichen,
Der ihm im Berg' zu Theile ward.
[42]
Ich weiß den Schatz, ich nenn' ihn nicht,
Er ist ein Gold ohn' alle Schlacken,
Und kenntet ihr sein süßes Licht,
Ihr Leut', ihr kämt mit Spat' und Hacken,
Und fändet doch den Holden nicht.
Ihn kann aus seinem finstren Grab
Nur ein sündlos Geschöpf erwecken,
Drum fuhr mein frommer Bub' hinab.
Im Anfang thät's mich doch erschrecken,
Nun schüttl' ich alles Bangen ab.

Die Frau hatte indeß, das Lied wenig beachtend, Stühle herbei geschoben, abgewischt und Luisen wiederholt zum Sitzen genöthigt, als diese sie unter innrem Schauern fragte, wer der wunderliche Alte sei. Es ist der wahnsinnige Claus, erwiederte diese leise. Sollten Sie den nicht auf dem Falkenstein gesehn haben? Er ist des alten Georgs Bruder, und streift überall umher. Ostern werden es vier Jahr, da verlor er sein einzig Kind, einen bildschönen Buben von funfzehn Jahren, der im Schacht verschüttet ward. Seitdem ist er irre geworden. Zu Anfang saß er Nacht und Tag auf der Felswand und pochte an, und hoffte, der Knabe solle ihm antworten. Damals mocht' er wohl das Lied zuerst singen, was er zeither gehend und stehend [43] hören läßt. Nun geht er nur ab und zu nach dem Berge, wo das Unglück geschah. Er sagt, es sei noch nicht an der Zeit. O er spricht Ihnen so vernünftig darüber, daß man wirklich denken sollte, es wäre alles so, wie's ihm vorkommt. Er thut keinem Menschen etwas. Zur Winterzeit kommt er zu den Leuten in die Häuser; da hängen sich die Kinder ordentlich an ihn, und keines sagt ihm ein Leidwort. Da oben hinauf, im Gebürge, erzählen sie, er sei von je absonderlich gewesen, und habe wunderliche Dinge gesprochen von dem was unter der Erde vorgeht.

Marie war indeß an den Alten hinangeklettert, und strich mit ihren kleinen Fingern die Saiten der Cither. Du! sagt' er ernst, schweig' jetzt, hörst Du nicht wie's im Feuer klingt? Ei, laßt's klingen, sagte die Frau, indem sie das Kind von seinen Knieen hob, und rückt Euch da ein Bischen von der Seite, damit die gnäd'ge Frau auch Platz finde. Der Alte sah sie finster an. Ihr sprecht, wie Ihr's versteht, sagte er; die Elemente reden seltsamlich mit einander, und geben Kunde von dem, was hier und dort vorgeht. Hat sie doch der alte Schlund geboren, der nun ächzt und stöhnt nach den rebellischen Kindern. Die kreisen derweil, und formiren in den Lüften und üben Gewalt über die Creatur, die sie nicht mehr versteht und ihrer [44] nicht Herr wer den kann. Dann aber hat Gott Erbarmen und sendet seine Engel, die wilde Brut mit dem alten Geist zu versöhnen, damit Friede werde im Himmel wie auf Erden. Mein Knab' war einer von diesen, er mußte hinunter in die Tiefe, und wenn er wiederkehrt, bringt er zum Unterpfand den reichen Schatz an's Tageslicht. Mein Knab' war schön wie die Engel sind, er verstand die Sprache der Thiere und jeden Laut in der Natur. Er hat mir's seitdem zu Nachts gelehrt, daß ich nun weiß was kommen wird, und ruhig bin. Des Alten Blicke leuchteten, während er sprach, er hob sich immer mehr und mehr, so daß er gerade und feierlich da saß, als er mit gehobner Stimme sagte: vernehmt Ihr des Windes Rauschen und das Schwirren der Vögel, die langsam durch den Wald hinziehn? Dazu bricht sich die Flamme in wunderlichen Farben und zischt wie der alten Schlange Ruf. Es nahet irgend ein sündbeladnes Haupt, und drüber hin zieht der Tod.

Luisen faßte ein entsetzliches Grausen. Mariane war schon längst hinter einen großen Schrank geflüchtet und verhüllte Aug' und Ohren. Da trat Anton herein; die Anwesenden flüchtig grüßend, wandte er sich zu seiner Frau, und sagte ihr, daß ihm ein Fremder auf den Fuß folge, der sich im Walde verirrt habe und hier den Aufgang des Mondes [45] abwarten wolle. Er zündete dabei eine kleine Handlaterne an, und machte sich bereit, wieder hinaus zu gehn, um, wie er sagte, den Leuten und Pferden des Reisenden ein Obdach im nächsten Holzschuppen zu suchen, derweil die Frau für das Abendessen sorgen solle.

Luise fürchtete auf irgend einen Bekannten zu stoßen, und bereuete sehr, nicht nach Ballenstädt gefahren zu sein, wo sie im Gasthofe ein einsames Zimmer finden konnte. Sie trat daher zu Marianen, dieser ihre Besorgnisse mitzutheilen, während ihre Wirthin draußen beschäftigt war. Von dem altväterlichen, weit hervorspringenden Schrank verdeckt, redeten Beide mit einander, als die Thür aufging, und der angekündigte Gast, im dunklen, weiten Reisemantel und mit heruntergeschlagnem Hute, eintrat. Ei, sieh da! rief er, zum Bergmann tretend, alter Gesell, treff' ich Dich hier? Wie steht's mit dem Golde, ist es bald heraufbeschworen? Die Sünde, sagte dieser, hat das Gold verflucht; Ihr müßt Euch erst entsündigen, ehe ich den Schatz hebe! Da wird's Weile haben! rief jener lachend, und warf Mantel und Hut auf den nächsten Sessel. Herr Gott im Himmel! schrie Luise, die beim ersten Ton der fremden Stimme bebte, und jetzt mit Entsetzen Fernando vor sich sah. Dieser wandte sich betroffen zu ihr. Von dem [46] eignen Geschick ergriffen, welches ihn unwillkürlich zu dem trieb, was er vermeiden wollte, blieb er eine Zeit lang unbeweglich vor ihr stehen, dennoch aber, sich bald darauf fassend, sagte er mit unsichrer Stimme, welche die innre Bewegung seines Gemüthes verrieth: Sie sehn, schöne Luise, wir können einander nicht entfliehn. Da sei Gott vor! rief sie heftig, indem sie eine Bewegung machte, als wolle sie den frechen Ausspruch Lügen strafen. Wo wollen Sie hin? fragte Fernando schmeichelnd. In der Dunkelheit können Sie unmöglich weiter reisen. Luise erinnerte sich, daß sie den Postillon fortgeschickt, und sich, unbewußt, die schmerzlichste Verlegenheit bereitet hatte. Wie gebannt stand sie nun in dem engen Stübchen, von der erwachenden Liebe und allen Schrecknissen ihrer Lage hin und her geworfen. Vor ihr Fernando mit der süßen, lockenden Gestalt, daneben der wahnsinnige Alte, der, mit geschloßnen Augen, wie im Traume, seltsame Töne auf der Cither anschlug. Ihre Sinne schwankten verworren umher. Lassen Sie mich! lassen Sie mich! rief sie wiederholt, als solle Fernando sie frei geben. Luise, sagte dieser sehr ernst, ich fühle was Sie sich, was Sie der Welt schuldig sind, sein Sie versichert, ich fühle das. An mir ist es zu gehn. Ich zögre auch nicht, so bald Sie's wollen. Nur hören Sie mich zuvor einen Augenblick. [47] Er führte sie zu einer kleinen Bank im nächsten Fenster, und sich behend auf den Rand derselben zu ihr setzend, fuhr er leiser fort: mißverstehn Sie sich nicht, liebe Luise, Sie sind aufgeschreckt, in sich zerrissen, unsicher, Sie wollen mir, sich selbst entfliehn! Geben Sie Acht, daß Sie sich nicht ganz elend ma chen. Glauben Sie mir, Ihr Streben ist fruchtlos, Sie reißen sich nicht von mir los. Das ist das Vorrecht reiner Seelen, daß sie nur ein Bild in dem klaren Spiegel ihres Innren dulden können und es für alle Zeit darin bewahren. Das ist so wahr, daß Sie jetzt, jetzt, wo Sie mich zu hassen meinen, dennoch einer zärtlichern Regung nicht Herr werden können, die aus Ihren Blicken, ja aus dem süßen Zittern Ihres ganzen Wesens, spricht. Sie erschrecken; aber ich muß es dennoch sagen, liebe Luise: wir können nicht anders, wir müssen einander ewig lieben. Luise wollte hier aufstehn; allein er hielt sie bittend zurück. Hören Sie mich aus, sagte er; ich gehe, so gewiß ich Sie liebe, wenn Sie es dann noch wollen. Wir sind nicht umsonst durch tausend schmerzhafte und herbe Aufopferungen verbunden, um uns, wie zwei feindliche Kräfte, zu fliehen, die, nach zufälliger Berührung, in ihrem Grimm auseinander sprengen. Sagen Sie selbst, ist in Ihrem Herzen wohl ein recht wahres Gefühl, das mich verdammt? [48] Was ist denn auch so Unerhörtes geschehn, das den Fluch des Himmels herabzöge! Die Natur ist mächtiger als alle menschliche Weisheit, daher verspottet sie jene kränkliche Verträge, die man ein Band der Gesellschaft nennt. Meine Luise, sei stärker als die Zeit in der Du lebst; gestehe Dir's nur, Du gehörst mir, mir, keinem Andern! O wie viel Jammer hätte uns meine Mutter erspart, wenn sie, die Formen verachtend, freier, ja freimüthiger handelte. Sieh, was davon herkommt, geselligen Verträgen zu Lieb, sich selbst und die Wahrheit seiner Gefühle aufzuopfern! Schone sie, schmeichle Du ihnen jetzt immerhin, Du bist doch mit ihnen zerfallen. Die Welt verdammt Dich, Julius ist für Dich todt. Luise schauderte schmerzlich zusammen, ein tiefer Seufzer drang aus ihrer Brust; sie fühlte es wohl, sie war verloren. Wie eine abgerißne Blüthe hing sie in der frechen Hand, die sie um alle Hoffnungen des Lebens betrog. Unfähig, zu reden, lehnte sie den Kopf abwärts an das kleine Fenster, und die Stirn fest an die kalten Scheiben drückend, starrte sie hinaus in die Nacht. Fernando neigte sich vertraulich zu ihr, so daß der warme Hauch seiner Lippen sie wie ein leiser Kuß berührte. Wie Musik umspielte sie dabei das weiche Flüstern seiner Stimme, das unwillkührlich ihre Thränen hervorlockte. Du weinst, Luise? fragte er sanft; Du [49] zitterst? erschrickst Du vor dem Gedanken, Niemand als mich zu haben, in dessen Brust Du die Welt, den Frieden und die Unschuld Deiner Seele wiederfinden kannst? Sieh um Dich, Du bist allein, ganz allein unter Menschen, die Dich nicht verstehn, nicht verstehn wollen. Im Kampf mit Dir selbst, zerreißst Du ein Leben, das so seelig, so unaussprechlich seelig sein könnte! Sei doch mitleidig gegen Dich selbst. Komm, fliehe mit mir. Dieser Augenblick entscheidet für uns Beide. Sieh, ich führe Dich in mein Vaterland, wo Du geliebt, wo Du glücklich sein wirst. Hier –? Was suchst Du hier? Was erwartest Du von Verhältnissen, die Dich hohl und kalt ansehn? Glaubst Du, die Freunde werden es Dir verzeihn, daß Du einen andern Weg gingst, als den sie Dir mit ihren Alltagsblicken vorzeichneten. Hoffst Du, Julius sei mehr als ein Mensch? Er verschmäht ein Herz, das sich und ihn belog. Komm denn, komm mit mir, Luise.

Georg! Georg! rief der Alte im Schlaf, laß Deine Thränen nicht so über die grauen Wimpern fließen! Sie tragen Dich auch bald hinunter. Hör nur, wie der Todtenvogel krächzt.

Mit schwerem Fittig fuhr jetzt eine Eule schreiend am Fenster vorüber. Luise sprang auf. Das Entsetzen gab ihr Kraft. Bleich stand sie vor [50] Fernando. Sie müssen fort, stammelte sie. Die Natur hat eine Sprache, die ich fühle, wenn ich sie gleich nicht klar verstehe. Umsonst häuft sie so nicht ihre Schrecken. Sie hat mich geweckt. Ich weiß es, Sie müssen fort. Der Tod trat zwischen uns. Wir scheiden. Geben Sie, eilen Sie, Fernando. Ist das Ihr Ernst? fragte er. Mein heiligster, erwiederte sie. Nun dann! rief er, auf Wiedersehn in einer andren Welt! Ich gehe in französische Kriegsdienste. Ich hatte dies beschlossen, ehe ich Sie hier traf. Ihr Anblick erschütterte mich. Das Leben sah mich noch einmal lockend an. Ich glaubte einen Augenblick an eine friedlichere Bestimmung. Sie wollen's anders. Ich gehorche. Sein Sie glücklich, recht glücklich. Mich reißt mein Schicksal fort! Ich stürze mich hinein, wie jemand der nicht vor, nicht hinter sich sehen mag, gleichviel wie's endet! Ich habe oft mit dem Leben gespielt, sagte er, bitter lachend; nun spielt es mit mir! Stürmen Sie nicht so wild in die dunkle Nacht hinein, unterbrach ihn Luise sanft; scheiden Sie milder, Fernando. Ach Gott! ich habe es wohl um Sie verdient. Mein Sinn ist wild, erwiederte er; unsre Liebe war's auch. Sie wissen ja, sie will ein blutig Ende, darum schicken Sie mich in den Krieg. O Fernando, Fernando! rief Luise erschüttert. Er stand erwartend vor ihr. Seine Blicke [51] lagen gespannt auf den ihren. Sie zitterte heftig, und hatte kaum noch Kraft, sich aufrecht zu erhalten. Eine rasche Bewegung, als wolle er sie umfangen, schreckte sie auf. Um Gottes Willen! rief sie, lassen Sie mich! Sie haben es gelobt, Sie müssen, ja Sie müssen mich verlassen. In ihrem scheuen Blick, in dem Entsetzen, das über das bleiche Gesicht hinfuhr, lag etwas Gebietendes. Fernando gedachte unwillkührlich jener Nacht im Walde. Nun denn, alter Camerad! rief er, den Bergmann aus dem Schlaf rüttelnd, so komm, geleite mich durch den Wald. Du kennst ja Wege und Stege. Laß die dumpfe Cither vor uns her klingen. Der wahnsinnige Greis taumelte vom Schemel, und Fernando unter den Arm fassend, schwankten Beide hinaus. Luise barg den Kopf an Marianens Brust, um die vorüberklingenden Töne der Cither nicht zu hören, die noch lange vernehmlich durch den Wald hinzogen. Wie sie fernab rauschten und endlich verstummten, ward es auch stiller in ihr; der innre Sturm sänftigte sich. Sie holte aus tiefer Brust Athem und blickte seit lange zum erstenmal ruhig gen Himmel.

Die Wirthin trat bald darauf mit dem Abendessen herein, fast ärgerlich, daß sie der vornehme Gast so schnell verlassen habe. Luise gewann nach und nach Fassung genug, mit der gesprächigen Frau [52] über vieles zu reden, was dieser lieb war, und als Anton späterhin hinzukam, hörte sie theilnehmend ihren aufblühenden Wohlstand rühmen, dessen Schöpferin sie war. So von sich selbst abgezogen, auf die stille Wirksamkeit einer glücklichen Familie gelenkt, stellte sich das innre Gleichgewicht ihrer erschütterten Sinne wieder her. Sie schlief die Nacht über, wie jemand, der einer großen Gefahr entronnen ist, und sich nun der Ruhe hingeben darf. In diesem Gefühl trat sie auch am folgenden Morgen die Rückreise an, von tausend Segenswünschen ihrer freundlichen Wirthe begleitet. Als sie indeß Abends spät so allein und verlassen die verödete Wohnung wieder betrat, und nun in dem engen Bezirk das Ziel wie den Ausgangspunkt ihrer früh beschloßnen Laufbahn umfaßte, da fiel ihr trübes Loos centnerschwer auf die zagende Seele. Alle freudige Gestaltungen ihres Lebens, die frühen Verheißungen von Liebe und Glück, alles, alles wich vor dem trüben Einerlei zurück, was ihr aus den menschenleeren, unbewohnten Zimmern entge entrat, die man sorglich bis zu ihrer Rückkehr verschlossen hatte. Ihr war, als öffne sich ein Gefängniß, wie sich der Schlüssel drehte und die verhaltne Luft aus der geöffneten Thür drang. So jung und so früh beendet, dachte sie, und sah betrübt im nahen Spiegel die blühende Gestalt, die in aller Frische [53] der Jugend Anforderungen an ein freudigeres Dasein machte. Fernandos Worte drangen aus dem Grunde ihres Herzens herauf, und schienen eine Entsagung zu verspotten, der Schmerz und Reue folgten. Wehmüthig gedachte sie der vorüberrauschenden Klänge der Cither. Hier war alles stumm und todt. Nur die trägen Schritte ihrer müßigen Diener unterbrachen die tiefe Stille um sie her.

Wochenlang schleppte sie dies beengte, dumpfe, Leben mühsam mit sich fort, als ein schöner Herbsttag mit seinen sinkenden Nebeln und der hell hervorbrechenden Sonne sie unwillkürlich in's Freie lockte. Ein klarer Luftstrom zog erfrischend durch das gepreßte Herz. Sie blickte um sich. Jenseits des Sees rollten sich die Dünste wie fallende Schleier zusammen, und zeigten ihr ein schönes, sonst so oft besuchtes Birkenwäldchen, das heut mit seinem goldgelben herbstlichen Schmuck fast fremd wie ein unbekanntes Eiland vor ihr lag. Sie ging den See entlang und trat in eine Fähre, die, durch ein Seil regiert, in das Wäldchen führte. Von dem ruhigen Wasserspiegel getragen, ward ihr leichter; die trübe Welt schien von ihr abgeschnitten, die kleinen kreisenden Wellen führten sie spielend in eine neue Heimath. So betrat sie das Ufer, und ging zwischen den Bäumen hin, der Landstraße zu, die hier vorüberführte. Ein lauer Wind trug vom nahen [54] Dorfe einzelne Töne eines Kirchenliedes zu ihr her. Sie erinnerte sich, daß es Sonntag und die Gemeine um den frommen Greis versammelt sei. Eine Liebe, dachte sie, wehet durch diese Stimmen. O mein Gott, du bist so groß und gut, du sänftigst in einem Augenblick alle Schmerzen einer trüben, langen Woche! laß deinen Frieden auch über mich kommen. Da raschelte etwas neben ihr in den welken Blättern. Ein Reisender wollte vorübergehen. Georg! rief Luise, ihn erkennend, Georg! wie finde ich Dich hier? Der Alte stand alsobald mit einem Briefe vor ihr, und reichte ihr denselben, ohne ein Wort zu sagen. Schnell das Siegel erbrechend, las Luise Folgendes:

»Liebe Luise! Ich versprach Dir bei Deinem Hiersein, bald diese Gegend zu verlassen. Ich halte schneller Wort, als ich es damals glaubte. In wenig Stunden trete ich eine lange, weite, Reise an. Mir ist wohl und wehe, nun es so weit kommt. Ach wir werden uns wohl so bald nicht wiedersehn! Lebe denn wohl, meine Luise! Lebe wohl, mein höchstes Glück auf Erden.«

Wie denn, Georg, sagte Luise, und er blieb zurück? Der Alte senkte weinend die Augen zur Erde. Wollte er mich doch nicht mitnehmen, stammelte er leise. Ging er denn so weit von uns? fragte Luise. Ach ja! ach ja! wimmerte Georg, [55] weit hin! – wohin ihn die zunehmende Krankheit zeither unablässig rief, in den Tod! der hat ihn nun gefaßt! O mein Gott! seufzte Luise. Beide konnten lange nicht reden. Schweigend wankten sie neben einander an das Ufer hin, und traten in die Fähre, ohne recht zu wissen, was sie thaten. Ueber das Wasser hin klangen die Töne aus der Kirche immer vernehmlicher. Georg faltete andächtig die Hände, und während Luise im dumpfen Schmerz das schlaffe Seil des Fahrzeugs aufrollte, begleitete er die fernen Stimmen folgendermaßen:


Noch schauen wir im dunklen Wort;
Noch reißt uns mancher Irrthum fort,
Und unser wankender Verstand
Hat abgewandt
Von Gott, oft Gottes Rath verkannt.
[56]
Zweites Buch

[57] [59]Ein Band nach dem andren hatte sich jetzt von Luisens Herzen gelöst. Die ausgestorbne Welt lag wie ein öder Kirchhof um sie her, in dessen kaltem Grabeshauch sie wie eine einsame Blume traurig hin und her schwankte. Ohne Liebe, ohne Hoffnung barg das Leben nichts mehr von allem, was allein Leben giebt. Jedes Geheimniß der innersten Seele schien ausgesprochen, jede Frage beantwortet, alles an seinem Ziel zu sein. Was sie that und was sie dachte, kehrte beziehungslos in sie selbst zurück, und drängte das Bild ihres verwaisten Daseins immer peinigender vor sie hin. Dazu verscheuchte der hereinbrechende Winter noch die letzten Spuren lebendiger Regsamkeit. Ueberall, überall war nichts als der Tod. Die einsamen Abende, die ewig langen Nächte, wanden sich drückend an der beklommnen Luise hin, die alles, bis auf die Träume, floh. Als lege sich der schwarze Saum der Nacht auf ihre Brust, so sah sie den Tag sinken und versank mit in die gestaltlose Dunkelheit.

[59] Aber wie auch Wünsche und Erwartungen welken, so daß sie wie dürre Halme höhnend auf den entschwundnen Frühling hinweisen, so regt sich dennoch tief an ihrer Wurzel die ewige Sehnsucht, die erst leise, dann immer mächtiger sich dehnend, das Innre plötzlich mit solcher Gewalt erfaßt, daß sich's, auf's neue aus sich herausgedrängt, mit schmerzlichem Verlangen in die bunte Welt stürzt und das ungekannte Gut an sich reißen möchte. Luise konnte sich tausendmal sagen, es ist vorbei, es ist alles vorbei! so ergriff sie dabei eine Angst und eine Ungeduld, die zerstörend mit der gänzlichen Trostlosigkeit und dem Druck ihrer Lage stritt. Unwillkührlich sann sie auf Rettung, maß und erwog, überflog augenblicklich die scharfgezognen Linien weiblicher Beschränktheit, träumte sich in ferne Länder, unter fremde Menschen, die ein helleres, freudigeres, Dasein an das ihre anknüpften und so eine neue Welt um sie her schufen. Nach Italien wandte sich am liebsten ihr Blick. Dort, dachte sie, wehen laue Lüfte, dort müssen die innren Schmerzen heilen und alle Sorgen vor dem ewig reinen Himmel fliehen. Aber auch hier schreckte sie Fernandos Bild wie eine Aegide zurück. Und dennoch säuselten die lauen Lüfte so schmeichelnd und lockten sie hinüber in wunderliche, verworrne Träume, in denen Wille und Verlangen seltsam kämpften.

[60] So in Widersprüchen verstrickt, fiel ihr Auge einst auf das elfenbeinerne Kästchen, welches Violas Bild und jene versiegelten Papiere enthielt. Luise öffnete es, als einzige Besitzerin von allem, was Julius zugehörte, und als Theilhaberin eines Geheimnisses, das hier nur näher bestätigt sein konnte. Wie sie die Haarflechte löste und die Blätter einzeln in ihre Hand fielen, zeigten ihr sogleich die ersten Worte, daß es Briefe der Markise an Viola waren, in welchen sie Fernandos nur zu oft gedachte. Mehrere durchlesend, fand sie einen, der sie mehr als alle andre ergriff, und folgendermaßen lautete:

»Wie dauerst Du mich, arme Viola! in Deinem strengen, farblosen Norden, wenn ich den reichen Schmuck und die Fülle und die Gluth unsrer blumigen Heimath betrachte! Kenne ich doch den lieben, beweglichen Sinn, der Dich wohl abwärts trieb, weil man ihn binden wollte, einst aber kosend, wie unsre erfrischende Seelüfte, über den bunten Schmelz des Lebens hinzog. Armes Herz! und Du sollst nun welken und vergehn unter den schweren Wolken eines fremden Himmels! Ich schreibe Dir aus meiner Villa, von dem wohlbekannten, niedren Balkon, nach der Wasserseite. Ach Viola! wie muß ich hier unsrer Jugend gedenken, und wie nun alles, alles so [61] anders kam, als wir damals träumten! Erinnerst Du Dich der stillen Nächte, wenn wir von hier, über den Golf hinaus, nach den fernen Küsten schauten, und Dein Gesang Dich, halb sehnsüchtig, halb in frohem Uebermuth, zu den ungekannten Ländern trug, und Du vermessen aus der Ferne Dein Liebesglück heraufbeschworst. Es nahete Dir, aber von einer andern Seite, als Dir es ahndete. Noch sehe ich, unter den Pinien dort, den schlanken, blondlockigen, Nordländer hervortreten, und sein Erscheinen sittig und schmeichelnd mit dem Zauber Deiner Töne entschuldigen, die ihn unwillkührlich angelockt. Lieber, unglücklicher Eduard! wo irrst Du jetzt umher, jene Nächte verwünschend, wie Du sie einst segnetest! Viola, das Myrtenreis ist nicht wieder gewachsen, was damals brach, als er sich zuerst zu dem Balkon aufschwang. Dein schöner Knabe tritt jetzt auf den halbtrocknen Stamm und arbeitet sich zu mir herauf, um mich zum Spielen zu zwingen. Er wendet sich unwillig ab, da er mich schreiben sieht, was er in den Tod haßt, geht nach dem Ufer, sich zu baden, und ich Thörin überwinde mich kaum, ihn gehn zu lassen. Du tadelst es, daß er uns alle beherrscht. Aber sieh nur den süßen Trotz in Aug' und Mienen, das schmeichelnde und gebietende Lächeln; Du [62] widerständest auch nicht. Und laß es doch! Wem die Natur das Herrscherstegel so aufgedrückt, der herrscht, wie man ihn auch demüthige. Vor so einem beugt sich die Welt, und wo ihm das Geschick entgegensteht, da zertritt oder überspringt er es, und wird dennoch nicht unglücklich. Du willst ihn also nicht sehn? Er soll nie Curen deutschen Boden betreten? Du selbst wagst Dich nicht in Dein Vaterland zurück? Und dies alles um eines Traumes willen? Wie bist Du so anders geworden. Wehet dieser Geist in Euren Wäldern? Du quälst und arbeitest Dich ab, eine Zukunft zu berechnen, die Dir so furchtbar in ihrer Dunkelheit ist. Liebe Viola, der Wurf ist gethan, Du setzest ihm kein Ziel. Stelle und sträube Dich, umbaue und verbirg Dich, thue was Du willst, das Unvermeidliche ereilt Dich dennoch! Und Zeit und Ordnung überfliegend, wagst Du, das tief verborgne Geheimniß zweier kindlichen Herzen auszusprechen? Im Saamen bestimmst Du die Frucht; vor der Entwicklung die Reife? Viola, erinnre Dich, daß das Glück solche flieht, die es mit Gewalt erfassen wollen. Weißst Du, ob, was Du bindest, sich nicht ewig meiden wird? Was soll Dein trübsehender, in Schmerz und Reue erzeugter Julius mit der reizenden kleinen Luise, die Dir, wie Du selbst sagst, so ähnlich ist, bei [63] deren heitrem Lächeln Du Dein eignes freudigeres Dasein noch einmal aufgehn siebst. Laß den armen Knaben Deine Schuld allein abbüßen und schicke mir das muntre Kind, damit ihr an Fernandos Seite ein blühenderes Loos werde. Aber ich tadle Dich und möchte eben jetzt dem Schicksal vorgreifen! Was kommen soll, wird geschehn! Niemand weiß, wie er endet! O könntest Du nur, wie ich, unsern holden Liebling sehn, wie er hier vor mir die schönen Glieder auf dem weißen Schnee der bläulichen Wellen wiegt, wie alles, Licht und Luft und die kleinen kreisenden Fluthen, mit ihm zu spielen scheint, und er dann von Zeit zu Zeit das Köpfchen hebt, die dunklen Locken schüttelt und unter den hohen Brauen zu mir hinsteht, als wolle er das ernstre Geschäft bannen und mich unwiderstehlich zu sich herabziehn. Armer Eduard! Arme Viola!«

O vermeßne, höchst vermeßne Viola! rief Luise, mit blutendem, gewaltsam bewegtem Herzen. Wie hast Du Dich an das Heiligste gewagt, und uns alle in Dein finstres Loos verstrickt! So nahe also, so ganz nahe lag mir mein Glück, und nun –! Ihr war, als hätten die Worte der Markise jene oft beweinten, immer noch lebendigen, Gefühle gerechtfertigt; ja sie sah sich als die frühere Verlobte Fernandos an, dem man sie absichtlich, widerrechtlich [64] entrissen habe. Von da an wich jede stillere Ergebung, alle Süßigkeit sanfter, auflösender Schmerzen aus ihrer Seele. Verzweifelnd sträubte sie sich gegen die Hand des Schicksals, die fremde Gewalten vernichtend auf sie gelegt. Jener einzige Blick in eine hellere Welt zog ihre Umgebungen so eng zusammen, daß sie oft schreiend aus der gepreßten Brust athmete. Einzig beruhigte es sie, sich augenblicklich in die von der Markise flüchtig angedeuteten Verhältnisse zu versetzen. Die bange Zeit zurückdrängend, ging sie, ein glückliches Kind, spielend an Fernandos Hand, dem weiten Meer entlang, das so lockend und sehnsüchtig aus der Ferne herübersah. Leicht bewimpelte Fahrzeuge segelten vorüber, auf ihnen, Männer in fremder Tracht, oder leicht verschleierte Frauen. Von der Landseite beugten sich hohe Orangen zu ihnen herüber; Fernando wand sich behend den schlanken Stamm hinan und ließ die glühenden Früchte in ihren Schoos fallen. Zwischen hin erschien die Markise, eine milde weibliche Gestalt, an deren Herzen beide ohne Schmerz und ohne Störung heranwuchsen und vereint die erweiterten Kreise einer geahndeten, unaussprechlich reizenden Welt betraten. Wie anders! rief sie dann, von der nackten, dürren Gegenwart aufgeschreckt, wie anders wär' es so gekommen! Und warum durft' es nicht so sein? – Sie konnte über [65] die Frage nicht hinaus, und verhärtete und erbitterte ihr Gemüth gegen alles, was das Leben ihr noch Trostreiches geben konnte.

So umgewandelt, schroff und herbe, sich gegen das unvermeidliche Verhängniß auflehnend, sank ihr Innres immer mehr zusammen, ohne daß ein lebendes Wesen, ein vertrauliches Wort es erfrischend berührte. Die leichtgeknüpften, frühern Verbindungen hatte Julius Tod meist gelöst, entferntere Bekannte schwiegen, verlegen, wie sie ihre Theilnahme äußern sollten, ohne der störenden Mißverhältnisse zu gedenken. Der alte Geistliche lag krank, schon seit Monaten mit eignen Leiden kämpfend. Luise hatte es immer verschoben, ihn zu besuchen, weil sie, wie so viele Unglückliche, von jedem Tage etwas Neues, Ungewöhnliches, erwartete und mit beruhigterm Gemüth an das stille Lager zu treten hoffte. Als aber alles blieb wie es war, und das Verlangen nach dem sanften Trost ihres alten Freundes sie einmal recht lebendig erfaßte, machte sie sich auf den Weg, und trat durch das sauber geschnitzte, von dunkler Vinca umrankte Gitter des Pfarrhofes, als folgende Worte einer weiblichen Stimme aus dem Hause herüberklangen:


Weiß auf weißem Grund gewoben,
Blumen, seid so bleich und fremd,
[66]
Hab' zum Brautschmuck euch erhoben,
Webte ja kein Todtenhemd.
Ach, ihr blasset, bunte Seiden,
Von der kranken Hand berührt,
Die im Spiel die eignen Leiden
Mühsam so herauf geführt.
Thau'ge Perlen, senkt euch nieder
Auf das luftige Gewand;
Schlingt euch um die Blumen wieder
In ein helles Thränenband.

Luise war indeß hineingegangen, und öffnete, da die Stimme schwieg, die Thür der Wohnstube, in deren Grunde ein schönes, bleiches Mädchen an einem Stickrahmen saß, und, überrascht durch ihr Erscheinen, von der Arbeit aufsah. Luise erkannte auf den ersten Blick eine frühere Gespielin, des Predigers Nichte, die vor mehrern Jahren sein Haus verlassen hatte, und jetzt, Luisen unbewußt, darin zurückgekehrt war. Willkommen, liebes Minchen! rief sie, von allen lieben Erinnrungen der Kindheit durchbebt, wie finde ich Sie so unerwartet hier? Sie kennen mich also dennoch wieder? fragte jene wehmüthig lächelnd. Wie sollte ich nicht, fiel Luise schnell ein; mir ist in diesem Augenblick, als sei noch alles wie sonst! wenn ich so kam und Sie abholte, und wir die ersten Veilchen [67] auf dem Kirchhofe suchten. Ich werde das nie vergessen! Ich sehe noch die kleinen Kränze, die wir dann an die Linden über die Kirchmauer hingen, und uns freueten, wenn sie nach mehrern Tagen noch frisch und duftend im Winde spielten. Beide wandten sich unwillkührlich nach dem Fenster, der Mauer gegenüber. Die alte Linde streckte ihre nackten Zweige in den kalten Winter hinaus, weißer Reif überzog sie und hing in starken Tropfen herunter. Wie in einem Spiegel den trüben Wechsel ihres eignen Lebens erkennend, senkten Beide die Blicke zur Erde. Sie hatten eine Schwester, hub Luise endlich wieder an, ein schönes, frohes Kind. Sie ist recht freudig herangewachsen, entgegnete Wilhelmine, und feiert in Kurzem ihr Hochzeitfest. Ich sticke eben jetzt das Brautkleid. Also nicht das Ihre? fragte Luise. Ein leises nein, o nein! bebte auf Wilhelminens Lippen. Sie war zum Rahmen getreten, und rollte in großer Bewegung den feinen Mußelin auseinander, um Luisen die Arbeit zu zeigen. Die weißen, leicht hingeworfnen Blumen riefen dieser die trüben Worte des Liedes zurück. Es ist wohl recht mühsam? fragte sie, ihre Erschütterung zu verbergen. Gar nicht, erwiederte Minchen, wieder gefaßt und freundlich. Ich kann nur bei Tage so wenig dabei bleiben; ich muß dem Onkel fast immer [68] vorlesen, wenn er nicht schläft, wie jetzt, daher arbeite ich meist des Nachts. Des Nachts? fragte Luise, so feine Stickerei? Warum nicht, entgegnete jene, dann ist alles so still und heimlich, Lottchen steht wie ein freundlicher Geist vor mir, ich sehe ihre hellen Blicke, und denke wie schön sie in dem Kleide sein wird, und alles geht leicht und gut. Der Alte rief aus dem Nebenzimmer. Wilhelmine eilte schnell zu ihm, kehrte indeß sogleich zurück, um Luisen zu dem guten Onkel zu führen, der herzlich nach ihr verlangte.

Während das sorgsame Mädchen, theils um den Kranken, theils in häuslichen Verrichtungen, auswärts beschäftigt war, sagte Luise dem Prediger, wie es sie überrascht habe, die alte Jugendfreundin so unerwartet zu finden, und wie sie sich freue, die liebreiche Pflegerin bei ihm zu wissen. Das fromme Herz! rief jener gerührt. Sie ringt so still mit dem großen Leid, das an ihr nagt, und überfliegt es oft, indem sie sich unaufhörlich in die thätigste Wirksamkeit für Andre verliert. Sie drückt der Schmerz nicht; er hebt sie und zieht sie unwiderstehlich zu denen, die noch etwas vom Leben erwarten, und denen sie freudig ihr ganzes Dasein opfert, ja sie schilt sich, wenn ihr eigne Sorgen den Sinn verfinstern und sie nicht mit der ganzen, lebendigen Kraft ihre seelige Bestimmung verfolgt. Und das [69] ist alles so lieb und natürlich und so klar empfunden. Ich wüßte nicht, fuhr er nach einer Weile mit erheitertem Blicke fort, ich wüßte nicht was ich auf Erden noch wünschen könnte, als in den Armen dieses Engels zu sterben. Wilhelmine trat hier, mit einem Blumentopf im Arm, herein, und ihn auf ein Tischchen neben dem Bette des Kranken setzend, sagte sie: die Veilchen hat mir Gärtners Riekchen so mühsam gezogen, und nun ist sie noch früher als die kleinen Blumen verblüht. Also doch gestorben? fragte der Prediger; Du hofftest gestern noch. Ja, sagte sie, die Augen waren so klar und sie kannte mich auch; aber das war auch das letzte Aufblitzen des kleinen Lichtchens. Die beiden andern Kleinen bringen mir eben den Blumentopf, und bitten mich um ein Krönchen für die Schwester. Das liebe Kind! Sie starb so fromm, und wußte recht eigen um ihren Tod und dachte an mich und an Albert, von dem ich ihr gesagt, daß er im Himmel auf uns warte! Das liebe, liebe Kind! Große Tropfen fielen aus Wilhelminens Augen. Sie wandte sich ab und ging still zur Thür, als der Onkel sie fragte, wo sie hin wolle. Zu den Kleinen, erwiederte sie, die warten auf mich, sie wollen die Krone mitnehmen; ich muß sie nur winden, die arme Mutter verlangt es nach dem letzten Schmuck ihres Kindes.

[70] Wer ist Albert? fragte Luise, als Minchen sie verlassen hatte. Ein junger Arzt, erwiederte der Alte, dem das arme Mädchen verlobt war. Ihre stillen Gemüther schlossen sich während einer langen Krankheit, aus der der milde Freund Wilhelminens Mutter rettete, fest aneinander. Derselbe Zug durch die Bedürftigkeit und Sorgen des Lebens hin den einzelnen Freuden nachzugehen und die arme Menschenbrust augenblicklich von dem großen Druck eines beengten Daseins zu erretten, führte sie zusammen, und machte ihre Verbindung zu der innerlichsten und heiligsten, als der Tod ihn wenig Tage vor der Hochzeit aus ihren Armen riß. Sie trug das herbe Geschick mit großer Kraft, und ist seitdem nur noch fester und innerlicher geworden, da sie nun nichts mehr auf dieser Welt für sich hofft. Aber in dem Maaße, wie sie sich in sich selbst abschließt, giebt sie sich Andren hin. Sie ermüdet nicht, jedem die Hand zu reichen, um ihn schnell durch die dunklen Gewinde irdischer Mühseligkeit durchzuhelfen, den klaren Blick dabei auf ein höheres Ziel richtend, dem sie still entgegengeht, wie sehr sie auch Schmerz und Sehnsucht oft beengen.

Der Alte redete noch lange so fort und erfrischte sich an dem reinen Stral des milden Gestirns, das den Abend seines Lebens erhellte, als Luise durch den sinkenden Tag an ihre Rückkehr erinnert ward. [71] Wie sie zu Wilhelminen kam, fand sie diese mit dem Kranze beschäftigt. Die beiden Kinder standen vor ihr und spielten mit der kleinen Fahne von Zittergold, worauf eben Riekchens Nahme eingeschnitten war. Luise sah den blaßgrünen Roßmarin in einander flechten, und drüber hin in den spitzen Blättern flockige Purpurseide, wie den letzten Stral des sinkenden Abendroths spielen. Ach Minchen! rief sie bewegt, an ihre Brust sinkend, Todtenkronen und Brautkleider gehen durch Deine Hände, Du umwindest Dir selbst den Pfeil, den Du so immer tiefer in die wunde Brust drückst.

Dies also, dachte sie im Gehen, ist nun aller Lohn und aller Genuß des Lebens? Schmerzenslust! Wonne unter blutigen Thränen! Wer sieht euer doppeltes Antlitz und bebt nicht vor seinem eignen Loose zurück! Ein lautes Geräusch weckte sie indeß aus ihren Betrachtungen. Sie sah einen stattlichen Reisewagen an sich vorüber in ihren Hof fahren. Halb erfreut, halb verlegen, beflügelte sie die Schritte und trat fast zugleich mit zwei Damen in das Haus, in denen sie nicht ohne Erstaunen Augusten und Emilien erkannte Die Erstere ging ihr etwas feierlich entgegen, und sagte mit gehaltnem Ton, wie die kurze Bekanntschaft keinesweges ein so unerwartetes Erscheinen rechtfertige wohl aber die innigste Theilnahme, die ein Band sei, welches über Zeit [72] und Verhältnisse hinausreiche. Emilie hingegen sank ihr weinend in die Arme und versicherte ihr liebkosend, daß sie so oft an sie gedacht und sich so herzlich nach ihr gesehnt habe, daß sie dem Wunsche nicht widerstehen könne, sie bei ihrer Durchreise zu begrüßen. Die Herzlichkeit des anschmiegenden Mädchen that Luisen wohl, und milderte einigermaßen die Verwirrung, welche Augustens Gegenwart in ihr erregte. Diese hatte sich ihr vormals mehr abstoßend als liebreich gezeigt, und sie war daher um so mehr verlegen, sich jetzt in ihrer Nähe zu befinden. Allein Luisens veränderte Lage war es gerade, was sie in Augustens Augen hob, welche es für eine Art zu lösender Aufgabe ansah, der Gefallnen ihren Schutz angedeihen zu lassen und deshalb willig in Emiliens Vorschlag einging, hier einen Tag zu verweilen.

Sie haben den Frühling um sich her gezaubert, sagte Auguste, im Hereintreten Luisens reichen Blumenflor beachtend. Sie thaten sicher wohl, denn die kleinen Zungen reden oft wahrer zu uns, als die schwankenden Menschenworte. Ja wohl! rief Emilie, ich muß bei ihrem Anblick an Alles denken, was ich lieb habe. Luise seufzte, und ein welkes Blatt zerdrückend, sagte sie: der Tod spricht nur so unmittelbar aus ihnen, wie schnell zerstiebt die Farbenpracht zwischen unsern Fingern, und wir [73] sehen wehmuthig dem blassen Staube nach! Das höchste Entzücken, fiel Auguste ein, ist schmerzlich. Das liegt im Wechsel der Erscheinungen, den wir im flüchtigen Genuß vorempfinden, und über den hinaus wir das Ewige binden möchten. Aber dieser Wechsel, liebe Freundin, fuhr sie fast vertraulich fort, sollte dem wahrhaften Menschen eigentlich nichts anhaben. Wer die volle, gesammte Einheit in sich trägt, der könne, dünkt mich, dem Spiel der bunten Oberfläche ruhig zusehn. Er kennt die tief verborgne Bedeutung desselben und sieht in jedem Schmerz das Saamenkorn neuer Offenbarungen. Ich für mein Theil habe keinen Begriff von der Ewigkeit, der Trauer und jenem sehnsüchtigen Schmachten, das einen welken Schein über die ganze Schöpfung ausgießt, die Menschen in kränkliche Träume wiegt und sie in träger Hingebung mit Andacht und Frömmigkeit äfft, statt daß ein frischer Lebenshauch den Phönix aus der Asche erweckt.

Wie schön Du redest, sagte Emilie, die während dem beifällig mit dem Kopf genickt und Luisen wiederholt ihr Entzücken mitgetheilt hatte. Es wundert mich nicht, daß Du den kalten Sir Arthur gewannest. Du könntest Steine beleben. Aber Sie wissen wohl nicht, liebe Luise, fuhr sie fort, daß unsre Freundin mit dem jungen Engländer verlobt ist, den Sie bei meinen Eltern sahen.

[74] Luise wußte es nicht, und erinnerte sich kaum ein flüchtiges Zeichen der Zuneigung zwischen Beiden bemerkt zu haben.

Die arme Auguste, sagte Emilie weiter, hat sich jetzt auf mehrere Monate von dem Geliebten getrennt, der erst kommenden Herbst, und vielleicht noch später, aus seinem Vaterlande zurückkehrt. Ich begreife kaum, wie sie den Schmerz der Trennung so überwindet. Den Menschen, hub Auguste sinnend an, den wir einmal wahrhaft sahen, den sahen wir, den werden wir ewig sehen! Zeit und Raum sind in dieser Hinsicht höchst untergeordnete Begriffe, die dem Wesen tief empfundner Liebe entgegenstehn.

Emilie bewunderte auf's neue diese Stärke der Gesinnung, und sagte sehr naiv, daß sie den Geliebten entweder gar nicht aus ihren Armen gelassen, oder ihn gleich aufgegeben hätte, denn sie kenne sich und die Menschen, und wisse, daß über den ersten, entsetzlichen Schmerz der Trennung hinaus, die Welt gar zu lockend und lieblich auf die Herzen eindringe, die solch gegebnes Wort nur peinlich hin und her zerre. Von hier ging sie freudig zu den Verhältnissen zur Welt im Allgemeinen über, lobte das beweglichere Leben in den Städten, erzählte von ihrem nahen Aufenthalt in der Residenz, und schloß damit, Luisen dringend um ihre Begleitung [75] dorthin zu bitten. Wider alles Vermuthen stimmte Auguste mit in diese Einladung, und bot ihr sehr gastlich einen schicklichen Aufenthalt in ihrem Hause an. Hierdurch wurden nothwendig Luisens frühere Verhältnisse berührt. Theilnahme erweckt Vertrauen. Das weibliche Herz erschließt sich um so leichter, je dringender ihm in manchen Augenblicken Mittheilung wird. Emiliens liebreiches Entgegenkommen rührte Luisen, und wenn ihr auch die Denksprüche und geformelten Phrasen der belesenen Auguste fremd blieben, so klangen sie doch gewichtig, und zwangen sie mit einer Art von Achtung zu der Rednerin aufzusehn, deren Urtheil sie ihre Unerfahrenheit unterwarf, und daher ohne Rückhalt zu Beiden sprach.

So verging dieser Tag und ein folgender, ohne daß sich Luise gleichwohl über jenen gethanen Antrag bestimmte. Allein Emilie hörte nicht auf, sie mit Liebe und Bitten zu bestürmen, und sagte ihr endlich in einem Augenblick, in welchem sie Auguste verlassen hatte, daß sie ihrer Theilnahme in einer ziemlich mißlichen Lage bedürfe, daß Auguste ihr zu fern stehe, und nur ein Herz wie das ihre sie verstehn könne. Hierauf entdeckte sie ihr ohne Weiteres ihre Liebe für den jungen Maler, die seit ihrer frühesten Kindheit ihr Herz erfüllte. Zugleich aber auch, wie lange Trennungen dies Verhältniß [76] unterbrochen und ihre gegenseitige Zuneigung oftmals abwärts gelenkt hätten, weshalb auch ihre Mutter lange keinen Verdacht gehegt, neuerlich aber durch ein unvorsichtig verwahrtes Billet hinter die Wahrheit gekommen sei, und, ohne einen großen Zorn blicken zu lassen, nur erklärt habe, daß, da sie das Geschehene nicht ungeschehen machen könne, sie allein den Anstand für die Zukunft retten und so schnell als möglich eine schickliche Partie für sie suchen werde. Diese Partie, setzte Emilie hinzu, ist nun gefunden, und da wir Beide von der Unmöglichkeit einer gesetzlichen Verbindung nur zu sehr überzeugt sind, und die Gründe dagegen anerkennen müssen, so habe ich Steins Hand angenommen, der grade seine Bewerbung bei meiner Mutter erneuerte. Stein! rief Luise ganz entrüstet; Emilie, wo denken Sie hin, dies edle Gemüth wollen Sie hintergehn! Gott bewahre mich, erwiederte jene, ich will ihn gewiß recht glücklich machen. Mit diesem getheilten Herzen? fragte Luise. O das wird schon ruhiger schlagen lernen, entgegnete Emilie; und dann sagt Mutter, Pflicht und Gewohnheit ersetzten jede heftigere Neigung, und wenn ich sie selbst betrachte, so bin ich sehr geneigt, es zu glauben; sie lebte immer zufrieden an meines Vaters Seite, und ich bin gewiß, sie hat ihn nie geliebt. Aber Ihre Mutter selbst, unter brach sie Luise, [77] war früher so entschieden gegen eine Verbindung mit Stein. So lange nur, erwiederte Emilie, als sie fürchtete, seine Leidenschaft könne mich unnatürlich entzünden, und, wie sie sagt, unversehens in eine Welt zaubern, in der ich höchst unbehaglich zu mir selbst kommen würde. Jetzt aber, da ich ihn mit ruhigem Gemüth allein aus Vernunft heiraten will, sieht sie weiter keine Gefahr für mich, und ist sehr gewiß, daß ich immer die Verschiedenheit unsrer Wege anerkennen, und durch Nothwendigkeit gehalten, den meinen recht still fortgehn werde. Luise ward lebhaft von der Herabwürdigung der allerheiligsten Verbindung ergriffen, die man hier, wie so oft im Leben, augenblicklichen Zwecken unterordnete, und rief daher, ganz rücksichtslos auf die Baronin: liebe Emilie, man täuscht Sie! man täuscht Sie absichtlich! Sie wissen nicht, was es beißt, eine verfehlte Wahl; Sie ahnden den Kampf gutgearteter Naturen nicht, die vielleicht ein langes Leben hindurch mit Theilnahme und Mitleid und den eignen qualvollen Wünschen ringen müssen. Noch viel weniger fühlen Sie, was dadurch in Ihnen verloren geht. Das Unschuldigste wird Ihnen unter den Händen zur Schuld; Frevel und Sünde treten Ihnen unversehens immer näher und näher, und fassen und halten Sie, bis die Ruhe und das Glück Ihres Lebens auf ewig vergiftet [78] sind. Freilich, freilich! sagte Emilie, einigermaßen erschüttert; aber Mutter behauptet, einer Frau, die das Pflichtmäßige ihrer Verhältnisse nicht von selbst vor jeder Gefahr sichre, sei überhaupt nicht zu helfen. Kleine Abweichungen von der gewohnten Ordnung gehören der ungebundnen Jugend an. Wie wir aber in die wirkliche Welt treten, fasse uns der Ernst unsrer Bestimmung unwillkührlich an, und dränge uns unbewußt in den gemeßnen Gang häuslicher Thätigkeit; die Gewohnheit fände sich von selbst ein, und das ganze geträumte Wesen der Jugend liege plötzlich weit, weit hinter uns. O mein Gott! sagte Luise, so ist denn die Ehe nichts als ein bürgerlicher Verein, so wie noch tausend Andre, in denen Absichtlichkeit und Gesetz die Menschen zusammenhalten. Ihr reines Element wird ein trüber Sumpf, und die freieste Gabe des Herzens ein knechtisches Naturgebot! Aber wenn Sie sich auch finden lernen, fuhr sie gemäßigter fort, was soll aus dem Unglücklichen werden, dem sie so zuversichtlich die schwere Kette über den Nacken werfen? Wagen Sie es, auch für ihn gut zu sagen? Liebe Emilie, hoffen Sie nicht, ihn in den breiten Weg der Alltäglichkeit hineinzuziehn! In Steins Seele ist ein heller Tag aufgegangen; er macht andre Anforderungen an das Leben, als Sie es wünschen; ein volles, inniges Dasein will [79] er mit Ihnen theilen. O Emilie, wenn diese höchst einfachen Anforderungen Sie drücken, und Sie das treue, begehrliche Herz durch Unvermögen, es zu begreifen, zerreißen werden, hoffen Sie dann noch, Ihren Weg still und ungestört fortzugehn? Wahrhaftig, sagte die Kleine halb weinend, Sie machen mich ganz bange! Ich habe das immer dunkel gefühlt. Aber es ist ja auch noch nicht alles verloren. Verlassen Sie mich nur nicht, beste Luise, ich bitte Sie, versagen Sie uns Ihre Begleitung nicht. Auguste kam hier auch herzu, und sagte noch vieles und manches über das unsichre Schwanken unsers Willens, und wie unersprieslich es sei, einen Entschluß zu verschieben, zu dem uns die innre Neigung vielleicht längst aufgefordert habe, so daß sich Luise entschied, und der folgende Tag zu ihrer Aller Abreise bestimmt ward.

Das ganze Haus gerieth bei dieser Nachricht in freudige Bewegung. Mariane sah nach monatlicher Trauer mit Entzücken einer willkommnen Veränderung entgegen, und auch für Luisen hatte die kleine Reise und die Aussicht in ein beweglicheres Leben, etwas Erfreuliches, ohnerachtet eine innre Bangigkeit sie wohl zuweilen die Neuheit ungewohnter Verhältnisse vorempfinden ließ.

Als sie am folgenden Morgen früh im halben Dämmerlicht an des Predigers Wohnung vorüberfuhren,[80] öffnete Minchen schnell die Vorhänge und winkte Luisen noch ein herzliches Lebewohl zu. Diese ward innig dadurch gerührt. Der zitternde Tagesschein, der die Gegenstände mehr in einander schmolz, als bezeichnete, gab der Gestalt etwas schattenartiges, das Luisen unwillkührlich ergriff. Nur den tiefen Schmerz, den sie Minchen kannte, glaubte sie in ihren bleichen Zügen gesehen zu haben. Ihr war, als haben die weißen Arme, die sie grüßend bald hob und neigte, gestrebt, sie zurückzuhalten. Ihre Bewegung entging ihren Begleiterinnen nicht. Sie drangen in sie, und Luise sprach mit Wärme von Minchens Leiden und der stillen Ergebung, mit der sie sie trage, was Emilien häufige Thränen entlockte, Augusten aber in ein augenblickliches Nachdenken versenkte, aus welchem sehr bald folgende Worte hervorgingen. Mich dünkt doch, hub sie an, es sei keine rechte Einheit in diesem Gemüth! Entweder sie erwartet noch etwas vom Leben, oder sie begiebt sich aller Ansprüche daran. Ist das Erstere der Fall, warum dehnt sie die fruchtlose Trauer über das Grab des Geliebten hinaus? Warum? fragte Luise; lieber Himmel, kann sie denn anders? Darüber kann sie freilich nur selbst entscheiden, entgegnete Auguste, aber dann sollte sie auch nur konsequent sein, und sich gleich mit in das kühle Grab legen, das nun einmal das Ziel [81] ihrer Wünsche umfaßt. Was will sie in der Welt? Sie zerreißt sich muthwillig. Beschränkte Naturen thun am Besten, sich gleich zu ergeben, da es ihnen an Kraft gebricht, die Nothwendigkeit zur Freiheit zu erheben. Beschränkte Naturen! rief Luise verletzt. O fühlen Sie denn nicht wie eine Schranke nach der andern vor diesen Augen fiel, die, ein höheres Ziel erfassend, muthig den dornigen Weg überschauen, der ausgebreitet daliegt? Kann sie den zarten Gliedern gebieten, nicht zu bluten, wenn die Dornen sie wund ritzen? Und sehen Sie nicht, wie der Schmerz, als ihr irrdisch Erbtheil, immer mehr hinter ihr zusammensinkt, und sie sich auf mächtigen Schwingen über sich selbst erhebt? Ich halte von solchen Kämpfen nicht viel, sagte Auguste kalt. Stehn ihr die Schwingen wirklich zu Gebot, wie Sie glauben, was überfliegt sie nicht gleich den mühseligen Weg, und erreicht so früher das Ziel? Weil sie, erwiederte Luise, ihre Kraft erst im Schmerze prüfte; weil ein wahrhaftes Leid den Menschen erschüttert und ihm alle Tiefen der Seele eröffnet, in denen er sich und die Welt und seine Bestimmung verstehen lernt. Glauben Sie das nicht, fiel Auguste ein, wer das Rechte von Anfang will, der findet es auch, der will denn auch nur das Eine in jeder wechselnden Gestaltung der Dinge, das ist seines Daseins ewiges unwandelbares Gebot.

[82] Unter diesen und ähnlichen Gesprächen setzten sie ihre Reise fort. Luise fühlte sich sehr unbehaglich auf ihrem Platze. Emilie schlief, oder verlor sich doch mit geschloßnen Augen in lustige Träume; Auguste redete freilich, verletzte sie indeß unaufhörlich durch ihre dürre Sentenzen. Tausendmal ihren raschen Entschluß bereuend, sich der fremdartigen Gesellschaft angeschlossen zu haben, beugte sie den Kopf aus dem Wagenfenster, um, wo möglich, in den äußren Gegenständen eine erfreulichere Unterhaltung zu finden. Nicht lange, so bemerkte sie eine Chaise, die ihnen bald in geringer, bald in weiter Entfernung folgte, je nachdem der träge Gang der abgetriebnen Postpferde es gestattete. Unwillkührlich wendete sich Luise noch mehr zurück, um wo möglich zu entdecken, wer in dem Wagen sitze; allein er war dicht verschlossen, und sie mußte unbefriedigt von ihren wiederholten Versuchen abstehn. Zufällig traf es sich, daß jener Wagen, beim erneueten Wechseln der Pferde, jedesmal vor dem Posthause still hielt, wenn sie wieder abfuhren, wodurch auch die Neugier der beiden andren Damen erregt ward.

Da sie nun unterwegs übernachten mußten, und der Ort, den sie dazu bestimmten, wenig Ausbeute zur geselligen Unterhaltung gewähren konnte, so scherzten sie gegenseitig über die Möglichkeit, in ihrer [83] unbekannten Begleitung irgend eine interessante Bekanntschaft zu machen. Wirklich waren sie kaum in den Gasthof eingezogen, als ein Wagen vor die Thür rollte, den Luise, ohnerachtet der fast hereingebrochnen Dunkelheit, für den besagten erkannte. Ein junger Mann, in einen weiten Pelz gewickelt, sprang heraus, und die dienstfertig entgegenkommende Wirthin bei der Hand fassend, sagte er: es ist verteufelt kalt, schöne Frau! Mein Zimmer, geschwind mein Zimmer! In drei Sätzen war er die Treppe herauf; eine Thür neben ihnen ward aufgeschlossen und er trat singend und lachend in das anstoßende Gemach. Die Stimme klang weich und fremd, die Leichtigkeit, das Benehmen ließ auf äußre Gewandheit und Lebenserfahrung schließen. Ohnerachtet der hohen Ruhe, mit welcher Auguste das bunte Spiel der Oberfläche betrachtete, fühlte sie doch keine geringe Begier, die neue Erscheinung näher in Augenschein zu nehmen. Sie empfahl indeß ihren Gefährtinnen die höchste Aufmerksamkeit, um durch kein Geräusch dem neuen Ankömmling ihre Anwesenheit zu verrathen, wodurch sie sich einigermaßen vor sich selbst rechtfertigen wollte, und zugleich auch den Fremden besser zu beobachten hoffte.

Nicht lange darauf hörten sie die Wirthin auf's neue hineingehn. Tassen klapperten, ein wohlunterhaltenes[84] Feuer knisterte im Kamin; der Fremde ward sichtlich mit Aufmerksamkeit bedient, während sie noch an allem Mangel litten, worüber Auguste fast alle Haltung verlor. Ein lautes, wiederholtes Kichern zeigte, wie wohl sich die Wirthin in ihren Geschäften befand, und daß sie vor der Hand noch nicht an sie denken werde. So wohl versehen und schon ganz behaglich eingewohnt, hörten sie ihren Nachbar nach einer Weile eine Kiste öffnen, einige Griffe auf einer Guitarre thun, und sich zu folgenden Worten auf dem Instrument begleiten:


Zierliche Blondine
Ging heut früh' zu Walde,
Wollt' beimkehren balde,
Pflückte Blümchen hier.
Sonnenhelle Miene,
Mund voll frischer Rosen,
Süß des Auges Kosen,
Freud'ges Liederspiel!
Traurige Blondine
Kam heut' Abend wieder
Ohne lust'ge Lieder,
Seufzte tief und schwer.
[85]
»Was so trübe Miene?
Fandst Du keine Blumen?
Ach! ich brauch' nicht Blumen,
Brauch' kein Kränzlein mehr.«

Mein Gott, was ist Ihnen! rief hier Emilie, auf Luise zueilend, Sie sind bleich wie mein Tuch! Lassen Sie nur, sagte jene leise, es ist nichts, sicher nichts, eine vorübergehende Erschütterung. Die Worte, die dort herüberklangen; sie lehnte den Kopf an Emiliens Brust; ich hörte sie nur von Fernando, er selbst hat sie aus seiner Muttersprache in's Deutsche übertragen, aber das beweist nichts, gar nichts. Die beiden Andren wurden hierdurch ebenfalls überrascht. Wenn er's wäre, sagte Emilie, grade hier, mit uns auf einem Wege, es wäre doch fatal! Es ist unmöglich, unterbrach sie Luise schnell, ich sagte Ihnen ja, er sei in französische Kriegsdienste gegangen, was soll er hier wollen? Was sichert Sie denn, fiel Auguste ein, daß dies Vorhaben ausgeführt, ja daß es im Ernst gefaßt ward. Ich dächte, Sie wüßten, was von Aeußerungen aus diesem Munde zu halten sei. Hier trat endlich die Wirthin, von Marianen begleitet, und mit allem zu ihrer Bequemlichkeit Erforderlichen versehen, hinein. Kennen Sie den Fremden schon länger? fragte sie Auguste spöttisch, daß Sie [86] ihm so viel Vorzüge vor Ihren übrigen Gästen einräumen? Gott nein! erwiederte jene betreten, es ist ja ein Ausländer, aber der Herr sind so ungestüm, daß man nur eilen muß, ihn zu befriedigen. Ein Ausländer? wiederholte Emilie; wissen Sie nicht, von welcher Nation? Ein Franzose, glaube ich, erwiederte sie. I, mein Gott, daß ich recht sage, ein Italiener; ja, ja, ein Italiener, man kunfundirt sich so leicht, und denn die Uniform! Eine Uniform? fragten alle Drei. Ja, ich weiß selbst nicht, ob es eine ist, sagte sie, aber es sieht so aus. Wenn es Ihnen gefällig wäre, fuhr sie fort, so könnten Sie miteinander speisen, die gnädigen Damen würden gewiß Unterhaltung finden. Gott bewahre uns! scholl es aus einem Munde; wir bitten Sie sogar, setzte Auguste hinzu, unsrer auf keine Weise gegen den Herrn zu erwähnen. Nun, wie Sie befehlen, sagte die Wirthin, durch ihre Heftigkeit aufmerksam gemacht, und wenig geneigt, der letzten Aeußerung zu achten.

Je mehr ich nachdenke, sagte Luise, als sie allein waren, je unwahrscheinlicher ist's mir, daß Fernando ohne alles Gefolge, ohne allen äußren Glanz, in der Residenz erscheinen würde. Er fordert so viel vom Leben, er selbst thut so viel dafür; wie sollte er sich in dieser unbedeutenden Außenseite unter das bunte Gewühl einer Hauptstadt [87] mengen! Sie vergessen, sagte Auguste, daß er mehrere Rollen hat; kennen Sie seine jetzigen Zwecke? Luise fuhr indeß fort, Gründe aufzusuchen, sich und die Andren vom Gegentheil zu überführen und die bange Wahrscheinlichkeit wo möglich durch einige Zweifel anzugreifen. Der Abend verging auf diese Weise schnell genug. Bei ihren Nachbar war es indeß ganz still geworden. Er schlafe, so schien es den Damen, welche auch früher als gewohnlich Ruhe suchten. Luise warf sich indeß noch lange im Bette hin und her, als die leisen, gemeßnen Athemzüge ihrer Gefährtinnen von ihrem glücklichen Schlafe zeugten. Jetzt, da ihr Niemand widersprach, da sie keine neuen Gründe mehr aufzufinden wußte, jetzt kam es ihr ganz glaublich vor, daß Fernando nur durch eine dünne Wand von ihr geschieden, nahe bei ihr lebe und athme; ja es ward ihr mit jedem Augenblick gewisser. Von dieser Vorstellung geschreckt, von tausend quälenden Erinnrungen gemartert, warf sie die lästige Decke von sich, und schlich zum Fenster, um reine Luft zu schöpfen. Ohne innres, festes Denken, starrte sie zerstreut in die dunkle Nacht hinein, als ein leises Schluchzen, dicht neben ihr, sie erschreckte. Das Haus war für den Nutzen erbaut, kein Raum verloren, die Fenster daher nur durch sehr schmale Pfeiler getrennt. Luise erkannte leicht, daß jener Ton aus dem ebenfalls [88] geöffneten Fenster des Nebenzimmers komme. Aufs höchste gespannt, unterschied sie bald einzelne Worte in italienischer Sprache, die flüsternd durch die Dunkelheit hinschwirrten; plötzlich hörte sie deutlich wie in Unmuth sagen: Fernando, Fernando! wohin verirrst Du Dich! Was suchst Du? was kannst Du hoffen? bist Du denn auf ewig verloren! Kalter Nachtwind fuhr hier schneidend an den Häusern vorüber. Die Stimme schwieg; bald ward auch das Fenster geschlossen. Luise hörte nichts mehr; unbeweglich auf ihrem Platze, wiederholte sie sich jene Worte, die sie mit der peinlichsten Unruhe erfüllten. Unglücklich also, dachte sie. Sie erkannte ihn ganz in dieser schmerzlichen Heftigkeit, in diesem Unmuth über sich selbst. Was drückt ihn aber so sehr? Was suchte er jetzt? Wüßte er vielleicht –? Dies seltsame Zusammentreffen! Die gleiche Richtung ihres Weges! Wenn er unerkannt in ihrer Nähe lebte! Wenn er sie immer beobachtete! Wenn er dennoch treu ergeben – – Eine Bewegung der schlafenden Auguste zog sie unwillkührlich zu ihrem Bette zurück. Halb träumend sank sie in die Kissen. Bald darauf war ihr, als sei von dem allen nichts geschehen. Sie mußte sich besinnen, ob sie wirklich am Fenster gestanden habe. Dann fiel es ihr plötzlich ein, daß es gar nicht Fernandos Stimme war, die sie hörte, daß wohl [89] wohl alles ein Blendwerk sein könne; und dennoch drang Fernandos Name, den sie doch bestimmt vernommen, immer wieder in ihr herauf und neckte und quälte sie, bis sie verzweifelnd die Augen schloß und die bange Seele dem dumpfen Schlafe hingab.

Nach wenigen Stunden ward es wieder lebendig um sie. Auguste trieb zum frühen Aufbruch an, da sie gern vor Abends das Ziel ihrer Reise erreichen wollte. Sie reisten ab, ohne das mindeste von dem Fremden gehört zu haben, der, nach der Wirthin Aussage, wohl noch tief schlafe. Erst in dem Thore der Residenz trafen sie mit dem Wagen des Unbekannten wieder zusammen, der an ihnen vorüber, in eine Seitengasse hineinfuhr. Luisens Herz klopfte gewaltsam. Die neue Welt schloß sich ihr in einem Augenblick auf, wo alle alte, mühsam niedergekämpfte, Anforderungen an Fernando wieder in ihr erwachten. Jede ungewohnte Erscheinung fiel so gewichtiger in ihr aufgeregtes Innre. Die bunte Menschenmasse wogte in vielfachem Treiben durch die Straßen hin, und zog sie mit in ihr verworrenes Gewühl hinein. Hohe Häuser, geschmückte Läden, weite Plätze, erhabne Kunstwerke, aller Prunk, wie jeder erhöhete Wille des Lebens, redete zu ihr, und überglänzte die bleiche Dürftigkeit und den frostigen Hunger, der langsam neben ihr hinschlich.

[90] Auguste wohnte in der gesuchtesten Gegend der Stadt. Alles athmete hier verfeinerten Lebensgenuß. Die elegante Welt zog in tausendfachen Gestaltungen vor Luisens stets angeregten Blicken hin, und ließ sie zu keiner eigentlichen Anschauung oder innren Betrachtung kommen.

Nach wenigen Stunden erschien die Baronin, von Emiliens Ankunft benachrichtet, diese abzuholen. Luisens Unglück hatte sie versöhnt. Alles, was sie deshalb gesagt und nicht gesagt hatte, war eingetroffen; ihr tiefer Blick in die verworrnen Welthändel gerechtfertigt, und sie selbst als weise Menschenkennerin anerkannt. Ihres hohen Ansehns bei Luisen gewiß, empfing sie diese mit leutseliger Herablassung, und lud sie sogar zu einer Abendversammlung des kommenden Tages bei sich ein, welche sie, wie sie hinzusetzte, sogleich in die rechte Bahn bringen und mit dem Besten, was es in der Stadt gebe, bekannt machen würde. Nur Eins, Liebe, fuhr sie belehrend fort, muß ich Ihnen zuvor noch sagen, weil es einen entschiednen Einfluß auf Ihren Succeß in der Gesellschaft haben wird; versäumen Sie es ja nicht, den ältren Frauen mit der gesuchtesten Aufmerksamkeit entgegenzutreten, weil sie es sind, die den Ruf der Jüngern gründen und ihn allein bei den schwankenden, durch augenblickliche Eindrücke bedingten, Meinungen erhalten. [91] Die Männer werden unbewußt von diesen Orakelsprüchen beherrscht, die erst als vielfach bearbeitete allgemeine Stimme der Welt zu ihnen dringen und den die hellsehendern, jüngern Frauen nicht zu widersprechen wagen. Luise wußte nicht recht, ob sich ihre Beschützerin zu der Classe der Matronen zähle, und vermied daher, anders als durch eine dankende Verbeugung, zu antworten, da sie doch in sich sehr entschlossen war, die Achtung keines Menschen zu erschleichen, und alles dem günstigen oder ungünstigen Eindruck überlassen wollte, den ihr Erscheinen auf die Herzen machen werde.

Nicht ohne Verlegenheit trat sie indeß des andern Tages an der Baronin Hand in den glänzenden Kreis. Eine Menge unbekannter Namen überhörend, welche ihr die gastliche Wirthin nannte, bemerkte Luise nichts als dasselbe höfliche Lächeln, das von Mund zu Mund nach jedem Bewillkommungsgruße flog, und wie ein gebrochner Stral über alle Gesichter zuckte, ohne eine bleibende Spur zurückzulassen. Vergebens suchte Luise ein Auge, auf welchem das ihre ruhen könne. Dieselbe theilnahmlose Hingebung an die oft genoßnen, wiederkehrenden Freuden trieb die Blicke gleichsam hin und her, und goß einen Schein des Gleichartigen über alle Gestalten. Um sie bekümmerte man sich nach der ersten Begrüßung weiter nicht. Sie war [92] weder Ausländerin, noch unter der schützenden Aegide dieser Gesellschaft erzogen; ein deutscher, unbefreundeter Name verhallte wie er genannt war. Auguste und Emilie mußten alte Bekannte aufsuchen; die Baronin war vielfach beschäftigt. Zum erstenmal im Leben empfand Luise eine demüthigende Zurücksetzung. Im Kampf mit dem Streben, eine würdige Haltung zu behaupten, und dem Gefühl, daß diese in der wachsenden Verlegenheit immer mehr schwinde, trat Stein zu ihr. Ein herzliches Wort, das unmittelbar aus dieser offnen, reinen Seele in die ihre überging, rückte sie schnell über den Druck des Augenblicks hinaus. Sie sprach innig und frei, indeß das tonlose Rauschen der Menge sie umschwirrte.

Die Baronin hatte dennoch, ihrer Menschenkenntniß vertrauend, einiges über Luisens Schicksal fallen lassen, wodurch sie diese den Gemüthern ganz unvermerkt näher rückte, und ihre Aufmerksamkeit gewann! Die alten Damen sahen in ihr ein unglückliches Opfer heutiger Verderbniß, die jüngern fanden sie sehr interessant, den Zug stiller Schwermuth um den schön geschweiften Mund unwiderstehlich, und die Männer bemerkten, ein frühzerstörtes häusliches Glück sei eine Brücke, die über das weite Meer conventioneller Formen und lästiger Versuche, unmittelbar in die Gunst der [93] Frauen führe. Desto besser, sagte ein junger Offizier, dem eine Dame Luisens Geschichte schon ziemlich verstellt erzählte, desto besser,


La vertu est une isle escarpée et sans bord
On n'y peut plus rentrer, dès qu'on en est dehors.

Abscheulich! rief die Dame, konnte sich aber doch nicht enthalten, dem liebenswürdigen Freigeist einen schmeichelnden Blick zuzuwerfen.

Unvermerkt hatte sich indeß um Luisen ein kleiner Kreis von Frauen und Männer versammelt, die, im Gespräch mit Emilien, sich an sie und Stein anschlossen. Mit Bewundrung bemerkte Luise unter ihnen eine schöne weibliche Gestalt, deren edle Haltung und Züge ihr bekannt schienen, und sie dunkel in die Vergangenheit zurückführten. Eine große innere Bewegung arbeitete unverkennbar auf dem feinen Gesichtchen, und trieb ihre Blicke unwillkührlich zu einen zartgebildeten, schlanken Mann, dessen weiches abgespanntes Wesen seltsam gegen die Uniform abstach, die er auch nur des herkömmlichen Gebrauches wegen zu tragen schien. An einen Pfeiler geschmiegt, gleichsam um sich selbst tragen zu helfen, sagte er mit vorgebeugtem Kopfe und leiser Stimme zu Emilien: Sie sind so glücklich gewesen, einige Zeit in der[94] Einsamkeit auf dem Lande zuzubringen, während mich das Leben hier fast erdrückte.

Noch immer die alte Unzufriedenheit! rief Emilie lachend. Wie kann es anders sein, erwiederte jener, dies abgenutzte Treiben hier, das mich wie ein Ball hin und her wirft und alle Ruhe und allen Genuß raubt, preßt mir oft die Brust so zusammen, daß ich mein ganzes Verhältniß zerbrechen und in irgend einen Winkel der Erde fliehen möchte, wo ich wenigstens allein sein könnte, wenn ich will! Aber mein Gott, Sie ungalanter Mensch, was quält Sie denn bei uns? fragte Emilie. Alles! rief er; mein Stand, die ganze Welt, alles was Ansprüche an mich zu haben glaubt und mir meine Ruhe mißgönnt. Seine Blicke gleiteten während dem nachlässig an Luisen hin, und fielen wie von ohngefähr auf die schöne Frau, die, eine Thräne zerdrückend, angelegentlich mit Stein zu sprechen schien. Auf Ehre! Horst, rief jener freigesinnte, Offizier, schon mehreremal von Emilien als der hübsche Baron Roll erwähnt, der seiner höhern Taktik zu Folge Luisen näher gerückt war, auf Ehre, Sie werden ein Menschenfeind! Was haben Sie nun gegen unsere Stadt? Mich dünkt, Sie und ich hätten nicht über sie zu klagen; oder rechnen Sie den reichen Schatz von Erfahrungen, den wir gegen ein paar mißmüthige Stunden [95] eintauschten, für nichts? Auf Ehre, ich gebe ihn um meinen ganzen Credit nicht weg, der denn doch der eigentliche Point unsrer Existenz ist. Und, Luisen fixirend, ohne sich ihr gleichwohl vorstellen zu lassen, fuhr er, wie unter bekannter Voraussetzung fort: Sie, Frau Gräfin, werden mir gewiß in Kurzem Recht geben, wenn Sie unsre Welt mehr kennen lernen. Sie waren noch nicht im hiesigen Theater? – Sie sahen noch nicht Richter und die schöne Antonie spielen? Luise hatte kaum Zeit es zu verneinen, als er, sich zu Stein wendend, aufs neue anhub: A propos, man will uns ja den Shakespear nun auch goutiren lehren; ich denke man spricht von einer Vorstellung Heinrich des Vierten. Da werden wir Offiziere nur gleich Urlaub nehmen müssen, um den Schluß zu hören, denn solch Stück spielt seine 24 Stunden in einer Angst weg. Er lachte laut über den glücklichen Einfall, der den Andern schon bekannt war, und als vielfach bewundert, das Patent des Witzes erhalten hatte. Ich glaube selbst, entgegnete Stein, daß sich der Shakespear weder für unsre Bühne, noch unser Publikum paßt. Des Komischen wegen? fiel Auguste ein. Sein Sie versichert, wir verstehn die privilegirten wie die anderweitigen Spaßmacher zu würdigen. Roll verschmerzte den Stich, und wandte sich ausschließend an Luise, die er mit einem Heer unbedeutender Fragen bestürmte. [96] Horst schwankte indeß mit unsichren, schleichenden Schritten zu der Dame, welche Luisens Aufmerksamkeit früher erregte. So in Gedanken, Frau von Seckingen? fragte er lächelnd, was beschäftigt Sie so ausschließend? Der Wechsel der Dinge, entgegnete sie, nicht ohne Heftigkeit. Unbesonnene, flüsterte er, und wandte sich unwillig ab.

Eine kleine Bewegung in der Gesellschaft ließ hier auf die Ankunft eines neuen Mitgliedes derselben schließen. Luisens Herz klopfte unwillkührlich; sie dachte dunkel an den Unbekannten, an Fernando, als Frau von Seckingen ausrief: ach, mein Bruder! und die Baronin in dem Augenblick, von dem russischen Obristen begleitet, vor Luise trat, erfreut, ihr einen alten Bekannten zuzuführen. Ohne irgend eine schmerzliche Erinnrung zu berühren, begnügte sich der gewandte Mann, den gegenwärtigen Augenblick allein herauszuheben und eine Reihe froher Bilder einer glücklichen Zukunft daran anzuschließen, welche ihm Luisens Anwesenheit in der Residenz versprach; dann das Gespräch immer leichter und freier verschlingend, zog er bald die anmuthige Schwester mit hinein, deren Herz sich willig so freundlicher Berührung öffnete, seit sie nichts mehr unmittelbar störte, da Horst gleich nach des Obristen Ankunft verschwand. Luise fühlte sich in der kunstlosen, wie von selbst fortlaufenden, Unterhaltung [97] immer behaglicher, und trat zwischen den beiden edlen Gestalten fest und sicher auf die glatte Fläche der neuen Welt hin, die sie vor wenig Augenblicken noch erschreckte. Allein je mehr ihre Theilnahme für beide Geschwister wuchs, je mehr beunruhigte sie das Schicksal der bekümmerten Frau, welches ihr noch drückender schien, seit der Obrist sagte: Liebe Sophie, Dich erwarten Briefe von Deinem Mann. Er hat mir auch geschrieben, und sagt, daß seine Geschäfte ihn noch lange in Paris aufhalten könnten. Der Mann lebt noch? dachte Luise; also wieder eine mißrathene Ehe! und sicher ein edles Herz, das sich selbst täuscht! – Dieser Gedanke fiel störend in ihre Freude, und hätte fast die alte Wehmuth wieder angeregt, da sie in demselben Augenblick Stein an Emiliens Seite, mit allen Zeichen unbefriedigter Sehnsucht, wahrnahm, und hier auf beiden Gesichtern auf's neue das Aushängeschild einer verfehlten Wahl sehen mußte; allein des Obristen freundliches Bemühen hob sie bald über jene beunruhigende Betrachtungen hinaus. Diese hohe, klare Erscheinung, auf der ein vielfachgestaltetes Leben keine Spur zerreißender Leidenschaften oder verfehlten Strebens zurückgelassen hatte, schien, in ihrem milden Ernst, recht dazu geeignet, Luisens Achtung zu erzwingen, die sich auch bald eines kindischen, [98] durch zufällige Verirrungen angeregten, Unglaubens schämte, und sich voll Heiterkeit den beseligenden Einflüssen einer entstehenden Freundschaft hingab, ein Wechsel, der Augusten nicht entging, und ihr für diesen und viele folgende Tage Anlaß zu Neckereien und nicht immer ganz schmeichelhaften Anmerkungen gab. So nannte sie Sophie ziemlich unzart eine phantastische Thörin, die unaufhörlich die Liebe mit dem Gegenstande derselben verwechsle, und ihr daher bald Altäre, bald Gräber erbaue. Ich verstehe Sie nicht, sagte Luise empfindlich. Nun, entgegnete sie, alle Frische, Kraft und Göttlichkeit des Gefühls meint sie in dem geliebten Manne zu finden, und wenn denn nun nach und nach die mangelhafte Natur hervorsieht, und das Traumbild ein ordinärer Mensch wird, dann erhebt sie ein Geschrei und hüllt sich in Trauerschleier, und klagt über das trügerische Spiel der Liebe. Warum sieht sie im Sperling den Paradiesvogel? Ich begreife, fuhr sie fort, daß ein ungeprüfter, vielleicht überall stumpfer Blick sie verwirren kann; aber was quält sie sich denn noch nach erkannter Täuschung? und warum will sie diese mit Gewalt auf Kosten ihres eignen natürlichen Gefühls erhalten? Was ist es denn weiter? sie hat sich geirrt; lasse sie den Irrthum fahren und sehe sich nach Wahrheit um. Luise [99] hatte es sich längst des Streitens mit ihr begeben. Sie schwieg, und begnügte sich, wie herabsetzend auch jene Worte klangen, sich nur fester und vertrauender an Sophie anzuschließen, deren zarter Sinn und treue Anhänglichkeit für das einmal Erwählte sie, trotz des sichtlichen Mißgriffs ihrer Wahl, höchst liebenswürdig machte. Luise übersah oder schob auf die allgemeine Verwirrung menschlicher Gefühle und Verhältnisse, was sie nicht billigen konnte, und neigte sich ohne Rückhalt zu einem Herzen, das im Mißverstehn selbst noch so groß und tief empfand.

Mehrere Zeit hatte es Luise vermieden, in das Schauspiel zu gehn, aus geheimer Furcht, in dem Unbekannten Fernando wiederum anzutreffen. Endlich mußte sie indeß den wiederholten Bitten ihrer Bekannten nachgeben, und so ließ sie sich wirklich von Auguste in ihre Loge führen. Das erste Störende, was sie von hier aus erblickte, war Werner, der, sie erkennend, ohne Zeichen der mindesten Verlegenheit zu ihnen eilte, und sie ganz in seinem gewohnten Ton begrüßte. Diese Ruhe drückte die ganze Vergangenheit in die dunkelste Tiefe. Luisen war, als sei eine lange Reihe von Jahren verflossen, seit sie Werner sah, und die damals gehemmte Ordnung längst wieder im alten Geleis. Nicht lange darauf trat auch Baron Roll zu ihnen [100] in die Loge. Er that sehr vertraut mit Werner, der ihn mit komischer Freundlichkeit empfing, gleichsam als thue es ihm wohl, die geschärften Blicke eine Zeitlang auf jener flachen Unbedeutendheit ausruhen zu lassen. Das Stück hätte allenfalls Aufmerksamkeit verdient, allein Roll ließ es bei Keinem, außer bei Augusten, um die er sich niemals bekümmerte, zu einen gesunden Gedanken kommen. Sehn Sie um Gottes Willen! rief er ganz empört, hat die Reinhart nicht rothe Schuhe an! bei dem großen Fuß! Es ist, auf Ehre, unbegreiflich! Sein Mund verzog sich fast wehmüthig. Das allerliebste Mädchen! rief er, und so schimpfirt! Kaum gewann ein Lieblingsschauspieler so viel über ihn, daß er einige Augenblicke schwieg; dann aber beugte er sich zu Werner und sagte ihm vertrauend: wenn ich so glücklich sein könnte, den Richter nur einmal zu frisiren, er sollte wahrhaftig anders aussehn! Hm – entgegnete jener ganz kalt, das ließe sich vielleicht machen. Luise konnte sich trotz ihres Ingrimms des Lachens nicht erwehren, ein Muthwille, den Roll sehr bald, ohne es zu wissen, rächte, indem er zu Werner sagte: haben Sie schon gehört, daß unser hübscher Italiener wieder hier ist? Luise fuhr unwillkührlich zusammen. Werner bemerkte es, und sich gegen das Innre des Hauses vorbeugend, sagte er: in der [101] That, da sitzt er ja! Luise war seinen Blicken gefolgt, die sich nach dem Parterre richteten, und ohne zu wissen wen er meine, heftete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf einen jungen Mann, der, in nachlässiger Stellung, halbliegend saß, den Arm auf die Lehne des benachbarten Sitzes gestützt, und so, das abgewandte Gesicht in der aufwärts gerichteten Hand ruhend, angelegentlich mit einer hübschen Nachbarin sprach. Ich werde ihn morgen bei der Seckingen einführen, sagte hierauf Roll, er wird unsere Damen mit seinen kleinen Talenten amüsiren. Das thun Sie doch, erwiederte Werner, und verließ, da das Stück bald zu Ende war, gleich darauf mit Roll die Loge.

Vergebens hatte Luise bis dahin auf eine Wendung des ängstlich beobachteten Kopfes gewartet; jetzt, da alles aufstand und das Gedränge immer mehr zunahm, schwankten die Gestalten verworren und unsicher umher. Sie konnte nichts bestimmt unterscheiden; allein je mehr ihr die Mittel fehlten, sich zu überzeugen, je überzeugter ward sie in sich. Es war Fernandos Stellung, sein dunkel gelocktes Haar; sie durfte nicht zweifeln. Halb entschlossen, die morgende Gesellschaft nicht zu besuchen, gedachte sie mit Unruhe des Obristen, und erwog, wie seltsam, wenn es Fernando wirklich sei, man ihr Ausbleiben deuten, wie auffallend es erscheinen [102] müsse, daß sie früher von seiner Anwesenheit unterrichtet gewesen. Das Für und Wider abwechselnd annehmend, fuhr sie endlich des folgenden Abends sehr spät zu ihrer neuen Freundin. Es ward getanzt, und sie fand alles in fröhlicher Bewegung, als sie mit gesenktem Blick, flüchtig durch die Zimmer hin, in ein kleines Cabinet eilte, wo sie nur ältere Damen am Spieltisch wußte. Bleich und zerstreut setzte sie sich neben die Baronin, welche diese Auszeichnung als eine schuldige Aufmerksamkeit gütig aufnahm. Indem trat Emilie, erhitzt vom Tanzen, herein, und flüsterte ihr leise zu: wissen Sie, wer hier ist? Ich weiß, ich weiß, entgegnete sie in tödtlicher Angst. Sie wissen? woher denn? fragte Emilie. Gestern – erwiederte Luise; ich kann jetzt nicht. – Denken Sie sich, fuhr jene fort, die Wirthin hat uns dennoch verrathen; er sah den Abend, als wir aßen, durch die Thür, welche die Wirthin ein wenig auf ließ. Er hat mir's selbst gesagt; gleich auf den ersten Blick hat er mich erkannt – Sie? fragte Luise, Sie allein? Nun, er wird Sie auch erkennen, erwiederte Emilie; aber sehn Sie, da ist er. Luise hatte nicht das Herz, die Augen zu heben. Rolls Stimme zwang sie endlich, aufzublicken. Sie hörte einen unbekannten Namen, sah ein ganz fremdes Gesicht, eine zarte, fast unausgebildete Gestalt. [103] Kaum gewann sie so viel Fassung, ihr Befremden zu verbergen und einige wohlgewandte an sie gerichtete Worte des Fremden zu beantworten.

Wen aber, liebe Emilie, meinten Sie denn zuvor? fragte sie diese, noch ganz unsicher und verlegen, als die beiden Herren sie verließen. Wen? Nun mein Gott, erwiederte jene, den jungen Cesario, unsern Reisegefährten, den Unbekannten im Gasthofe; wen anders? Dieser also war es! – sagte Luise zerstreut. Gott ja, fiel Emilie ein, ich glaubte Sie wüßten – Freilich, freilich, erwiederte Luise, ohne zu wissen was sie sagte. Dieser also! wiederholte sie mehreremale vor sich. Es ist doch seltsam! – Sie erinnerte sich der Worte, die er gesprochen, und daß er bestimmt Fernandos Namen genannt hatte. Sein Freund also, dachte sie, und ein besorgter, zärtlicher Freund! Aber wie wagt er sich mit dieser Jugend und Unerfahrenheit so allein in die Welt und auf die unsichre Spur eines so beweglichen, ewig getriebnen Menschen!

Des Obristen Blicke, die sie schon längst gesucht, trafen sie hier. Er näherte sich schnell, und fragte fast bekümmert: warum kamen Sie doch so spät? Ich hatte mich so auf diesen Abend gefreut und nun ist alles voller Widersprüche! Sophie ist plötzlich unpäßlich geworden, und hat sich entfernt; auch Sie sehn bleich und angegriffen aus. Darf [104] Ihr Freund wissen, was Sie beunruhigt? Doch, setzte er lächelnd hinzu, wir sollten uns hüten, die Geheimnisse der Frauen an uns zu reißen, sie verletzen uns oft, ohne daß wir sie verstehn. Weil sie zu unwichtig oder zu bedeutend sind? fragte Luise. Gewiß das Letztre, erwiederte er. Ihr ganzes Innre ist ein unendlich zartes, geheimnißreiches Gewebe, dessen luftige Fädchen sich so wunderlich verschlingen, daß sie oft ein gewagter Blick zerreißt, und sie sich, wie die Blumen, vor so rauher Berührung verschließen; der eigentliche Schmuck, der Blüthenstaub ihres Innern, bleibt uns daher fast immer fremd. Ihren Blick, sagte Luise sinnend, wie aus voller Ueberzeugung, würde ich niemals scheuen. Gewiß? fragte er; auch dann nicht, wenn ich Sie bäte, mir zu sagen, was Sie gestern so ängstigend im Schauspiel beschäftigte, da Sie niemand, auch Ihre Freunde nicht, erkannten, und noch beim Herausgehn meinen Gruß unerwiedert ließen? Auch dann nicht, erwiederte Luise nach augenblicklichem Nachdenken, nur fragen Sie jetzt nicht weiter; morgen, oder wenn Sie wollen. Nein, meine gütige Freundin, erwiederte er bewegt, ich werde nicht weiter fragen. Glauben Sie mir, diesmal habe ich Sie verstanden. Unsre Organe werden feiner, wenn wir sie in das reine Element der Liebe tauchen. Luise erröthete; er selbst schwieg, [105] wie erschreckt, über das rasch entschlupfte Wort. Nach einer Weile fragte er sie, um sich selbst zu entgehn, ob sie nicht tanze. Nie wieder, sagte sie schnell, in der Erinnrung jenes Abends, da sie Fernando in wilder Heftigkeit von seiner Seite riß. Nie wieder? entgegnete er; auch hier, fuhr er fort, liegt Ihr reines Herz so offen da, daß ich Sie um keine Erklärung zu bitten habe. Mich beunruhigt Ihre Schwester, sagte Luise verlegen; wollten Sie mich wohl zu ihr begleiten? Sie nahm des Obristen Arm, und eilte in Sophiens Cabinet, wo sie die schöne Frau sehr zerstört, und in sichtlicher Anstrengung, sich wieder herzustellen, fanden. Der Obrist schloß sie gerührt in seine Arme und verließ schweigend das Zimmer; aber Sophiens Schmerz brach in unzähligen Thränen aus. Klagend sank sie an Luisens Herz. Sie sprach von Horst, ihrer Liebe, seinem jetzigen schneidenden Betragen, und zog zuletzt ein Billet hervor, das sie eben erst, nach vielen vergeblichen Bothschaften, als Entschuldigung seines Ausbleibens, von ihm erpreßt hatte. Luise las Folgendes:

»Je déteste les propos du monde, je n'aime pas à ètre cité, voilà la raison de ma conduite«

Wollen Sie mit Ihrem Blut dies welke Herz nähren? rief sie empört. O um Gottes Willen, achten Sie sich doch höher. Sehn Sie nur, wie [106] die conventionelle Sprache selbst den groben Sinn nicht verbergen konnte, der sicher nie in Ihr Innres drang! Ach sie sind Alle, Alle nicht anders! jammerte Sophie. Alle? fragte Luise; auch Ihr Bruder? – Dieser trat eben jetzt wieder herein. Wenn es Dir doch möglich wäre, sagte er, sich zwischen beide Freundinnen setzend, zur Gesellschaft zurückzukehren, man vermißt Dich überall. Du leidest, fuhr er fort; ich darf nicht fragen, was Dich quält. Liebe Sophie, sei weniger verschlossen! Sieh! hier habe ich noch eine Schwester, die meine Theilnahme nicht zurückstößt. Er hatte Luisen bei der Hand gefaßt und blickte gerührt auf sie hin.

Muß ich denn, sagte Sophie sanft, mein Innres nicht vor mir selbst verschließen? Und was gewönnest Du, in die Verwirrung hineinzusehn, wo eines das andre zerstört und keines das rechte ist? Ganz anders ist es mit Luisen; ein großer Schlag des Schlag des Schicksals hob sie über so peinigende Kämpfe hinaus. Für sie beginnt ganz eigentlich ein neues Dasein, dem sie mit jugendlicher Ungeduld eine sichre Richtung zu geben sucht. Ihr Gemüth ist frisch und wach, deshalb versteht sie Dich, und scheuet Deinen Blick so wenig, daß es ihr vielmehr wohl thut, ihm zu begegnen. Luise reichte sittig, vor den Obristen hingebeugt, ihre Hand der Freundin, die, bei eignem getrübten Denken, [107] die fremde Brust dennoch klar durchschaute. Mit tiefer, innrer, Bewegung fühlte der Obrist die schöne Gestalt seinem Herzen so nahe. Wie aus sich herausgedrängt, sagte er, die dargebotne Hand schnell erfassend: wenn es wahr wäre, liebe Luise, wenn Sie mich verstanden, wenn Sie mich auch jetzt verstehn –? Heiliges, fast demüthiges, Entzücken zitterte durch Luisens Seele. Sie hob ihre Augen zu den hellen Blicken, die sie so wahr in ihrem eignesten Wesen auffanden; nichts trübte, nichts vervielfachte auch jetzt ihr friedliches Licht; ein Bote des Himmels hatte zu ihr geredet. Einen Augenblick schwieg sie, durch so wundersame Fügungen ergriffen. Nein gewiß, sagte sie endlich, gewiß, ich kann Sie nicht mißverstehn! O Gott! rief der Obrist, beide geliebte Wesen sanft umschlingend, so laß mich sterben! Ihr armen, wunden Seelen, heilt Euch in meiner Liebe, deren stilles Feuer ewig so rein glühen wird.

[108]
Drittes Buch

[109] [111]Jedes, was in unsichtbarem Zusammenhange, unvorbereitet, in das Leben eines Menschen eingreift, und das über dasselbe für den Augenblick bestimmt, scheint die Vergangenheit gänzlich von der Gegenwart loszureißen, und aus dieser eine neue beginnende Welt hervorzurufen. So schwanden auch jetzt alle frühere Störungen aus Luisens Seele. Ohne Kampf, wie ohne große innere Bewegung, gab sie sich der stillen Gewalt einer Neigung hin, die, wie alles Schöne und Herrliche, aus der Wurzel des Daseins entspringend, ihr Gemüth erweiterte und erhellte. Sie sann und erwog weniger als je, aber das Beste stand ihr immer ganz nahe, und sie erkannte und ergriff es mit frischem Sinn. So fügte sich in des Obristen heitrer Nähe alles wie von selbst, und ihr Verhältniß zu ihm, ohne gerade eine bestimmte äußre Form zu haben, ward durch so milden Einfluß unwillkührlich dichter und in sich unauflöslich.

Ein auf solche Weise heilig gehaltener, innrer [111] Verein konnte indeß den Augen der Welt nicht entgehn. Der Obrist war eine zu bedeutende Erscheinung in ihr, seine Verbindungen blieben nicht unbeobachtet, und es konnte daher nicht fehlen, daß eine große Auszeichnung als entschiedne Wahl angenommen ward. Allein diese Auszeichnung hob auch Luisen sogleich über jedes Schwanken der Meinungen hinaus. Ihr Platz in der Gesellschaft, durch die Gunst des Schicksals bezeichnet, war nun eingenommen; jeder Zweifel schnell gelöst, jede Muthmaßung beseitigt. Die Männer schwiegen da, wo nur eine bedeutende Stimme das Recht hatte, zu sprechen; und die Frauen durch Klugheit gehalten, räumten willig Vorzüge ein, wo ein Tadel ihr Urtheil verdächtig gemacht hätte. Alles trat daher Luisen schmeichlend entgegen. Selbst Auguste hörte auf zu spötteln und ließ sie ruhig gewähren. Aber vor allen war die Baronin bemüht, ihren Beifall zu äußern. Durch häusliche Sorgen und Verwicklungen geängstet, wandte sie sich gern zu der wiederkehrenden Ordnung eines vormals so verworrnen Daseins, und nicht ohne innre Behaglichkeit schrieb sie der eignen Mitwirkung einen Theil dieser heilsamen Veränderung zu. Luise gönnte ihr gern diese kleine Beruhigung, da ohnehin so manches ihren Erwartungen und Plänen entgegenstrebte. Denn es war nicht zu verkennen, [112] wie rücksichtslos auf Stein und andre Verhältnisse sich Emilie einer entstehenden Neigung für den jungen Cesario hingab. Ein launenhaftes, zweideutiges Wesen, das weich und schmeichelnd in die Gunst der Frauen hineinschlüpfte, und sie bald darauf, wie die ganze übrige Welt, in düstrem Ernst zurückwies. Niemand konnte bestimmen, ob innre Unhaltbarkeit oder irgend eine Absicht diesem wechselnden Spiele zum Grunde lag. Allein, wie man auch tadeln mußte, so fühlte sich doch ein Jeder auf irgend eine Weise davon angesprochen. Oft erschien er so mild, aus den feuchten Blicken drang eine Sehnsucht, die sich unwillkührlich an jedes Herz legte. Aber plötzlich sprühete ein wunderliches Feuer aus Aug' und Mienen, er drang mit Ungestüm aus sich selbst heraus, sang, improvisirte, zog die Gesellschaft in seine bunte Phantasieen hinein, indem er sinnvolle Tänze und Pantomimen anordnete, denen er einen ganz eignen Charakter von Wehmuth und Lust zu geben verstand. Alles strömte dann aus den fernsten Spielzimmern herbei. Man stand in gedrängten Kreisen um ihn, und rief ihm laut und ungetheilt Beifall zu. Nur der Obrist betrachtete ihn schweigend, voll mitleidsvollem Ernst, und sagte einst zu Luisen gewandt: fühlt denn niemand, wie sich das zarte, fast noch kindische, Geschöpfchen zerreißt, um ein innres Uebel zu ertödten! Luise gedachte [113] ihres ersten Zusammentreffens im Gasthause. Diese Erinnrungen, wie überall die ganze räthselhafte Erscheinung, mußten sie drücken. Es war ihr unmöglich, Cesario ohne ein ängstigendes Gefühl zu betrachten, das vergebens einen bestimmten Eindruck aufsuchte und sich dennoch nicht gleichgültig abwenden konnte.

Was sie indeß störte, zog Emilien um so bestimmter an. Ihr kleines Herz ließ sich gern von den neckenden Widersprüchen hin und her werfen. Der Wechsel war ihr rechtes Lebenselement, dem sie freudig Ruhe, häuslichen Frieden, ja selbst den äußren Anstand, aufopferte. Ihre eigenste Natur schien sich in dem Umgange mit Cesario nur erst recht zu entwickeln. Wie ihre zarte, biegsame Gestalt und die Weichheit und Rundung ihrer Bewegungen sie zu seiner steten Gefährtin bei Spielen und Tänzen machte, so fügte sie sich mit der gleichen Leichtigkeit in die scharfen Uebergänge seiner jedesmaligen Stimmung. Ja, sie theilte nicht etwa nur seine Schmerzen und Freuden, sie nahm sie ganz in sich auf, und empfand sie völlig und innig wie er.

Stein trug ein klares Bild von Emilien in seiner Brust. Er konnte es sich nicht bergen, wie viel ihr alles Neue, wie wenig er ihr war. Allein die Liebe zu ihr lähmte jeden kräftigen Entschluß. [114] Er weilte in ihrer Nähe, sich überredend, er hoffe auf irgend eine günstige Veränderung; was überall wandelbar sei, könne sich ja auch zu ihm wenden, und vielleicht sei dann der bunte Kreislauf vollendet, und das Bleibende erzeuge sich von selbst. Dennoch wagte er es nicht, eine festere Verbindung für den Augenblick zu wünschen, ja er rückte den Gedanken daran in die bessere Zukunft hinaus, an die er nicht glauben, auf die er nicht hoffen konnte. So hielt er sich in einem selbst geschürzten Netz gefangen, erwartend und verzweifelnd, mit wundem Herzen und überreiztem Gemüth, das nur einer bestimmten Veranlassung bedurfte, um alle verhaltne Bitterkeit gegen den überlästigen Cesario auszuströmen.

Bei weitem ruhiger schien der Maler Emiliens doppelte Treulosigkeit anzusehn. Für den Winter in die Residenz zurückgekehrt, lebte er allein der Kunst, wenig bekümmert um irgend etwas außer ihr. Allein Werners geschärfter, mehr spürender als forschender Blick, der jedes, was er im Laufe des Lebens irgendwo berührte, wieder anfassen und an sich ziehn mußte, hatte ihn in seiner Stille aufgefunden. Er drängte sich an ihn, und führte ihn, unter mehrern Bekannten, auch zu Augusten. Hier hatte Luise öfters Gelegenheit, den Gleichmuth des jungen Künstlers zu bewundern, da niemand, außer [115] ihr, mit seinen Verhältnissen bekannt, es vermied, über Emilien und ihre Verirrungen zu reden. Selbst Auguste schonte ihrer Freundin so wenig, daß sie sich lachend über den Spott des Schicksals ausließ, welches gewollt, daß ein unbärtiger Knabe das Gewebe der klugen Sybille höchst keck zerreiße, und sie zwinge, das Töchterchen in die Arme des ungekannten Fremdlings zu legen, um dem lästigen Gerede Einhalt zu thun. Der Maler schwieg meist ohne ein Zeichen besondrer Theilnahme; nur diesmal erwiederte er: dahin wird es nicht kommen. Sein Sie versichert, Emilie täuscht sich, und muß in Kurzem selbst davon überzeugt werden. Er sagte das sehr gefaßt, und mit einer Zuversicht, die Werners Aufmerksamkeit erregte. Allein da er sogleich wieder abbrach, so ließen auch die Andren das Gespräch fallen, ohne daß es zu einer nähern Erörterung kam.

Wenn Luise die Menschen um sich her, in ihren verschiednen Beziehungen zu einander, betrachtete, und dann auf sich selbst zurücksah, so mußte sie oft erstaunen, wie ganz anders, milder, verwandter, ihr alle erschienen. Recht wie Gestalten, die uns am Vorabend, bei hereinbrechender Nacht, mit unheimlichen Schauern erfüllten, und nun am vollen Tage klar und befreundet auf uns zutreten. Was sie sonst erschreckte und die innre Unsicherheit [116] mehrte, fiel, wie von selbst, von dem vielen Guten und Erfreulichen ab, was sie wohlthuend zu der Welt zog und den Frieden mit ihr begründete. Selbst mit Werner war sie im Herzen versöhnt, seit sie ihm auf keine Weise scheuen durfte. Cesario allein ließ sie niemals frei von jener früher empfundnen Bangigkeit deren sie, mit aller Anstrengung, nicht Herr werden könnte.

Als sie sich einmal recht lebhaft dieser Schwäche schämte, da erinnerte sie sich, wie leicht ein geheim gehaltenes Gefühl dem schönsten Verhältniß Gefahr drohe, und wie wohl größeres Vertrauen ihr und Julius Glück gesichert hätte. Sie konnte nicht anstehn, in des Freundes treue Brust die letzte, kleine Sorge niederzulegen. Dennoch geschah es nicht ohne einige Verlegenheit, daß sie ihrer frühesten Bekanntschaft mit Cesario und des belauschten Selbstgesprächs im Gasthofe gegen den Obristen gedachte. Seitdem, fuhr sie mit gesenkten Augen fort, befällt mich eine Unruhe, so oft ich ihn sehe, die jene zurückruft, weiche lange das Unglück meines Lebens machte. Der Obrist hatte ihre Hand gefaßt, und sahe mit leutseligem Ernst in ihr anmuthig verschämtes Gesicht. Meine Luise, sagte er, es ist ja dies ihr eigenthümliches Wesen, daß Sie niemand in Ungewißheit über sich lassen können, als den, der sich selbst täuscht. Sie sagen mir daher[117] nichts Neues. Ich habe Sie immer verstanden. Wie sollte es mir entgangen sein, daß Ihnen Cesario, durch irgend eine innre Ideenverbindung, Fernandos Bild zurückwirft. Ich möchte Sie beruhigen können, wenn ich Ihnen sage, daß die Unklarheit der Erscheinung es ist, welche den trüben Eindruck erzeugt. Offenbar ist etwas da, was Sie anspricht, aber Sie wissen es weder in noch außer sich in einem bestimmten Zusammenhang zu denken. Es steht losgerissen da, und schwankt nach den entgegengesetztesten Richtungen. Das ist es, was Sie verwirrt. Denn gewiß ist es das Unzusammenhängende allein, was uns im Leben stört. Könnten wir die Geschichte der Welt und jedes einzelnen Wesens in ihrer natürlichen Verbindung zu einander entstehn und fortschreiten sehn, der Faden des verworrnen Knäuels ließe sich, ganz leicht, ohne willkührliches Abreißen und Verknüpfen, abrollen, und der Mensch hörte auf, so einzeln und so feindlich der Natur und sich gegenüber zu stehn. Deshalb lassen Sie sich auch jetzt nicht beunruhigen. Haben Sie überall nur Acht auf das, was in Ihnen vorgeht, und können Sie das scheinbar Störende in irgend einen Einklang mit sich selbst bringen, so lassen Sie es ruhig walten. Sie drängen es vergebens weg, wie unbequem es auch die gewohnte Weise durchkreuzt.

[118] Luise erinnerte sich ähnlicher Worte Fernandos, zwar in ganz individueller Beziehung gesprochen, aber dennoch geeignet, sie für den Augenblick in eine höchst verwerfliche Ruhe zu wiegen. Wie leicht, unterbrach sie ihn, hintergehn wir uns aber selbst, und sehen das als zu uns gehörig an, was uns zerreißt und zerstört.

Dann, erwiederte der Obrist, kehren wir nur das eigentliche Verhältniß um. Wir geben uns dem Fremdartigen blindlings hin, und verleugnen uns so vor uns selbst. Der besonnene Mensch hingegen läßt das Ungekannte auf sich zu kommen, und wie es sich an sein innerstes Leben wagt, faßt er es mit scharfen Blicken an; ach liebe Luise! und wie bald zeigt es sich dann, was in höherer Natur über unser Wissen und Wollen gebietet. Mit welchem Rechte sagen wir daher, wir müsse der Stimme des Herzens folgen. Was man insgemein so nennt, das ist es nun freilich wohl nicht, was ich meine. Es spricht so vieles auf den Menschen hinein, daß er sich zuletzt selbst nicht mehr erkennt. Aber was so recht eigentlich aus dem Herzen heraufdringt, dem widersteht sicher Niemand. Wie wahr, fuhr er, sie umschlingend, fort, und wie höchst seltsam hat mich diese Stimme geführt! In welchem Augenblicke drückte sich Ihr Bild in mein Innres! Alles gebot mir, es daraus [119] zu verdrängen. Ich versuchte es oft, aber als es immer wiederkehrte, habe ich es heilig gehalten, und treu bewahret wie ein liebes Geschenk des Himmels, das mich still entzücken und nie wieder verlassen sollte!

Luise hatte den Kopf in großer Rührung an seine Brust gelehnt. Er drückte sie fester an sich, und sagte, über sie hingebeugt: hier wird es nun ewig leben! Wie es auch kommen möge, dies Bild nimmt mir keine Gewalt der Erde, denn es ist mein geworden durch einen friedlichen Bund mit mir selbst.

Was soll kommen? fragte Luise besorgt; was mein lieber, lieber Freund, soll uns trennen?

Ach, liebe Luise, erwiederte der Obrist, wer darf das wissen wollen? Die Bedingungen unsers Daseins wie unsers Glückes greifen in Vor- und kommende Zeit hinein, und dennoch ist unser Gesichtskreis so eng gezogen, wir verstehn die Zukunft nie aus der Vergangenheit. Da liegt alles dunkel und in sich verschlungen. Wir dürfen es nicht anrühren, wenn wir die flüchtige Gegenwart nicht verscheuchen wollen.

Luise blieb einen Augenblick nachdenkend. Wäre es möglich, sagte sie darauf, daß meine zu große Offenheit Sie beunruhigt hätte?

Behüte mich der Himmel vor solcher Schwäche,[120] fiel der Obrist schnell ein. Nein, o Gott nein! wie sollte mich beunruhigen, was der schönste Bürge meiner Ruhe ist. Liebe Luise, mißverstehn Sie mich doch ja nicht. Der Mensch thut nur wohl daran, im Uebermaße des Glücks sich den möglichen Wechsel als möglich zu denken.

Das war es nicht allein, sagte Luise, es war mehr als das. Ihr Ton drang so wehmüthig durch mein Herz, als ginge er von trüber Ahndung aus.

Jeder Blick in die Zukunft, erwiederte er, erinnert uns an die Wandelbarkeit des Glückes. Eben weil wir dort nichts Bestimmtes sehen, so tritt uns so vieles entgegen, wovon eines das andre zernichtet. Aber, was verderben wir denn die lieben, freundlichen Stunden durch so wunderliche Betrachtungen!

Luise war indeß in sich aufgeschreckt. Sie konnte sich nicht wiederfinden. Die Möglichkeit, den geliebten Freund zu verlieren, trat ihr plötzlich so nahe, daß sie ihn gar nicht von sich lassen wollte. Sie fürchtete, jeder Augenblick könne ihn ihr entreißen. Und als er nun ging, und sie ihm aus dem geöffneten Fenster, die Straße hinunter, lange nachsahe, bis er sich unter fremde Gestalten verlor, da war ihr, als sei die Straße der vor ihr liegende Lebensweg, auf dem ihr alles unbekannt [121] erschien, bis auf das eine geliebte Wesen, das sich nun auch abwandte und sie verließ. Sie verlor sich immer mehr in diese Vorstellung, und ward nicht eher wieder froh, als bis der Obrist des folgenden Tages in einem reich verzierten Schlitten vor ihrer Thür hielt. Das Geläut der Glöckchen hatte sie an das Fenster gelockt. Sie schlug freudig in die Hände, als der schöne Mann von dem leichten Fahrzeuge springend, zu ihr hineilte.

Ich komme, meine Luise, sagte er im Hineintreten, Sie zu fragen, ob Sie sich wohl eine Stunde meiner Führung anvertrauen, und mich auf einer Spatzierfahrt begleiten wollen. Der klare stille Wintertag erinnert mich so lebhaft an mein Vaterland. Ich möchte diese Erinnerungen gern mit meinen liebsten Freuden vereinen. Könnten Sie sich wohl für Augenblicke mit Ihrem Freunde in den starren Norden versetzen?

Luise willigte ohne Weiteres ein, und in Pelz und Schleier gehüllt, eilte sie, an seinem Arm, der lustigen Fahrt entgegen. Zwei russische Knaben, fremd an Ansehn und Tracht, hielten zu Pferde neben dem Schlitten. Luise setzte sich hinein. Der Obrist breitete ein Tigerfell über ihre Füße, dessen Zipfel Goldfranzen einfaßten. Er selbst nahm sodann seinen Platz hinter ihr, und die Zügel leicht [122] hebend, flogen sie pfeilschnell durch die Straßen und Thore der Stadt. Bald war diese weit hinter ihnen. Der geebnete Weg führte nach einem Walde, der sie plötzlich wie eine veränderte Welt umschloß. Ungleich thürmte sich der Schnee in großen Massen zwischen den Bäumen, die zum Theil ihre nackten Zweige starr in die eisige Luft streckten, oder die herabgezogenen Wipfel über einander neigten. Ueberall schien das Leben gewichen, hin und her sahe man auf der weißen Decke die Spur einzelnen Wildes. Freudig sprengten die Knaben mit wunderlich dumpfem Geschrei voran. Mein Rußland, rief der Obrist lebhaft! und lenkte den Schlitten immer tiefer in den wildesten Theil des Waldes.

Luise befand sich in einer Gegend, die sie früher nie betrat. Die Täuschung gewann immer mehr Gewalt über sie. Es war ihr wirklich, als ständen Vaterland und Freunde in unerreichbarer Weite, und alle losgerißne Banden schlängen sich einzig um den geliebten Mann, dem sie vertrauend unter rauhe Himmelsstriche folge. Sie zog den Schleier dicht an sich, und in einer Art behaglicher Selbstvernichtung ließ sie ihr Dasein sinnend in ein Fremdes übergehn. Vergeben Sie mir, sagte der Obrist, durch ihr Schweigen aufmerksam gemacht, vergeben Sie mir meine thörige Freude, die Sie [123] so wenig theilen können. Ist denn der Mensch wie eine Pflanze an den heimathlichen Boden, wie an den eignen Leib gebunden? Und ist nicht ein freies, höheres Verhältniß zum Leben, wie ein zweiter Leib zu betrachten, den er sich mit Wahl und Besonnenheit selbst schafft, durch den er zur Welt gehört und sich ihr kund giebt? Warum streckt uns denn das Vaterland seine tausend Arme nach, und strebt uns in seine Mitte zurückzuziehen.

Luise war in ihren Träumen verloren. Sie hatte einen großen Theil dieser Worte überhört, und fühlte nur des Obristen Hand, welche schmeichelnd die ihrige ergriffen hatte. Ihr Herz war voll der innigsten Liebe, und in dem Sinne sagte sie: gewiß, es ist überall schön, wo uns auch die Natur ein getrübtes Antlitz zuwendet.

Es soll bald wieder heitrer werden, entgegnete der Obrist, der schon früher einen Nebenweg eingeschlagen, und nun über einzelne Hügel, welche die nahe Ebne verbarg, aus dem Walde bog. Eine breite, spiegelglatte Eisfläche lag hier vor ihnen, hinter welcher sich das fürstliche Schloß mit seinen vergoldeten Dächern und weißen Säulen feenartig erhob. Heller Lichtglanz war über die ganze Gegend ausgegossen, die in so magischer Beleuchtung das überraschte Auge blendete. Wie herrlich! rief Luise, indem sie aufstand und mit der einen Hand [124] den gehobnen Schleier hielt, während die andre auf des Obristen Schulter vertrauend ruhte. Der Schlitten gleitete indeß leicht über den festen Eisrücken des Stromes zu dem jenseitigen Ufer, an welches die Schloßgärten stießen. Lebhaft wurden hier Luisens Blicke durch halbgeöffnete Sonnenhäuser angezogen, die beim Vorüberfahren ihre innren Schätze ahnden ließen. Der Obrist schlug ihr vor, einige Augenblicke unter den Blumen auszuruhen, was sie dankbar annahm und in seiner Begleitung in die kunstreich geordneten Säle trat. Wie neugeboren begrüßte sie das frische Grün, das ihr aus den seltensten Gewächsen entgegen duftete. Der Gärtner trat höflich auf sie zu, sogleich bemüht, durch nähere Erklärungen die Eigenthümlichkeit der merkwürdigsten Pflanzen und Stauden anzugeben. Luise ergötzte sich an Allem. In froher Hast eilte sie den Andren voran, sah und bewunderte jedes zuerst, und trat so allein in ein kleines Cabinet, welches hohe Granaten und fruchttragende Orangen am Ende des Gebäudes bildeten. Das frischeste Moos bedeckte den Boden in einer Höhe, daß es zu den Seiten stehende Blumenbehältnisse verbarg, und so das Ansehn gewann, als lasse es den lachenden Blüthenteppich aus seinem Schoos hervorgehn. Die goldnen Früchte schienen Luisen recht eigentlich zu winken. Sie fühlte sich auf das [125] Anmuthigste angezogen. Alte Mährchen von verzauberten Schlössern wurden wach in ihr. Dabei mußte sie an die Markise und Viola denken. Sie glaubte zu träumen. Der öde Wald, das starre Eis, und nun alle südliche Herrlichkeit! Sie konnte sich eines lauten Freudenrufs nicht erwehren. Da war es, als bewegten sich hinter ihr die Zweige; sie wandte sich, und bemerkte einen Mann, der schnell zu einer Seitenthür hinauseilte, ohne daß sie sein Gesicht sehen konnte. An der saubergestickten Uniform und dem dunkel gelockten Haar glaubte sie Cesario zu erkennen. Ihre Blicke waren noch auf die Thür geheftet, als ein Wagen an dem Hause vorüberfuhr, und sie unwillkührlich zum Fenster zog; aber die verschlungnen grünen Zweige lagen wie ein Gewebe davor, und hinderten sie, etwas zu erkennen.

Sie haben wohl öfter Besuch, sagte der Obrist, mit dem Gärtner hinzutretend. An solchen Tagen, erwiederte dieser, sind die Säle fast nie leer, besonders finden sich Ausländer und Fremde häufig ein, durch die Freiheit des Zutritts in allen fürstlichen Gebäuden angelockt.

Der Blumenduft betäubte Luisen; sie fühlte sich unwohl, und trieb zur Rückkehr ins Freie, wo sie alsbald den Weg nach der Stadt auf einer heitren, vielfach befahrnen Landstraße nahmen.

[126] Der Obrist sprach während des Fahrens noch viel über das Edle und Gefällige in der Bauart des Schlosses und seiner Umgebungen. Er machte Luisen aufmerksam auf die königliche Größe des Ganzen, welches doch keinesweges drückend sei für die nahestehenden Gegenstände, was er allein als Wirkung höherer Kunst angab. Denn diese, sagte er, kann niemals etwas für sich allein betrachten, sondern findet nur in dem innren Zusammenhang aller nothwendigen Bedingungen das richtige Verhältniß für jedes Einzelne, während die bloße Pracht alles um sich her vernichtet. Dies zeigt sich am auffallendsten im Orient, wo ein an sich untergeordneter Zweck alle höheren Strebungen beherrscht. Selbst die Denkmäler alter Kunst sind dort störend geworden, weil sie, losgerissen von Zeit und Ort, keinen gnügenden Eindruck gewähren, sondern dem unbefriedigten Gemüth schmerzliche Betrachtungen entreißen, was dem Wesen der Kunst zuwider ist, die sonst unsre innre Gesammtheit, Fülle und Kraft hervor ruft, und den ganzen Menschen göttlicher und freier macht.

In diesem Sinne war die Kunst wahrhaft in ihn übergegangen, und seine Liebe zu ihr konnte daher nur von denen ermessen werden, die ihn in allen Beziehungen seines Lebens verstanden.

Luise suchte während dem sich selbst zu entgehn,[127] und ließ es an lebhaften Aeußeruugen nicht fehlen, die das Gespräch nur mehr in seinem Lauf fortdrängen sollten. Allein sie war niemals frei genug in sich selbst, um irgend etwas, das sie zufällig berührte, für Augenblicke liegen zu lassen, und mit Besonnenheit mehreres aufzufassen. Eines beschäftigte sie alsdann so ausschließend, daß sie für alles andre entweder gar nicht da war, oder doch zerstreut und kalt erschien. So konnte sie es jetzt nicht aus den Gedanken bringen, warum Cesario ihr gerade in dem Moment habe nahe sein müssen? und weshalb sein Erscheinen, oft so halb und versteckt, sie in Ungewißheit, selbst darüber lasse, ob er es sei oder nicht? Ihr fiel ein, daß, gleich wie ganz verschiedenartige Menschen, die späterhin einen gewichtigen Einfluß auf unser Schicksal haben, sich früher in unsrer Erinnrung zusammen stellen, ohne daß wir sie in irgend einer Beziehung zu einander dachten, die Natur der Umgebungen und die Stimmung, welche diese in uns erwecken, gleichfalls bedeutend sei für das Zusammentreffen mit diesem oder jenem. Sie sann vergeblich, auf welche Weise Cesario mit in ihr Leben verflochten sein könne, und hatte zugleich eine Scheu, es zu entdecken, da sie überall so ungelegen von ihm gestört ward.

Der nächste Morgen verjagte indeß diese Wolken.[128] Sie war die folgenden Tage heitrer als je, vielleicht weil sie sich von mehrern ihrer Bekannten zurückgezogen hatte, und allein in des Obristen und Sophiens Gesellschaft lebte. Diese schien auch wieder ruhig und gefaßt. Luise bemerkte leicht, daß nur eine Aussöhnung mit Horst dies bewirkt habe, obgleich dieser in ihrem engeren Familienkreis keinen Zutritt hatte. Sie begriff eben so bald, wie sehr ein solches Gefühl geschont sein wolle, und ohne dagegen zu eifern, begnügte sie sich, ihre Freundin in einer vertrauten Stunde zu fragen, wie sie nur dies Verhältniß mit ihren sonstigen Ansichten und Begriffen vereine.

Das ist nun so, entgegnete jene. Ich rede ungern darüber. Vieles kommt in Anregung, was besser verschwiegen wird. Doch glaube mir, gutes Kind, Vergehn aus Liebe begangen, büßen sich nur durch Treue ab. Dies ist weder so leicht, als eine herzhafte Rückkehr zur Pflicht schwer ist. Zu dem Letztren bewegt uns oft gerade das, was uns früher verlockte, Sehnsucht nach einem Herzen, das uns versteht und verstehn will. Wir glauben so leicht, es gefunden zu haben, während es uns in allen Verhältnissen ziemlich gleich unerreichbar ist. Ueber die ersten poetischen Träumen der Jugend hinaus, halten es die Männer kaum der Mühe werth, in das innre Geheimniß unsers Wesens einzudringen, [129] dessen Selbstständigkeit sie nie anerkennen, dessen höhere Natur sie sich gern verbergen, um der gewöhnlichsten und natürlichsten Rücksichten überhoben zu sein. Da es denn nun überall auf die Aufopferung unsrer selbst angesehen ist, was zaudern wir, dies Opfer da zu bringen, wo wir in der Bewahrung und dem Heilighalten der Liebe uns vor uns selbst bewahren? Ich wenigstens bin resignirt, und kann mich in dieser Resignation nur mit mir und meinem Vergehn aussöhnen.

Du bringst Dich also der Liebe und nicht dem Geliebten zum Opfer? fragte Luise.

Sage mir, erwiederte jene, wie soll ich die eine ohne den andren denken, ohne auf immer mit meinem Gewissen zu zerfallen? Soll ich um ein Geringeres, als die höchste Bedingung meines Lebens, Schwur und Pflicht verletzt haben? Und wenn ich mich täuschte, war es nicht die Liebe, welche den Zauber hervorrief? Aber es ist falsch, daß die Liebe uns täusche. Sie, das einzig, ewig Wahre, zeigt uns die Menschen allein wie sie sind. Von ihr durchdrungen, haben sie für Momente wirklich erreicht, wonach sie, früher und später, durch den ganzen Kreislauf eines langen, beschwerlichen Lebens ringen. Nur wie die Außenwelt wieder nach ihnen greift und ihre Täuschungen auf sie zurückwirft, sinkt die Liebe in die stille Nacht [130] ihres verborgnen Lebens zurück. Allein, ich habe ja doch den geliebten Mann in jenen göttlichen Momenten gesehn, und so will und werde ich ihn immer sehn.

Der Obrist unterbrach sie hier, indem er ihnen die Ankunft der Baronin meldete, welche auch sogleich eintrat.

Endlich! sagte diese gutmüthig, zu Luisen gewandt, finde ich Sie. Böses Kind! Nun sollen Sie mir nicht wieder entgehn. Ich entführe Sie sogleich. Alle Freunde und Bekannte sind bei mir versammelt. Alle haben beschlossen, Sie der Einsamkeit zu entreißen. Man hat wichtige Dinge vor. Ich habe geloben müssen, Sie aufzuheben, wo ich Sie finde. Luise warf bittende Blicke auf den Obrist und Sophien. Dort suchen Sie vergebens Beistand, sagte die Baronin, ihre Gedanken errathend; diese sind auch meine Gefangenen. Ich lasse Niemand entschlüpfen. Sie müssen alle sogleich mit mir fort.

Beide Geschwister versprachen, der Einladung in Kurzem zu folgen. Luise mußte es aber geschehn lassen, daß sie die Baronin ohne weiteres zu ihrem Wagen führte, und sie, so bald sie sich hier allein sahen, mit kaum verhaltner Heftigkeit in ihre Familien-Angelegenheiten hineinzog. Es ist mir lieb, hub sie sogleich an, Sie zuerst ohne [131] Zeugen zu sprechen; Sie müssen mir einen wichtigen Dienst leisten. Es gilt hier, Stein zu einem schnellen Entschluß zu bewegen. Er muß Emilien bald, gleich, seine Hand geben. Sie können ihn dazu durch Gründe bewegen, die mir nicht geziemen, anzuführen. Lassen Sie mich ausreden, fuhr sie, jeder Unterbrechung vorbeugend, fort. Es ist gewiß, es ist nicht alles so, wie es sein könnte; allein, ohne mich geradezu in Emilien verrechnet zu haben, tragen zum Theil die Umstände die Schuld jener ungünstigen Wendung. Ich habe nicht immer ganz freie Hand gehabt. Viel Fremdartiges hat in meine Pläne eingegriffen; des Barons Ansichten und Gesellschaften, eine gewisse Freigeisterei in allem Herkömmlichen und Bestehenden, welches die unglückselige Poesie an den Tag bringt, und mehr als alles, Ihr Schicksal, mein liebes Kind, haben mir bei Emilien entgegengearbeitet. Es ist meist das Leben Andrer, das plötzlich einen Funken in ein junges Gemüth wirft und sehr zur Unzeit darin Tag werden läßt. Dies ist indeß alles geschehn. Wir können nichts, als größerem Uebel vorbeugen. Stein hätte schon so manches hindern können, wenn er mir und sich selbst mehr vertrauete. Er nimmt das Spiel mit dem halbkindischen Cesario zu hoch, wenigstens giebt er ihm ein zu ernstes Ansehn vor der Welt. Ueberall erscheinen ihm [132] die geringfügigsten Dinge so gewichtig, daß er fast unter ihrer Last erliegt. Ich begreife nur nicht, unterbrach sie hier Luise, warum Ihre Wahl grade auf ihn gefallen ist. Aufrichtig gesagt, erwiederte die Baronin, ich weiß jetzt keinen Beßren. Dem knabenhaften Abentheurer wollen wir sie doch nicht etwa geben? Andrer Unschicklichkeiten der Art nicht zu gedenken. Auch ist Stein im Grunde lenksam, Emilie hat viel Gewalt über ihn, unter meiner Leitung wird sich alles machen. Nur haben wir keine Zeit zu verlieren. In vierzehn Tagen gehe ich auf's Land, Stein muß uns sogleich folgen, und die Hochzeit schnell und still gefeiert werden. Dahin müssen Sie ihn durch die einfachsten und natürlichsten Bewegungsgründe zu führen suchen, die zum Theil in seiner Liebe zu Emilien, zum Theil in der Achtung vor dem äußren Anstand liegen, da er diesen durch die schnelle Beendigung unberufner Gerüchte am sichersten rettet.

Aber Emilie? – fragte Luise.

Nun? entgegnete die Baronin, die hat wohl keine Wahl. Was bleibt ihr noch übrig? Sie wissen wohl am besten, was die Klugheit in solchen Fällen räth. Sie selbst haben, mit mehr Ruhe als ich Ihnen zutraute, durch einen kräftigen Entschluß Ihren erschütterten Ruf wieder hergestellt. Denn mich wollen Sie doch wohl nicht, wie die Welt, [133] überreden, das kaum beruhigte Herz habe sich auf's neue einer großen gewaltigen Neigung überlassen. So etwas liegt außer allen Gränzen der Möglichkeit. Aber Sie handelten weise, und deshalb kann ich auch um so sichrer auf Ihren Beistand rechnen.

Luise hatte nicht Zeit, ein Wort zu erwiedern. Der Wagen hielt vor der Baronin Hause, die Bedienten öffneten den Schlag, und sie mußte ihrer steten Quälerin ohne weiteres in die Gesellschaftszimmer folgen.

Obgleich jene Worte sie recht empfindlich trafen und sie auf's neue in sich verwirrten, so ward sie doch bei Emiliens Anblick von sich auf andere Betrachtungen gezogen. Es mußte sie überraschen, diese ganz vertraut zwischen Cesario und dem Maler, vor einem Tischchen sitzend und mit beiden über vor ihnen liegende Zeichnungen berathschlagend, zu finden. Baron Roll beugte sich zwischen sie durch, und schien seinen Beifall zu bezeigen, indem er mit wohlgefälligem Lächeln seine ausgespreizten Finger auf ein aufgerolltes Blatt drückte, welches der Maler mit beiden Händen sauber hielt und wohl vor weitrer Verletzung sichern wollte. Werner und Auguste standen zur Seite, wie gewöhnlich, in Streit verwickelt.

Als Emilie die Eintretenden bemerkte, schlug sie freudig in die Hände, und ohne ihre Stellung [134] zu verändern, rief sie Luisen zu: geschwind kommen Sie, uns Ihren Rath zu geben. Wir quälen uns schon seit einer Stunde, und kein Mensch bringt etwas Gescheutes heraus. Der Fürst giebt einen Maskenball, und wir sind versammelt, etwas ganz Neues, Ungewöhnliches für den Abend zu ersinnen, denn die Griechen, und Ritter und Genien und Musen sieht man sich nun schon seit lange zum Ueberdruß. Auguste schlug so eben einen Sphärentanz nach alt Aegyptischer Weise vor. Allein weder sie noch irgend Jemand weiß diesen recht eigentlich anzugeben, so wenig wie die ganz frühe Tracht dieses Volkes, denn die Zeichnungen hier, nach einigen Kunstwerken aus der grauen, versteinten Zeit, können doch nicht zu Modellen dienen sollen. Ich würde eher, sagte Werner, Gegenstand und Charakter aus irgend einem bekannten Mährchen derTausend und eine Nacht vorschlagen. Sinnreiche Erfindungen und Pracht ließen sich so leicht vereinigen. Ach! fiel Emilie ein, dann giebt es wieder Turban und Schleier ohne Ende und das alte Lied wird nur mit Variationen angestimmt.

Was schicken wir dem kurzweiligen Spiel so beschwerliche Berathschlagungen voran, rief Cesario, ungeduldig aufspringend. Ihr faßt ja das Vergnügen so derb an, und dreht und handhabt den flüchtigen Genuß, daß aller Reiz verschwindet. Ob [135] neu oder alt, ob selten oder oft gesehn, die Freude trägtimmer ein frisches, jugendliches Gesicht. Nehme sie jeder, wie sie sich ihm zeigt. Ich für mein Theil halte mich in der komischen Familie meines Vaterlandes, Arlechino altert nie, und Sie Emilie, Sie verlassen mich nicht.

Emilie willigte ein, die Maske der Colombine zu nehmen. Werner verstand sich zu der des Pantalon, und Baron Roll ward ohne weitere Anfrage zum Brighella erwählt.

Bei eigenthümlicher Gewandheit und Laune, sagte der Maler, kann das phantastische Spiel immer neu erscheinen, und zu manchem lustigen Spaß Anlaß geben.

Insbesondere, fiel Werner ein, wenn mehr als eine dieser Familien zugleich aufträten, und so durch stete Verwirrungen und Verwechselungen eigne und fremde Pläne durchkreuzten.

Man fand den Gedanken lustig, ohne ihn gleichwohl festzuhalten. Auguste verwarf ihn ganz und setzte ziemlich trocken hinzu; wenn Ihr Euch alle von den Aegyptern abwendet, so will ich dennoch dem tiefen, geheimnißreichen Volke treu bleiben, und wenn nicht auf alte, doch auf neue Weise. Ich wähle eine Zigeuner-Maske. Hütet Euch. Ich sehe in die Vergangenheit und Zukunft, und werde manches Geheimniß enthüllen. Die Vorstellung [136] des nahen Festes beschäftigte alle angenehm. Viele spielten ihre Rolle schon in Gedanken durch, und diejenigen, welche noch keine Masken gewählt hatten, sannen auf passende und anmuthige Erfindungen. Stein, welcher bis dahin abgewandt in einem entfernten Theil des Zimmers beim Clavier saß, und zwischen den weitläuftigen Verhandlungen und Streitigkeiten manch stilles Liedchen leise sang, trat nun auch zu Luisen, und befragte sie über die Wahl ihrer Maske. Sie war noch unschlüssig, und bat den Obristen, der nicht längst gekommen war, für sie zu entscheiden. Ich weiß nicht, sagte dieser, ob ich Unrecht habe, wenn ich wünsche, Sie in altdeutscher, fürstlicher Tracht zu sehen, sehr einfach, dennoch höchst edel und prächtig, und zwar in einer mehr innerlichen, gediegnen als strahlenden Pracht. Viele würden Sie lieber in den üppigen Orient versetzen, und den glühenden Schimmer des südlichen Himmels um Sie verbreiten; ich glaube selbst, Sie ziehen das Letztere vor, aber die hohe, in sich beschlossene, und eben dadurch gebietende Weiblichkeit liegt doch auch in Ihrer Seele. Ja, was noch mehr ist, macht das Wesentliche derselben aus.

Es ist sonderbar, sagte Luise, in meinen frühern Jahren fanden mehrere meiner Bekannten eine große Aehnlichkeit mit mir und einigen Bildern [137] altnordischer Königinnen, und gleichwohl habe ich eher mit Schauder als Sehnsucht auf jene Zeit zurückgesehn.

Wir sträuben uns oft, erwiederte der Obrist, grade gegen dasjenige, was doch zuletzt Recht über uns behält.

Nun, rief Luise lachend, für den Abend sollen Sie es wenigstens behalten. Ich unterwerfe mich Ihrer Entscheidung.

Wohlan, sagte er, so sind wir beide Ihre Ritter. Ich trug immer ein Schwerdt, und lege es auch im Spiele nicht gern von mir. Werden Sie mir es vergönnen, fragte Stein, fast wehmüthig, wohl als ein überflüssiger, aber doch treuer Diener, meinen Platz an Ihre Seite zu suchen? Luise reichte ihm voll herzlicher Theilnahme die Hand, und alle drei redeten sofort das Nähere mit einander ab.

Als bald darauf die Gesellschaft auseinander ging, vertrauete Auguste Luisen, daß sie fruher, als Werner, einen ähnlichen Gedanken gehegt habe, und gesonnen sei, zuerst zwar als Zigeunerin, sodann aber als eine zweite Colombine aufzutreten, und dem Liebespaar und seinen Helfershelfern manchen hinterlistigen Streich zu spielen. Luise mißtrauete überall ihren Absichten, und konnte auch an dieser Neckerei keinen Gefallen finden, über die sie weiter [138] nicht redeten, sondern von da an, ein jedes nur mit eigenen Einrichtungen beschäftigt blieben. Frau von Seckingen allein war durch nichts zur Theilnahme an dem Feste zu bewegen. Sie scheue, sagte sie, die freigegebene, ungebundene Fröhlichkeit. Wo alle Rücksichten schwänden, träte die unbewachte Individualität oft abstoßend hervor, und das sei gefährlich für diejenigen, die nur ein bestimmtes, lang gehegtes und gepflegtes Bild festhalten möchten. Es sei nicht das erstemal, fuhr sie fort, daß dergleichen Festlichkeiten Entdeckungen veranlaßten, welche ein ruhiges Verhältniß aufgelöst und Menschen getrennt hätten, welche durch diese Trennung um nichts besser geworden wären. Ihr sei es nothwendig, nur das für wahr zu halten was nach höhern Gesetzen wahr sein müßte, und sich so wenig als möglich darum zu bekümmern, was unter äußren Bedingungen sich als bestehend erweise, und für die Welt allein Wirklichkeit habe. Luise verstand sie wohl, und drang nicht weiter in sie, ohnerachtet sie solche ängstigende Sicherstellung als den wahren Tod und den eigentlichen Gegensatz aller Liebe ansahe.

Am Vorabend des Balles trat der Obrist ungewöhnlich spät in Luisens Zimmer. Sie saß am Stickrahmen, und war noch mit einer Arbeit für den folgenden Tag beschäftigt, als er sich zu ihr setzte, [139] und nachdem er eine Zeitlang die Sauberkeit und den Fleiß des kleinen Kunstwerks bewundert und schweigend beobachtet hatte, wie lange die geschäftigen Finger den Faden hin und wieder lenken müssen, ehe nur der hundertste Theil des Ganzen kenntlich hervortrete, rief er fast ungeduldig: Welch mühseliges Vorbereiten zu dem flüchtigen Genuß! Aber, fuhr er fort, das scheint wohl auch nur so. Für Sie ist es wirklich nicht mühevoll. Sie haben bei jedem Stich das Ganze vor Augen, und leben so den Augenblick tausendfältig, den Sie sich erst schaffen wollen. Warum ist das nicht im Großen wie im Kleinen. Wie leicht vergessen wir bei einem sauern Gange das Ziel, wohin er führt! Und ist nicht am Ende das ganze Leben ein solcher Gang, den wir uns recht eigentlich erschweren, da wir gewöhnlich nur auf die nächsten Schritte vor uns sehen?

Was macht Sie denn heut so ungewöhnlich ernst? fragte Luise. Ich verstehe Sie nicht, lieber Freund! Die lustige Spielerei will kein so trübes Gesicht.

Er beugte sich schweigend auf ihre Hand, die nachlässig mit den goldnen Fädchen der Stickerei spielte. Wie denn? sagte sie ernster, ist das nicht bloß Zufall? lieber, lieber Freund, ist Ihnen etwas begegnet? haben Sie Kummer?

[140] Ja wohl, rief er sehr bewegt, ja wohl, ich habe Kummer! ach meine Luise! Sie sollten mich nicht so schwach sehen. Der Mann muß dem Verhängniß fest entgegentreten. Ich werde mich auch sogleich wiederfinden. Ihr lieber freudiger Blick fiel nur so zerreißend in meine bewegte Brust. Ich wollte Ihnen heute, auch morgen, noch nichts sagen, und nun überrascht mich das so. Vergeben Sie mir, Luise. O um's Himmels Willen, unterbrach sie ihn, nur geschwind, was ist es denn, was kann es denn sein!

Ein Befehl meines Hofes ist es, entgegnete er, der mich, da mein Geschäft hier so weit eingeleitet ist, um es einem Andren zu übertragen, nach Petersburg zurückruft, und zu einer neuen Mission nach Persien vorbereitet.

Beide schwiegen eine Weile. Mir bleibt nichts übrig, als zu gehorchen, fuhr er sodann fort. Ich gehöre meinem Vaterlande, und darf mich ihm auf keine Weise entziehn.

Nun, fiel Luise schnell ein, warum erschrecken wir denn auch! Was hindert uns dennoch, ungetrennt zu bleiben? Ich folge Ihnen, wohin Ihr Beruf Sie führt. Das wollten Sie, Luise? fragte er gerührt, das könnten Sie wollen? So großes Opfer dürfte Ihr Freund kaum annehmen.

Lieber, unterbrach sie ihn, wie nennen Sie [141] nur ein Opfer, was so natürlich ist, und kaum einer Ueberlegung bedarf, da ich ohne Schmerz ein Vaterland hinter mir lasse, das nichts als trübe Erinnrungen einschließt.

Er drückte freudig ihre beiden Hände an sein Herz. Ich habe das nicht glauben, ich habe es nicht hoffen mögen! rief er; und nun – gewiß, in der Liebe wird den Frauen eine Kraft und ein Wille, der den Glauben der Männer weit überfliegt. Aber wenn nun fremde Sitten, wunderliche, ungewohnte Erscheinungen, plötzlich eine Scheidewand zwischen Ihnen und die heimathliche, befreundete Welt ziehen, meine Luise, werden Sie immer an diesem Herzen Trost und Ersatz suchen?

Sie sagte ihm darauf recht wahr und zuversichtlich, wie sie es empfand, daß sie in seiner Nähe allein noch Ruhe und Schutz gegen oft erwachende, innre Störungen finden könne, daß seine Milde und Klarheit keinen Zweifel und keine Besorgniß in ihr aufkommen lasse, und die Zukunft sich recht hell vor ihr ausdehne.

So innig und durcheinander beruhigt, mit dem festem Blick auf ein vereint heitres Leben, schickten sie sich beide zu dem Feste des kommenden Tages an, und theilten recht freudig die allgemein empfundene Lust.

Sorgfältig und höchst edel gekleidet, traten sie [142] zur bestimmten Zeit in die vielfach gemischte Welt. Ein wunderliches Grauen überfiel Luisen, als die schwirrenden, lispelnden Töne aus den starren Lippen zu ihr hindrangen. Die größere Beweglichkeit der Gestalten und der Tod auf ihren Gesichtern, hatte etwas so Widriges für sie, daß sie kaum die gaukelnden Neckereien des zierlichen Arlechino bemerken, noch die Pracht anderer Erscheinungen gehörig würdigen konnte. Die Zigeunerin streifte an ihr vorbei, und Cesarios Hand fassend, sagte sie mit komischer Geberde:


Ich sage Dir wahr,
Mein Auge ist klar,
Der Trug liegt versteckt,
Ich hab' ihn entdeckt.
Drum leih' mir Dein Ohr,
Und sieh' Dich wohl vor,
Wenn Dirs geglückt,
Bist Du berückt.
Was Du umfaßt,
Es wird Dir zur Last,
Neckt Dich und quält,
Wie Du 's erwählt.
Euch allen droht List.
In kürzerer Frist
Als Ihr's erwogen,
Seid Ihr betrogen.

[143] Es drängten sich mehrere Masken dazwischen. Luise sah nur die verworrene Menge hin und her wogen und ward gedankenlos mit fortgerissen. In dem wachsenden Gedränge lispelte eine Stimme dicht an ihr Ohr: Hat die Büßende in dem Treibhause Blumen für Julius Grab gesammelt; oder will sie sich mit neuen Myrthen schmücken? Sie wandte sich erschrocken nach der Seite des Sprechenden, ein dichter Haufe schwarzer Dominos arbeitete sich durcheinander hin, Cesario stand in einer entfernten Loge und sah der lustigen Verwirrung eine Weile müßig zu. Lassen Sie uns dem Magier dort näher treten, sagte Stein, ich wette, es ist der Maler. Luise sah überall nur den ungeschmückten Grabhügel und jene fremde Hand, die sie so frostig darauf hinwies. Stein hatte indeß den Magier angeredet und ihn befragt: ob er ihm die Tiefen seines verworrenen Schicksals aufdecken wolle. Das Furchtbarste, erwiederte eine dumpfe Stimme, faßt Dich schon mit beiden Händen, das Gefürchtete ist ein Unding. Ein neuer Strom eindringender Masken drängte sie auseinander. Das Spiel, sagte der Obrist, wird immer bunter und lustiger, recht nach Masken-Weise, dort treibt Arlechino auf's neue sein tolles Wesen; horen wir doch, was der Magier Colombinen sagt, sie nahen jetzt einander. Niemals! rief der prophetische Alte [144] der Kleinen zu, niemals findest Du, was Du hier suchst, aber der Dich sucht, wird Dich finden. Wir suchen einander wohl nicht, sagte Cesario, Stein vertraulich unter den Arm fassend. Aber lassen Sie uns unter der sichtbaren Maske, die uns das fremde Spiel giebt, jene unsichtbare abwerfen, die wir uns selbst gaben, ich wette, wir werden auf der Stelle die besten Freunde. Für jetzt, erwiederte Stein, haben wir nur den Charakter festzuhalten, den uns das Spiel vorzeichnet, der meinige ist trockner Ernst, der Ihrige, possenhafte Thorheit. Mein guter Ritter! rief Arlechino, Ihr Ernst ist die tollste Posse von der Welt, und dient mir zu dem lustigsten Spaß. Steins Worte fielen von da an immer gewichtiger, Cesarios leichter, höhnender, und wurden eben daher aufs höchste verletzend; er hatte sich recht muthwillig in das eigne Netz verstrickt, sein Gegner hielt ihn unerbittlich fest, und forderte die strengste Genugthuung. Arlechino sah mit komischer Gebehrde auf sein hölzernes Schwerdt, und bat Brighella um Beistand. Der Obrist wollte sich verdrüßlich von dem ungleichen Streit abwenden, allein sie befanden sich alle in einer Ecke des Saals zusammen gepreßt, Niemand konnte einen Schritt weichen. Auf morgen! rief Stein in großer Erbitterung. Was beginnst Du, sagte eine schwarze Maske, Arlechino bei der Hand fassend; welche neue [145] Unbesonnenheit, Francesca! Jesus Maria! Fernando! rief diese, Du hier! Er hatte die Larve abgenommen, und sah mit unbeschreiblicher Anmuth um sich her. Der vermeinte Cesario, sagte er lächelnd, ist ein schönes Mädchen, das die Tapferkeit mehr liebt, als besitzt; ich denke, Sie befreien das arme Herz gern von der Angst, die so viel Uebermuth muthlos macht. So steht das Spiel? sagte Stein; das ändert freilich alles. Sie haben Recht; was kann ich anders wollen, als in des Herzens Qual meine Rache finden. Er sah Emilien scharf an, die sich an den Magier lehnte und von ihm fortgezogen ward. Das Schattenbild Cesario verschwindet nun, sagte Arlechino, zürne niemand der armen Francesca. Stein verlor sich unter die Menge. Es ward plötzlich leer um Luisen, nur Fernando stand, mit fest auf sie gerichteten Blicken, vor ihr, und schien jeden ihrer Gedanken zu bewachen. Der Obrist fühlte ihre Hand in der seinen zittern. Lassen Sie uns eilen, sagte er leise, die sonderbare Verwirrung übt ihre Gewalt über uns alle. Ja wohl, ja wohl, erwiederte sie zerstreut. Aber es ist ja ohnehin zu Ende; nicht wahr? es ist alles vorbei. Ich glaube, sagte er bewegt, darum lassen Sie uns gehn.

Am Ausgange stießen sie auf Werner, der Augusten als Colombine, ohne sie zu kennen, führte. [146] Der Spaß flüsterte diese Luisen zu, ist über Erwarten gelungen. Ich bin hinter die lustigsten Geheimnisse gekommen. Jetzt führt er mich zur Baronin, die wir vergebens im ganzen Saale suchten. Dort muß sich nothwendig alles aufklären. Ich denke, ich habe sie allesammt gehörig angeführt.

Mehrere Masken traten zwischen sie. Gute Nacht, meine Luise, sagte eine bekannte Stimme kaum hörbar, ja mein, wie Du Dich und mich und die Welt auch bethörst. Wir treffen einander wohl wieder, und Du bekennst mir, wogegen Du Dich jetzt vergebens sträubst.

Luise stürzte in ihren Wagen, ohne sich umzusehn, ja, ohne des Obristen freundliches Lebewohl zu erwiedern.

Es war tief in der Nacht, als sie in ihr Zimmer trat. Mariane war eingeschlafen, die Lichter brannten trübe, und warfen einen unsichren Schein umher. Sie ging, ohne sich umzukleiden, in großer Bewegung auf und ab, ihr ganzes Wesen war im heftigsten Aufruhr, eine nie gefühlte Verzweiflung lehnte sich plötzlich gegen das Feindliche ihres Schicksals auf Ihr ganzes Leben trat in gedrängten, entscheidenden Momenten vor sie hin. Welt und Menschen, alles schien nur da, um sie und das was sie liebte, in's Verderben zu stürzen. Von ungefähr fiel ihr Blick in einen Spiegel. Sie erschrak [147] vor sich selbst. Die fremde, veraltete Tracht, ihr bleiches, fast verzognes, Gesicht rief ihr das Bild der Ahnfrau vom Falkenstein zurück. Je mehr sie hinsah, je deutlicher glaubte sie alle Züge zu erkennen. Ha! rief sie, ich bin die Letzte des verloschnen Namens! soll ich büßen, was jene verbrach, und so die Schuld lösen? Da stand es klar, wie von höherer Macht gesprochen, vor ihrer Seele: so ist es, kinderlos, ohne Liebe, in Reue über das Vergangene; fern von jeder Hoffnung für die Zukunft, sollst Du eigne und fremde That büßen. Entsage freiwillig, denn Du begehrst vergebens, was Dir Dein Schicksal verweigert. So ist es, ja so ist es, wiederholte sie mehrmals. Alle Fäden der Hoffnung waren zerschnitten. Das Unabänderliche senkte sich tief in ihr Innres. Niemals, das fühlte sie, konnte sie in der Verwirrung des Lebens Ruhe finden vor der feindlichen Gewalt, die sichtbar und unsichtbar nach ihr griff, und alle Blüthen eines kaum erschloßnen Daseins höhnend zerstörte. Und hat er denn nicht Recht? sagte sie. Bethöre ich mich nicht selbst? Was ist es denn, was mich in ihm erschreckt und zusammenwirft, wie das zagende Verbrechen, wenn es nicht die unselige Liebe ist, die wie ein Fluch auf mir liegt. Die erdrückt nun und zertritt die letzte Hoffnung. Alles, alles ist vorbei. Ich muß dem höhern Rufe folgen.

[148] Sie sah den Gedanken so lange und fest an, bis er sie durchleuchtete wie ein stiller Tag, in welchem kein Wechsel ist und kein Schmerz. Aus der vollesten innren Ueberzeugung erwuchs ihr Wille und Kraft. Sie übersah die Zukunft mit festem Blick. Nichts konnte sich ändern, nichts den Schluß des Schicksals nach eigner Willkühr lenken. Alles blieb wie es war, bis an das Ende ihrer Tage; aber da trat der Tod wie ein seliger Engel zu ihr und drückte ihr die müden Augen zu, die nicht länger aus ihren dunklen Hölen sahen, sondern den Blick nach innen richteten, wo sich eine wundervolle Welt voll nie geahndeter Herrlichkeiten aufthat. Sie sah das alles wirklich und versank in höchster Entzückung, halb schlummernd, in die heiligen Tiefen des Unsichtbaren.

Als sie erwachte, war es Tag geworden. Die Lichte brannten nicht mehr. In den Gassen lebt' es und regte sich's wieder. Mariane war auch munter geworden, und räumte im Zimmer umher. Allein die Erinnrung jener Seligkeit war ihr so lebhaft geblieben; sie glaubte so fest an eine höhere Offenbarung, die sie in der Stille der Nacht wahrhaft empfangen habe, daß das erwachende Leben sie nicht stören konnte. Und als sie nun gezwungen war, auf's neue in dasselbe mit einzugreifen und sich um das nächste Aeußre zu bekümmern, ward ihr Vorsatz [149] nur noch fester. Ohne sich grade ängstlich zu drängen und zu treiben, sah sie ruhig alles kommen, wie es nun kommen mußte.

Ein Billet der Baronin war das Erste, was sie an die tausendfältigen Verwirrungen der Welt erinnerte. Diese schrieb ihr:

»Ich könnte besorgt wegen Emilien sein, wenn ich nicht voraussetzte, daß sie meiner ruhigen Vernunft traute, und allenfalls darauf hin eine Unbesonnenheit wagen zu dürfen glaubt. Sie ist noch nicht zu mir zurückgekehrt. Wahrscheinlich ist sie bei Ihnen und Augusten. Ich bitte Sie, mir darüber Auskunft zu geben, so wie über die Veranlassung ihres Wegbleibens. Auf jeden Fall soll sie meine Mißbilligung fühlen. Sagen Sie ihr das, ich ersuche Sie darum.«

Luise erinnerte sich jetzt erst an Augustens letzte Worte, und wie sie gesonnen gewesen sei, zu der Baronin zu fahren, wo sich die ganze Verwicklung auflösen sollte. Sie begriff nicht, was sie daran verhindert und zugleich bewogen habe, Emilien bei sich zu behalten. Sie wollte zu ihr gehn, um sie deshalb zu befragen, als ihr Mariane sagte, daß die Leute im Hause ihre Herrschaft vergeblich bis jetzt erwarteten, und Niemand wisse, was er er davon denken solle. In großer Besorgniß schrieb daher Luise der Baronin, was sie selbst durch Augusten [150] erfahren hatte, und wie sie diese noch zuletzt an Werners Arm auf dem Wege zu ihr gesprochen habe, weshalb man bei Werner allein die nöthigen Erkundigungen einziehen könne. Von Emilien aber wisse sie nichts, und begreife ihr Verschwinden so wenig wie das von Augusten.

Nach einigen Stunden trat Stein bleich und zerstört in Luisens Zimmer. Eine ungeheure Thorheit oder Niederträchtigkeit, rief er, ist in dieser Nacht vorgefallen. Werner, der Maler, Emilie und Auguste, alle sind fort! Alle Nachforschungen sind vergeblich, Niemand will etwas von ihnen wissen. Ich komme sogar von Francesca. Sie schwört, der ganze Handel sei ihr fremd. Sie habe wohl den Maler in Italien gekannt, und ihn deshalb hier in ihr Interesse ziehn müssen, ohne gleichwohl seine weiteren Verbindungen und Pläne zu kennen. Geschienen habe es ihr freilich, als liebe er Emilien, und trachte im Stillen, seinen Wünschen nachzugehn, auch Emilien sei oft etwas Aehnliches entfallen, doch könne sie das alles auf keine Weise verbürgen. Luise konnte ihm nicht länger verhehlen, was sie selbst darüber wußte. Dennoch sahen beide nicht, wie das Ganze zusammenhing, besonders, in wie weit Werner und Auguste darin verwickelt waren. Was suchen wir, sagte Stein, den Grund einer Thorheit auf, die so grundlos in [151] sich selbst ist, daß sie, wie sie entstanden, auch zerfällt. Ich wende mich auf immer von dem verächtlichen Spiel, und lasse sie sich wechselseitig verderben.

In dem Augenblicke fuhr die Baronin, in einem völlig gepackten Reisewagen, vor das Haus. Sie kam auf wenige Augenblicke zu Luisen, und kündigte ihr an, daß sie im Begriff sei, auf ihr Landgut zu gehn. Es sei dies ein Mittel, das Gerede der Welt zu verwirren, und eben dadurch in den Augen der Meisten unzuverlässig zu machen. Durch ihre Abreise gewinne es das Ansehn, als habe sie die fehlenden Personen begleitet. Wenigstens würden das Manche glauben, und ehe man der Sache auf den Grund käme, wäre wohl alles längst schon im alten Gleise. Und Sie, Herr von Stein, setzte sie hinzu, gewinnen auch dadurch Muße, ihre Nachforschungen geheim und mit möglichster Schonung zu betreiben. Ich möchte ungern weiter forschen, erwiederte dieser. Gönnen Sie mir meine Unwissenheit. Ich fürchte, gnädige Frau, Sie wünschen sie sich auch in Kurzem zurück. Die Baronin lief Gefahr, alle Fassung zu verlieren. Stein faßte sanft ihre Hand. Es ist so leicht, sagte er, daß mir jetzt ein verletzendes Wort entfällt, und ich würde mir es nicht verzeihen, Sie gekränkt zu haben. Lassen Sie uns daher nicht weiter über [152] einen Gegenstand reden, der mir fremd bleiben soll, fremd bleiben muß. Zum erstenmal sah Luise Thränen in der Baronin Auge. Sie suchte sie zu verbergen, konnte sich dennoch einer großen Rührung nicht erwähren, als sie Luisen umarmte, und nun so allein und verlassen zu dem geräumigen Wagen ging, und den leergebliebenen Platz neben sich betrachtete. Stein konnte lange das Bild der gedemüthigten, schwer gekränkten Mutter nicht los werden. Er kämpfte mit sich, ob er ihr nicht nacheilen, und ihr wenigstens seinen Beistand zusichern solle. Allein er fühlte bald, daß er sich in nichts einlassen dürfe, und nur eilen müsse, sich der nachtheiligen Erinnerungen zu entschlagen.

Der Obrist trat bald darauf hinein, wodurch das Gespräch auf's neue auf die unerklärliche Begebenheit dieser Nacht gelenkt ward. Roll hatte die Geschichte, welche er von den Leuten der Baronin sehr zeitig erfuhr, mit großer Geschäftigkeit herumgetragen, und hinzugesetzt, die Familie sei gesonnen, Augusten, als Urheberin des Complots, öffentlich zu zitiren. Unbegreiflich, setzte der Obrist hinzu, sei es jedermann, welches Augustens Theilnahme an dieser Sache sei, die völlig ihrer Art zu denken widerspräche. Ein Mißverständniß, erwiederte Luise, kann ihr allein nur ein so böses Spiel bereitet, und sie unwillkührlich fortgezogen [153] haben. Freilich, fügte sie hinzu, wird es ihr schwer sein, wieder einzulenken, da es so weit gekommen ist.

Es ist überall mißlich mit dem Einlenken, erwiederte Stein.

Wenn man die Nothwendigkeit davon einsieht, sagte Luise, muß es dennoch geschehn.

Was ist aber so absolut nothwendig, fragte jener?

Das Würdige allein, erwiederte sie, was jedem auf seine Weise zu thun geziemt. Sagen Sie mir, beginnt das Verhängniß eines Menschen erst mit seiner Geburt? oder ist es nicht vielmehr in einer Reihe vor und nach ihm lebender Wesen begründet, mit denen es sich in die Unendlichkeit fortschlingt? Gewiß, sagte der Obrist, der Punkt, auf dem ein jeder von uns steht, ist kein zufälliger, sondern durch die Natur seines und des Daseins aller genau bestimmt.

Und ein Schritt über oder unter diesen Punkt, fiel Luise schnell ein, verwirrt uns und andre. Und ist es denn nun nicht die höchste Freiheit, wenn wir uns mit Besonnenheit, und dadurch aus eigner Wahl dahin stellen, wohin uns unentgehbare Ereignisse, nach einem zerrissenen, verpfuschten Leben, zurückwerfen?

Der Obrist betrachtete sie forschend, während sie einen Augenblick gedankenvoll in sich zurücksah.[154] Was gewinnen wir, fuhr sie nach einer Weile fort, wenn wir uns so viel und mancherlei überreden, und einen Wahn pflegen, den wir zuletzt mit aller Anstrengung nicht festhalten können; was bleibt uns anders, als ein wehmüthiger Blick auf ein verfehltes Streben?

Ja wohl, ja wohl! sagte Stein erschüttert. Dennoch greifen die Elemente unsers Daseins oft so wunderbar in einer Brust zusammen, und mischen und gestalten sich so verschieden, daß ihr Wesen nicht immer sogleich zu verstehn ist. Deshalb tadle Niemand die stillen Kämpfe eines vielfach gestörten Gemüthes, ehe es durch sich selbst erfährt, was es kann und soll.

Er reichte beiden die Hand, und verließ in großer Bewegung das Zimmer.

Muß ich meinem Gefühle trauen, Luise, fragte der Obrist, habe ich sie verstanden?

Niemand, erwiederte sie, kann weniger in Zweifel über mich sein, als Sie. Ja, Sie verstanden mich gewiß. Ach! Sie fühlen es auch, ich darf nicht glücklich sein wollen.

Und ich? fragte er. – Sie werden es nicht bereuen, entgegnete sie, eine Freundin gesucht und gefunden zu haben. Glauben Sie mir, wir waren einander nie näher, als in diesem Augenblick, wo ich Ihnen aus voller Ueberzeugung sage, daß ich [155] meinen Weg allein gehn muß. Mein edler Freund, es muß, gewiß, es muß so sein!

Das ist es nun also, sagte er sinnend. Es lag dunkel in meiner Seele. Nun ist es ausgesprochen. Ja, Sie haben Recht, es muß so sein. Wie wunderbar, daß uns die Wahrheit so nahe liegt, ohne daß wir sie sehen mögen! Und gleichwohl ist es schön, daß uns ihr unerwartetes Erscheinen jetzt nicht erschreckt. Nein, Sie sollen mich nicht kleiner sehen, als Sie es erwarteten. Ihr Muth, der nicht Leichtsinn ist und nicht Verzweiflung, hebt mich zu Ihnen hinauf. Und wer muß denn nicht am Ende die liebsten Wünsche unter die Trümmer seiner Hoffnungen begraben? Aber wenn Sie nun so alles von sich gedrängt haben, Liebe, und jeden freudigen Genuß des vielfach gestalteten Lebens, was erwarten Sie denn noch von diesem Leben?

Innre Stille – erwiederte Luise. – Und erschrecken Sie nicht vor dieser Grabesstille? fragte er, sie mitleidsvoll betrachtend. Luise, wenn Sie sich täuschten, wenn Sie so um so sichrer Ihre Bestimmung verfehlen. – Lieber Freund, unterbrach sie ihn, die ist verfehlt, und kann nur auf dem umgekehrten Wege wieder errungen werden. In dem Leben der Frauen muß alles den einfachsten, ruhigsten Gang gehen. Weder große Kämpfe noch heftige Leidenschaften dürfen es verwirren, [156] sonst geht die Richtung verloren, die in scheinbarer Beschränktheit das Herrlichste erzielt. Wie die Gestirne ihre abgeschloßnen Bahnen still vollenden, so muß der Kreislauf weiblicher Wirksamkeit nach einem ewigen Gesetz gleichmäßig fortlaufen, die innre, oder Schattenseite des Lebens beschreiben, und nur unsichtbar in die mannigfache Gestaltung der Dinge eingreifen. Wie das Fremdartige sie zu nahe berührt, ist dieser ruhige Lauf unterbrochen, und sie schwanken und fassen nach dem verlornen Gleichgewicht umher, das sie nur in dem freiwilligen Hingeben alles dessen, was ihnen nicht mehr gehört, wiederfinden. In der Liebe geht den Frauen der Himmel auf. Wo diese aber mit der Natur in Streit ist, da müssen die bethörten Herzen in Reue und Buße erst den Himmel und in ihm die Liebe suchen. Das ist so wahr, fuhr sie lebhaft fort, das habe ich in dieser Nacht durch höhere Eingebung erfahren, und das steht nun so fest in meiner Seele, daß ich eher sterben, als es verleugnen könnte. O glauben Sie mir, es giebt Ahndungen, die unser dunkles Dasein durchblitzen, die wir festhalten, denen wir unbedingt folgen müssen.

Sie redeten von da an sehr klar und bestimmt über ihre beiderseitige Zukunft. Der Obrist versicherte, es könne ihr Entschluß ihn nicht abhalten, [157] sie sobald als möglich wieder aufzusuchen. Weshalb, sagte sie, sollten wir einander auch fliehen? Der Friede, der in dieser Stunde über uns kommt, der kommt von Gott, der gründet sein stilles Reich in ewiger, heiliger Erinnrung. Ich werde Ihr liebes Auge nie vergessen, das so mild und schonend in mein gestörtes Innre blickte.

Als sie sich am Abend von einander trennten, wandte sich der Ob ist noch einmal zu Luisen, und sie mit festem Blicke betrachtend, sagte er: nicht wahr, meine Freundin, es muß so sein! Ja Lieber, entgegnete sie bewegt. Lassen Sie uns auf das innre Wort achten, und es durch ein treues, wahrhaftes Leben aussprechen.

Am folgenden Tage kam Frau von Seckingen zu Luisen. Ihre verweinten Augen und die zitternde Stimme bestätigten dieser, was sie geahndet. Er ist fort? fragte sie. Ja, rief Sophie mit verhülltem Gesicht, und Du hast ihn einer Grille wegen hingegeben, von Dir gestoßen; hätte er Dich doch nie gesehen! So sagte er nicht, erwiederte Luise sanft, er kennt mich besser. O nenne keine Grille, was mein ganzes Wesen so lebhaft und dringend heischt! Und wie mißverstehst Du mich denn? Kannst Du verkennen, was eine nähere Verbindung zwischen uns unmöglich macht? Siehst Du nicht, wie ein früherer Eindruck jeden stillen Genuß meines [158] Lebens vergiftet! Soll ich die Ruhe des edelsten Herzen einem Ungefähr, einem zufälligen Zusammentreffen mit dem Erbfeinde meines Glückes aussetzen? O Du solltest gerechter sein!

Ich bin nicht unbillig, erwiederte Sophie. Ich finde Dich nur inconsequent. Liebst Du jenen, warum verkennst Du den Wink der Natur, warum zögerst Du? – Die Natur ist ewig, unterbrach sie Luise, vergiß es nicht, daß ihr Reich nicht allein von dieser Welt ist. Was hier die Nothwendigkeit versagt, erringt dort die Freiheit wieder! Hier tritt Julius Schatten zwischen mir und ihn. Und dennoch liebst Du ihn? fragte Sophie. Ja, ach Gott ja, ich liebe ihn. Eine unbegreifliche Gewalt zieht mich zu ihm hin; ich weiß nicht, woher? ich weiß nicht weshalb? aber es ist so, und dennoch dürfen die unsichtbaren Bande nicht sichtbar werden, ja ich muß streben, so viel an mir ist, sie zu zerreißen. Dann sind alle versöhnt, dann ruhen die Leiber in ihren Gräbern, und alle seligen Geister freuen sich des Lichtes.

Frau von Seckingen sah sie fremd an. Du schwärmst, Luise, sagte sie, gewiß Du hättest besser gethan, Dich einem sichren Führer auf der einfachen Straße des Lebens anzuvertrauen, als auf eine so unnatürliche Höhe allein hinaufzusteigen.

Luise fühlte, daß sie ihr nichts erwiedern könne.[159] Sie versuchte noch einigemal, von dem Obristen zu reden; allein Sophie wich ihr verstimmt aus, und sie schieden zum erstenmal, jedes in sich zurückgedrängt und entfremdet.

Sie erkaltet wohl nun auch, sagte Luise betrübt. Sie hat eine Andre in mir, nur um des Bruders Willen, geliebt. So fällt eines nach dem Andren ab, und zerstreut sich in einem Leben, das ich fliehen muß. Sie lehnte sich gedankenvoll an's Fenster, und sah dem wegrollendem Wagen nach, als Fernando, in reicher Uniform, an Francescas Seite vorüber ritt. Er redete mit dieser, und blickte auf zu Luisen, welche schnell zurücktrat. So hatte sie beide in Julius frühester Schilderung zuerst gesehen. Das war das erste Bild, das sich von beiden in ihre Seele drückte. Der Kreis ihres damals beginnenden Lebens schien nun geschlossen. Jetzt wie damals ging er, einer Erscheinung gleich, an ihr vorüber. Von nun an, sagte sie, will ich ihn nicht wieder sehen. Sie wußte durch den Obristen, daß er französischer Offizier, und nicht aus eignem Triebe, sondern in Aufträgen, in der Residenz war. Sie beschloß, diese so schnell als möglich zu verlassen, und sich für immer in den dichten Mauern des Falkensteins vor jeder neuen Störung zu bewahren.

Noch am selben Abend ward ihr Minchens Ankunft gemeldet. Diese kam, sie von des Onkels Tod [160] zu benachrichtigen, und sich sodann bei der einzigen Verwandtin ihrer Mutter hier in der Stadt aufzuhalten.

Liebes Kind, sagte ihr Luise, wir sind wohl beide mit unsren Anforderungen an die Welt fertig. Wir bleiben nun zusammen, und flechten, wie ehemals, Veilchen- und Cyanenkränze, und lassen sie nun über Julius stilles Grab in den Zweigen spielen. Das bescheidene Mädchen hatte nie so große Hoffnungen gehegt, und ähnliche auffliegende Wünsche schnell unterdrückt. In großer Rührung fühlte sie sich jetzt zu der Jugendgespielin hingezogen, die ihr so liebreichen Schutz anbot. Luise aber sah in das bleiche Gesicht ihrer neuen Gefährtin, wie in den Mond, der eine stille Winternacht erhellet. Der flüchtige Tagesschein ihres jungen Lebens war beiden untergegangen. Wünsche und Erwartungen, ruheten in dem heiligen Schooß des innren Daseins, aus welchem späterhin der neue Morgen hervorgehen soll; aber Minchens Blick und Gruß rührte die stille Nacht an, und warf einen milden Silberschein über die schlafende Welt, die nun in Erinnerungen fortträumte, und ihr innigstes Leben nicht verbergen konnte.

Noch vor ihrer Abreise erhielt Luise folgenden Brief von Augusten:

»Ich müßte verzweifeln, wenn sich der Mensch[161] überall selbst verlieren könnte. Aber das drückendste im Leben ist, sich zu kleinen Zwecken in fremder Willkühr gehalten zu sehn.

Sie kennen meine schuldlose Spielerei an jenem Abend. Wem das Böse fremd ist, der ahndet es auch da nicht, wo es ihm ganz nahe tritt. Ich begegnete Ihnen, in der Absicht, mit Werner zur Baronin zu fahren. Die Nacht war dunkel, keine Laternen brannten mehr in den Straßen, mein Begleiter unterhielt mich mit großer Lebhaftigkeit, und verwickelte sich immer mehr durch neue Entdeckungen, an denen ich mich dergestalt ergötzte, daß es mir entging, als wir aus dem Thore auf abgelegenem Wege fuhren. Endlich hielt der Wagen. Ich sah der Entdeckung mit großer Lust entgegen, als der Maler an den Schlag trat, und ungeduldig rief: schnell Werner, wir haben keine Zeit zu verlieren. Dieser bot mir den Arm, und ohnerachtet mich jene Worte befremdeten, so stieg ich dennoch in der Erwartung aus, die Sache nun beendigt zu sehn. Es war so dunkel, daß man keine Hand vor Augen sahe. Geschwind, geschwind, rief der Maler auf's neue. Nun, erwiederte Werner, mich zu ihm führend, mäßigen Sie Ihre Ungeduld, da ist sie. Was zum Teufel, schrie jener, noch Eine! Noch Eine –? fragte Werner bestürzt. Nun ja, sagte [162] der Maler, Emilie ist dort im andern Wagen. Wir haben uns vollkommen verständigt. Sie willigt in Alles. Ich hatte die Maske abgenommen, und sagte mit meiner natürlichen Stimme: Erschrecken Sie nicht, Herr Werner, ich habe nur Ihren Gedanken ausgeführt, und als zweite Colombine Ihre Pläne und Absichten durchkreuzt! Auguste! riefen beide zugleich! – Das ist eine schöne Geschichte, sagte Werner, unmäßig lachend. Ja, gnädige Frau, fuhr er fort, Sie erinnern sich, daß ich ein gegenseitiges Durchkreuzen der Pläne beabsichtigte. Dem sind Sie nun hülfreichst entgegen gekommen. Wir sind Alle in demselben Gewebe gefangen. Sie dürfen wir nicht freilassen. Sie müssen uns nun schon weiter begleiten, da Sie einmal bis hieher kamen. Sie wollten uns anführen, wir müssen Sie entführen, und zwar nach Italien, wohin unser Weg geht. Ich schrie bei diesen Worten aus Leibeskräften um Hülfe, allein beide Männer faßten mich unter die Arme, und schleppten mich in den Wagen, der, ehe ich mich besinnen konnte, unaufhaltsam fortrollte.

So führten sie mich nun, von Station zu Station, wie eine Gefangene, aus Furcht, daß ich sie verrathen werde, mit sich fort. Heute, da Emilie des Malers Frau geworden ist, und sie [163] überdem einen großen Vorsprung gewonnen haben, hat man mir erlaubt, zu schreiben, weil es mir unmöglich ist, ohne Geld allein zurück zu kehren. Ich bin durch Noth an diese elende Seelen gebunden, die durch Betrug erringen, was der kühne Sinn in offner That erzwungen hätte. Eilen Sie daher, mir durch meinen Sachwalter Geld nach Venedig zu schicken, von wo aus der Maler verspricht, es in meine Hände zu besorgen, da er mir weder über die Richtung unseres Weges, noch über den Ort unseres Aufenthalts, etwas Näheres sagen will.

Emilie ist kindisch mit allem Neuen was sie sieht, beschäftigt, und hofft nach einem Jahre auf die Verzeihung und Einwilligung ihrer Eltern.

Ich gönne ihr diese Hoffnung, von der es mir übrigens gleich ist, ob sie erfüllt wird, oder nicht, da sie in sich nichts bedeutet. Ganz anders beschäftigt mich meine Rückkehr, die ich Sie, so sehr als möglich, zu beschleunigen bitte.«

Luise besorgte den erhaltenen Auftrag, und sandte Stein sodann diesen Brief, der mit kalter Hand jede Erinnerung an Emilien niederschlug.

Ohne jene oft empfundene Scheu, in einer Art seeligem Erwarten, hatte Luise ihre Reise angetreten und zurückgelegt. Tage und Wochen waren ihr auf dem Falkensteine verflossen, mit dessen einsamen [164] Schauern sie sich immer mehr befreundete. Das Dunkle, Fremdartige, war ihr näher getreten. Sie freuete sich selbst an den Bildern, die sie vormals schreckten. Deshalb war sie oft, in den weniger verzierten Zimmern nach der Waldseite, mit allem beschäftigt, was sie eine kurz verflossene Gegenwart vergessen machte. Wunderbar ergriff sie das Rauschen der hohen Tannen, jene dumpfe, hallende Töne einer verschollenen Natursprache, dem Menschen nur noch in wehmüthigen Ahndungen vernehmlich. Dazwischen murmelte der nahe Wasserfall aus dem geöffneten Mund der grauen Felsen, und darüber hin zogen Sterne herauf, in ihren bedeutsamen Bildern. Alles redete sie an, ernst, aber tief aus dem Herzen des Daseins hervor. Aber seltsamer und reicher gestaltete sich ihr die Nacht. Unaufhörlich träumte sie von den vormaligen Bewohnern des Schlosses. Ritter und Frauen, reich geschmückt oder in häuslicher Tracht, in Freude und Schmerz, bei festlichen Gelagen oder Kämpfen, immer traten sie, auf irgend eine Weise mit in ihr Leben verflochten, vor sie hin, und immer erschien sie selbst handelnd unter ihnen. Oft kehrten dieselben Gestalten wieder, unter ihnen besonders eine verschleierte Frau, die langsam durch die Zimmer des Schlosses schritt, und wenn sie vor das große Bild der Ahnfrau trat, die Schleier auseinder [165] schlug, und Luisen in ihrer hohlen Brust ein blutiges, zitterndes Herz zeigte, um welches zwei kleine schwarze Schatten flogen und es unaufhörlich an- und abstießen. Sie erwachte dann wohl, von ängstigenden Tönen aufgeschreckt, und wenn sie sich recht besann, so war es der wahnsinnige Claus, der mit seiner Cither durch die Berge zog, oder auch an des alten Georg Fenster pochte, und ihn zu sich in die dunkle Nacht rief. Wie ein Schatten der vormaligen Zeit schlich dann am folgenden Morgen Georg durch das Schloß, und murmelte unzusammenhängende Worte. Luise fühlte sich wenig hierdurch gestört. Sie gewöhnte sich an Alles, ja die Träume wurden ihr lieb, sie setzten sie in geheime Verbindung mit der Vorwelt, die sie so wunderbar zu sich zurück zog.

Minchen hingegen, immer still und thätig wirkend, war längst der müßigen Beschauung entflohen. Der Frühling öffnete allmählich seine hellen Augen, und lockte den bunten Blumenschmuck aus der Erde. Minchen war vertraut mit dem zarten Leben der kleinen Pflanzen. Unter ihrer Pflege sprossen Krokos und Anemonen schneller hervor. Aufmerksam lauschte sie auf jede neue Entwickelung, und durchlief Feld und Garten und Wald, mit der unermüdlichen Theilnahme eines Herzens, das alles freuet und bewegt, was zur Lust und dem [166] Heil der Menschen da ist. Als sie Luisen die ersten Veilchen brachte, sanken sie einander sprachlos in die Arme. Beide durchdrang das gleiche Gefühl. Es war ja der alte Frühling wieder, der sie heute wie ehemals, mit seiner süßen Milde berührte. Die Natur, groß und ewig, war ihren stillen Gang fort gegangen, unbekümmert um die widersprechenden kleinen Wünsche der Menschen. Und sollen wir nicht, sagte Minchen, durch stetes ruhiges Walten, uns selbst treu bleiben, wie die alte weise Führerin es lehrt! Die innigste Liebe trieb sie dann auf's neue hinaus. Sie säete und pflanzte und ordnete, mit des Gärtners Hülfe, alles zu Luisens Freude. Dabei sammelte sie heilbringende Kräuter, die sie zu bereiten verstand, und rastete nicht eher, bis sie Kranke und Leidende fand, denen sie helfen, die sie heilen und pflegen konnte. Luise ward unwillkührlich in dies regsamere Leben mit hineingezogen. Nur gestaltete sich unter ihren Händen alles anders, größer, umfassender, als es Minchen, an beschränktere Mittel gewöhnt, wünschen durfte. Schon bei dem Anblick der fast sterbenden Marie, war es ihr anschaulich geworden, wie man das Leben und die Gesundheit der Menschen bei weitem nicht heilig genug halte, und durch Unachtsamkeit auf den bedürftigern Theil derselben, manchen Mord begehe. Besonders hatte [167] sie auf dem Lande genugsam Gelegenheit gehabt, zu sehen, daß ansteckende Krankheiten, aus Mangel an Raum, den Kern so manches Daseins für immer vergifteten. Sie beschloß daher, am Fuße des Schloßberges, auf einem freien, und dennoch geschützten Platze, ein Gebäude zur Aufnahme hülfsbedürftiger Kranken errichten zu lassen; darneben sollte ein Garten angelegt werden, theils zur Erheiterung der Genesenden, theils darin Klima und Boden angemessene Heilpflanzen und Kräuter zu ziehen. Die innre Oekonomie des Ganzen sollte bejahrten Männern und Frauen anvertraut werden, welche auf die Weise, zu gröberer Arbeit untauglich, hinreichenden Unterhalt fänden. Minchen berechnete sogleich, wie man auch verwaiste Kinder bei der Anstalt versorgen, und zu nützlicher Thätigkeit anführen könne, und zwar, indem man den Knaben die Bearbeitung des Gartens, den Mädchen aber das Spinnen und Weben der nöthigen Wäsche für die Kranken übertrüge. Je näher beide den Entwurf betrachteten, je lebhafter ward der Wunsch in ihnen, die Ausführung desselben ins Werk zu richten. Luise fühlte indeß bald, daß sie trotz allem Aufwand von Kräften, dennoch fremder Hülfe dazu bedürfe. Sie wandte sich daher an ihren alten Freund, den Arzt, dem außer den erforderlichen Kenntnissen seines Faches, eine [168] umfassende Bildung, und besonders Anschaulichkeit und Maaß für die verschiedenen Verhältnisse äußrer Anordnung, ja eine große mechanische Tüchtigkeit ganz zu eigen war. Seine Vorschläge waren durchdacht, standen auf allen Seiten fest. Luise hatte ihn ganz auf seinen Platz gestellt. Ihr Antrag ehrte ihn, und er leitete die Arbeit mit Genauigkeit und Fleiß. Minchen fand bald verlassene Kinder und freundliche Alte, die für ihren Zweck paßten. Alles war eingeleitet, und Eines trieb frisch und freudig das Andere. Luise sah mit steigender Freude den Fortschritten des Baues zu. Nach Monathen stand endlich das helle, freundliche Haus da. Keine Inschrift, keine Spur der Eitelkeit zog die Aufmerksamkeit des müßigen Beschauers auf sich. Still sah es zwischen hohen Bäumen hindurch, die es von der Nord- und Ost-Seite schützten, südlich zog sich der Garten hin, von lebendigen Hecken eingefaßt; alles höchst einfach und anspruchslos. Unmittelbar hinter diesem breitete sich eine frische Wiese aus, die dem Auge einen weiten, freien, Horizont eröffnete. Nach dieser Seite zu, lagen die Krankenzimmer, geräumige Säle, an deren Fenster sich Wein und Epheu hinaufrankte, ohne jedoch die Aussicht ganz zu verdecken. Die Wände waren grün gemahlt, oberhalb in schmale weiße Felder getheilt, welche Frucht- und Blumen-Kränze [169] einfaßten, in diesen Feldern standen Biblische Sprüche sehr groß geschrieben, zur Erbauung und zum Troste der Leidenden.

Zu große Entfernung hinderte den Arzt, fortwährend Theil an dem glücklich eingeleiteten Geschäfte zu nehmen. Er empfahl daher Luisen einen Mann von reifen Jahren, einen Chirurgus des nächsten Städtchens, der im Druck und der Beschränktheit sein Gemüth befestigt, und seinen Geist still fortgebildet hatte. In einem hohen Grade mild und selbstverläugnend, paßte er sich ganz zum steten Beobachter vieler Unglücklichen, die Trost und Heil von ihm erwarteten. In dankbarer Rührung nahm er Luisens Vorschlag an, worauf er sofort ein Zimmer in dem neuerbauten Hause bezog. Minchen ging ihm fleißig an die Hand, Aufmerksamkeit und Erfahrung hatten sie schon zu so manchem richtigen Schluß geführt. Besonders verstand sie sich auf die Anwendung selbstgezogener Kräuter, und Bereitung von Säften und Getränken. Luise konnte nicht sowohl selbst Hand anlegen, als mit schnellem Blick das Fehlende erkennen, und ihm durch gehörige Anordnungen abhelfen. Dennoch brachte sie viele Stunden des Tages bei den Kranken zu. Ihr bloßes Erscheinen, und der sanfte ergebene Ernst in ihren Zügen wirkte wohlthuend auf die Gemüther. Auch kam [170] sie selten mit leeren Händen. Immer fand sie etwas aus, was den Ermatteten erquicken, den Schmrrz des Leidenden lindern, oder den Muthlosen überraschend anregen konnte. Willig las sie denen aus der Bibel vor, die gern den gesunkenen Sinn in den Quell des Lebens erfrischen mögten. Besonders aber war sie den Kindern eine liebe Mutter, die ihr schon immer von fern die Händchen entgegenstreckten, um die mitgebrachten Bilder und Spielereien in Empfang zu nehmen.

Der Ruf einer so milden Stiftung, auf der sichtlich Gottes Segen ruhete, da alles den erwünschtesten Erfolg hatte, mußte sich hald verbreiten. Von nah- und fernen Ortschaften schleppten sich Kranke herbei, oder ließen sich fahren und tragen, um nur unter den segensvollen Händen der Dame vom Schlosse zu heilen. Luise mußte bald eine strenge Auswah! unter ihnen treffen, und konnte nur diejenigen aufnehmen, welchen wahrhaft äußre Mittel zu ihrer Wiederherstellung fehlten, um nicht über das Maaß ihrer Kräfte hinausgetrieben zu werden. Dennoch ward sie als Heilige geehrt und blieb immer gleich gesucht.

Unter so frommem Wirken ging die Zeit unmerklich an Luisen vorüber. Die Jahreszeiten wechselten, aber das stille Leben blieb ununterbrochen dasselbe. Zuweilen erhielt sie Briefe vom Obristen, [171] der, recht im Gegensatz mit ihr, scharf und entscheidend in die Welthändel eingriff, und jetzt auf auf einem Zuge gegen die Kaukasische Tartaren vorrückte. Er fürchtete, lange nicht nach Europa zurückzukehren, wohin ihn doch Luisens Andenken unverändert rief. Sie erzählte ihm dafür gern alles, was auf den wieder errungenen Frieden ihres Herzens Bezug hatte, und betrachtete überall diesen Briefwechsel als eine liebe Zugabe ihres anderweitigen, heitren Lebens. Weniger erfreulich waren ihr die Nachrichten, welche sie von Zeit zu Zeit von ihren Freunden aus der Stadt erhielt. Auguste hatte bei ihrer Rückkehr mit aller Anstrengung und allem Gewicht ihrer Sentenzen nichts gegen die Stimme der Welt ausrichten können. Der Schein war gegen sie; man glaubte sie in den bösen Handel verstrickt, und alles, selbst der Engländer, der vor ihr angekommen war, wandte sich von ihr ab. Sie schrie und schimpfte und haßte nun die englische Nation, wie sie sie vormals geliebt hatte. Die Baronin blieb ihre ärgste Feindin, da diese sich mit scheinbarer Kälte auch von der eignen Tochter wenden zu müssen glaubte, um ihr Gewicht in der Meinung der Menschen nicht zu verlieren. Von Emilien erfuhr man wenig, da die Mutter nie, und die Welt selten noch von ihr sprach. Frau von Seckingen war endlich durch den Tod ihres Mannes in den [172] Stand gesetzt, Horst ihre Hand zu geben. Sie besaßen nun beide, was sie wünschten, und schleppten ein nüchternes Dasein neben einander hin. Luise betrachtete mit Wehmuth all die mannichfachen Verirrungen, und wie so viel gute Menschen sich selbst täuschen. Sie redete einst mit Minchen darüber. Allein diese erwiederte: ich weiß nicht recht, was das eigentlich heißt, wenn man von der Liebe eines Menschen sagt, er täusche sich selbst. Was doch so recht innig und lebhaft das ganze Wesen erschüttert, das ist doch da, und wirklich, wo ist denn nun die Täuschung? Am wenigsten mag ich es leiden, wenn die Leute selbst nach kurzer Frist ein Gefühl so nennen, was ihnen doch für Augenblicke höher als ihr eignes Leben war. Ich glaube, erwiederte Luise, man kann jeden Mißgriff wohl mit Recht eine Täuschung nennen. Das Gefühl selbst ist kein trügerisches Spiel, aber seine Beziehung kann falsch sein, und man darf in den vielen vorüberrauschenden Neigungen nichts Ewiges sehen, als die unendliche Sehnsucht nach einer unwandelbaren Liebe. Aber, fiel Minchen ein, sollen die armen Betrognen erst Menschenalter durchleben, um zu wissen, welches die rechte Liebe sei? Das ist ein Geheimniß, sagte Luise, welches die Liebe jedem in sich selbst offenbart.

Während sie so redeten, trat der Mönch unerwartet zu ihnen in's Zimmer. Er war lange in Geschäften [173] seines Ordens verreist gewesen, auch hatte Luise ihn bis dahin vermieden, aus Furcht, schlafende Erinnrungen zu erwecken. Sie mußte heftig weinen, als sie ihn sah. Zugleich aber strömte auch in seiner Nähe mancher verhaltne Schmerz aus. Sie fühlte sich bald erfrischt und gestärkt. Er verstand sie wohl. Auch in ihm regte sich die Vergangenheit lebendiger bei ihrem Anblick. Liebes Kind, sagte er in großer Rührung, glaube es nur, der rechte Mensch in uns altert nie! Was Dich bewegt, das zittert noch durch meine ganze Seele. Luise betrachtete ihn lange schweigend. Es war das erstemal, daß sie ihn nach jener Entdeckung wiedersah. Eduard von Mansfeld, sagte sie, an das kleine Miniaturbild und die Schilderung der Markise denkend, wie anders, und doch wieder so ganz derselbe. Was sind denn Zeit und Jahre; klingt doch die alte Liebe immer wieder aus den Tiefen des Herzens herauf. Alles in ihr zog sie von da zu dem geliebten Verwandten, der sie gern aufsuchte und mit Liebe in ihren thätigen, beglückenden, Beruf eingriff. Und wenn das fromme Tagewerk nun vollendet war, so saßen sie die Abende vertraut bei einander, und keiner scheuete, in sich zurückzublicken, und die geheimsten Gedanken auszusprechen. Eduard erzählte oft von seinen Reisen, seinem langen Aufenthalte in Aegypten, und wie [174] ihm dort Violas Tod so gewiß geworden sei, daß er nie mehr daran gezweifelt habe. Ein Eid, sagte er, den Violas Eltern ihn abgedrungen, sich nur in höchst entscheidenden Momenten, wo es das Leben des Einen oder Andern gelte, als Vater des Kindes zu erkennen zu geben, habe ihn immer von Fernando entfernt gehalten. Aber, fuhr er fort, des Menschen Vorsicht ist eitel, der Himmel macht sie meist zu Schanden. Wie lebendig, hub er nach einer Weile auf's neue an, steht hier immer die Jugendzeit meiner Liebe vor mir! Es ist Violas Geist, der so wunderlich, so bunt und ernst in dem Schmuck und Zierrath der Zimmer lebt. Es ist, als sähe sie aus den übrigen dunklen Umgebungen, wie aus dem Grabe, nach mir hin. Er redete noch viel von ihr, und seine junge Freundinnen hörten ihm theilnehmend zu, als ein heftiger Knall im Zimmer sie alle aufschreckte. Wie sie sich umsahen, nahmen sie einen großen Riß in der Tapete wahr, die, an zwei Stellen geplatzt, sich weit auseinander rollte. Minchen trat mit einem Lichte näher. Seht doch! rief sie, wie seltsam! Sie fanden ein hohes, schwarzes Cruzifix, das in die Wand eingelassen war. Daneben sah man auf hölzernen Feldern Heiligen- und Märtyrerbilder, im ältesten Styl gemalt. Bei genauer Besichtigung entdeckten sie unterhalb einen kleinen eingemauerten Schrein, dessen Thüren sich [175] leicht aufschieben ließen. Hier lag, neben Weihgefäßen und einem Rosenkranz, ein kleines Büchelchen, mit silbernen Nesteln zugehakt. Luise öffnete es zuerst. Unter Gebeten und Sprüchen, fiel ihr auf der innern Seite des Deckels eine feine Handschrift auf, die so lautete:

»Hier hab ich Gott all mein Herze gesagt und Trost erfunden in mancher Stund. Doch ist des Leides kein End', denn der Herr mag nicht wehren das Böse, bis es selbst versöhnt die eignen Schulden. Aber eine Zeit wird kommen, davon ist gesagt, daß ein frommes Auge mit heißen Thränen Aller Schuld abwaschen und Buße an Leib und Seele üben werde. Dann soll die Lust und die Ehre aus diesen Mauern ausziehn, und der Name Falkenstein verhallen, und Friede sein und Ruhe in den Gräbern. Denn der Herr zählet die Seufzer und Thränen, und giebt den Seinen was ihnen werden muß. – Gertrud von Falkenstein

Das ist der Name der Ahnfrau, sagte der Mönch, der unter dem steinernem Bilde in Kloster eingegraben ist. Luise heftete ihre Augen noch immer auf die vor ihr liegenden Worte. Niemand sagte weiter etwas. Jeder war mit eigenen Gedanken beschäftigt, bei dem Anblick des Cruzifixes und seiner Ausschmückungen, die fast gewaltsam [176] aus der alten Welt hervordrangen. In Luisen besonders bildeten sich längst gehegte Vorstellungen noch fester aus. Schon lange waren ihre Traumgesichte seltner und milder geworden. Die verschleierte Gestalt zeigte ihr meist ihr Gesicht, das unendlich wehmüthig und hold auf sie blickte. Alles deutete ihr die nahe Versöhnung.

Der Krieg war indeß fast in ganz Deutschland ausgebrochen, und trieb Luisen viel Unglückliche zu, die ihre Aufmerksamkeit mehr als jemals in Anspruch nahmen. Unter den gehäuften Beschäftigungen hörte sie dennoch theilnehmend, daß Stein mit den Kämpfenden war, und sich mit allem neu erwachtem Lebensmuth auszeichnete.

Trotz der allgemeinen Unruhen blieb ihre Einsamkeit von Störungen verschont. Sie mußte ihr stilles Loos seegnen, das ihr so glücklich den Schutz der Bedrängten gewährte, ohne sie in den wilden Wirbel mit hinein zu ziehn. Der Mönch hingegen, ward lebhafter durch die nächste Ereignisse angesprochen. Fernando war auf's neue in seiner Nähe. Er wünschte und fürchtete ihn zu sehn. Als darauf aber der Friede geschlossen war, und der siegreiche Feind dennoch weilte, hoffte er mit wachsender Sehnsucht auf die letzte Umarmung seines Sohnes. Luise blieb sehr entfernt von ähnlichen Gedanken. [177] Seit der Krieg ihr jedes Mittel, von den Obristen Nachricht zu erhalten, abschnitt, bekümmerte sie sich wenig mehr um Dinge, die außer ihrem Kreise lagen. Sie fragte nicht, und erfuhr daher auch selten, was Tausende unruhig beschäftigte.

Als sie eines Tages ihre Kranken besuchte, und einem schönen, eben genesenden, Knaben liebkosete, und ihm allerlei Spielwerk mitbrachte, bat sie dieser, mit ihm in Garten zu gehn, wo so viel schöne Blumen blüheten. Es war ein warmer Maitag, und sie mochte ihm wohl den Gefallen thun. Das Kind war aber noch matt, und konnte nicht weit gehn. Sie führte ihn also in eine Laube, und nachdem sie ihm hohe Wasserlilien und Kalmus gepflückt hatte, setzte sie sich zu ihm, lehrte ihn von den gespaltenen Stielen und langen Blättern schöne Ketten machen, und erzählte ihm da von dem Jesuskinde aus einem bekannten Volksbuche, wie es so gern mit andern Kindern gespielt, und dabei alles zum Besten gewandt und den Bekümmerten geholfen habe. Einst, sagte sie, war Jesus nah bei einem Brunnen und setzte sich auf einen Stein, da kam ein Kind mit einem Kruge, um Wasser zu schöpfen, aber es ließ den Krug fallen, und der Krug zerbrach in tausend Stücke. Als das Kind nun so sehr weinte, und sich vor seiner [178] Mutter fürchtete, da streichelte ihn Jesus mit den kleinen Händchen, und sagte, weine nicht, ich will dir helfen, geh nur und hole mir die Scherben, und da diese nun vor Jesum lagen, da machte er den Krug wieder ganz, so daß man nicht sehen konnte, daß er zerbrochen gewesen war. Eben wie sie die letzten Worte sagte, fiel nicht weit von ihr ein Schuß. Der kranke Knabe schreckte heftig zusammen, und barg den Kopf in ihren Schooß. Luise redete ihm zu, und suchte ihn auf alle Weise zu beruhigen, als sie selbst durch ein ungewöhnliches hin und her Laufen außerhalb des Gartens verstört ward. Sie wollte nach der Thür eilen, konnte aber wegen des Knaben nur langsam gehen. Dieser hatte mit einer Hand seine Blumenbüsche zusammen gefaßt, und hielt mit der andern die Kette und Luisens Kleid. So schlichen sie an der Hecke entlang, als plötzlich hinter derselben ein Mann, wild und verstört, vor Luisen hinstürzte, und heftig rief: Sie werden mir fluchen, Sie müssen mir fluchen, gewiß, gewiß, ich habe ihn ja ermordet! – Sie erkannte schaudernd den Jagdjunker, und wie ein Blitz fuhr der Sinn seiner Worte durch ihre Seele. – Fernando! rief sie. Ja, ja schrie Carl, da tragen sie ihn hin. Luise sah auf, zwei Männer hoben eine Tragbahre in das Haus [179] hinein. Tod? fragte sie sanft, und aller Schmerz eines langen Lebens preßte sich in einzelne herabrollende Thränen zusammen. – Noch nicht, aber bald, erwiederte Carl. Sie reichte ihm die Hand. Lassen sie mich ihn noch einmal sehen, sagte sie, jetzt habe ich nichts mehr zu scheuen, die Stunde versöhnt uns alle. Der Knabe drängte sich furchtsam an sie, er wollte nicht von ihr weichen, und sie konnte ihn jetzt am wenigsten hart zurückweisen. So traten sie in das Krankenzimmer. Fernando lag auf einem Sessel der Thür gegenüber. Er richtete sich völlig auf, als Luise nahete. Gott mein Gott! rief er die Arme ausbreitend, so finden wir uns dennoch wieder! aber wiederkehrende Schmerzen überwältigten ihn bald, und rissen ihn wimmernd auf sein Lager zurück. Luise kniete neben ihm, der Knabe reichte dem Kranken unaufhörlich seine Blumen hin, und sagte, er solle nur still sein, Jesus werde ihn bald helfen, der habe ihm auch geholfen. Fernando mußte endlich die Blumen nehmen, ihr frischer Duft belebte ihn für einen Augenblick, er küßte des Knaben Stirn, welcher ihm auch nun die schöne Kette zeigte, und sie spielend um ihn und Luisen schlang. Jesus Christus sei gelobt! rief Fernando, Luisens Hand ergreifend, sein Auge brach, er sagte nichts mehr. – Da trat [180] der Mönch herzu, er legte seine Hand segnend auf des Sohnes Stirn, und ließ ihn still an seiner Brust verscheiden.

Als er nun neben Julius begraben, und alles ruhiger und seliger in Luisen war, erfuhr sie durch Carl, wie eine unbedeutende Neckerei, beide bei zufälligem Zusammentreffen im nächsten Städtchen aneinander brachte, daß Fernando darauf nach dem Kloster geritten, Carl ihm aber in seinem Grimm gefolgt sei, und der hitzigste Wortwechsel zuletzt Blut gefordert habe. Fernando war an derselben Stelle gefallen, wo ihn Julius früher verwundet hatte. Gott hat es so gewollt, tröstete ihn Luise. Das war schon längst bestimmt, und Sie ein unschuldiges Werkzeug ewiger Vergeltung.

Sie lebte von da noch viele Jahre ein stilles, erbauliches Leben, durch nichts unterbrochen, weder in übergroßer Freude noch Schmerz. Der Obrist ward durch seinen Beruf und Familienverhältnisse gezwungen, von ihr entfernt, im Nördlichen Asien, den wichtigen Posten eines Gouverneurs dortiger Provinzen zu übernehmen. Er bewahrte immer eine treue Liebe für Luisen, und starb endlich unvermählt. Minchen blieb Luisens treue Gefährtin. Einst erschien dieser nach langer Zeit die Ahnfrau wieder im Traume, jugendlich und reich geschmückt, [181] wie sie sich zu ihr neigte, und sie küßte. Noch selbigen Tages schloß Luise die müden Augen, nachdem sie ihre fromme Stiftung dem Kloster vermacht, und Minchen zur Vorsteherin derselben ernannt hatte.


Notes
Erstdruck: Berlin (Julius Eduard Hitzig) 1810.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Fouqué, Caroline de la Motte. Die Frau des Falkensteins. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-B1E4-6