Denis Diderot
Jakob und sein Herr

(Jacques le fataliste et son maître)

[5] ›Wie waren sie zueinander gekommen?‹

Von ungefähr, wie das gewöhnlich der Fall ist.

›Wie hießen sie?‹

Was kann euch daran liegen?

›Wo kamen sie her?‹

Aus dem nächstgelegenen Orte.

›Wohin gingen sie?‹

Weiß man je, wohin man geht?

›Was sprachen sie?‹

Der Herr kein Wort; Jakob hingegen, sein Hauptmann habe gesagt, alles, was uns hienieden Gutes oder Böses begegne, stehe dort oben geschrieben.

Der Herr: Das ist ein großes Wort.

Jakob: Mein Hauptmann pflegte hinzuzusetzen: ›Jede Kugel, die aus einem Musketenlauf abgeschossen wird, hat ihre Adresse.‹

Herr: Und er hatte recht.

Nach einer kleinen Pause rief Jakob aus: »Der Teufel hole den Weinschenken mit seinem Weinschank!«

Herr: Warum seinen Nächsten zum Teufel wünschen? Das ist nicht christlich.

Jakob: Weil ich, während ich mich an seinem schlechten Weine benebelte, unsere Pferde zur Tränke zu führen vergaß. Mein Vater wird es gewahr und gerät in Zorn. Ich setze einen Kopf auf. Er erwischt einen Stock und begrüßt damit meine Schultern ein wenig derb. Eben zog ein Regiment vorbei, um ins[5] Lager von Fontenoy zu marschieren; aus Verdruß lasse ich mich anwerben. Wir langen im Lager an; die Schlacht geht vor sich ...

Herr: Und du bekommst die Kugel unter deiner Adresse?

Jakob: Erraten! Einen Schuß ins Knie, und Gott weiß, was alles für gute und böse Ereignisse dieser Schuß nach sich zog! Sie greifen genauso ineinander wie die Gelenke einer Kinnkette; ohne diesen Schuß zum Beispiel würde ich wohl nie in meinem Leben verliebt oder lahm geworden sein.

Herr: Du bist also verliebt gewesen?

Jakob: Und ob ich es gewesen bin!

Herr: Verliebt eines Schusses wegen?

Jakob: Eines Schusses wegen!

Herr: Du hast mir aber nie eine Silbe davon gesagt.

Jakob: Das glaub ich wohl.

Herr: Und warum das?

Jakob: Weil es weder früher noch später gesagt werden konnte.

Herr: Ist der Augenblick nun gekommen, wo ich diese Liebesgeschichte erfahren kann?

Jakob: Wer kann das wissen?

Herr: Auf gut Glück, fang nur immer an.

Und Jakob begann die Erzählung seiner Liebesabenteuer. Es war an einem Nachmittag, und die Luft sehr schwer und schwül.

Der Herr schlief ein. Die Nacht überraschte sie mitten auf dem Felde, und sie waren vom rechten Weg abgekommen. Der Herr geriet in heftigen Zorn und fiel mit der Karbatsche über seinen Diener her. Bei jedem Schlag sagte der arme Teufel bei sich: ›Auch der stand offenbar dort oben geschrieben.‹


Du siehst, lieber Leser, daß ich auf dem besten Wege bin und daß es nur von mir abhinge, dich ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre auf die Erzählung von Jakobs Liebeshändeln warten zu lassen; ich brauchte ihn nur von seinem Herrn zu trennen und jeden in so viele Begebenheiten zu verwickeln, wie mir beliebte. Wer könnte mich verhindern, den Herrn zu verheiraten [6] und zum Hahnrei zu machen, Jakob nach Westindien segeln zu lassen, seinen Herrn ebenfalls dahin zu schicken und beide dann auf einem und demselben Schiffe nach Frankreich zurückzuführen? Es ist ja so leicht, Geschichten zu erfinden. Doch diesmal sollen sie mit einer elenden Nacht und du mit diesem kleinen Aufschub davonkommen.


Mit Tagesgrauen saßen sie wieder auf ihren Gäulen und setzten ihren Weg fort. ›Und wo ging ihr Weg hin?‹ – Leser, du tust mir diese Frage schon zum zweiten Mal, und zum zweiten Mal muß ich dir antworten: Was kümmert das dich? Lasse ich mich einmal auf den Zweck ihrer Reise ein, dann gute Nacht, Jakobs Liebesgeschichte!

Stillschweigend ritten sie einige Zeit. Als sich endlich jeder von seinem Verdruß ein wenig erholt hatte, sagte der Herr zu seinem Diener: »Nun, Jakob, wo sind wir in deiner Liebesgeschichte stehengeblieben?«

Jakob: Ich glaube, bei der Flucht des feindlichen Heeres. Es lief, wer laufen konnte, die Sieger hinterdrein, und jeder dachte nur an sich. Ich blieb auf dem Schlachtfelde liegen und war unter einer gewaltigen Menge Toter und Verwundeter begraben. Den Tag darauf lud man mich mit einem Dutzend anderer auf einen Karren, um mich in eines unserer Lazarette zu bringen. Ach, Herr, ich glaube, es gibt keine schlimmere Verwundung als am Knie!

Herr: Geh, Jakob! Du spaßest.

Jakob: Nein, beim Henker, Herr, ich spaße nicht! Es gibt da ich weiß nicht wie viele Knochen und Sehnen und andere Sachen, die ich weiß nicht wie heißen ...

Eine Art Bauer, der mit einem Mädchen hinter sich unsern Reisenden auf der Ferse nachritt und ihnen zugehört hatte, nahm das Wort und sagte: »Der Herr hat recht.«

Man wußte nicht, wem dieses ›Herr‹ gelten sollte; aber es ward von Jakob und seinem Herrn sehr übel aufgenommen, und Jakob sagte zu dem ungebetenen Zwischenredner: »Worein mischest du dich?«

[7] »In mein Handwerk; ich bin ein Wundarzt, Ihnen zu dienen, und will Ihnen beweisen ...«

Die Weibsperson, die hinter ihm saß, sagte zu ihm: »Herr Doktor, setzen wir unseren Weg fort und lassen wir diese Herren in Frieden, da sie es nicht gern zu sehen scheinen, daß man ihnen beweist.«

»Nein,« antwortete ihr der Chirurgus, »ich will ihnen beweisen und ich werde ihnen beweisen ...«

Und indem er sich umwendete, um zu beweisen, stieß er seine Gefährtin an. Diese verlor das Gleichgewicht, fiel vom Gaul, blieb mit dem einen Fuß im Schoße seines Kleides hängen, und die Röcke schlugen ihr über dem Kopf zusammen.

Jakob sprang hurtig hinunter, machte den Fuß des armen Geschöpfes los und gab ihren Röcken die vorige Lage wieder. Ich weiß nicht, ob er bei den Röcken oder mit Losmachen des Fußes anfing; genug, nach dem Geschrei der Weibsperson zu urteilen, hatte sie sich ernstlich verletzt.

»Das kommt beim Beweisen heraus«, sagte Jakobs Herr zu dem Chirurgen.

Und der Chirurg: »Das kommt heraus, wenn man nichts bewiesen haben will.«

Und Jakob zu dem gefallenen oder wieder aufgehobenen Frauenzimmer: »Tröste dich, mein gutes Kind, es ist weder deine Schuld noch die Schuld des Herrn Doktors, noch meine, noch die meines Herrn, sondern es steht dort oben geschrieben, daß heute auf dieser Landstraße zu dieser Stunde der Herr Doktor einen Anfall von Schwatzhaftigkeit bekommen, mein Herr und ich zum Anhören nicht aufgelegt sein, du eine Quetschung am Kopfe davontragen und man deinen bloßen Hintern sehen sollte.«


Oh, was könnte unter meinen Händen aus diesem Abenteuer nicht alles werden, wenn mich die Lust anwandelte, deine Geduld, lieber Leser, auf die Folter zu spannen! Ich würde aus diesem Frauenzimmer eine Person von Wichtigkeit schaffen, sie zur Nichte des Pfarrers in einem benachbarten Dorfe machen, [8] die Bauern dieses Dorfes aufhetzen, kurz, ich würde Raufhändel und Verliebungen ohne Zahl zusammenhäufen; denn schließlich war diese Bäuerin unter ihrer Wäsche schön.

Jakob und sein Herr hatten es wohl bemerkt, und nicht immer lauert die Liebe eine so verführerische Gelegenheit ab. – Warum sollte Jakob nicht zum zweiten Mal verliebt werden? Warum nicht zum zweiten Mal der Rival und sogar der begünstigte Rival seines Herrn sein? ›War ihnen das schon einmal begegnet?‹ – Immer diese Fragen! Lieber Leser, du willst also nicht, daß Jakob in der Erzählung seiner Liebschaften fortfahren soll? Ein für allemal, erkläre dich! Macht sie dir Vergnügen oder nicht? Macht sie dir Vergnügen, so wollen wir das Frauenzimmer wieder auf die Kruppe von des Doktors Rosinante setzen, beide ihres Weges ziehen lassen und zu unsern Reisenden zurückkehren.


Diesmal nahm Jakob das Wort und sagte zu seinem Herrn: »Das ist der Welt Lauf; Sie, die Sie in Ihrem Leben nie verwundet worden sind und nicht wissen, was ein Schuß am Knie zu bedeuten hat – Sie wollen mir gegenüber, dem das Knie zerschmettert worden ist und der nun schon seit zwanzig Jahren hinkt, behaupten ...«

Herr: Du könntest vielleicht recht haben; aber niemand als dieser unverschämte Schwätzer von Wundarzt ist schuld, daß du noch mit deinen Kameraden auf dem Karren liegst, fern vom Lazarett, fern von deiner Heilung und fern vom Verliebtwerden.

Jakob: Der Schmerz an meinem Knie war unbeschreiblich, was für eine Vorstellung Sie sich auch davon machen mögen. Die Unbequemlichkeit des Fuhrwerks und der böse Weg vermehrten diesen Schmerz noch; bei jedem Stoß des Karrens stieß ich einen lauten Schrei aus.

Herr: Weil dort oben geschrieben stand, daß du schreien solltest.

Jakob: Allerdings. Ich verblutete mich und wäre des Todes gewesen, wenn unser Karren, der letzte in der Reihe, nicht vor [9] einer Bauernhütte gehalten hätte. Ich verlangte, abgeladen zu werden, und man legte mich auf die Erde. Ein junges Weib, das in der Tür der Hütte stand, lief hinein und kam schnell mit einem Glase und einer Weinflasche zurück. Ich trank hastig ein oder zwei Schluck. Die Karren vor dem unsrigen fingen an, sich von neuem in Bewegung zu setzen. Man machte schon Anstalt, mich wieder zu meinen Gefährten zu werfen; aber ich hielt mich fest an den Kleidern des Weibes und an allem, was ich nur ergreifen konnte, und beteuerte, daß ich mich nicht wieder aufladen ließe und daß ich, wenn ich ja sterben müßte, lieber hier auf dieser Stelle als ein paar Meilen weiter sterben wollte. Mit diesen Worten fiel ich in Ohnmacht. Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich ausgezogen auf einem Bett in einem Winkel der Hütte liegen. Um mich standen ein Bauersmann, der Herr vom Hause, seine Frau, dieselbe, die sich meiner angenommen hatte, und einige kleine Kinder. Die Frau hatte einen Zipfel ihrer Schürze in Weinessig getaucht und rieb mir Nase und Schläfe damit.

Herr: Elender! Verworfener Bösewicht! Jetzt sehe ich, wo du hinauswillst.

Jakob: Herr, ich glaube, Sie sehen nichts.

Herr: Hast du dich etwa nicht in diese Frau verliebt?

Jakob: Und wenn ich mich in sie verliebt hätte – was ließe sich wohl dagegen einwenden? Steht es einem frei, sich zu verlieben, oder nicht? Und ist mans, hängt es von einem ab, so zu handeln, als ob man es nicht wäre? Wenn es dort oben geschrieben gewesen wäre, so hätte ich mir alles sagen können, was Sie sich anschickten, mir zu sagen, hätte mich ohrfeigen, mit dem Kopf gegen die Wand rennen und mir die Haare ausraufen können – es hätte doch alles nichts genützt, und mein Wohltäter wäre zum Hahnrei geworden.

Herr: Wollte man schließen wie du, so könnte man jedes Verbrechen begehen, ohne daß man sich deswegen Vorwürfe zu machen brauchte.

Jakob: Der Einwurf, den Sie da machen, hat mir schon mehr als einmal das Hirn zermartert; aber trotzdem, ich mag wollen [10] oder nicht, muß ich bei dem Spruche meines Hauptmanns bleiben: Alles, was uns Gutes oder Böses hienieden begegnet, steht dort oben geschrieben. Herr! Können Sie mir ein Mittel sagen, wie sich diese Schrift wegradieren läßt? Kann ich nicht ich sein? Und wenn ich ich bin, kann ich anders handeln als ich? Kann ich zugleich ich und ein anderer sein? Und hat es, seitdem ich auf der Welt bin, wohl einen einzigen Augenblick gegeben, da dieses nicht wahr gewesen wäre? Predigen Sie, soviel Sie wollen. Ihre Gründe können vielleicht gut sein; aber sobald es in mir oder dort oben geschrieben steht, daß ich sie schlecht finden soll, so sagen Sie selbst, was kann ich machen?

Herr: Ich denke über etwas nach: ob nämlich dein Wohltäter zum Hahnrei geworden wäre, weil es dort oben geschrieben stand, oder ob es dort oben geschrieben stand, weil du deinen Wohltäter zum Hahnrei machen würdest.

Jakob: Beides stand nebeneinander geschrieben; beides war zu gleicher Zeit eingetragen worden. Man muß sich das wie eine große Rolle denken, die sich nach und nach entfaltet ...

Leser! Du siehst, wie weit ich dieses Gespräch über einen Gegenstand ausdehnen könnte, von dem man seit zweitausend Jahren soviel geschwatzt und soviel geschrieben hat, ohne deswegen um ein Haarbreit vorwärtsgekommen zu sein. Weißt du mir für das, was ich dir sage, nicht viel Dank, so wisse ihn mir wenigstens für das, was ich dir nicht sage.


Während unsere beiden Theologen sich stritten, ohne einander zu verstehen (wie sich das in der Theologie wohl zutragen kann), ward es Nacht. Sie reisten durch eine Gegend, die zu keiner Zeit recht sicher war, am wenigsten aber jetzt, da schlechte Verwaltung und Mangel und Not die Zahl der Gauner und Übeltäter gewaltig vermehrt hatten. Sie kehrten in der elendesten aller Herbergen ein. Man schlug ihnen zwei Gurtbetten in einer Kammer auf, die aus überall klaffenden Bretterverschlägen gebildet war. Sie verlangten zu Abend zu essen. Man trug ihnen Pfützenwasser, schwarzes Brot und kahmigen Wein auf. Wirt, Wirtin, Kinder, Gesinde – alle sahen unheimlich [11] aus. Neben sich vernahmen sie das unmäßige Gelächter und die lärmende Fröhlichkeit von einem Dutzend Strauchdieben, die sich vor ihnen einquartiert und allen Vorrats bemächtigt hatten. Jakob war ziemlich ruhig; aber sein Herr ganz und gar nicht. Dieser machte sich alle möglichen Sorgen, während sein Bedienter einige Bissen schwarzes Brot verschlang und, sein Gesicht verziehend, ein paar Gläser von dem elenden Wein hinuntergoß. Indem hörten sie jemand an ihre Tür klopfen. Es war ein Knecht, den ihre unverschämten und gefährlichen Nachbarn gezwungen hatten, unseren beiden Reisenden auf einem Teller die Knochen und das Gerippe eines Huhnes zu bringen, das sie verzehrt hatten. Jakob ergrimmte und nahm die Pistolen seines Herrn.

»Wo willst du hin?«

»Lassen Sie mich nur machen.«

»Wo willst du hin, frage ich dich?«

»Dieses Gesindel Mores lehren.«

»Weißt du, daß ihrer ein Dutzend sind?«

»Und wären ihrer auch hundert! Die Zahl tut nichts zur Sache, wenn dort oben geschrieben steht, daß ihrer nicht genug sein sollen.«

»Hol dich der Teufel mit deiner einfältigen Redensart!«

Aber Jakob entschlüpfte den Händen seines Herrn und trat mit einer gespannten Pistole in jeder Hand in das Zimmer der Gauner. »Auf und zu Bett!« rief er ihnen zu. »Den ersten, der aufmuckt, schieß ich vor den Kopf!« In Jakobs Ton und Miene lag so viel Entschlossenheit, daß diese Schelme, die ihr Leben wenigstens ebenso lieb hatten wie ehrliche Leute, ohne ein Wort zu sprechen, vom Tische aufstanden, sich auszogen und sich schlafen legten. Jakobs Herr erwartete in der Ungewißheit, was für einen Ausgang dieses Abenteuer nehmen würde, mit Zittern und Zagen seine Wiederkunft. Jakob trat ins Zimmer, mit den Kleidungsstücken aller dieser Burschen bepackt, die er an sich genommen hatte, damit sie nicht in Versuchung geraten möchten, früher, als er wünschte, aufzustehen und sich anzukleiden. Er hatte ihr Licht ausgelöscht, ihre Tür verriegelt [12] und verschlossen und trug den Schlüssel nebst einer seiner Pistolen in der Hand. »Jetzt,« sagte er zu seinem Herrn, »jetzt haben wir nichts weiter zu tun, als uns zu verbarrikadieren, indem wir unsere Betten vor diese Tür schieben, und ruhig zu schlafen.« Damit fing er an, die Betten davorzuschieben, und erzählte dabei seinem Herrn kühl und ohne viele Worte die Einzelheiten seiner Expedition.

Herr: Jakob! Was bist du doch für ein Teufelskerl! Du glaubst also ...

Jakob: Ich glaube nichts und leugne nichts.

Herr: Wenn sie sich nun geweigert hätten, zu Bett zu gehen!

Jakob: Das war unmöglich.

Herr: Warum?

Jakob: Weil sie's nicht getan haben.

Herr: Wenn sie jetzt wieder aufständen!

Jakob: Desto schlimmer oder desto besser!

Herr: Wenn ... Wenn ... Wenn ... Und ...?

Jakob: Wenn das Meer zu kochen anfinge, so würde es, wie man zu sagen pflegt, viele gesottene Fische geben. Zum Henker, Herr! Vorhin glaubten Sie wunder welcher Gefahr ich mich aussetzte, und doch war nicht das geringste daran, jetzt glauben Sie sich in großer Gefahr, und doch ist daran vielleicht ebensowenig. Wir alle, so viele es unser in diesem Hause gibt, wir alle fürchten uns einer vor dem andern; ein Beweis, daß wir alle nicht recht gescheit sind.

Und indem er so sprach, hatte er sich ausgezogen, niedergelegt und fing an einzuschlafen. Sein Herr, der nun auch seinerseits ein Stück schwarzes Brot aß und einen Schluck von dem Krätzer nahm, spitzte die Ohren, horchte nach allen Seiten, sah Jakob an, der bereits schnarchte, und sagte: »Was ist das doch für ein Teufelskerl!« Endlich streckte er sich nach dem Beispiele seines Dieners ebenfalls auf sein Lager; aber er konnte kein Auge zutun. Sowie der Tag graute, fühlte Jakob eine Hand, die ihn rüttelte. Es war die seines Herrn, der ihm leise ins Ohr rief: »Jakob! Jakob!«

Jakob: Was gibts?

[13] Herr: Es ist Tag.

Jakob: Meinetwegen.

Herr: So steh auf!

Jakob: Warum?

Herr: Damit wir hier so schnell wie möglich wegkommen.

Jakob: Warum?

Herr: Weil wir hier schlecht aufgehoben sind.

Jakob: Wer weiß, ob wir es anderswo besser sein werden.

Herr: Jakob!

Jakob: Ja doch! Jakob! Jakob! Was für ein Teufelskerl sind Sie?

Herr: Was bist du für ein Teufelskerl! Jakob, lieber Jakob, ich bitte dich darum!

Jakob rieb sich die Augen, gähnte zu wiederholten Malen, reckte seine Arme, stand auf, kleidete sich an, ohne sich zu beeilen, schob die Betten weg, ging zur Türe hinaus und die Treppe hinunter, begab sich in den Stall, sattelte und zäumte die Pferde, weckte den Wirt, der noch schlief, bezahlte die Rechnung, behielt aber die Schlüssel zu den beiden Kammern bei sich und verließ mit seinem Herrn den Gasthof.

Der Herr wollte in vollem Trabe davoneilen; aber Jakob, immer seinem System getreu, wollte Schritt reiten. Als sie schon eine ziemliche Strecke von ihrer fatalen Nachtherberge entfernt waren, hörte der Herr etwas in Jakobs Tasche klingeln und fragte ihn, was es wäre. Jakob gab zur Antwort: »Die Schlüssel zu den beiden Kammern.«

Herr: Warum hast du sie nicht zurückgegeben?

Jakob: Damit man zwei Türen aufzubrechen hat: die Tür unserer Nachbarn, um sie aus ihrem Gefängnis zu befreien, und unsere Tür, um ihnen zu ihren Kleidern zu verhelfen. Auf die Art gewinnen wir Zeit und Vorsprung.

Herr: Gut ausgedacht, Jakob! Aber warum sollen wir Zeit gewinnen?

Jakob: Warum? Wahrhaftig, das weiß ich nicht.

Herr: Und wenn du Zeit und Vorsprung gewinnen willst, warum reitest du da Schritt?

[14] Jakob: Weil man im dunkeln über das, was dort oben geschrieben steht, weder weiß, was man tun soll noch was man tut, und seinen Grillen folgt, die man Vernunft nennt, oder seiner Vernunft, die oft nichts weiter ist als eine gefährliche Grille, welche bald zum Guten, bald zum Bösen ausschlägt.

Herr: Kannst du mir wohl sagen, was ein Tor und was ein Weiser ist?

Jakob: Warum nicht? Ein Tor ... warten Sie ... ist ein unglücklicher Mensch, und folglich ist ein glücklicher Mensch ein Weiser.

Herr: Und was ist ein glücklicher oder unglücklicher Mensch?

Jakob: Das läßt sich sehr leicht erklären. Ein glücklicher Mensch ist der, dessen Glück dort oben geschrieben steht; und folglich ist der, dessen Unglück dort oben geschrieben steht, ein unglücklicher Mensch.

Herr: Und wer schreibt dort oben das Glück oder das Unglück der Menschen auf?

Jakob: Und wer hat die große Rolle verfertigt, worin das alles geschrieben steht? Ein Hauptmann, der Freund meines Hauptmanns, hätte gern einen Silbertaler darum gegeben, es zu wissen. Aber mein Hauptmann hätte nicht einen Heller daran gewendet und ich ebensowenig; denn wozu würde es mir helfen? Würde ich dadurch der Grube entgehen können, worin ich mir den Hals brechen soll?

Herr: Ich glaube es doch.

Jakob: Und ich glaube es nicht, denn alsdann müßte sich eine falsche Zeile in die große Rolle eingeschlichen haben, die Wahrheit, nichts als Wahrheit und alle nur mögliche Wahrheit enthält. Wenn in dem großen Buche geschrieben stände: An dem und dem Tage bricht Jakob den Hals, und Jakob bräche den Hals nicht – sagen Sie selbst, wie wäre das möglich, mag der Verfasser des Buches auch sein, wer er will?

Herr: Es ließe sich noch manches darüber sagen ...

Jakob: Mein Hauptmann glaubte, Klugheit sei eine Voraussetzung, bei welcher die Erfahrung uns berechtige, die Umstände, worin wir uns befinden, als Ursachen gewisser Wirkungen [15] anzusehen, die wir in Zukunft zu hoffen oder zu fürchten haben.

Herr: Und du hast irgend etwas davon verstanden?

Jakob: Gewiß; ich hatte mich nach und nach an seine Art zu sprechen gewöhnt. Aber wer darf sich rühmen, genug Erfahrung zu besitzen? Und ist der nie betrogen worden, welcher sich schmeichelte, am besten damit ausgesteuert zu sein? Gibt es ferner einen Menschen, der imstande wäre, die Umstände recht zu kennen, in welchen er sich befindet? Die Berechnung, die wir in unserm Kopfe machen, und die Berechnung, die in das große Protokoll dort oben eingetragen ist, sind voneinander recht verschieden. Leiten wir das Geschick, oder leitet das Geschick uns? Wie viele klüglich ausgesonnene Pläne sind gescheitert und wie viele werden noch scheitern! Und wie viele unsinnige Pläne sind geglückt und wie viele werden noch glücken! Das wiederholte mir mein Hauptmann nach der Einnahme von Bergen-op-Zoom und nach jener von Port Mahon und setzte hinzu: Klugheit bürge uns nicht für einen guten Erfolg; sie tröste uns aber und entschuldige uns wegen eines schlimmen Ausgangs. Auch schlief er den Tag vor einer Schlacht so ruhig in seinem Zelt wie in seiner Garnison und ging ins Feuer wie auf den Ball. Von ihm hätten Sie wohl mit Recht ausrufen können: ›Was für ein Teufelskerl!‹

In eben dem Augenblick hörten sie hinter sich in einiger Entfernung Lärm und Schreie. Sie sahen sich um und erblickten einen Trupp mit Mistgabeln und Stangen bewaffneter Leute, die eilig auf sie zukamen. Du glaubst vielleicht, Leser, daß es die Leute aus dem Gasthofe, ihre Knechte und die Räuber waren, von denen wir oben gesprochen haben? Du wähnst, daß man des Morgens in Ermangelung der Schlüssel die Türen aufgesprengt hat und daß die Gauner sich eingebildet haben, unsere Reisenden hätten sich mit ihren Kleidern aus dem Staube gemacht ... Jakob glaubte es auch und brummte zwischen den Zähnen: »Verwünscht seien die Schlüssel und die Grille oder die Vernunft, die mich sie mitnehmen hieß! Verwünscht sei die Klugheit und so fort und so fort!« Du glaubst ferner, daß dieses [16] kleine Heer über Jakob und seinen Herrn herfallen, daß ein blutiges Scharmützel geliefert werden, daß es Stockschläge regnen, daß man mit Pistolen schießen wird? Und es käme auch wirklich nur auf mich an, das alles geschehen zu lassen. Aber dann adieu, Wahrheit der Erzählung! Adieu, Liebesgeschichte Jakobs! Unsere beiden Reisenden wurden nicht verfolgt. Auch weiß ich nicht, was in dem Gasthofe nach ihrer Abreise vorgegangen ist. Genug, sie setzten ihren Weg fort und wußten immer nicht, wo sie waren, ob sie gleich ungefähr wußten, wohin sie wollten. Sie suchten sich über die Langeweile und die Beschwerlichkeiten der Reise durch gleichgültiges Geschwätz hinwegzutäuschen, wie das bei Leuten so zu sein pflegt, die sich auf der Wanderung befinden, und oft auch bei Leuten, die ruhig auf ihrem Stuhle sitzen.

Es ist klar wie der Tag, daß ich keinen Roman schreibe, weil ich das außer acht lasse, was ein Romanschreiber zu nutzen gewiß nicht ermangeln würde. Wer es für wahr nimmt, was ich da schreibe, irrt vielleicht weniger, als wer es für ein Märchen hält.

Diesmal brach der Herr das Stillschweigen und fing mit dem gewöhnlichen Refrain an: »Nun, Jakob, deine Liebesgeschichte!«

Jakob: Ich weiß nicht, wo ich stehengeblieben bin; ich bin so oft unterbrochen worden, daß ich ebenso wohl daran tun würde, von vorn anzufangen.

Herr: Nein, nein! Du hattest dich von deiner Ohnmacht an der Tür der Bauernhütte erholt und lagst in einem Bett, und die Leute in der Hütte standen um dich her.

Jakob: Gut! Das allernotwendigste war jetzt, einen Wundarzt aufzutreiben, und eine ganze Meile im Umkreis war keiner anzutreffen. Der gute Landmann ließ eins seiner Kinder zu Pferde steigen und schickte es in den nächstgelegenen Ort. Unterdessen hatte das gute Weib rauhen Wein ans Feuer gesetzt und eins von ihres Mannes alten Hemden zerrissen; mein Knie wurde gebäht, mit Kompressen belegt und in Binden gewickelt; man warf einige Stücke Zucker, die man den Ameisen abgejagt hatte, in den Wein, der von dem Verbande übriggeblieben [17] war, und gab ihn mir ein. Hierauf ermahnte man mich, Geduld zu haben. Es war spät. Die Leute setzten sich zu Tisch und aßen ihr Abendbrot. Es war verzehrt und der Bube noch nicht zurückgekommen, auch noch kein Wundarzt da. Nun wandelte den Vater, der von Natur mißmutig war, eine üble Laune an; er brummte mit seiner Frau, und es war ihm nichts recht. Seine übrigen Kinder schickte er mit harten Worten zu Bett. Die Frau setzte sich auf eine Bank und nahm ihren Spinnrocken vor sich. Er spazierte auf und ab, und im Aufundabspazieren suchte er immer Gelegenheit, mit ihr zu zanken. ›Wenn du in die Mühle gegangen wärst, wie ich dir gesagt hatte ...‹ Und er endigte den Satz, indem er mit dem Kopf eine Bewegung nach meinem Bett machte.

›Ich will morgen hingehen.‹

›Heute hättest du hingehen sollen, wie ich dir gesagt hatte! Und der Rest Stroh, der noch in der Scheune liegt – worauf wartest du, ehe du es bindest?‹

›Morgen soll es gebunden werden.‹

›Was wir vorrätig haben, geht auf die Neige, und du hättest besser getan, es heute zu binden, wie ich dir gesagt hatte! Und der Haufen Gerste, der auf dem Boden liegt und verdirbt! Ich wette, du hast nicht daran gedacht, ihn zu wenden.‹

›Die Kinder habens getan.‹

›Du hättest es selber tun sollen. Wärst du auf dem Boden gewesen, so hättest du nicht an der Tür gestanden.‹

Unterdessen fand sich ein Chirurg ein und dann noch einer und dann ein dritter mit dem ausgeschickten Knaben.

Herr: Nun, so warst du unter Wundärzten wie Sankt Rochus unter Hüten.

Jakob: Der erste war, als der Sohn des Bauern zu ihm kam, nicht zu Hause gewesen, aber seine Frau hatte nach dem zweiten geschickt, und der dritte war mit dem Boten angelangt. ›Ei guten Abend, Gevattern! Treffen wir uns hier?‹ sagte der erste zu den bei den andern. Sie hatten sich beeilt, wie sie nur konnten; es war ihnen warm geworden; sie hatten Durst und nahmen Platz an dem Tisch, der noch nicht abgedeckt war. Die [18] Frau ging in den Keller und holte eine Flasche Wein herauf. Der Mann murmelte zwischen den Zähnen: ›Was Teufel hatte sie aber an der Tür zu schaffen!‹ Man fing an zu trinken, man schwatzte von den Krankheiten des Bezirks, man rechnete alle seine Patienten her. Ich fing an zu stöhnen und bekam zur Antwort: ›Nur einen Augenblick noch Geduld; wir wollen Euch gleich helfen.‹

Als die Flasche ausgetrunken war, forderte man auf Rechnung meiner Kur die zweite, dann eine dritte, dann eine vierte; und bei jeder Flasche wiederholte der Mann seinen ersten Ausruf: ›Aber was Teufel hatte sie an der Tür zu schaffen?‹

Welchen Nutzen hätte nicht ein anderer aus diesen drei Wundärzten gezogen, aus ihrer Unterredung bei der vierten Flasche, aus der Fülle ihrer Heilerfolge, aus Jakobs Ungeduld, aus der bösen Laune des Wirts, aus den Auslassungen der Landäskulape über Jakobs Knie und aus ihren verschiedenen Meinungen!

Den einen hätte er etwa behaupten lassen, Jakob wäre ein Kind des Todes, wenn ihm nicht auf der Stelle das Bein abgenommen würde; den zweiten, man müsse die Kugel und das mit in die Wunde gedrungene Stück Tuch herausziehen und dem armen Teufel das Bein erhalten. Unterdessen hätte man Jakob auf seinem Bett sitzen und mit Bedauern sein Bein betrachten und von ihm Abschied nehmen sehen, wie man es einen von unsern Generälen zwischen Dufouart und Louis tun sah. Der dritte Chirurg hätte beiden zugestimmt, bis es zwischen ihnen zum Streit gekommen und man von Beleidigungen zu Tätlichkeiten übergegangen wäre.

Ich erlasse euch all das, was man in den Romanen, in der alten Komödie und im gesellschaftlichen Umgange antrifft.

Als ich den Wirt über seine Frau ausrufen hörte: ›Was Teufel hatte sie denn an der Tür zu schaffen?‹, fiel mir Molières Harpagon ein, wo er von seinem Sohne sagt: ›Aber was hatte er denn auf dieser Galeere zu suchen!‹ Ich sah ein, daß es nicht hinreicht, wahrheitsliebend zu sein, sondern daß man auch spaßhaft sein muß und daß man deshalb ewig sagen wird: [19] ›Aber was hatte er denn auf dieser Galeere zu suchen?‹, hingegen der Ausruf meines Bauern: ›Aber was hatte sie denn an der Tür zu schaffen?‹ nie zum Sprichwort werden wird.

Doch Jakob verfuhr mit seinem Herrn nicht so zurückhaltend und schonend wie ich mit meinen Lesern. Er überging nicht den geringsten Umstand, selbst auf die Gefahr, ihn ein zweites Mal einzuschläfern. War es auch nicht der geschickteste, so war es zum mindesten der stärkste von den drei Wundärzten, der Herr über den Patienten blieb.

›Nun werden wir‹, höre ich meine Leser ausrufen, ›wohl alle Amputationswerkzeuge auskramen, schneiden und brennen sehen und Augenzeugen einer chirurgischen Operation sein müssen!‹ Wie ich merke, wäre das also nicht nach dem Geschmack meiner Leser. Nun, so wollen wir über die chirurgische Operation wegschlüpfen. Aber ihr werdet Jakob doch wenigstens seinem Herrn zu sagen erlauben, wie ers auch wirklich tat: »Ach, Herr, was für eine schreckliche Sache ists doch, ein zerschmettertes Knie wieder einzurichten!« und seinem Herrn, ihm wie oben zu antworten: »Geh, Jakob, du scherzest.«

Aber für alles Geld der Welt möchte ich meinen Lesern den Umstand nicht verschweigen, daß Jakobs Herr kaum diese ungezogene Antwort gegeben hatte, als sein Pferd zu stolpern anfing und fiel, er selbst aber sich mit dem Knie sehr hart an einen spitzigen Stein stieß. Er schrie, als ob er an einem Spieß steckte: »Ich bin des Todes! Ich habe das Knie gebrochen!«

Obgleich Jakob die beste Haut von der Welt war und zärtlich an seinem Herrn hing, so möchte ich doch wohl wissen, was auf dem Grunde seiner Seele vor sich ging; wenn auch nicht im ersten Augenblick, so doch wenigstens hernach, als er sich davon überzeugt hatte, daß dieser Sturz keine bösen Folgen haben würde und ob er sich einer kleinen Anwandlung von Schadenfreude über einen Vorfall erwehren konnte, der seinen Herrn darüber belehrte, was es heiße, sich am Knie verwunden.

Noch über einen andern Umstand, Leser, möchte ich gern von [20] dir Aufschluß haben: nämlich ob es seinem Herrn nicht lieber gewesen wäre, wenn er sich an einer andern Stelle als am Knie, wenn auch ein wenig ernstlicher, verwundet hätte, oder ob er gegen die Scham nicht empfindlicher war als gegen den Schmerz?

Als der Herr sich von seinem Falle und von seiner Angst ein wenig erholt hatte, schwang er sich wieder in den Sattel und gab seinem Pferde fünf- oder sechsmal derb die Sporen, so daß es wie der Blitz mit ihm davonrannte. Eben das tat Jakobs Gaul; denn es herrschte zwischen beiden Tieren dieselbe Vertraulichkeit wie zwischen ihren Reitern. Es waren zwei Paar Freunde. Als die beiden Pferde atemlos wieder in ihren gewöhnlichen Schritt kamen, sagte Jakob zu seinem Herrn: »Nun, Herr, was denken Sie davon?«

Herr: Wovon?

Jakob: Von einer Wunde am Knie.

Herr: Ich bin deiner Meinung: sie ist eine der schmerzlichsten.

Jakob: An Ihrem Knie?

Herr: Nein, nein, an deinem Knie, an meinem Knie, an allen Knien der Welt!

Jakob: Lieber Herr! Sie haben das Ding nicht recht überlegt. Seien Sie überzeugt, wir bedauern niemand als uns selbst.

Herr: Possen!

Jakob: Ach, wenn ich nur meine Gedanken so von mir geben könnte, wie ich sie denke! Aber dort oben steht es geschrieben, daß ich die Dinge zwar im Kopf habe, aber daß mir die Ausdrücke und Worte dazu nie in den Mund kommen sollen.

Hier verwickelte sich Jakob in eine sehr spitzfindige und vielleicht sehr wahre Metaphysik. Er suchte seinem Herrn begreiflich zu machen, daß dem Wort Schmerz keine Vorstellung entspräche und daß es nicht eher eine Bedeutung zu haben anfange als in dem Augenblick, da es unser Gedächtnis an eine schon gehabte Empfindung erinnert.

»Bist du schon einmal in die Wochen gekommen?« fragte ihn sein Herr.

»Nein«, gab Jakob zur Antwort.

[21] »Glaubst du, daß es große Schmerzen macht, ein Kind zur Welt zu bringen?«

»Allerdings.«

»Bedauerst du die Weiber in Kindsnöten?«

»Von Herzen.«

»Also bedauerst du doch zuweilen noch sonst jemand als dich selbst.«

»Ich bedaure den oder die, welche ich die Hände ringen, sich die Haare ausraufen und wimmern und jammern sehe, weil ich aus Erfahrung weiß, daß man dies alles nicht tut, ohne zu leiden. Aber was die eigentümlichen Schmerzen einer niederkommenden Frau betrifft, so beklage ich sie nicht, denn ich weiß nicht, wie sie tun – Gott sei Dank! Doch um wieder auf ein Leiden zu kommen, das wir alle beide kennen, auf die Geschichte meines Knies, welches durch Ihren Fall nun Ihr eignes geworden ist ...«

Herr: Nein, Jakob! Auf die Geschichte deiner Liebesabenteuer, die durch meine Leiden zu der meinigen geworden ist.

Jakob: Ich war nun verbunden und fühlte ein wenig Linderung. Der Wundarzt hatte sich wieder wegbegeben, und meine Wirtsleute hatten sich zu Bett gelegt. Ihre Schlafkammer war von der meinigen nur durch Bretter mit großen Spalten abgesondert, die man mit Löschpapier und bunten Bildern verklebt hatte. Ich schlief nicht und hörte die Frau zu ihrem Manne sagen: ›Laß mich zufrieden! Ich habe nicht Lust zu schäkern. Ein armer, unglücklicher Mensch, der vor unserer Tür im Sterben liegt ...‹

›Frau, du kannst mir das nachher sagen.‹

›Nein, du sollst nicht! Wenn du nicht aufhörst, so stehe ich auf. Es macht mir kein Vergnügen, wenn ich das Herz voll habe.‹

›Oh, wenn du dich so sehr bitten lassen willst, so wirst du am Ende zu kurz kommen.‹

›Ich tue es nicht, um mich bitten zu lassen; aber du bist manchmal so hart ... so ... so ...‹

Nach einer ziemlich kurzen Pause nahm der Mann das Wort [22] und sagte: ›Frau, gesteh jetzt nur, daß du uns durch ein sehr übel angebrachtes Mitleid in eine Verlegenheit gesetzt hast, aus der es fast unmöglich ist, wieder herauszukommen! Das Jahr ist schlecht; kaum können wir das Nötigste für uns und unsere Kinder bestreiten. Das Korn ist so teuer, der Wein nicht geraten. Ja, wenn es noch zu arbeiten gäbe! Aber die Reichen schränken sich ein, und die armen Leute können nichts verdienen. Auf einen Tag Arbeit kommen vier, an denen es nichts zu tun gibt. Niemand bezahlt, was er schuldig ist; die Gläubiger sind so hart, daß man darüber verzweifeln möchte. Und bei solchen Zeiten nimmst du einen Unbekannten, einen Fremdling auf, der uns nun so lange auf dem Halse liegen wird, wie es Gott und dem Wundarzt gefällig ist! Und der wird gewiß nicht eilen, ihn zu kurieren; denn diese Herren ziehen die Krankheiten gern so sehr in die Länge, wie sie nur können. Der Mensch hat nicht einen Heller im Vermögen; er wird uns doppelte und dreifache Kosten machen. Sage, Frau! Wie willst du es anfangen, ihn loszuwerden? Sag, rede, führe mir deine Gründe an!‹

›Läßt sich denn vernünftig mit dir sprechen?‹

›Du sagst, ich wäre mißgelaunt, ich zankte. Habe ich denn keinen Grund dazu? Gestern war im Keller noch etwas Wein vorrätig; der Himmel weiß, was aus dem werden wird! Die Wundärzte tranken schon gestern abend mehr als wir und unsere Kinder in einer Woche. Und wer soll den Wundarzt bezahlen, der gewiß nicht um nichts und wieder nichts hierhergekommen sein will?‹

›Ja, du hast vollkommen recht, und weil es uns so knapp und spärlich geht, machst du mir ein Kind, als ob wir ihrer nicht schon genug hätten.‹

›Oh, nicht doch!‹

›O ja, ich weiß ganz gewiß, daß ich schwanger werde.‹

›Das sagst du immer.‹

›Es ist jedesmal richtig gewesen, wenn mir das Ohr nachher juckte; und jetzt juckt es mir stärker als jemals.‹

›Dein Ohr weiß nicht, was es will.‹

[23] ›Rühr mich nicht an! Laß mein Ohr! Laß es doch, Mann! Bist du verrückt im Kopf? Es wird dir übel bekommen.‹

›Nein, nein! Seit der Johannisnacht hats für mich nichts mehr gegeben.‹

›Du wirst so lange machen, bis ... Und dann nach einem Monat brummst du mit mir, als ob es meine Schuld gewesen wäre.‹

›Nein, nein!‹

›Und in neun Monaten ist es noch schlimmer.‹

›Nein, nein!‹

›Du bists also, ders gewollt hat!‹

›Ja, ja!‹

›Wirst du's auch nicht vergessen? Wirst du auch nicht sprechen, wie du all die andern Male gesprochen hast?‹

›Nein, nein!‹

Und so geschah es denn, daß unter nein, nein und ja, ja dieser Mann, der so böse auf seine Frau war, weil sie einem Gefühle von Menschlichkeit nachgegeben hatte ...

Herr: Genau dieselbe Betrachtung habe auch ich angestellt.

Jakob: Daß dieser Mann nicht sehr konsequent war, ist gewiß; aber er war jung und seine Frau hübsch, und nie macht man mehr Kinder als zur Zeit der Not, des Mangels.

Herr: Es ist wahr, niemand arbeitet mehr an der Bevölkerung als die armen Leute.

Jakob: Ein Kind mehr macht ihnen nichts aus; die Mildtätigkeit anderer muß sie ernähren. Und dann ist es ja das einzige Vergnügen, das man umsonst hat; man tröstet sich bei Nacht gratis für die Leiden des Tages. Bei dem allen hatte der Mann mit seinen Bemerkungen doch recht. Während ich das zu mir selbst sagte, empfand ich einen heftigen Stich im Knie und rief aus: ›Ach, mein Knie!‹ Und der Mann rief aus: ›Ach, Frau!‹ Und die Frau rief aus: ›Ach, Mann! Aber ... aber ... der Fremde!‹

›Ja, und der Fremde?‹

›Wenn er was gehört hat!‹

›Mag er doch!‹

›Ich getraue mich morgen nicht, ihm ins Gesicht zu sehen.‹

[24] ›Und warum denn? Bist du nicht meine Frau? Bin ich nicht dein Mann? Hat ein Mann seine Frau, hat eine Frau ihren Mann um nichts und wieder nichts?‹

›Ah! Ah!‹

›Was gibts? Was fehlt dir?‹

›Mein Ohr!‹

›Nun gut, dein Ohr?‹

›Es juckt mich noch ärger denn je.‹

›Schlaf! Es wird schon vergehen.‹

›Ich kann nicht. Ach, mein Ohr, mein Ohr!‹

›Mein Ohr, mein Ohr! Das ist leicht gesagt.‹

Ich mag Ihnen nicht entdecken, was zwischen beiden vorging; aber als die Frau noch verschiedene Male leise und hastig: ›Mein Ohr, mein Ohr!‹ wiederholt hatte, stammelte sie zuletzt in abgerissenen Silben mit erlöschender Stimme: ›Mei...n O...hr!‹, und ich weiß nicht, was im Anschluß an dies ›Mei...n O...hr!‹, vereint mit dem darauffolgenden Stillschweigen, die Vorstellung in mir erweckte, daß ihr Ohrjucken auf irgendeine Weise zur Ruhe gekommen war. Das machte mir Vergnügen. Und ihr erst!

Herr: Jakob, leg die Hand aufs Herz und schwöre mir, daß es nicht diese Frau ist, in die du dich verliebt hast!

Jakob: Ich schwöre.

Herr: Desto schlimmer für dich!

Jakob: Desto schlimmer oder desto besser! Sie glauben wahrscheinlich, Herr, daß Weiber mit einem solchen Ohr gern Gehör geben?

Herr: Ich glaube, daß es dort oben so geschrieben steht.

Jakob: Und ich glaube, es ist noch dabei geschrieben, daß sie nicht lange einem und demselben Gehör geben und mehr oder minder geneigt sind, auch einem andern das Ohr zu leihen.

Herr: Das wäre wohl möglich.


Und nun gerieten sie in einen Streit ohne Ende über die Weiber. Der eine behauptete, sie wären gut, der andere, sie wären böse – und beide hatten recht; der eine, sie wären dumm, der [25] andere, sie wären geistvoll – und beide hatten recht; der eine, sie wären falsch, der andere, sie meintens aufrichtig – und beide hatten recht; der eine, sie wären geizig, der andere, sie wären freigebig – und sie hatten beide recht; der eine, sie wären häßlich, der andere, sie wären schön – und beide hatten recht; der eine, sie wären geschwätzig, der andere, sie wären verschwiegen; der eine offenherzig, der andere verstellt; der eine unwissend, der andere aufgeklärt; der eine sittsam, der andere ausschweifend; der eine töricht, der andere gescheit; der eine groß, der andere klein – und beide hatten recht.

Indem sie so miteinander disputierten und durch die ganze Welt hätten reisen können, ohne einen Augenblick damit aufzuhören und ohne einerlei Meinung zu werden, überfiel sie ein Ungewitter und nötigte sie, ihren Weg nach ...

›Wohin?‹

Wohin? – Leser, deine Neugier ist recht lästig! Was Teufel hast du davon? Wenn ich dir gesagt hätte, sie hätten ihren Weg nach Pontoise oder nach Saint-Germain, nach Unsrer Lieben Frau zu Loreto oder nach Sankt Jakob zu Compostela genommen, würdest du deswegen um ein Haarbreit weitergekommen sein? Doch wenn du darauf bestehst, will ich dir sagen, daß sie ihren Weg nach – ja, warum nicht! –, nach einer ungeheuren Burg nahmen, an deren Frontispiz man die Worte las: ›Ich gehöre niemandem und gehöre jedermann. Du warst schon darin, ehe du hineinkamst, und wirst noch darin sein, wenn du schon wieder hin aus bist.‹

›Gingen sie denn in diese Burg?‹

Nein; denn entweder war die Aufschrift falsch, oder sie waren schon darin, ehe sie hineinkamen.

›Aber wenigstens gingen sie doch heraus?‹

Nein; denn entweder war die Aufschrift falsch, oder sie waren noch darin, als sie schon wieder hinaus waren.

›Und was machten sie darin?‹

Jakob sagte, was dort oben geschrieben stand, sein Herr, was ihm beliebte. Und sie hatten beide recht.

›Was trafen sie da für Gesellschaft?‹

[26] Eine gemischte.

›Was sprach man?‹

Einige Wahrheiten und viele Lügen.

›Gab es Leute von Verstand darunter?‹

Wo gibt es deren nicht? Aber es gab auch verwünschte Frager darunter, die man wie die Pest floh. Was aber Jakob und seinen Herrn am meisten ärgerte, während sie darin auf und ab spazierten ...

›Man spazierte also darin auf und ab?‹

Ja, wenn man nicht saß oder lag. Was aber Jakob und seinen Herrn am meisten ärgerte, waren an die zwanzig Unverschämte, die sie darin antrafen, die sich der besten, prächtigsten Zimmer bemächtigt hatten, wo es ihnen trotzdem fast immer zu eng vorkam und die dem gemeinen Recht und dem wahren Sinne der Aufschrift zuwider behaupteten, die Burg sei ihnen erb- und eigentümlich vermacht. Mit Hilfe einer Anzahl Taugenichtse, die in ihrem Sold standen, hatten sie eine große Anzahl anderer Taugenichtse in ihrem Sold davon zu überzeugen gewußt, und diese waren immer bereit, für ein kleines Stück Geld den ersten zu hängen oder zu morden, der es wagte, jenen zu widersprechen. Indes wagte man das zu Jakobs und seines Herrn Zeit doch bisweilen.

›Ungestraft?‹

Es kommt drauf an.

Die Leser werden sagen, ich schweife auf gut Glück umher, und weil ich nicht wisse, was ich mit meinen beiden Reisenden anfangen solle, so nehme ich meine Zuflucht zur Allegorie, dem gewöhnlichen Hilfsmittel unfruchtbarer Köpfe. Ich will ihnen meine Allegorie und alle die Schätze aufopfern, die ich daraus hätte ziehen können; ich will meinen Lesern alles zugestehen, was ihnen beliebt; aber ich bedinge mir aus, daß sie mich mit aller weiteren Schikane über Jakobs und seines Herrn letztes Nachtlager verschonen. Sie mögen nun eine große Stadt erreicht und die Nacht bei gefälligen Mädchen zugebracht haben oder bei einem alten Freund eingekehrt sein, der sie auf das beste bewirtet hat; oder bei Bettelmönchen, wo sie um Gotteswillen [27] schlecht beherbergt und schlecht gepflegt worden sind; oder in dem Hause eines Großen, wo es ihnen mitten unter all dem, was überflüssig und entbehrlich ist, an allem Notwendigen gebrach; oder sie mögen diesen Morgen aus einem großen Gasthofe abgereist sein, wo man sie ein schlechtes Abendessen auf silbernen Schüsseln und ein Nachtlager zwischen damastenen Vorhängen auf feuchten, faltigen Tüchern sehr teuer bezahlen ließ; oder gastfreundlich bei einem auf den Zehnten angewiesenen Dorfpfarrer aufgenommen sein, der eilends die Hühnerställe seiner Pfarrkinder brandschatzte, um ihnen einen Eierkuchen und ein Hühnerfrikassee vorzusetzen; oder sie mögen sich in einer reichen Bernhardinerabtei an vortrefflichem Weine berauscht, üppig geschmaust und den Magen gehörig verdorben haben – denn wenn das alles meinen Lesern auch gleich möglich dünken mag, so war Jakob dieser Meinung nicht, da für ihn nur das wirklich war, was dort oben geschrieben stand. Von wo meine Leser sie aber auch abreisen lassen mögen, soviel ist gewiß, daß beide noch keine zwanzig Schritte geritten waren, als der Herr, nachdem er vorher, wie er es zu tun pflegte, eine Prise Tabak genommen hatte, zu Jakob sagte: »Nun, Jakob, und deine Liebesgeschichte?«

Statt zu antworten, rief Jakob aus: »Zum Teufel mit meiner Liebesgeschichte! Habe ich nicht vergessen ...«

Herr: Was denn?

Jakob kehrte, ohne zu antworten, alle seine Taschen um und befühlte sich überall – aber vergebens. Er hatte seinen Geldbeutel unter dem Kopfkissen seines Bettes liegenlassen und kaum seinem Herrn dies gestanden, als dieser ausrief:

»Auch ich wollte, daß deine Liebesgeschichte beim Kuckuck wäre! Ich habe meine Uhr am Kamin hängenlassen.«

Jakob ließ sich nicht lange bitten. Er kehrte sogleich um und ritt in langsamem Schritt zurück; denn er übereilte sich niemals.

›Nach dem ungeheuren Schloß?‹

Nein, nein! Unter allen den mancherlei möglichen Nachtlagern, die ich meinen Lesern oben aufgezählt habe, mögen sie [28] sich eins aussuchen, das zu den gegenwärtigen Umständen am besten paßt.

Unterdessen setzte sein Herr immer seinen Weg fort. Herr und Diener sind also getrennt, und ich weiß nicht, welchem von beiden ich den Vorzug geben und wen ich begleiten soll. Lieber Leser! Willst du Jakob folgen, so sieh dich wohl vor; denn das Suchen nach dem Beutel und der Uhr könnte so lange dauern und so verwickelt werden, daß er geraume Zeit nicht zu seinem Herrn, dem einzigen Vertrauten seiner Liebesgeschichte, zurückkehren möchte; und dann gute Nacht, Jakobs Liebesgeschichte! Willst du ihn aber allein den Beutel und die Uhr suchen lassen und sei nem Herrn Gesellschaft leisten, so würde das wohl recht höflich und artig von dir sein, aber du würdest im höchsten Grade Langeweile haben. Du kennst diesen Schlag Menschen noch nicht: Er hat wenig Ideen im Kopf; und sagt er ja zuweilen etwas Gescheites, so kommt es von Wiedererinnerung oder Eingebung. Er hat Augen wie du und ich, aber man weiß die meiste Zeit nicht, ob er sieht; er schläft nicht und wacht ebensowenig; er lebt so in den Tag hinein; das ist seine gewöhnliche Verrichtung.

Dieser Automat setzte also seinen Weg fort und sah sich von Zeit zu Zeit um, ob Jakob nicht wiederkäme. Er stieg vom Pferde und ging zu Fuß, setzte sich wieder auf, ritt eine Viertelstunde, stieg von neuem ab und setzte sich auf die Erde, wobei er den Zügel seines Pferdes an den Arm hängte und den Kopf auf beide Hände stützte. Als er dieser Positur überdrüssig war, stand er auf und schaute aus, ob er Jakobs nicht gewahr würde; doch kein Jakob war zu sehen. Nun ward er ungeduldig, und ohne recht zu wissen, ob er etwas sage oder nicht, brach er in die Worte aus: »Der Spitzbube! Der Galgenvogel! Der Taugenichts! Wo bleibt er? Was macht er? Braucht er so viel Zeit, einen Beutel und eine Uhr wiederzuholen? Ich will ihn totprügeln; ja gewiß, totprügeln will ich ihn!« Und nun suchte er seine Uhr in der Achseltasche, wo sie nicht steckte, und geriet vollends aus aller Fassung; denn er wußte nicht, was er ohne seine Uhr, ohne Tabaksdose und ohne Jakob anfangen [29] sollte. Das waren die drei großen Hebel seines Lebens, welches er damit zubrachte: Tabak zu nehmen, nachzusehen, wieviel die Uhr sei, und Fragen über Fragen an Jakob zu richten. Jetzt hatte er seine Uhr nicht mehr und war bloß auf seine Dose angewiesen, die er jede Minute auf- und zumachte, wie ich zu tun pflege, wenn ich Langeweile habe; denn der Überrest von Tabak, der des Abends in meiner Dose bleibt, steht im genauen Verhältnis zum Vergnügen oder im umgekehrten zur Langeweile meines verlebten Tages. Ich bitte dich, lieber Leser, dich mit dieser der Geometrie entlehnten Art zu sprechen zu befreunden, da ich sie präzise finde und mich ihrer häufig bedienen werde.

Nun, Leser, hast du den Herrn satt, und willst du, weil sein Diener nicht wiederkommt, daß wir ihn aufsuchen? Der arme Jakob! In dem Augenblick, da wir von ihm sprechen, rief er schmerzbewegt aus: »So stand es also dort oben geschrieben, daß ich an einem Tage für einen Straßenräuber angesehen, beinahe in ein Gefängnis gesperrt und beschuldigt werden sollte, ein Mädchen verführt zu haben.«

Als er sich mit langsamen Schritten dem Schlosse – nein, dem Orte des letzten Nachtlagers näherte, ging einer der hausierenden Kleinhändler, die man Galanteriekrämer zu nennen pflegt, bei ihm vorbei und rief ihm zu: »Herr Baron! Ist nichts gefällig? Schnallen, Gürtel, Uhrketten, hochmoderne Dosen, Ringe, Petschafte als Uhranhänger und eine Uhr! O Herr Baron! Eine Uhr, eine schöne goldene Uhr, ziseliert, mit doppeltem Gehäuse, fast neu ...«

Jakob gab zur Antwort: »Ich suche wohl eine Uhr; aber das ist nicht die deinige ...«, und setzte seinen Weg immer im Schritt fort. Indem er so weiterritt, glaubte er dort oben geschrieben zu erblicken, daß die Uhr, die ihm dieser Mann angeboten hatte, seines Herrn Uhr sein könnte. Er ritt also zurück und sagte zu dem Galanteriekrämer: »Hör er, Freund, zeige er mir einmal die Uhr mit dem goldenen Gehäuse; vielleicht gefällt sie mir.«

»Meiner Treu,« erwiderte der Galanteriekrämer, »das sollte [30] mich nicht wundernehmen; sie ist schön, sehr schön und von Julien Leroy. Sie ist erst seit wenigen Augenblicken mein; ich habe sie wohlfeil erhandelt und will sie auch wohlfeil wieder weggeben. Ich bin für die kleinen, aber häufigen Gewinne. Doch man ist bei den jetzigen Zeiten recht übel daran; wer weiß, ob ich in den nächsten drei Monaten wieder einen so unverhofften Gewinn machen werde. Sie scheinen mir ein artiger feiner Herr zu sein, und ich will die Uhr lieber Ihnen als einem anderen gönnen.«

Während der Krämer so sprach, setzte er seinen Kasten auf die Erde, öffnete ihn und nahm die Uhr heraus. Jakob erkannte sie auf der Stelle, ohne eben darüber in Verwunderung zu geraten; denn so wie er sich nie übereilte, so nahm ihn auch selten etwas wunder.

Er betrachtete die Uhr recht genau. ›Ja,‹ sagte er bei sich selbst, ›sie ists!‹ – und zum Galanteriekrämer: »Du hast recht, sie ist schön, sehr schön, ich weiß, sie geht.« Hierauf steckte er sie in seine Achseltasche und verabschiedete sich von dem Krämer mit den Worten: »Schönen Dank, mein Freund!«

»Wie? Was? Schönen Dank?«

»Ja, es ist meines Herrn Uhr.«

»Ich kenne Euren Herrn nicht; diese Uhr ist mein, ich habe sie gekauft und gut bezahlt.«

Er faßte Jakob beim Kragen und schickte sich an, ihm die Uhr mit Gewalt zu nehmen. Jakob näherte sich seinem Pferd, ergriff eine von seinen Pistolen und setzte sie dem Hausierer auf die Brust. »Zurück!« rief er. »Oder du bist des Todes!« Der erschrockene Hausierer ließ unseren Jakob fahren. Dieser stieg wieder auf sein Pferd und ritt immer im Schritt nach der Stadt zu, indem er bei sich selbst sagte: ›Die Uhr hätten wir wieder; nun wollen wir uns nach unserm Beutel umsehen.‹

Der Galanteriekrämer machte in aller Eile seinen Kasten zu, nahm ihn auf seinen Rücken und lief hinter Jakob her, indem er aus vollen Kräften schrie: »Diebe! Räuber! Mörder! Zu Hilfe! Zu Hilfe!« Es war in der Erntezeit, und die Felder wimmelten von Arbeitern. Sie ließen alle ihre Arbeit liegen, versammelten [31] sich um den Schreienden und fragten ihn, wo der Dieb, der Mörder sei?

»Dort, dort vorn! Dort, dort!«

»Wie? Der Reiter, der so langsam im Schritt nach dem Stadttore zu reitet?«

»Ja, ebender.«

»Geht, Ihr seid nicht gescheit! Das ist doch nicht die Art und Weise eines Räubers.«

»Und doch ists ein Spitzbube; Ihr könnt mirs glauben; ein Straßenräuber! Er hat mir eine goldene Uhr mit Gewalt genommen.«

Die guten Leute wußten gar nicht, wie sie mit dem Geschrei des Hausierers und dem gemütlichen Schneckenritt Jakobs daran waren. »Liebe Leute,« setzte der Krämer noch hinzu, »ich bin ein zugrunde gerichteter Mann, wenn Ihr mir nicht beisteht; sie ist dreißig Louisdors unter Brüdern wert! Helft mir! Er geht mit meiner Uhr davon, und wenn er seinem Pferde die Sporen gibt, so kriege ich sie in meinem Leben nicht wieder!«

Konnte auch Jakob wegen der Entfernung das Geschrei nicht hören, so konnte er doch leicht den Auflauf bemerken; doch das trieb ihn nicht an, seinen Gang zu beschleunigen. Endlich bewog der Hausierer die Bauern durch das Versprechen einer Belohnung, jenem nachzusetzen. Eine Menge Männer, Weiber und Kinder fingen also an, ihm nachzulaufen und zu rufen: »Fangt den Dieb, fangt ihn, fangt den Räuber!«

Der Hausierer folgte ihnen so hurtig, wie es ihm seine Bürde erlaubte, und schrie ebenfalls: »Fangt den Dieb, fangt ihn, fangt den Räuber!« So langten sie in der Stadt an. (Denn in einer Stadt hatten Jakob und sein Herr die Nacht zuvor zugebracht, wie ich mich in diesem Augenblick erinnere.)

Die Einwohner liefen aus ihren Häusern, vereinigten sich mit den Bauern und dem Hausierer, und alle schrien einmütig: »Fangt den Dieb, fangt ihn, fangt den Räuber!«

Alle umringten Jakob zu gleicher Zeit. Der Hausierer sprang auf ihn zu. Jakob gab ihm einen Tritt, daß er zur Erde stürzte; [32] allein er schrie noch immer so heftig wie zuvor: »Spitzbube! Schelm! Bösewicht! Gib mir meine Uhr heraus! Du mußt sie herausgeben und sollst obendrein noch gehängt werden!«

Jakob behielt sein kaltes Blut; er wendete sich an den Haufen, der mit jedem Augenblick anwuchs, und sagte: »Es ist hier ein Polizeileutnant; man bringe mich zu ihm, und ich will beweisen, daß ich kein Schelm bin, wohl aber, daß dieser Mensch einer sein könnte. Es ist wahr, ich habe ihm eine Uhr abgenommen; aber diese Uhr gehört meinem Herrn. Ich bin in dieser Stadt nicht unbekannt. Vorgestern abend sind wir, mein Herr und ich, hier angekommen und haben bei dem Polizeileutnant, einem alten Freunde, logiert.«

Daß ich meinen Lesern nicht eher gesagt habe, daß Jakob und sein Herr durch Conches gekommen sind und bei dem dortigen Polizeileutnant geherbergt haben, daran ist bloß schuld, daß es mir nicht eher eingefallen ist.

»Bringt mich zu dem Herrn Polizeileutnant!« sagte Jakob, und zu gleicher Zeit schwang er sich vom Pferde. So standen sie in der Mitte des Haufens: er, sein Pferd und der Galanteriekrämer. Sie begaben sich zu dem Hause des Polizeileutnants. Jakob, sein Pferd und der Galanteriekrämer gingen hinein. Jakob und der Galanteriekrämer hielten einander fest beim Knopfloch gefaßt. Das zusammengelaufene Volk blieb vor der Tür stehen.

Aber was fing Jakobs Herr unterdessen an? Er war an der Landstraße eingeschlafen, hatte den Zügel seines Pferdes an seinen Arm gehängt, und der Gaul graste um den Schläfer her, soweit die Länge des Zügels es ihm erlaubte.

Kaum wurde der Polizeileutnant Jakob gewahr, so rief er ihm zu: »Bist du's, mein guter Jakob? Was führt dich so allein hierher?«

»Die Uhr meines Herrn; er hatte sie am Kamin hängenlassen, und ich habe sie im Kasten dieses Mannes wiedergefunden. Auch komme ich unseres Beutels wegen zurück, den ich unter meinem Kopfkissen habe liegenlassen und der sich ebenfalls wiederfinden wird, sobald Sie es befehlen.«

[33] »Und sobald es dort oben geschrieben steht«, setzte der Herr Polizeileutnant hinzu.

Er ließ sogleich seine Leute heraufkommen; und kaum waren sie eingetreten, so zeigte der Hausierer auf einen großen Schlingel, der nicht die beste Miene hatte und erst vor kurzem in das Haus gekommen war.

»Dieser da«, sagte er, »hat mir die Uhr verkauft.«

Der Herr nahm ein strenges Gesicht an und sagte zu dem Hausierer und zu seinem Bedienten: »Ihr verdient beide, auf die Galeeren zu kommen: du, daß du die Uhr verkauft, und du, daß du sie gekauft hast ... (Zum Bedienten:) Gib diesem Manne sein Geld wieder, und zieh auf der Stelle deine Livree aus ... (Zum Hausierer:) Mach, daß du aus dem Lande kommst, wenn du nicht für immer hier hängenbleiben willst! Ihr treibt alle beide ein Handwerk, das Unglück bringt. – Jakob, nun zu deinem Beutel!«

Die Person, die sich diesen Beutel zugeeignet hatte, erschien ungerufen. Es war ein großes Mädchen von vollen Formen.

»Ich habe den Beutel, Ihro Gnaden,« sagte sie zu ihrem Herrn, »aber ich habe ihn nicht gestohlen, er hat ihn mir gegeben.«

»Ich hätte dir meinen Beutel gegeben?«

»Ja.«

»Es ist möglich; aber mich soll der Teufel holen, wenn ich mich dessen erinnere!«

»Jakob,« sagte der Polizeileutnant, »wir wollen es gut sein lassen und nicht weiter untersuchen.«

»Ihro Gnaden ...«

»Sie ist hübsch und gefällig, wie ich sehe.«

»Ihro Gnaden, ich schwöre Ihnen ...«

»Wieviel war in dem Beutel?«

»Ungefähr neunhundertsiebzehn Livres.«

»Ah, Javotte! Neunhundertsiebzehn Livres für eine Nacht? Das ist für ihn und für dich viel zuviel. Gib mir den Beutel!«

Das große Mädchen reichte ihrem Herrn den Beutel, und dieser nahm einen Laubtaler heraus. »Hier,« sagte er, indem er ihr den Laubtaler hinwarf, »hier ist die Bezahlung für deine [34] geleisteten Dienste. Du bist mehr wert, aber für einen anderen als Jakob. Ich wünsche dir, daß du alle Tage zweimal soviel verdienst; doch außer meinem Hause, verstehst du mich? – Und du, Jakob, mach, daß du wieder auf dein Pferd und zu deinem Herrn kommst!«

Jakob grüßte den Polizeileutnant und entfernte sich, ohne zu antworten; aber er sagte zu sich selbst: Die Unverschämte! Die Spitzbübin! Es stand also dort oben geschrieben, daß ein anderer bei ihr schlafen und Jakob dafür bezahlen sollte? Doch tröste dich, Jakob! Bist du nicht überglücklich, mit so wenigen Kosten den Beutel und die Uhr deines Herrn wiedererlangt zu haben?

Jakob setzte sich wieder auf sein Pferd und machte sich Platz durch das Gedränge vor der Tür der Magistratsperson; weil es ihm aber wehe tat, von so vielen Leuten für einen Dieb gehalten zu werden, so zog er die Uhr aus der Tasche, als ob er nachsehen wollte, wieviel es an der Zeit sei. Hierauf gab er seinem Pferd beide Sporen, das dergleichen nicht gewohnt war und desto schneller mit ihm davonrannte. Jakob hatte die Gewohnheit, es nach seiner Laune hinschlendern zu lassen; denn es war ihm ebenso lästig, es anzuhalten, wenn es galoppierte, als es anzutreiben, wenn es zu langsam ging.

Wir glauben, daß wir das Schicksal leiten; aber das Schicksal leitet immer uns; und für Jakob war alles Schicksal, was ihn berührte oder ihm zu nahe kam: sein Pferd, sein Herr, ein Mönch, ein Hund, ein Weib, ein Maultier, eine Krähe. Sein Pferd brachte ihn also in vollem Galopp zu seinem Herrn, der, wie ich euch schon erzählt habe, mit dem Zügel seines Pferdes am Arm neben der Landstraße eingeschlafen war. Damals hing das Pferd noch am Zügel; doch als Jakob ankam, hing wohl der Zügel noch an seinem vorigen Platze, aber das Pferd nicht mehr daran. Wahrscheinlich hatte sich ein Gauner dem Schlafenden genähert, den Zügel abgeschnitten und das Pferd mitgenommen.

Über dem Getrappel, das Jakobs Pferd machte, wachte sein Herr auf. Sein erstes Wort war: »Kommst du, kommst du, Halunke? [35] Ich will dich ...«, und gähnend riß er den Mund eine Elle weit auf.

»Gähnen Sie, Herr, gähnen Sie sich recht von Herzen satt,« sagte Jakob, »aber wo ist Ihr Pferd?«

»Mein Pferd?«

»Ja, Ihr Pferd.«

Der Herr ward nun gewahr, daß man ihm sein Pferd gestohlen hatte, und wollte eben mit dem Zügel über Jakob herfallen und ihn schlagen; aber Jakob rief: »Sachte, Herr! Ich bin heute nicht aufgelegt, mich schlagen zu lassen. Den ersten Schlag nehme ich hin; aber ich schwöre, daß ich beim zweiten meinem Pferde die Sporen gebe und Sie hier sitzenlasse.«

Diese Drohung besänftigte auf der Stelle die Wut seines Herrn, der nun in einem weit sanfteren Tone zu ihm sagte:

»Und meine Uhr?«

»Hier.«

»Und dein Beutel?«

»Hier.«

»Du bist sehr lange ausgeblieben.«

»Nicht zu lange für das, was ich unterdessen getan habe. Hören Sie mir recht aufmerksam zu! Ich bin hingeritten, habe mich herumgebalgt, habe alle Bauern im Felde, alle Einwohner der Stadt in Aufruhr gebracht; ich bin für einen Straßenräuber gehalten und vor den Richter geführt worden, habe zwei Verhöre ausgestanden, bin beinahe Ursache gewesen, daß zwei Menschen gehängt worden sind; habe einen Bedienten aus dem Hause jagen lassen und eine Magd um ihren Dienst gebracht; bin überführt worden, bei einem Geschöpf geschlafen zu haben, das ich nie mit Augen gesehen hatte und doch bezahlte, und ich bin wieder zu Ihnen zurückgekommen.«

»Und ich, während ich auf dich wartete ...«

»Es stand dort oben geschrieben, daß Sie, während Sie auf mich warteten, einschlafen und daß Ihnen Ihr Pferd gestohlen werden sollte. Nun gut, Herr! Lassen Sie uns nicht weiter [36] daran denken. Das Pferd ist fort. Vielleicht stehts dort oben geschrieben, daß wir es wiederbekommen sollen.«

»Mein Pferd, mein armes Pferd!«

»Und wenn Sie Ihre Wehklagen bis morgen fortsetzen, so wird es doch nicht anders werden.«

»Was fangen wir an?«

»Ich will Sie hinter mich aufs Pferd nehmen, oder wenn es Ihnen lieber ist, so wollen wir unsere Stiefel ausziehen, sie an den Sattel meines Pferdes hängen und unsern Weg zu Fuß fortsetzen.«

»Mein Pferd! Mein armes Pferd!«

Sie entschlossen sich, zu Fuß zu gehen. Der Herr rief von Zeit zu Zeit aus: »Mein Pferd! Mein armes Pferd!«, und Jakob paraphrasierte die Geschichte seiner Abenteuer in nuce. Als er auf die Beschuldigung des Mädchens kam, sagte sein Herr:

»Hast du wirklich nicht bei dem Mädchen gelegen, Jakob?«

Jakob: Nein, Herr!

Herr: Und du hast sie bezahlt?

Jakob: Allerdings.

Herr: Ich bin einmal in meinem Leben unglücklicher gewesen als du.

Jakob: Sie bezahlten, nachdem Sie bei einer geschlafen hatten?

Herr: Getroffen!

Jakob: Wollen Sie mir die Geschichte nicht erzählen?

Herr: Ehe ich mit meiner Liebesgeschichte anfangen kann, müssen wir erst mit der deinigen fertig sein. Also, Jakob, zu deiner Liebesgeschichte, die ich für die erste und einzige Liebe, die du in deinem Leben gehabt hast, halten will, trotz dem Abenteuer mit der Magd des Polizeileutnants zu Conches; denn gesetzt auch, du hättest bei ihr geschlafen, so würdest du deswegen doch nicht in sie verliebt gewesen sein. Man schläft täglich bei Weibern, die man nicht liebt, und schläft bei denen nicht, die man liebt; aber ...

Jakob: Nun gut! Aber? Was wollen Sie sagen?

Herr: Mein Pferd ... Jakob! Mein Freund! Werde nicht böse! [37] Setze dich an meines Pferdes Stelle; nimm an, daß ich dich verloren hätte, und sage selbst, ob du nicht größere Stücke auf mich halten würdest, wenn du mich beständig ausrufen hörtest: ›Mein Jakob! Mein armer Jakob!‹

Jakob lächelte und sagte: »Ich glaube, ich war bei dem Gespräch stehengeblieben, das mein Wirt mit seiner Frau in der Nacht nach meinem ersten Verbande hatte. Ich schlummerte ein wenig; mein Wirt und seine Frau standen später auf als gewöhnlich.«

Herr: Das glaub ich.

Jakob: Bei meinem Erwachen schob ich sacht die Vorhänge auseinander und sah meinen Wirt, seine Frau und den Chirurgen bei der Tür in einer geheimen Unterredung. Nach dem, was ich in der Nacht gehört hatte, fiel es mir nicht schwer, zu erraten, was zwischen ihnen abgehandelt werden könnte. Ich hustete. Der Chirurg sagte zu dem Manne: ›Er ist aufgewacht, Gevatter! Geht in den Keller! Wir wollen einen Schluck trinken; das macht eine sichere Hand. Hernach will ich den Verband abnehmen, und wir werden ja sehen, was weiter zu tun ist.‹

Als die Flasche geholt und geleert war (denn der Kunstausdruck, einen Schluck trinken, heißt wenigstens eine ganze Bouteille ausstechen), näherte sich der Chirurg meinem Bett und fragte: ›Wie ist die Nacht gewesen?‹

›Nicht schlecht.‹

›Bitte, den Arm! Gut, gut! der Puls geht nicht übel; es ist fast kein Fieber mehr da. Jetzt wollen wir nach dem Knie sehen. – Kommt her, Gevatterin,‹ sagte er zu der Wirtin, die am Fußende meines Bettes hinter dem Vorhang stand, ›helft uns ...‹ Die Wirtin rief eines ihrer Kinder herbei.

›Nicht ein Kind brauchen wir hier, sondern Euch; eine falsche Bewegung würde uns einen ganzen Monat Pflege kosten. Kommt hierher ...‹

Die Wirtin näherte sich mit niedergeschlagenen Augen.

›Haltet dieses Bein hier, das gesunde, ich sorge für das andere. Sacht, sacht ... Zu mir her, noch ein wenig zu mir her ... [38] Freund, eine kleine Drehung nach rechts, nach rechts, sag ich ... So, jetzt haben wirs ...‹

Ich grub beide Hände krampfhaft in die Matratze, biß die Zähne aufeinander, und der Schweiß lief mir das Gesicht herunter.

›Ja, Freund, das tut nicht wohl.‹

›Ich merke es.‹

›Soweit wären wir nun. Gevatterin, laßt das Bein los, nehmt das Kopfkissen, rückt den Stuhl heran und legt das Kopfkissen darauf ... Zu nah ... Etwas weiter weg ... Gebt mir die Hand, guter Freund, drückt fest zu. Geht auf die andere Seite, Gevatterin, und haltet ihn unter den Armen ... Sehr gut ... Gevatter, ist nichts mehr in der Flasche?‹

›Nein.‹

›So nehmt den Platz Eurer Frau ein, damit sie in den Keller gehen und eine andere holen kann ... Gut so, gießt nur voll ... Frau, laßt Euren Mann, wo er ist, und kommt an meine Seite ...‹ Die Wirtin rief noch einmal eines ihrer Kinder herbei.

›Tod und Teufel, ich habs Euch schon einmal gesagt, ein Kind können wir hier nicht brauchen! Kniet nieder und faßt mit der Hand unter die Waden ... Gevatterin. Ihr zittert, als hättet Ihr einen schlimmen Streich gemacht. Vorwärts, Mut ... Die linke Hand unter den Schenkel, hier, oberhalb des Verbandes ... Sehr gut!‹

Gleich darauf war die Naht aufgetrennt, die Binden abgewickelt, der Verband entfernt und meine Wunde freigelegt.

Der Chirurg befühlte das Knie oben, unten, von allen Seiten; und sooft er mich berührte, rief er aus: ›Der Ignorant! Der Langohr! Der Dummkopf! Und so ein Kerl will in die Chirurgie pfuschen! Dieses Bein sollte abgenommen werden? Es wird so lange dauern wie das andere; dafür hafte ich mit meinem Kopf.‹

›Ich werde also kuriert werden?‹

›Ich habe schon ganz andere Wunden kuriert.‹

›Werde ich wieder gehen können?‹

›Gewiß.‹

›Ohne zu hinken?‹

[39] ›Das ist was anderes. Zum Henker, Freund! Ihr verlangt auch gar zuviel! Ist es nicht genug, daß ich Euch Euer Bein erhalte? Übrigens, wenn Ihr auch hinken solltet, so wird es doch nicht viel zu bedeuten haben. Liebt Ihr das Tanzen?‹

›Und ob!‹

›Wenn Ihr damit auch nicht zum besten gehen könntet, so werdet Ihr desto besser tanzen. – Gevatterin, den warmen Wein! – Nein, den andern erst! Noch ein Gläschen! Um Euern Verband solls deswegen nicht schlechter stehen.‹

Er trank; man brachte den warmen Wein; man bähte mich; man legte den Verband wieder um, streckte mich auf meinem Bett aus, ermahnte mich zu schlafen, wenn ich könnte, und zog die Vorhänge zu. Hierauf leerte man die angebrochene Flasche vollends aus, holte noch eine aus dem Keller, und die Konferenz zwischen dem Chirurgen, dem Wirt und der Wirtin fing von neuem an.

Wirt: Gevatter! Wird sich die Kur in die Länge ziehen?

Chirurg: Sehr ... Prosit, Gevatter!

Wirt: Aber wie lange kann es währen? Einen Monat ungefähr?

Chirurg: Einen Monat? Sagt zwei, drei, vier! Wer kann das wissen? Die Kniescheibe ist beschädigt, das Femur, die Tibia ... Prosit, Gevatterin!

Wirt: Vier Monate? Daß Gott erbarm! Warum haben wir ihn aufgenommen! Was Teufel hatte sie an der Tür zu schaffen?

Chirurg: Nun auf meine Gesundheit, denn ich habe ein gutes Stück Arbeit gemacht!

Wirtin: Sieh, Mann, da kommst du schon wieder mit deinem alten Liede! Das hast du mir diese Nacht nicht versprochen ... Doch Geduld! Du kommst mir schon wieder.

Wirt: Aber sage mir nur, was sollen wir mit dem Menschen anfangen? Ja, wenn das Jahr nicht so schlecht gewesen wäre!

Wirtin: Ich will zum Pfarrer gehen, wenn du es zufrieden bist.

Wirt: Wenn du einen Schritt über seine Schwelle setzest, so schlage ich dich tot!

Chirurg: Warum das, Gevatter? Geht doch meine Frau auch zu ihm.

[40] Wirt: Das ist Eure Sache.

Chirurg: Auf die Gesundheit meines Patchens! Wie befindet es sich?

Wirtin: Recht wohl.

Chirurg: Frisch, Gevatter! Stoßt an! Eure Frau und meine Frau sollen leben! Es sind ein paar gute Weiber.

Wirt: Eure Frau ist weit gescheiter; sie hätte nicht einen so dummen Streich gemacht.

Wirtin: Aber, Gevatter, da sind ja die Grauen Nonnen.

Chirurg: Ach, Gevatterin, wo denkt Ihr hin? Eine Mannsperson bei den Nonnen! Und dann gibt es dabei noch eine andere kleine Schwierigkeit, die ein bißchen mehr bedeuten will als der kleine Finger ... Aufs Wohl der Grauen Nonnen! Es sind gute Kinder.

Wirtin: Was für eine Schwierigkeit?

Chirurg: Euer Mann will nicht haben, daß Ihr zu dem Pfarrer gehn sollt, und meine Frau will mich nicht zu den Nonnen gehen lassen ... Aber, Gevatter, noch einen Schluck! Vielleicht macht er, daß uns ein guter Rat einfällt. Habt Ihr den Mann schon gefragt? Er ist vielleicht nicht ohne Hilfsmittel ...

Wirt: Ein Soldat?

Chirurg: Ein Soldat hat Vater, Mutter, Brüder, Schwestern, Verwandte, Freunde; kurz, jemand unter dem Himmel, der ihm angehört ... Noch einen Schluck! Geht nur und laßt mich machen!

So lautete buchstäblich die Unterhaltung des Chirurgen mit dem Wirt und der Wirtin. Aber welch andere Färbung wäre ich imstande gewesen ihr zu geben, wenn ich einen Bösewicht in diesen Kreis ehrlicher Leute eingeführt hätte! Jakob hätte sich oder du hättest Jakob gesehen, wie man ihn aus dem Bett gerissen, auf die Landstraße oder in eine Grube geworfen hätte. ›Warum nicht getötet?‹

Nein, getötet nicht. Ich hätte schon rechtzeitig jemand zu seiner Hilfe herbeigerufen; dieser Jemand wäre ein Soldat seiner Kompanie gewesen; aber das hätte so nach ›Cleveland‹ gerochen, daß die Luft verpestet gewesen wäre. Die Wahrheit! [41] Die Wahrheit! ›Die Wahrheit‹, wirst du mir sagen, ›ist häufig nüchtern, gemein und platt. Zum Beispiel Euer letzter Bericht über das Verbinden von Jakobs Wunde ist wahrheitsgetreu, aber was ist Interessantes daran? Nichts!‹ Das gebe ich zu.

›Will man wahr sein, so muß man es wie Molière, Regnard, Richardson, Sedaine machen. Die Wahrheit hat ihre pikanten Seiten, die man erfaßt, wenn man Genie besitzt.‹

Ja, wenn man Genie besitzt; hat man aber keines?

›Hat man keines, so darf man nicht schreiben.‹

Wenn man aber unglücklicherweise einem Poeten gliche, den ich nach Pondichéry geschickt habe?

›Was ists mit diesem Poeten?‹

Dieser Poet ... Aber wenn du mich unterbrichst, Leser, und ich mich jeden Augenblick selbst unterbreche, was soll dann aus Jakobs Liebesgeschichte wer den? Glaube mir, es ist gescheiter, wir lassen den Poeten da, wo er ist ...

Wirt und Wirtin entfernten sich ...

›Nein, nein, die Geschichte vom Poeten von Pondichéry!‹

Der Chirurg näherte sich Jakobs Bett ...

›Die Geschichte vom Poeten von Pondichéry! ...‹

Eines Tages kommt ein junger Dichter zu mir, wie mir das alle Tage passiert ... Aber, Leser, welchen Bezug hat das zu der Reise Jakobs des Fatalisten und seines Herrn?

›Die Geschichte des Poeten von Pondichéry!‹

Nach den üblichen Komplimenten über meinen Geist, mein Genie, meinen Geschmack, meine Wohltätigkeit und noch anderm Gerede, von dem ich kein Wort glaube, obwohl man es mir seit länger als zwanzig Jahren wiederholt und vielleicht im besten Glauben, zieht der Dichter ein Papier aus der Tasche.

»Das sind Verse«, sagt er zu mir.

»Verse!«

»Ja, mein Herr, und ich hoffe, Sie werden mir die Wahrheit darüber sagen.«

»Lieben Sie die Wahrheit?«

[42] »Ja, mein Herr, und ich bitte Sie darum.«

»Sie werden sie erfahren.«

»Was, Sie sind einfältig genug, zu glauben, daß ein Dichter die Wahrheit bei Ihnen sucht?«

O ja.

»Und gar, sie ihm zu sagen?«

Gewiß!

»Schonungslos?«

Sicherlich; die bestangewandte Schonung wäre nur eine grobe Beleidigung. Genau interpretiert würde sie besagen: du bist ein schlechter Dichter und dazu noch ein trivialer Mensch, denn ich halte dich nicht für stark genug, die Wahrheit zu ertragen.

»Und sind Sie mit dieser Offenheit immer gut gefahren?«

Fast immer ...

Ich las die Verse meines jungen Dichters und sagte zu ihm:

»Ihre Verse sind nicht bloß schlecht, ich bin auch überzeugt, daß Sie niemals gute machen werden.«

»So werde ich denn also schlechte machen müssen; denn ich könnte es nicht über mich gewinnen, keine zu machen.«

»Was für ein schreckliches Verhängnis! Sind Sie sich denn klar; darüber, in welche Erniedrigung Sie geraten werden? Weder die Götter noch die Menschen, noch die Verleger erlauben den Dichtern Mittelmäßigkeit, sagt Horaz.«

»Ich weiß ...«

»Sind Sie reich?«

»Nein!«

»Sind Sie arm?«

»Sehr arm.«

»Und Sie wollen zur Armut noch die Lächerlichkeit eines schlechten Dichters hinzufügen; Sie werden alt sein und Ihr ganzes Leben vergeudet haben. Alt, arm und ein schlechter Dichter – ah, mein Herr, welche Rolle!«

»Ich seh es ein, aber trotzdem kann ich nicht anders ...« (Hier hätte Jakob gesagt: Es steht eben dort oben geschrieben.)

»Haben Sie Verwandte?«

»Ja.«

[43] »Welches ist ihr Stand?«

»Sie sind Juweliere.«

»Würden sie etwas für Sie tun?«

»Vielleicht.«

»Gut! Gehen Sie zu Ihren Verwandten, und schlagen Sie ihnen vor, Ihnen eine Partie Juwelen vorzustrecken. Schiffen Sie sich dann nach Pondichéry ein. Unterwegs werden Sie schlechte Verse und, dort angekommen, Ihr Glück machen. Haben Sie es gemacht, so kommen Sie wieder hierher zurück, und schmieden so viele schlechte Verse, wie Sie nur immer Lust haben, vorausgesetzt, daß Sie sie nicht drucken lassen, denn man soll niemand ruinieren ...«

Es mochte ungefähr zwölf Jahre her sein, daß ich dem jungen Mann diesen Rat gegeben hatte, als er wieder bei mir erschien. Ich erkannte ihn nicht.

»Ich bins, mein Herr, der nämliche, den Sie nach Pondichéry geschickt haben. Ich war dort und habe an die hunderttausend Franken zusammengebracht. Nun bin ich zurückgekehrt und habe wieder angefangen, Verse zu machen; hier bringe ich Ihnen welche. Sind sie noch immer schlecht?«

»Immer noch, aber Ihre Verhältnisse sind geordnet, und ich habe nichts dagegen einzuwenden, daß Sie fortfahren, schlechte Verse zu machen.«

»Das ist auch meine Absicht.«


Der Chirurg näherte sich Jakobs Bett; aber dieser ließ ihm nicht Zeit, zu Worte zu kommen. »Ich habe alles gehört«, redete er ihn an.

Hierauf wendete er sich zu seinem Herrn und setzte hinzu ... oder vielmehr wollte hinzusetzen, aber sein Herr unterbrach ihn. Er war es überdrüssig, zu Fuß zu wandern, und setzte sich an die Landstraße, das Gesicht nach einem Reisenden gekehrt, der auf sie zugegangen kam und den Zügel seines Pferdes, das ihm nachfolgte, an den Arm gehängt hatte.

Du glaubst vielleicht, Leser, dieses Pferd sei das, welches Jakobs Herrn gestohlen worden war; doch irrst du dich. So etwas [44] könnte sich vielleicht in einem Roman ein wenig früher oder später auf diese oder eine andere Art zutragen, aber was ich hier schreibe, ist kein Roman. Das habe ich dir, glaub ich, schon gesagt und wiederhole es hiermit noch einmal.

Der Herr sagte zu Jakob: »Siehst du diesen Mann auf uns zukommen?«

Jakob: Ja, ich sehe ihn.

Herr: Sein Pferd scheint mir gut zu sein.

Jakob: Ich habe bei der Infanterie gedient; ich verstehe mich nicht darauf.

Herr: Ich bin Offizier bei der Kavallerie gewesen; ich verstehe mich auf Pferde.

Jakob: Weiter!

Herr: Weiter? Ich wünschte, du machtest diesem Manne den Vorschlag, es uns zu überlassen – gegen bare Bezahlung versteht sich.

Jakob: Ein närrischer Einfall! Doch ich will es tun. Wieviel wollen Sie daranwenden?

Herr: Bis hundert Taler.

Jakob schärfte seinem Herrn erst ein, nicht wieder einzuschlafen, ging dann dem Reisenden entgegen, machte ihm den Vorschlag, sein Pferd zu kaufen, bezahlte es und brachte es mit sich zurück.

»Nun, Jakob,« rief sein Herr ihm zu, »du hast Ahnungen, aber du siehst, daß ich deren auch haben kann. Das Pferd ist schön; der Verkäufer wird geschworen haben, es sei ohne Fehler, aber im Punkte der Pferde sind die Menschen alle Roßkämme.«

Jakob: Und worin wären sie das nicht?

Herr: Du sollst es reiten und mir deins abtreten.

Jakob: Gut!

Nun saßen alle beide zu Pferde, und Jakob fuhr fort: »Als ich das Haus meiner Eltern verließ, hatten mein Vater, meine Mutter, mein Pate mir jedes ein Geschenk nach seinen geringen Umständen gemacht, und ich hatte noch fünf Louisdors aufgespart, die ich von Hans, meinem älteren Bruder, erhielt, [45] als er seine unglückliche Reise nach Lissabon antrat ...« (Hier fing Jakob an zu weinen, und sein Herr ihm vorzustellen, daß es so und nicht anders dort oben geschrieben gestanden hätte.) »Ach ja, Herr, ich habe es mir wohl hundertmal gesagt, und doch muß ich immer weinen ...« Und nun fing Jakob an, zu schluchzen und laut zu heulen. Sein Herr nahm seine Prise Tabak und sah nach seiner Uhr, wieviel es an der Zeit sei. Jakob nahm den Zügel seines Pferdes in den Mund und wischte sich die Augen mit beiden Händen. »Von den fünf Louisdors, die Hans mir gab,« fuhr er dann fort, »von meinem Handgeld und von den Geschenken meiner Eltern und Anverwandten hatte ich mir einen kleinen Schatz gesammelt und noch keinen Heller davon genommen. Der Schatz kam mir jetzt recht zustatten. Meinen Sie's nicht auch, Herr?«

Herr: Unmöglich konntest du länger in der Hütte bleiben.

Jakob: Auch für Bezahlung nicht?

Herr: Aber was hatte Hans, dein Bruder, in Lissabon zu tun?

Jakob: Ist es doch, als ob Sie sich recht vorgesetzt hätten, mich von meiner Erzählung abzubringen. Über Ihr Gefrage werden wir die ganze Welt durchreist haben, ohne das Ende meiner Liebesgeschichte zu erreichen.

Herr: Was liegt daran, wenn du nur erzählst und ich zuhöre! Diese beiden Punkte sind ja doch die Hauptsache. Du zankst mit mir, statt daß du mir danken solltest.

Jakob: Mein Bruder Hans war nach Lissabon gereist, um dort Ruhe zu suchen. Er war ein Bursche, der Geist hatte; und das brachte ihn ins Unglück. Es wäre besser für ihn gewesen, wenn er ein Dummkopf gewesen wäre wie ich, aber so stand es nun einmal dort oben geschrieben. Auch stand geschrieben, daß der bettelnde Karmeliterbruder, der zu jeder Jahreszeit in unser Dorf kam, um Eier, Wolle, Hanf, Früchte, Wein zu erbitten, bei meinem Vater herbergen, meinen Bruder Hans abspenstig machen und dieser die Mönchskutte anziehen sollte.

Herr: Dein Bruder Hans ist Karmelitermönch gewesen?

Jakob: Ja, Herr, und zwar ein Barfüßer-Karmeliter. Er war tätig, aufgeweckt, spitzfindig und das Orakel des Dorfes; er [46] konnte lesen und schreiben und beschäftigte sich von Jugend an damit, alte Urkunden zu entziffern und zu kopieren. Er ging alle Stufen und Verrichtungen des Ordens durch und ward nacheinander Pförtner, Kellermeister, Gärtner, Sakristan, Schaffnergehilfe und Schatzmeister. Bei der Art, wie er sich in die Höhe schwang und seinen Weg ging, würde er unser aller Glück gemacht haben. Er hat zweien von unsern Schwestern und noch einigen andern Mädchen im Dorfe Männer verschafft, und zwar gute. Er ging nicht über die Gasse, ohne daß die Väter, Mütter und Kinder sich zu ihm drängten und ihm zuriefen: ›Guten Tag, Bruder Hans! Wie befindet Ihr Euch, Bruder Hans?‹ Soviel ist gewiß: wo er in ein Haus trat, da kam der Segen des Himmels mit ihm; und war ein Mädchen im Hause, so hatte sie gewiß zwei Monate nach seinem Besuche einen Mann. Der arme Bruder Hans! Ehrgeiz brachte ihn zu Fall. Der Pater Schaffner des Klosters, dem man ihn als Gehilfen beigegeben hatte, war alt. Die Mönche haben behauptet, Hans sei darauf ausgegangen, nach seinem Tode sein Nachfolger zu werden, und habe deswegen das ganze Archiv in Unordnung gebracht, die alten Registraturen verbrannt und neue verfertigt, so daß nach dem Tode des alten Prokurators selbst der Teufel aus den Urkunden des Klosters nicht hätte klug werden können. Hatte man ein Schriftstück nötig, so ging ein Monat hin, ehe man es finden konnte, und oft fand man es gar nicht. Die Patres kamen der List des Bruders Hans und seinem Plane auf die Spur; sie nahmen die Sache sehr ernsthaft, und Bruder Hans, statt, wie er sich geschmeichelt hatte, Prokurator zu werden, wurde zu Wasser und Brot verurteilt und mit der Disziplin so lange heimgesucht, bis er einem andern Pater den Schlüssel zu seinen Registraturen offenbart hatte. Die Mönche sind unversöhnlich. Als man dem Bruder Hans alle die Aufschlüsse und Erläuterungen abgezwungen hatte, die man brauchte, machte man ihn zum Kohlenträger in dem Laboratorium, wo das Karmeliterwasser gebrannt wird. Bruder Hans, weiland Schatzmeister des Ordens und Prokuratoradjunkt, war nun Kohlenträger. Er war stolz [47] und konnte diesen Sturz von Glanz und Ansehen nicht ertragen; daher wartete er nur auf eine Gelegenheit, sich dieser Erniedrigung zu entziehen.

Um diese Zeit kam in dasselbe Kloster ein junger Pater, der sowohl im Beichtstuhl wie auf der Kanzel für ein Wunder des Ordens galt; er hieß Pater Angelo. Er hatte schöne Augen, ein schönes Gesicht und Arme und Hände zum Malen. Er fing an zu predigen und Beichte zu hören. Nun verließen die Betschwestern ihre alten Beichtväter und begaben sich zu dem jungen Pater Angelo. An den Abenden vor den Sonn-und Festtagen war der Stuhl des Paters Angelo stets von Büßern und Büßerinnen umlagert, während die alten Patres in ihren verwaisten Stühlen vergeblich auf Praxis hofften, was sie denn bitterlich kränkte ... Doch Herr, wie wäre es, wenn ich die Geschichte des Bruders Hans auf sich beruhen ließe und wieder zu meiner Liebesgeschichte käme? Das wäre vielleicht lustiger.

Herr: Nein, nein; wir wollen eine Prise Tabak nehmen und sehen, wieviel Uhr es ist. Fahre du nur fort!

Jakob: Nun, wenn Sie's verlangen; ich habe nichts dagegen ...

Doch Jakobs Pferd war anderer Meinung; es ging plötzlich durch und sprang mit ihm einen Abhang hinunter. Vergebens ließ Jakob es seine Kniee fühlen und hielt den Zügel kurz; unten angelangt, galoppierte das störrische Roß weiter und begann mit aller Macht einen kleinen Hügel hinanzuklettern, wo es ganz plötzlich stillstand und wo Jakob, als er um sich blickte, sich mitten unter Galgen sah.

Ein anderer als ich, lieber Leser, würde nicht versäumt haben, diese Galgen mit dem dazugehörigen Wildbret zu verzieren und Jakob ein trauriges Wiedersehen zu bereiten. Du hättest mirs wahrscheinlich, geglaubt, denn es gibt noch seltsamere Zufälle, doch wäre die Wahrheit dabei zu kurz gekommen; die Galgen waren leer.

Jakob ließ sein Pferd verschnaufen; dann ging es von selbst den Hügel hinunter und den Abhang wie der herauf und brachte Jakob zurück zu seinem Herrn, der zu ihm sagte: »Ach, [48] Freund, was hast du mir für Angst gemacht! Ich hielt dich für verloren ... Aber du bist nachdenklich; was beschäftigt dich?«

Jakob: Das, was ich dort oben gefunden habe.

Herr: Was denn?

Jakob: Galgen und Rad.

Herr: Verdammt! Das ist eine üble Vorbedeutung. Aber erinnere dich deines Spruches: Stehts dort oben geschrieben, so magst du es anstellen, wie du willst, lieber Freund, du wirst doch gehängt; und stehts nicht dort oben geschrieben, so hat das Pferd gelogen. War der Gaul nicht inspiriert, so scheint er zuweilen den Koller zu haben, und dann muß man sich in acht nehmen.

Nach einem kurzen Stillschweigen rieb sich Jakob die Stirn, schüttelte die Ohren, wie man zu tun pflegt, wenn man einen widrigen Gedanken von sich entfernen will, und fuhr dann unvermittelt in seiner Erzählung fort: »Die alten Mönche hielten einen Rat unter sich und beschlossen, es koste, was es wolle, sich diesen jungbärtigen Pater, der sie so sehr demütigte, vom Halse zu schaffen. Wissen Sie, wie sie's anfingen? – Aber, Herr, Sie hören mir ja nicht zu!«

Herr: Ich höre schon, ich höre, fahr nur fort!

Jakob: Sie brachten den Pförtner, der ein alter Lotterbube war wie sie selbst, auf ihre Seite. Dieser alte Schelm beschuldigte den jungen Pater, daß er sich im Sprechzimmer mit einer von seinen Beichttöchtern Freiheiten herausgenommen hätte, und beteuerte mit einem Eide, es mit eigenen Augen gesehen zu haben. Vielleicht mochte es wahr sein, vielleicht auch nicht – wer weiß das! Das drolligste bei der Sache war, daß den Tag darauf, als der Pförtner diese Anklage angebracht hatte, der Prior des Klosters von einem Wundarzt wegen Erstattung und Vergütung von Arzneien und Kurkosten belangt wurde, weil dieser Chirurg den Bösewicht von Pförtner an einer galanten Krankheit in der Kur gehabt hatte ... Aber, Herr, Sie hören mir nicht zu! Ich weiß auch, was Sie so zerstreut macht; ich wette, ich wette, es sind die Galgen.

Herr: Ich kann es nicht leugnen.

[49] Jakob: Ich habe Sie überrascht, wie Sie mir so scharf ins Gesicht sahen. Finden Sie ein Unglück weissagendes Aussehen an mir?

Herr: Nein, nein!

Jakob: Das heißt: ja, ja. Nun gut, wenn Sie sich vor mir fürchten, so wollen wir uns trennen.

Herr: Geh, Jakob! Ich glaube, du verlierst den Verstand. Bist du denn deiner nicht sicher?

Jakob: Nein, Herr; wer ist denn seiner sicher?

Herr: Jeder Biedermann. Sollte Jakob, der ehrliche Jakob, nicht einen Abscheu vor dem Verbrechen fühlen? – Komm, Jakob, laß uns diesen Streit beiseite legen und kehre zu deiner Erzählung zurück!

Jakob: Auf die Verleumdung oder Afterrede des Pförtners glaubte man sich berechtigt, tausend Teufeleien und tausend Bosheiten an dem armen Pater Angelo auszuüben und ihm den Kopf ganz verwirrt zu machen. Nun ließ man einen Arzt kommen, den man bestach, der dann ein Attest ausstellte, daß dieser Mönch gänzlich verrückt sei, und der ihm verordnete, wieder vaterländische Luft zu atmen. Hätte es sich nur darum gehandelt, den Pater Angelo zu entfernen oder einzusperren, so hätte sich das bald machen lassen; aber unter den Betschwestern, deren Abgott er war, gab es große Damen, mit denen man säuberlich verfahren mußte. Voll des scheinheiligen Mitleids sprach man mit ihnen von ihrem Beichtvater: ›Ach, der arme Pater Angelo! Es ist jammerschade um ihn! Er war der Schild und Schirm unseres Klosters.‹

›Was ist ihm denn begegnet?‹ Diese Frage beantwortete man bloß mit einem tiefen Seufzer und schlug die Augen zum Himmel auf. Fragten sie nun weiter, so ließ man den Kopf sinken und blieb stumm. Manchmal rief man bei diesem Possenspiel auch aus: ›O Gott, was sind wir Menschen, wir armen Menschen! Zuweilen hat er noch Momente, daß man sich des Staunens nicht erwehren kann ... Genieblitze ... Vielleicht bessert er sich; doch es ist wenig Hoffnung. Welch ein Verlust für den Orden!‹ Unterdessen verdoppelte man die Mißhandlungen [50] und unterließ keinen Versuch, den Pater Angelo in den Zustand zu versetzen, den man ihm andichtete. Man hätte auch seinen Zweck erreicht, wenn Bruder Hans sich nicht seiner erbarmt hätte. Kurz, an einem Abend, als wir alle im tiefen Schlafe lagen, hörten wir an unsere Tür klopfen. Wir sprangen aus den Betten und machten dem Pater Angelo und meinem Bruder auf. Sie waren beide verkleidet. Den folgenden Tag blieben sie bei uns. Den zweiten machten sie sich mit dem Tagesgrauen aus dem Staube. Sie hatten ihre Taschen gut gespickt; denn Hans sagte zu mir, indem er mich umarmte: ›Ich habe deine Schwestern verheiratet; und wäre ich zwei Jahre länger im Kloster geblieben, so solltest du einer von den reichsten Meierhofbesitzern in der Gegend geworden sein; aber das Blatt hat sich gewendet, und dies ist alles, was ich für dich tun kann. Gehab dich wohl, Jakob! Haben wir Glück, der Pater und ich, so soll es dein Vorteil mit sein.‹ Hierauf drückte er mir die fünf Louisdors in die Hand, die ich erwähnt habe, und noch fünf andere für das Mädchen im Dorfe, das er zuletzt verheiratet hatte und das mit einem dicken Jungen niedergekommen war, der dem Bruder Hans wie ein Ei dem andern glich.

Herr (die Uhr an ihren Ort steckend und die Schnupftabaksdose öffnend): Aber was wollten sie in Lissabon machen?

Jakob: Ein Erdbeben aufsuchen, das nicht ohne sie geschehen konnte; zerschmettert, verschlungen, verbrannt werden, wie es dort oben geschrieben stand.

Herr: Ach, die Mönche, die Mönche!

Jakob: Auch der beste von ihnen ist keinen Heller wert.

Herr: Ich weiß das besser als du!

Jakob: Sind Sie denn auch in ihren Klauen gewesen?

Herr: Das will ich dir ein anderes Mal erzählen.

Jakob: Aber warum mögen sie denn wohl so böse sein?

Herr: Ich glaube, weil sie Mönche sind. Doch laß uns wieder auf deine Liebesgeschichte kommen!

Jakob: Nein, Herr, lassen Sie uns lieber nicht wieder darauf kommen!

[51] Herr: Willst du etwa nicht mehr, daß ich sie erfahre?

Jakob: Ich will wohl, aber das Schicksal will es nicht. Haben Sie nicht gesehen, daß, sooft ich davon anfange, der Teufel sich dareinmengt und immer etwas dazwischenkommt, das mir das Wort vor dem Munde wegnimmt? Ich sage Ihnen, ich werde nie damit zu Ende kommen; dort oben steht es geschrieben.

Herr: Einen Versuch, Freund!

Jakob: Wie wäre es, wenn Sie Ihre eigene Liebesgeschichte anfingen? Vielleicht würde der Zauber dadurch gebrochen, und ich könnte dann mit der Erzählung der meinigen desto frischer fortfahren. Mir ist es, als ob es bloß daran läge; denn sehen Sie, Herr, manchmal kommt es mir ordentlich so vor, als ob das Schicksal mit mir spräche.

Herr: Und du befindest dich immer wohl dabei, wenn du ihm Gehör gibst?

Jakob: Freilich; zum Beispiel damals, als es mir zuflüsterte, daß Ihre Uhr in dem Kasten des Galanteriekrämers steckte.

Der Herr fing an zu gähnen; gähnend schlug er mit seiner Hand auf den Deckel seiner Dose, und indem er darauf schlug, sah er in die Ferne, und indem er in die Ferne sah, sagte er zu Jakob: »Bemerkst du nicht etwas auf deiner linken Seite?«

Jakob: Ja; und ich wette, dieses Etwas will, daß weder ich meine Liebesgeschichte; fortsetze noch Sie die Ihrige anfangen.

Jakob hatte recht, denn da das Ding, das sie erblickten, auf sie zukam und sie dem Dinge entgegenritten, so verkürzten diese beiden Bewegungen in entgegengesetzten Richtungen die Distanz, und bald entdeckten sie einen schwarz behangenen Wagen, von vier schwarzen Pferden gezogen, die mit schwarzen, bis auf die Erde schleppenden Tüchern bedeckt waren. Hinter dem Wagen ritten zwei Bediente in Trauer und noch zwei andere, gleichfalls schwarz gekleidet, und zwar jeder auf einem schwarzen Pferde mit schwarzen Decken. Auf dem Bock des Wagens saß ein schwarzer Kutscher mit heruntergeschlagenem Hut, von dem ein langer Flor über die linke Schulter herunterfloß. Dieser Kutscher ließ Kopf und Zügel hängen und [52] ward mehr von seinen Pferden geleitet, als daß er sie leitete. Jetzt befanden sich unsere beiden Reisenden neben dem Leichenwagen. In diesem Augenblick stieß Jakob einen lauten Schrei aus. Er fiel mehr von seinem Pferde, als daß er herabstieg, riß sich die Haare aus, wälzte sich auf der Erde und rief: »Ach, mein Hauptmann! Mein armer Hauptmann! Er ist es; ich kann nicht daran zweifeln! Hier ist sein Wappen ...«

Wirklich stand auf dem Wagen ein langer Sarg, mit einem Leichentuche behangen; auf dem Leichentuche lagen ein Degen und ein Ordensband, und neben dem Sarge saß ein Priester mit dem Brevier in der Hand und psalmodierte.

Der Wagen setzte seinen Weg fort. Jakob folgte ihm klagend und weinend; sein Herr ritt fluchend hinter Jakob her, und die Bedienten bekräftigten es dem armen Diener, daß dieser Leichenkondukt seinen Hauptmann führe, der in der benachbarten Stadt verschieden sei und jetzt zur Ruhestätte seiner Vorfahren gebracht werde. Seitdem dieser Offizier durch den Tod eines anderen Offiziers, seines Freundes, der auch als Hauptmann bei demselben Regiment gestanden, des Vergnügens beraubt worden, sich wenigstens einmal in der Woche schlagen zu können, sei er in eine Schwermut verfallen, die nach Verlauf weniger Monate seinem Leben ein Ende gemacht habe.

Als Jakob seinem Kapitän den Tribut des Lobes, der Tränen und des Bedauerns gezollt hatte, der ihm gebührte, entschuldigte er sich bei seinem Herrn, schwang sich wieder auf sein Pferd, und beide ritten schweigend von dannen.


›Aber um Himmels willen,‹ fragst du, lieber Leser, ›wo wollten sie eigentlich hin?‹

Aber um Himmels willen, lieber Leser, gebe ich dir zur Antwort; weiß man je, wohin man will? Zum Beispiel du, wohin willst du? Muß ich dir das Abenteuer Äsops ins Gedächtnis zurückrufen? Sein Herr Xanthippos sagte einmal an einem Sommer- oder Winterabend (denn die Griechen badeten sich zu allen Jahreszeiten) zu ihm: »Äsop, geh ins Bad! Sind wenige Leute darin, so wollen wir uns baden ...«

[53] Äsop ging fort. Unterwegs stieß er auf die Wachtpatrouille von Athen. »Wohin?«

»Wohin?« erwiderte Äsop. »Das weiß ich nicht.«

»Du weißt es nicht? Marsch, ins Gefängnis!«

»Hatt ich nicht recht,« fing Äsop an, »daß ich sagte, ich wüßte nicht, wohin ich ginge? Ich wollte ins Bad wandern und wandere nun ins Gefängnis.«

Jakob folgte seinem Herrn wie du dem deinigen, und sein Herr folgte seinem Herrn wie Jakob ihm.

›Aber wer war der Herr von Jakobs Herrn?‹

Welche Frage! Fehlt es einem wohl in dieser Welt an Herren? Jakobs Herr hatte wie du, Leser, deren hundert für einen. Unter so vielen Herren von Jakobs Herrn mußte es auch nicht einen guten geben; denn er wechselte sie beständig von einem Tage zu dem anderen.

›Er war Mensch ...‹

Ein leidenschaftlicher Mensch wie du, Leser! Ein neugieriger wie du, Leser! Ein lästiger wie du, Leser! Ein fragsüchtiger wie du, Leser!

›Und warum fragt er?‹

Schöne Frage! Er fragte, um etwas zu erfahren, um es weiterzusagen wie du, Leser!

Der Herr sagte also zu Jakob: »Du scheinst mir nicht aufgelegt, den Faden deiner Liebesgeschichte wieder anzuknüpfen.«

Jakob: Mein armer Hauptmann! Er geht dahin, wohin wir alle müssen, und es ist Wunders genug, daß er nicht schon längst dort angelangt war! (Er schluchzt.)

Herr: Aber Jakob, ich glaube, du weinst! Weine und tue dir keinen Zwang an; denn du kannst weinen, ohne dich dessen zu schämen; sein Tod befreit dich von den skrupelhaften Rücksichten, die dich während seines Lebens einschränkten. Du hast die Gründe nicht mehr, deine Leiden zu verbergen, die du hattest, dein Glück zu verbergen. Niemand wird daran denken, aus deinen Tränen die Schlüsse zu ziehen, welche man aus deinem Frohsinn gezogen hätte. Man verzeiht dem Unglück. Überdies muß man sich in diesem Augenblick gefühlvoll [54] oder undankbar zeigen; und alles wohl abgewogen, ist es besser, eine Schwäche zu verraten, als sich in den Verdacht eines Lasters zu bringen. Ich will, daß deine Wehklage frei und ungebunden sei, damit sie minder schmerzhaft sei. Heftig sei ihr Ausbruch, damit sie desto kürzer dauere. Erinnere dich, was er war, ja übertreibe es dir: jenen Scharfblick, die tiefsten Materien zu ergründen; jene Spitzfindigkeit, die feinsten und verwickeltsten Sachen auseinanderzusetzen; jenen soliden Geschmack, der ihn nur an die wichtigsten Dinge fesselte; jene Fruchtbarkeit, die er selbst den sterilsten Materien zu leihen wußte. Mit welcher Kunst führte er die Verteidigung eines Angeklagten! Seine Nachsicht flößte ihm tausendmal mehr Geist ein als Eigennutz oder Eigenliebe dem Schuldigen. Nur gegen sich selbst war er strenge; weit entfernt, Entschuldigungen für die leichten Fehler zu suchen, die er beging, bemühte er sich vielmehr mit aller Erbitterung eines Feindes, sie sich größer vorzustellen, als sie waren, und mit aller Anstrengung eines Neiders, den Wert seiner Tugenden durch eine strenge Prüfung der Beweggründe herabzuwürdigen, die ihn vielleicht wider sein Wissen dazu verleitet hatten. Setze deinem Schmerz kein anderes Ziel, als welches die Zeit ihm setzen wird. Wir wollen uns bei dem Verlust unserer Freunde dem allgemeinen Gange der Dinge unterwerfen, wie wir diesem Gange der Dinge uns selbst unterwerfen werden, wenn es ihm belieben wird, über uns das Los zu fällen. Wir wollen ohne Murren das Urteil des Schicksals entgegennehmen, das über sie ausgesprochen wurde, wie wir ihm uns selbst ohne Murren unterwerfen wollen, wenn es uns dereinst trifft. Die Pflichten des Begräbnisses sind nicht die letzten Pflichten der Seele. Die Erde, die man in diesem Augenblick umwühlt, wird sich über der Asche deines Geliebten wieder setzen und befestigen; aber deine Seele wird ihre ganze Empfindlichkeit behalten.

Jakob: Herr, das ist alles wunderschön gesagt; aber wozu, Teufel, hilft es? Ich habe meinen Hauptmann verloren; ich bin untröstlich darüber; und Sie? Sie beten mir wie ein Papagei [55] ein Stück aus dem Trostschreiben eines Herrn oder einer Dame an eine andere Dame her, die ihren Geliebten verloren hat.

Herr: Ich glaube, das Trostschreiben war von einer Dame.

Jakob: Und ich, ich glaube, es war von einem Manne. Aber es mag von einem Manne oder von einer Dame sein, so wiederhole ich noch einmal: Wozu, Teufel, hilft es? Halten Sie mich für die Geliebte meines Hauptmanns? Mein Herr, mein Hauptmann war ein kreuzbraver Mann, und ich bin immer ein anständiger Kerl gewesen!

Herr: Wer bestreitet dir denn das, Jakob?

Jakob: Wozu, zum Henker, nützt also Ihre Trostlitanei eines Herrn oder einer Dame an eine andere Dame? Wenn ich Sie recht darum bitte, so werden Sie es mir vielleicht erklären.

Herr: Nein, Jakob, das mußt du ganz allein herausfinden.

Jakob: Ich könnte den ganzen Rest meines Lebens darüber nachsinnen und würde es doch nicht erraten; ich hätte bis an das Jüngste Gericht vollauf damit zu tun.

Herr: Jakob! Du schienst mir aufmerksam zuzuhören, als ich dir die Stelle vortrug.

Jakob: Kann man sich der Aufmerksamkeit bei etwas so Lächerlichem erwehren?

Herr: Vortrefflich, Jakob!

Jakob: Es fehlte wenig, so hätte ich bei der Stelle laut aufgelacht, wo von den skrupelhaften Rücksichten die Rede war, die mich während des Lebens meines Hauptmanns einschränkten und von denen ich durch seinen Tod befreit worden sei.

Herr: Vortrefflich, Jakob! So habe ich meine Absicht erreicht. Sage selbst, ob es möglich war, es besser anzufangen, um dich zu trösten? Du weintest. Hätte ich dich von dem Gegenstand deines Schmerzes unterhalten, was würde darauf erfolgt sein? Du würdest noch mehr zu weinen angefangen und dich vollends der Verzweiflung überlassen haben. So aber lenkte ich dich unvermerkt, sowohl durch das Lächerliche meines Trauersermons als durch den kleinen Wortwechsel, der darauf erfolgt ist, von deinem Schmerz ab. Gesteh jetzt selbst, ob nicht [56] der Gedanke an deinen Hauptmann jetzt so weit von dir entfernt ist wie der Leichenwagen, der ihn zu seiner letzten Wohnung bringt? Doch nun, glaube ich, kannst du deine Liebesgeschichte wieder aufnehmen.

Jakob: Ich glaube es auch.

›Doktor,‹ sagte ich zum Chirurgen, ›wohnen Sie weit von hier?‹

›Wenigstens eine Viertelstunde.‹

›Sind Sie bequem logiert?‹

›Ziemlich bequem.‹

›Haben Sie vielleicht ein Bett frei?‹

›Nein.‹

›Wie? Nicht einmal für Bezahlung, für gute Bezahlung?‹

›Oh, für Bezahlung, für gute Bezahlung, das ist was anderes. Aber, Freund, Ihr seht mir gar nicht danach aus, als ob Ihr bezahlen, viel weniger gut bezahlen könntet.‹

›Das ist meine Sache. Und werde ich bei Ihnen auch einige Pflege haben?‹

›Die beste; meine Frau hat ihr ganzes Leben hindurch Kranke gewartet. Auch habe ich eine Tochter, die jedem Ankömmling den Bart rasiert und einen Verband so gut abnehmen und umlegen kann wie ich.‹

›Wieviel soll ich Ihnen für Wohnung, Kost und Ihre Mühe zahlen?‹

Der Chirurg antwortete, indem er sich hinter den Ohren kratzte: ›Für Wohnung ... Kost ... meine Mühe ... aber wer bürgt mir für richtige Bezahlung?‹

›Ich werde alle Tage bezahlen.‹

›Das war ein Wort!‹

Aber, lieber Herr, mir ists, als ob Sie mir nicht zuhörten.

Herr: Nein, Jakob! Es stand dort oben geschrieben, du solltest diesmal, das vielleicht nicht das letzte Mal in deinem Leben ist, reden, ohne daß man dir zuhörte.

Jakob: Wenn man jemand nicht zuhört, so denkt man entweder an nichts, oder man denkt an etwas ganz anderes, als was er sagt. Welches von beiden war bei Ihnen jetzt der Fall?

[57] Herr: Das letztere. Ich dachte darüber nach, daß einer von den Domestiken in Trauer, welche den Leichenwagen begleiteten, zu dir sagte, dein Hauptmann wäre durch den Tod seines Freundes des Vergnügens beraubt worden, sich jede Woche wenigstens einmal schlagen zu können. Konntest du dir das erklären?

Jakob: Recht gut.

Herr: Mir ist es ein Rätsel, und du wirst mir einen Gefallen tun, wenn du es mir lösen willst.

Jakob: Aber was zum Kuckuck kann Ihnen daran liegen?

Herr: Wenig ... Wahrscheinlich aber wünschst du, daß man dir zuhört, wenn du redest.

Jakob: Das versteht sich.

Herr: Nun, so kann ich dir mit gutem Gewissen nicht dafür stehen, solange mir diese rätselhafte Rede im Kopfe steckenbleibt. Befreie mich also davon, ich bitte dich!

Jakob: Es mag drum sein; aber schwören Sie mir wenigstens, daß Sie mich nicht mehr unterbrechen wollen.

Herr: Ich will dirs auf jeden Fall versprechen.

Jakob: Mein Hauptmann, ein guter Mann, ein galanter Mann, ein Mann von Verdienst, einer der besten Offiziere beim Korps, aber ein wenig Sonderling, hatte Freundschaft mit einem andern Offizier von demselben Korps geschlossen, der auch ein guter Mann, ein galanter Mann, ein Mann von Verdienst, ein so guter Offizier wie er, aber auch ebensolch ein Sonderling war wie er ...

Jakob wollte die Geschichte seines Hauptmanns gerade anfangen, als sie einen zahlreichen Trupp von Leuten und Pferden hinter sich herkommen hörten. Es war der Leichenwagen, der wieder zurückkehrte. Er war umringt ...

›Von Häschern der Finanzpacht?‹

Nein.

›Von Landreitern?‹

Vielleicht. Genug, der Priester mit dem Brevier, im Ornat, mit auf den Rücken gebundenen Händen, der schwarze Kutscher mit auf den Rücken gebundenen Händen und zwei schwarze [58] Bediente mit auf den Rücken gebundenen Händen marschierten vor dem Zuge her.

Wer in Erstaunen geriet, war Jakob.

»Mein Hauptmann!«, rief er. »Mein Hauptmann! Er ist nicht tot, Gott sei gelobt!«

Hierauf wendete Jakob sein Pferd, gab ihm die Sporen und sprengte dem vorgeblichen Leichenkondukte entgegen; aber er war ihm noch keine dreißig Schritte nahe gekommen, als die Häscher der Finanzpacht oder die Landreiter auf ihn anschlugen und ihm zuriefen: »Halt! Zurück, oder du bist ein Kind des Todes!« Jakob hielt auf der Stelle sein Pferd an und ging einen Augenblick in seinem Kopf mit dem Schicksal zu Rate. Es schien ihm, als ob das Schicksal ihm zuraunte: Kehre um! Und das tat er.

»Nun, Jakob,« fragte ihn sein Herr, »was ists?«

Jakob: Meiner Treu, das weiß ich nicht!

Herr: Und warum?

Jakob: Kurz, ich bin so klug wie zuvor.

Herr: Es sind gewiß Schleichhändler gewesen, welche diesen Sarg mit verbotenen Waren gefüllt hatten und welche an die Finanzpacht von ebenden Schelmen verraten worden sind, von denen sie die Waren gekauft hatten.

Jakob: Aber wozu dieser Wagen mit dem Wappen meines Hauptmanns?

Herr: Oder vielleicht ist es eine Entführung. Man hat vielleicht in diesem Sarge, was weiß ich, eine Frau, ein Mädchen oder eine Nonne versteckt; das Leichentuch macht den Toten noch nicht.

Jakob: Aber wozu dieser Wagen mit dem Wappen meines Hauptmanns?

Herr: Meinethalben mag es gewesen sein, was es will, nur bringe die Geschichte deines Hauptmanns zu Ende.

Jakob: Sie bestehen also noch auf dieser Geschichte? Vielleicht aber lebt mein Hauptmann noch.

Herr: Was tut das zur Sache?

Jakob: Ich rede nicht gern von den Lebenden, weil man zuweilen [59] der Gefahr ausgesetzt ist, über das Gute oder Böse erröten zu müssen, das man von ihnen gesagt hat; über das Gute, weil sie's verpfuschen; über das Böse, weil sie's wiedergutmachen.

Herr: Sei weder ein fader Lobredner noch ein bitterer Splitterrichter, sondern erzähle die Sache, wie sie ist!

Jakob: Das ist nicht so leicht. Hat nicht ein jeder seinen Charakter, sein Interesse, seinen Geschmack, seine Leidenschaften, nach deren Stimmung er eine Sache vergrößert oder verkleinert? ›Erzähle die Sache, wie sie ist!‹ Das passiert vielleicht in einer ganzen großen Stadt an einem Tage nicht zweimal; und ist der, welcher uns zuhört, besser gestimmt als der, welcher spricht? Kein Wunder also, daß man kaum zweimal an einem Tage in einer ganzen großen Stadt so verstanden wird, wie man spricht.

Herr: Jakob, das sind Grundsätze, bei deren Befolgung man auf den Gebrauch der Zunge und der Ohren Verzicht tun und nichts sagen, nichts hören und nichts glauben dürfte. Indes rede, wie du; ich will dir zuhören, wie ich, und dir auch glauben, soviel es sich tun läßt.

Jakob: Lieber Herr! Das Leben geht mit lauter Quiproquos hin; da sind die Quiproquos der Liebe, die Quiproquos der Freundschaft, die Quiproquos der Politik, des Finanzwesens, der Klerisei, der Magistratur, des Handelsstandes, der Weiber, der Männer ...

Herr: Ei, laß alle diese Quiproquos auf sich beruhen und sieh ein, daß du selbst das gröbste Quiproquo machst, indem du dich auf ein Kapitel der Moral einläßt, da doch von einer historischen Tatsache, von der Geschichte deines Hauptmanns, die Rede ist.

Jakob: Also in dieser Welt wird fast nichts gesagt, was so verstanden wird, wie man es sagt; aber es ist noch weit schlimmer, daß man in dieser Welt fast nichts tut, was so beurteilt wird, wie man es getan hat.

Herr: Vielleicht gibt es unter dem Himmel keinen Kopf, in dem so viele Paradoxien hausen wie in dem deinigen.

[60] Jakob: Und was wäre das für ein Unglück? Das Paradoxe ist doch nicht immer falsch.

Herr: Das ist wahr.

Jakob: Wir reisten durch Orléans, mein Hauptmann und ich. Es ward in der Stadt von nichts anderem gesprochen als von einem Abenteuer, welches kürzlich einem Bürger namens Le Pelletier begegnet war, einem Manne, der ein so herzliches Mitleiden mit allen Notleidenden hatte, daß er, nachdem er durch übertriebene Almosen von ziemlich beträchtlichen Glücksumständen bis zur größten Not herabgesunken war, von Tür zu Tür bettelte, um in anderer Leute Beutel die Hilfsmittel zu suchen, die er nicht mehr aus dem seinigen nehmen konnte.

Herr: Und du glaubst, daß die Meinungen über das Betragen dieses Mannes geteilt gewesen wären?

Jakob: Unter den Armen nicht; aber alle Reichen, ohne Ausnahme, betrachteten ihn als eine Art Wahnsinnigen, und es fehlte wenig, daß seine Verwandten ihn nicht als einen Verschwender hätten einsperren lassen. Während wir uns in einem Gasthofe erfrischten, hatten sich eine Menge Pflastertreter um eine Art Redner, den Barbier, auf der Straße versammelt und sagten zu ihm: ›Ihr wart zugegen; erzählt uns den ganzen Verlauf der Sache!‹

›Herzlich gern‹, antwortete der Winkelredner, dem eine solche Ansprache hochwillkommen war. ›Herr Aubertot, einer von meinen Kunden, dessen Haus der Kapuzinerkirche gegenüberliegt, stand in seiner Tür; Herr Le Pelletier redete ihn an und sagte zu ihm: »Herr Aubertot, wollen Sie mir nichts für meine Freunde geben?«, denn so pflegte er, wie Ihr wißt, die Armen zu nennen.

»Nein, heute nicht, Herr Le Pelletier.«

Herr Le Pelletier drang stärker in ihn: »Wenn Sie wüßten, für wen ich Ihre Mildtätigkeit anspreche! Für eine arme Wöchnerin, die eben niedergekommen ist und die keinen Lumpen hat, um ihr Kind darein zu wickeln!«

»Ich kann nicht.«

»Ein junges und hübsches Mädchen, dem es an Arbeit und Brot [61] gebricht und das Ihre Freigebigkeit vielleicht vor einem liederlichen Lebenswandel errettet.«

»Ich kann nicht.«

»Ein Tagelöhner, der nur von seiner Hände Arbeit lebte und der von einem Gerüst gefallen ist und das Bein gebrochen hat.«

»Ich sage Ihnen, ich kann nicht.«

»Nun, Herr Aubertot, lassen Sie sich erweichen, und seien Sie überzeugt, daß Sie nie wieder eine so gute Gelegenheit finden werden, ein verdienstliches Werk zu tun.«

»Ich kann nicht, ich kann nicht.«

»Guter, mitleidiger Herr Aubertot!«

»Herr Le Pelletier! Lassen Sie mich in Ruhe! Wenn ich geben will, so lasse ich mich nicht erst lange bitten.«

Und als er das gesagt hatte, wendete Herr Aubertot ihm den Rücken und ging von der Türe in sein Gewölbe, wohin Herr Le Pelletier ihm folgte. Er folgte ihm vom Gewölbe in seine Hinterstube, von seiner Hinterstube in sein Wohnzimmer, und da geriet Herr Aubertot über das zudringliche Wesen des Herrn Le Pelletier so außer sich, daß er ihm eine Ohrfeige gab.‹

Hier sprang mein Hauptmann plötzlich auf und sagte zu dem Erzähler:

›Und er stieß ihm nicht den Degen durch den Leib?‹

›Nein, Herr! Rennt man den Leuten gleich so den Degen durch den Leib?‹

›Eine Ohrfeige! Zum Henker, eine Ohrfeige! Und was tat er denn hierauf?‹

›Was er tat, als er die Ohrfeige bekommen hatte? Er nahm eine lachende Miene an und sagte: »Herr Aubertot, das war für mich; aber meine Armen?«‹

Bei diesen Worten brachen alle Zuhörer in einen Ausruf der Bewunderung aus; nur mein Hauptmann nicht, der hitzig schrie: ›Ihr Herr Le Pelletier, meine Herren, ist ein Narr, eine feige Memme, ein schlechter Kerl, dem jedoch dieser Degen schleunigst Recht verschafft haben sollte, wenn ich zugegen gewesen wäre. Ihr Aubertot hätte von großem Glück sagen [62] sollen, wenn es ihm nichts weiter als Nase und Ohren gekostet hätte!‹

Der Erzähler gab zur Antwort: ›So würden Sie also, mein Herr, dem unbesonnenen Beleidiger nicht Zeit gelassen haben, seinen Fehler einzusehen, sich dem Herrn Le Pelletier zu Füßen zu werfen und ihm seinen ganzen Geldbeutel zu geben?‹

›Nein, gewiß nicht.‹

›Sie sind Offizier, und Herr Le Pelletier war ein Christ; Sie haben nicht einerlei Begriffe von einer Ohrfeige.‹

›Jedes ehrlichen Mannes Backe ist dieselbe.‹

›Das ist nicht ganz die Meinung des Evangeliums.‹

›Das Evangelium ist in meinem Herzen und in meiner Degenscheide, und ich kenne kein anderes.‹

›Ihr Evangelium, Herr, ist, ich weiß nicht wo, und das meinige steht dort oben geschrieben. Jeder legt die Beleidigungen und die Wohltaten auf seine Weise aus; und vielleicht fällen wir in zwei verschiedenen Augenblicken unseres Lebens nicht ein gleiches Urteil darüber.‹

Herr: Weiter, verwünschter Schwätzer! Weiter!

War Jakobs Herr übel gelaunt, so schwieg Jakob, um seinen Gedanken nachzuhängen, und brach dann oft sein Stillschweigen durch eine Rede, die zwar mit dem, was in seinem Kopfe vorging, Zusammenhang hatte, aber in Rücksicht auf die Unterredung ebenso unzusammenhängend war wie die Lektüre eines Buches, von welchem man etwa einige Blätter überschlagen hätte. Das war gerade jetzt bei ihm der Fall, als er sagte: »Lieber Herr.«

Herr: Ach! Hast du die Sprache endlich wiederbekommen? Das freut mich für uns alle beide; denn ich fing an, Langeweile zu haben, daß ich dich nicht hörte, und du, daß du nicht redetest; also rede!

Jakob wollte nun die Geschichte seines Hauptmanns zu erzählen anfangen, als plötzlich sein Pferd zum zweiten Mal mit ihm einen Seitensprung rechts von der Landstraße herunter machte, durch eine lange Ebene wohl eine gute Viertelstunde weit davonrannte und plötzlich bei einem Hochgericht stillstand ... [63] Bei einem Hochgericht? Wahrhaftig, das war eine drollige Pferdelaune, seinen Reiter immer an einen Galgen zu bringen!

»Was soll das bedeuten?« fragte Jakob. »Ist es ein Fingerzeig des Schicksals?«

Herr: Mein Freund! Verlaß dich darauf, dein Pferd ist inspiriert. Und das verdrießlichste dabei ist, daß alle dergleichen Ahnungen, Inspirationen, Fingerzeige von oben, Warnungen durch Träume und Erscheinungen zu gar nichts helfen; denn die Sache geschieht deswegen doch. Lieber Freund! Ich rate dir, dein Haus und dein Gewissen zu bestellen und mir so hurtig wie möglich die Geschichte deines Hauptmanns und deiner Liebe fertigzuerzählen; denn es sollte mir leid tun, wenn ich dich verlöre, ohne sie gehört zu haben. Wolltest du dich auch noch mehr darüber sorgen, als du tust – wozu würde das helfen? Zu nichts. Des Schicksals Schluß, der durch dein Pferd zweimal ausgesprochen ward, wird doch in Erfüllung gehen. Besinne dich, ob du niemand etwas wiederzuerstatten hast; vertraue mir deine Letzte Willensmeinung an und verlaß dich darauf, daß sie treulich erfüllt werden soll. Hast du mir etwas gestohlen, so schenke ich es dir; bitte es nur Gott ab und bestiehl mich in der mehr oder minder kurzen Zeit, die wir noch miteinander zuzubringen haben, nicht wieder.

Jakob: Ich gehe vergeblich mein ganzes bisheriges Leben durch und werde nichts darin gewahr, was mir mit der Justiz der Menschen etwas zu schaffen machen könnte; ich habe weder gemordet noch gestohlen, noch genotzüchtigt.

Herr: Desto schlimmer! Alles wohl überlegt, wünschte ich lieber, das Verbrechen wäre schon begangen als noch zu begehen; und das aus guten Ursachen.

Jakob: Aber wer weiß, Herr, ob ich um meinetwillen und nicht wegen eines andern gehängt werden soll?

Herr: Wohl möglich.

Jakob: Vielleicht werde ich auch erst nach meinem Tode gehängt.

Herr: Auch möglich.

[64] Jakob: Vielleicht auch gar nicht.

Herr: Daran zweifle ich.

Jakob: Vielleicht stehts dort oben geschrieben, daß ich bloß bei dem Aufhängen eines Dritten zugegen sein soll; und dieser Dritte – wer weiß, wer der ist und ob er fern oder nahe sein mag.

Herr: Höre, Jakob! Werde meinetwegen gehängt, weil das Schicksal und dein Pferd es so wollen; aber werde nicht unverschämt! Mach deinen impertinenten Vermutungen ein Ende und erzähle mir geschwind die Geschichte deines Hauptmanns.

Jakob: Werden Sie nicht böse, lieber Herr! Zuweilen hat man gar ehrliche Leute gehängt; das ist so ein Quiproquo der Gerechtigkeit.

Herr: Dergleichen Quiproquos sind höchst fatal. Laßt uns von etwas anderem sprechen!

Jakob, der durch die verschiedenen Auslegungen, die er für das Prognostikon des Pferdes gefunden hatte, etwas beruhigt worden war, fuhr also fort: »Als ich zum Regiment kam, befanden sich zwei Offiziere dabei, die an Alter, Geburt, Dienstjahren und Verdienst einander fast gleich waren. Einer von diesen Offizieren war mein Hauptmann. Der einzige Unterschied zwischen ihnen bestand darin, daß der eine reich, der andere arm war. Mein Hauptmann war der Reiche. Eine solche Gleichheit mußte entweder die stärkste Sympathie oder die stärkste Antipathie erzeugen; und sie erzeugte beides ...« (Hier hielt Jakob inne, und das begegnete ihm in der Fortsetzung seiner Erzählung mehrmals, nämlich sooft sein Pferd eine Bewegung mit dem Kopfe nach rechts oder links machte; dann wiederholte er allzeit den letzten Satz, als ob er den Schlucken gehabt hätte.) »Und sie erzeugte beides. Es gab Tage, wo sie die besten Freunde von der Welt waren, und wieder Tage, wo sie sich tödlich haßten. An den Freundschaftstagen suchten sie einander auf, machten sich den Hof, umarmten sich, vertrauten sich ihre Leiden und Freuden und ihre Bedürfnisse an, fragten einander in ihren geheimsten Angelegenheiten, ihren häuslichen Vorfällen, ihren Hoffnungen, ihren Befürchtungen und [65] ihren Beförderungsplänen um Rat. Trafen sie sich den Tag darauf, so gingen sie aneinander vorbei, ohne sich anzusehen; oder sie sahen sich trotzig an, nannten sich ›Mein Herr‹, gaben einander harte Worte, zogen vom Leder und schlugen sich. Ward einer von beiden verwundet, so warf sich der andere über seinen Kameraden, vergoß Tränen, geriet außer sich, begleitete ihn nach Hause und wich nicht von seinem Bett, bis er wiederhergestellt war. Acht Tage, vierzehn Tage, einen Monat darauf ging das Ding von vorn an, und man sah jeden Augenblick zwei wackere Leute ... zwei wackere Leute, zwei Herzensfreunde, der Gefahr ausgesetzt, einer durch des andern Hand zu fallen; und gewiß wäre der Gebliebene nicht der Beklagenswerteste von beiden gewesen. Man hatte ihnen öfters Vorstellungen über das Sonderbare ihres Benehmens gemacht; ich selbst, da mein Hauptmann mir zu sprechen erlaubte, ich selbst sagte zu ihm: ›Aber, Herr Hauptmann, wenn Sie ihn nun umbrächten!‹ Bei diesen Worten liefen ihm die Tränen über die Backen; er hielt sich die Augen mit den Händen zu und lief wie verrückt auf sein Zimmer. Und zwei Stunden darauf brachte ihn entweder sein Kamerad verwundet nach Hause, oder er selbst leistete seinem Kameraden diesen Dienst. Weder ich ... weder ich noch andere konnten durch Vorstellungen etwas ausrichten; da half nichts, als sie zu trennen. Man gab dem Kriegsminister Nachricht von dieser sonderbaren Beharrlichkeit in zwei so entgegengesetzten Extremen, und mein Hauptmann ward deshalb zu einer Kommandantenstelle befördert, aber mit dem ausdrücklichen Befehl, sich sogleich auf seinen neuen Posten zu verfügen und ihn, bei der schärfsten Ahndung, nie zu verlassen. Ein anderes Verbot von derselben Art sollte seinen Kameraden beim Regiment festhalten. – Ich glaube, das verwünschte Pferd macht mich noch toll! – Kaum waren die Befehle des Ministers angelangt, so reiste mein Hauptmann unter dem Vorwande, sich für diese Gnade zu bedanken, nach Hofe und stellte vor, er sei reich und sein dürftiger Kamerad habe gleiches Recht auf die königliche Gnade. Der Posten, den man ihm bestimmt [66] hätte, würde seinen Freund für seine Dienste belohnen und in bessere Umstände setzen können, ihm selbst aber würde es die größte Freude machen. Der Minister hatte dabei keine andere Absicht gehabt, als die beiden Sonderlinge zu trennen; und da Großmut immer Eindruck macht, so ward beschlossen ... – Verwünschte Bestie! Willst du wohl deinen Kopf gerade halten? –, so ward beschlossen, daß mein Hauptmann beim Regiment bleiben und sein Kamerad die Kommandantenstelle bekommen sollte.

Kaum waren sie voneinander getrennt, so fühlten sie, wie sehr sie einander bedurften, und versanken in die tiefste Schwermut. Mein Hauptmann erbat sich einen halbjährigen Urlaub, um einige Zeit in seinem Vaterlande zubringen zu können; aber zwei Meilen von der Garnison verkaufte er sein Pferd, verkleidete sich als ein Bauersmann und nahm den Weg nach dem Ort, wo sein Freund Kommandant war. Vermutlich hatten sie die Sache abgeredet. Er kam an. – So geh zum Kuckuck! Ist vielleicht wieder ein Hochgericht in der Nähe, das du zu besuchen Lust hast? Lachen Sie nur, Herr! Es ist wirklich äußerst komisch. – Er kam an; aber es stand dort oben geschrieben, daß, wie sehr sie sich auch Mühe gaben, die Freude des Wiedersehens zu verbergen und sich nur mit den äußeren Zeichen der Unterordnung eines Bauern unter einen Platzkommandanten zu begrüßen, einige Offiziere, die von ungefähr bei ihrer ersten Zusammenkunft zugegen waren und offenbar um ihre vorige Geschichte wußten, Verdacht schöpften und dem Platzmajor einen Wink gaben.

Dieser, ein kluger Mann, lächelte zwar über den Wink, unterließ aber doch nicht, ihm alle Aufmerksamkeit zu widmen, die er verdiente. Er umgab den Kommandanten mit Spionen. Ihr erster Rapport lautete, daß der Kommandant wenig und der Bauer gar nicht ausginge. Es war eine gänzliche Unmöglichkeit, daß diese beiden Leute acht volle Tage miteinander leben konnten, ohne daß ihre seltsame Tollheit sie wieder erfaßte; was denn auch nicht ausblieb.«

[67] Du siehst, Leser, wie zuvorkommend ich bin; es hinge nur von mir ab, den Pferden, die den schwarzverhangenen Wagen zogen, einen Peitschenhieb zu geben, Jakob, seinen Herrn und die berittene Gendarmerie mit dem Rest des Zuges an der Tür der nächsten Herberge zu versammeln, die Geschichte von Jakobs Hauptmann zu unterbrechen und dich nach meinem Gefallen ungeduldig zu machen. Dazu müßte ich jedoch lügen, und ich liebe die Lüge nicht, sofern sie nicht nützlich und durch die Umstände geboten ist. Tatsache ist, daß Jakob und sein Herr den verhangenen Wagen nicht mehr sahen, und Jakob, beständig in Unruhe wegen des Gebarens seines Gauls, in seiner Erzählung fortfuhr: »Eines Tages hinterbrachten die Spione dem Major, es hätte einen sehr lebhaften Wortwechsel zwischen dem Kommandanten und dem Bauern gegeben; sie wären hierauf ausgegangen, der Bauer voran und der Kommandant ihm nach, doch, wie es schien, höchst ungern; hierauf hätten sie sich zu einem Bankier in der Stadt begeben, wo sie sich noch jetzt befänden.

In der Folge erfuhr man, was sie beschlossen hatten. Weil sie keine Hoffnung hatten, sich je wiederzusehen, wollten sie sich auf Tod und Leben schlagen; und mein Hauptmann, der, wie ich Ihnen schon gesagt habe, reich war ... mein Hauptmann, der reich war, fühlte selbst im Augenblick der unerhörtesten Wildheit die Gesinnungen der zärtlichsten Freundschaft so sehr, daß er bei seinem Kameraden darauf gedrungen hatte, einen Wechsel auf vierundzwanzigtausend Livres von ihm anzunehmen, damit er in einem fremden Lande leben könnte, falls er ihn im Zweikampf töten sollte. Mein Hauptmann versicherte dabei heilig, er würde sich nicht eher schlagen, als bis der andere diesen Wechsel angenommen hätte. Dieser hingegen erwiderte: ›Kannst du glauben, Freund, daß ich imstande wäre, dich zu überleben, wenn ich dich getötet hätte?‹ – Herr! Ich hoffe, daß Sie nicht darauf bestehen werden, daß ich unsere ganze Reise auf dieser launischen Bestie machen soll. – Sie kamen eben von dem Bankier heraus und wollten vor die Stadt gehen, als der Major und einige [68] Offiziere sie umringten. Obgleich diese sich so stellten, als wenn diese Begegnung eine ganz zufällige wäre, so errieten unsere beiden Freunde – oder unsere beiden Feinde, wie es Ihnen beliebt, sie zu nennen – doch bald die wahre Ursache.

Der Bauer gab sich für den zu erkennen, der er war. Man brachte die Nacht in einem abgelegenen Hause zu. Den andern Morgen mit Tagesanbruch nahm mein Hauptmann, nachdem er seinen Kameraden verschiedenemal umarmt hatte, von ihm Abschied, um ihn nie wiederzusehen; denn kaum war er in seiner Heimat angelangt, so starb er.«

Herr: Und wer hat dir gesagt, daß er gestorben ist?

Jakob: Ach, der Sarg, der Wagen mit seinem Wappen ... Mein armer Hauptmann! Er ist tot, ich zweifle nicht mehr daran.

Herr: Und der Priester mit auf den Rücken gebundenen Händen, die Bedienten desgleichen und die Häscher der Finanzpacht oder die Landreiter und die Rückkehr des Leichenkondukts nach der Stadt? Dein Hauptmann lebt, daran zweifle ich gar nicht mehr. Aber weißt du nichts von seinem Kameraden?

Jakob: Die Geschichte seines Kameraden ist eine schöne Zeile aus der großen Rolle oder aus dem, was dort oben geschrieben steht.

Herr: Ich hoffe ...

Jakobs Pferd ließ Jakobs Herrn nicht ausreden. Es rannte wie der Blitz davon, bog weder zur Rechten noch zur Linken aus und folgte immer der Landstraße. Man sah bald nichts mehr von Jakob, und sein Herr hielt sich, in der Überzeugung, daß dieses Rennen bei einem Hochgericht endigen würde, die Seiten vor Lachen. Da aber Jakob und sein Herr nur dann etwas gelten, wenn sie beisammen, und nichts mehr, sobald sie getrennt sind, sowenig wie Don Quijote ohne Sancho und Riccardietto ohne Ferragus etwas gelten – was der Fortsetzer des Cervantes und Ariosts Nachahmer, der Monsignor Fortiguerra, nicht recht eingesehen zu haben scheinen –, so, lieber Leser, laß uns zusammen schwatzen, bis sie sich wieder vereinigt haben.

[69] Vielleicht hältst du die Geschichte von Jakobs Hauptmann für ein Märchen, und da hast du unrecht. Ich schwöre dir, daß ich diese Geschichte, so wie er sie seinem Herrn erzählt hat, im Invalidenhause, ich weiß nicht mehr in welchem Jahre, an einem Sankt-Ludwigs-Tag erzählen hörte, als ich bei einem Herrn von Saint-Etienne, dem Stabschirurgen des Hauses, zu Tische war. Der Erzähler, der seine Geschichte in Gegenwart vieler anderer Offiziere des Hauses erzählte, welche alle um diese Tatsache wußten, war ein sehr ernsthafter Mann, der gar nicht wie ein Spaßvogel aussah. Ich wiederhole es dir also, sowohl für diesmal als für die Zukunft: Sieh dich wohl vor, wenn du nicht bei diesem Gespräch Jakobs und seines Herrn das Wahre für falsch und das Falsche für wahr nehmen willst. Ich habe dich jetzt zur Genüge gewarnt und wasche mir nun die Hände ...

›Aber‹, höre ich dich sagen, ›das waren doch zwei eigene Sonderlinge ...‹

Und deswegen wolltest du Mißtrauen in die Geschichte setzen?

Fürs erste ist die Natur so mannigfaltig, sonderlich in den Instinkten und Charakteren, daß die Einbildungskraft eines Dichters nichts so Sonderbares ausbrüten kann, wozu wir nicht, aus Erfahrung oder Beobachtung, in der wirklichen Welt das Original finden sollten. Ich selbst, der ich jetzt mit dir rede, ich selbst habe das Pendant zum ›Arzt wider Willen‹ angetroffen, den ich vorher und bis zu diesem Augenblick für die närrischste und possenhafteste aller Erdichtungen hielt.

›Wie? Ein Pendant zu dem Manne, zu dem seine Frau sagt: »Ich habe drei Kinder auf dem Halse!« und der ihr antwortet:

»Setze sie auf die Erde!«

»Sie wollen Brot haben!«

»Gib ihnen die Rute!«‹

Jawohl, zu dem. Folgende Unterredung hatte er mit meiner Frau.

»Sind Sie es, Herr Gousse?«

[70] »Ja, Madame! Ein anderer bin ich nicht!«

»Wo kommen Sie her?«

»Von wo ich ausgegangen bin.«

»Was haben Sie dort gemacht?«

»Eine Mühle ausgebessert, die nicht recht gehen wollte.«

»Wem gehört diese Mühle?«

»Das weiß ich nicht; ich war nicht hingegangen, um den Müller auszubessern.«

»Sie sind wider Ihre Gewohnheit recht gut gekleidet; aber warum tragen Sie unter diesem saubern Kleid ein so schmutziges Hemd?«

»Weil ich nur eins habe.«

»Und warum haben Sie nur eins?«

»Weil ich nur einen Körper auf einmal habe.«

»Mein Mann ist nicht zu Hause; aber deswegen werden Sie doch bei mir zu Mittag essen können?«

»Ja, denn ich habe Ihrem Manne weder meinen Magen noch meinen Appetit aufzuheben gegeben.«

»Wie befindet sich Ihre Frau?«

»Wie es ihr beliebt, das ist ihre Sache.«

»Und Ihre Kinder?«

»Vortrefflich.«

»Und Ihr Sohn, der so schöne Augen, eine so schöne Gestalt und eine so schöne Haut hat?«

»Weit besser als seine Geschwister: er ist tot.«

»Lehren Sie Ihre Kinder etwas?«

»Nein, Madame.«

»Wie, weder Lesen noch Schreiben, noch den Katechismus?«

»Weder Lesen noch Schreiben, noch den Katechismus.«

»Und warum das?«

»Weil man mich auch nichts gelehrt hat und ich deswegen doch nicht unwissend bin. Haben sie Verstand, so werden sie es machen wie ich; haben sie keinen, so würden sie nicht gescheiter werden, wenn ich ihnen auch noch soviel in den Kopf trichterte.«

Sollte dir jemals dieser sonderbare Kauz aufstoßen, so brauchst [71] du ihn nicht zu kennen, um ihn anzureden. Nimm ihn mit dir in ein Wirtshaus; sage ihm dein Anliegen; mache ihm den Vorschlag, dir zwanzig Meilen zu folgen. Er wird es tun. Wenn du ihn gebraucht hast, wozu du ihn brauchen wolltest, so schicke ihn fort, ohne ihm einen Heller zu geben; und er wird zufrieden von dannen gehen.

Hast du von einem gewissen Prémontval reden hören, der zu Paris öffentliche Vorlesungen über die Mathematik hielt? Der war sein Freund.

Aber Jakob und sein Herr sind vielleicht wieder zusammengetroffen. Wollen wir sie aufsuchen, Leser, oder willst du hier bei mir bleiben?

Gousse und Prémontval hielten zusammen eine öffentliche Schule. Unter den Schülern und Schülerinnen, die sich haufenweise bei ihnen einfanden, war auch ein junges Mädchen, Mamsell Pigeon, die Tochter jenes geschickten Künstlers, der die beiden schönen Planigloben verfertigt hat, die aus dem Königlichen Garten in den Saal der Akademie gebracht worden sind. Mamsell Pigeon begab sich jeden Morgen mit ihrer Mappe unter dem Arm und ihrem Reißzeug im Muff in diese Schule.

Einer von den Lehrern, Herr Prémontval, verliebte sich in seine Schülerin; und unter den Aufgaben über die in die Kugel eingeschriebenen Figuren kam auch ein richtiges Kind vor, womit Mamsell Pigeon schwanger ward. Vater Pigeon war nicht der Mann dazu, die Wahrheit eines solchen Folgesatzes ruhig anzuhören. Die Lage der Verliebten ward äußerst kritisch. Sie pflogen darüber Rat; aber da sie nichts, schlechterdings nichts besaßen, so führten ihre Beratschlagungen zu keinem rechten Resultat. Sie nahmen ihre Zuflucht zu Freund Gousse. Dieser, ohne ein Wort zu sagen, verkaufte alles, was er besaß, Wäsche, Kleider, Maschinen, Möbel, Bücher, machte ein Stück Geld daraus, setzte das verliebte Paar in eine Postchaise und begleitete sie als Kurier bis an die Alpen. Hier gab er ihnen das wenige, was in seinem Beutel an barem Gelde noch übriggeblieben war, umarmte sie, wünschte ihnen [72] eine glückliche Reise und bettelte sich zu Fuß bis Lyon zurück, wo er sich damit, daß er die Wände eines Mönchsklosters anstrich, so viel verdiente, daß er, ohne weiter betteln zu müssen, Paris wieder erreichen konnte.

›Eine schöne Tat!‹

Allerdings.

Nach dieser heroischen Handlung, Leser, wirst du Gousse vielleicht große Moralität zutrauen, aber du irrst dich; er hatte nicht so viel, wie im Kopfe eines Hechtes wohnt.

›Nicht möglich!‹

Und doch möglich. Ich hatte ihm zu arbeiten gegeben; ich stellte ihm eine Anweisung von achtzig Livres auf meine Kommittenten zu; die Summe war in Zahlen geschrieben. Was tat er? Er setzte eine Null hinten an die Achtzig und ließ sich achthundert Livres auszahlen.

›Abscheulich!‹

Er ist darum ebensowenig ein schlechter Mensch, wenn er mich bestiehlt, als er ein Biedermann ist, wenn er sich zum Besten eines Freundes von allem entblößt; er ist nur ein Original ohne Grundsätze. Die achtzig Livres reichten für ihn nicht hin; mit einem Federstrich verwandelte er sie also in achthundert, in die Summe, die er brauchte. Und die kostbaren Bücher, womit er mich beschenkte ...

›Was ists mit diesen Büchern?‹

Aber Jakob und sein Herr! Aber Jakobs Liebesgeschichte! Ach, Leser, die Geduld, mit der du mir zuhörst, beweist mir, wie wenig Anteil du an meinen beiden Leuten nimmst. Ich bin in großer Versuchung, sie zu lassen, wo sie sind.

Ich brauchte ein kostbares Buch; er brachte es mir. Einige Zeit darauf hatte ich ein anderes kostbares Werk nötig; er brachte es mir gleichfalls. Ich wollte ihm den Wert vergüten; er weigerte sich aber, das Geld anzunehmen. Ich hatte ein drittes kostbares Buch nötig ...

»Das kann ich Ihnen nicht schaffen«, gab er zur Antwort.

»Warum haben Sie es mir so spät gesagt? Mein Doktor an der Sorbonne ist nun tot.«

[73] »Aber was hat der Tod Ihres Doktors an der Sorbonne mit dem Buche zu schaffen, das ich zu besitzen wünsche? Sie haben doch nicht die beiden ersten aus seiner Bibliothek genommen?«

»Das hab ich.«

»Ohne seine Einwilligung?«

»Wozu hätte ich die erst nötig gehabt, um ein distributives Recht auszuüben? Ich tat ja nichts weiter, als daß ich diese Bücher des größern Nutzens wegen translozierte, indem ich sie von dem Orte, wo sie müßig standen, an einen anderen Ort versetzte, wo man guten Gebrauch von ihnen machte.«

›Nun fälle man ein Urteil über das Benehmen des Menschen. Aber die Geschichte von Gousse und seiner Frau ist vortrefflich.‹

Ich verstehe dich, Leser! Du hast an dieser genug, und deine Meinung wäre, daß wir unsere beiden Reisenden aufsuchten. Leser! Du gehst mit mir um wie mit einem Automaten, und das ist nicht artig von dir.

»Erzähle mir Jakobs Liebesgeschichte ... Erzähle sie mir nicht ... Ich wünschte, du erzähltest mir etwas von Gousse ... Ich habe nun genug davon!«

Freilich muß ich mich zuweilen nach deiner Laune richten, aber zuweilen habe ich das Recht, auch der meinen freien Lauf zu lassen, ohne darauf zu rechnen, daß jeder Zuhörer, der mir erlaubt, eine Erzählung anzufangen, sich verpflichtet, sie bis ans Ende zu hören.

Fürs erste, habe ich dir gesagt, und wenn man fürs erste sagt, so kündigt man damit zum mindesten ein Zweitens an ... Zweitens also ... Ob du mir zuhörst oder nicht, ich werde für mich weitererzählen. Zweitens also konnten Jakobs Hauptmann und sein Kamerad von einem heftigen und heimlichen Neide gefoltert werden; und das ist ein Gefühl, das die Freundschaft nicht immer tilgen kann. Nichts läßt sich schwerer verzeihen als Verdienst.

Fürchteten sie vielleicht irgendeine Zurücksetzung, die sie beide gleicherweise gekränkt hätte? Ohne sich selbst klar darüber [74] zu sein, suchten sie sich zum voraus von einem gefährlichen Nebenbuhler zu befreien, stellten sie sich selbst für künftige Vorfälle auf die Probe ... Aber wie kann man so etwas von jemand denken, der auf eine so großmütige Art seine Kommandantenstelle dem dürftigen Freunde abtrat! Er trat sie ab, das ist wahr; aber hätte man sie ihm genommen ... er würde sie vielleicht mit der Klinge wiedergefordert haben ... Nicht immer ehrt ein solches Überspringen unter Offizieren den, dem es zum Vorteil gereicht, immer aber entehrt es seinen Mitbewerber. Doch wir wollen das alles beiseite setzen und weiter nichts hinzufügen, als daß das nun einmal ihr Span war. Und wer hat nicht den seinigen? War nicht die Narrheit unserer beiden Offiziere mehrere Jahrhunderte hindurch die von ganz Europa? Man nannte sie den Geist der Ritterlichkeit. Alle diese blitzenden, vom Kopf bis zum Fuß geharnischten Scharen, die, mit den verschiedenen Farben der Minne geschmückt, ihre Streitrosse tummelten, mit eingelegter Lanze und aufgezogenem oder niedergelassenem Visier sich trotzig mit den Augen maßen, einander in den Staub streckten und den weiten Raum des Turnierplatzes mit Waffentrümmern besäten – alle diese Scharen waren weiter nichts als Freunde, aber eifersüchtig und neidisch auf ein Verdienst nach der Mode. In dem Augenblick, da diese Freunde ihre Lanzen eingelegt und ihre Hengste angespornt hatten und nun von den entgegengesetzten Enden der Laufbahn aufeinander losrannten, in dem Augenblick wurden sie die fürchterlichsten Gegner. Sie fielen einander mit eben der Wut an, mit der sie in der Schlacht einen Feind angefallen hätten.

Unsere beiden Offiziere waren also bloß zwei Paladine, in unserem modernen Zeitalter mit den Sitten und dem Charakter des alten Zeitalters geboren. Jede Tugend, jedes Laster ist nur eine Zeitlang Mode und kommt dann wieder ab. Körperliche Stärke hatte ihre Zeit und Gewandtheit in Leibesübungen die ihrige. Selbst Tapferkeit wird bald mehr, bald weniger hochgeschätzt; je allgemeiner sie ist, je weniger ist man eitel darauf, je weniger preist man sie. Man gebe auf die Neigungen [75] der Menschen acht, und man wird Neigungen bemerken, die zu spät auf die Welt gekommen zu sein scheinen; sie stammen aus einem anderen Jahrhundert. Und was sollte uns abhalten, zu glauben, daß unsere beiden Offiziere zu diesen täglichen und gefährlichen Kämpfen bloß durch das Verlangen verleitet wurden, die schwache Seite ihres Rivalen zu entdecken und die Überlegenheit über ihn zu erlangen? Wiederholen sich doch Zweikämpfe in der Gesellschaft in allen möglichen Gestalten: zwischen Priestern, zwischen Beamten, zwischen Literaten und zwischen Philosophen. Jeder Stand hat seine Lanzen und seine Ritter; und selbst unsere ehrwürdigsten und unsere unterhaltendsten Gesellschaften sind weiter nichts als kleine Turniere, wo man zuweilen die Farben der Minne, wenn nicht auf der Achsel, doch wenigstens in seinem Herzen trägt. Je mehr Anwesende zugegen sind, desto lebhafter ist das Lanzenbrechen. Die Gegenwart der Damen treibt die Hitze und Hartnäckigkeit zum Äußersten, und der Schimpf, vor ihren Augen unterlegen zu sein, wird selten ertragen.

›Und Jakob?‹

Jakob war durch das Tor der Stadt und durch die Straßen unter dem lauten Zuruf der Gassenbuben gesprengt und hatte das Ende der entgegengesetzten Vorstadt erreicht, wo sein Pferd zu einer kleinen niedrigen Tür hineinwollte und wo es darüber zwischen der Oberschwelle dieser Tür und Jakobs Kopf zu einem fürchterlichen Zusammenstoß kam, bei welchem entweder die Oberschwelle von ihrem Platz weichen oder Jakob hintenüberstürzen mußte. Es geschah, wie man leicht denken kann, das letztere. Jakob sank mit halbzerschmettertem Kopfe und ohne Besinnung zu Boden. Man hob ihn auf; man rief ihn durch starke Essenzen ins Leben zurück; ich glaube sogar, daß der Herr des Hauses ihn zur Ader ließ.

›Der Mann war also ein Wundarzt?‹

Nein.

Unterdessen war auch sein Herr in der Stadt angekommen und erkundigte sich bei allen Leuten, die ihm begegneten, nach [76] Jakob. »Habt ihr nicht einen langen hageren Mann gesehen, der einen Schecken ritt?«

»Eben ist er vorbeigesprengt; es ging, als ob ihn der Teufel davonführte; er muß schon längst bei seinem Herrn angekommen sein.«

»Und wer ist sein Herr?«

»Der Scharfrichter.«

»Der Scharfrichter?«

»Ja; denn das Pferd gehört ihm.«

»Wo wohnt der Scharfrichter?«

»Ziemlich weit von hier; aber Sie brauchen sich nicht die Mühe zu geben hinzugehen; denn hier kommen seine Leute und bringen Ihnen wahrscheinlich den hageren Mann getragen, nach welchem Sie fragten und den wir für einen seiner Knechte gehalten haben.«

›Und wer war der, welcher so mit Jakobs Herrn sprach?‹

Ein Gastwirt, vor dessen Tür er angehalten hatte. Man konnte sich unmöglich in seiner Gastwirtswürde irren; denn er sah kurz und dick aus wie ein Faß, war im Hemd mit aufgestreiften Ärmeln, hatte eine baumwollene Mütze auf dem Kopf, ein großes Messer an der Seite und eine große Küchenschürze vor.

»Hurtig, hurtig, ein Bett für den armen unglücklichen Menschen!« schrie Jakobs Herr. »Geschwind einen Chirurgen, einen Arzt, einen Apotheker!«

Unterdessen hatte man Jakob zu seinen Füßen niedergelegt. Seine Stirn war mit einer ungeheuer dicken Kompresse bedeckt, und seine Augen waren geschlossen.

»Jakob! Jakob!«

»Sind Sie es, Herr?«

»Ja, ich bin es; sieh mich doch an!«

»Ich kann nicht.«

»Was ist dir denn begegnet?«

»Ach, das Pferd, das vermaledeite Pferd! Ich will Ihnen das alles morgen erzählen, wenn ich nicht diese Nacht sterbe.«

Während man ihn in sein Zimmer hinauftrug, dirigierte der Herr den Transport und rief: »Paßt auf! Geht sachte! Zum [77] Henker, sachte! Ihr werdet ihm Schaden tun; du unten bei den Beinen, dreh dich rechts; du oben beim Kopf, dreh dich links!«

Und Jakob flüsterte mit leiser Stimme: »Es stand also dort oben geschrieben.«

Kaum war Jakob zu Bett gebracht, so verfiel er in einen tiefen Schlaf.

Sein Herr blieb die Nacht über an seinem Bett, fühlte ihm nach dem Puls und feuchtete unaufhörlich die Kompresse mit Wundwasser an. In dieser Beschäftigung erblickte ihn Jakob beim Erwachen und fragte ihn: »Was machen Sie da?«

Herr: Ich warte dich. Du bist mein Diener, wenn ich krank oder gesund bin; aber ich bin dein Diener, wenn du dich nicht wohl befindest.

Jakob: Es freut mich, daß ich nun weiß, Sie sind menschlich. Das sind die Herren gegen ihre Diener nicht immer.

Herr: Wie befindet sich dein Kopf?

Jakob: So gut wie der Balken, mit dem er gekämpft hat.

Herr: Fasse dies Tuch zwischen den Zähnen und schüttle den Kopf stark! Was fühlst du?

Jakob: Nichts. Der Krug scheint keinen Sprung zu haben.

Herr: Desto besser. Ich glaube gar, du willst aufstehen?

Jakob: Und was wollen Sie, daß ich hier machen soll?

Herr: Ausruhen, dich erholen.

Jakob: Und meine Meinung wäre, wir frühstückten und machten uns aus dem Staube.

Herr: Und das Pferd?

Jakob: Ich habe es bei seinem Herrn gelassen. Das war ein gar ehrlicher, wackerer Mann; er hat es wieder um denselben Preis angenommen, um den er es uns verkauft hatte.

Herr: Weißt du, wer der ehrliche, der wackere Mann ist?

Jakob: Nein.

Herr: Ich will es dir sagen, sobald wir unterwegs sind.

Jakob: Und warum nicht jetzt? Was für ein Geheimnis kann dahinterstecken?

Herr: Geheimnis oder nicht – genug, ich sehe die Notwendigkeit nicht ein, daß du es gerade jetzt erfährst!

[78] Jakob: Da haben Sie recht.

Herr: Aber du brauchst ein Pferd.

Jakob: Vielleicht tut unser Gastwirt nichts lieber, als uns eins von den seinigen zu überlassen.

Herr: Schlafe noch einen Augenblick; ich will alles besorgen. Jakobs Herr ging hinunter, bestellte das Frühstück, kaufte ein Pferd, ging wieder hinauf und fand Jakob schon angekleidet. Sie frühstückten und machten sich wieder auf den Weg, doch nicht ohne großen Protest von seiten Jakobs, weil er meinte, es sei ungeschliffen, die Stadt zu verlassen, ohne vorher einen Höflichkeitsbesuch bei dem wackeren Manne abgestattet zu haben, an dessen Tür er sich bald den Kopf eingerannt und der ihm auf eine so verbindliche Art beigestanden hätte. Sein Herr suchte ihn über diese seine Delikatesse zu beruhigen und versicherte ihm, daß er die Trabanten dieses Herrn, die ihn nach dem Gasthofe getragen, schon reichlich belohnt habe. Jakob hingegen erwiderte, daß diese Belohnung der Diener seine Schuld gegen ihren Herrn nicht quitt mache und daß eben durch ein solches Betragen den Menschen Widerwille gegen das Wohltun beigebracht werde und man sich selbst mit einem Anschein von Undankbarkeit brandmarke.

»Herr,« fuhr er fort, »ich höre in meinen Ohren alles, was dieser Mann von mir sagen wird, weil ich ebendasselbe von ihm sagen würde, wenn er an meiner und ich an seiner Stelle wäre.«

Sie hatten nun die Stadt im Rücken, als sie einem großen und stämmigen Mann mit einem Tressenhut auf dem Kopfe begegneten, der ein auf allen Nähten galoniertes Kleid trug. Er war ganz allein, man müßte denn zwei große Hunde mitrechnen wollen, die vor ihm her liefen. Kaum hatte ihn Jakob bemerkt, als vom Pferd springen und schreien: »Er ists!« und ihm um den Hals fallen das Werk eines Augenblicks war.

Der Herr mit den zwei Hunden schien sehr über Jakobs Liebkosungen verlegen, stieß ihn sanft von sich und sagte: »Mein Herr, Sie erweisen mir zuviel Ehre!«

»Nein, nein, ich bin Ihnen das Leben schuldig, und ich kann Ihnen nicht genug dafür danken!«

[79] »Sie wissen nicht, wer ich bin.«

»Sind Sie nicht der hilfreiche Einwohner dieser Stadt, der mir so edel beigestanden, mich zur Ader gelassen und mich verbunden hat, als mein Pferd ...«

»Der bin ich.«

»Sind Sie nicht der ehrliche Mann, der das Pferd um denselben Preis zurücknahm, um den er es mir verkaufte?«

»Der bin ich.«

Und nun küßte Jakob ihn von neuem bald auf diesen, bald auf jenen Backen, und sein Herr lächelte; die beiden Hunde warfen die Schnauzen in die Höhe und schienen ganz verwundert über einen solchen Auftritt, der ihnen zum ersten Mal in ihrem Leben zu Gesichte kam. Jakob fügte zu seinen Dankbarkeitsbezeigungen noch manche Verbeugung hinzu, die sein Wohltäter nicht erwiderte, und eine Menge Segenswünsche, welche der andere ganz kalt aufnahm. Dann stieg er wieder auf sein Pferd und sagte im Fortreiten zu seinem Herrn: »Ich habe die größte Ehrfurcht für diesen Mann, und Sie müssen mir seinen Namen sagen.«

Herr: Und warum scheint er dir so verehrungswürdig?

Jakob: Weil er sowenig Wert auf seine geleisteten Dienste legt und also von Natur dienstbeflissen oder an das Wohltun gewöhnt sein muß.

Herr: Woraus schließt du das?

Jakob: Aus dem gleichgültigen und kalten Wesen, mit welchem er meinen Dank aufnahm. Er grüßte mich nicht; er sagte mir nicht ein Wort; er schien mich gar nicht zu erkennen, und wer weiß, ob er nicht jetzt mit einem Gefühl der Verachtung bei sich denkt: Das Wohltun muß diesem Reisenden etwas sehr Fremdes oder die Erweisung eines Dienstes für ihn eine sehr beschwerliche Sache sein, weil er so gerührt davon ist ... Sage ich denn etwas so Abgeschmacktes, daß Sie so von Herzensgrund darüber lachen können? Wie's damit auch sei, Sie müssen mir den Namen dieses Mannes nennen, damit ich ihn in meine Schreibtafel eintragen kann.

Herr: Recht gern. Schreib also ...

[80] Jakob: Diktieren Sie nur!

Herr: Schreib: Der Mann, für den ich die größte Ehrfurcht habe ...

Jakob: ... die größte Ehrfurcht habe ...

Herr: ... ist ...

Jakob: ... ist ...

Herr: ... der Scharfrichter von ...

Jakob: Der Scharfrichter?

Herr: Ja, ja, der Scharfrichter.

Jakob: Wären Sie nicht so gefällig, mir zu sagen, wo das Salz dieses Scherzes steckt?

Herr: Ich scherze nicht. Beliebe nur den Gelenken deiner Kinnkette nachzugehen. Du brauchst ein Pferd; das Ungefähr adressiert dich an einen Vorüberreisenden, und dieser Vorüberreisende ist der Scharfrichter. Das Pferd bringt dich zweimal ans Hochgericht, das dritte Mal ladet es dich bei dem Scharfrichter ab und läßt dich ohne Lebenszeichen liegen. Man schafft dich von da – wohin? – in einen Gasthof, den allgemeinen Zufluchtsort, die allgemeine Herberge ... Jakob! Ist dir die Geschichte vom Tode des Sokrates bekannt?

Jakob: Nein.

Herr: Er war ein weiser Mann in Athen. Schon seit langer Zeit ist die Rolle eines Weisen unter den Toren ein gefährliches Handwerk; denn seine Mitbürger verurteilten ihn, Schierlingssaft zu trinken. Nun gut! Sokrates tat, was du jetzt getan hast; er begegnete dem Scharfrichter, der ihm den Schierlingsbecher reichte, ebenso höflich wie du, Jakob! Du bist eine Art Philosoph, gesteh es nur! Ich weiß recht gut, daß diese Gattung Menschen bei den Großen verhaßt ist, vor denen sie die Knie nicht beugen: bei den Beamten, die von Amts wegen Beschützer der Vorurteile sind, welche jene verfolgen; und bei den Geistlichen, die sie selten zu den Füßen ihrer Altäre erblicken; bei den Dichtern, Leuten ohne Grundsätze, die einfältig genug die Philosophie für die Geißel der schönen Künste halten, ohne zu überlegen, daß die Dichter, die sich im gehässigen Fach der Satire versucht haben, selbst nur Schmeichler gewesen sind; [81] bei den Völkern, die von jeher die Sklaven der Tyrannen waren, die sie unterdrücken, der Schelme, die sie betrügen, und der Possenreißer, die sie belustigen. Also, wie du siehst, kenne ich die ganze Gefahr deines Handwerks und die ganze Wichtigkeit des Geständnisses, das ich von dir fordere. Aber ich werde keinen Mißbrauch von deinem Geheimnis machen, Freund Jakob! Du bist ein Philosoph, und das tut mir um deinetwillen leid. Wenn es erlaubt ist, aus der Gegenwart das zu lesen, was da kommen soll, und wenn das, was dort oben geschrieben steht, zuweilen den Menschen lange zuvor offenbart wird, ehe es sich zuträgt, so glaube ich schließen zu dürfen, daß dein Hinscheiden dereinst recht philosophisch sein und du deinen Hals der fatalen Schlinge mit eben dem guten Anstande hinhalten wirst, mit welchem Sokrates den Becher Schierlingssaft empfing.

Jakob: Herr! Kein Prophet hätte sich besser ausdrücken können; aber zum Glück ...

Herr: Du glaubst nicht recht daran? Das gibt meiner Ahnung noch mehr Gewicht.

Jakob: Aber Sie, Herr, glauben Sie daran?

Herr: Ich glaube daran; doch wenn ich es auch nicht täte, so würde das ohne Folgen sein.

Jakob: Und warum?

Herr: Weil nur für die Schwätzer Gefahr vorhanden ist, und ich, ich schweige.

Jakob: Und die Ahnungen?

Herr: Ich lache über sie; doch ich gestehe, daß ich es mit Zittern tue. Es gibt einige darunter von so auffallendem Charakter; man ist mit diesen Märchen so frühzeitig bekannt gemacht worden! Sage selbst, wenn deine Träume fünf- oder sechsmal in Erfüllung gegangen wären und dir träumte, dein Freund sei gestorben – würdest du nicht in aller Frühe zu ihm laufen, um zu sehen, ob etwas daran sei? Besonders kann man sich solcher Ahnungen schwer erwehren, die uns in dem Augenblick kommen, da die Sache weit von uns geschieht und wenn sie etwas Symbolisches haben.

[82] Jakob: Herr, Sie sind manchmal so tiefsinnig und so erhaben, daß ich Sie nicht verstehe. Könnten Sie mir das Gesagte nicht durch ein Beispiel erläutern?

Herr: Nichts Leichteres! Eine Dame lebte auf dem Lande mit ihrem achtzigjährigen Mann, welcher heftig an Steinschmerzen litt. Er reiste nach der Stadt, um sich operieren zu lassen. Den Tag vor der Operation schrieb er an seine Frau: ›In dem Augenblick, da Du diesen Brief erbrichst, werde ich mich unter dem Messer des Bruders Cosma befinden.‹ – Du kennst die aus zwei Teilen bestehenden Trauringe, Jakob, wo auf dem einen der Name des Mannes und auf dem andern der Name der Frau eingraviert ist. Die Frau trug einen solchen Ring am Finger, als sie den Brief ihres Mannes erhielt. In ebendem Augenblick trennten sich die beiden Hälften des Ringes: die Hälfte mit ihrem Namen blieb am Finger, und die andere Hälfte mit dem Namen ihres Mannes fiel in Stücken auf den Brief, den sie las. Sage, Jakob, glaubst du, daß es einen Kopf oder eine Seele geben kann, welche so stark und unerschrocken ist, nicht durch einen solchen Fall und unter solchen Umständen mehr oder weniger heftig erschüttert zu werden? Es fehlte auch nicht viel, daß die Dame darüber des Todes gewesen wäre. Sie blieb in diesem bangen Zustande bis zum nächsten Posttag, da ihr Mann ihr schrieb, die Operation sei glücklich vonstatten gegangen, und er befinde sich außer aller Gefahr; er schmeichle sich, sie noch vor Ende des Monats zu umarmen.

Jakob: Umarmte er sie wirklich?

Herr: Ja.

Jakob: Ich tat diese Frage an Sie nur, weil ich schon einigemal bemerkt habe, daß das Schicksal verschmitzt ist. Im ersten Augenblick glaubt man, es habe gelogen, und im nächstfolgenden findet man, daß es wahr geredet hat. Sie glauben also, mein Herr, von mir, daß ich mich in dem Fall der symbolischen Ahnung befinde und daß Sie mich wider Ihren Willen als einen Menschen betrachten müssen, der mit dem Philosophentode bedroht wird?

[83] Herr: Ich konnte es dir nicht verbergen, aber könntest du nicht, um diesen traurigen Gedanken zu verscheuchen ...

Jakob: Mit meiner Liebesgeschichte fortfahren?

Und Jakob nahm seine Liebesgeschichte wieder auf. Soviel ich mich erinnere, haben wir ihn zusammen mit dem Chirurgen zurückgelassen.

Chirurg: Ich fürchte, daß Euer Bein uns mehr als einen Tag zu schaffen machen wird.

Jakob: Gerade so lange, wie dort oben geschrieben steht. Was verschlägts?

Chirurg: Auf so lange täglich für Wohnung, Nahrung und Pflege – das wird eine hübsche Summe machen.

Jakob: Doktor, es handelt sich nicht um die Summe für die ganze Zeit, sondern nur für den einzelnen Tag.

Chirurg: Fünfundzwanzig Sous, wäre das zuviel?

Jakob: Viel zuviel; sehen Sie, Herr Doktor, ich bin ein armer Teufel. Setzen wir die Summe auf die Hälfte herunter, und lassen Sie mich, so schnell Sie irgend können, zu sich transportieren.

Chirurg: Zwölfeinhalb Sous, das ist recht wenig; Ihr werdet doch die dreizehn Sous vollmachen?

Jakob: Zwölfeinhalb Sous, dreizehn Sous ... Topp!

Chirurg: Und Ihr werdet jeden Tag bezahlen?

Jakob: Das ist Bedingung.

Chirurg: Ich habe nämlich einen Teufel von einer Frau, die keinen Spaß versteht, wißt Ihr?

Jakob: Also, Doktor, lassen Sie mich so schnell wie möglich zu Ihrem Teufel von Frau bringen!

Chirurg: Einen Monat, den Tag zu dreizehn Sous, das sind neunzehn Livres, zehn Sous. Sagen wir zwanzig Franken, nicht wahr?

Jakob: Gut, zwanzig Franken.

Chirurg: Ihr wollt gut genährt, gut gepflegt und so schnell wie möglich geheilt sein. Außer der Nahrung, der Wohnung und der Pflege werden vielleicht Medikamente nötig sein, Wäsche, ferner ...

[84] Jakob: Nun?

Chirurg: Meiner Treu, alles zusammen wird gut seine vierundzwanzig Franken machen!

Jakob: In Gottes Namen vierundzwanzig Franken, aber damit Schluß!

Chirurg: Einen Monat zu vierundzwanzig Franken macht bei zwei Monaten achtundvierzig Franken, bei dreien zweiundsiebzig. Ach, wie zufrieden wäre die Doktorin, wenn Ihr bei Eurer Ankunft die Hälfte dieser zweiundsiebzig Franken im voraus geben könntet!

Jakob: Es ist mir recht.

Chirurg: Sie würde noch zufriedener sein ...

Jakob: ... wenn ich das ganze Quartal bezahlte? Ich werde es bezahlen.

Jakob fügte hinzu: Der Chirurg suchte meine Wirte auf, setzte sie von unserer Übereinkunft in Kenntnis, und einen Augenblick später versammelten sich Mann, Frau und Kinder mit fröhlichen Gesichtern um mein Bett. Sie konnten sich nicht genugtun in Fragen nach meinem Befinden und nach meinem Knie, in Lobeserhebungen über ihren Gevatter, den Chirurgen und seine Frau, in Wünschen ohne Ende und allen erdenklichen Freundlichkeiten und zeigten das lebhafteste Interesse(!), die größte Dienstbeflissenheit. Der Chirurg hatte ihnen zwar nicht gesagt, daß ich etwas Geld hätte, aber sie kannten ihren Mann; er nahm mich mit zu sich, und sie wußten Bescheid. Ich bezahlte, was ich diesen Leuten schuldig war, und machte den Kindern kleine Geschenke, die ihre Eltern jedoch nicht lange in ihren Händen ließen. So verlief der Morgen. Der Wirt begab sich aufs Feld, die Wirtin nahm ihren Tragkorb auf die Schultern und entfernte sich; die Kinder, betrübt und mißvergnügt, weil man sie beraubt hatte, verschwanden, und als es sich darum handelte, mich von meinem Krankenlager aufzurichten, mich anzukleiden und auf die Tragbahre zu legen, fand sich niemand als der Doktor, der aus vollem Halse schrie und den niemand hörte.

Herr: Und Jakob, der gern Selbstgespräche hält, sagte wahrscheinlich: [85] ›Zahle niemals im voraus, wenn du nicht schlecht bedient sein willst.‹

Jakob: Nein, Herr, es war keine geeignete Zeit zum Moralisieren, wohl aber zum Fluchen und Ungeduldigwerden. Ich wurde ungeduldig, ich fluchte und stellte schließlich doch moralische Betrachtungen an, und während ich moralisierte, kam der Doktor mit zwei Bauern zurück, die er für meinen Transport und auf meine Kosten gemietet hatte, worüber er mich nicht im dunkeln ließ. Diese Männer erwiesen mir die ersten notwendigen Dienste bei meiner Installierung auf der Tragbahre, die aus einer auf Zweige gelegten Matratze bestand.

Herr: Gottlob! Jetzt bist du im Hause des Chirurgen und verliebt in seine Frau ... oder Tochter.

Jakob: Ich glaube, Herr, Sie täuschen sich.

Herr: Und du glaubst, ich würde drei Monate im Haus des Doktors zubringen, ehe ich das erste Wort von deiner Liebesgeschichte gehört hätte? Nein, Jakob, das geht nicht. Tu mir die Liebe, ich bitte dich, und überspringe die Beschreibung des Hauses und des Charakters des Doktors und der Launen der Doktorin und der Fortschritte deiner Heilung; spring über das alles hinweg. Zur Sache, vorwärts, zur Sache! Also dein Knie ist fast geheilt, du fühlst dich ganz wohl, und du liebst.

Jakob: Gut, Herr, ich liebe, da Sie es so eilig haben.

Herr: Und wen liebst du?

Jakob: Eine große Braune von achtzehn Jahren, voll und gut gewachsen, mit großen schwarzen Augen, kleinem rotem Mund, schönen Brauen, reizenden Händen ... Ah, Herr, die reizenden Hände! Diese Hände!

Herr: Du glaubst sie noch zu halten?

Jakob: Sie selbst haben sie mehr als einmal verstohlen ergriffen und festgehalten, und nur von diesen kleinen Händen hat es abgehangen, daß Sie nicht alles mit ihnen getan haben, wonach Sie's gelüstete.

Herr: Weiß der Himmel, darauf war ich nicht gefaßt.

Jakob: Ich noch weniger.

Herr: Ich kann mich besinnen, soviel ich will, aber ich erinnere [86] mich weder an eine große Braune noch an hübsche Hände; bemüh dich, etwas deutlicher zu wer den.

Jakob: Schön; Bedingung aber ist, daß wir wieder zurückreisen und in das Haus des Chirurgen zurückkehren.

Herr: Glaubst du, daß es dort oben so geschrieben steht?

Jakob: Das werde ich von Ihnen erfahren; aber es steht hier unten geschrieben: ›chi va piano va sano‹.

Herr: Und ›chi va sano va lontano‹, und ich möchte doch bald ankommen.

Jakob: Also gut, wozu haben Sie sich entschlossen?

Herr: Zu dem, was du willst.

Jakob: In diesem Fall sind wir wieder beim Chirurgen, und stand es dort oben geschrieben, daß wir dorthin zurückkehren sollten. Der Doktor, seine Frau und seine Kinder hatten es so einmütig darauf angelegt, meine Börse durch alle möglichen kleinen Raubzüge zu erschöpfen, daß ihnen diese Absicht auch bald gelungen war. Die Heilung meines Knies schien gut vorgeschritten, ohne es wirklich zu sein. Die Wunde hatte sich fast ganz geschlossen, so daß ich mit Hilfe einer Krücke ausgehen konnte, und es blieben mir noch achtzehn Franken. Niemand liebt das Reden mehr als die Stotterer und niemand das Gehen mehr als die Hinkenden. An einem schönen Herbstnachmittag plante ich einen langen Spaziergang; von dem Dorf, in dem ich wohnte, bis zum benachbarten waren es ungefähr zwei Meilen.

Herr: Und wie hieß dieses Dorf?

Jakob: Wenn ichs Ihnen nennte, wüßten Sie alles. Dort angekommen, trat ich in eine Schenke, ruhte mich aus und erfrischte mich. Der Tag ging zu Ende, und ich wollte mich wieder auf den Heimweg machen, als ich vor dem Haus, in dem ich mich befand, das durchdringende Geschrei einer Frau hörte. Ich ging hinaus; eine Menge Leute hatten sich um sie geschart. Sie lag am Boden, riß sich die Haare aus und rief, indem sie auf die Scherben eines großen Kruges zeigte: ›Ich bin zugrunde gerichtet, ich bin für einen Monat zugrunde gerichtet! Wer wird während dieser Zeit meine armen Kinder ernähren? Dieser [87] Verwalter, der ein Herz noch härter als Stein hat, wird mir nicht einen einzigen Sou erlassen. Ach, wie bin ich unglücklich! Ich bin zugrunde gerichtet!‹

Alle Umstehenden bemitleideten sie, und ringsum hörte ich nichts als: ›Die arme Frau!‹, aber niemand griff in seine Tasche.

Ich ging rasch auf sie zu und fragte: ›Gute Frau, was ist Euch zugestoßen?‹

›Was mir zugestoßen ist? Seht Ihrs denn nicht? Ich war ausgeschickt worden, einen Krug Öl zu kaufen; ich bin gestolpert und gefallen, mein Krug ist zerbrochen, und da läuft das Öl, mit dem er gefüllt war.‹

In diesem Augenblick kamen die kleinen Kinder der Frau angelaufen. Sie waren fast nackt, und die armseligen Lumpen ihrer Mutter offenbarten das ganze Elend der Familie; und nun schrien Mutter und Kinder zusammen.

So wie ich nun bin, hätte es zehnmal weniger gebraucht, um mich zu rühren. Das Herz zog sich mir vor Mitleid zusammen, und die Tränen kamen mir in die Augen. Mit stockender Stimme fragte ich die Frau, für wieviel in ihrem Kruge Öl gewesen sei.

›Für wieviel?‹ antwortete sie, indem sie ihre Hände emporhob. ›Für neun Franken, für mehr, als ich in einem Monat verdienen könnte.‹

Sofort öffnete ich meine Börse, und indem ich ihr zwei Laubtaler hinwarf, sagte ich: ›Da, nehmt, gute Frau, hier sind zwölf ...‹, und ohne ihren Dank abzuwarten, machte ich mich auf den Weg nach meinem Dorf.

Herr: Jakob, das war eine schöne Tat.

Jakob: Eine Dummheit! Verzeihen Sie. Ich war noch nicht hundert Schritt vom Dorf entfernt, als ich mirs sagte; ich hatte noch nicht die Hälfte des Weges zurückgelegt, als ich mirs noch eindringlicher sagte; und bei meinem Chirurgen angekommen – mit leerer Börse –, fühlte ichs noch ganz anders.

Herr: Du könntest wohl recht haben und mein Lob ebensowenig am Platz sein wie dein Mitgefühl. Nein, nein, Jakob, [88] ich bleibe doch bei meinem ersten Urteil, und eben daß du dein eigenes Wohl außer acht gelassen hast, macht das Hauptverdienst deiner Handlungsweise aus. Ich sehe ihre Folgen: Du wirst der Hartherzigkeit deines Chirurgen und seiner Frau ausgeliefert sein; sie werden dich aus dem Hause jagen; aber müßtest du auch vor ihrer Tür auf einem Düngerhaufen sterben, so würdest du auf diesem Düngerhaufen zufrieden mit dir sein.

Jakob: Nein, Herr, diese Seelenstärke hab ich nicht. Ich humpelte also weiter fort, indem ich, wenn ich ehrlich sein will, meine beiden Laubtaler beklagte, wodurch ich sie doch nicht wiederbekam, sondern nur mein gutes Werk verdarb. Ich war gleich weit entfernt von den beiden Dörfern, und die Nacht war bereits hereingebrochen, als drei Banditen aus dem Buschwerk am Wege hervorsprangen, sich auf mich stürzten, mich zu Boden warfen, meine Taschen durchwühlten und höchst erstaunt waren, so wenig Geld bei mir zu finden. Sie hatten auf eine bessere Beute gehofft. Als Zeugen des Almosens, das ich im Dorfe gespendet, hatten sie vermutet, daß einer, der so leichten Herzens einen halben Louis fahrenläßt, deren mindestens noch zwanzig haben muß. In ihrem Zorn, ihre Hoffnungen getäuscht zu sehen und sich wegen einer Handvoll Sous der Gefahr ausgesetzt zu haben, ihre Knochen auf dem Schafott gebrochen zu sehen, wenn ich sie anzeigte, sie aufgegriffen würden und ich sie wiedererkannte, schwankten sie, ob sie mich nicht lieber kaltmachen sollten. Glücklicherweise hörten sie ein Geräusch und entflohen. Ich war nun von ihnen befreit und kam mit einigen Quetschungen davon, die ich mir im Fallen zuzog und die ich erhielt, während man mich beraubte. Als die Banditen sich entfernt hatten, suchte ich mich in Sicherheit zu bringen und das Dorf zu erreichen, so gut es eben gehen wollte. Um zwei Uhr nachts langte ich, bleich und gänzlich entkräftet, an; die Schmerzen in meinem Knie waren viel heftiger geworden, und mein Körper tat an den verschiedensten Stellen weh von den Schlägen, die ich empfangen hatte. Der Doktor ... Aber, Herr, was ist Ihnen? Sie knirschen [89] mit den Zähnen. Sie tun, als stünden Sie einem Feinde gegenüber.

Herr: Das tue ich auch wirklich: ich habe den Degen in der Faust, ich stürze auf deine Räuber los und räche dich. Erkläre mir, wie derjenige, der die große Rolle geschrieben hat, schreiben konnte, daß dies die Belohnung für eine so großmütige Handlung sein sollte? Warum übernehme ich, der ich nichts als ein elendes Bündel von Fehlern bin, deine Verteidigung, während er, der ruhig die Banditen dich hat angreifen, zu Boden werfen, mißhandeln, mit Füßen treten sehen, er, den man den Inbegriff aller Vollkommenheit nennt!

Jakob: Gemach, lieber Herr, gemach! Was Sie da sagen, klingt verteufelt ketzerisch.

Herr: Was schaust du dich so um?

Jakob: Ich schaue, ob niemand Sie gehört hat ... Der Doktor befühlte meinen Puls und stellte Fieber fest. Ich legte mich nieder, ohne mein Abenteuer zu erwähnen, und grübelte auf meinem elenden Lager im Streit mit zwei Seelen – Gott, was für Seelen! –, im Bewußtsein, nicht einen einzigen Sou zu besitzen, und ohne den mindesten Zweifel, daß man mir am nächsten Morgen beim Erwachen den Preis abverlangen würde, auf den wir uns geeinigt hatten.

Hier warf sich der Herr seinem Diener an den Hals und rief: »Mein armer Jakob! Was wirst du anfangen? Was wird aus dir werden? Deine Lage entsetzt mich.«

Jakob: Gnädiger Herr, beruhigen Sie sich, hier bin ich ja.

Herr: Das hatte ich ganz vergessen; ich war am folgenden Morgen an deiner Seite, beim Doktor, im Augenblick deines Erwachens, als man dir das Geld abverlangen wollte.

Jakob: Herr, man weiß im Leben weder, worüber man sich freuen noch worüber man sich betrüben soll. Das Gute führt das Schlechte und das Schlechte das Gute mit sich. Wir tappen im dunkeln unter dem, was dort oben geschrieben steht, und sind gleicherweise unvernünftig in unseren Wünschen, unserer Freude und unserem Kummer. Wenn ich weine, finde ich oft, daß ich ein Narr bin.

[90] Herr: Und wenn du lachst?

Jakob: Dann finde ich ebenfalls, daß ich ein Narr bin. Aber ich kann es doch nicht unterlassen, zu weinen oder zu lachen, und das ist Zum-aus-der-Haut-Fahren. Ich habe wohl hundertmal versucht ... ich schloß die ganze Nacht kein Auge ...

Herr: Nein, nein, sag mir, was du versucht hast!

Jakob: Mich über alles lustig zu machen. Ach, wenn mir das gelungen wäre!

Herr: Wozu hätte dirs genützt?

Jakob: Mich von allen Sorgen zu befreien, keinerlei Bedürfnisse mehr zu haben, mich zum vollkommenen Herrn über mich zu machen, mich gegen einen Prellstein an einer Straßenecke ebenso wohlgebettet zu fühlen wie auf einem weichen Kissen. So bin ich manchmal; aber verteufelt ist, daß es nicht lange dauert, und so hart und unerschütterlich wie ein Fels ich bei großen Anlässen bin, so leicht kann es passieren, daß ein kleiner Widerspruch, ein Lappalie, mich aus der Fassung bringt – das ist zum Ohrfeigen. Ich habe darauf verzichtet, ich habe mich entschlossen, zu sein, wie ich bin, und als ich ein wenig darüber nachdachte, habe ich gesehen, daß es auf dasselbe hinausläuft, und hinzugesetzt: Was liegt daran, wie man ist? Das ist auch eine Resignation, aber eine leichtere und bequemere.

Herr: Bequemer, das ist sicher.

Jakob: Am Morgen zog der Chirurg meine Vorhänge auseinander und sagte: ›Vorwärts, Freund, Euer Knie, ich habe nämlich heute einen weiten Weg!‹

›Doktor,‹ antwortete ich in kläglichem Ton, ›ich bin schläfrig.‹

›Um so besser! Das ist ein gutes Zeichen.‹

›Lassen Sie mich schlafen, es liegt mir nichts daran, verbunden zu werden.‹

›Es schadet schließlich auch nicht viel, schlaft nur.‹

Hierauf schloß er die Vorhänge, und ich schlief nicht. Eine Stunde später zog die Doktorin meine Vorhänge zurück und rief: ›Vorwärts, Freund, eßt Eure Röstschnitten!‹

[91] ›Frau Doktorin,‹ antwortete ich in klagendem Ton, ›ich habe keinen Hunger.‹

›Eßt, eßt, bezahlen müßt Ihr sie ja doch!‹

›Ich mag nicht essen.‹

›Um so besser! Dann sind sie für meine Kinder und mich‹, sprachs, schloß meine Vorhänge wieder und rief ihre Kinder, die sich bald über meine Röstschnitten hermachten.


Leser, ich möchte wohl wissen, was du darüber dächtest, wenn ich hier eine Pause machte und die Geschichte von dem Mann wieder aufnähme, der nur ein einziges Hemd besaß, weil er nur einen Körper auf einmal hatte! Vielleicht meinst du, ich hätte mich in eine Sackgasse verirrt und wüßte nicht wieder herauszufinden und nähme meine Zuflucht zu einer beliebigen Erdichtung, um Zeit zu gewinnen und ein Mittel zu entdecken, aus meiner angefangenen Geschichte herauszufinden. Nein, lieber Leser, du täuschst dich ganz und gar. Ich weiß sehr gut, wie Jakob aus seinen Nöten befreit werden wird, und das, was ich dir von Gousse erzählen will, dem Mann, der nur ein einziges Hemd auf einmal besaß, weil er nur einen Körper auf einmal hatte, ist durchaus keine bloße Erdichtung.

Es war an einem Pfingstmorgen, als ich ein Briefchen von Gousse erhielt, in dem er mich bat, ihn im Gefängnis zu besuchen, in dem er inhaftiert war. Während ich mich ankleidete, dachte ich über seine Lage nach und kam zu der Vermutung, daß sein Schneider, Bäcker, Weinhändler oder Hauswirt seine Verhaftung veranlaßt hätte.

Ich langte an und fand ihn in einem Zimmer mit noch anderen Leuten zusammen hausen, deren Gesichter nichts Gutes prophezeiten. Ich fragte ihn, was das für Leute seien.

»Der Alte dort mit der Brille auf der Nase ist ein geschickter Mann, der sich ausgezeichnet aufs Rechnen versteht und der die Eintragebücher, die er kopiert, mit den Ansprüchen seiner Börse in Einklang zu bringen sucht. Das ist schwer, aber ich zweifle nicht, daß er damit zustande kommt.«

»Und dieser andere?«

[92] »Das ist ein Narr.«

»Aber was noch?«

»Ein Narr, der eine Maschine erfunden hatte, um Banknoten zu fälschen, eine schlechte, fehlerhafte Maschine, die an zwanzig Stellen versagt.«

»Und dieser Dritte, der eine Livree trägt und auf der Baßgeige spielt?«

»Der ist nur bis heute abend oder morgen früh hier; seine Angelegenheit ist sehr geringfügig; er wird ins Irrenhaus nach Bicêtre gebracht werden.«

»Und Sie?«

»Ich? Meine Angelegenheit ist noch geringfügiger.«

Nach dieser Antwort erhob er sich, legte seine Mütze auf das Bett, und im selben Augenblick verschwanden seine drei Mitgefangenen. Beim Hereintreten hatte ich Gousse im Hausrock an einem kleinen Tische sitzend gefunden, wie er geometrische Figuren zeichnete und mit derselben Ruhe arbeitete, als wäre er bei sich zu Hause gewesen. Jetzt waren wir allein.

»Und Sie, was machen Sie hier?«

»Ich arbeite, wie Sie sehen.«

»Und wer hat Sie hierherbringen lassen?«

»Ich.«

»Wieso Sie?«

»Ja, ich, mein Herr.«

»Und wie haben Sie das angestellt?«

»So wie ichs mit einem andern gemacht hätte. Ich habe einen Prozeß gegen mich geführt, ich habe ihn gewonnen und gemäß dem Urteil, das ich gegen mich erwirkt habe, und dem Ausführungsbefehl, der darauf gefolgt ist, bin ich festgenommen und hierhergebracht worden.«

»Sind Sie verrückt?«

»Nein, mein Herr, ich erzähle Ihnen die Sache, wie sie ist.«

»Könnten Sie nicht einen anderen Prozeß gegen sich anstrengen, ihn gewinnen und infolge des anderen Urteils und anderen Ausführungsbefehls sich wieder in Freiheit setzen lassen?«

»Nein, mein Herr.«

[93] Gousse hatte eine hübsche Dienstmagd, die er einhalbmal mehr in Anspruch nahm als seine Frau. Diese ungleiche Teilung hatte den häuslichen Frieden gestört. Obgleich nichts schwerer war, als diesen Mann zu peinigen, der sich am wenigsten von allem vor Zank und Lärm fürchtete, so faßte er doch den Entschluß, seine Frau zu verlassen und mit seiner Dienstmagd zu leben. Aber sein ganzes Vermögen bestand aus Möbeln, Maschinen, Zeichnungen, Werkzeugen und anderer beweglicher Habe, und er zog es vor, seine Frau von allem entblößt zurückzulassen als mit leeren Händen zu gehen; er entwarf daher folgenden Plan: Er wollte seiner Dienstmagd Schuldscheine ausstellen, auf deren Einlösung sie dringen und sodann die Beschlagnahme und den Verkauf seiner Effekten betreiben sollte, damit sie vom Pont Saint-Michel nach der Wohnung gebracht würden, in der er sich mit ihr einzumieten gedachte. Er ist entzückt von diesem Gedanken, er stellt die Schuldscheine aus, läßt sich vor Gericht laden und hat zwei Anwälte. Schon läuft er von einem zum andern, verfolgt sich selbst mit dem größten Eifer, greift sich geschickt an, verteidigt sich schlecht; schon ist er zum Zahlen verurteilt unter Androhung der vom Gesetz vorgesehenen Strafen, schon bemächtigt er sich in Gedanken alles dessen, was er in seinem Hause brauchen kann – aber es kam doch nicht ganz so. Er hatte es mit einer äußerst listigen Spitzbübin zu tun, die, anstatt seine Möbel verpfänden zu lassen, sich an seine Person hielt, ihn festnehmen und ins Gefängnis stecken ließ. Und so waren die Antworten, die er mir gegeben hatte, so rätselhaft sie mir auch schienen, doch nicht weniger wahr.

Während ich dir diese Geschichte erzähle, die du für eine Erdichtung halten wirst ...

›Und die von dem Mann in der Livree, der auf der Baßgeige kratzte?‹

Lieber Leser, ich verspreche sie dir; auf mein Ehrenwort, sie wird dir nicht entgehen; aber erlaube, daß ich auf Jakob und seinen Herrn zurückkomme.

[94] Jakob und sein Herr hatten das Wirtshaus erreicht, in dem sie übernachten sollten. Es war spät, und das Tor der Stadt geschlossen, so daß sie sich genötigt sahen, in der Vorstadt zu bleiben. Da – ich höre einen Lärm ...

›Ihr hört? Ihr wart ja gar nicht dabei, es handelt sich gar nicht um Euch.‹

Das ist wahr. Nun? Jakob, sein Herr ... Man hört einen entsetzlichen Lärm. Ich sehe zwei Männer ...

›Ihr seht nichts; es handelt sich gar nicht um Euch, Ihr wart ja nicht dabei.‹

Das ist wahr. Zwei Männer saßen bei Tisch, die ganz ruhig an der Tür des Zimmers, das sie innehatten, miteinander sprachen. Eine Frau, die Fäuste in die Seiten gestemmt, brach in einen Strom von Schimpfreden gegen sie aus, und Jakob suchte diese Frau zu besänftigen, die ebensowenig auf seine friedlichen Vorstellungen achtete wie die beiden Personen, gegen die sie sich wandte, auf ihre Schmähworte.

»Vorwärts, beste Frau,« sagte Jakob zu ihr, »beruhigt Euch, kommt zu Euch, laßt sehen, worum handelt sichs? Diese Herren scheinen mir ehrenwerte Leute.«

»Die – ehrenwerte Leute! Das sind rohe Kerle, Leute ohne Mitleid, ohne Menschlichkeit, ohne jedes Gefühl. Ha! Was hat Ihnen die arme Nicole zuleide getan, daß sie sie auf diese Weise mißhandelten? Sie wird infolgedessen vielleicht ihr ganzes Leben lang verkrüppelt sein.«

»Das Unglück ist vielleicht doch nicht so groß, wie Ihr denkt.«

»Der Stoß war entsetzlich, sage ich Euch, sie wird sicher zum Krüppel werden.«

»Man muß sie untersuchen, man muß nach dem Chirurgen schicken.«

»Das ist schon geschehen.«

»Sie muß ins Bett.«

»Sie liegt schon und schreit, daß es einem das Herz zerreißt. Meine arme Nicole!«

Mitten in diese Wehklagen hinein klingelte es von der einen [95] Seite, und es wurde gerufen: »Wirtin! Wein ...« Sie antwortete: »Gleich.« Es klingelte von einer andern Seite, und man rief: »Wirtin! Bettwäsche!« Sie antwortete: »Gleich.«

»Die Koteletts und die Ente!«

»Gleich.«

»Einen Krug zum Trinken, einen Nachttopf!«

»Gleich, gleich.«

Und aus einer anderen Ecke des Hauses schrie eine wütende Männerstimme: »Verdammter Schwätzer! Erzschwätzer! Worein steckst du deine Nase? Hast du die Absicht, mich bis morgen warten zu lassen? Jakob! Jakob!«

Die Wirtin, deren Kummer und Zorn sich allmählich etwas gelegt hatte, sagte zu Jakob:

»Mein Herr, laßt mich, Ihr seid zu gütig.«

»Jakob! Jakob!«

»Lauft schnell! Ach, wenn Ihr das ganze Unglück dieser armen Kreatur wüßtet!«

»Jakob! Jakob!«

»Geht doch, ich glaube, es ist Euer Herr, der Euch ruft.«

»Jakob! Jakob!«

Es war wirklich Jakobs Herr, der sich allein ausgekleidet hatte, der vor Hunger beinah umkam und voller Ungeduld war, daß er nicht bedient wurde. Jakob ging hinauf und einen Augenblick nach ihm auch die Wirtin mit einer wirklich niedergeschlagenen Miene.

»Mein Herr,« sagte sie zu Jakobs Herrn, »bitte tausendmal um Vergebung; es gibt tausend Dinge im Leben, die sich nicht verdauen lassen! Was wünschen Sie? Ich habe Hühner, Tauben, das Hinterstück von einem ausgezeichneten Hasen, Kaninchen; wir sind hier im Land der guten Kaninchen. Oder ziehen Sie eine Wildente vor?«

Jakob bestellte das Abendessen für seinen Herrn, als wenn es für ihn gewesen wäre, denn so war ers gewohnt.

Es wurde aufgetragen, und während er mit vollen Backen kaute, sagte der Herr zu Jakob: »Ei, zum Teufel! Was hast du da unten gemacht?«

[96] Jakob: Vielleicht etwas Gutes, vielleicht etwas Schlimmes, wer weiß.

Herr: Und was für Gutes oder Schlimmes machtest du da unten?

Jakob: Ich hinderte diese Frau, sich selbst von zwei Männern halbtot schlagen zu lassen, die ihrer Dienstmagd allermindestens den Arm entzweigeschlagen haben.

Herr: Vielleicht wäre es eine Wohltat für sie gewesen, halbtot geschlagen zu werden.

Jakob: Aus zehn Gründen, von denen einer immer besser ist als der andere! Eines der glücklichsten Ereignisse, die mir im Leben begegnet sind, mir, der ich mit Ihnen rede ...

Herr: ... ist halbtot geschlagen worden zu sein? Zu trinken.

Jakob: Ja, Herr, halbtot geschlagen, auf der Landstraße halbtot geschlagen worden zu sein, in der Nacht, als ich aus dem Dorf zurückkehrte, wie ich Ihnen erzählte, nachdem ich, nach meiner Meinung die Dummheit, nach Ihrer das gute Werk getan hatte, mein Geld herzugeben.

Herr: Ich erinnere mich ... Zu trinken! – Und der Anlaß zu dem Streit, den du dort unten beigelegt hast, und zu der schlechten Behandlung, die der Tochter oder Dienstmagd der Wirtin widerfahren ist?

Jakob: Meiner Treu, ich kenne ihn nicht!

Herr: Was, du kennst die Ursache eines Streites nicht und mischst dich hinein? Jakob, das steht weder mit der Klugheit in Einklang noch mit der Gerechtigkeit, noch mit den Prinzipien ... Zu trinken!

Jakob: Ich weiß nicht, was Prinzipien sind, wenn nicht Regeln, die man den anderen zum eigenen Besten vorschreibt. Ich denke so und könnte mich nicht hindern, anders zu handeln. Alle Predigten ähneln den Einleitungen der königlichen Gesetze; alle Prediger wünschen, daß man ihre Lehren befolgt, weil wir uns vielleicht besser dabei befinden, sie sich aber ganz gewiß. Die Tugend ...

Herr: Die Tugend, Jakob, ist eine gute Sache; die Bösen und die Guten rühmen sie ... Zu trinken!

[97] Jakob: Denn die einen wie die andern finden ihre Rechnung dabei.

Herr: Und wieso war es für dich ein so großes Glück, halbtot geschlagen zu werden?

Jakob: Es ist spät, Sie haben gut zur Nacht gespeist und ich ebenfalls, wir sind alle beide ermüdet; glauben Sie mir, es ist besser, wir gehen schlafen.

Herr: Das ist unmöglich, und die Wirtin ist uns auch noch etwas schuldig. Inzwischen kannst du die Geschichte deiner Liebesabenteuer wieder aufnehmen.

Jakob: Wo war ich noch? Ich bitte Sie, gnädiger Herr, für dieses wie für alle künftigen Male: Bringen Sie mich auf den richtigen Weg zurück!

Herr: Das will ich übernehmen, und um gleich mein Amt als Souffleur zu beginnen: Du warst in deinem Bett, ohne Geld und sehr beschäftigt mit deiner Person, während die Doktorin und ihre Kinder deine Röstschnitten vertilgten.

Jakob: Da hörte man einen Wagen vor der Haustür halten. Ein Bedienter tritt herein und fragt: ›Wohnt hier nicht ein armer Mann, ein Soldat, der mit einer Krücke geht, der gestern abend aus dem benachbarten Dorf heimkehrte?‹

›Ja,‹ sprach die Doktorin, ›was wollt Ihr von ihm?‹

›Ihn in den Wagen hier setzen und mit uns nehmen.‹

›Er liegt in diesem Bett; zieht die Vorhänge zurück und sprecht mit ihm.‹


Jakob war hier angelangt, als die Wirtin eintrat und fragte: »Was wünschen Sie zum Nachtisch?«

Herr: Was Ihr habt.

Ohne sich die Mühe zu nehmen, hinabzusteigen, rief die Wirtin vom Zimmer aus: »Nanon, bring Obst, Kuchen und Eingemachtes!«

Bei dem Namen Nanon sagte Jakob bei sich: Aha, das ist ihre Tochter, die mißhandelt worden ist; man dürfte mindestens in Zorn geraten.

Der Herr sagte zur Wirtin: »Ihr wart recht aufgebracht?«

[98] Wirtin: Wer würde nicht aufgebracht sein? Die arme Kreatur hatte ihnen nichts zuleide getan; kaum war sie in ihr Zimmer gekommen, als ich sie laute Schreie ausstoßen hörte, Schreie, sagte ich Ihnen ... Gott sei Dank! Ich bin etwas beruhigt, der Chirurg behauptet, es habe nichts zu sagen; sie hat aber doch zwei ungeheure Beulen, die eine am Kopf, die andere an der Schulter.

Herr: Habt Ihr sie schon lange?

Wirtin: Höchstens vierzehn Tage. Man hat sie bei der benachbarten Poststation ausgesetzt.

Herr: Wieso ausgesetzt?

Wirtin: Mein Gott, ja! Es gibt eben Menschen, die härter sind als Stein. Sie hat im Herüberschwimmen über den Fluß, der hier dicht vorbeifließt, Angst gehabt zu ertrinken; wie durch ein Wunder ist sie hier angekommen, und ich habe sie aus Barmherzigkeit aufgenommen.

Herr: Wie alt ist sie?

Wirtin: Ich glaube etwas mehr als anderthalb Jahre ...

Bei diesen Worten bricht Jakob in ein schallendes Gelächter aus und ruft: »Es ist eine Hündin!«

Wirtin: Das schönste Tier von der Welt! Ich würde meine Nicole nicht für zehn Louis hergeben. Meine arme Nicole!

Herr: Madame hat ein zärtliches Herz.

Wirtin: Sie haben ganz recht, ich hänge an meinen Tieren und meinen Leuten.

Herr: Daran tut Ihr sehr gut. Aber wer sind die Leute, die Eure Nicole mißhandelt haben?

Wirtin: Zwei Bürger aus der benachbarten Stadt. Sie flüstern sich unaufhörlich ins Ohr, sie bilden sich ein, man wisse nicht, was sie miteinander reden, und kenne ihre Abenteuer nicht. Sie sind noch kaum drei Stunden hier, und ich bin bereits über die geringste Kleinigkeit ihrer Affäre unterrichtet. Sie ist belustigend, und wenn Sie es mit dem Zubettgehen nicht eiliger hätten als ich, würde ich sie Ihnen so genau erzählen, wie sie ihr Bedienter meiner Dienstmagd, in der er zufällig eine Landsmännin entdeckte, berichtet hat. Sie hat sie meinem [99] Mann und mein Mann hat sie wieder mir erzählt. Die Schwiegermutter des Jüngeren ist vor kaum drei Monaten hier durchgekommen; sie ging sehr gegen ihren Willen in ein Kloster der Provinz, wo sie nicht alt geworden ist; sie ist dort gestorben, und deswegen sind unsere beiden jungen Leute in Trauer ... Aber da habe ich ja, ohne es zu merken, schon mit ihrer Geschichte angefangen! Guten Abend, meine Herren, gute Nacht. Hat Ihnen der Wein geschmeckt?

Herr: Sehr gut.

Wirtin: Und sind Sie mit Ihrem Abendessen zufrieden gewesen?

Herr: Sehr zufrieden. Euer Spinat war etwas zu gesalzen.

Wirtin: Ich habe manchmal eine schwere Hand. Sie werden gut schlafen in dem frisch gewaschenen Bettzeug; es wird bei mir nie zum zweiten Mal benützt.

Mit diesen Worten zog die Wirtin sich zurück, und Jakob und sein Herr begaben sich zu Bett, indem sie über das Mißverständnis lachten, das sie eine Hündin für die Tochter oder Dienstmagd der Wirtin hatte nehmen lassen, und über die Leidenschaft der Wirtin für eine verlaufene Hündin, die sie seit vierzehn Tagen besaß.

Jakob sagte zu seinem Herrn, indem er sich die Nachtmütze festband: »Ich möchte wetten, daß diese Frau von allem, was hier im Hause lebt, nur ihre Nicole liebt.«

»Das kann schon sein, Jakob, aber schlafen wir«, antwortete sein Herr.


Während Jakob und sein Herr ruhen, will ich mein Versprechen durch die Erzählung von dem Mann im Gefängnis einlösen, der auf der Baßgeige kratzte, oder vielmehr durch die seines Kameraden, des Herrn Gousse.

»Dieser Dritte«, sagte er zu mir, »ist der Verwalter eines großen Hauses. Er hatte sich in eine Pastetenbäckerin aus der Universitätsstraße verliebt. Der Pastetenbäcker war ein gutartiger Mensch, der sich viel mehr um seinen Ofen als um die Aufführung seiner Frau kümmerte. Unsere beiden Liebenden [100] sahen sich also nicht durch seine Eifersucht, wohl aber durch seine Emsigkeit behindert. Was taten sie, um sich von diesem Zwang zu befreien? Der Verwalter unterbreitete seinem Herrn eine Bittschrift, in welcher der Pastetenbäcker als ein sittenloser Mensch, ein Trunkenbold, der immer in der Kneipe saß, und als ein roher Kerl angezeigt wurde, der seine Gattin, die beste und unglücklichste aller Frauen, schlug. Auf diese Bittschrift hin erlangte er einen Verhaftsbefehl, und dieser Verhaftsbefehl, der über die Freiheit des Gatten verfügte, wurde einem Polizeibeamten zur sofortigen Ausführung übergeben. Zufälligerweise war dieser Polizeibeamte der Freund des Pastetenbäckers. Er ging mit ihm von Zeit zu Zeit zum Weinhändler; der Pastetenbäcker lieferte die kleinen Pasteten, der Polizeibeamte zahlte den Wein. Mit dem Verhaftsbefehl in der Tasche geht dieser an der Tür des Pastetenbäckers vorbei und gibt das verabredete Zeichen. Da sitzen sie nun beide, verzehren die kleinen Pasteten und begießen sie, und der Polizeibeamte fragt seinen Kameraden, wie sein Geschäft gehe?«

›Sehr gut.‹

Ob er keinerlei schlimme Händel habe?

›Keine.‹

Ob er keine Feinde habe?

Er wisse nichts davon.

Wie er mit seinen Verwandten, seinen Nachbarn und seiner Frau lebe?

›In Freundschaft und Frieden.‹

›Woher‹, fügte der Beamte hinzu, ›kann dann nur der Befehl kommen, dich festzunehmen, den ich hier habe? Wenn ich meine Pflicht täte, würde ich dich beim Kragen packen, ein Wagen stände bereit, und ich würde dich an den durch den Haftbefehl bezeichneten Ort bringen. Hier, lies ...‹

Der Pastetenbäcker las und erbleichte.

›Beruhige dich‹, sagte der Beamte zu ihm, ›und laß uns darüber nachdenken, was wohl das beste für meine und deine Sicherheit ist. Wer verkehrt bei dir?‹

[101] ›Niemand.‹

›Deine Frau ist hübsch und gefallsüchtig.‹

›Ich lasse sie nach ihrem Kopfe handeln.‹

›Hat niemand sie aufs Korn genommen?‹

›Meiner Treu, nein, wenn nicht ein gewisser Verwalter, der ab und zu kommt, um ihr die Hand zu drücken und seine Albernheiten herzusagen; aber das geschieht in meinem Laden vor meinen Augen, in Gegenwart meiner Gehilfen, und ich glaube, daß nichts zwischen ihnen vorgeht, was gegen Anstand und Sitte wäre.‹

›Du bist ein guter Mann.‹

›Das mag sein, aber das beste in jeder Beziehung ist, seine Frau für ehrbar zu halten, und das tue ich.‹

›Und wessen Verwalter ist es denn?‹

›Der Verwalter des Herrn von Saint-Florentin.‹

›Und was glaubst du, aus welchem Büro dieser Haftbefehl kommt?‹

›Aus dem Büro des Herrn von Saint-Florentin vielleicht?‹

›Du hasts erraten.‹

›Oh! Meine Pasteten essen, meine Frau küssen und mich einsperren lassen – das wäre zu verrucht, und ich kann es nicht glauben!‹

›Du bist ein guter Mann. Wie findest du deine Frau seit einigen Tagen?‹

›Eher traurig als heiter.‹

›Und der Verwalter, hast du ihn lange nicht gesehen?‹

›Gestern, glaube ich, hab ich ihn gesehen, ja, es war gestern.‹

›Hast du nichts bemerkt?‹

›Ich bin kein besonderer Beobachter, aber es ist mir so vorgekommen, als ob sie sich beim Abschied irgendwelche Zeichen mit dem Kopf gemacht hätten, etwa wie wenn der eine ja, der andere nein sagt.‹

›Welcher Kopf sagte ja?‹

›Der des Verwalters.‹

›Sie sind unschuldig, oder sie stecken unter einer Decke. Höre, mein Freund, geh nicht wieder nach Haus, bring dich irgendwo [102] in Sicherheit, im Hause der Tempelherren oder in der Abtei oder wo du willst, und inzwischen laß mich machen, nur erinnere dich wohl ...‹

›... daß ich mich nicht zeigen und den Mund halten soll?‹

›Ganz richtig.‹

Im selben Augenblick ist das Haus des Pastetenbäckers von Kundschaftern umringt. Polizeispione in allen möglichen Verkleidungen wenden sich an die Pastetenbäckerin und fragen sie nach ihrem Mann. Dem einen antwortet sie, er sei krank, einem andern, er sei zu einem Fest gereist, einem dritten zu einer Hochzeit.

Wann er zurückkäme?

Sie wüßte nichts darüber.

Am dritten Tag, gegen zwei Uhr morgens, wird der Polizeibeamte davon benachrichtigt, daß man einen bis an die Augen in einen Mantel eingehüllten Mann leise die Tür nach der Straße habe öffnen und sich vorsichtig in das Haus des Pastetenbäckers habe schleichen sehen. Sofort verfügt sich der Polizeibeamte, begleitet von einem Kommissar, einem Schlosser, einem Wagen und mehreren Häschern, an Ort und Stelle. Die Tür wird mit einem Dietrich geöffnet, der Polizeibeamte und der Kommissar steigen leise die Treppe hinauf. Man klopft an die Tür der Pastetenbäckerin – keine Antwort; man klopft noch einmal – keine Antwort; beim dritten Mal fragt man von drinnen, wer da sei.

›Öffnet!‹

›Wer ist da?‹

›Öffnet, im Namen des Königs!‹

›Gut!‹ sagt der Verwalter zur Pastetenbäckerin, mit der er im Bette liegt. ›Es ist keine Gefahr; das ist der Polizeibeamte, der gekommen ist, seinen Befehl auszuführen. Öffne, ich werde meinen Namen nennen, er wird sich zurückziehen, und alles wird in Ordnung sein.‹

Die Pastetenbäckerin öffnet im Hemd und begibt sich wieder in ihr Bett.

Der Polizeibeamte: Wo ist Euer Mann?

[103] Die Pastetenbäckerin: Er ist nicht hier.

Der Beamte schiebt den Vorhang zurück. »Und wer ist das?«

Der Verwalter: Ich bins, ich bin der Verwalter des Herrn von Saint-Florentin.

›Ihr lügt, Ihr seid doch der Pastetenbäcker, denn der Pastetenbäcker ists, der mit der Pastetenbäckerin schläft. Steht auf, zieht Euch an und folgt mir!‹

»Er mußte gehorchen, man führte ihn hierher. Der Minister, unterrichtet von der Schurkerei seines Verwalters, hat das Vorgehen des Polizeibeamten gebilligt, der diesen Abend noch mit Dunkelwerden erwartet wird, um ihn nach Bicêtre zu bringen, wo er, dank der Sparsamkeit der Administratoren, sein Viertelpfund schlechtes Brot und seine Unze Kuhfleisch essen und vom Morgen bis zum Abend auf seiner Baßgeige kratzen wird.«

Wie dächtest du darüber, lieber Leser, wenn ich mich ebenfalls aufs Ohr legte, bis Jakob und sein Herr aufwachen?


Am andern Morgen erhob sich Jakob schon sehr früh, steckte den Kopf zum Fenster hinaus, um nach dem Wetter zu sehen, sah, daß es abscheulich war, legte sich wieder hin und ließ uns, seinen Herrn und mich, schlafen, solange es uns gefiel.

Jakob, sein Herr und die anderen Reisenden, die in derselben Herberge eingekehrt waren, glaubten, der Himmel würde sich gegen Mittag wieder aufklären; es war aber nichts damit, und da der Gewitterregen den Bach, der die Vorstadt von der Stadt trennte, so sehr zum Schwellen gebracht hatte, daß es gefährlich gewesen wäre, ihn zu überschreiten, entschlossen sich alle die, deren Weg sie nach jener Seite führte, lieber einen Tag zu verlieren und zu warten.

Die einen begannen sich zu unterhalten, andere hin und her zu gehen, die Nase zur Tür hinauszustecken, nach dem Himmel zu sehen und unter Flüchen und mit den Füßen stampfend wieder hereinzukommen. Mehrere machten sich ans Politisieren und Trinken, viele ans Spielen, der Rest ans Rauchen, Schlafen und Nichtstun.

[104] Der Herr sagte zu Jakob:

»Ich hoffe, daß Jakob die Erzählung seiner Liebesgeschichte wieder aufnehmen wird und daß der Himmel uns hier durch das schlechte Wetter zurückhält, weil es sein Wille ist, daß ich die Genugtuung habe, ihr Ende zu vernehmen.«

Jakob: Der Himmel, weil es sein Wille ist! Man weiß niemals, was der Himmel will oder nicht will, und vielleicht weiß er es selber nicht. Mein armer Hauptmann, der nicht mehr ist, hat es mir hundertmal wiederholt; und je länger ich gelebt habe, je mehr habe ichs erkannt, daß er recht hatte ... Darf ich bitten, gnädiger Herr?

Herr: Ich verstehe. Du warst bei dem Wagen und dem Bedienten, dem die Doktorin sagte, er möge deine Vorhänge zurückziehen und mit dir sprechen.

Jakob: Dieser Bediente näherte sich meinem Bett und sagte zu mir: ›Vorwärts, Kamerad, steht auf, zieht Euch an und dann fort!‹

Ich antwortete ihm aus meinen Leintüchern und der Bettdecke, die ich mir über den Kopf gezogen hatte, hervor, ohne ihn zu sehen und ohne gesehen zu werden: ›Kamerad, laßt mich schlafen und fahrt fort!‹ Der Bediente gibt zur Antwort, daß er Befehle von seinem Herrn habe und daß er sie ausführen müsse. ›Und hat Euer Herr, der über einen Mann verfügt, den er nicht kennt, auch befohlen, zu bezahlen, was ich hier schulde?‹

›Das ist alles in Ordnung. Beeilt Euch, alle Welt erwartet Euch auf dem Schloß, wo Ihr, ich stehe Euch dafür, besser aufgehoben sein werdet als hier, falls das Folgende der Neugier, Euch zu sehen, entspricht.‹

Ich lasse mich überreden, ich stehe auf, ich ziehe mich an, man faßt mich unter die Arme. Ich hatte Abschied von der Doktorin genommen und wollte eben in den Wagen steigen, als diese Frau sich mir nähert, mich am Ärmel zieht und bittet, mit ihr in eine Ecke des Zimmers zu kommen, weil sie mir etwas zu sagen habe.

›Nun, guter Freund,‹ fing sie an, ›ich meine, Ihr habt keinen [105] Grund, Euch über uns zu beklagen; der Doktor hat Euch ein Bein gerettet, ich, für mein Teil, habe Euch gut gepflegt, und ich hoffe, daß Ihr uns auf dem Schlosse nicht vergessen werdet.‹

›Was könnte ich denn für Sie tun?‹

›Bitten, daß mein Mann komme, um Euch zu verbinden; es wohnen dort eine Menge Menschen. Es ist die beste Praxis des Distrikts; der Schloßherr ist ein freigebiger Mann, man wird dort glänzend bezahlt; es liegt in Eurer Hand, unser Glück zu machen. Mein Mann hat zu wiederholten Malen versucht, sich dort einzuführen, aber vergeblich.‹

›Aber, Frau Doktorin, gibt es auf dem Schloß denn keinen Chirurgen?‹

›Gewiß.‹

›Und wenn dieser andere Euer Mann wäre, würde es Euch sehr freuen, wenn man ihn abdankte und entfernte?‹

›Dieser Chirurg ist ein Mann, dem Ihr nichts verdankt, und mir scheint, daß Ihr meinem Mann einiges verdankt. Wenn Ihr wie vormals auf zwei Beinen geht, so ist das sein Werk.‹

›Und weil Euer Mann mir Gutes erwiesen hat, soll ich einem andern Übles zufügen! Wenn die Stelle wenigstens frei wäre ...‹

Jakob wollte fortfahren, als die Wirtin eintrat, die eingewickelte Nicole auf dem Arm, die sie küßte, streichelte, bedauerte und mit der sie wie mit ihrem Kinde sprach: »Meine arme Nicole! Die ganze Nacht hat sie immerfort geschrien. Und Sie, meine Herren, haben Sie gut geschlafen?«

Herr: Sehr gut.

Wirtin: Das Wetter sitzt fest und findet keinen Ausweg.

Jakob: Wir sind sehr ärgerlich darüber.

Wirtin: Haben die Herren einen weiten Weg?

Jakob: Das wissen wir selbst nicht.

Wirtin: Die Herren reisen jemand nach?

Jakob: Wir reisen niemand nach.

Wirtin: Sie gehn und bleiben, je nach den Geschäften, die Sie unterwegs abzuwickeln haben?

[106] Jakob: Wir haben keine.

Wirtin: Die Herren reisen zu ihrem Vergnügen?

Jakob: Oder zu ihrem Mißvergnügen.

Wirtin: Ich hoffe, daß das erstere der Fall ist.

Jakob: Euer Wunsch wird nicht den geringsten Einfluß darauf haben, es wird so kommen, wie es dort oben geschrieben steht.

Wirtin: Oh! Es handelt sich um eine Heirat?

Jakob: Vielleicht ja, vielleicht nein.

Wirtin: Meine Herren, nehmen Sie sich in acht. Dieser Mann hier unten, der meine arme Nicole so roh behandelt hat, der hat eine höchst lächerliche Heirat geschlossen ... Komm, mein armes Tier; komm, ich küsse dich; ich verspreche dir, daß so etwas nicht wieder vorkommen wird. – Sehen Sie, wie sie an allen Gliedern zittert?

Herr: Und was ist denn so Sonderbares an der Heirat dieses Mannes?

Auf diese Frage von Jakobs Herrn sagte die Wirtin: »Ich höre unten Lärm; ich will meine Anordnungen treffen und komme dann wieder, um Ihnen das alles zu erzählen ...«

Ihr Mann, der es satt hatte, immer nach seiner Frau zu rufen, kam herauf und mit ihm sein Gevatter, den er nicht sah. »Ei, zum Teufel, was treibst du hier oben?« sagte der Wirt zu seiner Frau. Dann, als er sich umwandte und seinen Gevatter erblickte: »Bringst du mir Geld?«

Gevatter: Nein, Gevatter, du weißt wohl, daß ich keins habe.

Wirt: Du hast keins? Ich werde mir schon welches aus deinem Pflug, deinen Pferden, deinen Ochsen und deinem Bett zu machen wissen. Wie? Du Lump!

Gevatter: Ich bin kein Lump.

Wirt: Was bist du sonst? Du bist im Elend, du weißt nicht, woher du Saatgut für deine Felder nehmen sollst; dein Gutsherr, der es satt hat, dir Vorschüsse zu machen, will dir nichts mehr geben. Du kommst zu mir, diese Frau, diese verdammte Schwätzerin, die Ursache aller Dummheiten meines Lebens, verwendet sich für dich und bestimmt mich, dir Geld zu [107] leihen; ich leihe es dir, du versprichst, mirs zurückzuzahlen, und du hältst zehnmal dein Wort nicht; ich hingegen, ja, ich verspreche dir, daß ich es halten werde. Verlaß uns!

Jakob und sein Herr wollten ein gutes Wort für den armen Teufel einlegen, aber die Wirtin legte den Finger auf den Mund, zum Zeichen, daß sie schweigen sollten.

Wirt: Verlaß uns!

Gevatter: Alles, was du sagst, ist wahr und ebenso, daß die Gerichtsdiener bei mir sind und daß wir im nächsten Augenblick an den Bettelstab gebracht sein werden: meine Tochter, mein Sohn und ich.

Wirt: Du verdienst nichts anderes. Was hast du heute morgen hier gewollt? Ich höre mit dem Auffüllen meines Weines auf, steige aus meinem Keller herauf und finde dich nicht mehr. Verlaß uns, sage ich dir!

Gevatter: Gevatter, ich war gekommen, ich habe mich vor dem Empfang gefürchtet, den du mir bereitest, ich bin wieder umgekehrt und gehe jetzt.

Wirt: Du wirst gut daran tun.

Gevatter: Und meine arme Margarete, die so hübsch und verständig ist und die nach Paris in Stellung gehen wird?

Wirt: In Stellung nach Paris? Du willst wohl eine Dirne aus ihr machen?

Gevatter: Nicht ich will es, sondern der harte Mann, mit dem ich spreche.

Wirt: Ich, ein harter Mann? Ich bin keiner, ich bin niemals einer gewesen, und du weißt es recht wohl.

Gevatter: Ich bin nicht mehr imstande weder meine Tochter noch meinen Sohn zu ernähren; meine Tochter wird dienen, mein Sohn sich anwerben lassen.

Wirt: Und ich werde daran schuld sein? Das wird nicht geschehen. Du bist grausam! Solang ich lebe, wirst du mein Kreuz sein. So laß also sehen, was du brauchst.

Gevatter: Ich brauche nichts. Ich bin trostlos, daß ich dir etwas schulde und will dir nie mehr in meinem Leben etwas schuldig sein. Du tust mehr Übles durch deine Schmähungen [108] als Gutes durch deine Dienste. Hätte ich Geld, ich würde es dir ins Gesicht werfen, aber ich habe keins. Aus meiner Tochter wird alles werden, was Gott gefällt; mein Sohn wird sich töten lassen, wenn es sein muß, und ich werde betteln, aber nicht vor deiner Tür. So ist ein so böser Mann wie du aller, aber auch aller seiner Verpflichtungen ledig. Streich nur das Geld für meine Ochsen, meine Pferde und meine Gerätschaften ein, möge es dir viel Glück bringen! Du bist geboren, Undankbare zu schaffen, und ich will keiner sein. Leb wohl!

Wirt: Frau, er geht fort, halt ihn doch zurück!

Wirtin: Laß sehn, Gevatter, wir wollen darüber nachdenken, wie dir zu helfen ist.

Gevatter: Ich will seine Hilfe nicht, sie ist viel zu teuer.

Der Wirt wiederholte ganz leise seiner Frau: »Laß ihn nicht gehn, halt ihn doch zurück! Seine Tochter in Paris! Sein Sohn bei der Armee! Er an der Kirchtür bettelnd! Ich könnte das nicht ertragen!«

Doch die Bemühungen seiner Frau waren vergeblich; der Bauer, der seinen Stolz hatte, wollte nichts annehmen, und man mußte ihn mit Gewalt zurückhalten. Der Wirt wandte sich mit Tränen in den Augen zu Jakob und seinem Herrn und sagte: »Meine Herren, versuchen Sie ihn doch zu erweichen!«

Jakob und sein Herr mischten sich nun ebenfalls in den Streit, und jetzt beschworen alle miteinander den Bauern. Wenn ich jemals einen Mann gesehen habe ...

›Wenn Ihr jemals einen Mann gesehen habt! Aber Ihr wart ja gar nicht dabei. Sagt: Wenn man jemals einen Mann gesehen hat ...‹

Gut, meinetwegen! Wenn man jemals einen Mann gesehen hat, der bestürzt über eine Zurückweisung war, außer sich, daß man sein Geld nicht annehmen wollte, so war es dieser Wirt; er umarmte seine Frau, er umarmte Jakob und seinen Herrn und rief: »Man laufe schnell hin und jage diese abscheulichen Gerichtsdiener aus seinem Hause!«

Gevatter: Du mußt auch zugeben ...

Wirt: Ich gebe zu, daß ich alles verderbe, aber, Gevatter, was [109] willst du? Ich bin, wie ich bin. Die Natur hat mich zum härtesten und zugleich zum weichsten Mann gemacht, ich kann weder gewähren noch verweigern.

Gevatter: Könntest du denn nicht anders sein?

Wirt: Ich stehe in dem Alter, in dem man sich kaum ändert, aber hätten die ersten, die sich an mich wandten, mich so angefahren, wie du es getan hast, so wäre ich vielleicht besser geworden. Gevatter, ich danke dir für deine Lektion, vielleicht profitiere ich davon. – Frau, mach schnell, geh hinunter und gib ihm, was er braucht! Zum Teufel, lauf doch, zum Henker! Du gehst..! Frau, ich bitte dich, beeil dich ein wenig und laß ihn nicht warten, nachher kannst du wieder zu diesen Herren kommen, mit denen du dich, wie mir scheint, ganz gut verstehst.

Die Frau und der Gevatter gingen hinunter, der Wirt blieb noch einen Augenblick, und als er fortgegangen war, sagte Jakob zu seinem Herrn: »Das ist aber ein sonderbarer Mann! Was mag der Himmel jetzt wollen, der dieses schlechte Wetter, das uns hier zurückhält, geschickt hat, damit Sie meine Liebesgeschichte hörten?«

Der Herr streckte sich in seinem Lehnstuhl aus, gähnte, klopfte auf seine Tabaksdose und antwortete: »Jakob, wir haben noch mehr als einen Tag miteinander zu verleben, es sei denn ...«

Jakob: Das heißt, daß der Himmel für heute will, daß ich meinen Mund halten oder daß die Wirtin das Wort führen soll; das ist eine Plaudertasche, die sich nichts Besseres wünscht; so mag sie denn reden.

Herr: Du wirst verdrießlich.

Jakob: Ich spreche eben auch gerne.

Herr: Die Reihe wird schon wieder an dich kommen.

Jakob: Oder nicht.


Ich höre dich sagen, lieber Leser: ›Da hätten wir ja die wahre Lösung des »Bourru bienfaisant« (des Griesgrams als Wohltäter)‹! Wäre ich der Verfasser dieser Komödie gewesen, so hätte ich eine Person eingeführt, die man als Nebenperson genommen [110] hätte, die es jedoch nicht gewesen wäre. Diese Person wäre hin und wieder aufgetreten, und ihre Gegenwart wäre motiviert worden. Das erste Mal wäre sie gekommen, um Nachsicht zu erbitten, aber die Furcht vor einem üblen Empfang hätte sie noch vor der Ankunft Gérontes fortgetrieben. Durch das Eindringen der Gerichtsdiener in ihr Haus hätte sie das zweite Mal den Mut gefunden, auf Géronte zu warten, dieser jedoch hätte sich geweigert, sie zu sehen.

Endlich hätte ich sie der Lösung entgegengeführt, wobei sie genau die Rolle des Bauern mit dem Herbergswirt gespielt hätte. Sie hätte wie der Bauer eine Tochter gehabt, die sie bei einer Putzmacherin unterbringen, und einen Sohn, den sie aus der Schule nehmen und in Stellung treten lassen wollte; sie selbst hätte sich zum Betteln entschlossen, bis sie das Leben satt bekommen. Man hätte den ›Bourru bienfaisant‹ zu Füßen dieses Mannes gesehen, hätte gehört, daß er ausgescholten wurde, wie er es verdiente; er wäre gezwungen gewesen, sich an die ganze Familie zu wenden, die ihn umstanden hätte, um seinen Schuldner zu erweichen und ihn zu bestimmen, von neuem Hilfe von ihm anzunehmen. Der ›Bourru bienfaisant‹ wäre bestraft worden; er hätte versprochen, sich zu bessern, aber im selben Augenblick wäre er wieder in seinen alten Fehler verfallen, indem er ungeduldig gegen die Personen auf der Bühne geworden wäre, die sich beim Hineingehen in das Haus bekomplimentiert hätten. Er hätte aufbrausend gerufen: ›Der Teufel hole die Zerem ...‹ Aber mitten im Wort hätte er innegehalten und mit besänftigtem Tone zu seinen Nichten gesagt: ›Vorwärts, meine Nichten, gebt mir die Hand, und gehen wir hinein!‹

›Und Ihr hättet, um diese Person mit der eigentlichen Handlung zu verbinden, einen Schützling des Neffen von Géronte aus ihr gemacht?‹

Ganz richtig!

›Und auf die Bitten des Neffen hätte der Onkel sein Geld hergeliehen?‹

Getroffen!

[111] ›Und diesen Borg hätte der Onkel seinem Neffen verübelt?‹

Genauso!

›Und die Lösung dieses angenehmen Stückes wäre nicht eine Generalwiederholung mit der ganzen Familie in corpore gewesen, eine Wiederholung dessen, sage ich, was er früher mit jedem einzelnen für sich gemacht hat?‹

Du hast ganz recht.

›Und wenn ich jemals Herrn Goldoni begegne, werde ich ihm die Szene im Gasthaus erzählen.‹

Daran wirst du gut tun; er ist ein viel zu geschickter Mann, als daß er nicht Nutzen daraus ziehen sollte.


Die Wirtin kam wieder herauf, immer noch Nicole auf dem Arm, und sagte: »Ich hoffe, daß Sie ein gutes Mittagessen bekommen werden; der Wildschütz ist eben angekommen, der Aufseher des Gutsherrn wird nicht auf sich warten lassen.« Und mit diesen Worten nahm sie einen Stuhl. Da sitzt sie nun und beginnt die Erzählung.

Wirtin: Man darf den Dienern nicht trauen, die Herren haben keine ärgeren Feinde ...

Jakob: Madame, Ihr wißt nicht, was Ihr sagt; es gibt gute und schlechte, man dürfte mehr gute Diener als gute Herren finden.

Herr: Jakob, du rühmst dich und verfällst genau in dieselbe Taktlosigkeit, die bei dir Anstoß erregt hat.

Jakob: Die Herren ...

Herr: Die Diener ...


Nun, lieber Leser, was hält mich zurück, einen heftigen Streit zwischen diesen drei Personen ausbrechen, die Wirtin von Jakob bei den Schultern packen und zum Zimmer hinauswerfen, Jakob von seinem Herrn bei den Schultern packen und davonjagen, den einen nach einer, den andern nach einer anderen Richtung gehen zu lassen und dir sowohl die Geschichte der Wirtin als die Fortsetzung von Jakobs Liebesabenteuer vorzuenthalten? Beruhige dich, ich werde nichts dergleichen tun. [112] Die Wirtin fuhr also fort: »Man muß zugeben, daß es nicht nur sehr schlechte Männer gibt, sondern auch sehr schlechte Frauen.«

Jakob: Und daß man nicht sehr weit zu gehen braucht, um sie zu finden.

Wirtin: Worein mengt Ihr Euch? Ich bin eine Frau, und mir steht es zu, über die Frauen zu sagen, was mir gefällt; ich brauche nicht erst Eure Zustimmung.

Jakob: Meine Zustimmung ist soviel wert wie jede andere.

Wirtin: Mein Herr, Sie haben da einen Diener, der den Klugen spielt und es an Respekt von Ihnen fehlen läßt. Ich habe auch Diener; aber ich wollte ihnen nicht raten, sich etwas herauszunehmen.

Herr: Jakob, schweig still und laß Madame sprechen.

Ermutigt durch diese Worte des Herrn, steht die Wirtin auf, rückt Jakob zu Leibe, stemmt ihre Fäuste in die Seiten, vergißt, daß sie Nicole hält, läßt sie los, und schon liegt sie auf dem Boden, geprellt und in ihrem Wickelzeuge zappelnd und gottserbärmlich heulend und bellend. Die Wirtin mischt ihr Geschrei in Nicoles Geheul, Jakob sein schallendes Gelächter in Nicoles Geheul und das Geschrei der Wirtin, und Jakobs Herr öffnet seine Tabaksdose, nimmt eine Prise und kann nicht umhin, zu lächeln. Das ganze Wirtshaus gerät in Aufregung.

»Nanon, Nanon, schnell, bring die Flasche mit Branntwein! Meine arme Nicole ist tot ... Wickle sie aus! Wie ungeschickt du dich doch anstellst!«

»Ich tue mein Bestes.«

»Wie sie jammert! Geh fort da, laß mich machen! Sie ist tot! – Lach nur, du großer Nichtsnutz; es ist hier wahrhaftig Grund zum Lachen! Meine arme Nicole ist tot!«

»Nein, Madame, nein, ich glaube, sie wird davonkommen; seht, wie sie sich rührt ...«

Und Nanon reibt die Nase der Hündin mit Branntwein ein und gibt ihr davon zu trinken; und die Wirtin fährt fort, zu lamentieren und gegen die unverschämten Diener zu wettern; und Nanon sagt:

[113] »Seht, Madame, sie öffnet die Augen, seht, sie schaut Euch an!«

»Das arme Tier! Wie sprechend! Wer würde nicht gerührt?«

»Madame, streichelt sie doch ein wenig, sagt ihr doch etwas!«

»Komm, meine arme Nicole, schrei, mein Kind, schrei, wenn dich das erleichtert! Die Tiere wie die Menschen haben ein und dasselbe Schicksal; den Faulenzern und Großmäulern, den Zänkischen und Gefräßigen schickt es das Glück, den besten Kreaturen auf der Welt aber nur das Unglück.«

»Madame hat wirklich recht, es gibt hienieden keine Gerechtigkeit.«

»Schweig still, wickle sie wieder ein, leg sie unter mein Kopfkissen und denke daran, daß ich dich für den geringsten Schrei, den sie ausstößt, verantwortlich mache! – Komm, armes Tier, daß ich dich noch einmal küsse, bevor man dich fortträgt. – Bring sie doch her, du dumme Gans! – Diese Hunde, sie sind so gut, sie sind mehr wert als ...«

Jakob: ... als Vater, Mutter, Brüder, Schwestern, Kinder, Diener, Gatten ...

Wirtin: Gewiß, Ihr braucht nicht zu lachen, sie sind unschuldig, sind treu, tun niemand etwas zuleid, während alles übrige ...

Jakob: Die Hunde sollen leben! Es gibt nichts Vollkommeneres unter dem Himmel.

Wirtin: Wenn es etwas Vollkommeneres gibt, so ist es sicher nicht der Mensch. Ich wollte nur, Ihr kenntet den Hund des Müllers; das ist der Geliebte meiner Nicole; es gibt nicht einen unter euch, so viele ihr auch seid, den er nicht vor Scham erröten machte. Er kommt bei Anbruch des Tages mehr als eine Meile weit her; er pflanzt sich vor diesem Fenster auf und seufzt, seufzt zum Erbarmen. Wie auch das Wetter sein mag, er bleibt; der Regen fällt auf seinen Körper, sein Körper sinkt in den Sand ein, kaum sieht man noch die Ohren und die Spitze seiner Schnauze. Würdet Ihr so etwas für die Frau tun, die Ihr am meisten liebt?

Herr: Das ist sehr galant.

[114] Jakob: Aber wo ist auch die Frau, die solcher Aufmerksamkeiten so würdig wäre wie Eure Nicole?

Die Leidenschaft der Wirtin für die Tiere war indessen doch nicht ihre Hauptleidenschaft, wie man denken möchte. Noch mehr liebte sie das Reden. Mit je mehr Vergnügen und Geduld man ihr zuhörte, um so mehr Verdienst hatte man; auch ließ sie sich nicht bitten, die unterbrochene Geschichte von der seltsamen Heirat wieder aufzunehmen. Nur machte sie zur Bedingung, daß Jakob den Mund halten müßte. Sein Herr versprach Stillschweigen für ihn. Jakob streckte sich behaglich mit geschlossenen Augen in einer Ecke aus, seine Mütze über die Ohren gezogen und den Rücken halb der Wirtin zugekehrt. Der Herr hustete, spuckte, schneuzte sich, zog seine Uhr heraus und schaute nach der Zeit, holte seine Tabaksdose hervor, klopfte auf den Deckel, nahm seine Prise, und die Wirtin schickte sich an, die Wonne des Redens zu genießen. Eben wollte sie anfangen, als sie ihre Hündin schreien hörte. »Nanon, schau doch nach dem armen Tier! – Das verwirrt mich ganz, ich weiß gar nicht mehr, wo ich stehengeblieben bin.«

Jakob: Ihr habt noch gar nichts gesagt.

Wirtin: Die beiden Männer, mit denen ich wegen meiner armen Nicole Streit gehabt habe, als Sie ankamen, mein Herr ...

Jakob: Sagt: meine Herren.

Wirtin: Und warum?

Jakob: Weil man bis jetzt so höflich gegen uns gewesen ist und ich daran gewöhnt bin. Mein Herr nennt mich Jakob und die anderen Herr Jakob.

Wirtin: Ich nenne Euch weder Jakob noch Herr Jakob, ich rede gar nicht mit Euch ... (»Madame!« – Was gibts? – »Die Rechnung für Nr. 5 ...« Schau auf der Kaminecke nach!) Diese beiden Männer sind vornehme Edelleute. Sie kommen von Paris und gehen auf das Landgut des älteren von ihnen.

Jakob: Wer kann das wissen?

Wirtin: Sie selbst, die es sagen.

Jakob: Eine schöne Logik!

Der Herr machte der Wirtin ein Zeichen, aus dem sie schloß, [115] daß Jakob nicht ganz richtig im Kopfe sei. Sie beantwortete den Wink des Herrn durch ein mitleidiges Achselzucken und setzte hinzu: »In seinem Alter? Das ist sehr traurig.«

Jakob: Sehr traurig, nie zu wissen, wohin man geht.

Wirtin: Der ältere von beiden nennt sich der Marquis des Arcis. Er ist ein sehr liebenswürdiger Mann, der seinem Vergnügen lebte und eben nicht viel an die Tugend der Frauen glaubte.

Jakob: Da hatte er recht.

Wirtin: Herr Jakob, Sie unterbrechen mich!

Jakob: Frau Wirtin zum großen Hirsch, ich spreche nicht mit Ihnen!

Wirtin: Der Herr Marquis fand indes eine, die ihn streng hielt. Sie hieß Frau von Pommeraye, war Witwe, von Stande, reich, stolz und streng in ihrer Lebensführung. Herr des Arcis brach mit allen seinen vorigen Bekanntschaften und lebte nur für diese Dame. Er machte ihr den Hof mit der größten Geflissenheit und bemühte sich, ihr seine Liebe durch alle ersinnlichen Opfer zu beweisen; ja er machte ihr sogar den Antrag, sie zu heiraten. Aber die Dame war in ihrer ersten Ehe so unglücklich gewesen, daß sie ... (»Madame!« – Was gibts? – »Den Schlüssel zur Haferkiste!« – Schau nach, ob er nicht am Nagel hängt, sonst steckt er an der Kiste.), ... daß sie sich lieber jedem andern Ungemache des Lebens als der Gefahr einer zweiten Heirat aussetzen wollte.

Jakob: Ah! Wenns nun dort oben geschrieben gestanden hätte?

Wirtin: Diese Dame lebte sehr eingezogen. Der Marquis war ein alter Freund ihres Mannes gewesen und damals in ihrem Hause aus und ein gegangen. Sie versagte ihm auch nachher den Zutritt nicht. Wenn man ihm seinen etwas weibischen Geschmack für die Galanterie nachsah, so war er, was man einen Mann von Ehre nennt. Des Marquis beharrliche Bewerbungen im Verein mit seinen persönlichen Eigenschaften, seiner Figur, seiner Jugend, dem Anschein der innigsten Liebe, ferner mit ihrer Einsamkeit, ihrem Hang zur Zärtlichkeit, kurz, mit allem, was uns Weiber der Verführung der Männer preisgibt ... [116] (»Madame!« – Was gibts? – »Der Kurier ist da!« – Bring ihn in das grüne Zimmer und bediene ihn wie gewöhnlich!), ... tat seine Wirkung. Als Frau von Pommeraye viele Monate gegen den Marquis und gegen sich selbst gekämpft und, wie das Brauch ist, die feierlichsten Schwüre von ihm gefordert hatte, machte sie endlich den Marquis glücklich; und er wäre auch glücklich geblieben, wenn er gegen seine Geliebte ebenso zärtliche Gesinnungen hätte bewahren können, wie man gegen ihn bewahrte und wie er sie zu bewahren gelobt hatte; denn sehen Sie, mein Herr, nur wir Frauen wissen zu lieben, die Männer verstehen nichts davon. (»Madame!« – Was gibts? – »Der Bettelmönch!« – Gib ihm zwölf Sous für diese Herren hier, sechs für mich, und laß ihn in den anderen Zimmern sammeln!) Als einige Jahre verstrichen waren, fing der Marquis an, das Leben der Frau von Pommeraye zu einförmig zu finden. Er schlug ihr vor, in Gesellschaft zu gehen – sie tat es; Besuche von einigen Damen und Herren anzunehmen – sie tat es; mittags und abends Tafel zu geben – und sie tat es. Nach und nach ließ er einen Tag, zwei Tage hingehen, ohne sich bei ihr blicken zu lassen; nach und nach blieb er bei dem Mittag-und Abendessen aus, das er arrangiert hatte; nach und nach kürzte er seine Besuche ab, hatte Geschäfte, die ihn riefen. Kam er, so sprach er nur ein Wort, streckte sich in einen Lehnsessel, nahm eine Broschüre in die Hand, warf sie wieder weg, sprach mit seinem Hunde oder schlief ein. Ward es Abend, so verlangte es seine Gesundheit, die äußerst hinfällig geworden war, beizeiten nach Hause zu gehen; das war Tronchins Meinung. ›Tronchin ist ein großer Mann, wahrhaftig, ich zweifle keinen Augenblick daran, daß er unsere Freundin rettet, ungeachtet alle die anderen Ärzte sie aufgegeben haben.‹ Und damit nahm er Stock und Hut und ging davon, vergaß auch zuweilen wohl gar, Frau von Pommeraye zum Abschied zu umarmen. (»Madame!« – Was gibts? – »Der Küfer!« – Er soll in den Keller steigen und die beiden Fässer nachsehen!) Sie empfand, daß sie nicht mehr geliebt würde; sie wollte sich davon überzeugen und fing es folgendermaßen [117] an ... (»Madame!« – Ich komme, ich komme!) Ermüdet von den ewigen Unterbrechungen, ging die Wirtin hinunter und traf augenscheinlich Vorsorge, sie aufhören zu machen.

Wirtin: Eines Mittags, als sie eben abgespeist hatten, sagte sie zu dem Marquis: ›Sie sind so in Gedanken, mein Freund!‹

›Sie auch, Marquise.‹

›Ich kann es nicht leugnen, und zwar in ziemlich traurigen.‹

›Was fehlt Ihnen?‹

›Nichts.‹

›Das ist nicht wahr. Offenherzig, Marquise‹, setzte er gähnend hinzu, ›sagen Sie mir frei heraus, was Ihnen auf dem Herzen liegt, das wird uns beiden die Langeweile vertreiben.‹

›Haben Sie Langeweile?‹

›Das nicht, aber es gibt zuweilen Tage ...‹

›... wo einem die Zeit lang wird?‹

›Sie irren sich, liebe Freundin; ich schwöre es Ihnen, Sie irren sich. Es gibt wirklich zuweilen Tage ... Man kann sich das selbst nicht erklären.‹

›Lieber Freund! Schon lange trug ich mich mit dem Vorsatze, Ihnen etwas zu entdecken, aber ich fürchtete, Ihnen unangenehme Empfindungen zu verursa chen.‹

›Sie mir unangenehme Empfindungen verursachen? Sie!‹

›Wer weiß? Aber ich rufe den Himmel zum Zeugen meiner Schuldlosigkeit an ...‹ (»Madame! Madame! Madame!« – Für wen und für was es auch sei, ich habe dir doch verboten, mich zu rufen, ruf meinen Mann! – »Er ist nicht da.«) Meine Herren, ich bitte um Entschuldigung, in einem Augenblick bin ich wieder bei Ihnen.

Die Wirtin eilte davon, erschien aber gleich darauf wieder und fuhr in ihrer Erzählung fort: ›Es ist ohne meine Einwilligung und ohne mein Wissen geschehen. Wahrscheinlich muß ein Fluch auf dem ganzen Menschengeschlechte ruhen, weil ich, ich selbst ihm nicht habe entgehen können.‹

›Ach! Um Ihre Person ... Sie befürchten ... Aber um was handelt es sich denn eigentlich?‹

›Marquis, es handelt sich ... aber ich bin unglücklich ... ich [118] würde Sie auch unglücklich machen; alles wohl überlegt, wäre es wirklich besser, ich schwiege.‹

›Nein, meine Liebe! Reden Sie frei heraus! Sollten Sie in Ihrem Herzen Geheimnisse vor mir haben? War es nicht das erste, was wir untereinander ausmachten, daß unsere Seelen sich einander ohne Zurückhaltung aufschließen sollten?‹

›Sie haben recht, und das ist es eben, was mir schwer auf dem Herzen drückt; durch diesen Vorwurf wird ein ungleich wichtigerer, den ich mir zu machen habe, noch weit empfindlicher. Finden Sie nicht, daß meine frühere Munterkeit ganz dahin ist? Ich habe den Appetit verloren, ich trinke und esse nur, weil es sein muß, ich kann nicht schlafen, der Umgang mit unsern trautesten Bekannten ist mir peinlich, des Nachts gehe ich oft selbst mit mir zu Rate und frage mich: Ist er denn nicht mehr so liebenswürdig? O ja! Hast du dich über ihn zu beschweren? Nein. Hast du ihm einen Umgang, der dir nicht gefällt, vorzuwerfen? Nein. Hat seine Zärtlichkeit für dich abgenommen? Nein. Warum ist also dein Herz nicht mehr das vorige, wenn dein Freund sich nicht geändert hat? Oh, es ist nicht mehr das vorige; gestehe es dir nur! Du erwartest seine Ankunft nicht mehr mit der vorigen Ungeduld; es macht dir nicht mehr dasselbe Vergnügen, ihn zu sehen. Jene Ungeduld, wenn er etwa zur gewöhnlichen Stunde ausblieb, jene süße Aufwallung beim Rasseln seines Wagens oder wenn man ihn meldete oder wenn er hereintrat – das alles empfindest du nicht mehr, das alles ist für dich verloren.‹

›Wie, gnädige Frau?‹

Die Marquise hielt sich die Augen mit den Händen zu, ließ den Kopf sinken, schwieg einen Augenblick und fuhr endlich fort:

›Marquis! Ich war auf Ihr Erstaunen, auf alles das Bittere, was Sie mir sagen können, im voraus gefaßt; aber, Marquis, schonen Sie mich ... Nein, schonen Sie mich nicht! Lassen Sie Ihrem Unwillen freien Lauf; ich unterwerfe mich ihm mit Geduld, denn ich verdiene nichts Besseres. Ja, lieber Marquis, es ist nur zu wahr ... Ja, ich bin ... Aber ist das nicht schon Unglück [119] genug, daß es dahin kommen mußte, wohin es gekommen ist? Sollte ich mich da noch dem Schimpf und der Schande aussetzen, falsch gegen Sie zu sein und es Ihnen zu verhehlen? Sie sind noch, was Sie waren, aber Ihre Freundin hat sich geändert; Ihre Freundin verehrt und schätzt Sie noch so sehr und höher als jemals, aber ... eine Frau, die wie sie gewohnt ist, die geheimsten Falten ihrer Seele zu durchforschen und sich durch nichts täuschen zu lassen, kann es sich nicht länger verbergen, daß die Liebe nicht mehr darin wohnt. Diese Entdeckung, ich fühle es, ist schrecklich, aber deswegen nicht minder wahr. Die Marquise von Pommeraye, ich, ich, wankelmütig, flatterhaft! Geraten Sie in Wut, Marquis! Geben Sie mir die verhaßtesten Namen; ich habe mich selbst zum voraus damit gebrandmarkt; brandmarken Sie mich auch damit; ich will sie willig ertragen; nur geben Sie mir nicht den Namen einer Heuchlerin, denn den verdiene ich nicht.‹ (»Frau!« – Was gibts? – »Nichts ...« – Man hat doch nicht einen Augenblick Ruhe in diesem Haus! Selbst nicht an Tagen, wo kaum ein Gast da ist und man glaubt, nichts zu tun zu haben! Wie bedauernswert ist eine Frau aus meinem Stand – besonders wenn sie einen so einfältigen Mann hat!) Hier sank Frau von Pommeraye in ihren Lehnstuhl zurück und fing an zu weinen. Der Marquis warf sich ihr zu Füßen und rief:

›Liebenswürdigste Frau! Göttliche Frau! Frau, wie man keine mehr findet! Ihre Offenherzigkeit, Ihre Hochsinnigkeit beschämen mich, und ich möchte vor Scham vergehen! Oh, wie sehr hebt dieser Augenblick Sie über mich empor! Wie groß stehen Sie in diesem Augenblick vor mir da! Wie klein bin ich neben Ihnen! Sie taten das erste Geständnis, und ich, ich war der erste Schuldige. Ihre Aufrichtigkeit reißt mich hin. Freundin! Ich müßte ein Ungeheuer sein, wenn sie mich nicht hinrisse, wenn ich Ihnen nicht gestände, daß die Geschichte Ihres Herzens Wort für Wort die Geschichte des meinigen ist. Alles, was Sie sich gesagt haben, das sagte auch ich mir; aber ich schwieg, ich litt, und ich weiß nicht, wann ich den Mut gefaßt[120] hätte, ein gleiches offenherziges Bekenntnis abzulegen.‹

›Freund, ist das wahr?‹

›Wahrer als irgend etwas; und wir können uns beide Glück wünschen, daß uns zu gleicher Zeit das vergängliche und trügerische Gefühl verließ, welches uns vereinigte.‹

›In der Tat, wie wäre ich zu beklagen gewesen, wenn ich Sie noch geliebt hätte, als Ihre Liebe längst erloschen war!‹

›Oder wenn sie bei mir zuerst aufgehört hätte!‹

›Ich fühle, daß Sie recht haben.‹

›Nie sind Sie mir so liebenswürdig, so schön vorgekommen wie in diesem Augenblick; und hätten mich meine früheren Erfahrungen nicht vorsichtig gemacht, so würde ich Sie jetzt heftiger zu lieben glauben als jemals.‹ Der Marquis nahm bei diesen Worten ihre Hände und küßte sie. (»Frau!« – Was gibts? – »Der Strohhändler!« – Sieh im Buch nach! – »Wo ist es denn? Bleib, bleib, ich hab es!«) Frau von Pommeraye verbarg den tödlichen Verdruß, der ihr Herz zerriß, nahm das Wort wieder und sagte zu dem Marquis:

›Aber, Marquis, was soll aus uns werden?‹

›Wir haben einander nie getäuscht. Sie haben vollen Anspruch auf meine ganze Achtung, und ich glaube nicht ganz mein altes Recht auf die Ihrige verloren zu haben. Wir wollen fortfahren, uns zu sehen, und uns der Vertraulichkeit der innigsten Freundschaft überlassen, dann werden wir uns all das Langweilige, alle die kleinen Treulosigkeiten, alle die Vorwürfe, alle die bösen Launen ersparen, welche gewöhnlich einzutreten pflegen, wenn die Leidenschaft der Liebe ihr Ende erreicht hat; wir werden in unserer Art ohne Beispiel sein. Sie erhalten Ihre vorige Freiheit wieder und geben mir die meinige zurück; wir werden uns in der Welt zeigen. Sie machen mich zum Vertrauten bei Ihren Eroberungen, und ich erwidere dies Vertrauen durch ein gleiches; versteht sich, wenn ich Eroberungen mache, woran ich aber sehr zweifle; denn Sie haben mich wählerisch gemacht. Ach, das wird herrlich sein! Sie unterstützen mich mit Ihrem guten Rat, und ich helfe Ihnen mit dem meinen in kritischen Fällen, wo Sie ihn nötig zu [121] haben glauben; denn wer kann wissen, was vielleicht geschieht.‹

Jakob: Kein Mensch.

Wirtin: ›Höchstwahrscheinlich werden Sie, je mehr ich suche, desto mehr bei jedem Vergleich gewinnen, und ich werde zu Ihnen zärtlicher und leidenschaftlicher zurückkehren, überzeugter denn je, daß Frau von Pommeraye die einzige Frau ist, die mich glücklich machen kann. Nach einer solchen Wiederkehr läßt sich dann wohl alles wetten, daß ich Ihnen bis ans Ende meines Lebens treu bleiben und nie wieder von Ihnen weichen werde.‹

›Wie aber, wenn Sie mich bei Ihrer Wiederkehr nicht mehr fänden? Denn Sie wissen ja, Marquis, man ist nicht immer gerecht; und es wäre keine Unmöglichkeit, daß ich Geschmack, Laune, ja selbst Leidenschaft für einen anderen bekäme, der mit Ihnen gar nicht zu vergleichen wäre.‹

›Ich wäre gewiß untröstlich, könnte aber nicht darüber klagen; ich würde einzig und allein dem Schicksal die Schuld geben, das uns trennte, als wir noch eins waren, und uns wieder zusammenbrachte, als wir nicht wieder vereinigt werden konnten.‹

Auf dieses Gespräch erfolgte ein moralischer Exkurs über die Unbeständigkeit des menschlichen Herzens, die Nichtigkeit der Schwüre, den Zwang der Ehefesseln ... (»Madame!« – Was gibts? – »Die Postkutsche kommt!«) Meine Herren, sagte die Wirtin, ich muß Sie verlassen; diesen Abend, wenn ich alles im Hause besorgt haben werde, will ich Ihnen wieder aufwarten und die Geschichte fertigerzählen, falls es Ihnen Vergnügen macht ... (»Madame!« – »Frau!« – »Frau Wirtin!« Ich komme, ich komme!)

Als die Wirtin weggegangen war, sagte der Herr zu seinem Diener: »Jakob, ist dir nichts aufgefallen?«

Jakob: Was denn?

Herr: Daß diese Frau für eine Gastwirtin viel zu gut erzählt.

Jakob: Das ist wahr. Die häufigen Unterbrechungen durch die Leute vom Haus haben mich mehrmals ungeduldig gemacht.

[122] Herr: Mich auch.

Und du, Leser, rede frei heraus, denn du siehst, daß wir mit der Offenherzigkeit in gutem Zuge sind: Möchtest du gern, daß wir von dieser redegewandten und unlakonischen Plaudertasche von Wirtin Abschied nehmen und wieder zu Jakobs Liebesgeschichte zurückkehren? Mir gilt alles gleich. Kommt diese Frau wieder herauf, so wird es dem Plaudermaul Jakob ganz recht sein, wenn er seine Rolle wieder übernehmen und ihr die Tür vor der Nase zuschlagen darf; er braucht ihr dann nur durch das Schlüsselloch zuzurufen: ›Gute Nacht, Madame! Mein Herr schläft, und ich bin auch im Begriff, zu Bett zu gehen; wir wollen den Rest bis zu unserer Rückkunft aufheben.‹


»Der erste Schwur, den zwei Wesen von Fleisch und Blut einander schworen, geschah am Fuße eines Felsens, der in Staub zerfiel. Zum Zeugen ihrer Beständigkeit riefen sie einen Himmel an, der nicht einen Augenblick derselbe bleibt; alles schwand, alles veränderte sich in ihnen und um sie, und doch wähnten sie ihre Herzen frei von Wechsel und Wankelmut. Oh, Kinder, ewige Kinder!«

Ich weiß nicht, von wem diese Betrachtungen herrühren, von Jakob, von seinem Herrn oder von mir. Soviel ist gewiß, daß sie von einem von uns dreien sein müssen und daß ihnen noch viele andere vorausgingen und folgten, die uns, Jakob, seinen Herrn und mich, bis zum Abendessen, bis nach dem Abendessen, bis zur Wiederkunft der Wirtin aufgehalten haben würden, wenn Jakob nicht zu seinem Herrn gesagt hätte: »Sehen Sie, Herr! Alle diese großen hochfliegenden Sentenzen, die Sie soeben ohne allen Zusammenhang und ohne alle Veranlassung hergebetet haben, sind nicht soviel wert wie eine alte Fabel, die ich bei den Spinnstubenunterhaltungen in meinem Dorfe erzählen hörte.«

Herr: Nun, wie lautet diese Fabel?

Jakob: Es ist die Fabel von der Scheide und dem Messer. Eines Tages gerieten die Scheide und das Messer miteinander in Wortwechsel. Das Messer sagte zur Scheide: ›Scheide, mein [123] Liebchen! Du bist eine lose Schelmin, denn täglich nimmst du neue Messer auf.‹ Die Scheide antwortete dem Messer: ›Messer, mein Schatz! du bist ein Schelm, denn täglich wählst du dir eine andere Scheide ...‹ – ›Scheide, das hast du nicht gelobt!‹ ›Messer! Du hast mich zuerst betrogen ...‹ Dieser Zank hatte sich bei Tisch erhoben; der, welcher zwischen der Scheide und dem Messer saß, nahm das Wort und sagte zu ihnen: ›Du Scheide und du Messer! Ihr tatet beide wohl daran, die Messer und Scheiden zu wechseln, weil dieser Wechsel euch wohl behagte; aber ihr tatet sehr unrecht daran, euch zu versprechen, daß ihr nie wechseln wolltet. Messer! Sahst du nicht, daß Gott dich gemacht hat, um in mehr als eine Scheide zu passen? Und dich, Scheide, um mehr als ein Messer zuzulassen? Ihr schaltet gewisse Messer Toren, die das Gelübde ablegten, überhaupt allen Scheiden zu entsagen, und Törinnen gewisse Scheiden, die das Gelübde ablegten, sich allen Messern zu verschließen; und ihr überlegtet nicht, daß ihr fast ebenso töricht handeltet, als ihr euch schwort, du, Scheide, dich mit einem einzigen Messer, und du, Messer, dich mit einer einzigen Scheide zu begnügen.‹

Hier sagte der Herr zu Jakob: »Deine Fabel ist nicht sehr moralisch, aber sie ist drollig. Weißt du wohl, was für ein närrischer Einfall mir in den Kopf kommt? Ich mache dich zum Mann unserer Wirtin und suche nun herauszuklügeln, wie es ein Ehemann, der gern schwatzt, mit seiner Ehehälfte machen würde, die ebenfalls immer gern das Wort führt.«

Jakob: Er würde es machen, wie ich es die ersten zwölf Jahre meines Lebens gemacht habe, als ich bei meinen Großeltern war.

Herr: Wie hießen sie? Was trieben sie für ein Gewerbe?

Jakob: Sie waren Trödler, die mit allerlei Waren handelten. Mein Großvater Jason hatte viele Kinder, und die ganze Familie war ernsthaft. Sie standen auf, sie zogen sich an, sie gingen ihren Geschäften nach, sie kamen nach Hause, sie setzten sich zu Tisch, sie standen vom Tisch auf, und keins sprach eine Silbe. Des Abends warfen sie sich auf Stühle; die Mutter[124] und die Töchter spannen, flickten, strickten, ohne ein Wort über die Lippen zu bringen; die Söhne ruhten aus; der Vater las im Alten Testament.

Herr: Und du, was tatest du?

Jakob: Ich lief in der Stube mit einem Knebel im Munde umher.

Herr: Mit einem Knebel?

Jakob: Ja, mit einem Knebel, und eben diesem verwünschten Knebel habe ich meine Schwatzsucht zu verdanken. Manchmal ging die ganze Woche hin, ohne daß jemand in Jasons Hause den Mund auftat. Solange sie lebten – und sie waren schon ziemlich alt –, hatte meine Großmutter kein anderes Wort hervorgebracht, als: ›Wer kauft Hüte?‹, und mein Großvater, der in den Auktionen steif wie eine Bildsäule dastand und die Hände in die Taschen seines Oberrockes steckte, hatte nichts anderes über seine Lippen kommen lassen als: ›Noch einen Sou!‹ Es gab Tage, da er in Versuchung kam, nicht an die Heilige Schrift zu glauben.

Herr: Und warum?

Jakob: Wegen der vielen Wiederholungen; die sah er als ein Getratsch an, das des Heiligen Geistes unwürdig sei. Er behauptete, Leute, die etwas wiederholten, wären Narren, die ihre Zuhörer für Narren hielten.

Herr: Wie wäre es, wenn du, um dich für das lange Stillschweigen zu entschädigen, das du in den zwölf Jahren des Knebels und während unsere Wirtin schwatzte hast beobachten müssen ...

Jakob: ... wenn ich meine Liebesgeschichte wieder aufnähme?

Herr: Nein, sondern eine andere Geschichte, die du mir schuldig geblieben bist: die Geschichte des Kameraden deines Hauptmanns.

Jakob: O Herr, was haben Sie für ein grausames Gedächtnis!

Herr: Mein Jakob! Mein kleines Jaköbchen!

Jakob: Worüber lachen Sie?

Herr: Über etwas, worüber ich noch manchmal lachen werde. Ich sehe dich in deiner Kindheit, wie du bei deinem Großvater mit dem Knebel im Munde herumliefst.

[125] Jakob: Meine Großmutter befreite mich manchmal von ihm, wenn niemand zugegen war; aber sobald es mein Großvater sah, war er sehr mißvergnügt darüber und sagte: ›Tue das nur öfter, und das Kind wird gewiß das unverschämteste Plaudermaul werden, das je gelebt hat.‹ Und seine Weissagung ist in Erfüllung gegangen.

Herr: Jakob! Liebes Jaköbchen! Erzähle mir also die Geschichte vom Kameraden deines Hauptmanns!

Jakob: Ich will es gern tun, aber Sie werden sie nicht glauben wollen.

Herr: Also ist sie wohl sehr wunderbar?

Jakob: Nein, denn sie ist schon einer anderen Person begegnet, einem französischen Offizier, der, glaube ich, Herr von Guerchy heißt.

Herr: Nun gut, so werde ich sagen, was jener französische Dichter, der ein ziemlich gutes Epigramm gemacht hatte, zu einem andern sagte, der es sich in seiner Gegenwart zueignete: ›Warum sollte der Herr es nicht gemacht haben? Habe ich es doch gemacht.‹ – Warum sollte Jakobs Geschichte nicht dem Kameraden seines Hauptmanns begegnet sein? Ist sie doch dem französischen Offizier von Guerchy begegnet! Du wirst überdies durch deine Erzählung zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen; denn du wirst mir die Geschichte dieser beiden Personen erzählen, die mir gänzlich unbekannt ist.

Jakob: Desto besser! Aber versichern Sie mir das mit einem Eid!

Herr: Ich schwöre es dir!

Leser! Ich wäre sehr in Versuchung, denselben Schwur von dir zu fordern; allein ich will dich nur auf eine Sonderheit in Jakobs Charakter aufmerksam machen, die ihm wahrscheinlich von seinem Großvater Jason, dem schweigsamen Trödler, vererbt war, nämlich: Jakob war ganz das Widerspiel von einem Schwätzer, denn obwohl er gern viel redete, haßte er nichts mehr als Wiederholungen; deswegen pflegte er auch öfters zu seinem Herrn zu sagen: »Herr! Ich ahne eine traurige Zukunft für mich; denn was werden Sie mit mir machen, wenn ich nichts mehr zu erzählen habe?«

[126] »Du fängst dann von vorn an.«

»Jakob von vorn anfangen? Das Gegenteil steht dort oben geschrieben; und sollte es sich ja zutragen, daß ich wieder von vorn anfinge, so würde ich mich nicht enthalten können, auszurufen: ›Ach, wenn dein Großvater dich hörte ...‹, und ich würde wünschen, den Knebel noch im Munde zu haben.«

Jakob: Zur Zeit, als noch auf den Messen von Saint-Germain und Saint-Laurent Hasardspiele gespielt wurden ...

Herr: Aber das ist ja in Paris, und der Kamerad deines Hauptmanns war Kommandant eines Grenzplatzes!

Jakob: Bei Gott, Herr, lassen Sie mich reden! ...gingen einige Offiziere in eine Bude und trafen da einen anderen Offizier an, der sich mit der Besitzerin unterhielt. Einer von ihnen schlug ihm vor, um den besten Pasch zu würfeln ... Denn Sie müssen wissen, daß nach dem Tode meines Hauptmanns sein Kamerad ein reicher Mann und Spieler geworden war. Er also oder der Herr von Guerchy ging auf den Vorschlag ein. Durchs Los war der erste Wurf an seinen Gegner gekommen. Dieser nimmt die Würfel, gewinnt, gewinnt und gewinnt wieder. Das Gewinnen wollte kein Ende nehmen. Die Spieler waren hitzig geworden, und man hatte Bank, dann die kleine Hälfte, dann die große Hälfte, dann wieder Bank gehalten, bis endlich einem von den Umstehenden einfiel, zu dem Herrn von Guerchy oder zum Kameraden meines Hauptmanns zu sagen, er würde wohl tun, wenn er es dabei bewenden ließe und zu spielen aufhörte; denn man verstände das Ding besser als er. Durch diese Rede, die eigentlich ein bloßer Scherz war, kam der Kamerad meines Hauptmanns oder der Herr von Guerchy auf den Gedanken, er habe es mit einem Falschspieler zu tun. Er fuhr unvermerkt mit der Hand in die Tasche, zog ein recht spitziges Messer heraus, und als sein Gegner nach den Würfeln griff, um sie in den Becher zu werfen, stieß er ihm das Messer durch die Hand und nagelte sie ihm an den Tisch. ›Sind die Würfel falsch,‹ rief er, ›so sind Sie ein Betrüger, sind sie richtig, so habe ich unrecht.‹ Die Würfel wurden richtig befunden. [127] ›Der Vorgang tut mir sehr leid,‹ sagte der Herr von Guerchy, ›und ich bin zu jeder Genugtuung erbötig, die man von mir verlangen wird.‹ Aber so drückte sich der Kamerad meines Hauptmanns nicht aus. Er sagte: ›Ich habe mein Geld verloren; ich habe einem wackern Mann die Hand durchstochen; aber ich habe dafür das Vergnügen erkauft, mich so lange schlagen zu können, wie es mir beliebt.‹ Der angespießte Offizier ging fort und ließ sich verbinden. Als seine Wunde geheilt war, suchte er den Offizier auf, der so fertig im Händeannageln war, und verlangte Genugtuung von ihm. Dieser oder der Herr von Guerchy fand das Verlangen höchst billig; hingegen der Kamerad meines Hauptmanns fiel ihm um den Hals und rief: ›Ich erwartete Sie schon lange mit einer Ungeduld, die ich Ihnen nicht beschreiben kann.‹ Sie begaben sich auf den Kampfplatz. Der Annagler, Herr von Guerchy oder der Kamerad meines Hauptmanns, bekam einen tüchtigen Stich durch den Leib; der Angenagelte hob ihn auf, ließ ihn nach Hause schaffen und flüsterte ihm beim Abschiede zu: ›Mein Herr, wir werden uns wiedersehen!‹ Herr von Guerchy antwortete nichts; der Kamerad meines Hauptmanns hingegen gab zur Antwort: ›Mein Herr, ich rechne darauf.‹ Sie schlugen sich zum zweiten, zum dritten, bis zum achten oder zehnten Male, und immer blieb der Annagler auf dem Platz. Alle beide waren Offiziere von ausgezeichneten Verdiensten. Ihr Handel erregte Aufsehen. Das Kriegsministerium mischte sich darein; man behielt den einen in Paris und befahl dem andern, seinen Posten nicht zu verlassen. Herr von Guerchy unterwarf sich den Befehlen der Behörde, der Kamerad meines Hauptmanns hingegen war untröstlich. Und das ist der Unterschied zwischen zwei von Natur aus gleich tapferen Männern, von denen der eine indes vernünftig war, der andere jedoch einen kleinen Sparren hatte.

Bis hierher sind die Geschichten des Herrn von Guerchy und des Kameraden meines Hauptmanns vollkommen ähnlich; und deswegen, verstehen Sie mich wohl, gnädiger Herr, habe ich sie auch immer beide zugleich genannt; aber jetzt weicht [128] ihre Geschichte voneinander ab, und jetzt ist die Rede bloß von dem Kameraden meines Hauptmanns, und was ich erzählen werde, betrifft bloß ihn. Ach, Herr! Hier werden Sie sehen, wie wenig wir Meister unseres Schicksals sind und wie manche höchst sonderbaren Dinge in dem großen Buche dort oben stehen.

Der Kamerad meines Hauptmanns oder der Anspießer bat um Urlaub zu einer Reise nach seiner Heimat und erhielt ihn. Sein Weg führte ihn durch Paris. Er saß in der öffentlichen Postkutsche. Um drei Uhr des Morgens fuhr die Kutsche beim Opernhaus vorbei, als eben der Ball zu Ende war. Drei oder vier junge maskierte Windbeutel, die vom Ball kamen, beschlossen, sich auf die Kutsche zu setzen und mit den Passagieren bis zum Orte des Frühstücks zu fahren. Mit Anbruch des Tages langte man da an, wo die Kutsche gewöhnlich zum Frühstück Halt zu machen pflegt. Man betrachtete einander nun genauer, und der Angespießte war sehr verwundert, hier seinen Anspießer zu finden. Dieser reichte ihm die Hand, umarmte ihn und bezeigte ihm sein Entzücken über einen so glücklichen Zufall. Sie begaben sich augenblicklich hinter eine Scheune und zogen die Degen: der eine im Reiseüberrock, der andere im Domino. Den Anspießer oder den Kameraden meines Hauptmanns traf von neuem das Los, auf den Boden gestreckt zu werden. Sein Gegner schickte ihm Beistand, setzte sich mit seinen Ballfreunden und den übrigen Passagieren zu Tisch und aß und trank und war lustig und guter Dinge.

Die Passagiere waren eben im Begriff, ihre Reise fortzusetzen, und die Ballherren, im Domino und auf Postpferden den Rückweg nach der Hauptstadt anzutreten, als die Wirtin ins Zimmer trat und der Erzählung Jakobs ein Ende machte.

Sie ist nun wieder im Zimmer, Leser, und jetzt, ich sage es dir zum voraus, steht es nicht mehr in meiner Macht, sie fortzuschicken.

›Und warum nicht?‹

Weil sie zwei Flaschen Champagner mitgebracht hat und weil [129] dort oben geschrieben steht, daß jeder Redner, der mit einem solchen Exordium in der Hand vor Jakob erscheint, gewiß darauf rechnen darf, bei ihm Gehör zu finden.

Sie kam also herein, setzte ihre beiden Flaschen auf den Tisch und sagte: »Kommen Sie, Herr Jakob, wir wollen Frieden machen.«

Die Wirtin war nicht mehr in der ersten Blüte ihrer Jugend; sie war eine große, wohlbeleibte Frau, flink, von angenehmen Zügen, fleischig, ihr Mund ein wenig groß, aber ihre Zähne schön, die Backen voll, die Augen mit der viereckigen Stirn gleichstehend, die Haut blütenrein, der Ausdruck offen, lebhaft und lustig. Sie hatte etwas starke Arme, aber herrliche Hände; Hände – wie geschaffen zum Malen oder Modellieren. Jakob faßte sie um den Leib, umarmte sie und drückte sie fest an sich. Nie hatte sein Groll gegen Wein und eine hübsche Frau Stich gehalten. So stand es von ihm dort oben geschrieben, auch von dir, Leser, von mir und noch von manchem andern.

»Mein Herr,« sagte die Wirtin zu Jakobs Herrn, »wollen Sie uns so ganz allein trinken lassen? Sehen Sie, und wenn Sie noch hundert Meilen zurückzulegen hätten, so würden Sie doch auf der ganzen Strecke keinen besseren Wein trinken.«

Indem sie das sagte, faßte sie eine von den Bouteillen zwischen ihre beiden Kniee, zog den Stöpsel heraus und wußte mit einer so eigenen Geschicklichkeit die Öffnung des Halses mit dem Daumen zuzuhalten, daß auch nicht ein Tropfen Wein hindurchkonnte. »Geschwind, geschwind,« rief sie, »Herr Jakob! Ihr Glas!«

Jakob hielt hurtig sein Glas hin; die Wirtin öffnete den Daumen ein wenig seitwärts, gab der Flasche Luft, und schon war Jakobs Gesicht über und über mit Schaum bespritzt. Jakob hatte diese kleine Schalkheit erwartet, und die Wirtin und Jakob und sein Herr lachten alle drei recht herzlich darüber. Man leerte nun einige Gläser geschwind hintereinander aus, um der Flasche alle Kraft zu weiterem Unheil zu benehmen. »Gott sei gedankt!« sagte die Wirtin. »Sie liegen alle in ihren [130] Betten; ich muß nicht mehr befürchten, unterbrochen zu werden, und kann getrost meine Erzählung anfangen.«

Jakob, der sie mit Augen ansah, deren natürliches Feuer der Champagner noch erhöht hatte, sagte zu ihr oder zu seinem Herrn: »Unsere Frau Wirtin ist schön wie ein Engel gewesen, was meinen Sie, gnädiger Herr?«

Herr: Gewesen? Donnerwetter, Jakob! Sie ist es noch!

Jakob: Herr, Sie haben recht. Das macht, ich vergleiche sie nicht mit anderen Personen ihres Geschlechts, sondern mit sich selbst, als sie noch jung war.

Wirtin: Jetzt will es nicht mehr viel mit mir bedeuten; aber als man mich noch mit den zwei ersten Fingern von jeder Hand umspannen konnte, da hätten Sie mich sehen sollen! Man machte wohl einen Umweg von vier Meilen, um bei mir zu übernachten; ich habe manchen guten und manchen schlechten Kopf schwindlig gemacht. Doch wir wollen das gut sein lassen und wieder auf Frau von Pommeraye kommen.

Jakob: Vorher, dächte ich, tränken wir einmal auf die schlechten Köpfe, die Sie verdreht haben; das heißt: auf meine Gesundheit.

Wirtin: Recht gern; es gab manche darunter, die wohl der Mühe verlohnten, den Ihrigen un- oder mitgerechnet. Wissen Sie wohl, daß ich ganze zehn Jahre in allem Guten und allen Ehren die Nothilfe aller Herren Offiziere gewesen bin? Ich habe gar vielen ausgeholfen, denen es recht schwergefallen wäre, ins Feld zu ziehen, wenn ich nicht gewesen wäre. Das waren brave Leute. Ich hatte weder über sie noch sie über mich zu klagen. Nie habe ich mir etwas Schriftliches von ihnen geben lassen. Ich mußte manchesmal warten, aber nach Verlauf von zwei, drei, vier Jahren habe ich mein Geld immer redlich wiederbekommen.

Und nun zählte sie eine ganze Menge Namen von Offizieren her, die ihr die Ehre angetan hatten, von ihr Geld zu borgen. Ein Herr Oberst Soundso vom Regiment N.N., ein Herr Hauptmann Soundso vom Regiment N.N.

Bei Nennung dieses Namens stieß Jakob einen lauten Schrei [131] aus: »Mein Hauptmann! Mein armer Hauptmann! Sie haben ihn gekannt?«

Wirtin: Und ob ich ihn gekannt habe! Ein großer, wohlgebildeter Mann, etwas hager, aber von einem edlen und ernsthaften Anstand, von straffer Haltung, zwei kleine rote Flecken an der rechten Schläfe ... Sie haben also gedient, Herr Jakob?

Jakob: Und ob ich gedient habe!

Wirtin: Ich bin Ihnen nun noch einmal so gut. Sicher haben Sie sich allerhand gute Eigenschaften aus Ihrem früheren Stand bewahrt. Wir wollen auf die Gesundheit Ihres Herrn Hauptmanns trinken.

Jakob: Wenn er noch am Leben ist.

Wirtin: Tot oder lebendig, was tut das? Ist denn ein Offizier nicht dazu da, totgeschossen zu werden? Muß es ihn nach fünf oder sechs Schlachten und neun oder zehn Belagerungen nicht bis zum Tollwerden ärgern, wenn er unter dieser Kanaille von Schwarzröcken sterben muß? – Doch wir wollen wieder auf unsere Geschichte kommen und noch eins trinken.

Herr: Wahrhaftig, Frau Wirtin, Sie haben recht.

Jakob: Es freut mich, daß Sie auch so denken.

Herr: Denn Ihr Wein ist vortrefflich.

Wirtin: Ach, Sie meinten meinen Wein? Ja, da haben Sie wieder recht. Erinnern Sie sich noch, wo wir stehengeblieben sind?

Herr: Ja, beim Schluß des treulosesten aller Geständnisse.

Wirtin: Der Marquis des Arcis und Frau von Pommeraye umarmten sich, ganz entzückt voneinander, und nahmen Abschied. Je größer der Zwang gewesen war, den die Dame sich in seiner Gegenwart angetan hatte, desto heftiger brach ihr Schmerz aus, als er weg war. ›Also ist es nur allzu wahr,‹ rief sie, ›er liebt mich nicht mehr!‹

Doch ich will nicht alle die Torheiten einzeln erzählen, denen wir Weiber uns zu überlassen pflegen, wenn man uns sitzenläßt. Sie würden mir darüber zu eitel werden, meine Herren. [132] Ich habe Ihnen schon gesagt, daß diese Dame viel Stolz hatte; aber sie war noch in weit höherem Grade rachsüchtig. Als die ersten Wutausbrüche vorüber waren und sie in aller Ruhe über den erlittenen Schimpf gebrütet hatte, beschloß sie, sich zu rächen; aber auf eine grausame Art, auf eine Art, die ein Schreckbild für alle Männer werden sollte, welche sich in Zukunft wieder gelüsten lassen würden, eine ehrliche Frau zu verführen und zu betrügen. Sie hat Wort gehalten und sich grausam gerächt; ihre Rache hat großes Aufsehen gemacht, aber niemanden gebessert. Wir Weiber sind seitdem deswegen doch ebenso abscheulich verführt und betrogen worden wie vorher.

Jakob: Vielleicht andere, aber Sie gewiß nicht, Frau Wirtin.

Wirtin: Leider! Ich zuallererst. Ach, wie sind wir einfältig! Ich ließe es noch gelten, wenn die garstigen Männer bei dem Wechsel gewönnen. Doch das gehört nicht hierher. Aber wie wird Frau von Pommeraye es wohl anfangen? Sie weiß es selbst noch nicht; sie will es überlegen; sie sinnt darüber nach.

Jakob: Wie wäre es, wenn wir, während sie nachsinnt ...

Wirtin: Ein guter Einfall. Aber die beiden Flaschen sind leer. (Johann! – »Madame!« – Noch zwei Flaschen von dem Wein, der ganz hinten im Keller hinter den Reisigbündeln liegt! – »Ich verstehe schon.«) Indem sie so darüber nachsann, kam sie auf folgenden Einfall. Sie war ehedem mit einer gewissen Frau aus der Provinz bekannt gewesen, die um eines Prozesses willen mit ihrer Tochter, einem jungen, schönen und wohlerzogenen Mädchen, nach Paris hatte reisen müssen. Sie hatte nachher erfahren, daß diese Frau durch den Verlust ihres Prozesses gänzlich zugrunde gerichtet und gezwungen worden sei, ein Spielhaus zu halten. Man kam bei ihr zusammen; man spielte, man soupierte bei ihr, und gewöhnlich blieben einer oder zwei von den Gästen und brachten den Rest der Nacht bei der Mutter oder Tochter zu, je nachdem es ihnen beliebte. Frau von Pommeraye gab einem von ihren Leuten den Auftrag, diese Frauenzimmer ausfindig zu machen. Man spürte [133] sie aus und lud sie auf einen Besuch zur Frau von Pommeraye ein, deren sie sich kaum mehr erinnerten. Die beiden Frauen, welche den Namen Madame und Mademoiselle d'Aisnon angenommen hatten, ließen nicht lange auf sich warten. Gleich den folgenden Tag verfügte sich die Mutter zur Frau von Pommeraye. Nachdem die ersten Komplimente gewechselt waren, fragte letztere die d'Aisnon, was sie seit dem Verlust ihres Prozesses angefangen habe und noch treibe.

›Um offen und ehrlich zu sein,‹ antwortete die d'Aisnon, ›ich treibe ein Gewerbe, das gefährlich, schimpflich, wenig einträglich und mir im höchsten Grade zuwider ist; aber Not kennt kein Gebot! Ich war schon halb und halb entschlossen, meine Tochter bei der Oper anzubringen; aber sie hat nur eine schwache Stimme, die höchstens ein Zimmer ausfüllt, und ist leider immer nur eine mittelmäßige Tänzerin gewesen. Ich habe sie während meines Prozesses und auch nachher bei Personen von der Justiz, bei Vornehmen, bei Prälaten, bei Finanzleuten herumgeführt; aber die Herren gaben sich nur eine gewisse Zeit mit ihr ab und ließen sie mir schließlich sitzen, nicht etwa, als ob sie nicht schön wie ein Engel wäre, als ob sie nicht Feinheit und Geschmack besäße, aber es fehlt ihr an dem eigentlichen Sinn für die Libertinage, und sie ist ganz unbewandert in dem Talent, das erloschene Feuer junger Greise wieder anzufachen. Doch was uns am meisten geschadet hat – sie vergaffte sich in einen jungen Abbé von Stand, einen gottlosen, ungläubigen, scheinheiligen und antiphilosophischen Menschen. Ich will Ihnen seinen Namen nicht nennen, es ist aber der letzte unter denen, die, um zur Bischofswürde zu gelangen, den Weg eingeschlagen haben, welcher der sicherste ist und zugleich die geringsten Fähigkeiten erfordert. Ich weiß nicht, was er meiner Tochter vormachte, der er jeden Morgen die Satiren und Poesien, die er bei der Tafel vortragen wollte, im Manuskript vorlesen kam. Wird er Bischof werden, oder wird er es nicht werden? Zum Glück überwarfen sie sich. Meine Tochter fragte ihn einmal, ob er die Leute kenne, gegen welche er schreibe? Der Abbé beantwortete [134] das mit einem Nein. Ob er andere Gesinnungen habe als die, welche er lächerlich zu machen suche? Der Abbé verneinte das gleichfalls. Nun ließ sich meine Tochter von ihrem Eifer hinreißen und sagte ihm geradezu ins Gesicht, er spiele eine höchst boshafte und zweideutige Rolle.‹

›Sind Sie sehr bekannt hier?‹ fragte Frau von Pommeraye.

›Leider nur zu sehr.‹

›Wie ich merke, scheinen Sie wenig Freude an Ihrer Lage zu haben.‹

›Gar keine, und meine Tochter wiederholt mir täglich, daß sie den allerelendsten Zustand von der Welt ihrer gegenwärtigen Lage vorziehen würde. Das macht sie so schwermütig, daß sie darüber vollends alle Kunden von sich scheucht.‹

›Wenn ich mir vornähme, Ihnen beiden zu einem sehr glänzenden Schicksal zu verhelfen, würden Sie Ihre Einwilligung dazu geben?‹

›O gewiß, von Herzen ...‹

›Aber es kommt darauf an, ob Sie mir auch versprechen können, allen Vorschriften, die ich Ihnen geben werde, auf das strengste zu folgen.‹

›Darauf können Sie sich verlassen, wie hart sie auch sein mögen.‹

›Und Sie werden immer zu meinen Diensten stehen, sobald ich es verlange?‹

›Wir werden Ihre Befehle mit Ungeduld erwarten.‹

›Das ist für jetzt genug. Gehen Sie wieder nach Hause, und Sie sollen bald hören, was ich mit Ihnen vorhabe. Einstweilen verkaufen Sie Ihre Möbel, alles, was Sie besitzen, ja selbst die von Ihren Kleidern, die zu sehr ins Auge fallen; denn das würde nicht in meine Pläne passen.‹

Jakob fing an, Geschmack an der Geschichte zu finden, und sagte zu der Wirtin: »Wie wäre es, wenn wir auf die Gesundheit der Frau von Pommeraye anstießen?«

Wirtin: Recht gern.

Jakob: Und der Madame d'Aisnon?

Wirtin: Topp!

[135] Jakob: Auch dürfen wir Mamsell d'Aisnon nicht vergessen, die eine so hübsche Kammerstimme, so wenig Talent zum Tanzen und eine Melancholie hat, die sie in die traurige Notwendigkeit versetzt, alle Abende mit einem anderen Galan zu Bett zu gehen.

Wirtin: Spotten Sie nicht, Monsieur Jakob, es ist das Härteste, was man sich denken kann. Ach, wenn Sie wüßten, was das für eine Marter ist, einen Menschen, den man nicht liebt ...

Jakob: Auf die Gesundheit der Mademoiselle d'Aisnon, weil sie eine solche Märtyrerin ist!

Wirtin: Gut denn.

Jakob: Frau Wirtin, lieben Sie Ihren Mann?

Wirtin: Nicht sonderlich.

Jakob: So beklage ich Sie sehr; denn er scheint mir eine treffliche Gesundheit zu haben.

Wirtin: Nicht alles ist Gold, was glänzt.

Jakob: Auf die treffliche Gesundheit unseres Herrn Wirts!

Wirtin: Darauf können Sie allein trinken.

Herr: Jakob! Jakob! Mein Freund, du trinkst zu hitzig!

Wirtin: Seien Sie unbesorgt, Herr, der Wein ist echt; und morgen werden keine Nachwehen kommen.

Jakob: Deswegen und weil ich heute abend nicht eben viel Wert auf meinen Verstand lege, so werden mir mein Herr und die schöne Frau Wirtin erlauben, daß ich noch eine Gesundheit ausbringe, die mir sehr am Herzen liegt; also: auf den Herrn Abbé der Mademoiselle d'Aisnon!

Wirtin: Pfui doch, Musje Jakob! So ein Heuchler, so ein Streber, so ein Ignorant, so ein Verleumder, so ein intoleranter Mensch! Denn so, glaub ich, heißt man die Leute, welche gern jedem den Hals umdrehen möchten, der nicht denkt wie sie.

Herr: Ja, Frau Wirtin! Sie wissen nicht, daß unser Jakob hier auch eine Art Philosoph ist und daß er große Stücke auf alle die kleinen Einfaltspinsel hält, die sich selbst und die Sache schänden, die sie so schlecht verfechten. Er behauptet, sein Hauptmann habe sie das Gegengift der Huets, der Nicoles, [136] der Bossuets genannt. Was er darunter verstand, wußte er ebensowenig wie Sie oder ich. – Ist Ihr Mann schon zu Bett?

Wirtin: Schon lange.

Herr: Und er läßt Sie so mit Ihren Gästen allein?

Wirtin: Unsere Männer sind das schon gewohnt. – Frau von Pommeraye stieg in ihren Wagen, fuhr in die Vorstadt, welche ihr von der jetzigen Wohnung der d'Aisnon am entlegensten schien, mietete dort eine kleine Wohnung in einem ehrbaren Bürgerhause nahe bei der Pfarrkirche, ließ sie so einfach als möglich möblieren, bat die d'Aisnon und ihre Tochter mittags zu sich zum Essen und ließ sie noch diesen Tag oder einige Tage darauf ihre neue Wohnung beziehen. Zu gleicher Zeit händigte sie ihnen genaue Vorschriften ein, wie sie sich nunmehr zu verhalten hätten.

Jakob: Frau Wirtin, wir hätten fast die Gesundheiten der Frau von Pommeraye und des Herrn des Arcis vergessen. Das wäre nicht artig gewesen.

Wirtin: Nur zu, nur zu, Monsieur Jakob, es ist noch Vorrat genug im Keller! – Die vorgeschriebenen Lebensregeln, soweit ich mich ihrer noch erinnern kann, waren folgende:

›Sie besuchen keinen öffentlichen Spaziergang mehr, denn Sie dürfen durchaus nicht erkannt oder entdeckt werden.

Sie nehmen keine Besuche, selbst nicht von Ihren Nachbarn und Nachbarinnen an; denn sie müssen die allergrößte Eingezogenheit affektieren.

Gleich morgen müssen Sie anfangen, sich nach Art der Betschwestern zu kleiden; denn für dergleichen Personen müssen Sie gehalten werden.

Zu Hause müssen Sie nichts als fromme Bücher liegen haben; denn es darf nichts um Sie und an Ihnen sein, was Sie verraten könnte.

In die Kirche müssen Sie an Fest- und Werktagen so fleißig wie möglich gehen.

Suchen Sie es dahin zu bringen, daß Sie sich in dem Sprechzimmer dieses oder jenes Klosters Zutritt verschaffen. Was [137] die Klausnerinnen von Ihnen schwatzen, kann für unseren Plan von Nutzen sein.

Machen Sie genaue Bekanntschaft mit dem Pfarrer und den Geistlichen Ihres Kirchspiels; denn ich könnte vielleicht ihr Zeugnis nötig haben.

Sie empfangen aus Prinzip keinen von ihnen.

Zweimal wenigstens im Monat müssen Sie zur Beichte und zum Abendmahl gehen.

Ihren Familiennamen nehmen Sie wieder an, weil er ehrlich ist und man früher oder später über Sie Erkundigung in Ihrer Provinz einziehen wird.

Von Zeit zu Zeit teilen Sie einige kleine Almosen aus; Sie selbst aber nehmen keine milden Gaben an, unter welchem Vorwande sie Ihnen auch angeboten werden möchten; denn man soll Sie weder für reich noch für arm halten.

Nähen Sie, spinnen Sie, sticken und stricken Sie, und geben Sie Ihre Arbeiten den Spitalschwestern zum Verkauf. Leben Sie äußerst mäßig; zwei schmale Portionen aus einem Speisehause, dabei muß es sein Bewenden haben.

Ihre Tochter darf nie ohne Sie und Sie dürfen ebensowenig ohne Ihre Tochter ausgehen.

Überhaupt dürfen Sie kein Mittel vernachlässigen, wodurch Sie die Leute ohne viele Kosten erbauen können. Aber vor allen Dingen, ich wiederhole es Ihnen, dürfen weder Pfaffen noch Mönche, noch Betschwestern Ihre Schwelle betreten.

Wenn Sie auf der Straße gehen, so schlagen Sie die Augen fein sittsam nieder, und in der Kirche dürfen Sie nichts sehen als Gott.

Ich gebe gern zu, daß ein Leben wie dieses sehr streng und klösterlich ist; aber es wird nicht lange dauern, und ich verspreche Ihnen die glänzendste Belohnung dafür. Überlegen Sie es, gehen Sie mit sich zu Rate. Sollten Sie glauben, daß solcher Zwang Ihre Kräfte übersteige, so gestehen Sie es frei; es wird mich weder beleidigen noch befremden. Ich vergaß noch, Ihnen zu empfehlen, daß es gut wäre, wenn Sie sich einen frommen Jargon angewöhnten und in den Geschichten [138] des Alten und Neuen Testaments bewandert zu werden suchten, damit man Sie für Betschwestern halten kann, die es nicht erst seit gestern sind.

Werden Sie Jansenistinnen oder Molinistinnen, wie es Ihnen beliebt; doch wäre mein Rat, Sie bekennten sich zu der Ansicht Ihres Herrn Pfarrers. Vor allem ermangeln Sie nicht, bei jeder Gelegenheit die Kreuz und die Quere Ihren Groll gegen alles, was Philosoph heißt, auszulassen. Schreien Sie über Voltaire als über den leibhaftigen Antichrist; lernen Sie das Werk Ihres Herrn Abbé auswendig, und tragen Sie es im Notfall sogar zum Verkauf herum ...‹ – ›In Ihrem Hause werde ich Sie nicht sehen,‹ setzte Frau von Pommeraye hinzu, ›denn wie wäre ich würdig, mit solchen heiligen Personen umzugehen? Doch seien Sie deswegen unbesorgt; Sie sollen mich manchmal heimlich und im stillen besuchen, und wir wollen uns unter sechs Augen für Ihre bußfertige Lebensdiät schadlos halten. Nur daß Sie mir nicht über dem Frommtun etwa im Ernst fromm werden! Was die Bestreitung Ihrer kleinen Wirtschaft betrifft, so ist das meine Sorge. Gelingt mein Projekt, so haben Sie mich nicht weiter nötig, schlägt es fehl, ohne daß Sie daran schuld sind, so bin ich reich genug, Ihnen ein erträglicheres und anständigeres Los zu verschaffen, als das war, welches Sie mir aufgeopfert haben. Aber vor allen Dingen: Unterwerfung, blinde, unbeschränkte Unterwerfung unter meine Befehle, oder ich kann Ihnen weder für jetzt noch für die Zukunft stehen!‹

Herr (indem er auf seine Dose schlägt und nach der Uhr sieht): Das ist ein Weiberkopf! Gott soll mich behüten, je einen ähnlichen anzutreffen!

Wirtin: Geduld! Geduld! Sie kennen ihn noch nicht.

Jakob: Schöne, allerliebste Frau Wirtin! Wenn wir vorher ein Wörtchen mit unserer Flasche sprächen!

Wirtin: Herr Jakob, mein Champagner verschönert mich in Ihren Augen.

Herr: Ich habe schon lange eine Frage auf dem Herzen, die freilich sehr unbescheiden ist, die ich aber unmöglich länger zurückhalten kann.

[139] Wirtin: Und die ist?

Herr: Ich bin überzeugt, Sie sind nicht in einem Gasthofe geboren ...

Wirtin: Das ist wahr.

Herr: ... sondern Sie sind aus einem höheren Stande durch außerordentliche Umstände in Ihren gegenwärtigen versetzt worden.

Wirtin: Sie haben es getroffen.

Herr: Wie wäre es, wenn wir einen Augenblick die Geschichte der Frau von Pommeraye beiseite ließen und ...

Wirtin: Das geht nicht an. Ich erzähle zwar gern die Geschichten anderer Leute, aber nie meine eigene. Das will ich Ihnen jedoch sagen, daß ich in Saint-Cyr erzogen worden bin, wo ich wenig in der Bibel und desto mehr in Romanen gelesen habe. Von der königlichen Abtei bis zu dem Gasthof, den ich jetzt führe, ist es weit.

Herr: Genug, tun Sie, als ob ich nicht gefragt hätte!

Wirtin: Während unsere beiden Betschwestern alle Welt erbauten und der gute Geruch ihrer Frömmigkeit und ihrer heiligen Sitten sich ringsum verbreitete, beobachtete Frau von Pommeraye gegen den Marquis die äußeren Formen vollkommenster Hochachtung, Freundschaft und Vertraulichkeit. Er war immer willkommen, nie zankte oder schmollte sie mit ihm, wenn er auch noch so lange ausgeblieben war. Er erzählte ihr alle seine kleinen verliebten Abenteuer, und sie schien sich recht herzlich daran zu belustigen. Sie stand ihm sogar mit gutem Rate bei, wenn irgendeine Liebschaft ihm nicht nach Wunsch glücken wollte. Zuweilen ließ sie sogar ein Wort von Heirat fallen; aber das alles in einem so uninteressierten Tone, daß einem unmöglich der Verdacht kommen konnte, als denke sie dabei an sich. Sagte ihr der Marquis etwas Artiges oder Galantes, wovon man sich einer Frau gegenüber, die man so gut gekannt hat, nie ganz dispensieren kann, so lächelte sie entweder darüber, oder sie tat, als ob sie es gar nicht gemerkt hätte. Wenn man ihr glauben durfte, war ihr Herz ganz ruhig; sie sagte, nie hätte sie es für möglich gehalten, daß ein [140] Freund wie er zur Glückseligkeit ihres Lebens hinreiche, auch seien die ersten Jahre der Jugend längst bei ihr vorüber und ihre Leidenschaft gänzlich verschäumt.

›Wie? Sie haben mir nicht das geringste anzuvertrauen?‹

›Nein.‹

›Aber, liebe Freundin, der junge Graf, der Sie zu der Zeit, als ich noch bei Ihnen obenauf war, so heftig bestürmte?‹

›Ich habe ihm mein Haus verboten und sehe ihn nicht mehr.‹

›Aber, nehmen Sie mirs nicht übel, das ist ein wenig wunderlich. Und warum das?‹

›Weil er mir zuwider war.‹

›Ach, gnädige Frau, ich glaube Ihren Beweggrund zu erraten: Sie lieben mich noch.‹

›Das könnte wohl sein.‹

›Sie rechnen auf einen Rückfall von meiner Seite.‹

›Sollte ich das nicht?‹

›Sie wollen, daß man Ihrem Betragen während der Zeit meiner Flatterhaftigkeit nicht den geringsten Vorwurf machen soll.‹

›Getroffen!‹

›Und sollte ich so glücklich oder unglücklich sein, mich zu bekehren, so würden Sie sich ohne Zweifel ein Verdienst daraus machen, über mein voriges Unrecht das tiefste Stillschweigen zu beobachten.‹

›Sie haben eine große Meinung von meiner Delikatesse und Großmut.‹

›Oh, liebe Freundin, nach dem, was Sie bereits für mich getan haben, traue ich Ihnen jede Art Heroismus zu.‹

›Ich bin gar nicht böse darüber, daß Sie so von mir denken.‹

›Auf Ehre, gnädige Frau! Ich laufe bei Ihnen die größte Gefahr, das weiß ich.‹

Jakob: Und ich auch.

Wirtin: Drei Monate ungefähr standen sie bereits auf diesem Fuße, als Frau von Pommeraye endlich glaubte, daß es Zeit sei, ihr Triebwerk in Gang zu setzen. An einem schönen Sommertage, da sie den Marquis mittags bei sich zu Tische erwartete, [141] ließ sie der d'Aisnon und ihrer Tochter sagen, sie möchten sich in den Königlichen Botanischen Garten begeben. Der Marquis stellte sich ein; man setzte sich frühzeitig zu Tisch und aß und aß mit munterer Laune; nach Tisch schlug Frau von Pommeraye dem Marquis einen Spaziergang vor, wenn er nichts Besseres zu tun wüßte. Es traf sich gerade, daß an ebendem Tage weder Schauspiel noch Oper war. Der Marquis machte selbst diese Bemerkung, und um sich für ein angenehmes Schauspiel durch ein nützliches zu entschädigen, tat er zufällig selbst der Marquise den Vorschlag, das Königliche Naturalienkabinett zu besehen. Sie können leicht denken, daß die Dame nichts dagegen einzuwenden hatte. Man ließ also anspannen, fuhr nach dem Garten und mischte sich unter die Menge, betrachtete wie sie alles und sah wie sie nichts.

Doch, lieber Leser! ich hatte vergessen, dir die Stellung der drei redenden Personen, Jakobs, seines Herrn und der Wirtin, zu malen. Du hast sie also zwar reden hören, aber sie nicht vor dir gesehen. Es war ein Fehler von meiner Seite; indes besser spät als niemals. Der Herr in der Nachtmütze und im Schlafrock hatte sich nachlässig zur Linken in einem großen Polsterstuhl ausgestreckt; sein Schnupftuch hing über dem einen Arm des Stuhls, und er hatte die Schnupftabaksdose in der Hand. Die Wirtin saß im Hintergrunde, der Tür gegenüber, unweit des Tisches, und hatte ihr Glas vor sich. Jakob, ohne Hut, befand sich zu ihrer Rechten, die beiden Ellbogen auf den Tisch gestützt und den Kopf zwischen zwei Champagnerflaschen gesenkt. Zwei andere leere Flaschen standen neben ihm auf dem Boden.

Wirtin: Als sie das Königliche Kabinett besehen hatten, machten der Marquis und seine gute Freundin einen Spaziergang im Garten. Sie schlugen die erste Allee zur Rechten unweit der Baumschule ein. Plötzlich stieß Frau von Pommeraye einen Ruf der Überraschung aus und sagte: ›Ich irre mich nicht, sie sind es wirklich.‹

Sie ließ alsbald den Arm des Marquis fahren und ging auf unsere beiden frommen Damen zu. Die junge d'Aisnon war in [142] ihrer einfachen Kleidung, welche die Blicke nicht auf sich zog und so die ganze Aufmerksamkeit auf die Person fixierte, zum Entzücken schön.

›Ach! Sind Sie es wirklich, Madame?‹

›Ja, ich bins.‹

›Und wie befinden Sie sich? Und wie ist es Ihnen seither gegangen? Ich habe Sie eine ganze Ewigkeit nicht gesehen.‹

›Sie wissen von unserm Unglück. Wir haben uns darein finden und so still und eingezogen leben müssen, wie es sich für unsere engen Verhältnisse schickt. Es ist am besten, sich aus der Welt zurückzuziehen, wenn man nicht mehr mit Anstand darin leben kann.‹

›Aber mich so ganz aufzugeben, mich, die auch nicht mehr zur großen Welt gehört und stets soviel Verstand gehabt hat, sie so abgeschmackt zu finden, wie sie in der Tat ist!‹

›Mißtrauen ist eine gewöhnliche Folge des Unglücks; Notleidende fürchten immer, zur Last zu fallen.‹

›Sie mir zur Last? Wissen Sie wohl, daß schon der bloße Verdacht für mich beleidigend ist?‹

›An mir lag die Schuld nicht, gnädige Frau! Wohl zehnmal habe ich die Mama an Sie erinnert, aber ich erhielt immer zur Antwort: »Frau von Pommeraye? Nein, meine Tochter, uns kennt kein Mensch mehr.«‹

›Wie ungerecht! Wir wollen uns setzen und ein wenig schwatzen. Dieser Herr ist der Marquis des Arcis, mein Freund, vor dem wir uns nicht im mindesten zu genieren brauchen. Ei, wie groß ist Mademoiselle geworden, seit wir uns nicht gesehen haben! Wie schön!‹

›Das Gute hat wenigstens unsere Lage, daß sie uns alles fernhält, was der Gesundheit schadet. Betrachten Sie einmal ihr Gesicht! Sehen Sie einmal ihre Arme! Das alles haben wir der mäßigen und geregelten Lebensart, dem Schlaf, der Arbeit und einem guten Gewissen zu verdanken; und das ist nichts Kleines.‹

Man setzte sich, man plauderte freundschaftlich zusammen. Die alte d'Aisnon sprach viel, die junge wenig, beide aber im [143] Ton frommer Demut, doch ohne Ziererei und Übertreibung. Lang ehe es zu dämmern anfing, schickten die beiden frommen Damen sich schon zum Aufbruch an. Man stellte ihnen vor, es wäre noch zu früh, aber die alte d'Aisnon flüsterte der Frau von Pommeraye ziemlich laut ins Ohr, daß sie noch eine Andachtsübung vorhätten und daß sie unmöglich länger bleiben könnten.

Sie hatten sich schon eine ziemliche Strecke voneinander entfernt, als es Frau von Pommeraye auf einmal einfiel, daß sie weder gefragt, wo sie wohnten, noch auch ihnen selbst ihre eigene Wohnung genannt hätte. ›Diesen Fehler‹, setzte sie hinzu, ›hätte ich früher nicht begangen.‹ Sogleich eilte der Marquis ihnen nach, um das Versehen wiedergutzumachen. Die Karte mit der Adresse der Frau von Pommeraye nahmen sie an; aber soviel Mühe der Marquis sich auch gab, so konnte er doch nicht von ihnen erfahren, wo sie selbst wohnten. Er wagte es nicht einmal, ihnen seinen Wagen anzubieten, wozu er sich, wie er Frau von Pommeraye gestand, versucht gefühlt habe.

Der Marquis versäumte nicht, sich bei der Marquise zu erkundigen, wer die beiden Frauen eigentlich wären. ›Zwei Geschöpfe, die gewiß weit glücklicher sind als wir. Welche blühende Gesundheit! Welche Heiterkeit auf ihrem Gesicht! Welche Unschuld und Sittsamkeit in ihren Reden! In unseren Zirkeln sieht man so etwas nicht, hört man so etwas nicht. Wir bedauern die Andächtigen, und die Andächtigen bedauern uns; und am Ende möchte ich wirklich fast glauben, daß sie recht haben.‹

›Ich will nicht hoffen, gnädige Frau, daß Sie selbst eine Betschwester werden wollen?‹

›Warum nicht?‹

›Sehen Sie sich vor! Ich wünschte nicht, daß unser Bruch, wenn man es einen Bruch nennen kann, Sie zu dieser Schwachheit verleitete.‹

›Sie sähen es also wohl lieber, wenn ich dem kleinen Grafen mein Haus wieder öffnete?‹

›Weit lieber.‹

[144] ›Und Sie würden es mir raten?‹

›Ohne Besinnen.‹

Frau von Pommeraye erzählte nun dem Marquis, was sie von dem Namen, der Heimat, dem früheren Stande und dem Prozesse der beiden Frauen wußte. Sie tat es mit soviel Wärme und Interesse, als ihr möglich war.

›Es sind zwei Frauen von seltenen Verdiensten,‹ fuhr sie fort, ›besonders die Tochter. Sie sehen leicht ein, daß bei einer Gestalt, wie dieses Mädchen sie hat, ihre Besitzerin in Paris nie Not leiden würde, sobald sie Lust bezeigte, davon Gebrauch zu machen; aber sie ziehen bescheidenes Leben in Ehrbarkeit einem schimpflichen Wohlstande vor. Sie haben indes so wenig aus dem Schiffbruch ihres Vermögens gerettet, daß es mir ein Rätsel ist, wie sie es anfangen zu leben. Aber das arbeitet Tag und Nacht. Armut ertragen, wenn man in Armut geboren und erzogen ist – das können tausend Menschen; aber vom Überfluß zum Mangel übergehen, sich darein schicken und überdies sein Glück darin finden – das ist es, was ich nicht begreifen kann.

Solche Wunder kann nur die Religion bewirken. Mögen unsere Philosophen schwatzen, was sie immer wollen, die Religion hat doch ihr Gutes.‹

›Ja, für Unglückliche.‹

›Und wer auf der Welt ist wohl ohne Unglück?‹

›Ich will des Todes sein, gnädige Frau, wenn Sie nicht noch eine Heilige werden!‹

›Das wäre wohl ein großes Unglück! Wie wenig bedeutet dieses Leben, wenn man es mit einer zukünftigen Ewigkeit vergleicht!‹

›Wahrhaftig, Sie reden schon wie ein Bußprediger.‹

›Ich rede wie eine Person, die von dem, was sie sagt, überzeugt ist. Antworten Sie mir einmal aufrichtig, lieber Marquis! Wie sehr würden alle Schätze dieser Erde vor unseren Augen zusammenschrumpfen, wenn uns die Freuden und Schrecken einer anderen Welt stets vor Augen ständen? Wer würde es wagen, ein junges Mädchen zu verführen oder eine Gattin von [145] der Seite ihres Gatten zu reißen, wenn ihm plötzlich der Gedanke vorschwebte: Du kannst in ihren Umarmungen sterben und dann ewig verdammt werden? Gestehen Sie selbst: Müßte man nicht von Sinnen sein, um sich dem auszusetzen?‹

›Und doch geschieht das täglich.‹

›Weil man keine Religion mehr hat; weil man sich betäubt.‹

›Nein, weil unsere religiösen Anschauungen wenig Einfluß auf unsere Sitten haben. Aber, liebe Freundin, ich schwöre darauf, Sie stürzen sich Hals über Kopf in den Beichtstuhl.‹

›Das wäre auch wirklich das Beste, was ich tun könnte.‹

›Ach, gehen Sie, Sie sind eine Närrin! Sie haben noch zwanzig angenehme Jahre reizender Sünden vor sich – nehmen Sie sie wahr! Nachher können Sie sie bereuen und, wenn Sie Lust dazu haben, zu Füßen Ihres Beichtvaters damit prahlen, in einem neuen Leben zu wandeln. – Aber unsere Unterredung hat eine sehr ernsthafte Wendung genommen. Ihre Einbildungskraft ist fürchterlich finster gestimmt, und das kommt alles von dem abscheulichen Klausnerleben her, in das Sie sich vergraben. Folgen Sie mir! Lassen Sie so bald wie möglich den kleinen Grafen wieder zu sich kommen; und dann stehe ich Ihnen dafür, daß Sie weder Teufel noch Hölle mehr sehen und wieder die heitre, liebenswürdige Frau werden sollen, die Sie vorher waren. Oder fürchten Sie vielleicht, daß ich Ihnen einen Vorwurf daraus machen möchte, wenn es je mit uns wieder auf den alten Fuß käme? Aber erstlich, wer weiß, ob das je geschieht – und Sie wollten sich aus einer wohl oder übel gegründeten Besorgnis um das süßeste Vergnügen bringen? In Wahrheit, die Ehre, es mir zuvorgetan zu haben, ist dieses Opfer nicht wert.‹

›Alles, was Sie sagen, ist sehr wahr, aber das ist es auch nicht, was mich abhält.‹

Sie sprachen noch mancherlei, woran ich mich aber nicht mehr erinnere.

Jakob: Frau Wirtin, wir wollen einmal trinken, das frischt das Gedächtnis auf!

Wirtin: Also, trinken wir! – Nachdem sie noch einmal in der [146] Allee auf und ab gegangen waren, stiegen Frau von Pommeraye und der Marquis wieder in den Wagen; Frau von Pommeraye sagte: ›Wie mich das alt macht! Als ich nach Paris kam, war das nicht größer als ein Krautstengel.‹

›Sie meinen die Tochter der Dame, die wir auf dem Spaziergange angetroffen haben?‹

›Ja. Das ist wie in einem Garten, wo die verwelkten Rosen den frischen Platz machen. Haben Sie sie wohl genau angesehen?‹

›Oh, daran habe ich es nicht fehlen lassen.‹

›Wie finden Sie sie?‹

›Es ist ein Madonnenkopf von Raffael auf dem Körper seiner Galatea, und dann eine Süßigkeit in der Stimme!‹

›Eine Bescheidenheit in ihrem Blick!‹

›Ein Anstand in ihren Manieren! Eine Sittsamkeit in ihren Reden, die mir noch bei keinem Mädchen so aufgefallen ist wie bei dieser – alles die Frucht einer guten Erziehung.‹

›Ja, wenn sie von einer guten natürlichen Anlage unterstützt wird.‹

Der Marquis setzte Frau von Pommeraye vor ihrem Hause ab, und diese hatte nichts Eiligeres zu tun, als unseren beiden frommen Damen über die Art, wie sie ihre Rolle gespielt hatten, ihre Zufriedenheit zu bezeigen.

Jakob: Wenn sie so fortfahren, wie sie angefangen haben, so wird der Marquis des Arcis seinen Hals nicht aus der Schlinge bringen, und wenn er der Teufel selbst wäre.

Herr: Ich möchte wohl wissen, wo eigentlich der Plan hinausläuft.

Jakob: Und mir wäre das höchst unangenehm, denn es würde mir mein ganzes Vergnügen stören.

Wirtin: Von dem Tage an kam der Marquis weit öfter zur Frau von Pommeraye, die es wohl bemerkte, doch ohne ihn nach der Ursache zu fragen. Sie sprach niemals zuerst von den beiden Frauen, sondern wartete, bis er selbst davon anfing, was der Marquis immer mit Ungeduld und mit einer schlecht geheuchelten Gleichgültigkeit tat.

Marquis: Haben Sie Ihre Freundinnen gesehen?

[147] Frau von Pommeraye: Nein.

Marquis: Wissen Sie wohl, daß Sie gar nicht schön handeln? Sie sind reich und die beiden Frauen arm; und Sie laden sie nicht einmal ein, ab und zu bei Ihnen zu essen.

Frau von Pommeraye: Ich hätte mir doch geschmeichelt, daß der Herr Marquis mich ein wenig besser kennte. Vor Zeiten dichtete seine Liebe mir Tugenden über Tugenden an, und jetzt ist seine Freundschaft so artig, mir Fehler zuzutrauen. Ich habe sie wohl zehnmal zu Tisch gebeten, und nicht ein einziges Mal haben sie die Einladung angenommen. Sie haben ihre eigenen besonderen Grillen, warum sie nicht zu mir kommen wollen, und wenn ich sie besuche, so muß ich meinen Wagen am Eingang der Straße halten lassen und, ganz einfach gekleidet, ohne Schminke und Juwelen und zu Fuß, mich zu ihnen schleichen. Man darf sich aber nicht allzusehr über diese Vorsicht wundern. Eine üble Nachrede oder Auslegung wäre hinreichend, den guten Willen einiger wohltätiger Personen zu erkälten und sie ihrer Unterstützungen zu berauben. Marquis, es scheint, als ob es heutzutage viel Überwindung kostete, Gutes zu tun.

Marquis: Besonders für die Frommen.

Frau von Pommeraye: Schon der geringste Vorwand ist ihnen hinreichend, sich davon freizusprechen. Erführe man also, daß ich mich für sie interessiere, so würde es gleich heißen: Frau von Pommeraye nimmt sich ihrer an, sie haben also nichts mehr nötig! Und von dem Augenblick an hörten alle Almosen auf.

Marquis: Almosen?

Frau von Pommeraye: Ja, Almosen.

Marquis: Diese Damen sind Ihre Bekannten, und sie müssen von Almosen leben?

Frau von Pommeraye: Noch einmal, Marquis! Ich merke immer mehr, daß Sie mich nicht mehr lieben und daß mit Ihrer Zärtlichkeit zugleich ein Teil Ihrer Achtung verflogen ist. Wer hat Ihnen gesagt, es liege an mir, daß diese Frauen Almosen aus der Kirchspielkasse annehmen müssen?

[148] Marquis: Ich bitte um Verzeihung, gnädige Frau, tausendmal um Verzeihung! Aber warum weigern sie sich, Wohltaten von der Hand einer Freundin anzunehmen?

Frau von Pommeraye: Ach, Marquis! Wir Weltkinder sind weit entfernt, die Bedenklichkeiten solcher wunderlichen schüchternen Seelen zu verstehen; sie halten es nicht für schicklich, Wohltaten von fremder Hand ohne Unterschied anzunehmen.

Marquis: Aber das heißt uns des besten Mittels berauben, unsere unsinnige Verschwendung wiedergutzumachen.

Frau von Pommeraye: Ganz und gar nicht. Gesetzt zum Beispiel, der Marquis des Arcis nähme Anteil an ihrem Schicksal, was könnte ihn abhalten, seine milde Beisteuer durch würdigere Hände ihnen zufließen zu lassen?

Marquis: Die aber vielleicht desto weniger sicher wären.

Frau von Pommeraye: Das könnte wohl sein.

Marquis: Sagen Sie mir offenherzig: Wenn ich ihnen zwanzig Louisdors schickte, glauben Sie, daß sie mir das Geld zurückschicken würden?

Frau von Pommeraye: Ich bin davon überzeugt; und würde Ihnen ein solcher Korb bei der Mutter einer so schönen Tochter etwa übel angebracht scheinen?

Marquis: Wissen Sie wohl, daß ich sehr in Versuchung gewesen bin, den Damen einen Besuch zu machen?

Frau von Pommeraye: Das glaube ich gern. Marquis! Marquis! Seien Sie auf Ihrer Hut! Diese Anwandlung von Mitleid kommt sehr plötzlich und ist höchst verdächtig.

Marquis: Mag sie doch! Aber glauben Sie, daß man mich angenommen hätte?

Frau von Pommeraye: Nein, gewiß nicht! Der Glanz Ihrer Equipage, Ihrer Kleider, Ihrer Bedienten und die Schönheit des jungen Mädchens – was würde es mehr brauchen, um der ganzen Nachbarschaft Stoff zu böser Nachrede zu geben und die beiden armen Frauen ins Unglück zu stürzen!

Marquis: Das betrübt mich; denn das war sicherlich nicht meine Absicht. Man muß also Verzicht darauf tun, sie zu sehen und ihnen zu helfen?

[149] Frau von Pommeraye: Ich glaube schon.

Marquis: Wie aber, wenn ich meine milden Gaben durch Ihre Hände gehen ließe?

Frau von Pommeraye: Ich muß Ihnen offenherzig bekennen, daß ich meine Vermittlung nicht zu einer Wohltätigkeit hergeben mag, die mir ein wenig sehr unlauter aussieht.

Marquis: Das ist grausam.

Frau von Pommeraye: Grausam? Ja, das ist hier das rechte Wort.

Marquis: Welche Vorstellung! Ich glaube, Sie haben mich zum besten, gnädige Frau! Ein junges Mädchen, das ich ein einziges Mal in meinem Leben gesehen habe ...

Frau von Pommeraye: Aber eines von den wenigen, die man nie zu vergessen pflegt, wenn man sie einmal gesehen hat.

Marquis: Es ist wahr, solche Gesichter verfolgen einen.

Frau von Pommeraye: Marquis, nehmen Sie sich in acht! Sie sind auf dem Wege, sich manchen Kummer zu bereiten, und ich möchte Sie lieber davor schützen als nachher Ihre Trösterin werden müssen. Verwechseln Sie dieses Mädchen nicht mit denen, die Sie bisher gekannt haben. Sie ist himmelweit davon verschieden. Ein Mädchen wie dieses versucht man nicht, verführt man nicht, man kommt ihm nicht näher, es gibt kein Gehör, und niemals gelangt man ans Ziel.

Der Marquis erinnerte sich mit einem Male, daß ein dringendes Geschäft auf ihn warte. Er sprang hastig auf und verließ mürrisch das Zimmer.

Eine ziemliche Zeit hindurch ließ der Marquis keinen Tag vergehen, ohne Frau von Pommeraye zu besuchen. Aber er kam, setzte sich und sprach keine Silbe. Frau von Pommeraye führte allein das Wort. Er blieb ungefähr eine Viertelstunde da, stand dann wieder auf und ging seiner Wege. Er blieb hierauf beinahe einen Monat lang ganz aus. Dann kam er wieder; aber er sah traurig, melancholisch und ganz verfallen aus. Als die Marquise ihn zu Gesicht bekam, rief sie: ›Mein Gott, wie sehen Sie aus! Wo haben Sie gesteckt? Haben Sie die ganze Zeit über im Freudenhaus geschwärmt?‹

[150] Marquis: Wahrhaftig, Sie haben es fast getroffen! Aus Verzweiflung habe ich mich in das ausschweifendste Leben gestürzt.

Frau von Pommeraye: Aus Verzweiflung?

Marquis: Ja, aus Verzweiflung.

Er ging hierauf, ohne ein Wort weiter zu sagen, im Zimmer hastig auf und ab, trat ans Fenster, sah den Himmel an, blieb vor Frau von Pommeraye stehen, ging an die Tür, rief seine Bedienten, denen er doch nichts zu befehlen hatte, schickte sie wieder fort, kam zurück in das Zimmer und trat von neuem vor Frau von Pommeraye hin, die mit ihrer Arbeit beschäftigt war und gar nicht auf ihn achtgab. Er wollte reden und wagte es nicht. Endlich erbarmte sich Frau von Pommeraye seiner und sagte zu ihm: ›Was fehlt Ihnen? Einen ganzen Monat haben Sie sich nicht sehen lassen; jetzt kommen Sie auf einmal wieder zum Vorschein, sehen aus, als hätten Sie im Grabe gelegen, und irren im Zimmer umher wie eine Seele, die spukt.‹

Marquis: Ich halte es nicht länger aus! Ich muß Ihnen alles entdecken! Die Tochter Ihrer Freundin hat den lebhaftesten Eindruck auf mich gemacht. Ich habe mir alle erdenkliche Mühe gegeben, sie zu vergessen; aber je mehr Mühe ich mir gab, desto gegenwärtiger wurde sie meinem Herzen. Dieses himmlische Mädchen hat mich ganz bezaubert. Freundin, Sie müssen mir einen wichtigen Dienst leisten!

Frau von Pommeraye: Und welchen?

Marquis: Ich muß sie durchaus wiedersehen, und nur Ihnen kann ich das verdanken. Ich habe meine Kundschafter ausgeschickt und den beiden Frauenzimmern aufpassen lassen; sie tun weiter nichts, als daß sie vom Hause in die Kirche und aus der Kirche wieder nach Hause gehen. Wohl zehnmal bin ich zu Fuß an ihnen vorbeigegangen; aber sie haben mich nicht einmal eines Blicks gewürdigt. Ich pflanzte mich sogar wie eine Bildsäule unter ihrer Haustür auf – alles vergebens! Erst haben sie mich zum ausschweifendsten Menschen von der Welt gemacht und zuletzt so fromm und andächtig wie einen Engel; [151] denn ganze vierzehn Tage habe ich nicht eine einzige Messe versäumt. Ach, Freundin, welch eine Gestalt! Wie schön! Wie unaussprechlich reizend!

Frau von Pommeraye wußte das alles schon längst. ›Sie wollen sagen,‹ antwortete sie dem Marquis, ›daß, nachdem Sie alles aufgeboten haben, wieder zur Vernunft zu kommen, Sie nichts unterlassen haben, verrückt zu werden, und daß letzteres Ihnen auch geglückt ist?‹

Marquis: Jawohl, geglückt! Und ich kann Ihnen nicht beschreiben, bis zu welch fürchterlichem Grade. Wollen Sie sich meiner nicht erbarmen, und soll ich Ihnen nicht das Glück zu verdanken haben, sie wiederzusehen?

Frau von Pommeraye: Die Sache ist nicht leicht; doch ich will mich ihr gern unterziehen, wenn Sie mir eins versprechen; nämlich daß Sie von nun an die armen Frauen in Ruhe lassen und aufhören, sie zu quälen. Ich darf Ihnen nicht verschweigen, daß sie mir über Ihre Verfolgungen nicht ohne Bitterkeit geschrieben haben. Sie können den Brief lesen; hier ist er ...

Der Brief, den man dem Marquis zu lesen gab, war zwischen den drei Frauen verabredet worden. Es hatte den Anschein, als ob die junge d'Aisnon ihn auf Befehl ihrer Mutter geschrieben habe, und man hatte so viel Edles, Sanftes, Rührendes, so viel Geist- und Geschmackvolles hineingewebt, als nötig war, dem Marquis vollends den Kopf zu verdrehen. Auch begleitete er jedes Wort mit einem Ausruf und überlas jede Stelle noch einmal. Er weinte vor Freude und sagte zu Frau von Pommeraye: ›Gestehen Sie, gnädige Frau, daß man gar nicht besser schreiben kann.‹

›Das gestehe ich gern.‹

›Und daß jede Zeile das Herz mit Bewunderung und Ehrfurcht für Frauen mit einem solchen Charakter erfüllt.‹

›Das sollte so sein.‹

›Ich werde Ihnen gewiß mein Wort halten; aber ich beschwöre Sie, halten auch Sie Wort.‹

Frau von Pommeraye: In Wahrheit, Marquis! Ich bin fast eine so große Närrin wie Sie. Sie müssen noch eine fürchterliche [152] Gewalt über mein Herz behalten haben, und das erschreckt mich.

Marquis: Wann werde ich sie wiedersehen?

Frau von Pommeraye: Das kann ich jetzt noch nicht bestimmen. Erst muß ich überlegen, wie die Sache einzufädeln und jeglicher Verdacht zu vermeiden ist. Ihre Absichten können diesen Frauen kein Rätsel sein; stellen Sie sich nun selbst vor, in welchem Licht meine Gefälligkeit vor ihnen erscheinen würde, wenn sie auf den Argwohn kämen, daß ich mit Ihnen unter einer Decke steckte. Aber wirklich, Marquis, wozu habe ich auch nötig, mich dieser Verlegenheit auszusetzen! Was liegt mir daran, ob Sie lieben oder nicht lieben? Ob Sie Torheiten begehen oder nicht! Suchen Sie sich selbst aus dem Handel zu ziehen, so gut es gehen will. Sie muten mir da wahrhaftig eine höchst sonderbare Rolle zu.

Marquis: Liebe Freundin! Wenn Sie mich verlassen, so bin ich verloren. Ich will nicht mich selbst in Anschlag bringen, weil das Sie nur beleidigen würde; aber ich will Sie im Namen dieser interessanten und anbetungswürdigen Geschöpfe beschwören, die Ihnen so teuer sind. Sie kennen mich; ersparen Sie ihnen alle die Verrücktheiten, deren ich fähig bin. Ich suche sie gewiß in ihrer Wohnung auf; ich sage Ihnen im voraus: ja, ich tue es, ich sprenge ihre Tür, ich verschaffe mir Zugang, es koste, was es wolle, ich setze mich bei ihnen nieder; und ich mag für nichts bürgen, was ich dann sagen oder tun werde. Sie wissen, in welchem Zustande der Erregung ich mich befinde; Sie haben alles von mir zu fürchten.

Bemerken Sie wohl, meine Herren, fuhr die Wirtin fort, daß der Marquis des Arcis die ganze Zeit über kein Wort hervorgebracht hatte, das nicht ein Dolchstich für das Herz der Frau von Pommeraye gewesen wäre. Sie erstickte fast vor Unwillen und Wut; daher antwortete sie dem Marquis auch mit einer stockenden und bebenden Stimme: ›Ja, Sie haben recht ... Ach, wenn ich je mit einer solchen Leidenschaft geliebt worden wäre, wer weiß, ob ... Doch wir wollen das gut sein lassen ... Zum mindesten will ich mich der Sache nicht zu Ihrem [153] Besten unterziehen ... Doch hoffe ich wenigstens, Herr Marquis, daß Sie mir Zeit lassen werden.‹

Marquis: Die kürzeste, die nur möglich ist.

Jakob: Frau Wirtin, Frau Wirtin, was ist das für ein Teufelsweib! Die Hölle selbst kann nicht ärger sein. Ich zittere wie Espenlaub und muß mir notwendig wieder Mut antrinken. Wollen Sie mich ganz allein trinken lassen?

Wirtin: Ich bin nicht so furchtsam. – Frau von Pommeraye rief aus, als er weg war: ›Ich leide schrecklich, aber ich leide nicht allein. Grausamer Mann! Wie lange meine Qual dauern wird, weiß ich nicht; aber daß ich die deinige zu einer Ewigkeit machen will, das weiß ich gewiß!‹

Sie spannte wohl einen Monat lang den Marquis mit der Erwartung der versprochenen Zusammenkunft auf die Folter; das heißt, sie ließ ihm volle Zeit, sich abzuhärmen, noch trunkener von Liebe zu werden, und unter dem Vorwande, ihm die langwierige Verzögerung zu versüßen, erlaubte sie ihm, mit ihr von seiner Leidenschaft zu sprechen.

Herr: Um ihn dadurch noch mehr darin zu bestärken.

Jakob: Ein Teufelsweib! Frau Wirtin, meine Furcht verdoppelt sich.

Wirtin: Der Marquis kam also täglich zu Frau von Pommeraye, um mit ihr von seiner Liebe zu schwatzen; und diese suchte durch die arglistigsten Reden ihn immer noch mehr zu reizen, noch mehr anzufeuern und noch tiefer ins Verderben zu stürzen. Er erkundigte sich nach dem Vaterlande, der Herkunft, der Erziehung, den Glücksumständen und dem verlorenen Prozeß der beiden Damen; er sprach unaufhörlich davon und glaubte, es immer noch nicht recht zu wissen und immer noch nicht hinreichend davon gerührt zu sein. Die Marquise machte ihn auf jeden Fortschritt seiner Leidenschaft aufmerksam und gewöhnte ihn unvermerkt an den Ausgang, den der Roman nehmen könnte, unter dem Vorwande, ihn davon abzuschrecken.

›Marquis,‹ sagte sie, ›sehen Sie sich wohl vor! Das kann Sie weiterführen, als Sie wollen. Es könnte vielleicht eine Zeit [154] kommen, da meine Freundschaft, die Sie jetzt so befremdend mißbrauchen, mich weder in meinen eigenen Augen noch in den Ihrigen entschuldigen könnte. Zwar geschehen täglich wohl noch weit tollere Dinge; aber, Marquis, ich fürchte sehr, daß dieses Mädchen niemals oder doch wenigstens nur unter Bedingungen, die bisher ganz und gar nicht nach Ihrem Geschmack gewesen sind, die Ihrige werden wird.‹

Als Frau von Pommeraye den Marquis zu dem, was sie mit ihm vorhatte, hinlänglich vorbereitet glaubte, kartete sie es mit den beiden d'Aisnons ab, daß sie einen Mittag bei ihr speisen sollten; und dem Marquis sagte sie, er möchte sie in Reisekleidern überraschen, damit es das Ansehen hätte, als ob es bloßer Zufall wäre.

Man war beim zweiten Gang, als der Marquis sich anmelden ließ. Er, die Frau von Pommeraye und beide d'Aisnons spielten die Rolle der Überraschung meisterlich.

›Gnädige Frau,‹ sagte er zu der Frau von Pommeraye, ›ich komme von meinem Landgut; es ist zu spät, nach meinem Hause zu gehen, wo ich erst diesen Abend erwartet werde, und ich habe mir geschmeichelt, daß Sie mir erlauben würden, mich diesen Mittag bei Ihnen zu Gast bitten zu dürfen.‹

Und ohne die Antwort abzuwarten, nahm er einen Stuhl und setzte sich an den Tisch. Man hatte das Kuvert so gelegt, daß er neben die Mutter und der Tochter gegenüber zu sitzen kam. Er dankte mit einem verstohlenen Wink der Frau von Pommeraye für diese feine Aufmerksamkeit. Als die erste Verlegenheit vorüber war, fingen die beiden frommen Damen an, wieder etwas Mut zu schöpfen. Man schwatzte von diesem und jenem; man ward sogar aufgeräumt. Der Marquis betrug sich gegen die Mutter mit der größten Aufmerksamkeit und gegen die Tochter mit der bescheidensten Höflichkeit. Für die drei Frauen war es heimlich ein sehr possierlicher Auftritt, die Ängstlichkeit zu sehen, mit welcher der Marquis jedes Wort auf die Waagschale legte und sich nicht das geringste erlaubte, was ihnen hätte Ärgernis geben können. Sie hatten die Grausamkeit, ihn drei ganze Stunden nacheinander die [155] salbungsvollsten und frömmelndsten Diskurse führen zu lassen, und Frau von Pommeraye sagte zu ihm: ›Wahrhaftig, Ihre Reden machen Ihren Eltern unendlich viel Ehre. Die ersten Eindrücke der Kindheit verlöschen doch nie. Sie sind so tief in alle Geheimnisse der göttlichen Gnade eingedrungen, daß man darauf schwören sollte, Sie hätten Ihr ganzes Leben im Kloster des heiligen Franz von Sales zugebracht. Sollten Sie nicht vielleicht einmal ein wenig Quietist gewesen sein?‹

›Nicht, daß ich mich erinnern könnte, Madame.‹ Es versteht sich von selbst, daß unsre beiden Andächtigen ihre Unterhaltung mit allem schmückten, was sie an Geist, Feinheit und verführerischer Anmut besaßen. Im Vorübergehen berührte man auch das Kapitel der Leidenschaften, und Mamsell Duquênoi (so lautete ihr Familienname) behauptete, es gäbe nur eine einzige gefährliche. Der Marquis war ihrer Meinung. Zwischen sechs und sieben Uhr brachen die beiden Duquênois auf. Alle Mühe, sie zu längerem Bleiben zu bewegen, war fruchtlos, und Frau von Pommeraye pflichtete der alten Duquênoi darin bei, daß man vor allen Dingen erst seine Pflichten erfüllen müsse, wenn einem nicht jeder Tag durch Gewissensbisse verbittert werden solle. Zum großen Verdruß des Marquis nahmen also die beiden Damen Abschied, und er blieb nun mit Frau von Pommeraye allein.

Frau von Pommeraye: Nicht wahr, Marquis, ich bin eine gute Närrin? Zeigen Sie mir zu Paris die Frau, die das getan hätte.

Marquis (sich ihr zu Füßen werfend): Nein, nein, in der ganzen Welt trifft man keine solche Frau an wie Sie! Ihre Gütigkeit beschämt mich. Sie sind die einzige wahre Freundin, die es noch auf der Erde gibt!

Frau von Pommeraye: Sind Sie auch sicher, Marquis, daß Sie den Wert meines heutigen Verfahrens immer so erkennen werden wie jetzt?

Marquis: Ich müßte ein Ungeheuer von Undankbarkeit sein, wenn ich je anders dächte.

Frau von Pommeraye: Nun von etwas anderem. Wie steht es jetzt mit Ihrem Herzen?

[156] Marquis: Frei heraus: Das Mädchen muß mein werden, oder ich gehe zugrunde.

Frau von Pommeraye: Sicher wird sie es werden, aber es fragt sich als was.

Marquis: Das wird sich zeigen.

Frau von Pommeraye: Marquis! Marquis! Ich kenne Sie, ich kenne diese Damen. Es ist alles schon dagewesen.

Ungefähr zwei Monate ließ sich der Marquis bei der Frau von Pommeraye nicht sehen. Während dieser Zeit war er nicht untätig: Er machte Bekanntschaft mit dem Beichtvater von Mutter und Tochter. Dieser war ein Freund des kleinen Abbé, von dem ich Ihnen schon erzählt habe. Nachdem dieser Pfaffe alle scheinheiligen Schwierigkeiten gemacht hatte, welche man einer unsauberen Intrige gegenüber geltend machen kann, verkaufte er die Heiligkeit seines Amtes so teuer wie möglich und ließ sich zu allem willig finden, was der Marquis von ihm verlangte.

Die erste Büberei, die der Mann Gottes beging, bestand darin, daß er den beiden Damen die Wohlgewogenheit des Pfarrers entzog und ihm weismachte, daß die beiden Schutzbefohlenen der Frau von Pommeraye keine Almosen vom Kirchspiel mehr nötig hätten und daß sie nur andere, weit Dürftigere darum brächten. Seine Absicht war, sie durch den Druck des Mangels für seinen Plan geschmeidiger zu machen. Hierauf suchte er im Beichtstuhl Mutter und Tochter zu entzweien. Wenn die Mutter sich bei ihm über die Tochter beklagte, so vergrößerte er die Schuld der letzteren und suchte die Empfindlichkeit der ersteren noch mehr zu reizen; klagte hingegen die Tochter über die Mutter, so gab er ihr zu verstehen, daß die elterliche Gewalt ihre Grenzen habe und daß es vielleicht möglich wäre, sie der tyrannischen Herrschaft ihrer Mutter zu entziehen, sobald diese ihre Verfolgungen bis zu einem gewissen Grade treiben würde. Als Buße legte er ihr auf, bald wieder zur Beichte zu gehen.

Ein andermal sprach er mit ihr von ihrer Schönheit, aber nur obenhin, als von einem der gefährlichsten Geschenke, welches [157] Gott einem Weibe geben könnte, von dem Eindruck, welchen sie auf einen gewissen, sehr rechtschaffenen Mann gemacht hätte, den er nicht nannte, den man aber leicht erraten konnte. Dann kam er durch einen Übergang auf Gottes überschwengliche Barmherzigkeit, auf seine Langmut gegen die Fehler der Menschen, welche durch gewisse Umstände veranlaßt würden, auf die Schwachheit der sündigen Natur, für die jeder die Entschuldigung in seinem eigenen Busen finde, und auf die Macht und Allgemeinheit gewisser Neigungen und Menschlichkeiten, von welchen selbst die heiligsten Personen nicht frei wären. Dann fragte er sie, ob sich noch nicht gewisse Lüste und Begierden in ihr geregt hätten? Ob sich bei ihr das Temperament nicht durch gewisse Träume verrate? Und ob sie in Gegenwart von Mannspersonen nicht eine gewisse Verwirrung spüre? Zuletzt warf er die Frage auf, ob ein Weib der Liebesleidenschaft eines Mannes nachgeben oder Widerstand leisten und ihn, für den das Blut Jesu Christi doch auch vergossen worden sei, sterben und in seiner Verdammnis dahinfahren lassen müsse – eine Frage, die er nicht zu entscheiden wagte.

Nun holte er einen tiefen Seufzer, schlug die Augen gen Himmel und betete für die Seelen derer, die in Anfechtung lägen.

Die junge Duquênoi ließ ihn schwatzen; und ihre Mutter und Frau von Pommeraye, denen sie alles getreulich wiedersagte, gaben ihr noch mehr Geständnisse unter den Fuß, die alle den Zweck hatten, dem frommen Kuppler mehr Mut zu machen.

Jakob: Hören Sie, Frau Wirtin! Ihre Frau von Pommeraye ist ein böses Weib.

Herr: Das ist bald gesagt, Jakob; aber woher rührt ihre Bösartigkeit? Wer anders ist schuld daran als der Marquis des Arcis? Wäre der so geblieben, wie er geschworen hatte und wie er hätte sein sollen, so würdest du an der Frau von Pommeraye nicht den geringsten Fehler aussetzen können. Wenn wir unterwegs sind, bring mir deine Klagen gegen sie vor, und ich will dann ihren Anwalt machen. Aber der nichtswürdige [158] kupplerische Pfaffe – von dem mag ich nichts wissen; den gebe ich dir preis.

Jakob: Er ist ein so böser Bube, daß ich von dem Augenblick an einen ordentlichen Widerwillen gegen das Beichten bei mir spüre. – Geht es Ihnen nicht auch so, Frau Wirtin?

Wirtin: Ich für mein Teil werde meinen alten Pfarrer nach wie vor besuchen. Der Mann ist gar nicht neugierig und will nicht mehr hören, als man ihm sagt.

Jakob: Wie wärs, wenn wir auf seine Gesundheit tränken?

Wirtin: Diesmal tue ich Ihnen gern Bescheid; er ist ein guter Mann, der an Sonn- und Festtagen die jungen Burschen und Mädchen im Dorfe tanzen und lustig sein läßt und nichts dagegen hat, wenn die Väter und Mütter zu mir kommen und bei mir zechen, sobald sie nur des Guten nicht zuviel tun. Auf die Gesundheit des Herrn Pfarrers!

Jakob: Des Herrn Pfarrers!

Wirtin: Die Mutter und Frau von Pommeraye sahen es kommen, daß der Mann Gottes über kurz oder lang seinem Beichtkinde ein Liebesbriefchen zustecken würde, was auch geschah. Doch wie behutsam verfuhr er dabei! Er wisse selbst nicht, von wem es komme; er glaube aber, es müsse von irgendeiner mitleidigen und wohltätigen Seele herrühren, die vielleicht ihre Not erfahren habe und ihr Beistand anbiete, er habe ziemlich häufig derartige Briefe zuzustellen. ›Übrigens, Mademoiselle,‹ fuhr er fort, ›sind Sie ein ehrbares Mädchen; Ihre Frau Mutter ist auch eine vorsichtige Matrone, und ich verlange von Ihnen, daß Sie den Brief nicht anders als in ihrem Beisein erbrechen.‹ Mamsell Duquênoi nahm den Brief in Empfang und brachte ihn ihrer Mutter, die ihn sogleich der Frau von Pommeraye schickte. Sobald letztere dies Papier in Händen hatte, ließ sie den Beichtvater kommen, wusch ihm tüchtig den Kopf, wie er es verdiente, und drohte, ihn bei seinen Obern zu verklagen, wenn sie je wieder etwas von ihm hören sollte. In diesem Briefchen erschöpfte sich der Marquis in Lobeserhebungen auf seine eigene und Mademoiselle Duquênois Person. Er schilderte ihr das Ungestüm seiner Leidenschaft [159] in den lebendigsten Farben, machte die außerordentlichsten Versprechungen und schlug ihr sogar eine Entführung vor.

Als Frau von Pommeraye dem Beichtvater den Text gelesen hatte, ließ sie auch den Marquis zu sich rufen und stellte ihm vor, wie sehr sein Betragen eines Mannes von Ehre unwürdig sei und wie sehr er ihre eigene Ehre dabei aufs Spiel gesetzt hätte. Sie zeigte ihm seinen Brief und beteuerte, daß sie, trotz der zärtlichen Freundschaft, die sie noch für ihn hege, nicht umhinkönne, den Brief entweder der Obrigkeit zu unterbreiten oder der alten Mutter wieder zuzustellen, sobald ihrer Tochter das Geringste widerfahren sollte.

›Marquis,‹ fuhr sie fort, ›die Liebe macht Sie zu einem schlechten Menschen. Sie müssen von Natur recht bösartig sein, da dasjenige, was andere Leute zu großen Handlungen begeistert, bei Ihnen nur niedrige und entehrende Absichten erregt. Was haben diese armen Frauen Ihnen getan, daß Sie ihr Unglück noch durch Schimpf und Schande vermehren wollen? Weil das Mädchen schön ist und tugendhaft bleiben will, so werfen Sie sich zu ihrem Verfolger auf? Wollten Sie Ursache sein, daß sie einem der schönsten Geschenke des Himmels fluchen müßte? Und womit habe ich es verdient, Ihre Mitschuldige werden zu müssen? Vorwärts, Marquis! Fallen Sie vor mir nieder, bitten Sie mich um Vergebung und geloben Sie mir heilig, meine unglücklichen Freundinnen in Ruhe zu lassen!‹

Der Marquis versprach, ohne ihr Vorwissen keinen Schritt weiter zu tun, aber dies Mädchen müsse er besitzen, um welchen Preis es auch sei.

Der Marquis hielt nichts weniger als Wort. Da die Mutter einmal darum wußte, schwankte er keinen Augenblick mehr, sich geradezu an sie selbst zu wenden. Er gestand das Sträfliche seines ersten Plans ein, bot eine ansehnliche Summe, spiegelte etwas von Hoffnungen vor, welche mit der Zeit reifen könnten, und begleitete seinen Brief mit einem Kästchen voll der kostbarsten Juwelen.

[160] Die drei Frauen hielten Rat. Mutter und Tochter stimmten für die Annahme, aber das paßte nicht in den Plan der Frau von Pommeraye. Sie erinnerte die d'Aisnon an die ersten Artikel ihres Vertrags und drohte sogar damit, alles zu verraten. Zum großen Leidwesen unserer beiden Betschwestern mußte also die junge Duquênoi die Ohrringe, welche ihr so prächtig standen, wieder abnehmen, und Brief und Schmuck wurden mit einer Antwort zurückgeschickt, aus welcher der ganze Stolz beleidigter Tugend sprach.

Frau von Pommeraye hielt dem Marquis seine Wortbrüchigkeit auf das bitterste vor. Dieser entschuldigte sich, daß er sich nicht hätte unterstehen wollen, der Marquise eine so erniedrigende Kommission zuzumuten.

›Marquis! Marquis!‹ sagte Frau von Pommeraye. ›Ich habe Sie schon einmal gewarnt, und ich wiederhole Ihnen die Warnung. Sie sind weit von dem Ziele, wonach Sie streben, aber es ist jetzt nicht mehr Zeit, Ihnen vorzupredigen. Es wären verlorene Worte; für Sie ist nun keine Rettung mehr.‹

Der Marquis gestand, er selbst fühle dies, und bat sie nur um die Erlaubnis, noch einen letzten Versuch wagen zu dürfen. Er wollte nämlich beiden Frauen eine beträchtliche Leibrente zusichern, ihnen die Hälfte seines ganzen Vermögens geben und ihnen, solange sie lebten, eins von seinen Häusern zu Paris und ein anderes auf dem Lande als Eigentum einräumen.

›Tun Sie das,‹ antwortete die Marquise, ›ich verbiete Ihnen nichts weiter als Gewalt zu brauchen. Aber glauben Sie mir, Freund, wahre Ehre und wahre Tugend lassen sich in den Augen derer, die sie besitzen, nicht mit allen Reichtümern der Welt aufwiegen. Ihre neuen Anerbietungen werden kein besseres Glück machen als Ihre vorigen; ich kenne diese Damen zu gut und wollte wohl eine Wette darauf eingehen.‹

Das neue Angebot wurde gemacht, und wieder hielten die drei Frauen Rat. Mutter und Tochter erwarteten in bangem Schweigen die Entscheidung der Frau von Pommeraye. Diese ging einige Minuten auf und ab, ohne ein Wort zu sprechen.

[161] ›Nein, nein,‹ rief sie endlich, ›das ist meinem gekränkten Herzen noch zuwenig!‹

Und sogleich tat sie den unwiderruflichen Ausspruch, der Vorschlag sollte nicht angenommen werden.

Die beiden Frauen zerflossen in Tränen; sie warfen sich ihr zu Füßen und stellten ihr vor, wie hart es für sie sei, ein so gewaltiges Vermögen von sich stoßen zu müssen, da sie doch ohne die mindeste Gefahr zugreifen könnten.

Frau von Pommeraye gab ihnen ganz trocken zur Antwort:

›Bildet ihr euch etwa ein, daß alles, was ich seither tat, euch zuliebe geschehen ist? Wer seid ihr, und was bin ich euch schuldig? Was hält mich ab, euch beide wieder eurem früheren Gewerbe zurückzuschicken? Ich glaube gern, daß, was euch angeboten wird, für euch viel zuviel ist, aber für mich ist es zuwenig. Madame! Schreiben Sie hier die Antwort, die ich Ihnen diktieren werde, und schicken Sie sie vor meinen Augen ab!‹

Erschrocken noch mehr als niedergeschlagen, kehrten die beiden Frauen in ihre Behausung zurück.

Jakob: Die Frau hat den Teufel im Leibe! Was will sie denn noch? Ist das Opfer der Hälfte eines großen Vermögens etwa keine genügende Strafe für ein Erkalten der Liebe?

Herr: Jakob, du bist nie ein Frauenzimmer und noch weniger ein tugendhaftes Frauenzimmer gewesen, und du urteilst nach deinem Charakter, den aber die Frau von Pommeraye nicht hat. Soll ich aufrichtig mit dir sprechen? Ich fürchte sehr, daß die Vermählung des Marquis des Arcis mit einer Buhldirne dort oben geschrieben steht.

Jakob: Steht sie dort oben geschrieben, so wird sie auch geschehen.

Wirtin: Der Marquis ließ Frau von Pommeraye nicht lange auf sich warten.

›Nun,‹ rief sie ihm entgegen, ›wie steht es mit Ihrem neuen Vorschlag?‹

Marquis: Getan und abgeschlagen! Ich bin in Verzweiflung darüber. Könnte ich diese unglückliche Leidenschaft doch aus [162] meinem Herzen reißen, das Herz selbst möchte ich mit herausreißen, aber ich kann nicht. Sehen Sie mich einmal an, Marquise! Finden Sie nicht zwischen dem Mädchen und mir einige Ähnlichkeit?

Frau von Pommeraye: Ich habe Ihnen nichts davon sagen mögen, aber bemerkt hatte ich es gleich anfangs. Doch davon ist jetzt nicht die Rede. Was haben Sie beschlossen?

Marquis: Ich kann keinen Entschluß fassen. Zuweilen habe ich Lust, mich in eine Postkutsche zu werfen und zu fahren, so weit mich die Erde trägt. Aber einen Augenblick später verliere ich alle Kraft, meine Sinne verlassen mich, ich bin wie halb tot, wie vor den Kopf geschlagen und weiß nicht aus noch ein.

Frau von Pommeraye: Ich rate Ihnen nicht, auf Reisen zu gehen, es verlohnt sich nicht der Mühe, bis nach Villejuif zu fahren und wieder umzukehren.

Den andern Morgen schrieb der Marquis an die Marquise, er sei auf seine Güter gereist und werde sich dort so lange aufhalten, als es ihm möglich sei. Er bäte sie, unterdessen bei ihren Freundinnen für sein Bestes zu arbeiten, wenn sich Gelegenheit dazu zeigen sollte. Seine Abwesenheit dauerte gar nicht lange. Er kam mit dem festen Vorsatze zurück, das Mädchen zu heiraten.

Jakob: Der arme Marquis! Er tut mir leid.

Herr: Mir nicht besonders.

Wirtin: Er stieg bei der Frau von Pommeraye ab. Sie war nicht zu Hause. Als sie kam, fand sie den Marquis in einem Lehnstuhle liegen, er hatte die Augen geschlossen und schien in tiefe Träumereien versunken.

›Wie, Marquis? Schon wieder da? Das Landleben hat nicht lange Reiz für Sie gehabt.‹

›Nein,‹ gab er zur Antwort, ›denn mir ist nirgends wohl. Ich bin mit dem festen Entschluß wiedergekommen, die größte Torheit zu begehen, die ein Mann von meinem Stande, von meinem Alter, von meinem Charakter nur begehen kann; aber es ist besser, zu heiraten als ewig auf der Folter zu sein. So heirate ich denn.‹

[163] Frau von Pommeraye: Marquis, der Schritt ist bedenklich und fordert reifliche Überlegung.

Marquis: Ich habe nur eine einzige Überlegung an gestellt, die aber jede andere aufwiegt, und die ist: Ich kann nicht unglücklicher werden, als ich schon bin!

Frau von Pommeraye: Wenn Sie sich aber darin irrten?

Jakob: Die Verräterin!

Marquis: Nun, liebe Freundin, das, dächt ich, wäre doch endlich eine Unterhandlung, die ich Ihnen mit Ehren auftragen könnte. Reden Sie mit Mutter und Tochter, fragen Sie die Mutter aus, prüfen Sie das Herz der Tochter, und teilen Sie ihnen meine Absicht mit.

Frau von Pommeraye: Gemach, gemach, lieber Marquis! Ich habe zwar geglaubt, die beiden Frauen hinlänglich zu kennen, nämlich soweit ich sie in Rücksicht meines Umganges mit ihnen zu kennen brauchte; aber jetzt, da es das Glück meines Freundes gilt, wird er mir erlauben, die Sache näher zu untersuchen. Ich werde mich in ihrer Provinz nach ihnen erkundigen lassen, und ich verspreche Ihnen auch, daß ich ihren Lebenswandel Schritt für Schritt verfolgen will.

Marquis: Alle diese Vorsichtsmaßregeln scheinen mir ganz überflüssig. Frauen, die mitten im Druck des Mangels und des Elends dem widerstehen konnten, womit ich sie in Versuchung führte, müssen notwendig Geschöpfe von einer seltenen Art sein. Mit solchen Anerbietungen, wie ich sie gemacht habe, hätte ich es bei einer Herzogin durchgesetzt. Übrigens, haben Sie mir nicht selbst gesagt ...

Frau von Pommeraye: Ja doch, ja doch! Ich habe alles gesagt, was Sie wollen: aber ich bitte Sie trotzdem, mir zu erlauben, daß ich meinem Willen folgen darf.

Jakob: Das niederträchtige Weibsbild! Die Furie! Warum mußte er sich aber auch an eine solche Frau hängen!

Herr: Sage lieber: Warum sie verführen und dann sitzenlassen.

Wirtin: Warum sie um nichts und wieder nichts durch seine Flatterhaftigkeit kränken!

[164] Jakob (mit den Fingern gegen den Himmel weisend): Ach, gnädiger Herr..!

Marquis: Liebe Marquise, warum heiraten Sie nicht auch?

Frau von Pommeraye: Und wen sollte ich heiraten?

Marquis: Den kleinen Grafen; er hat Verstand, Rang, Vermögen.

Frau von Pommeraye: Und wer bürgt mir für seine Treue? Vermutlich Sie?

Marquis: Das nicht! Aber mir scheint, daß man über die Untreue eines Gatten ziemlich leicht hinwegkommt.

Frau von Pommeraye: Zugegeben! Doch vielleicht wäre ich wunderlich genug, so etwas übelzunehmen. Und ich bin rachsüchtig.

Marquis: Nun gut, so würden Sie sich rächen; das versteht sich von selbst. Aber, wissen Sie was? Wir würden zusammen in ein Haus ziehen und alle vier die angenehmste Gesellschaft von der Welt bilden.

Frau von Pommeraye: Das ist alles recht schön ausgedacht, aber nie heirate ich wieder. Der einzige Mann, dem ich vielleicht in Versuchung gewesen wäre, meine Hand zu geben ...

Marquis: Bin ich?

Frau von Pommeraye: Jetzt kann ich es Ihnen ohne Bedenken sagen.

Marquis: Warum sagten Sie mir das nicht eher?

Frau von Pommeraye: Der Ausgang hat gezeigt, daß ich wohl daran getan habe. Die Sie jetzt zu Ihrer Gemahlin wählen, sagt Ihnen in allen Stücken besser zu als ich.

Frau von Pommeraye stellte ihre Erkundigungen mit aller Genauigkeit und Geschwindigkeit an, die ihr beliebten. Sie legte dem Marquis die schmeichelhaftesten Atteste vor. Ein Teil davon bezog sich auf Paris, der andere auf die Provinz; und nun verlangte sie von dem Marquis, daß er noch vierzehn Tage Geduld haben und sich während dieser Zeit noch einmal recht ernstlich und reiflich prüfen möchte. Die vierzehn Tage dünkten ihn eine Ewigkeit. Endlich war die Marquise [165] gezwungen, seiner Ungeduld und seinen Bitten nachzugeben. Die erste Zusammenkunft fand bei den beiden Duquênois statt. Es ward alles in Richtigkeit gebracht, der Heiratskontrakt aufgesetzt und das Aufgebot gemacht. Der Marquis machte der Frau von Pommeraye einen prächtigen Diamantring zum Geschenk, und die Hochzeit ging vor sich.

Jakob: Kann man die Bosheit und Arglist weiter treiben?

Herr: Es ist unbegreiflich!

Jakob: Befreien Sie mich nur erst von der Sorge in bezug auf die Hochzeitsnacht; im übrigen sehe ich bis jetzt noch kein großes Übel.

Herr: Schweig, Dummkopf!

Wirtin: Die Brautnacht ging recht gut hin ...

Jakob: Ich glaubte ...

Wirtin: Glauben Sie, was Ihr Herr Ihnen soeben gesagt hat ... (Bei diesen Worten lächelte sie, und indem sie lächelte, fuhr sie mit der Hand über Jakobs Gesicht und kniff ihn in die Nase.) ... aber den anderen Morgen ...

Jakob: Wars denn den andern Morgen nicht so wie am Abend vorher?

Wirtin: Den andern Morgen schrieb Frau von Pommeraye dem Marquis ein Billett mit der Bitte, in einer höchst wichtigen Sache unverzüglich zu ihr zu kommen. Der Marquis kam augenblicklich. Sie empfing ihn mit einem Gesicht, worauf Entrüstung und Unwille sich in ihrer ganzen Stärke malten. Die Rede, die sie ihm hielt, war nur kurz.

›Marquis,‹ sagte Frau von Pommeraye zu ihm, ›lernen Sie mich kennen! Wenn die andern Frauen sich selbst genug achten wollten, um meine Rache zu erproben, Ihresgleichen würde weniger häufig sein. Sie wußten sich die Liebe einer ehrlichen Frau zu erwerben, aber nicht, sie zu schätzen und zu erhalten. Diese Frau bin ich. Sie hat sich gerächt; sie hat Ihnen eine Person zur Gemahlin gegeben, die Ihrer ganz würdig ist. Verlassen Sie mein Haus und fragen Sie in der Rue Traversière in der »Stadt Hamburg« nach; dort wird man Ihnen sagen, welch ein sauberes Handwerk Ihre Frau und Ihre Schwiegermutter [166] zehn Jahre lang unter dem Namen d'Aisnon getrieben haben.‹

Der Schrecken und die Bestürzung des armen Marquis lassen sich unmöglich ausdrücken; er wußte nicht, was er davon denken sollte. Aber seine Ungewißheit dauerte nur so lange, als er Zeit brauchte, sich von dem einen Ende der Stadt bis zum andern zu begeben. Den ganzen Tag kam er nicht nach Hause, sondern irrte unstet in den Straßen umher. Seine Schwiegermutter und seine Gemahlin ahnten etwas von dem, was vorgegangen sein möchte. Beim ersten Schlage des Türklopfers flüchtete die Schwiegermutter sich auf ihr Zimmer und verschloß sich darin. Seine Frau erwartete ihn allein. Als sie ihn eintreten sah, las sie auf seinem Gesicht die Wut, die in ihm kochte. Sie warf sich ihm zu Füßen, drückte ihr Gesicht an den Boden und sprach keine Silbe.

›Fort von hier, Nichtswürdige!‹ rief er. ›Fort von hier!‹

Sie wollte sich wieder aufrichten, aber sie fiel nieder auf ihr Gesicht, die Arme auf dem Boden zwischen den Füßen des Marquis ausgestreckt.

›Gnädiger Herr,‹ sagte sie zu ihm, ›treten Sie mich mit Füßen, zerstampfen Sie mich, ich habe es verdient! Machen Sie mit mir, was Sie wollen, aber schonen Sie meine Mutter!‹

›Fort‹, rief der Marquis. ›Fort aus meinen Augen! Ist es nicht genug, daß Ihr mich mit Schimpf und Schande gebrandmarkt habt? Soll ich auch noch ein Verbrechen auf mich laden?‹

Die Arme blieb unbeweglich liegen, wie sie lag, und antwortete keine Silbe.

Der Marquis hatte sich in einen Lehnstuhl geworfen und war, das Gesicht in den Händen verborgen, auf das Fußende seines Bettes gesunken. Von Zeit zu Zeit rief er mit entstellter Stimme, ohne sie anzusehen: ›Fort aus meinen Augen!‹ Das Schweigen und die Unbeweglichkeit der Unglücklichen überraschten ihn; er wiederholte mit noch stärkerer Stimme: ›Fort! Weg von hier! Hörst du nicht, was ich dir sage?‹ Er bückte sich und versetzte ihr einen harten Stoß. Als er aber fand, daß sie ohne Besinnung und fast ohne Leben war, faßte [167] er sie um den Leib, trug sie auf ein Ruhebett und betrachtete sie eine Zeitlang mit Blicken, in welchen sich abwechselnd Wut und Mitleid malten. Er klingelte. Seine Bedienten kamen; er ließ ihre Kammerfrauen rufen und sagte zu ihnen: ›Eure Herrin befindet sich nicht wohl, tragt sie in ihre Gemächer und leistet ihr Hilfe!‹

Wenige Augenblicke später schickte er insgeheim nach ihr und ließ sich nach ihrem Befinden erkundigen. Er bekam zur Antwort: sie habe sich zwar von ihrer ersten Ohnmacht wieder erholt; aber es folgten neue Schwächen so häufig und schnell aufeinander und hielten so lange an, daß man für ihr Leben nicht einstehen könne. Eine oder zwei Stunden darauf schickte er von neuem ganz heimlich nach ihr, um sich nach ihrem Zustand zu erkundigen. Man ließ ihm sagen, sie liege in schrecklichen Beklemmungen und werde von einem krampfartigen Aufschluchzen geschüttelt, das man bis in den Hof hören könne. Als er zum dritten Mal nach ihr schickte (es war gegen Anbruch des Tages), erhielt er die Nachricht, sie habe viel geweint, aber das Schluchzen hätte sich gelegt und sie scheine schlummern zu wollen.

Am folgenden Morgen ließ der Marquis anspannen und blieb ganze vierzehn Tage weg, ohne daß man wußte, was aus ihm geworden war. Vor seiner Abreise hatte er indes dafür gesorgt, daß es Mutter und Tochter an nichts fehle, und seinen Leuten befohlen, der gnädigen Frau wie ihm selbst zu gehorchen.

Während seiner Abwesenheit waren die beiden Frauen beständig beisammen, ohne fast ein Wort miteinander zu sprechen. Die Tochter schluchzte, fing plötzlich laut zu schreien an, rang die Hände und raufte sich die Haare aus, so daß selbst ihre Mutter nicht wagte, ihr nahe zu kommen und sie zu trösten. Diese verriet nichts als Verhärtung; jene war das leibhafte Bild der Verzweiflung. Wohl zwanzigmal sagte die junge Frau zu der Mutter: ›Mama, lassen Sie uns eilen, aus dem Hause zu kommen! Retten wir uns!‹, und ebensooft widersetzte sich die Mutter und antwortete: ›Mein Kind, wir müssen bleiben: [168] wir müssen sehen, wo das hinauswill. Dieser Mann wird uns nicht töten.‹ – ›Wollte Gott,‹ antwortete die Tochter, ›er hätte es schon getan!‹ Die Mutter erwiderte: ›Du tätest gescheiter, zu schweigen als solch einfältiges Zeug zu schwatzen!‹

Wieder zurückgekehrt, schloß sich der Marquis in sein Kabinett ein und schrieb zwei Briefe: den einen an seine Gemahlin, den andern an seine Schwiegermutter. Letztere verließ das Haus noch an demselben Tage und begab sich in ein Karmeliterinnenkloster, wo sie vor wenigen Tagen gestorben ist. Ihre Tochter kleidete sich an und schleppte sich in die Gemächer ihres Gemahls, wahrscheinlich weil er sie dahin beschieden hatte. Schon in der Türe fiel sie auf die Knie. ›Stehen Sie auf!‹ rief der Marquis ihr entgegen. Anstatt sich aufzurichten, kroch sie auf den Knien bis zu ihm hin. Sie zitterte an allen Gliedern, ihr Haar war in Unordnung, ihr Leib vornübergeneigt, ihre Arme dem Marquis entgegengestreckt, ihre Blicke starr auf seine Augen geheftet und ihr Gesicht mit Tränen überströmt. ›Mich dünkt,‹ sagte sie, und ein Seufzer unterbrach jedes ihrer Worte, ›mich dünkt, daß der gerechte Unwille Ihres Herzens sich ein wenig besänftigt hat und daß ich vielleicht hoffen darf, mit der Zeit Verzeihung zu erhalten; aber, gnädiger Herr, ich beschwöre Sie, übereilen Sie sich nicht mit Ihrer Verzeihung! So manches sittsame Mädchen ist eine leichtfertige Gattin geworden, und vielleicht kann ich ein Beispiel des Gegenteils werden; allein noch bin ich nicht würdig, daß Sie sich mir wieder nähern. Warten Sie noch! Lassen Sie mir bloß die Hoffnung, daß Sie mir einst vergeben wollen! Entfernen Sie mich weit von sich; lassen Sie genau auf meine Aufführung achtgeben, und richten Sie mich dann! Überglücklich, unaussprechlich glücklich werde ich sein, wenn Sie nur zuweilen so gütig sind, mich zu sich rufen zu lassen. Weisen Sie mir den finstersten Winkel in Ihrem Hause zur Wohnung an; ohne Murren will ich mich dort einsperren lassen! Ach, könnte ich mir den Namen und den Titel, den man mich zu erschleichen zwang, wieder abreißen und dann sterben, so sollte es augenblicklich geschehen! Schwachheit, Verführungen, Gewalt, [169] Drohungen haben mich zu einer schändlichen Tat verleitet; aber glauben Sie nicht, gnädiger Herr, daß ich schlecht bin. Nein, ich bin es nicht, habe ich doch keinen Augenblick gezögert, vor Ihnen zu erscheinen, wage ich es doch, jetzt die Augen zu Ihnen aufzuschlagen und mit Ihnen zu reden! Ach, könnten Sie im Grunde meines Herzens lesen! Könnten Sie sehen, wie weit meine früheren Verfehlungen hinter mir liegen, wie fremd mir die Sitten meinesgleichen sind! Die Verführung hat meinen Wandel befleckt, aber meine Seele hat sie nicht vergiftet. Ich kenne mich und muß mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß ich, nach meinen Gesinnungen, meinen Empfindungen, meinem Charakter, von Natur der Ehre, die Ihrige zu werden, nicht unwürdig war. Ach, hätte es in meiner Macht gestanden, Sie unter vier Augen zu sprechen, so glaube ich, ich würde den Mut gefunden haben, Sie durch ein Wort vor dem Betruge zu warnen! Machen Sie jetzt mit mir, was Sie wollen, gnädiger Herr! Lassen Sie Ihre Leute hereinkommen; lassen Sie mir diese Kleider abreißen; lassen Sie mich nackt und bloß bei Nacht auf die Straße werfen! Ich bin mit allem zufrieden. Was Sie auch über mich beschlossen haben, ich unterwerfe mich willig. Verbannen Sie mich auf das Land, verweisen Sie mich in die Einsamkeit eines Klosters, damit Sie mich nie wieder zu Gesicht bekommen! Ein Wort, und ich gehe. Ihr Glück ist nicht ohne Rettung verloren, und Sie können mich ja vergessen.‹

›Stehen Sie auf!‹ sagte der Marquis mit sanfter Stimme. ›Ich habe Ihnen vergeben. Selbst im Augenblick der Beleidigung ehrte ich die Gemahlin in Ihnen. Es ist kein Wort über meine Lippen gekommen, das diese hätte erniedrigen können. Sollte es je geschehen sein, so bereue ich es und gelobe ihr hiermit heilig, daß sie nie wieder eine Silbe von mir hören soll, die sie kränken könnte, wenn sie nur nicht vergißt, daß sie ihren Gemahl nicht unglücklich machen kann, ohne es selbst zu werden. Seien Sie eine Frau von Ehre, seien Sie glücklich, und machen Sie, daß auch ich es bin! Stehen Sie auf, meine Gemahlin! Ich bitte Sie darum, stehen Sie auf, und umarmen Sie mich! [170] Frau Marquise! Stehen Sie auf; Sie sind hier nicht an Ihrem Orte! Madame des Arcis! Stehen Sie auf!‹

Während er so sprach, hatte sie noch immer ihr Gesicht in ihren Händen verborgen und sich mit dem Kopf an seine Knie gelehnt; aber bei den Worten ›meine Gemahlin‹, bei den Worten ›Madame des Arcis‹ richtete sie sich plötzlich auf, warf sich ihm an den Hals und hielt ihn, halb von Freude und halb von Schmerz erstickt, fest in ihre Arme geschlossen. Dann ließ sie ihn wieder los, fiel von neuem nieder und küßte ihm die Füße.

›Ach,‹ rief der Marquis, ›mein Herz hat Ihnen verziehen, ich habe es Ihnen gesagt, und ich sehe, Sie wollen mir nicht glauben!‹

›Lassen Sie, lassen Sie,‹ gab sie zur Antwort, ›ich kann es, ich darf es nicht glauben!‹

›Wahrhaftig,‹ fuhr der Marquis fort, ›ich fange an zu ahnen, daß es mich nie reuen wird und daß diese Pommeraye, statt sich zu rächen, mir einen großen Dienst geleistet hat! Liebe Gemahlin! Kleiden Sie sich an, man wird unterdessen Ihre Koffer packen. Wir wollen auf mein Gut reisen und da so lange bleiben, bis wir ohne nachteilige Folgen für Sie oder für mich uns hier wieder zeigen dürfen.‹

Sie blieben drei ganze Jahre von Paris abwesend.

Jakob: Ich wollte doch wetten, daß ihnen diese drei Jahre nur wie ein Tag vorgekommen sind und daß der Marquis des Arcis einer der besten Ehemänner und sie eine der besten Ehefrauen geworden ist, die es je auf Erden gegeben hat.

Herr: Ich glaube es auch; aber ich kann mir nicht recht erklären, warum ich es glaube; denn ich bin mit diesem Mädchen während der ganzen Ränke und Schliche der Pommeraye und ihrer Mutter nichts weniger als zufrieden gewesen. Sie hat auch nicht einen Augenblick Besorgnis, Ungewißheit oder Reue geäußert; sie hat sich ohne Weigerung zu dieser ganzen häßlichen Geschichte gebrauchen lassen. Alles, was man von ihr verlangte, tat sie augenblicklich: sie ging zur Beichte, kommunizierte, hatte die Religion und ihre Diener zum besten; [171] kurz, ich habe sie eben so falsch, so verachtungswürdig und so boshaft gefunden wie die beiden anderen.

Frau Wirtin, Sie erzählen zwar recht gut, aber Sie sind noch nicht genug in der dramatischen Kunst bewandert. Wollten Sie uns für Ihre junge Heldin interessieren, so mußten Sie ihr Freimütigkeit und Offenherzigkeit leihen und sie uns als ein unschuldiges Opfer darstellen, das von der Mutter und der Pommeraye durch Gewalt und die härtesten Mißhandlungen wider Willen gezwungen ward, teil an einem so schwarzen und ein ganzes Jahr durch fortgesetzten Bubenstücke zu nehmen. So hätte die Aussöhnung mit ihrem Manne vorbereitet werden müssen. Sobald man eine Person auftreten läßt, muß auch ihre Rolle einheitlich sein; nun frage ich Sie aber selbst, reizende Frau Wirtin, ob das Mädchen, das sich mit zwei so boshaften Weibern in eine Verschwörung einläßt, die demütig bittende Frau sein kann, die wir zu den Füßen ihres Mannes gesehen haben? Liebe Frau Wirtin! Sie haben gegen die Regeln des Aristoteles, des Horaz, des Vida, des Le Bossu gesündigt.

Wirtin: Ich habe nicht die Ehre, diese Herren zu kennen. Ich habe Ihnen die Sache erzählt, wie sie geschehen ist, ohne etwas auszulassen oder hinzuzusetzen. Wer kann wissen, was in dem Herzen dieses jungen Mädchens vorging und ob sie nicht in ebenden Augenblicken, da sie am leichtfertigsten zu handeln schien, im geheimen von Kummer verzehrt wurde?

Jakob: Diesmal, Frau Wirtin, muß ich meinem Herrn beistimmen, und er wird es mir verzeihen, weil das so selten der Fall ist; und ebenso seinem Bossu und jenen andern Herren, die er genannt hat und die ich auch nicht kenne. Wäre Mademoiselle Duquênoi, vormalige d'Aisnon, ein hübsches Kind gewesen, so würde ...

Wirtin: Hübsch oder nicht hübsch, soviel ist gewiß, daß sie eine ausgezeichnete Frau geworden ist und ihr Mann so vergnügt wie ein König mit ihr lebt und sie um keinen Preis für eine andere hingeben würde.

[172] Herr: Ich gratuliere ihm dazu; da hatte er mehr Glück als Verstand.

Wirtin: Und ich, ich wünsche Ihnen eine angenehme Ruhe. Es ist schon spät, und ich muß im Hause die letzte zu Bett und die erste außer dem Bett sein. Ein verwünschtes Gewerbe, dieses Gastwirtsgewerbe! Gute Nacht, meine Herren! Gute Nacht! Ich hatte Ihnen, ich weiß nicht mehr aus welchem Anlaß, die Geschichte einer lächerlichen Heirat versprochen, und ich glaube Wort gehalten zu haben. Herr Jakob! Sie werden diese Nacht gewiß recht gut schlafen; denn die Augen fallen Ihnen schon halb zu. Gute Nacht, Herr Jakob!

Herr: Frau Wirtin! Ist es denn nicht möglich, von Ihrer eigenen Lebensgeschichte etwas zu erfahren?

Wirtin: Nein.

Jakob: Sie haben eine gewaltige Vorliebe für Erzählungen.

Herr: Das ist wahr; sie belehren und belustigen mich zugleich; ein guter Erzähler ist eine große Seltenheit.

Jakob: Und eben deswegen liebe ich die Erzählungen nicht, ausgenommen wenn ich sie selbst zum besten gebe.

Herr: Denn du schwatzest lieber in den Tag hinein, als daß du das Maul hieltest!

Jakob: Sie haben recht.

Herr: Und ich, ich höre lieber schlecht erzählen als gar nicht.

Jakob: Dadurch kommen wir beide sehr auf unsere Rechnung.


Ich weiß nicht, wo die Wirtin, Jakob und sein Herr den Kopf gelassen hatten, um nicht auf einen einzigen von den Umständen zu verfallen, die sich zur Entschuldigung der Mademoiselle Duquênoi anführen ließen. Ahnte dieses Mädchen vor der Lösung etwas von den Ränken und der List der Frau von Pommeraye? Würde sie nicht lieber die Anerbietungen des Marquis als seine Hand angenommen und ihn lieber zum Liebhaber als zum Gemahl gehabt haben? Stand sie nicht beständig unter der Gewalt und dem Despotismus der Marquise? Kann man sie wegen ihres Abscheus vor ihrem ehemaligen schändlichen Gewerbe tadeln? Und wenn man sie deswegen [173] höher schätzt, kann man von ihr viel Delikatesse und viel Gewissenhaftigkeit in der Wahl der Mittel fordern, sich aus dieser verhaßten Lage zu befreien?

Du bildest dir vielleicht ein, Leser, eine Apologie der Frau von Pommeraye möchte weit schwerer zu machen sein, und es wäre dir vielleicht angenehmer gewesen, Jakob und seinen Herrn darüber klügeln zu hören; aber sie hatten von so vielen und so interessanten Dingen miteinander zu sprechen, daß sie dieses wahrscheinlich darüber aus der Acht gelassen haben. Erlaube also, daß ich mich selbst einen Augenblick damit beschäftige.

Du gerätst bei dem Namen der Frau von Pommeraye in Wut und rufst aus: ›Das abscheuliche Weib! Die Heuchlerin!‹ Keine Bitterkeit, keine Parteilichkeit, keine Ausrufungen! Wir wollen ganz kalt davon reden. Es geschehen täglich weit schwärzere Taten ohne so viel Verstand und Kopf. Du kannst Frau von Pommeraye hassen oder fürchten, aber verachten kannst du sie nicht. Ihre Rache ist gräßlich; allein sie wird nicht durch Eigennutz befleckt. Man hat dir nicht erzählt, daß sie dem Marquis den schönen Diamanten, womit er sie beschenkt hatte, an den Kopf warf; aber sie tat es, wie ich aus den sichersten Quellen weiß. Es war hier nicht die Rede davon, größeren Reichtum zu erlangen oder Ehrentitel zu erhaschen. Also – wenn die Dame dies alles getan hätte, um ihrem Manne eine Belohnung für seine Dienste auszuwirken, wenn sie einem Minister oder seinem Ersten Sekretär sogar ihre Tugend aufgeopfert hätte, um ein Ordensband oder eine Leibkompanie für ihn zu erbetteln, oder dem Herrn, der die Pfründenliste in Verwahrung hat, um eine reiche Abtei für ihn zu erschnappen, so fändest du das alles höchst natürlich, und die Allgewalt des Herkommens würde sie bei dir entschuldigen. Wenn sie aber für eine Treulosigkeit Rache nimmt, empörst du dich gegen sie, anstatt einzusehen, daß ihr Groll dich nur deswegen so entrüstet, weil du dich unfähig fühlst, einen ebenso starken zu empfinden, oder weil du auf die Tugend der Frauen fast gar kein Gewicht legst. Hast du dir überlegt, wie viele Opfer Frau von Pommeraye dem Marquis gebracht, wieviel sie für ihn [174] getan hat? Nicht zu gedenken, daß ihre Schatulle ihm bei jeder Gelegenheit offenstand und daß er viele Jahre lang kein anderes Haus, keinen anderen Tisch hatte als den ihrigen, denn darüber würdest du nur mißbilligend den Kopf schütteln; aber sie hatte sich auch nach allen seinen Launen, allen seinen Neigungen gerichtet und den ganzen Plan ihres Lebens umgeändert, um ihm gefällig zu sein. Sie genoß wegen der Reinheit ihrer Sitten die größte Achtung in den Augen der Welt, und sie hatte sich selbst durch den Umgang mit dem Marquis auf das allgemeine Niveau herabgeschraubt. Man sagte von ihr, als sie die Aufwartungen des Marquis des Arcis annahm: ›Endlich ist dieses Tugendwunder, diese Pommeraye, geworden wie unsereine!‹ Sie hatte um sich her das höhnische Lächeln des Spottes bemerkt, hatte ironische Bemerkungen über sich hören müssen und oft darüber vor Scham geglüht und ihre Blicke zur Erde geschlagen; sie hatte den Wermutbecher ganz geleert, welchen die Lästersucht für jedes Frauenzimmer, deren tadelloser Wandel lange die Geißel der Laster um sie her gewesen ist, in Bereitschaft hält; sie hatte alle die Verfolgungen, all den Skandal ertragen, wodurch man sich an gefallenen Spröden zu rächen sucht, die sich mit ihrer Tugend gebrüstet haben. Sie war von Natur eitel; und sie wäre lieber vor Schmerz gestorben, als daß sie sich mit der Schmach einer fruchtlos aufgeopferten Tugend und in der lächerlichen Rolle einer verlassenen Liebhaberin der Welt hätte zur Schau stellen lassen. Sie nahte dem Abschnitt des Lebens, da der Verlust eines Liebhabers unersetzlich bleibt, und nach ihrem Charakter sah sie sich durch diesen Vorfall zur Einsamkeit und Langeweile verdammt. Ein Mann bringt einen andern wegen einer zweideutigen Gebärde um oder weil er ihn Lügen gestraft; und es sollte einer Frau von Ehre, die sich verloren, verraten, beschimpft sieht, nicht erlaubt sein, den Verräter in die Arme einer Buhldirne zu liefern? Wahrhaftig, Leser, du bist sehr leichtsinnig in deinem Lobe und sehr streng in deinem Tadel! ›Aber‹, wirst du mir antworten, ›ich mache der Marquise mehr die Art und Weise als die Sache selbst zum Vorwurf; mein Gefühl sträubt sich [175] gegen eine Empfindlichkeit von so langer Dauer, gegen ein solches Gewebe von Abscheulichkeiten, Betrügereien und Lügen, das beinahe ein ganzes Jahr lang fortgesetzt ward!‹ Auch ich, auch Jakob, auch sein Herr, auch die Wirtin finden das abscheulich. Aber du vergibst so leicht jener ersten augenblicklichen Aufwallung und weißt nicht, daß, wenn diese erste Aufwallung bei andern Personen kurz ist, sie bei Frau von Pommeraye und bei allen Weibern von ihrem Charakter lange dauert. Oft fühlt ihre Seele eine Kränkung ihr ganzes Leben lang so heftig wie im ersten Augenblick, und ich sehe weder das Unrecht noch das Unschickliche dabei ein. Ich finde in dem ganzen Vorfall nichts als eine Verräterei, die nur weniger alltäglich ist; und ich wäre ganz für ein Gesetz, welches Wüstlinge, die ein ehrliches Weib erst verführten und es dann verließen, zu Buhldirnen, den gemeinen, schändlichen Mann zu gemeinen, schändlichen Weibern verdammte.

Während ich mich von meinem Eifer, die Frau von Pommeraye zu verteidigen, hinreißen lasse, schnarcht Jakobs Herr, als ob er mir zugehört hätte; und Jakob, dem die Muskeln seiner Beine ihre Dienste versagten, spukt im Zimmer barfuß und im Hemde umher, stößt alles um, was ihm in den Weg kommt, und weckt seinen Herrn, der ihm aus dem Bette zuruft: »Jakob, bist du betrunken?«

»So halb und halb.«

»Wann gedenkst du zu Bett zu gehen?«

»Gleich, Herr! Aber hier ist ... hier ist ...«

»Nun, was ist denn hier?«

»In dieser Flasche hier ist ein Restchen Wein, das verderben könnte; angebrochene Flaschen sind mir von jeher ein Greuel gewesen. Das würde mir im Bett durch den Kopf gehen, und mehr brauchte es nicht, mich kein Auge schließen zu lassen. Unsere Frau Wirtin ist meiner Treu ein vortreffliches Weib und ihr Champagner ein vortrefflicher Wein! Es wäre jammerschade, ihn verrauchen zu lassen. Jetzt ist er gleich in Sicherheit ... Nun wird er nicht verrauchen.«

Unter beständigem Lallen hatte Jakob im Hemd und mit nackten [176] Füßen zwei oder drei bis an den Rand gefüllte Gläser hinuntergestürzt – ohne Interpunktion, wie er sich ausdrückte, das heißt von der Flasche ins Glas und vom Glas in den Mund.

Was weiter erfolgte, als er die Lichter ausgelöscht hatte, darüber gibt es zweierlei Lesarten. Die erste behauptet, er sei längs den Wänden hingetappt, ohne sein Bett finden zu können, und habe endlich ausgerufen: ›Entweder ist mein Bett nicht mehr an seiner Stelle, oder wenn es noch an seiner Stelle ist, steht dort oben geschrieben, daß ich es nicht finden soll. In dem einen wie dem andern Fall muß ich darauf verzichten‹, und damit habe er sich auf Stühle gestreckt und sei eingeschlafen. Die andere hingegen versichert, dort oben habe geschrieben gestanden, daß Jakob über Stühle stolpern, platt auf den Boden fallen und so liegenbleiben sollte bis an den hellen Morgen. Von diesen beiden Lesarten kannst du morgen oder übermorgen mit ausgeschlafenem Kopf auswählen, welche dir am meisten zusagt.

Unsere beiden Reisenden, die sich spät niedergelegt hatten und deren Köpfe vom Wein etwas benebelt waren, schliefen weit in den Morgen hinein, der Herr ganz gemächlich in seinem Bett und Jakob auf dem Boden oder auf den Stühlen, je nach der Lesart, die du gewählt haben wirst. Die Wirtin kam herauf und meldete ihnen, das Wetter wäre nicht das beste; und wenn es ihnen auch erlauben sollte, ihre Reise fortzusetzen, so würden sie doch ihr Leben aufs Spiel setzen oder von dem angeschwollenen Wasser des Baches, den sie notwendig passieren müßten, aufgehalten werden. Einige Reiter, die ihr nicht hätten glauben wollen, wären bereits genötigt gewesen, wieder umzukehren.

Der Herr sagte zu Jakob: »Jakob, was tun wir jetzt?«

Jakob antwortete: »Wir wollen erst mit der Frau Wirtin frühstücken, und dann wird sich das andere schon finden.«

Die Wirtin versicherte, das sei ein kluger Rat, und ließ das Frühstück heraufbringen. Sie hatte keinen anderen Wunsch, als vergnügt zu sein, und Jakobs Herr hätte gern mit eingestimmt; [177] aber Jakob fing an, sich nicht wohlzufühlen; es schmeckte ihm nicht; er trank wenig und sagte kein Wort. Besonders dieses letzte Symptom war von höchst übler Bedeutung und eine Folge der schlimmen Nacht und des schlechten Lagers, die er gehabt hatte. Er klagte über Schmerzen in den Gliedern, und seine heisere Stimme ließ einen bösen Hals vermuten. Sein Herr riet ihm, sich zu Bett zu legen; aber er wollte nicht. Die Wirtin schlug ihm eine Zwiebelsuppe vor. Er verlangte, daß im Zimmer Feuer angemacht werden sollte, weil ihn zu schauern anfing; er bestellte Kräutertee nebst einer Flasche Weißwein, und die Wirtin ging weg, um beides zu besorgen. Jakob war nun mit seinem Herrn allein.

Der Herr trat ans Fenster und rief: »Welch verwünschtes Wetter!« Hierauf sah er nach seiner Uhr (der einzigen, auf die er Vertrauen setzte), nahm seine Prise Tabak und wiederholte das nämliche von Stunde zu Stunde, indem er jedesmal von neuem ausrief: »Welch verwünschtes Wetter!« Dann wandte er sich zu Jakob und sagte: »Jetzt hätten wir die schönste Gelegenheit, deine Liebesgeschichte wieder anzufangen und zu Ende zu bringen; aber es schwatzt sich nicht gut von Liebe oder von anderen Dingen, wenn einem nicht wohl ist. Prüfe dich, und kannst du fortfahren, so tu es! Wo nicht, so trinke deinen Kräutertee und lege dich aufs Ohr!«

Jakob behauptete, Schweigen wäre ihm höchst schädlich, denn er sei ein schwatzhaftes Tier, und in seinem jetzigen Stande schätze er keinen Vorzug so hoch, als daß er die Freiheit habe, sich für die zwölf Knebeljahre entschädigen zu dürfen, die er bei seinem Großvater habe versauern müssen, dem Gott in jenem Leben gnädig sein möge.

Herr: So schwatze denn, weil es uns beiden Vergnügen macht! Du bliebst ich weiß nicht bei welchem schändlichen Antrag der Frau des Wundarztes stehen; sie verlangte von dir, du solltest den Wundarzt im Schlosse um seinen Dienst bringen helfen und seine Stelle ihrem Mann zuschanzen.

Jakob: Ich verließ also ... Doch einen Augenblick, wenn es Ihnen recht ist. Ich muß mir die Kehle anfeuchten.

[178] Jakob füllte einen großen Becher mit Kräutertee, goß ein wenig Weißwein hinein und stürzte den Inhalt hinunter.

Es war das ein Rezept, das er von seinem Hauptmann hatte und das Herr Tissot, der es Jakob verdankte, in seiner Abhandlung über die Volkskrankheiten empfiehlt. Der Weißwein, erklärten Jakob und Herr Tissot, sei harntreibend oder diuretisch, paralysiere den faden Geschmack des Kräutertees und kräftige Magen und Eingeweide. Nachdem er also seinen Tee ausgetrunken hatte, begann Jakob: »Ich verließ also das Haus des Chirurgen, setzte mich in den Wagen und kam im Schlosse an, wo sich alle, die darin wohnten, um mich her versammelten.«

Herr: Warst du schon dort bekannt?

Jakob: Freilich, erinnern Sie sich einer gewissen Frau mit dem Ölkruge?

Herr: Recht gut.

Jakob: Sie war die Botenfrau des Haushofmeisters und des Gesindes. Jeanne hatte im Schloß ausposaunt, welche Handlung der Barmherzigkeit ich an ihr getan hätte; meine gute Tat war bis zu dem Herrn des Schlosses gedrungen; man hatte ihm die Fußtritte und Faustschläge nicht verschwiegen, womit sie in der Nacht auf der Landstraße vergolten worden war, und er hatte befohlen, daß man mich ausfindig machen und in sein Schloß schaffen sollte. Jetzt war ich da. Man betrachtete mich; man fragte mich; man bewunderte mich; Jeanne umarmte mich und wiederholte ihren Dank.

›Gebt ihm ein gutes Zimmer,‹ sagte der Herr zu seinen Leuten, ›und laßt es ihm an nichts fehlen. – Und Ihnen,‹ fuhr er zu dem Wundarzte fort, ›Ihnen empfehle ich seine Pflege und Heilung aufs beste.‹

Alles ward pünktlich befolgt. Sehen Sie nun wohl, Herr, daß niemand wissen kann, was dort oben geschrieben steht. Jetzt sage mir einer, es sei wohl oder übel getan, sein Geld wegzuschenken, oder es sei ein Unglück, zu Boden geschlagen zu werden! Ohne dies beides hätte Herr Desglands nie von Jakob reden hören.

[179] Herr: Monsieur Desglands, Herr von Miremont? Also auf dem Schlosse Miremont befindest du dich, bei meinem alten Freunde, dem Vater von Herrn Desforges, des Intendanten der Provinz?

Jakob: Ganz recht; und die junge Brünette, die so schlank gewachsen ist und so schwarze Augen hat ...

Herr: ... ist Denise, Jeannes Tochter?

Jakob: Eben die.

Herr: Du hast recht; sie ist eins der schönsten und tugendhaftesten Mädchen auf zwanzig Meilen im Umkreis. Ich und die meisten von Desglands' Bekannten haben alles, aber vergebens, angewendet, um sie zu verführen: und es war nicht einer unter uns, der ihretwegen nicht die größten Torheiten begangen hätte, wenn sie nur eine einzige kleine mit ihm hätte begehen wollen.

Weil Jakob hier zu reden aufhörte, fragte ihn sein Herr: »Was denkst du? Was tust du?«

Jakob: Ich bete.

Herr: Du betest?

Jakob: Zuweilen.

Herr: Und wie betest du denn?

Jakob: Ich bete: Du, der Du die große Rolle gemacht hast, Du, wer du auch bist, der Du alles das schriebst, was dort oben geschrieben steht! Du wußtest von Anbeginn her, was mir gut ist; Dein Wille geschehe! Amen!

Herr: Könntest du nicht ebensowohl nicht beten?

Jakob: Vielleicht ja; vielleicht nein. Ich bete auf alle Fälle. Es möchte mir begegnen, was da wolle; ich würde mich weder darüber freuen noch darüber klagen, sobald ich meiner mächtig wäre; aber leider bin ich zuweilen unüberlegt und heftig; ich vergesse meine Grundsätze oder die Lehren meines Hauptmanns und lache und weine dann wie ein Narr.

Herr: Lachte und weinte denn dein Hauptmann nie?

Jakob: Selten ... An einem Morgen brachte Jeanne ihre Tochter zu mir und sagte: ›Sie sind nun in einem schönen Schlosse, wo Sie sich ein wenig besser befinden werden als bei Ihrem [180] Dorfbader. Im Anfang vor allem, oh, da wird man Sie warten und pflegen, daß nichts darüber geht! Aber ich kenne das Gesinde; denn ich bin lange genug unter ihnen gewesen. Nach und nach erkaltet ihr Eifer. Die Herrschaft wird nicht mehr an Sie denken; und sollte Ihre Krankheit andauern, so werden Sie vergessen, oh, so rein vergessen werden, daß, wenn es Ihnen in den Sinn käme, zu verhungern, nichts Sie daran verhindern würde.‹ Sie wendete sich hierauf zu ihrer Tochter. ›Höre, Denise,‹ sagte sie zu ihr, ›ich will, daß du diesen wackeren Mann täglich viermal besuchen sollst: morgens, mittags zur Essenszeit, nachmittags um fünf Uhr und abends. Ich befehle dir, ihm wie mir selbst zu gehorchen. Laß dir das gesagt sein und befolge es pünktlich!‹

Herr: Weißt du, was dem armen Desglands begegnet ist?

Jakob: Nein, Herr, aber wenigstens hat die Schuld nicht an mir gelegen, wenn meine Wünsche für seine Wohlfahrt nicht in Erfüllung gegangen sind. Er überließ mich dem Komtur de la Boulaye, der auf der Fahrt nach Malta umkam; der Komtur de la Boulaye überließ mich seinem ältesten Bruder, dem Kapitän, der vielleicht nun an seiner Fistel gestorben sein wird; dieser Kapitän überließ mich seinem jüngeren Bruder, dem Generaladvokaten zu Toulouse, der verrückt geworden ist und auf Verlangen der Familie eingesperrt ward. Herr Pascal, der Generaladvokat zu Toulouse, trat mich dem Grafen von Tourville ab, der lieber sich den Bart in einer Kapuzinerkutte wachsen lassen als sein Leben im Felde wagen wollte. Von dem Grafen Tourville kam ich an die Marquise de Belloy, die mit einem Ausländer nach London durchging; die Marquise de Belloy überließ mich einem ihrer Vettern, der sich durch die Frauen ruiniert hat und nach Amerika gegangen ist. Dieser Vetter empfahl mich an einen Herrn Hérissant, einen Wucherer von Handwerk, der die Geldgeschäfte des Herrn de Rusai, Doktor an der Sorbonne, besorgte und mich bei Mamsell Isselin in Dienste brachte, die Ihre Mätresse war und die mich bei Ihnen anstellte, bei dem Herrn, der mir versprochen hat, wenn ich ihm treu und ehrlich diente, mir mein Stückchen Brot [181] in meinen alten Tagen zu geben; und es hat auch nicht den Anschein, als ob wir uns je wieder trennen würden. Jakob ist für Sie und Sie sind für Jakob gemacht.

Herr: Aber, Jakob, du hast in kurzer Zeit vielen Herren gedient.

Jakob: Das ist wahr; man gab mir zuweilen den Abschied.

Herr: Warum das?

Jakob: Weil ich ein geborenes Plaudermaul bin und alle diese Leute verlangten, daß ich so stumm sein sollte wie ein Fisch; es war da nicht wie bei Ihnen: Sie würden mich morgen abdanken, wenn ich das Maul halten wollte. Ich habe gerade den Fehler, der Ihnen behagt. Aber ... was ist denn dem Herrn Desglands begegnet? Erzählen Sie mir das, während ich mir meinen Tee zurechtmache?

Herr: Du bist so lange in seinem Schlosse gewesen und hast nie von seinem Pflaster reden hören?

Jakob: Nein.

Herr: Ich will dir die Geschichte für unterwegs aufheben; die zweite ist kürzer. Er hatte sein Glück im Spiel gemacht und kam mit einer Dame in Verbindung, die du auf seinem Schloß gesehen haben wirst, eine Frau von Verstand, die aber ernsthaft, schweigsam, mürrisch, sonderbar und hart war. Diese Dame sagte einmal zu ihm: ›Entweder Sie lieben mich mehr als das Spiel, und in dem Falle geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß Sie nie wieder spielen wollen; oder Sie lieben das Spiel mehr als mich, und in dem Falle sagen Sie mir nichts mehr von Ihrer Liebe und spielen Sie, solange es Ihnen gefällig ist ...‹ Desglands gab sein Ehrenwort, daß er nicht mehr spielen wollte.

›Weder hohes noch niedriges Spiel?‹

›Weder hohes noch niedriges Spiel.‹

Zehn Jahre ungefähr hatten sie miteinander auf dem Schlosse gelebt, das du kennst, als Desglands wegen eines dringenden Geschäftes nach Paris reisen mußte und das Unglück hatte, bei seinem Notar einen von seinen alten Spielhausbekannten anzutreffen, mit dem er in einem berüchtigten Spielhause speiste und dort in einem einzigen Sitz sein ganzes Vermögen verlor.[182] Seine Geliebte blieb unerbittlich. Sie war reich und setzte ihm eine mäßige Pension aus; aber sie trennte sich von ihm auf immer.

Jakob: Das tut mir leid; denn es war ein gar wackerer Mann.

Herr: Wie geht es mit deinem Hals?

Jakob: Schlecht.

Herr: Das liegt daran, daß du zuviel sprichst und nicht genug trinkst.

Jakob: Weil ich den Kräutertee nicht mag, aber sehr gern spreche.

Herr: Also, Jakob, du bist nun bei Desglands, siehst Denisen täglich, und Denise hatte von ihrer Mutter Befehl, dich wenigstens viermal des Tages zu besuchen. Die Spitzbübin! Einem Jakob den Vorzug zu geben!

Jakob: Ein Jakob, mein Herr, ist so gut ein Mensch wie ein anderer.

Herr: Jakob, du täuschst dich; ein Jakob ist nicht so gut ein Mensch wie ein anderer.

Jakob: Manchmal ist er sogar mehr wert als ein anderer.

Herr: Jakob, du vergißt dich. Fahre in deiner Liebesgeschichte fort und erinnere dich, daß du nichts anderes bist und ewig nichts anderes sein wirst als Jakob!

Jakob: Wenn in der Kneipe, wo wir die Gauner antrafen, Jakob nicht ein bißchen mehr wert gewesen wäre als sein Herr ...

Herr: Jakob, du bist ein unverschämter Mensch! Du mißbrauchst meine Güte. Wenn ich die Torheit begangen habe, dir einen besseren Platz anzuweisen, als dein Stand mit sich bringt, so werde ich dir auch wieder den anzuweisen wissen, der dir gehört. Jakob, nimm deine Flasche und deinen Teekessel und packe dich hinunter in die Gesindestube!

Jakob: Das ist Ihr Spaß, Herr! Ich befinde mich hier recht wohl und gehe nicht hinunter.

Herr: Ich befehle dir, du sollst hinuntergehn!

Jakob: Ich bin sicher, das kann Ihr Ernst nicht sein. Wie? Herr, nachdem Sie mich zehn Jahre lang gewöhnt haben, auf gleich und gleich mit Ihnen zu leben ...

[183] Herr: Jetzt beliebt es mir aber, daß das Ding ein Ende nehmen soll.

Jakob: ... nachdem Sie alle meine Unverschämtheiten gutwillig ertragen haben ...

Herr: Ich will sie nicht länger ertragen.

Jakob: ... nachdem Sie mich am Tische neben sich sitzen ließen, mich Freund genannt haben ...

Herr: Du weißt nicht, was das heißt, wenn ein Höhergestellter seinen Untergebenen Freund nennt.

Jakob: Aber ich wußte, daß alles, was Sie befahlen, nur in den Wind geredet war, wenn Jakob es nicht bestätigte und unterschrieb; und jetzt, da Sie Ihren Namen mit dem meinigen so eng gepaart haben, daß beide sich gar nicht mehr voneinander trennen lassen und daß alle Welt ›Jakob und sein Herr‹ sagt – jetzt kommt es Ihnen auf einmal in den Kopf, sie voneinander zu reißen? Nein, Herr, das geht nicht! Dort oben steht geschrieben, daß, solange Jakob lebt und solange sein Herr lebt und selbst dann, wenn beide tot sind, daß man immer und ewig sagen soll: ›Jakob und sein Herr‹.

Herr: Und ich, ich sage: Jakob, du gehst hinunter, augenblicklich hinunter, weil ich es dir befehle!

Jakob: Herr, belieben Sie mir etwas anderes zu befehlen, wenn Sie wollen, daß ich Ihnen gehorchen soll!

Hier stand Jakobs Herr auf, faßte ihn vorn bei der Brust und sagte mit ernstem Gesicht: »Geh hinunter!«

Jakob antwortete ganz kalt: »Ich geh nicht hinunter!«

Der Herr schüttelte ihn derb und rief: »Geh hinunter, Schurke! Tue, was ich dir befehle!«

Jakob antwortete noch kälter als zuvor: »Schurke hin, Schurke her! Der Schurke geht nicht hinunter! Sehen Sie, Herr, was ich im Kopf habe, das habe ich nicht in den Beinen, wie das Sprichwort sagt. Sie erhitzen sich vergeblich. Jakob bleibt, wo er ist, und geht nicht hinunter!«

Und nun fingen Jakob und sein Herr, nachdem sie bisher an sich gehalten hatten, plötzlich an, ihrer Hitze freien Lauf zu lassen und aus vollem Halse zu schreien: »Du sollst hinuntergehn!«

[184] »Ich will nicht hinuntergehn!«

»Du sollst hinuntergehn!«

»Ich will nicht hinuntergehn!«

Die Wirtin kam auf den Lärm hin herauf und erkundigte sich, was es gäbe. Aber in den ersten Augenblicken erhielt sie keine Antwort, sondern beide schrien so laut wie vorher: »Du sollst hinuntergehn!«

»Ich will nicht hinuntergehn!«

Der Herr lief mißmutig im Zimmer auf und ab und brummte zwischen den Zähnen: »Hat man in seinem Leben etwas Ähnliches gesehen?«

Die Wirtin stand ganz verwundert da und fragte von neuem: »Aber meine Herren, was ist denn los?«

Jakob, ohne seine Ruhe zu verlieren, antwortete der Wirtin: »Mein Herr ist verrückt im Kopf; er ist ein Narr geworden.«

Herr: Ein Einfaltspinsel willst du sagen.

Jakob: Wie es Ihnen gefällig ist.

Herr (zur Wirtin): Haben Sie's gehört?

Wirtin: Er hat unrecht; aber Ruhe, Ruhe! Sprechen Sie einer nach dem andern, damit ich weiß, um was es sich handelt.

Herr (zu Jakob): Rede, Schurke!

Jakob (zu seinem Herrn): Reden Sie doch!

Wirtin (zu Jakob): Nun, Herr Jakob, reden Sie! Ihr Herr hat es Ihnen befohlen; und alles wohl überlegt, bleibt ein Herr immer ein Herr.

Jakob erklärte nun der Wirtin den ganzen Verlauf.

»Wollen Sie mich zum Schiedsrichter annehmen, meine Herren?« fragte sie, nachdem sie alles gehört hatte.

Jakob und sein Herr antworteten beide zugleich:

»Herzlich gern, herzlich gern, Frau Wirtin!«

»Und versprechen Sie mir auf Ihre Ehre, sich nach meinem Spruch zu richten?«

Jakob und sein Herr: Auf Ehre! Auf Ehre!

Nun setzte sich die Wirtin auf den Tisch, gab sich ein gravitätisches richterliches Ansehen und sagte: »Nachdem uns durch Herrn Jakob alles vorgebracht worden, was vorgegangen ist, [185] und daraus erhellt, daß sein Herr ein sehr guter, ein nur zu guter Herr und Jakob keineswegs ein schlechter Diener ist, der aber zuweilen den absoluten und unveräußerlichen Besitz mit einer zeitweiligen und freiwilligen, auf nichts sich gründenden Konzession zu verwechseln scheint, so annullieren wir die Gleichheit, welche sich durch verjährtes Herkommen zwischen beiden gegründet hat, stellen jedoch solche sogleich wieder von neuem her. Jakob geht hinunter, und wenn er hinuntergegangen ist, so kommt er wieder herauf und tritt aufs neue in alle die Vorrechte ein, die er bis zu diesem Tag genossen hat. Sein Herr reicht ihm die Hand und sagt in freundschaftlichem Ton zu ihm: ›Guten Tag, Jakob! Es freut mich, dich wiederzusehen.‹ Und Jakob antwortet: ›Und ich, mein Herr, ich freue mich, wieder bei Ihnen zu sein.‹ Wir verbieten beiden, dieses Vorfalls je wieder zu erwähnen oder die Rechte des Herrn oder des Dieners je wieder in Erwähnung zu bringen. Auch wollen wir, daß der eine befehlen und der andere gehorchen soll, soweit es in jedes Kräften steht, und daß im übrigen, was der eine vermag und der andere schuldig ist, in dieselbe Dunkelheit gehüllt bleiben soll wie vorher.«

Mit diesen Worten schloß sie den Urteilsspruch, den sie aus irgendeiner Schrift dieser Zeit entlehnt zu haben schien, die bei Gelegenheit eines ähnlichen Streites veröffentlicht worden war, wo man von einem Ende des Reiches bis zum andern den Herrn seinem Diener hatte zurufen hören: ›Du gehst hinunter!‹ Und wo der Diener seinem Herrn wieder zugerufen hatte: ›Ich geh nicht hinunter!‹

»Kommen Sie, Herr Jakob,« fuhr sie fort, »kommen Sie und geben Sie mir den Arm! Ohne weitere Einwendungen den Arm!« Wehmütig rief Jakob aus: »So stand es also dort oben geschrieben, daß ich hinunter sollte!«

»Ja,« antwortete die Wirtin Jakob, »es steht dort oben geschrieben: Sobald man einen Herrn über sich setzt, muß man hinunter oder hinauf, vorwärts oder rückwärts oder auf einer Stelle ausdauern, ohne daß es jemals der Willkür der Füße überlassen bleibt, den Befehlen des Kopfes den Gehorsam zu verweigern.[186] Her mit dem Arm! Und daß mein Befehl auf das genaueste befolgt wird!«

Jakob gab der Wirtin den Arm; doch kaum waren sie über die Schwelle der Tür, als der Herr Jakob nacheilte, ihn umarmte und ihn nur losließ, um der Wirtin um den Hals zu fallen. Indem er so beide wechselweise umarmte, rief er aus: »Ja, es steht dort oben geschrieben, daß ich mich nie von diesem Originale soll scheiden können und daß er, solang ich lebe, mein Herr und ich sein Diener sein soll!«

»So wie die Sachen stehen,« setzte die Wirtin hinzu, »werden Sie sich beide nicht schlechter dabei befinden.«

Als die Wirtin diesen Streit, den sie für den ersten seiner Art hielt, der aber gewiß der hundertste war, auf diese Weise geschlichtet und Jakob wieder in Gnaden hatte annehmen lassen, ging sie ihren Geschäften nach, und der Herr sagte nun zu Jakob: »Da wir jetzt beide bei kaltem Blute und imstande sind, vernünftig zu urteilen, wollen wir ...«

Jakob: ... dieser Sache gar nicht mehr Erwähnung tun, weil wir beide bei unserer Ehre dem Friedensrichter versprochen haben, nie wieder davon anzufangen.

Herr: Du hast recht.

Jakob: Könnten wir nicht, ohne eben wieder von der Sache anzufangen, hundert ähnlichen Fällen durch einen billigen Vertrag vorbeugen?

Herr: Ich bin es zufrieden.

Jakob: Nun, so wollen wir ausmachen: Erstens, daß, weil nun einmal dort oben geschrieben steht, daß ich Ihnen unentbehrlich bin und ich es auch fühle und weiß, daß Sie mich nicht entbehren können – daß ich, sage ich, alle diese Vorrechte so oft werde mißbrauchen dürfen, als sich Gelegenheit dazu bietet.

Herr: Aber, Jakob, noch niemals ist ein ähnlicher Vertrag geschlossen worden.

Jakob: Geschlossen oder nicht geschlossen – genug, das ist von jeher geschehen, geschieht noch und wird geschehen, solange die Welt steht. Glauben Sie nicht, daß andere sich wie [187] Sie bemüht haben, sich diesem Dekret zu entziehen? Und halten Sie sich für geschickter als andere Leute? Lassen Sie diesen Gedanken fahren, und unterwerfen Sie sich dem Gesetz einer Notwendigkeit, dem zu entgehen nicht in Ihrer Macht steht. Zweitens wollen wir ausmachen: Weil es nun für Jakob eine ebenso große Unmöglichkeit ist, sein Übergewicht und seine Gewalt über seinen Herrn nicht zu erkennen, als es für seinen Herrn eine ist, seine Schwachheit nicht einzusehen und seiner Nachsicht zu entsagen, so soll Jakob unverschämt sein und um des Friedens willen sein Herr gar nicht tun dürfen, als ob er es gewahr würde. Denn dieses alles ward dort oben niedergeschrieben, ohne daß wir ein Wort davon wußten, und in ebendem Augenblick dort oben unterzeichnet und besiegelt, da die Natur Jakob und seinen Herrn hervorbrachte. Es ward dort oben beschlossen, daß Sie den Titel führen und ich im Besitze der Sache sein sollte. Wollten Sie sich gleich dem Willen der Natur widersetzen, so würden Sie doch nichts ausrichten, und all Ihr Bestreben wäre vergeblich.

Herr: Aber unter diesen Umständen wäre dein Los ja besser als das meinige.

Jakob: Wer streitet Ihnen denn das ab?

Herr: Und ich täte am besten, deinen Platz einzunehmen und dich an den meinigen zu stellen.

Jakob: Wissen Sie, was dann geschehen würde? Sie würden auch den Titel verlieren und die Sache doch nicht besitzen. Lassen Sie uns bleiben, wie wir sind! Wir befinden uns ja alle beide so recht wohl und wollen den Rest unseres Lebens dazu anwenden, ein Sprichwort zu spielen.

Herr: Welches Sprichwort?

Jakob: Jakob hat seinen Herrn am Bändel. – Wir werden die ersten sein, von denen man es sagt; aber es wird bei tausend anderen wiederholt werden, die mehr wert sind als Sie und ich.

Herr: Das dünkt mich hart, sehr hart.

Jakob: Herr, lieber Herr! Löcken Sie nicht wider den Stachel; er sticht Sie sonst nur mehr. Also, das wäre nun zwischen uns ausgemacht.

[188] Herr: Aber wozu bedarf es unserer Einwilligung bei einem notwendigen Gesetz?

Jakob: Oh, es bedarf ihrer recht sehr! Halten Sie es denn für etwas Unnötiges, einmal recht klar und deutlich zu wissen, wie man miteinander steht? Alle unsere Fehden und Streitigkeiten sind die ganze Zeit über daher gekommen, daß wir uns noch nie recht offenherzig ins Gesicht gesagt hatten: Sie, daß Sie mein Herr heißen wollten, und ich, daß ich Ihr Herr sein sollte. Doch nunmehr ist alles ins reine gebracht, und jetzt dürfen wir uns nur danach richten und so miteinander fortleben.

Herr: Aber wo zum Teufel hast du das alles her?

Jakob: Aus dem großen Buche. Ach, Herr! Man mag noch soviel überlegen, sinnen und in allen möglichen Büchern der Welt studieren, man bleibt doch immer und ewig ein Abc-Schütz, wenn man nicht in dem großen Buche gelesen hat.


Am Nachmittag klärte sich das Wetter auf, und einige Reisende brachten die Nachricht, daß die Furt zu passieren sei. Jakob ging in den Stall, und sein Herr bezahlte die Wirtin sehr reichlich. Vor der Tür des Gasthofes wimmelte es von Passagieren, die durch das böse Wetter aufgehalten worden waren und sich nun anschickten, ihren Weg fortzusetzen. Unter diesen befanden sich denn auch Jakob und sein Herr, der Mann mit der lächerlichen Heirat und sein Reisegefährte. Die Fußgänger griffen zu ihren Wanderstäben und Schnappsäcken, andere setzten sich in ihre Kaleschen oder Wagen, und die Reiter schwangen sich auf ihre Pferde und nahmen einen Abschiedstrunk. Die freundliche Wirtin stand mit einer Flasche in der Hand in der Tür, schenkte allen ein und reichte zu trinken, ohne sich selbst zu vergessen. Man sagte ihr allerlei Artiges und Verbindliches, was sie höflich und freundlich erwiderte. Endlich gab man den Pferden die Sporen, grüßte einander und ritt von dannen.

Es fügte sich, daß Jakob und sein Herr, der Marquis des Arcis und sein Gefährte den nämlichen Weg zu machen hatten. [189] Von diesen vier Personen, lieber Leser, ist dir nur der letzte noch unbekannt. Er hatte kaum sein zweiundzwanzigstes oder dreiundzwanzigstes Jahr zurückgelegt und war so blöde und schüchtern, daß man es auf seinem Gesichte lesen konnte. Den Kopf ließ er ein wenig nach der linken Schulter hängen, war sehr still und hatte fast gar kein weltgewandtes Benehmen. Machte er einen Bückling, so neigte er den obern Teil seines Körpers, ohne die Beine zu bewegen; saß er, so hatte er die Angewohnheit, die Schöße seines Rockes über seine Oberschenkel zu schlagen, die Hände in die Schlitze zu stecken und so dem Gespräch mit halbgeschlossenen Augen zuzuhören. Alle diese Sonderbarkeiten hatten ihn in Jakobs Augen gar bald enträtselt. Er näherte sich seinem Herrn und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich wette, dieser Mann hat in einer Mönchskutte gesteckt.«

»Warum, Jakob?«

»Sie werdens sehen.«

Unsere vier Reisenden reisten also zusammen und unterhielten sich vom Regen, vom schönen Wetter, von der Wirtin, vom Wirt und von dem Streit des Marquis des Arcis wegen Nicole. Diese hungrige und schmutzige Bestie hatte sich beständig an seinen Strümpfen abgewischt. Nachdem er sie einige Male vergeblich mit der Serviette weggescheucht hatte, riß endlich seine Geduld, und er gab ihr einen derben Tritt. Und damit war das Gespräch sofort auf die sonderbare Liebe und den eigenen Hang, den das weibliche Geschlecht zu den Tieren hat, gelenkt. Jeder sagte seine Meinung darüber. »Jakob, was denkst du davon?« fragte ihn sein Herr.

Jakob fragte seinen Herrn wieder, ob er nicht bemerkt hätte, daß arme Leute, wenn sie auch noch so sehr im Elend schmachteten und nicht einen Bissen Brot hätten, sich doch Hunde hielten? Ferner: Ob er nicht bemerkt hätte, daß die Hunde, die man abgerichtet, allerlei Künste zu machen, zum Beispiel auf zwei Beinen zu gehen, zu tanzen, zu apportieren, über den Stock zu springen, sich tot zu stellen und so weiter, eben durch eine solche Erziehung die unglücklichsten Kreaturen auf der [190] Welt geworden wären? Daraus folgerte nun Jakob weiter, daß jeder Mensch einem andern befehlen wolle, und weil das Tier in der menschlichen Gesellschaft unmittelbar seinen Platz nach der Klasse der letzten und geringsten Bürger des Staates einnehme, die sich von allen andern Klassen befehlen lassen müsse, so halte sich jedes Glied dieser Klasse ein Tier, um doch auch etwas zu haben, dem es befehlen könne.

»Daher kommt es denn,« fuhr Jakob fort, »daß jedermann auf der Welt seinen Hund hat. Der Minister ist des Königs Hund; der Erste Sekretär des Ministers Hund; die Frau ist des Mannes Hund, oder der Mann ist der Hund der Frau; Favorit ist der Hund der Dame und Thibault der Hund des Dienstmannes, der an der Gassenecke sitzt. Wenn mein Herr mich zum Schwatzen bringt, ob ich gleich gern schweigen möchte (was indes, die Wahrheit zu gestehen, bei mir selten der Fall ist), oder wenn er mich, während ich gern schwatzen möchte, schweigen läßt (was bei mir äußerst schwerhält) oder wenn er von mir die Erzählung meiner Liebesgeschichte verlangt und ich lieber von etwas anderem redete oder wenn er mich in der Erzählung meiner Liebesgeschichte, die ich angefangen habe, unterbricht, bin ich dann etwas anderes als sein Hund? Die schwachen Menschen sind die Hunde der Menschen von starkem Geiste.«

Herr: Aber, Jakob, diese Liebe zu den Tieren bemerke ich nicht bloß bei geringen Leuten; ich kenne auch große Damen, die von einer ganzen Koppel Hunde umgeben sind, ohne die Katzen, die Papageien und die anderen Vögel zu rechnen.

Jakob: Das ist dann eine Satire auf diese Damen und auf alles, was sie umgibt. Sie lieben keinen Menschen, und kein Mensch liebt sie; so werfen sie denn ein Gefühl, mit dem sie nichts anzufangen wissen, vor die Hunde.

Der Marquis des Arcis: Tiere lieben oder sein Herz an Hunde wegwerfen ist in Wahrheit höchst sonderbar.

Herr: Was an diese Tiere verschwendet wird, genügte oft zwei oder drei Notleidenden zur Nahrung.

Jakob: Nimmt Sie's nun noch wunder?

Herr: Nein.

[191] Der Marquis des Arcis richtete seine Augen auf Jakob, lächelte über seine Einfälle, wandte sich hierauf zu seinem Herrn und sagte: »Sie haben da einen Diener, der nicht vom gemeinen Schlage ist.«

Herr: Einen Diener? Sie sind sehr gütig. Ich bin sein Diener, ich, und es hat wenig gefehlt, daß er es mir nicht noch diesen Morgen in aller Form bewiesen hätte.

Während man so miteinander plauderte, erreichte man das Nachtquartier und logierte zusammen auf einem Zimmer. Jakobs Herr und der Marquis des Arcis aßen miteinander zu Abend; für Jakob und den jungen Menschen ward besonders gedeckt. Jakobs Herr skizzierte dem Marquis in vier Worten Jakobs Geschichte und seine fatalistische Grille. Der Marquis sprach von dem jungen Menschen, der ihn begleitete. Er war Prämonstratensermönch gewesen und durch einen eigenartigen Vorfall genötigt worden, das Kloster zu verlassen. Einige Freunde hatten ihn dem Marquis empfohlen und dieser ihn dann, bis sich eine bessere Versorgung fände, einstweilen zu seinem Sekretär gemacht.

»Das ist doch drollig«, sagte Jakobs Herr.

Marquis: Was finden Sie dabei drollig?

Herr: Ich denke an Jakob. Kaum kamen wir in den Gasthof, den wir heute nachmittag verlassen haben, so raunte er mir zu: ›Betrachten Sie einmal diesen jungen Menschen genauer. Ich wette darauf, er ist ein Mönch gewesen.‹

Marquis: Er hat es erraten; ich weiß nicht woran. Pflegen Sie zeitig zu Bett zu gehen?

Herr: Nein, gewöhnlich nicht, und diesen Abend habe ich es noch weniger eilig, weil wir heute nur eine halbe Tagereise gemacht haben.

Marquis: Wenn Sie nichts vorhaben, was Sie nützlicher oder angenehmer beschäftigen kann, so will ich Ihnen die Geschichte meines Sekretärs erzählen. Ich versichere Ihnen im voraus, sie gehört nicht zu den alltäglichen.

Herr: Ich werde Ihnen mit Vergnügen zuhören.

[192] ›Und Jakobs Liebesgeschichte?‹ höre ich dich, lieber Leser, sagen. Glaubst du, daß ich nicht ebenso neugierig darauf bin wie du? Hast du vergessen, daß Jakob gern spricht und besonders gern von sich spricht? Eine Sucht, die Leuten von seinem Stande allgemein anklebt; eine Sucht, die sie ihre Niedrigkeit vergessen läßt, sie auf die Tribüne emporhebt und plötzlich in wichtige Personen umschafft! Was glaubst du wohl, das den gemeinen Mann zu den öffentlichen Hinrichtungen lockt? Unmenschlichkeit? Du irrst dich; der gemeine Mann ist nicht unmenschlich. Den armen Sünder, um dessen Blutgerüst er sich drängt – oh, er würde ihn gern den Händen der Gerechtigkeit entreißen, wenn er nur könnte! Er sucht auf dem Richtplatz ein Schauspiel auf, das er bei der Rückkehr nach seiner Vorstadt wiedererzählen kann. Ob er dieses oder jenes erzählt, das ist ihm gleichgültig, wenn er nur eine Rolle spielen, seine Nachbarn um sich versammeln und sie zu seinen Zuhörern machen kann. Man gebe auf den Boulevards von Paris ein Freudenfest, und der Place de Grève wird gewiß leer sein. Das gemeine Volk ist begierig nach öffentlichen Schauspielen und läuft danach, weil es durch das Zusehen amüsiert wird und weil die Erzählung, die es bei seiner Heimkehr davon macht, es von neuem amüsiert. Das gemeine Volk ist schrecklich in seiner Wut, aber sie hält nicht an. Sein eigenes Elend hat es mitleidig gemacht; es wendet die Augen von dem Schauspiele des Schreckens weg, das es aufzusuchen kam; es wird weichherzig und geht mit Tränen von dannen. – Alles, was ich dir da sage, lieber Leser, weiß ich aus Jakobs Munde und bekenne es dir willig, weil ich nicht gern mit erborgtem Witze prunke. Jakob kannte weder das Wort Laster noch das Wort Tugend. Er behauptete, man sei entweder glücklich oder unglücklich geboren. Hörte er die Worte Belohnung oder Strafe nennen, so zuckte er die Achseln. Seiner Meinung nach war Belohnung Aufmunterung der Guten, Strafe Abschreckung der Bösen. »Was kann es anders sein,« sagte er, »wenn es unter dem Monde keinen freien Willen gibt und unser Schicksal dort oben geschrieben steht?« [193] Er war überzeugt, daß ein Mensch den Weg, der zum Ruhm oder zur Schmach führt, ebenso unausbleiblich wandern muß wie eine Kugel, die das Bewußtsein ihrer selbst hätte, doch notwendig den Abhang eines Berges hinunterrollen müßte. »Kennten wir«, fuhr er fort, »die Kette der Ursachen und Wirkungen, welche das Leben eines Menschen vom ersten Augenblick der Geburt an bis zu seinem letzten Hauche ausmachen, so würden wir überzeugt werden, daß er nichts weiter getan hat, als was er notwendig tun mußte.« Ich habe ihm oft widersprochen, doch ohne daß es etwas gefruchtet hätte. In der Tat, was soll man auch dem Manne antworten, der zu uns sagt: ›Die Summe der Elemente, aus welchen ich bestehe, mag noch so groß sein, ich bin doch nureins, und eine Ursache hat nur eine Wirkung. Ich bin immer nur eine einzige Ursache gewesen; ich habe daher auch immer nur eine Wirkung hervorzubringen gehabt. Meine Lebensdauer war also bloß eine Reihe von absolut notwendigen Wirkungen.‹

So vernünftelte Jakob wie sein Hauptmann. Die Unterscheidung einer physischen und einer moralischen Welt schien ihm sinnlos. Sein Hauptmann hatte ihm alle diese Meinungen in den Kopf gesetzt, die er, der Hauptmann, wieder aus seinem Spinoza gesogen hatte, den er auswendig wußte. Nach diesem System könnte man glauben, Jakob habe sich über nichts gefreut oder betrübt, doch das war nicht der Fall. Er machte es ungefähr so wie du und ich. Er dankte dem, der ihm Gutes tat, damit er ihm noch mehr Gutes tun möchte; er geriet in Zorn über den ungerechten Mann, und machte man ihm den Einwurf, daß er so dem Hunde gleiche, der in den Stein beiße, mit dem man nach ihm geworfen habe, so gab er zur Antwort: »Mitnichten! Der gebissene Stein bessert sich nicht, aber der ungerechte Mensch wird durch den Prügel in Schranken gehalten.« Oft war er so inkonsequent wie du und ich und vergaß seine Grundsätze, ausgenommen in gewissen Fällen, wo seine Philosophie ihn augenscheinlich beherrschte; und dann pflegte er zu sagen: »Das mußte so und nicht anders geschehen, denn es stand dort oben im großen Buche geschrieben.« [194] Er suchte dem Übel vorzubeugen und benahm sich klug trotz seiner großen Verachtung für die Klugheit. War ihm etwas zugestoßen, so betete er sein Sprüchlein her, und man fand ihn getröstet. Im übrigen war er ein guter Mann, freimütig, bieder, wacker, anhänglich, ein großer Starrkopf, ein noch größerer Schwätzer und betrübt wie du und ich, daß er die Erzählung seiner Liebesgeschichte angefangen hatte, fast ohne Hoffnung, sie zu Ende zu bringen. Also, Leser, rate ich dir, dich vorzusehen und dich darauf gefaßt zu machen, in Ermangelung von Jakobs Liebesgeschichte dich mit den Abenteuern des Sekretärs des Marquis des Arcis zu begnügen. Überdies sehe ich den armen Jakob, wie er seinen Hals mit einem breiten Schnupftuch umwickelt hat, wie seine Reiseflasche, die sonst nur mit gutem Wein angefüllt war, jetzt nur Kräutertee enthält, wie er hustend auf die Wirtin, die sie verlassen, und ihren Champagnerwein schimpft, was er gewiß nicht tun würde, wenn er sich erinnerte, daß alles dort oben geschrieben steht, sogar sein Katarrh.

Und dann, Leser, die ewigen Liebesgeschichten! Eine, zwei, drei, vier Liebesgeschichten, die ich dir schon erzählt habe, drei oder vier andere Liebesgeschichten, die dir noch einfallen – wahrhaftig, das sind ja Liebesgeschichten die Fülle! Zwar ist es auf der andern Seite wahr, daß man, da man für dich schreibt, entweder auf deinen Beifall verzichten oder dich nach deinem Geschmack bedienen muß, der entschieden Liebesgeschichten vorzieht. Alle eure Novellen, ihr Leser, in Versen oder in Prosa, sind Liebesgeschichten. Fast alle eure Gedichte, Elegien, Eklogen, Idyllen, Lieder, Episteln, Komödien, Trauerspiele, Opern sind Liebesgeschichten. Fast alle eure Bilder und Skulpturen sind Liebesgeschichten. Solange ihr lebt, hat man euch mit nichts als Liebesgeschichten genährt, und ihr seid ihrer doch nicht überdrüssig geworden; man zwingt euch zu dieser Diät und wird euch noch lange dazu zwingen, euch alle, ihr Männer und Frauen, ihr großen und kleinen Kinder, ohne daß ihr davon übersättigt werdet. Wahrhaftig, das ist wunderbar! Ich wünschte, daß die Geschichte des Sekretärs [195] des Marquis des Arcis auch eine Liebesgeschichte wäre. Aber mir ist bange, daß es damit nichts ist und sie euch nur Langeweile machen wird. Desto schlimmer für den Marquis des Arcis, für Jakobs Herrn, für dich, Leser, und für mich!

»Es kommt eine Zeit, da fast alle jungen Mädchen und Jünglinge die Schwermut anwandelt; sie fühlen sich von einer unbestimmten Unruhe gefoltert, die überall unstet umherschweift und nirgends etwas findet, was sie stillen könnte; sie suchen die Einsamkeit auf; sie weinen; die klösterliche Stille rührt sie; das Bild des Friedens und der Ruhe, die in den Wohnungen der Ordensleute zu herrschen scheinen, verführt sie; sie sehen die ersten Aufwallungen eines Temperaments, das sich zu entwickeln anfängt, für Gottes Ruf an; und gerade in dem Augenblick, da die Natur ihnen am stärksten zusetzt, ergreifen sie eine Lebensart, die ganz den Wünschen der Natur entgegen ist. Doch der Irrtum dauert nicht lange; der Ausdruck der Natur wird deutlicher; man fühlt und erkennt ihn, und das sequestrierte Geschöpf wird nun von Reue, Tiefsinn, krankhaften Launen, Verzweiflung oder Verwirrung des Verstandes ergriffen.« Mit dieser Einleitung fing der Marquis des Arcis seine Erzählung an. »Im siebzehnten Jahre seines Lebens wurde Richard (so heißt mein Sekretär) der Welt überdrüssig, floh aus dem väterlichen Hause und wurde ein Prämonstratensermönch.«

Herr: Ein Prämonstratensermönch? Das machte er gut; sie sind weiß wie die Schwäne, und der heilige Norbert, der sie stiftete, vergaß nur eine einzige Sache in seiner Ordensregel ...

Marquis: Jedem seiner Mönche ein Visavis anzuweisen!

Herr: Wenn die Liebesgötter nicht gewohnt wären, ganz nackt zu gehen, so würden sie sich gewiß wie Prämonstratensermönche kleiden. Es herrscht in diesem Orden eine ganz eigene Politik. Man erlaubt den Umgang mit einer Herzogin, einer Marquise, einer Gräfin, einer Präsidentin, einer Staatsrätin, selbst einer Finanzpächterin, aber nicht mit einer Bürgerin. Selten wird man einen Prämonstratensermönch in einem Laden [196] sehen, wenngleich die Kaufmannsfrau noch so hübsch wäre.

Marquis: Eben das sagte mir Richard. Er würde sein Gelübde gleich nach Verlauf der beiden Novizenjahre abgelegt haben, wenn seine Eltern sich nicht widersetzt hätten. Sein Vater verlangte, daß er wieder zu ihm in das väterliche Haus ziehen und daselbst, unter Beobachtung sämtlicher Regeln des Klosterlebens, seinen Beruf zum Mönchsstande noch ein Jahr auf die Probe setzen sollte. Dieser Vertrag wurde von beiden Teilen getreulich beobachtet. Als das Probejahr unter den Augen der Familie verstrichen war, bestand Richard von neuem darauf, sein Gelübde abzulegen. Sein Vater gab ihm zur Antwort: ›Ich habe dir ein Jahr zugestanden, um einen endgültigen Entschluß zu fassen; ich hoffe, du wirst nun auch mir ein Jahr zu demselben Zweck nicht abschlagen. Übrigens erlaube ich dir, dieses Jahr zuzubringen, wo es dir gefällt.‹ Während dieses Aufschubjahres nahm ihn der Abt des Ordens zu sich, und in dieser Zwischenzeit wurde er in eins von den Abenteuern verwickelt, die sich nur in Klöstern zutragen. Damals stand an der Spitze eines Klosters des Ordens ein Superior von einem ganz außerordentlichen Charakter, der sich Pater Hudson nannte. Pater Hudson hatte das interessanteste Äußere: eine hohe Stirn, ein ovales Gesicht, eine Adlernase, große blaue Augen, schöne breite Backen, einen schönen Mund, schöne Zähne, ein feines Lächeln, einen Kopf, den ein Wald von weißen Haaren deckte, welche zu dem Interessanten seiner Gestalt noch die Würde fügten. Witz, Kenntnisse, ein heiteres Wesen, der größte Anstand im Reden und Betragen, Liebe zur Ordnung, Liebe zur Arbeit – das alles zeichnete ihn aus. Aber dazu gesellten sich die ungestümsten Leidenschaften, der ausschweifendste Hang zu Vergnügungen, sonderlich mit dem schönen Geschlecht, ein Geist der Kabale, der bis zur größten Finesse getrieben war, eine unglaubliche Zügellosigkeit der Sitten und der absoluteste Despotismus gegen seine Klosteruntergebenen. Als er die Aufsicht über dieses Kloster erhielt, war es von einem unwissenden [197] Jansenismus angesteckt; die Studien wurden nachlässig getrieben, die zeitlichen Angelegenheiten befanden sich in der größten Unordnung, die klösterlichen Pflichten waren ganz aus der Observanz gekommen, der Gottesdienst wurde mit der größten Unschicklichkeit gehalten, und die überflüssigen Wohnungen waren mit ausschweifenden Kostgängern angefüllt. Pater Hudson bekehrte oder entfernte die Jansenisten; er führte in eigener Person bei den Studien den Vorsitz, brachte die weltlichen Angelegenheiten wieder in Ordnung, stellte die Beobachtung der Ordensregeln in ihrer alten Kraft her, führte Regelmäßigkeit und Würde beim Gottesdienst ein, trieb die Kostgänger aus, die durch ihren Wandel Ärgernis gaben, und machte aus seiner Gemeinde ein Muster von Erbauung und Gottesfurcht. Aber er selbst dispensierte sich von diesen strengen Sitten, auf welche er bei den anderen so sehr hielt. Er war nicht so einfältig, sich selbst das eiserne Joch aufzuerlegen, unter welchem er seine Untergebenen zu schmachten zwang. Auch fühlten sie alle gegen den Pater Hudson eine heimlich zurückgehaltene und ebendeshalb um so heftigere und gefährlichere Erbitterung; jeder war sein Feind und sein Spion, jeder beschäftigte sich insgeheim damit, die Hüllen, die Hudson über seinen Wandel breitete, zu durchschauen und aufzudecken; jeder hielt sich ein eigenes Register von seinen heimlichen Sünden und Ausschweifungen; jeder hatte sich vorgenommen, ihn zu stürzen. Hudson konnte keinen Schritt tun, ohne daß man ihm nachspürte; kaum hatte er eine neue Intrige angezettelt, so war es auch schon entdeckt und bekannt. Der Abt des Ordens besaß ein Haus, welches an das Kloster stieß; dieses hatte zwei Türen, von denen die eine auf die Straße und die andere in das Kloster ging. Hudson hatte die Schlösser erbrochen, und die Abtswohnung war der Schauplatz seiner nächtlichen Orgien und das Bett des Abtes die Lagerstätte seiner Freuden geworden. Sobald die Nacht etwas vorgerückt war, ließ er in eigener Person durch die Straßentüre Frauenzimmer von allen Ständen und Klassen in das Haus ein und hielt mit ihnen die leckersten [198] Abendmahlzeiten. Hudson hatte den einen Beichtstuhl zu besorgen und alle seine Beichtkinder weiblichen Geschlechts, die der Mühe lohnten, zu verführen gewußt. Unter diesen Beichtkindern befand sich eine junge Zuckerbäckerin, die durch ihre Schönheit und Koketterie in ihrem Viertel Aufsehen machte. Hudson verschloß sie, da er sie nicht in ihrem Hause besuchen konnte, in sein Serail. Diese Art von Entführung erregte natürlicherweise bei den Eltern und dem Manne Verdacht. Sie ließen sich bei Hudson melden. Er empfing sie mit bestürzter Miene; aber eben als die guten Leute im Begriff waren, ihm ihr Anliegen zu klagen, ward die Glocke geläutet (es war abends gegen sechs Uhr). Sogleich hieß Hudson sie schweigen, nahm seinen Hut ab, stand auf, schlug ein großmächtiges Kreuz und fing in einem salbungsreichen und inbrünstigen Ton zu beten an: ›Angelus domini nuntiavit Mariae ...‹ etc. Wie beschämt waren nun der Vater und die Brüder der Zuckerbäckerin über ihren Verdacht, und wie sie die Treppe hinabstiegen, bekam der Ehemann zu hören: ›Mein Sohn, du bist nicht gescheit! – Herr Schwager, schämen Sie sich nicht? So ein Mann, der den Angelus betet! So ein Heiliger!‹

An einem Winterabend, als Hudson zu seinem Kloster zurückkehrte, ging ihn auf der Straße eine von jenen Kreaturen an, welche sich den Vorübergehenden anzutragen pflegen. Er fand sie hübsch und ging mit ihr. Kaum aber war er auf ihrem Zimmer, als die Wache ihn überraschte. Dieses Abenteuer hätte jeden anderen ins Verderben gestürzt; aber Hudson war ein Mann von Kopf, und dieser Vorfall erwarb ihm im Gegenteil das Wohlwollen und den Schutz des Polizeibeamten. Als er vor ihn gebracht ward, redete er ihn folgendermaßen an: ›Ich heiße Hudson und bin Superior eines Klosters. Als ich in dieses Kloster kam, war darin alles in größter Unordnung: Wissenschaft, Disziplin, Sitten waren in gänzlichem Verfall. Das Geistliche wurde bis zum Skandal vernachlässigt, und die Zerrüttung des Weltlichen drohte dem Kloster den nahen Untergang. Ich habe alles wieder in Flor und Aufschwung [199] gebracht; aber ich bin Mensch und habe mich lieber an ein verworfenes Geschöpf machen als ein ehrliches Mädchen verführen wollen. Machen Sie nun mit mir, was Ihnen gut dünkt.‹ Der Polizeibeamte empfahl ihm für die Zukunft mehr Behutsamkeit, versprach ihm, den ganzen Vorfall zu unterdrücken, und äußerte zugleich sein Verlangen, mit ihm in genauere Bekanntschaft zu kommen.

Unterdessen hatten Hudsons Feinde im Kloster, ein jeder für sich, dem General des Ordens Aufzeichnungen, in denen alles angeführt war, was sie von Hudsons unordentlichem Lebenswandel wußten, übersandt. Die Vergleichung dieser Aufzeichnungen vermehrte ihr Gewicht. Der General war ein Jansenist und folglich geneigt, Rache für die Art von Verfolgung zu nehmen, welche Hudson gegen die Anhänger seiner Meinungen ausgeübt hatte. Er wäre entzückt gewesen, wenn er den Vorwurf der Zucht- und Sittenlosigkeit, den man einem Verteidiger der Bulle machte, auf die Sekte hätte ausdehnen können. Demzufolge händigte er die verschiedenen eingelaufenen Register von Hudsons Sünden zwei Kommissaren ein, die er heimlich mit dem Befehl abfertigte, zu ihrer Untersuchung zu schreiten und sie den Rechten gemäß festzustellen. Dabei schärfte er ihnen vor allem ein, bei der Behandlung dieser Angelegenheit mit der größten Vorsicht zu Werke zu gehen, weil dies das einzige Mittel sei, plötzlich den Schuldigen zu stürzen und ihm den Schutz des Hofes und des Bischofs von Mirepoix zu entziehen, in dessen Augen der Jansenismus das größte aller Verbrechen und die Unterwürfigkeit gegen die Bulle Unigenitus die erste aller Tugenden war. Mein Sekretär Richard war einer von diesen beiden Kommissaren.

Beide verließen also das Novizenhaus, verfügten sich in Hudsons Kloster und schritten nun im stillen und verborgenen zur Untersuchung. Sie hatten bald eine Liste von mehr Bubenstücken und Schandtaten zusammengebracht, als nötig gewesen wäre, fünfzig Mönche lebenslänglich ins Gefängnis zu schicken. Ihr Aufenthalt dauerte lange; aber sie verfuhren so [200] vorsichtig und klug, daß auch nicht das geringste durchsickerte. So pfiffig Hudson auch war, so stand er doch schon am Rande seines Unterganges, ohne die mindeste Ahnung davon zu haben. Doch daß diese Ankömmlinge sich so wenig Mühe gaben, ihm den Hof zu machen, daß sie den Endzweck ihrer Reise so geheimhielten, daß sie bald einzeln, bald zusammen in die Stadt gingen, ferner ihre häufigen Konferenzen mit den andern Mönchen, die Klasse von Leuten, die sie besuchten und von denen sie wieder besucht wurden – das alles machte ihn zuletzt doch ein wenig unruhig. Er gab auf sie acht und ließ durch andere auf sie achtgeben. Nun war der Gegenstand ihrer Reise bald kein Geheimnis mehr. Doch er kam darüber nicht aus der Fassung, sondern sann nur emsig der besten Art und Weise nach, nicht wie er dem Ungewitter, das ihm drohte, entgehen, sondern wie er es den beiden Kommissaren selbst über den Hals schicken wollte. Endlich fiel er auf folgendes außerordentliche Mittel.

Er hatte ein junges Mädchen verführt und hielt sie in der Vorstadt Saint-Médard versteckt, wo er ihr ein kleines Zimmer gemietet hatte. Zu dieser eilte er. ›Liebes Kind,‹ rief er beim Eintritt, ›alles ist entdeckt! Wir sind verloren! Ehe acht Tage vergehen, sperrt man dich ein, und der Himmel weiß, was man mit mir vornehmen wird! Doch überlaß dich nicht der Verzweiflung, halt dich nicht mit unnötigen Klagen auf, sondern fasse dich und höre mich an! Befolge, was ich dir sagen werde; befolge es pünktlich, ich nehme das übrige auf mich! Morgen reise ich aufs Land. In meiner Abwesenheit geh zu zwei Mönchen, die ich dir nennen will (er nannte ihr die beiden Kommissare), und verlange eine geheime Unterredung mit ihnen! Wenn du mit ihnen allein bist, fall auf die Kniee, bitte sie um ihre Hilfe, flehe ihre Gerechtigkeit an und sage, sie möchten deine Fürsprecher bei dem Ordensgeneral sein, über den sie, wie du wüßtest, so viel vermöchten! Weine, heule, schluchze, raufe dir die Haare aus! Und während du weinst, heulst, schluchzt und dir die Haare ausraufst, erzähle ihnen unsere ganze Geschichte, und zwar auf eine Art, die ihnen recht viel[201] Abscheu gegen mich und recht viel Mitleiden mit dir einflößen muß!‹

›Wie, mein Herr, ich soll ihnen sagen..?‹

›Ja, sag ihnen, wer du bist, wem du angehörst, daß ich dich verführt, im Beichtstuhl verführt, daß ich dich aus den Armen deiner Eltern geraubt und dich in dem Hause hier verborgen habe; sag ihnen, ich hätte dich dem Elend und Mangel preisgegeben, nachdem ich dich um deine Ehre gebracht und dich dem Laster überliefert hätte; sag ihnen, du wüßtest nicht mehr, was du anfangen solltest!‹

›Aber lieber Pater!‹

›Tue, was ich dir vorgeschrieben habe und noch vorschreiben werde; wo nicht, so mache dich auf dein und mein Unglück gefaßt! Die beiden Mönche werden nicht ermangeln, dich zu beklagen, dich ihres Beistandes zu versichern und sich eine zweite Zusammenkunft von dir ausbitten, die du ihnen auch zusagen mußt. Sie werden Erkundigungen über dich und deine Eltern einziehen; und da du ihnen nichts gesagt hast, was nicht wahr ist, so kann dich nichts ihnen verdächtig machen. Wenn diese erste und zweite Zusammenkunft vorbei sein wird, will ich dir vorschreiben, was du bei der dritten zu tun hast. Jetzt denke nur darauf, deine Rolle gut zu spielen!‹

Alles geschah so, wie Hudson es sich vorgestellt hatte. Er verreiste zum zweiten Mal. Die Kommissare gaben dem jungen Mädchen davon Nachricht, und sie kam wieder in das Kloster. Sie ließen sich ihre unglückliche Geschichte noch einmal von ihr erzählen. Während der eine sie anhörte, notierte sich der andere verschiedenes daraus auf seiner Schreibtafel. Sie beseufzten ihr Schicksal, gaben ihr Nachricht von der Trostlosigkeit ihrer Eltern, die nur zu begründet war, und gelobten ihr Sicherheit für ihre Person und schleunige Rache an ihrem Verführer, doch unter der Bedingung, daß sie ihre Aussage durch ihre eigenhändige Unterschrift bekräftige. Dieser Vorschlag schien sie anfangs zu empören, man bestand aber darauf, und sie willigte ein. Es handelte sich nur noch um den Tag, die Stunde und den Ort, wo ihre Aussage zu Protokoll genommen [202] und von ihr unterschrieben werden sollte, was Zeit und Muße verlangte.

›Hier geht es unmöglich; denn wenn der Prior zurückkäme und mich gewahr würde ... Zu mir zu kommen, das kann ich Ihnen auch nicht zumuten.‹

Das Mädchen und die beiden Kommissare schieden voneinander und gönnten sich gegenseitig Zeit, diese Schwierigkeiten zu beseitigen.

Noch denselben Tag erfuhr Hudson, was vorgegangen war, und geriet außer sich vor Freude; denn er sah sich nun seinem Triumphe nahe. Nun sollten diese Naseweise bald sehen, mit wem sie es zu tun hatten! – ›Nimm die Feder, liebes Kind,‹ fuhr er fort, ›und bestelle sie an einen Ort, den ich dir nennen will; gegen die Zusammenkunft dort werden sie gewiß nichts einzuwenden haben, denn es ist ein ehrbares Haus, und die Frau, die es bewohnt, steht in der Nachbarschaft und bei allen Mietsleuten im besten Ruf.‹

Diese Frau aber war eine der heimlichen Intrigantinnen, die äußerlich die Gottesfürchtigen und Tugendhaften spielen, sich in die besten Häuser einschlängeln, einen sanften, schmeichelnden, liebreichen Ton haben und das Vertrauen der Mütter und Töchter zu erschleichen wissen, um sie zum Bösen zu verführen. Zu diesem Geschäft brauchte sie auch Hudson; sie war seine Kupplerin. Ob er ihr auch das Geheimnis dieser Zusammenkunft anvertraute oder nicht, das ist mir unbekannt. Wirklich nahmen die beiden Abgesandten des Generals die vorgeschlagene Zusammenkunft an und begaben sich dahin.

Die Kupplerin entfernte sich und ließ sie mit dem jungen Mädchen allein. Man war beschäftigt, ihre Aussage zu Papier zu bringen, als mit einem Mal ein großer Lärm im Hause entstand. ›Meine Herren, wen suchen Sie?‹

›Wir suchen die Frau Simion!‹ (So hieß die Intrigantin.) ›Hier ist ihre Tür.‹

Nun ward heftig an die Tür geschlagen. ›Meine Herren,‹ sagte das junge Mädchen zu den beiden Geistlichen, ›soll ich antworten?‹

[203] ›Antworte!‹

›Soll ich aufmachen?‹

›Aufgemacht!‹ Der draußen so rief, war ein Polizeikommissar, Hudsons sehr intimer Bekannter; denn mit wem war er nicht bekannt? Hudson hatte ihm die Gefahr, worin er schwebte, entdeckt und ihm seine Rolle vorgeschrieben.

›Aha!‹ rief der Kommissar beim Hereintreten.

›Zwei Mönche mit einem Freudenmädchen allein und eingeschlossen? Sie ist nicht übel!‹

Das junge Mädchen war in einem so unanständigen Anzuge, daß es unmöglich war, sich in ihrem Gewerbe zu irren oder nicht zu ahnen, was sie mit zwei Mönchen ins reine zu bringen haben möchte, von denen der ältere keine dreißig Jahre war. Diese beteuerten ihre Unschuld. Der Kommissar lachte höhnisch, indem er mit der Hand dem Mädchen unters Kinn fuhr, das ihm zu Füßen gefallen war und um Gnade bat.

›Wir sind an einem ehrbaren Orte‹, sagten die Mönche.

›Ja, ja, an einem recht ehrbaren Orte‹, wiederholte der Kommissar.

›Wir sind in wichtigen Angelegenheiten hierhergekommen.‹

›Wir kennen die wichtigen Angelegenheiten, in denen man hierherkommt.‹

›Mamsell, reden Sie!‹

›Herr Kommissar, was die Herren sagen, ist die lautere Wahrheit.‹

Unterdessen hatte der Kommissar seinerseits ebenfalls ein Protokoll aufgenommen; und weil sein Protokoll bloß die simple und schlichte Erzählung des Vorgangs enthielt, so waren die beiden Mönche gezwungen, es zu unterschreiben. Als sie hinuntergeführt wurden, fanden sie alle Mietsleute auf den Treppen vor ihren Zimmern und vor der Haustür eine große Menge Volks, einen Fiaker und verschiedene Häscher. Von diesen wurden sie unter dem Geschrei des Volks und unter dem Gelächter und Spott der versammelten Menge in den Fiaker gesetzt; sie hatten das Gesicht in ihre Mäntel gehüllt und waren untröstlich.

[204] Der perfide Kommissar rief aus: ›Aber warum, meine Herren Patres, warum gehen Sie auch an solche Orte und zu solchen Kreaturen? Übrigens hat es nicht viel zu bedeuten. Ich habe Befehl von der Polizei, Sie in die Hände Ihres Superiors zu liefern, der ein wackerer, nachsichtiger Mann ist. Ich hoffe, er wird aus der Sache nicht mehr machen, als sie verdient; denn ich glaube nicht, daß man in Ihren Klöstern so streng verfährt wie bei den grausamen Kapuzinern. Hätten Sie mit Kapuzinern zu tun, dann würde ich Sie wirklich beklagen.‹

Während der Kommissar so mit ihnen sprach, setzte der Fiaker seinen Weg nach dem Kloster fort. Das Volksgedränge ward immer größer; der Pöbel umringte die Kutsche, lief vor ihr her oder zog ihr nach; man hörte fragen: ›Was gibt es denn?‹

›Es sind Mönche.‹

›Was haben sie getan?‹

›Man hat sie bei liederlichen Mädchen angetroffen.‹

›Prämonstratensermönche bei Dirnen?‹

›Freilich! Sie kommen den Karmelitern und Barfüßern ins Gehege.‹

Nun waren sie vor dem Kloster angelangt. Der Kommissar stieg aus, klopfte an die Tür, klopfte wie der, klopfte zum dritten Male, und endlich ward aufgemacht. Man meldete es nun dem Superior Hudson, der wenigstens eine halbe Stunde auf sich warten ließ, damit der Skandal desto größer und lauter würde. Endlich kam er. Der Kommissar flüsterte ihm etwas ins Ohr. Es sah aus, als ob er eine Fürbitte einlegte und als ob Hudson seine Bitte hartnäckig abschlüge. Endlich nahm der Prior eine strenge Miene und einen entschlossenen Ton an.

›Ich habe keine liederlichen Mönche in meinem Kloster,‹ sagte er ganz laut; ›diese Herren sind zwei Fremde, die ich nicht kenne, zwei verkleidete Schelme vielleicht, mit denen Sie machen können, was Sie wollen.‹

Mit diesen Worten schloß sich die Tür; der Kommissar setzte sich wieder in den Wagen und sagte zu den beiden armen Teufeln, die mehr tot als lebendig waren: ›Ich habe alles getan, [205] was ich konnte. Hätte ich doch nie geglaubt, daß der Prior so hart wäre! Aber, zum Henker, was hatten Sie bei solchem liederlichen Mädchen zu schaffen?‹

›Wenn das Mädchen, bei welchem Sie uns angetroffen haben, in diese Klasse gehört, so sind wir wenigstens nicht in bösen Absichten zu ihr gekommen.‹

›Ei, ei, meine Herren Patres! Und so etwas wollen Sie einem alten, im Dienst grau gewordenen Kommissar weismachen? Wer sind Sie?‹

›Wir sind Mönche und der Habit, den wir tragen, ist unser Ordenshabit.‹

›Bedenken Sie wohl, daß morgen Ihre Sache sich aufklären muß, und reden Sie die Wahrheit, denn ich kann Ihnen vielleicht dienen.‹

›Wir haben Ihnen die Wahrheit gesagt. Aber wo bringen Sie uns hin?‹

›Nach dem kleinen Châtelet.‹

›Nach dem kleinen Châtelet? Ins Gefängnis?‹

›Es tut mir äußerst leid.‹

Wirklich wurden Richard und sein Gefährte dahin gebracht; aber Hudsons Absicht war nicht, sie dort zu lassen. Er hatte sich in eine Postchaise geworfen und war nach Versailles gefahren. Er ging zu dem Minister und trug ihm die Sache so vor, wie sie am besten in seinen Kram paßte.

›Sehen Euer Eminenz, dem setzt man sich aus, wenn man der Zügellosigkeit in Klöstern steuert und sie von Ketzerei säubert! Einen Augenblick später – und ich war verloren, entehrt. Doch die Verfolger werden es nicht dabei bewenden lassen. Alle möglichen Schandtaten, womit man einen Ehrenmann nur anschwärzen kann, werden Ihnen von mir zu Ohren gebracht werden; aber ich hoffe, Euer Eminenz werden sich erinnern, daß unser General ...‹

›Ich weiß es, ich weiß es, und ich bedaure Sie; aber die Dienste, die Sie der Kirche und dem Orden gelei stet haben, sollen nie in Vergessenheit kommen. Die Auserwählten des Herrn sind von jeher den Verleumdungen ausgesetzt gewesen; aber [206] sie haben sie zu ertragen gewußt. Eifern Sie ihnen in ihrem Mute nach, rechnen Sie auf des Königs Schutz und Gnade! Oh, die Mönche, die Mönche! Ich bin selbst einer gewesen und weiß aus Erfahrung, wessen sie fähig sind.‹

›Wenn das Glück der Kirche und des Staates es wollte, daß Euer Eminenz mich überlebten, so würde ich ohne Furcht auf dem Pfade fortwandeln, den ich betreten habe.‹

›Verlassen Sie sich auf mich; Sie sollen nicht mehr lange in Ihrem Kloster schmachten. Gehen Sie!‹

›Nein, Euer Eminenz, ich werde nicht eher gehen, als bis ich den Befehl mitnehmen kann, daß die beiden Verbrecher auf freien Fuß gesetzt werden.‹

›Ich sehe, daß Ihnen die Ehre des Ordens und Ihres Gewandes so sehr am Herzen liegt, daß Sie persönliche Beleidigungen darüber vergessen. Das heißt ganz wie ein Christ handeln, und ich bin davon äußerst erbaut, ohne bei einem Mann wie Sie erstaunt darüber zu sein. Diese Sache soll unterdrückt werden.‹

›Ach, Euer Eminenz überschütten meine Seele mit Freude; in diesem Augenblicke war mir vor nichts als davor bange.‹

›Ich will sogleich die nötigen Schritte tun.‹

Noch denselben Abend erhielt Hudson einen Befehl, welcher die beiden Mönche aus ihrem Gefängnisse befreien sollte; und den andern Morgen mit Tagesanbruch befanden Richard und sein Gefährte sich schon zwanzig Meilen weit von Paris. Sie wurden von einem Polizeibeamten begleitet, welcher sie im Profeßhause abgeben sollte. Dieser war zugleich der Überbringer eines Briefs von dem Minister, welcher dem General einschärfte, sich dergleichen Streiche in Zukunft zu enthalten und unsern beiden Mönchen eine Klosterstrafe aufzuerlegen.

Diese Geschichte setzte alle Feinde Hudsons in die äußerste Bestürzung. Im ganzen Kloster war nicht ein Mönch, der nicht vor seinem Blick gezittert hätte. Einige Monate darauf bekam er eine reiche Abtei. Dies kränkte den General aufs bitterste; er war alt, und es ließ sich mit vieler Wahrscheinlichkeit fürchten, daß der Abt Hudson sein Nachfolger werden könnte. Er liebte Richard zärtlich.

[207] ›Mein armer Freund,‹ sagte er eines Tages zu ihm, ›was würde aus dir werden, wenn du einst unter die Botmäßigkeit des Bösewichts Hudson geraten solltest? Ich zittre bei dem Gedanken. Du bist noch durch kein Gelübde gebunden; wenn du meinem Rate folgen wolltest, so legtest du das Ordenskleid ab.‹

Richard tat, was der General ihm riet, und kehrte in das väterliche Haus zurück, das in der Nähe von Hudsons Abtei lag.

Hudson und Richard besuchten dieselben Häuser; es war also unmöglich, daß sie einander nicht treffen sollten, und sie trafen sich auch wirklich. Richard war einmal zum Besuch bei einer Dame auf ihrem Schlosse, das zwischen Châlons und Saint-Dizier, aber näher an Saint-Dizier als an Châlons und nur einen Büchsenschuß weit von Hudsons Abtei lag.

Die Dame sagte zu ihm: ›Wir haben Ihren ehemaligen Prior hier; er ist sehr liebenswürdig. Aber, sagen Sie mir, was ist es eigentlich für ein Mann?‹

›Der beste der Freunde und der gefährlichste der Feinde.‹

›Hätten Sie nicht Lust, ihn zu sehen?‹

›Nicht die geringste.‹

Kaum hatte er das gesagt, als man ein Kabriolett in den Hof rollen hörte, aus welchem Hudson mit einer der schönsten Damen der ganzen Gegend stieg.

›Sie werden ihn doch sehen müssen, wenn Sie es auch nicht wollen,‹ sagte die Herrin des Schlosses, ›denn er ist es selbst.‹

Die Herrin des Schlosses und Richard gingen der Dame im Kabriolett und dem Abt Hudson entgegen. Die Damen umarmten sich. Hudson, als er sich Richard näherte und ihn erkannte, rief aus: ›Sind Sie es, Richard? Sie haben mich stürzen wollen; ich verzeihe es Ihnen. Verzeihen Sie mir auch Ihren Besuch im Châtelet, und lassen Sie uns nicht mehr daran den ken!‹

›Gestehen Sie, Herr Abt, daß Sie ein lockerer Zeisig waren?‹

›Das kann wohl sein.‹

›Und daß, wenn man Ihnen hätte Gerechtigkeit widerfahren lassen, nicht ich, sondern Sie den Besuch im Châtelet hätten machen müssen?‹

[208] ›Wohl möglich. Ich glaube, ich habe der Gefahr, in der ich mich damals befand, meine Bekehrung zu verdanken. Ach, lieber Richard, wie hat mich das zum Nachdenken gebracht, und wie bin ich jetzt so ganz anders geworden!‹

›Die Dame, mit der Sie gekommen sind, ist entzückend!‹

›Ich habe keine Augen mehr für solche Reize.‹

›Welch herrlicher Wuchs!‹

›Ich bin sehr gleichgültig dagegen geworden.‹

›Welch liebliche Fülle!‹

›Glauben Sie mir, früh oder spät kommt man von einem Vergnügen zurück, das man auf dem First eines Daches und unter beständiger Gefahr, sich den Hals zu brechen, genießt.‹

›Sie hat die schönsten Hände von der Welt!‹

›Ich habe dem Gebrauch solcher Hände entsagt; ein gescheiter Kopf kehrt zu dem Geiste seines Standes als dem einzig wahren Glück zurück.‹

›Und diese Augen, mit welchen sie so verstohlen nach Ihnen blickt! Sie sind ja ein Kenner; gestehen Sie nur, daß Sie noch nie feurigere und sanftere Augen auf sich gezogen haben! Welche Grazie, welche Leichtigkeit und welcher Adel in ihren Bewegungen, ihrem Gange!‹

›Ich denke nicht mehr an solche Nichtigkeiten; ich lese in der Heiligen Schrift und studiere die Kirchenväter.‹

›Und von Zeit zu Zeit die Reize dieser Dame ... Wohnt sie weit von Moncetz? Ist ihr Gemahl noch jung?‹

Hudson, der über diese Fragen die Geduld verlor und wohl sah, daß Richard ihn für keinen Heiligen halten würde, brach plötzlich in den Ausruf aus: ›Lieber Richard! Sie ... auf mich, und Sie haben recht.‹


Lieber Leser! Verzeihe mir das Eigentümliche dieses Ausdrucks und gestehe, daß hier wie in unzähligen andern guten Geschichtchen, zum Beispiel in dem Gespräch Pirons und des verstorbenen Abbé Vatry, das anständige Wort alles verderben würde.

[209] ›Was war das für eine Unterredung, die Piron mit dem Abbé Vatry hatte?‹

Frage den Herausgeber seiner Werke danach, der es nicht wagte, dieses Gespräch drucken zu lassen, der sich aber nicht den Ärmel ausreißen lassen wird, es dir zu erzählen.


»Die beiden Damen und die beiden Herren begaben sich in das Schloß; man ließ sich das Mittagessen wohlschmecken, war munter und guter Dinge, und gegen Abend trennte man sich mit dem Versprechen, bald wieder zusammenzukommen.«

Aber während der Marquis des Arcis mit Jakobs Herrn plauderte, war Jakob seinerseits mit dem Sekretär Richard nicht stumm gewesen. Er traf in diesem ein wahres Original an, und dies würde unter den Menschen öfter der Fall sein, wenn nicht zuvörderst die Erziehung und dann die intensive Berührung mit der Welt sie ebenso abschliffen wie die Geldstücke, die durch ihren starken Umlauf ihr Gepräge verlieren. Es war schon spät, und die Wanduhr benachrichtigte Herren und Diener, daß es Zeit sei, sich zu Bette zu begeben, ein Wink, den sie augenblicklich befolgten.

Als Jakob seinen Herrn auszog, sagte er zu ihm:

»Herr, sind Sie ein Freund von Gemälden?«

Herr: Ja, aber nur in Erzählungen; denn ob ich auch so gut wie jeder andere Dilettant darüber urteile, so muß ich doch offenherzig bekennen, daß ich in Farben und auf der Leinwand mich gar nicht darauf verstehe. Ich würde sehr verlegen sein, eine Schule von der andern zu unterscheiden. Man könnte mir einen Boucher für einen Rubens oder Raffael anhängen; ich würde eine schlechte Kopie für das schönste Original halten, eine Sudelei, die keine zwei Taler wert wäre, auf tausend Taler und ein Meisterstück von tausend Talern auf zwei Taler schätzen. Ich habe mir meine Gemälde immer auf dem Pont Notre-Dame bei einem gewissen Tremblin gekauft, der zu meiner Zeit die Zuflucht des Mangels oder der Liederlichkeit und der Ruin des Talents von Vanloos jungen Schülern war.

Jakob: Und wieso das?

[210] Herr: Was kümmert das dich? Erzähle mir jetzt dein Gemälde, aber fasse dich kurz; denn ich falle fast um vor Schlaf!

Jakob: Stellen Sie sich in Paris gerade vor den Brunnen des Innocents oder dicht an die Porte Saint-Denis; das sind zwei Nebendinge, welche dazu dienen, das Ganze der Komposition zu bereichern.

Herr: Ich stehe dort.

Jakob: Sehen Sie mitten in der Gasse den umgeworfenen Fiaker, dem der eine Hängeriemen zerrissen ist?

Herr: Ich sehe ihn.

Jakob: Ein Mönch und zwei Mädchen sind ausgestiegen; der Mönch reißt aus, was er ausreißen kann; der Kutscher eilt, vom Bock zu kommen; ein Pudel des Fiakers verfolgt den flüchtigen Mönch und erwischt ihn beim Rockzipfel; der Mönch tut, was er nur kann, um sich von dem Hunde loszumachen. Eins von den Mädchen, dem die Brust ganz entblößt ist und dessen Kleid überhaupt sehr in Unordnung geraten ist, hält sich vor Lachen die Seiten. Das andere Mädchen, das sich eine Beule gestoßen hat, lehnt sich an den Schlag und drückt sich die Stirn mit beiden Händen. Unterdessen hat sich der Pöbel versammelt; die Gassenjungen laufen herbei und schreien und jauchzen; die Krämer und Krämerinnen stehen in den Türen ihrer Läden, und eine Menge Zuschauer haben die Fenster der Straße besetzt.

Herr: Den Teufel, Jakob! Deine Komposition ist recht gut angeordnet; sie ist reich, launig, mannigfaltig und voll Lebens. Wenn wir wieder nach Paris kommen, so trage dieses Sujet zu Fragonard hin, und du wirst sehen, was er daraus machen wird.

Jakob: Nach dem Bekenntnis, das Sie mir soeben von Ihrer Einsicht in die Malerei abgelegt haben, kann ich Ihr Lob annehmen, ohne die Augen niederschlagen zu müssen.

Herr: Ich wette, das ist eins der Abenteuer des Abbé Hudson.

Jakob: Getroffen!

Lieber Leser! Während unsere guten Reisenden schlafen, möchte ich dir gern eine kleine Frage vorlegen, über die du mit Muße [211] auf deinem Kopfkissen nachsinnen kannst: Was für ein Kind möchte wohl aus der Verbindung des Abtes Hudson mit der Frau von Pommeraye entstanden sein?

›Vielleicht ein ehrlicher Mann. Vielleicht ein ausgemachter Schurke!‹

Lieber Leser! Morgen früh kannst du mir das beantworten.

Dieser Morgen brach an, und unsere Reisenden schieden voneinander; denn der Marquis des Arcis hatte nun nicht mehr denselben Weg mit Jakob und seinem Herrn.

›Wir fangen also wieder bei Jakobs Liebesgeschichte an?‹

Vielleicht! Aber soviel ist unleugbar gewiß, daß der Herr weiß, wieviel Uhr es ist, und daß er seine Prise Tabak genommen und zu Jakob gesagt hat: »Nun, Jakob, deine Liebesgeschichte?« Jakob, statt auf diese Frage zu antworten, brach in den Ausruf aus: »Es ist doch des Teufels! Vom Morgen bis in die Nacht schimpfen sie auf das Leben, und doch können sie sich nicht entschließen, es zu verlassen! Rührts vielleicht daher, daß das gegenwärtige Leben, alles wohl überlegt, kein so übles Ding ist, oder fürchten sie, das künftige möchte noch schlimmer ausfallen?«

Herr: Beides ist der Fall. Apropos, Jakob! Glaubst du an ein zukünftiges Leben?

Jakob: Ich glaube weder daran, noch glaube ich nicht daran; ich mache mir gar keine Gedanken darüber, sondern genieße, so gut es gehen will, das gegenwärtige Leben, das uns auf das zukünftige Erbe pränumeriert worden ist.

Herr: Ich für mein Teil betrachte mich als eine eingesponnene Raupe und schmeichle mir mit der Hoffnung, daß der Schmetterling oder meine Seele dereinst ihre Hülle durchbrechen und ihren Flug in den Schoß der göttlichen Gerechtigkeit nehmen wird.

Jakob: Ein schönes Bild!

Herr: Es ist nicht von mir; ich habe es, wenn mir recht ist, bei einem italienischen Dichter gelesen, der Dante heißt und der ein Werk geschrieben hat, das den Titel führt: ›Die Komödie der Hölle, des Fegfeuers und des Paradieses‹.

[212] Jakob: Ein sonderbarer Komödienstoff!

Herr: Gewiß! Es sind schöne Sachen darin, besonders in seiner Hölle: er sperrt die Stifter der Ketzerei in feurige Gräber, aus welchen die Flamme schlägt und weithin Verwüstung verbreitet. Die Undankbaren stellt er in Nischen, wo sie Tränen vergießen, die auf ihren Gesichtern zu Eis werden, und die Faulenzer bannt er in andere Nischen, und er sagt von ihnen, daß das Blut ihren Adern entströmt und von ekelhaften Würmern gefressen wird. – Aber warum dein Ausfall gegen unsere Verachtung eines Lebens, dessen Verlust wir fürchten?

Jakob: Weil mir der Sekretär des Marquis des Arcis etwas von dem seligen Manne der hübschen Dame erzählt hat, die in dem Kabriolett saß.

Herr: Sie ist Witwe?

Jakob: Sie verlor ihren Mann auf einer Reise, welche sie nach Paris machte, und der verteufelte Mensch wollte gar nichts von den Sterbesakramenten wissen. Die Dame des Schlosses, wo Richard den Abt Hudson antraf, bekam den Auftrag, ihn mit dem Kinderhäubchen auszusöhnen.

Herr: Kinderhäubchen? Was willst du denn damit sagen?

Jakob: Das Kinderhäubchen ist die Mütze, die man den neugeborenen Kindern aufsetzt.

Herr: Ich verstehe dich. Und wie fing sie es an, ihn zu behauben?

Jakob: Man saß im Kreise um das Kaminfeuer; der Arzt befühlte den Puls des Kranken, fand ihn sehr matt und setzte sich dann zu den andern. Die eben erwähnte Dame näherte sich seinem Bett und richtete verschiedene Fragen an den Doktor, ohne die Stimme mehr zu erheben, als nötig war, damit der Kranke kein Wort von dem verlöre, was an seine Adresse gerichtet war. Hierauf spann sich die Unterredung zwischen der Dame, dem Doktor und einigen Anwesenden auf folgende Art ab:

Die Dame: Herr Doktor, können Sie uns nicht sagen, wie sich die Frau Prinzessin von Parma befindet?

Der Doktor: Ich komme eben aus einem Hause, wo man mir [213] versichert hat, sie befinde sich so schlecht, daß man gar keine Hoffnung habe.

Die Dame: Diese Prinzessin hat sich immer sehr gottesfürchtig bezeigt. Sobald sie sich in Gefahr fühlte, verlangte sie ihren Beichtvater und ließ sich das Abendmahl reichen.

Der Doktor: Der Pfarrer zu Saint-Roch bringt ihr heute eine Reliquie nach Versailles; aber sie wird zu spät kommen.

Die Dame: Die Infantin ist nicht die einzige, welche ein so gutes Vorbild gibt. Der Herzog von Chevreuse, der sehr krank war, wartete auch nicht, bis man ihm vorschlug, die Sakramente zu empfangen; er fiel selbst darauf, sie sich reichen zu lassen, und machte damit seiner ganzen Familie große Freude.

Der Doktor: Er befindet sich weit besser.

Einer von den Anwesenden: Soviel ist gewiß; man stirbt nicht davon – im Gegenteil!

Die Dame: In Wahrheit, sobald Gefahr vorhanden ist, sollte man eilen, diese Pflicht zu erfüllen; wahrscheinlich fühlen es die Kranken nicht, wie hart es für die ist, die um sie sind, ihnen den Antrag zu machen, und doch wie notwendig.

Der Doktor: Ich komme eben von einem Kranken, der vor zwei Tagen zu mir sagte: ›Doktor, wie finden Sie mich?‹

›Herr, das Fieber ist stark und die Anfälle stellen sich heftig und häufig ein.‹

›Glauben Sie, daß es bald wiederkommen wird?‹

›Nein; ich fürchte nur für diesen Abend.‹

›Wenn das ist, will ich eine gewisse Person rufen lassen, mit der ich ein kleines, mich allein betreffendes Geschäft abzutun habe, damit ich es erledigen kann, solange ich meines Kopfes noch ganz mächtig bin.‹

Er beichtete und empfing die heiligen Sakramente. Den Abend besuchte ich ihn wieder; der Anfall war ausgeblieben; gestern war er weit besser, heute ist er ganz außer Gefahr. Ich habe während meiner Praxis schon oftmals dergleichen Wirkungen der heiligen Sakramente gesehen.

Der Kranke (zu seinem Bedienten): Bring mir mein Huhn!

[214] Jakob: Man brachte es ihm; er wollte es zerlegen und hatte die Kräfte nicht. Man schnitt ihm einen Flügel in kleine Bissen; er forderte Brot, fiel hastig darüber her, bemühte sich, einen Mundvoll davon zu kauen, konnte ihn nicht hinunterbringen und mußte ihn wieder in die Serviette spucken. Darauf verlangte er Wein, benetzte den Rand seiner Lippen damit und sagte: ›Ich befinde mich wohl ...‹ Aber eine halbe Stunde darauf war er tot.

Herr: Die Dame hatte es übrigens recht klug angefangen. – Und deine Liebesgeschichte?

Jakob: Und die Bedingung, die Sie eingegangen sind?

Herr: Ich verstehe ... Du bist auf dem Schloß von Desglands untergebracht, und die alte Botenfrau Jeanne hat ihrer jungen Tochter Denise anbefohlen, dich täglich viermal zu besuchen und für dich zu sorgen. Jedoch ehe du fortfährst, sag mir: War Denise noch im Besitz ihrer Jungfernschaft?

Jakob (hustend): Ich glaube schon.

Herr: Und du?

Jakob: Oh, die Zeit war lang vorbei, wo die meine noch auf den Feldern umherschweifte.

Herr: Das war also gar nicht deine erste Liebesgeschichte?

Jakob: Warum nicht?

Herr: Weil man die liebt, der man sie gibt, wie man von der geliebt wird, der man sie raubt.

Jakob: Manchmal ja, manchmal nein.

Herr: Und wie verlorst du die deine?

Jakob: Ich verlor sie nicht, ich tauschte sie regelrecht ein.

Herr: Erzähl mir etwas von diesem Tausch!

Jakob: Das würde das erste Kapitel des heiligen Lukas sein – eine endlose Litanei von genuit, von der ersten bis zu Denise, der letzten.

Herr: Die sie zu bekommen glaubte und nicht bekam.

Jakob: Und vor Denise die beiden Nachbarinnen von unserer Hütte.

Herr: Die sie zu bekommen glaubten und nicht bekamen.

Jakob: Jawohl.

[215] Herr: Zweien eine Junggesellenschaft vorenthalten, das ist nicht sehr geschickt.

Jakob: Halt, Herr, ich errate an dem Zucken Ihres rechten Mundwinkels und dem Zusammenziehen Ihres linken Nasenflügels, daß es besser ist, ich erzähle die Sache aus freien Stücken, als daß ich mich lange bitten lasse, um so mehr, als meine Halsschmerzen ärger werden, die Fortsetzung meiner Liebesgeschichte sehr lang ist und ich nur noch zu einer oder zwei kleinen Erzählungen Mut fühle.

Herr: Wenn Jakob mir ein großes Vergnügen bereiten wollte ...

Jakob: Was müßte er da tun?

Herr: Er würde mit dem Verlust seiner Junggesellenschaft anfangen. Soll ich dirs verraten? Ich war immer sehr erpicht auf die Schilderung dieses großen Ereignisses.

Jakob: Und warum, wenn ich fragen darf?

Herr: Weil von allen der nämlichen Art dies das einzig Pikante ist; die andern sind nichts als fade und gewöhnliche Wiederholungen. Ich wette, von allen Sünden eines hübschen Beichtkindes wird der Beichtvater nur bei dieser aufmerken.

Jakob: Lieber Herr, ich sehe, Sie haben eine ganz verdorbene Einbildungskraft, und es könnte leicht sein, daß in Ihrer Sterbestunde Ihnen der Teufel in derselben Gestalt erscheint wie dem Ferragus.

Herr: Das kann schon sein. Aber ich wette, du wurdest von irgendeiner unzüchtigen alten Vettel in deinem Dorf in die Lehre genommen?

Jakob: Wetten Sie nicht, Sie würden verlieren.

Herr: Oder von der Magd deines Pfarrers?

Jakob: Wetten Sie nicht, Sie würden wieder verlieren.

Herr: Oder von seiner Nichte?

Jakob: Seine Nichte platzte vor übler Laune und Frömmigkeit – zwei Eigenschaften, die sich gut miteinander, aber nicht mit mir vertragen.

Herr: Jetzt aber, glaub ich, hab ichs!

Jakob: Ich glaub es nicht.

[216] Herr: An einem Meß- oder Markttag ...

Jakob: Es war weder an einem Meß- noch an einem Markttag.

Herr: Du gingst in die Stadt ...

Jakob: Ich ging nicht in die Stadt.

Herr: Es stand dort oben geschrieben, daß du in einer Schenke irgendeine jener gefälligen Kreaturen treffen und dich betrinken würdest ...

Jakob: Ich war nüchtern, und was dort oben geschrieben stand, ist, daß Sie zur jetzigen Stunde sich in falschen Vermutungen erschöpfen und in den Fehler verfallen würden, den Sie an mir getadelt haben, nämlich die Sucht, zu raten, und zwar immer verkehrt. So wie Sie mich vor sich sehen, Herr, bin ich einmal getauft worden.

Herr: Wenn du die Absicht hast, mit dem Verlust deiner Junggesellenschaft bei dem Augenblick anzufangen, da du aus dem Taufbecken gehoben wurdest, werden wir so bald nicht dabei anlangen.

Jakob: Ich hatte also einen Paten und eine Patin. Meister Bigre, der beste Stellmacher des Dorfes, hatte einen Sohn. Bigre, der Vater, war mein Pate und Bigre, der Sohn, mein Freund. Zwischen unserm achtzehnten und neunzehnten Jahr verliebten wir uns beide zu gleicher Zeit in eine kleine Näherin, Justine genannt. Sie galt nicht eben für grausam, aber sie hielt es für angebracht, durch einen ersten Korb auf sich aufmerksam zu machen, und ihre Wahl fiel auf mich.

Herr: Das ist wieder eine von den weiblichen Sonderbarkeiten, die nicht zu verstehen sind.

Jakob: Die ganze Wohnung des Wagenschmieds, Meister Bigres, meines Paten, bestand aus einem Laden und einem Hängeboden. Sein Bett stand im Hintergrund des Ladens. Bigre, der Sohn, mein Freund, schlief auf dem Hängeboden, zu dem man mittels einer kleinen Leiter hinaufstieg, die in nahezu gleicher Entfernung von dem Bett seines Vaters und von der Ladentür stand. Wenn Bigre, mein Pate, fest eingeschlafen war, öffnete Bigre, mein Freund, behutsam die Tür, und Justine [217] stieg die kleine Leiter zum Hängeboden hinauf. Am nächsten Morgen mit Tagesanbruch, ehe Bigre, der Vater, erwachte, stieg Bigre, der Sohn, vom Hängeboden herab, öffnete wieder die Tür, und Justine entwischte, wie sie gekommen war.

Herr: Um hierauf noch einen Hängeboden, ihren eigenen oder einen andern, zu besuchen.

Jakob: Warum auch nicht? Der Verkehr zwischen Bigre und Justine war sehr wonnig, aber er sollte gestört werden; so stand es oben geschrieben, und also geschah es auch.

Herr: Durch den Vater?

Jakob: Nein.

Herr: Durch die Mutter?

Jakob: Nein, die war tot.

Herr: Durch einen Rivalen?

Jakob: Ach, nein, nein, bei allen Teufeln, nein! Es steht dort oben geschrieben, Herr, daß es Ihnen für den Rest Ihrer Tage stets so gehen wird: solange Sie leben werden Sie raten und, ich wiederhole es, immer verkehrt.

Eines Morgens, als mein Freund Bigre, ermüdeter als gewöhnlich, sei es von der Arbeit des vorigen Tages, sei es von den Freuden der Nacht, sanft in den Armen Justinens ruhte, ertönte eine fürchterliche Stimme am Fuß der kleinen Leiter: ›Bigre? Bigre? Verfluchter Faulpelz! Der Angelus hat schon geläutet, es ist gleich halb sechs, und du bist noch auf deinem Hängeboden! Hast du die Absicht, bis Mittag dort zu bleiben? Muß ich erst hinaufkommen und dich geschwinder, als dir lieb ist, heruntersteigen machen? Bigre? Bigre?‹

›Vater?‹

›Und diese Achse, auf die der alte Griesgram von Pächter wartet? Willst du, daß er wiederkommt und hier nochmals mit seinem Gepolter anfängt?‹

›Seine Achse ist fertig, und noch ehe eine Viertelstunde herum ist, wird er sie haben.‹

Sie können sich die schreckliche Angst Justinens und meines armen Freundes Bigre vorstellen.

[218] Herr: Ich bin gewiß, daß Justine bei sich schwor, sich nicht wieder auf dem Hängeboden einzufinden, und daß sie am nämlichen Abend wieder dort war. Aber wie wird sie sich diesen Morgen aus dem Staube machen?

Jakob: Wenn Sie sich wieder ans Raten machen wollen, dann schweige ich. – Inzwischen war Bigre mit einem Satz aus dem Bett gesprungen: mit nackten Beinen, die Hose in der Hand und die Weste über dem Arm. Während er sich ankleidete, murmelte Bigre, der Vater, zwischen den Zähnen: ›Seit er sich diese kleine Landstreicherin in den Kopf gesetzt hat, geht alles verquer. Das muß ein Ende haben, das kann nicht so weitergehen, ich habe es allmählich satt. Wenns noch ein Mädchen wäre, das der Mühe wert wäre, aber eine Kreatur! Gott weiß, was für eine Kreatur! Ah, wenn die arme Verstorbene, welche Ehre bis in die Fingerspitzen besaß, das gesehen hätte, schon längst würde sie den einen durchgeprügelt und der andern die Augen ausgekratzt haben, nach dem Gottesdienst, in der Vorhalle, vor aller Welt, denn nichts konnte sie zurückhalten! Aber wenn ich auch bis jetzt zu nachsichtig gewesen bin und sie sich einbilden, daß ich es weiter bleiben werde, so irren sie sich.‹

Herr: Und hörte Justine auf dem Hängeboden diese Reden?

Jakob: Daran zweifle ich nicht. Inzwischen war Bigre, der Sohn, mit seiner Achse auf der Schulter zu dem Pächter gegangen, und Bigre, der Vater, hatte sich an die Arbeit gemacht.

Nach einigen Schlägen mit der Axt fühlte seine Nase das dringende Bedürfnis nach einer Prise Tabak. Er sucht seine Tabaksdose in seiner Tasche, auf seinem Kopfkissen – er findet sie nicht.

›Sicher hat sie sich dieser Spitzbube wie gewöhnlich geholt. Schauen wir einmal nach, ob er sie etwa droben gelassen hat.‹ Und er steigt zum Hängeboden hinauf. Einen Augenblick darauf entdeckt er, daß ihm seine Pfeife und sein Messer fehlen, und er steigt wieder hinauf.

Herr: Und Justine?

[219] Jakob: Sie hatte ihre Kleider in der Eile zusammengerafft und war unter das Bett geglitten, wo sie mehr tot als lebendig auf dem Bauch ausgestreckt lag.

Herr: Und dein Freund Bigre, der Sohn?

Jakob: Nachdem er seine Achse abgeliefert, montiert und bezahlt erhalten hatte, war er zu mir gelaufen und hatte mir die entsetzliche Lage geschildert, in der er sich befand. Nachdem ich mich etwas darüber belustigt hatte, sagte ich zu ihm: ›Höre, Bigre, mach einen Spaziergang durch das Dorf, wo du willst, ich werde dich aus deiner Verlegenheit befreien! Nur eines verlange ich: Laß mir Zeit!‹ Sie lächeln, Herr, was finden Sie dabei?

Herr: Nichts.

Jakob: Mein Freund Bigre geht fort. Ich kleide mich an, denn ich war noch nicht aufgestanden, und gehe zu seinem Vater. Kaum hatte der mich gesehen, als er vor Freude und Überraschung einen Schrei ausstieß und rief: ›Ah, Patchen, da bist du! Woher kommst du, und was willst du hier so früh am Morgen?‹ Mein Pate Bigre hatte wirklich Freundschaft für mich; deshalb sagte ich ihm auch ganz offen: ›Woher ich komme? Darum handelt es sich jetzt nicht, sondern wie ich wieder zu uns ins Haus gelange.‹

›Ah, Patchen, du wirst also leichtsinnig; ich fürchte sehr, daß Bigre und du einander wert seid. Du hast die Nacht außer Haus zugebracht.‹

›Und mein Vater versteht in diesem Punkt keinen Spaß.‹

›Dein Vater, Patchen, hat recht, daß er darin keinen Spaß versteht. Aber frühstücken wir zunächst, die Flasche wird uns schon auf den rechten Weg bringen.‹

Herr: Jakob, dieser Mann hatte vortreffliche Prinzipien.

Jakob: Ich antwortete, daß ich weder Lust noch Bedürfnis zum Essen und Trinken hätte, daß ich mich vielmehr vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten könne. Der alte Bigre, der seinerzeit seinen Kameraden nichts nachgegeben hatte, setzte spöttisch lächelnd hinzu: ›Patchen, sie war hübsch, und du hast wacker deinen Mann gestanden. Höre: Bigre ist fort,[220] steig auf den Hängeboden und wirf dich auf sein Bett! Aber ein Wort noch, ehe er wiederkommt: Er ist dein Freund; wenn ihr allein miteinander seid, sag ihm, daß ich unzufrieden mit ihm sei, sehr unzufrieden! Da ist so eine kleine Justine, die du kennen mußt (denn welcher Bursche im Dorf kennt sie nicht?), die hat ihn mir verdorben; du würdest mir einen großen Dienst erweisen, wenn du ihn mir von dieser Kreatur abbrächtest. Früher war er, was man einen netten Burschen nennt, aber seit er diese unglückselige Bekanntschaft gemacht hat ... Du hörst ja nicht zu, die Augen fallen dir zu, steig hinauf und ruh dich aus!‹

Ich steige hinauf, ziehe mich aus, hebe die Decke und die Leintücher auf, ich taste überall herum – nirgends eine Justine. Unterdessen sagte Bigre, mein Pate: ›Diese Kinder! Diese verfluchten Kinder! Ist da nicht schon wieder eines, das seinem Vater Kummer macht?‹ Nachdem Justine nicht im Bett war, zweifelte ich nicht, daß sie darunter sei. Das Gelaß war vollständig dunkel. Ich bücke mich, ich taste mit der Hand unter dem Bett umher, ich stoße auf einen ihrer Arme, ich ergreife sie, ziehe sie an mich; sie kommt zitternd unter dem Bett hervor. Ich umarme sie, beruhige sie und mache ihr ein Zeichen, daß sie sich niederlegen soll. Sie ringt die Hände, wirft sich mir zu Füßen, umfaßt meine Kniee. Ich hätte dieser stummen Szene vielleicht nicht widerstanden, wenn der Tag sie beleuchtet hätte; aber wenn die Dunkelheit nicht furchtsam macht, macht sie unternehmend. Außerdem hatte ich noch einen Groll gegen sie im Herzen wegen der Verachtung, die sie mir früher bezeigt hatte. Statt jeder Antwort stieß ich sie gegen die Leiter hin, die nach der Werkstatt führte. Sie stieß darüber einen Angstschrei aus. Bigre, der ihn hörte, sagte: ›Er träumt!‹ Justine war einer Ohnmacht nahe, die Kniee wankten unter ihr; in ihrer Benommenheit stieß sie mit erstickter Stimme hervor: ›Er wird kommen ... er kommt ... ich höre ihn heraufsteigen ... Ich bin verloren!‹ – ›Nein, nein,‹ antwortete ich ihr mit leiser Stimme, ›beruhige dich, sei still und leg dich nieder!‹ Sie besteht auf ihrer Weigerung; [221] ich lasse nicht nach; sie fügt sich, und nun liegen wir Seite an Seite.

Herr: Verräter! Schurke! Weißt du, was für ein Verbrechen du zu begehen im Begriff bist? Du bist im Begriffe, dies Mädchen zu vergewaltigen, wenn auch nicht durch die Kraft, so doch durch die Angst. Vor Gericht gestellt, würdest du die ganze Strenge des Gesetzes an dir erfahren, die für die Mädchenräuberei vorgesehen ist.

Jakob: Ich weiß nicht, ob ich sie vergewaltigte, aber ich weiß gut, daß ich ihr nichts Böses tat und sie mir auch nicht. Zuerst wich sie mit ihrem Kopf meinen Küssen aus, näherte ihn meinem Ohr und sagte ganz leise: ›Nein, nein, Jakob, nein!‹ Bei diesen Worten stellte ich mich, als wollte ich das Bett verlassen und auf die Leiter zugehen. Sie hielt mich zurück und sagte mir wieder ins Ohr: ›Ich hätte dich nicht für so abscheulich gehalten, ich sehe, daß von dir kein Mitleid zu erwarten ist; aber wenigstens versprich mir, schwöre ...‹ ›Was?‹ – ›Daß Bigre nichts davon erfährt.‹

Herr: Du versprachst, schworst, und alles ging sehr gut.

Jakob: Und dann noch einmal sehr gut.

Herr: Und dann noch einmal sehr gut?

Jakob: Es ist genauso, als wären Sie dort gewesen. Inzwischen war Bigre, mein Freund, ungeduldig, besorgt und überdrüssig, immer um das Haus herumzustreifen, ohne mich zu treffen, wieder zu seinem Vater heimgekehrt, der verdrießlich zu ihm sagte: ›Nun, du bist ja recht lange wegen nichts ausgeblieben ...‹

Bigre antwortete noch verdrießlicher: ›Mußte ich nicht diese verteufelte Achse an beiden Enden dünner machen, weil sie zu stark war?‹

›Ich habe dirs gleich gesagt, aber du willst immer nur nach deinem Kopf handeln.‹

›Weil es viel leichter ist, etwas fortzunehmen als wieder etwas hinzuzutun.‹

›Nimm diese Felge und mache sie vor der Tür fertig!‹

›Warum vor der Tür?‹

[222] ›Weil der Lärm mit dem Werkzeug deinen Freund Jakob aufwecken würde.‹

›Jakob?‹

›Gewiß, Jakob! Er ist oben auf dem Hängeboden und ruht sich aus. Ach, wie sind die Väter zu beklagen, wenn nicht der einen Sache wegen, so doch einer andern! Nun, wirst du dich bald rühren? Während du da stehst wie ein Einfaltspinsel, mit hängendem Kopf und offenem Mund, und die Arme baumeln läßt, geht die Arbeit nicht vorwärts.‹

Bigre, mein Freund, stürzt wütend auf die Leiter zu; Bigre, mein Pate, hält ihn zurück, indem er zu ihm sagt: ›Wohin willst du? Laß den armen Teufel schlafen, der ganz erschöpft ist vor Müdigkeit! Würdest du dich an seiner Stelle wohl freuen, wenn man deine Ruhe störte?‹

Herr: Und Justine hörte auch das alles?

Jakob: So wie Sie mich jetzt hören.

Herr: Und was tatest du?

Jakob: Ich lachte.

Herr: Und Justine?

Jakob: Sie hatte ihre Haube heruntergerissen, raufte sich die Haare, schlug die Augen zum Himmel auf, wenigstens vermute ich es, und rang die Hände.

Herr: Jakob, du bist ein Barbar, du hast ein Herz von Stein.

Jakob: Nein, Herr, nein; ich habe Gefühl, aber ich bewahre es für eine bessere Gelegenheit. Die Verschwender dieses Reichtums waren so freigebig damit, als es galt, sparsam damit zu sein, daß sie sich bankrott sehen, wenn sie verschwenderisch sein sollten. – Inzwischen ziehe ich mich an und steige hinunter. Vater Bigre sagt zu mir: ›Das hattest du nötig, es hat dir gutgetan; als du kamst, sahst du aus wie einer, der aus dem Grabe kommt, und jetzt bist du rot und frisch wie ein Kind, das eben von der Brust genommen ist. Der Schlaf ist eine gute Sache! – Bigre, steig in den Keller und bring eine Flasche, wir wollen jetzt frühstücken! Jetzt hast du wohl mehr Lust zum frühstücken, Patchen?‹

›Allerdings.‹

[223] Die Flasche kommt und wird auf die Hobelbank gestellt; wir stehen um sie herum. Bigre, der Vater, füllt sein Glas und das meine. Bigre, der Sohn, nimmt seines fort und sagt in wildem Ton: ›Ich für mein Teil bin so früh am Morgen noch nicht durstig!‹

›Du willst nicht trinken?‹

›Nein.‹

›Ach, ich weiß, was los ist; halt, Patchen, da steckt die Justine dahinter; er wird an ihrem Hause vorübergegangen sein und sie entweder nicht getroffen oder mit einem andern überrascht haben; dies Maulen mit der Flasche ist nicht natürlich, sage ich dir.‹

Ich: Vielleicht hast du recht geraten.

Bigre, der Sohn: Jakob, laß deine Scherze! Angebracht oder nicht, ich liebe sie nicht!

Bigre, der Vater: Weil er nicht trinken will, brauchen wir uns nicht abhalten zu lassen. Auf deine Gesundheit, Patchen!

Ich: Auf die deine, Pate! – Bigre, mein Freund, trink mit uns! Du betrübst dich wegen einer Kleinigkeit.

Bigre, der Sohn: Ich habe dir schon gesagt, daß ich nicht trinke.

Ich: Gesetzt, dein Vater habe das Richtige getroffen – ei, den Teufel, so wirst du sie doch wiedersehen, ihr werdet euch aussprechen, und du wirst zugeben, daß du unrecht hast.

Bigre, der Vater: Ei, laß ihn nur; ist es nicht gerecht, daß diese Kreatur ihn für den Kummer straft, den er mir verursacht? Hier, noch einen Schluck, und nun zu deinen Angelegenheiten! Ich glaube, ich muß dich zu deinem Vater begleiten; aber was soll ich ihm sagen?

Ich: Alles, was du willst, alles, was du ihn hundertmal hast sagen hören, als er dir deinen Sohn wieder zurückgebracht hat.

›Also gehen wir!‹

Er geht, ich folge ihm, wir kommen an unsere Haustür; ich lasse ihn allein hineingehen. Neugierig auf das, was Vater Bigre mit dem meinen sprechen wird, verstecke ich mich in einen Winkel hinter einer Bretterwand, wo ich kein Wort verlor.

[224] Vater Bigre: Holla, Gevatter, diesmal mußt du ihm noch verzeihen!

›Verzeihen, und weswegen?‹

›Du spielst den Unwissenden.‹

›Ich spiele ihn nicht, ich bins.‹

›Du bist aufgebracht, und mit Recht.‹

›Ich bin nicht aufgebracht.‹

›Du bist es, sag ich dir!‹

›Wenn du durchaus willst, daß ichs bin, ists mir auch recht; aber erst laß mich die Dummheit, die er angestellt hat, wissen.‹

›Einmal ist keinmal! drei- viermal mag es auch noch hingehen: eine Schar junger Burschen und Mädchen findet sich zusammen; man trinkt, man lacht, man tanzt, die Zeit vergeht schnell, und inzwischen wird die Haustür geschlossen ...‹ Und mit gedämpfter Stimme fügte Bigre hinzu: ›Sie hören uns nicht, drum Hand aufs Herz: Sind wir in ihrem Alter vernünftiger gewesen als sie? Weißt du, wer ein schlechter Vater ist? Der die Fehler vergessen hat, die er in seiner Jugend begangen. Sag, haben wir nie außerm Haus geschlafen?‹

›Und du, Bigre, lieber Gevatter, gesteh, haben wir niemals eine Neigung gehabt, die unsern Eltern mißfiel?‹

›Es ist mir mit meinem Zanken ja auch nicht so ernst. Machs ebenso!‹

›Aber Jakob hat nicht außerhalb genächtigt, wenigstens heute nacht sicher nicht.‹

›Nun, wenn es nicht diese ist, dann eine andere. Jedenfalls zürnst du deinem Jungen nicht?‹

›Nein.‹

›Und wenn ich fortgegangen bin, wirst du ihn nicht schlagen?‹

›Gewiß nicht.‹

›Du gibst mir dein Wort darauf?‹

›Mein Wort!‹

›Dein Ehrenwort.‹

›Mein Ehrenwort!‹

[225] ›Nun ist alles in Ordnung, und ich gehe wieder.‹

Als mein Pate auf der Schwelle stand, klopfte mein Vater ihn sacht auf die Schulter und sagte: ›Bigre, mein Freund, da steckt was dahinter; dein Junge und meiner sind zwei schlaue Füchse, und ich fürchte, sie haben uns heute hinters Licht geführt, aber mit der Zeit wirds schon herauskommen. Adieu, Gevatter.‹

Herr: Und wie ging das Abenteuer zwischen deinem Freund und Justine aus?

Jakob: Wie es ausgehen mußte. Er war aufgebracht, sie noch mehr als er; sie weinte, er war gerührt; sie schwor ihm, ich sei der beste Freund, den er je gehabt hätte, ich schwor ihm, sie sei das anständigste Mädchen im ganzen Dorf. Er glaubte uns, bat uns um Verzeihung und liebte und achtete uns beide mehr denn je. Das ist also der Anfang, die Mitte und das Ende des Verlustes meiner Junggesellenschaft. Und nun, Herr, wünschte ich, Sie zeigten mir die Moral dieser unverschämten Geschichte.

Herr: Die Frauen besser zu kennen.

Jakob: Und Sie hatten diese Lehre nötig?

Herr: Die Freunde besser zu kennen.

Jakob: Und Sie haben jemals geglaubt, es gebe auch nur einen einzigen, der Ihrer Frau oder Tochter widerstehen würde, wenn sie es auf seine Eroberung abgesehen hätte?

Herr: Die Väter und Kinder besser zu kennen.

Jakob: Gehn Sie, Herr, die haben einander zu allen Zeiten gegenseitig angeführt, und so wird es auch in alle Zukunft bleiben.

Herr: Was du da sagst, sind lauter ewige Wahrheiten, denen man aber nie genug Nachdruck verleihen kann. Wie auch die Erzählung, die du mir nach dieser versprochen hast, ausfallen mag, du kannst gewiß sein, daß nur ein Dummkopf keine Belehrung daraus schöpfen wird; und nun fahre fort!


Lieber Leser! Es kommt mir ein Skrupel; nämlich ob ich nicht Jakob und seinem Herrn die Ehre erwiesen habe, ihnen einige Betrachtungen in den Mund zu legen, die eigentlich dir zukommen. [226] Sollte das der Fall sein, so kannst du sie ja wieder an dich nehmen, ohne daß sie sich darüber kränken.

Ich glaube bemerkt zu haben, daß das Wort Bigre (Lumpenkerl!) dir mißfiel. Ich möchte wohl wissen warum. Es ist der wahre Familienname meines Stellmachers; die Tauf- und Totenscheine und die Heiratskontrakte sind mit Bigre unterzeichnet. Die Nachkommen Bigres, die heute die Werkstatt besitzen, nennen sich ebenfalls Bigre. Wenn ihre Kinder, die recht hübsch sind, auf der Straße vorübergehen, sagt man: ›Das sind die kleinen Bigres.‹ Wenn du den Namen Boule (Kugel) aussprichst, erinnerst du dich an den größten Kunsttischler, den es gegeben hat. Ebenso spricht man in Bigres Heimat den Namen Bigre nicht aus, ohne an den größten Stellmacher zu denken, von dem man Kenntnis hat. Der Bigre, dessen Namen man am Ende aller Gebetbücher vom Anfang des Jahrhunderts liest, war einer seiner Voreltern. Wenn jemals ein Abkömmling Bigres sich durch irgendeine große Tat auszeichnet, wird der Personenname Bigre dir nicht weniger imposant scheinen wie Cäsar oder Condé. Es gibt Bigres und Bigres, wie es Wilhelms und Wilhelms gibt. Sage ich Wilhelm schlechthin, so ist das weder der Eroberer Großbritanniens noch der Tuchhändler im ›Advokaten Patelin‹. Der einfache Name Wilhelm ist weder heroisch noch bürgerlich. Ebenso Bigre. Bigre schlechthin ist weder der berühmte Stellmacher noch irgendeiner seiner belanglosen Vorfahren oder Nachkommen. Hand aufs Herz: Kann ein Personenname geschmackvoll oder geschmacklos sein? Die Straßen wimmeln von Fleischerhunden, die Pompejus heißen. Leg doch dein falsches Zartgefühl beiseite, sonst behandle ich dich wie Lord Chatham die Mitglieder des Parlaments; er sagte zu ihnen: ›Zucker, Zucker, Zucker; was ist dabei Lächerliches?‹ Und ich, ich sage: Bigre, Bigre, Bigre; warum soll man nicht Bigre heißen? Es gibt, wie ein Offizier zu seinem General, dem großen Condé, sagte: einen stolzen Bigre wie Bigre, den Stellmacher, einen guten Bigre wie du und ich und gewöhnliche Bigres wie unzählige andere.

[227] Jakob: Es war bei einer Hochzeit. Bruder Hans hatte die Tochter eines unsrer Nachbarn verheiratet. Ich war Brautdiener. Man hatte mich bei Tisch zwischen die beiden Witzbolde des Dorfes gesetzt; ich machte den Eindruck eines großen Pinsels, obwohl ich es nicht so sehr war, wie sie glaubten. Sie richteten einige Fragen an mich über die Nacht der Jungvermählten; ich antwortete recht einfältig, worauf die beiden Spaßmacher in ein schallendes Gelächter ausbrachen und ihre Frauen vom andern Ende herüberriefen: ›Ihr seid ja recht lustig dort unten! Was gibt es denn?‹ – ›Etwas sehr Drolliges,‹ antwortete einer der beiden Ehemänner seiner Frau, ›ich werde dirs heute abend erzählen.‹ Die andere, die nicht weniger neugierig war, richtete dieselbe Frage an ihren Mann und erhielt die nämliche Antwort.

Das Festmahl nimmt seinen Fortgang, ebenso die Fragen und meine Tölpeleien und das Gelächter und die Verwunderung der Frauen. Auf das Essen folgt der Tanz, nach dem Tanz ziehen sich die Neuvermählten in ihr Schlafgemach zurück, die Übergabe des Strumpfbands erfolgt; ich liege in meinem Bett, unsre Spaßmacher in dem ihren und erzählen ihren Frauen die unglaubliche, unbegreifliche Tatsache, daß ich mit zweiundzwanzig Jahren, groß und kräftig, wie ich es war, ein hübscher Kerl, munter und keineswegs dumm, noch so unwissend sei, so vollkommen unwissend, als hätte ich eben den Mutterleib verlassen; und die beiden Frauen ergötzen sich darüber ebenso wie ihre Männer. Am folgenden Tage aber gab Susanne mir ein Zeichen und sagte: ›Jakob, hast du nichts zu tun?‹

›Nein, Nachbarin, womit kann ich Euch dienen?‹

›Ich möchte ... ich möchte ...‹ Und indem sie sagte: ›Ich möchte,‹ drückte sie mir die Hand und sah mich so sonderbar an, ›ich möchte, daß du unsere Hippe nimmst und mit mir ins Gemeindeholz gehst, um mir beim Schneiden von zwei oder drei Reisigbündeln zu helfen, denn für mich allein ist die Arbeit zu schwer.‹

›Sehr gern, Madame Susanne!‹ Ich nehme die Hippe, und wir [228] gehen. Unterwegs ließ Susanne ihren Kopf auf meine Schulter sinken, nahm mich beim Kinn, zog mich an den Ohren, zwickte mich in die Seiten. Wir langen an. Der Ort war abschüssig. Susanne legt sich am höchsten Platz, so lang sie ist, auf den Boden, mit gespreizten Beinen, die Arme über dem Kopf verschränkt. Ich stand unterhalb von ihr und hieb mit der Hippe ins Unterholz. Susanne zog ihre Beine an sich und näherte die Fersen ihrem Hintern. Ihre aufgerichteten Kniee machten ihre Röcke sehr kurz. Ich aber ließ beständig die Hippe ins Niederholz sausen, ohne recht zu sehen, wohin ich schlug, und schlug daher oftmals daneben.

Endlich sagte Susanne zu mir: ›Jakob, hörst du nicht bald auf?‹

›Wenn es Euch beliebt, Madame Susanne.‹

›Siehst du denn nicht,‹ sagte sie mit halber Stimme, ›daß ich will, daß du aufhörst?‹

Ich hörte also auf, ich schöpfte Atem, und ich hörte noch einmal auf; und Susanne ...

Herr: ... raubte dir deine Junggesellenschaft, die du nicht mehr hattest.

Jakob: Das ist wahr; aber Susanne merkte den Betrug und lächelte und sagte: ›Du hast meinen Mann tüchtig hinters Licht geführt, du bist ein Spitzbube!‹

›Was wollt Ihr damit sagen, Madame Susanne?‹

›Nichts, nichts, du verstehst mich schon. Täusche mich noch einigemal ebenso, und ich verzeihe es dir ...‹

Ich band ihre Reisigbündel zusammen, nahm sie auf den Rücken, und so kehrten wir zurück, sie in ihr Haus, ich in das unsere.

Herr: Ohne eine Pause unterwegs zu machen?

Jakob: Ja.

Herr: Es war also nicht weit vom Gemeindeholz bis zum Dorf?

Jakob: Nicht weiter als vom Dorf bis zum Gemeindeholz.

Herr: War sie nur soviel wert?

Jakob: Für jemand andern oder für einen anderen Tag war sie vielleicht mehr wert; jeder Augenblick hat seinen Preis.

[229] Einige Zeit nachher hatte Frau Margarete, die Gattin unsres andern Spaßmachers, Getreide mahlen zu lassen, jedoch keine Zeit, nach der Mühle zu gehen; sie kam und bat meinen Vater, einen seiner Söhne für sie hinzuschicken. Weil ich der größte war, zweifelte sie nicht, daß die Wahl meines Vaters auf mich fallen würde, was denn auch geschah. Frau Margarete geht fort, ich folge ihr, ich lade den Sack auf ihren Esel und führe ihn allein zur Mühle. Ihr Korn war bald gemahlen, und wir, der Esel und ich, befanden uns recht betrübt wieder auf dem Heimweg, denn ich dachte, ich würde keinen Lohn für meinen Frondienst erhalten. Ich täuschte mich jedoch. Zwischen Dorf und Mühle mußte man ein kleines Gehölz passieren; dort fand ich Frau Margarete am Wegrand sitzen. Es fing an zu dämmern. ›Jakob,‹ sagte sie zu mir, ›da bist du ja endlich! Weißt du auch, daß ich mehr als eine tödliche Stunde auf dich warte?‹

Leser, du bist auch zu spitzfindig! Aber ich gebe zu, die tödliche Stunde ist für die Damen der Stadt und die lange Stunde für Frau Margarete.

Jakob: Das Wasser war niedrig, die Mühle ging langsam, der Müller war betrunken, und sosehr ich mich auch beeilt habe, ich konnte nicht früher zurückkommen.

Margarete: Setz dich her, und plaudern wir ein wenig.

Jakob: Gern, Frau Margarete.

Ich saß nun neben ihr, um zu schwatzen, und doch sprachen wir alle zwei kein Wort. Endlich sagte ich: ›Aber, Frau Margarete, Ihr seid so still, und wir plaudern ja gar nicht.‹

Margarete: Ich denke eben an das, was mir mein Mann über dich erzählt hat.

Jakob: Ihr müßt nichts von dem glauben, was Euer Mann Euch gesagt hat; das ist ein arger Spötter.

Margarete: Er hat mir versichert, du seiest noch niemals verliebt gewesen.

Jakob: Oh, in diesem Punkt hat er allerdings die Wahrheit gesagt.

Margarete: Was! In deinem ganzen Leben noch nicht?

[230] Jakob: In meinem ganzen Leben.

Margarete: Was! In deinem Alter solltest du nicht wissen, was eine Frau ist?

Jakob: Verzeiht mir, Frau Margarete.

Margarete: Und was ist denn eine Frau?

Jakob: Eine Frau?

Margarete: Ja, eine Frau.

Jakob: Wartet ... das ist ein Mann, der einen Unterrock und eine Haube trägt und große Brüste hat.

Herr: Ah, du Schurke!

Jakob: Die andere hatte sich nicht täuschen lassen, und ich wollte, daß diese sich täuschte. Auf meine Antwort brach Frau Margarete in ein schallendes Gelächter aus, das nicht enden wollte, und ich fragte sie ganz verdutzt, was es dabei zu lachen gäbe. Frau Margarete antwortete, daß sie über meine Einfalt lache. ›Was! So groß, wie du bist, weißt du nicht mehr von der Sache?‹

›Nein, Frau Margarete.‹

Hierauf schwieg Frau Margarete und ich ebenfalls. ›Aber, Frau Margarete,‹ sagte ich nach einem Weilchen, ›wir haben uns zum Schwatzen niedergesetzt, und nun sagt Ihr kein Wort, und wir schwatzen nicht. Frau Margarete, was habt Ihr? Ihr träumt.‹

Margarete: Ja, ich träume ... ich träume ... ich träume ...

Und indem sie dies ›ich träume‹ aussprach, hob sich ihre Brust, ihre Stimme wurde schwächer, ihre Glieder zitterten, ihre Augen hatten sich geschlossen, ihr Mund war halb offen, sie stieß einen tiefen Seufzer aus, sie fiel in Ohnmacht, und ich tat, als glaubte ich, sie sei tot, und fing an, in angstvollem Ton zu rufen: ›Frau Margarete! Frau Margarete! Sprecht doch mit mir! Frau Margarete, ist Euch nicht wohl?‹

Margarete: Nein, mein Kind; laß mich einen Augenblick in Ruhe ... ich weiß nicht, was mich gepackt hat ... Das ist ganz plötzlich über mich gekommen.

Herr: Sie log.

Jakob: Ja, sie log.

[231] Margarete: Ich träumte ...

›Träumt Ihr so des Nachts an der Seite Eures Mannes?‹

Margarete: Manchmal.

Ich: Das muß ihn erschrecken.

Margarete: Er ist daran gewöhnt.

Margarete erholte sich nach und nach von ihrem Schwächeanfall und sagte: ›Ich träumte, daß an der Hochzeit vor acht Tagen mein und Susannes Mann sich über dich lustig gemacht haben; das hat mir so leid getan, und mir ist ich weiß nicht wie geworden.‹

Ich: Ihr seid zu gütig.

Margarete: Ich mag es nicht, daß man sich lustig macht. Ich träumte, daß sie es bei der ersten Gelegenheit noch ärger machen würden und daß mich das noch mehr betrüben würde.

Ich: Aber es hängt doch nur von Euch ab, daß es nicht wieder geschieht.

Margarete: Und wie?

Ich: Indem Ihr mich lehrt ...

Margarete: Was denn?

Ich: ... was ich nicht weiß und worüber Euer und Susannens Mann so sehr gelacht haben; sie würden nicht wieder lachen.

Margarete: Oh, nein, nein! Ich weiß zwar, daß du ein braver Junge bist und es niemand erzählen würdest, aber ich traue mich nicht.

Ich: Und warum?

Margarete: Weil ich mich eben nicht traue.

Ich: Ach, Frau Margarete, lehrt mich, ich bitte Euch, ich werde Euch mein Leben lang dafür dankbar sein, lehrt mich ... Indem ich sie so bestürmte, drückte ich ihr die Hände, und sie drückte sie mir ebenfalls. Ich küßte sie auf die Augen und sie mich auf den Mund. Inzwischen war es ganz dunkel geworden. Ich sagte nun zu ihr: ›Ich sehe wohl, Frau Margarete, daß Ihr es nicht gut genug mit mir meint, um michs zu lehren; das schmerzt mich ganz außerordentlich. Stehen wir also auf und kehren wir heim!‹

Frau Margarete schwieg; sie ergriff wieder eine meiner Hände, [232] ich weiß nicht, wohin sie sie führte, aber Tatsache ist, daß ich ausrief: ›Da ist ja nichts! Gar nichts!‹

Herr: Schurke, zweimal Schurke!

Jakob: Tatsache ist, daß sie nur sehr wenig anhatte und ich ebenfalls. Tatsache ist, daß ich immer die Hand dort hatte, wo bei ihr nichts war, und daß ihre Hand dort weilte, wo es bei mir just umgekehrt war. Tatsache ist, daß ich mich unter ihr befand und infolgedessen sie sich auf mir. Tatsache ist, daß, da ich ihr in keiner Weise half, ihr nichts übrigblieb, als die ganze Mühe allein auf sich zu nehmen. Tatsache ist, daß sie sich meiner Belehrung mit so großem Eifer hingab, daß ein Augenblick kam, in dem ich glaubte, sie lasse dabei ihr Leben. Tatsache ist, daß ich, meiner Sinne ebensowenig mächtig wie sie und ohne zu wissen, was ich sagte, ausrief: ›Ach, Frau Susanne, wie tut Ihr mir wohl!‹

Herr: Du willst sagen, Frau Margarete?

Jakob: Nein, nein! Tatsache ist, daß ich die beiden Namen verwechselte und daß ich, anstatt Frau Margarete zu sagen, Frau Susanne sagte. Tatsache ist, daß ich Frau Margarete gestand, daß Frau Susanne mich das, was sie mich eben zu lehren glaubte, bereits vor drei oder vier Tagen gelehrt hätte, wenn auch auf etwas andere Weise. Tatsache ist, daß sie zu mir sagte: ›Was! Susanne und nicht ich?‹ Tatsache ist, daß ich ihr antwortete: ›Keine von euch beiden.‹ Tatsache ist, daß, während sie sich über sich selbst, über Susanne und die beiden Ehemänner lustig machte und mich ein klein wenig ausschalt, ich mich auf ihr befand und folglich sie sich unter mir und daß, indem sie mir gestand, dies hätte ihr viel Vergnügen gemacht, aber doch nicht soviel wie auf die andere Art, sie sich wieder auf mir befand und folglich ich mich unter ihr. Tatsache ist, daß, nachdem wir ein Weilchen geruht und stillgeschwiegen hatten, weder sie sich unter mir noch ich mich auf ihr, weder sie sich auf mir noch ich mich unter ihr befand, denn wir lagen beide auf der Seite; sie hatte den Kopf nach vorn geneigt und die beiden Hinterbacken an meine beiden Schenkel geschmiegt. Tatsache ist, daß, wenn ich weniger unterrichtet gewesen [233] wäre, die gute Frau Margarete mich alles gelehrt hätte, was man lernen kann. Tatsache ist, daß es uns recht schwer wurde, wieder ins Dorf zurückzukommen. Tatsache ist, daß meine Halsschmerzen viel ärger geworden sind und daß ich wahrscheinlich vierzehn Tage lang nicht werde reden können.

Herr: Und du hast diese beiden Frauen nicht wiedergesehen?

Jakob: Verzeiht, Herr, mehr als einmal.

Herr: Alle beide?

Jakob: Alle beide.

Herr: Sie haben sich nicht überworfen?

Jakob: Weil sie einander von Nutzen waren, haben sie sich nur noch lieber gehabt.

Herr: Unsere Damen hätten es ebenso gemacht, aber jede mit ihrem jeden ... Du lachst!

Jakob: Jedesmal, wenn ich mich an den schreienden, fluchenden, schäumenden kleinen Mann erinnere, der mit dem Kopf, mit Händen und Füßen und dem ganzen Körper zappelte und strampelte und drauf und dran war, sich von der Höhe des Heuschobers hinunterzustürzen, auf die Gefahr hin, sich zu töten, dann kann ich nicht anders als lachen.

Herr: Und wer ist dieser kleine Mann? Der Gatte von Frau Susanne?

Jakob: Nein.

Herr: Von Frau Margarete?

Jakob: Nein ... Immer dasselbe: solang er lebt, wird er sich nicht ändern.

Herr: Wer ist er denn?

Jakob antwortete nicht auf diese Frage, und der Herr drang weiter in ihn: »Sage mir nur, wer der kleine Mann war.«

Jakob: Eines Tages schrie ein Kind, das am Fuß des Ladentisches einer Weißwarenhändlerin saß, aus vollem Halse. Durch sein Geschrei belästigt, sagte die Händlerin zu ihm: ›Mein Kind, warum schreist du?‹

›Weil sie wollen, daß ich A sage.‹

›Und warum willst du nicht A sagen?‹

›Weil, sobald ich A gesagt habe, ich werde B sagen sollen.‹

[234] Sobald ich Ihnen den Namen des kleinen Mannes gesagt haben werde, werde ich Ihnen auch das übrige erzählen müssen.

Herr: Vielleicht.

Jakob: Das ist gewiß.

Herr: Vorwärts, Freund Jakob, nenne mir den kleinen Mann! Du stirbst vor Verlangen danach, nicht wahr? Befriedige dich!

Jakob: Das war eine Art Zwerg, bucklig, krumm, stotternd, einäugig, eifersüchtig, verhurt und verliebt, den Susanne vielleicht liebte. Es war der Vikar des Dorfs.

Jakob und das Kind der Weißzeughändlerin glichen sich wie zwei Wassertropfen, nur mit dem Unterschied, daß man seit seinen Halsschmerzen Mühe hatte, ihn A sagen zu lassen; war er jedoch einmal im Zuge, so ging er von selbst bis ans Ende des Alphabets.

»Ich war in Susannens Scheune, ganz allein mit ihr.«

Herr: Und du warst nicht bloß von ungefähr dort?

Jakob: Nein. Wie der Vikar kommt, wird er verdrießlich, schimpft und fragt Susanne gebieterisch, was sie allein mit mir, dem verdorbensten Burschen im Dorf, im entferntesten Winkel der Scheune treibe.

Herr: Du warst damals schon berüchtigt, wie ich sehe.

Jakob: Und mit Recht. Er war wirklich aufgebracht; diesem Ausfall ließ er andere, noch weniger verbindliche folgen. Ich meinerseits werde ebenfalls zornig. Von Schimpfworten gehen wir zu Tätlichkeiten über. Ich ergreife eine Heugabel, fahre ihm damit zwischen die Beine, die eine Zinke vorn, die andere hinten, und schwinge ihn auf den Schober, just als wäre er ein Heubündel.

Herr: Und war der Schober hoch?

Jakob: Mindestens zehn Fuß, und der kleine Mann hätte nicht heruntergekonnt, ohne sich den Hals zu brechen.

Herr: Und dann?

Jakob: Dann entferne ich Susannens Brusttuch, ich fasse sie an den Busen, ich liebkose sie; sie verteidigt sich soso. Es war da ein Packsattel von einem Esel, dessen Bequemlichkeit wir kannten; ich drücke sie auf diesen Sattel.

[235] Herr: Du hebst ihre Röcke auf?

Jakob: Ich hebe ihre Röcke auf.

Herr: Und der Vikar sah das?

Jakob: So wie ich Sie sehe.

Herr: Und er verhielt sich still?

Jakob: Gott bewahre! Vor Wut und Raserei außer sich, fing er an zu schreien: ›Mör...Mör...Mörder! Feu...Feu...Feuer! Die...Die...Diebe!‹ Und schon kam der Gatte herbeigeeilt, den wir weit fort geglaubt hatten.

Herr: Ach, wie ärgerlich! Ich kann die Pfaffen nicht leiden.

Jakob: Und Sie wären entzückt gewesen, wenn ich unter den Augen dieses da ...

Herr: Das gebe ich zu.

Jakob: Susanne hatte Zeit gehabt aufzustehen, ich ordne meine Kleider und entfliehe. Susanne hat mir erzählt, was hierauf folgte. Als der Gatte den Vikar hoch oben auf dem Schober hocken sieht, fängt er an zu lachen. ›La...la...lach nur ... du ... du ... Dummkopf, der du bist!‹ rief ihm der Vikar zu. Der Gatte gehorchte und lachte noch viel ärger und fragte ihn, wer ihn dort oben hingepflanzt hätte.

›Ho...ho...hol mich her...her...herunter ...‹, stotterte der Vikar.

Der Gatte lachte immer weiter und fragte ihn, wie er das anstellen solle.

Der Vikar: Wie i...i...ich hinaufge...ge...gekommen bin ... mi...mi...mit der Heuga...ga...gabel ...

›Bei der heiligen Vita! Sie haben recht; da sieht man den Nutzen des Studierens!‹

Der Gatte nimmt die Gabel, hält sie dem Vikar hin, und der gabelt sich auf, wie ich ihn aufgegabelt hatte.

Der Gatte läßt ihn ein oder zwei Runden in der Scheune auf der Spitze dieses nützlichen Wirtschaftsgerätes machen, indem er diesen Umzug mit einem einförmigen leiernden Gesang begleitet; und der Vikar schreit: ›La...la...laß mich her...her...herunter, du Schli...Schli...Schlingel! Wi...wi...wirst du mich her...her...herunter la...la...lassen!‹ [236] Und der Gatte sagt zu ihm: ›Was hält mich ab, Herr Vikar, Sie so in allen Straßen des Dorfs zu zeigen? So eine schöne Prozession hätte man dort noch nie gesehen!‹ Indes kam der Vikar mit der Angst davon, und der Gatte setzte ihn auf die Erde. Ich weiß nicht, was er darauf zu dem Gatten sagte; denn Susanne hatte sich davongemacht, aber ich hörte: ›E...E...Elender! Du schlä...schlä...schlägst einen Prie...Prie...Priester! Ich ex...ex...exkommunizie...zie...ziere dich; du wi...wi...wirst verda...da...dammt sein!‹ Das sagte der kleine Mann, und der Gatte trieb ihn vor sich her, indem er mit der Heugabel auf ihn losdrosch. Ich eile mit vielen andern herbei. Kaum wurde der Gatte meiner ansichtig, so ließ er die Heugabel sinken und rief: ›Komm her, komm her!‹

Herr: Und Susanne?

Jakob: Sie zog sich aus der Schlinge.

Herr: Schlecht?

Jakob: Nein, die Frauen ziehen sich immer gut aus der Schlinge, wenn man sie nicht auf frischer Tat ertappt hat. – Worüber lachen Sie?

Herr: Über das, was mich ebenso wie dich jedesmal zum Lachen bringen wird, wenn ich an den kleinen Pfaffen auf der Heugabel von Susannens Gatten denke.

Jakob: Kurze Zeit nach diesem Abenteuer, das meinem Vater zu Ohren kam, der ebenfalls darüber lachte, verdingte ich mich, wie ich Ihnen sagte ...

Nach einigen Augenblicken des Schweigens oder Hustens von Jakobs Seite, sagen die einen, oder nachdem er abermals gelacht hatte, sagen die andern, wandte sich der Herr zu Jakob und sagte: »Und deine Liebesgeschichte?« Jakob schüttelte den Kopf und antwortete nicht.


›Wie kann ein verständiger Mann von guten Sitten, der sich auf seine Philosophie etwas zugute tut, ein Vergnügen daran finden, derart unzüchtige Erzählungen zum besten zu geben?‹

Erstens, lieber Leser, sind das keine Erzählungen, es ist eine wirkliche Geschichte, und ich fühle mich, wenn ich die Torheiten [237] Jakobs erzähle, nicht schuldiger, sondern eher weniger schuldig als Sueton, wenn er uns die Ausschweifungen des Tiberius überliefert. Und doch liest du Sueton und machst ihm keinerlei Vorwürfe. Warum runzelst du nicht die Stirn über Catull, Martial, Horaz, Juvenal, Petronius, La Fontaine und so viele andere? Warum sagst du nicht zudem Stoiker Seneca: ›Was gehen uns die Ausschweifungen deines Sklaven mit den Konkavspiegeln an?‹ Weshalb bist du nur nachsichtig gegen die Toten? Wenn du nur ein wenig über diese Parteilichkeit nachdenkst, wirst du sehen, daß sie aus irgendwelchen fehlerhaften Grundsätzen entspringt. Bist du unschuldig, dann wirst du mich nicht lesen, bist du verdorben, werde ich dir nicht schaden. Sollte dich das, was ich dir hier sage, noch nicht befriedigen, so schlage die Vorrede von Jean-Baptiste Rousseau auf, dort wirst du meine Verteidigung finden. Wer unter euch würde Voltaire zu tadeln wagen, daß er seine ›Pucelle‹ geschrieben hat? Niemand. Ihr meßt also die Handlungen der Menschen mit zweierlei Maß?

›Aber‹, sagt ihr, ›die »Pucelle« von Voltaire ist ein Kunstwerk!‹

Um so schlimmer, desto mehr wird man sie lesen.

›Und dein Jakob ist nichts als ein abgeschmacktes Flickwerk von teils wahren, teils erdichteten Begebenheiten, die ohne Anmut erzählt und ohne Zusammenhang verstreut sind.‹

Desto besser, um so weniger wird mein Jakob gelesen werden. Wie du dich auch drehen und wenden magst, immer hast du unrecht. Ist meine Arbeit gut, so wird sie dir Vergnügen machen; ist sie schlecht, so wird sie kein Unheil stiften; kein Buch ist unschädlicher als ein schlechtes. Ich belustige mich damit, die Torheiten, die du begehst, unter entlehnten Namen zu beschreiben; deine Torheiten bringen mich zum Lachen, meine Schilderung macht dich verdrießlich. Lieber Leser, ich finde, um offen zu reden, daß der Schlimmere von uns beiden nicht ich bin. Wie zufrieden wäre ich, könnte ich mich ebenso leicht gegen deine Heimtücke schützen wie du dich gegen die Langweiligkeit oder die Gefahr meines Werkes! Abscheuliche Heuchler, laßt mich in Frieden! R....le wie ein abgesattelter Esel, [238] aber erlaube mir, daß ich r...eln sage; ich gestatte dir die Handlung, gestatte du mir das Wort. Du sagst ungescheut töten, stehlen, verraten, das andere Wort aber wagst du nur zwischen den Zähnen zu murmeln. Bleibt dir von diesen angeblichen Unreinheiten etwa nicht desto mehr in deinem Denken haften, je weniger du davon über die Lippen bringst? Und was hat dir der so natürliche, notwendige und rechtmäßige Geschlechtsakt getan, daß du die Bezeichnung dafür aus deiner Unterhaltung verbannst und glaubst, dein Mund, deine Augen und Ohren würden dadurch beschmutzt? Es ist gut, daß die am wenigsten gebrauchten, am wenigsten geschriebenen und am meisten verschwiegenen Ausdrücke die am besten und allgemeinsten bekannten sind; so ist es auch in der Tat; das Wort futuo ist uns ebenso vertraut wie das Wort Brot; kein Alter, das es nicht kennte, keine Mundart, die es nicht besäße; es hat tausend gleichbedeutende Bezeichnungen in allen Sprachen, es wird in jeder Sprache gedruckt, ohne daß man wagt, es auszudrücken, ohne daß es Stimme oder Gehalt annimmt; und das Geschlecht, das es am häufigsten in die Tat umsetzt, pflegt es am meisten zu verschweigen. Ich höre euch wieder rufen: ›Pfui, der Zyniker! Pfui, der Schamlose! Pfui, der Sophist!‹ Nur zu! Beschimpft nur einen schätzenswerten Schriftsteller, den ihr beständig in Händen habt und dessen Übersetzer ich hier nur bin. Die Freiheit seines Stils ist mir fast eine Bürgschaft für seine Sitten; es ist Montaigne. Lasciva est nobis pagina, vita proba.


Jakob und sein Herr verbrachten den Rest des Tages, ohne den Mund aufzutun. Jakob hustete, und sein Herr sagte: »Das ist einmal ein abscheulicher Husten!«, schaute auf seine Uhr, ohne es zu wissen, zog seine Tabaksdose heraus und nahm eine Prise, ohne es zu fühlen; Beweis dafür ist mir, daß er es drei- oder viermal hintereinander in derselben Reihenfolge tat. Einen Augenblick später hustete Jakob wieder, und sein Herr sagte: »Was für ein verteufelter Husten! Du hast dich auch förmlich hineingekniet in den Wein der Wirtin. Gestern [239] abend mit dem Sekretär hast du dich ebenfalls nicht geschont; als du wieder hinaufstiegst, schwanktest du und wußtest nicht, was du sagtest, und heute hast du zehnmal Rast gemacht, und ich wette, es ist nicht ein Tropfen mehr in deiner Kürbisflasche.« Hierauf murmelte er etwas zwischen den Zähnen, schaute nach der Uhr und versorgte seine Nasenlöcher.


Ich habe vergessen, dir zu sagen, lieber Leser, daß Jakob niemals ohne eine Kürbisflasche voll vom Besten reiste. Sie war an seinem Sattelbogen aufgehängt. Jedesmal, wenn sein Herr seinen Bericht durch irgendeine etwas lange Frage unterbrach, hakte er seine Kürbisflasche los, tat einen gehörigen Zug und hängte sie erst wieder an ihren Platz, wenn sein Herr aufgehört hatte zu reden. Ferner hatte ich vergessen, dir zu sagen, daß in allen Fällen, die Überlegung erforderten, seine erste Regung der Kürbisflasche galt, um sich bei ihr Rats zu holen. Galt es, eine moralische Frage zu entscheiden, ein Ereignis zu besprechen, einen Weg dem andern vorzuziehen, ein Geschäft in Angriff zu nehmen, es zu verfolgen oder wieder fallenzulassen, die Vorteile oder Nachteile einer politischen Operation, eines Handels- oder Finanzunternehmens, die Weisheit oder Torheit eines Gesetzes, den Ausgang eines Krieges abzuwägen, handelte es sich um die Wahl eines Gasthauses, im Gasthaus um die eines Zimmers, im Zimmer um die eines Bettes, so war sein erstes Wort: ›Befragen wir die Flasche‹ und sein letztes: ›Das ist die Ansicht meiner Flasche und die meine‹. Wenn das Schicksal in seinem Kopf verstummte, tat es sich durch seine Flasche kund; sie war eine Art von tragbarer Pythia, die mit dem Augenblick schwieg, wenn sie geleert war. Zu Delphi empfing die Pythia, die Röcke aufgeschürzt, mit bloßem Hinterteil auf dem Dreifuß sitzend, ihre Eingebungen von unten nach oben; Jakob, auf dem Pferde sitzend, den Kopf zum Himmel emporgewandt, die entkorkte Kürbisflasche mit der Halsöffnung gegen seinen Mund gerichtet, empfing seine Eingebung von oben nach unten. Wenn die Pythia und Jakob ihre Orakel von sich gaben, waren sie beide berauscht. Er behauptete, [240] der Heilige Geist sei in einer Kürbisflasche über die Apostel gekommen, und er nannte das Pfingstfest das Fest der Kürbisflaschen. Er hat eine kleine Abhandlung über alle Arten von Wahrsagungen hinterlassen, eine tiefsinnige Schrift, in welcher er der Wahrsagung durch Bakbuk oder durch die Kürbisflasche den Vorzug gibt. Er erhob trotz seiner Verehrung für den Pfarrer von Meudon eine Fälschungsanklage gegen ihn, weil er die göttliche Bakbuk durch einen Stoß gegen den Bauch befragte. ›Ich liebe Rabelais,‹ sagte er, ›aber noch mehr als Rabelais liebe ich die Wahrheit.‹ Er nennt ihn einen ketzerischen Engastrimythen und beweist durch tausend Gründe, von denen die einen immer besser sind als die andern, daß die wahren Orakel der Bakbuk oder der Kürbisflasche sich nur durch den Flaschenhals vernehmen ließen. Er zählt unter die ausgezeichnetsten Anhänger der Bakbuk und die wahren Erleuchteten der Kürbisflasche in den letzten Jahrhunderten Rabelais, La Fare, Chapelle, Chaulieu, La Fontaine, Molière, Panard, Gallet, Vadé. Plato und Jean-Jacques Rousseau, die den guten Wein über die Maßen lobten, ohne ihn zu trinken, sind nach seiner Meinung zwei falsche Brüder der Kürbisflasche. Die Kürbisflasche hatte früher einige berühmte Heiligtümer: die Pomme de Pin, den Temple und die Guinguette, deren Geschichte er eigens behandeln will. Er entwirft die herrlichste Schilderung der Begeisterung, der Glut und des Feuers, von dem die Bakbukianer oder Périgourdianer ergriffen worden sind und noch in unsrer Zeit ergriffen wurden, wenn gegen Ende der Mahlzeit, während sie mit aufgestützten Ellbogen am Tische saßen, die göttliche Bakbuk oder die heilige Kürbisflasche ihnen erschien. Sie stand dann in der Mitte zwischen ihnen, zischte, warf ihre Kopfbedeckung weit von sich und bedeckte ihre Verehrer mit ihrem prophetischen Schaum. Sein Manuskript ist mit zwei Porträts geschmückt, unter denen zu lesen ist: ›Anakreon und Rabelais, Hohepriester der Kürbisflasche, der eine im Altertum, der andere in der Neuzeit.‹

›Jakob hat sich des Ausdrucks Engastrimythe bedient?‹

[241] Warum nicht, Leser? Jakobs Hauptmann war Bakbukianer; dieser Ausdruck konnte ihm wohl bekannt sein, und Jakob, der alles sammelte, was er sagte, konnte sich seiner erinnert haben; die Wahrheit je doch ist, daß der Engastrimythe von mir ist und daß man im Originaltext Bauchredner liest.

›Alles das ist ganz gut und schön,‹ sagst du, ›aber Jakobs Liebesgeschichte?‹

Jakob allein kennt sie, und der ist so von Halsschmerzen gepeinigt, daß sein Herr wieder ganz auf seine Uhr und seine Tabaksdose angewiesen ist – ein Nachteil, der ihn ebenso betrübt wie dich.

›Was soll nun aus uns werden?‹

Meiner Treu, ich weiß es nicht. Es wäre jetzt ganz am Platz, die göttliche Bakbuk oder die heilige Kürbisflasche zu befragen; aber ihr Kultus stirbt, ihre Tempel sind verödet. Ebenso wie bei der Geburt unsres göttlichen Erlösers die heidnischen Orakel verstummten, schwiegen auch beim Tode Gallets die Orakel Bakbuks; so gibt es denn auch keine großen Heldengedichte mehr, keine Werke von erhabener Beredsamkeit, keine jener Schöpfungen, die den Stempel der Trunkenheit und des Genies tragen; alles ist vernünftig, abgezirkelt, akademisch, platt. O göttliche Bakbuk! O heilige Kürbisflasche! Ihr Götter Jakobs! Steigt wieder herab in unsere Mitte!

Es wandelt mich die Lust an, lieber Leser, dich von der Geburt der göttlichen Bakbuk zu unterhalten, von den Wundern, die sie begleiteten und ihr folgten, den Herrlichkeiten ihrer Regierung und dem Unglück, das ihr Verschwinden bedeutete; und wenn Jakobs Halsschmerzen andauern und sein Herr hartnäckig schweigt, wirst du dich mit dieser Episode begnügen müssen, die ich so lange auszuspinnen versuchen werde, bis Jakob gesund ist und den Faden seiner Liebesgeschichte wieder aufnimmt.


Hier findet sich in der Unterredung zwischen Jakob und seinem Herrn eine Lücke, die wirklich sehr beklagenswert ist; vielleicht wird sie dereinst von einem Abkömmling des Nodot, [242] des Präsidenten Brosses, des Freinshemius oder des Paters Brottier ausgefüllt. Aber die Abkömmlinge von Jakob oder seinem Herrn, die im Besitze der Urschrift sind, werden darüber nicht wenig lachen.

Es scheint, als ob Jakob, den sein böser Hals zum Stillschweigen zwang, in der Erzählung seiner Liebesgeschichte eine Pause machte und als ob der Herr mit der Erzählung seiner eigenen Liebschaften anfing. Doch das ist nur eine Mutmaßung, die ich für nichts Besseres ausgeben will, als sie ist. Nach einigen punktierten Zeilen, welche die Lücke bezeichnen, liest man: ›Nichts ist trauriger auf dieser Welt, als ein Dummkopf zu sein ...‹ Wars Jakob, der dieses Apophthegma über seine Lippen brachte, oder war es sein Herr? Das könnte der Gegenstand einer langen und schwierigen Dissertation werden. War Jakob unverschämt genug, so etwas seinem Herrn ins Gesicht zu sagen, so war dieser ehrlich genug, selbst nicht viel besser von sich zu urteilen. Wie dem aber auch sei, es ist augenscheinlich, daß es der Herr war, welcher folgendermaßen fortfuhr:

Herr: Es war am Tage vor ihrem Namensfest, und ich hatte kein Geld; der Ritter von Saint-Ouin, mein vertrauter Freund, kam aber nie über etwas in Verlegenheit. ›Du hast kein Geld?‹ sagte er zu mir.

›Nein.‹

›Gut, so müssen wir welches schaffen.‹

›Und du weißt, wie man das anfängt?‹

›Allerdings.‹

Er zog sich an, wir gingen aus, und er führte mich durch verschiedene abgelegene Gassen in ein kleines dunkles Haus, wo wir auf einer schmalen, schmutzigen Treppe bis hinauf in das dritte Stockwerk stiegen und in ein ziemlich geräumiges, aber höchst sonderbar ausgestattetes Zimmer traten. Unter anderm standen darin drei Kommoden nebeneinander, die sich alle drei in der Form voneinander unterschieden. Hinter der mittelsten hing ein großer Spiegel mit einem Aufsatz, für den die Decke zu niedrig war, so daß wenigstens ein guter halber Fuß von dem Spiegel durch die Kommode versteckt wurde. [243] Auf den Kommoden lagen Waren aller Art und zwei Brettspiele; an den Wänden des Zimmers standen ziemlich hübsche Stühle, von denen aber keiner dem andern glich; zu den Füßen eines Bettes ohne Vorhang stand ein prächtiger Diwan, an das eine Fenster war ein großes nagelneues Vogelbauer ohne Vögel gerückt; in dem andern Fenster hing ein Kronleuchter an einem Besenstiel, dessen beide Enden auf den Lehnen von zwei schlechten Strohstühlen ruhten, und rechts und links sah man Gemälde und Schildereien, die teils an den Wänden hingen, teils auf dem Boden übereinandergeschichtet lagen.

Jakob: Das stinkt auf eine Meile nach Halsabschneider.

Herr: Du hast es erraten. Der Ritter und Herr Le Brun (dies war der Name des Kunstsachentrödlers und Wucherers) fielen einander um den Hals. ›Ei, sind Sie's, Herr Ritter?‹

›Ja, ich bin es, lieber Le Brun.‹

›Aber wo haben Sie gesteckt? Es ist eine Ewigkeit, daß man Sie nicht gesehn hat! Es sind jetzt traurige Zeiten, nicht wahr?‹

›Sehr traurige, mein lieber Le Brun, aber jetzt ist nicht davon die Rede. Hören Sie mich an, ich habe Ihnen etwas zu sagen.‹

Ich setzte mich; der Ritter und Le Brun begaben sich in eine Ecke und sprachen miteinander. Ich verstand nur ein paar Worte davon, die ich aufschnappte.

›Ist er gut?‹

›Sehr gut.‹

›Majorenn?‹

›Ja, majorenn.‹

›Ist er der Sohn?‹

›Der Sohn.‹

›Wissen Sie wohl, daß unsere beiden letzten Geschäfte ...‹

›Reden Sie leiser!‹

›Der Vater?‹

›Reich.‹

›Alt?‹

›Und kränklich.‹

Nun erhob Le Brun die Stimme: ›Hören Sie, Herr Ritter, ich [244] muß Ihnen nur sagen, daß ich mich nicht mehr mit dergleichen Geschäften abgeben will; so etwas zieht immer verdrießliche Folgen nach sich. Es ist Ihr Freund, gut! Der Herr hat ganz das Ansehen eines Ehrenmannes; aber ...‹

›Lieber Le Brun!‹

›Ich habe kein Geld.‹

›Allein Sie haben Bekanntschaften?‹

›Es ist lauter Bettelvolk, lauter Erzschelme. Herr Ritter, ich dächte, Sie müßten es endlich satt sein, durch solche Hände zu gehen.‹

›Not kennt kein Gebot.‹

›Erlauben Sie mir, die Not, die Sie drückt, mag wohl eine drollige Art von Not sein. Vielleicht eine Partie Bouillotte oder Pharo oder ein Rendezvous mit einem Mädchen.‹

›Bester, lieber Freund!‹

›Ich kann mich nicht verleugnen; ich bleibe immer, wer ich bin, schwach wie ein Kind; und Sie ... Sie wären wohl imstande, auch den Hartnäckigsten seinen Vorsatz brechen zu machen. Also, in Gottes Namen, klingeln Sie! Wir wollen sehen, ob Fourgeot zu Hause ist ... Nein, klingeln Sie nicht! Fourgeot soll Sie zu Merval führen!‹

›Wollen Sie uns nicht selbst hinbringen?‹

›Ich? Ich habe einen Eid getan, daß dieser abscheuliche Merval nie, weder für mich noch für meine Freunde, wieder etwas zu tun bekommen soll. Sie werden für den Herrn gutsagen müssen, der vielleicht, der ohne Zweifel ein ehrlicher Mann ist; ich werde für Sie bei Fourgeot und Fourgeot wird für mich bei Merval bürgen.‹

Die Magd war unterdessen hereingekommen und sagte: ›Soll ich zu Herrn Fourgeot gehen?‹

Le Brun (zu seiner Magd): Nein, zu niemand! Herr Ritter, ich kann unmöglich, ich kann nicht ...

Der Ritter drückte ihn in seine Arme, liebkoste ihn, schmeichelte ihm: ›Mein lieber Le Brun! Mein bester Freund!‹

Ich war auch hinzugetreten und hatte meine Bitte mit den Bitten des Ritters vereinigt. ›Aber mein lieber Herr Le Brun!‹

[245] Endlich ließ Herr Le Brun sich erweichen. Die Magd, die über diese ganze Komödie heimlich lächelte, ging weg und kam in einem Augenblick mit einem kleinen hinkenden Männchen zurück, das schwarz gekleidet war, ein spanisches Rohr in der Hand trug, ein runzliges und dürres Gesicht, aber ein sehr lebhaftes Auge hatte und stark stotterte. Der Ritter wendete sich zu ihm und sagte: ›Frisch, Herr Matthes de Fourgeot, wir haben keine Zeit zu verlieren! Bringen Sie uns geschwind ...‹

Fourgeot, der gar nicht tat, als ob er auf ihn hörte, band ein kleines gamsledernes Beutelchen auf.

Der Ritter (zu Fourgeot): Sie spotten; das ist unsere Sache ...

Ich näherte mich dem Ritter, zog einen kleinen Taler aus der Tasche und drückte ihn dem Ritter in die Hand, der ihn der Magd gab, wobei er ihr mit der Hand unter das Kinn fuhr. Unterdessen sagte Le Brun zu Fourgeot: ›Ich verbiete es Ihnen, Sie sollen die Herren nicht hinbringen!‹

Fourgeot: Warum nicht, Herr Le Brun?

Le Brun: Er ist ein Spitzbube, ein Nichtswürdiger ...

Fourgeot: Ich weiß es wohl, daß Herr von Merval ... aber man muß vergessen und vergeben; und dann kenne ich außer ihm niemanden, der gleich auf der Stelle Geld beschaffen könnte.

Le Brun: Herr Fourgeot! Tun Sie, was Sie wollen; ich, meine Herren, wasche meine Hände ...

Fourgeot (zu Le Brun): Herr Le Brun! Gehen Sie nicht mit uns?

Le Brun: Ich? Gott soll mich behüten! Er ist ein Gauner, und solang ich lebe, will ich ihn nicht wiedersehen.

Fourgeot: Aber wenn Sie nicht dabei sind, so kommen wir nie mit unserm Geschäft zustande.

Der Ritter: Es ist wahr. Kommen Sie, lieber Le Brun! Sie erweisen mir einen unendlichen Gefallen und verbinden sich einem wackern Herrn, der in der Klemme ist. Sie werden es mir nicht abschlagen; nicht wahr, Sie gehen mit uns?

Le Brun: Ich zu einem Merval gehen? Ich? Ich?

Der Ritter: Ja, Sie; mir zuliebe.

Nach vielem Bitten und Flehen ließ Le Brun sich endlich bewegen, [246] und wir, er, ich, der Ritter und Matthes de Fourgeot, machten uns auf den Weg. Der Ritter schlug freundschaftlich in Le Bruns Hand ein und sagte zu mir: ›Das ist die Perle der Freunde, die Dienstfertigkeit selber; ein wahrer Schatz für seine Bekannten!‹

Le Brun: Ich glaube, der Herr Ritter würden mich sogar bereden können, falsches Geld zu münzen.

Wir kamen zu Merval.

Jakob: Matthes de Fourgeot!

Herr: Was meinst du damit?

Jakob: Matthes de Fourgeot! Ich meine, daß der Ritter von Saint-Ouin diese Herren da alle ganz genau kennt, daß er ein Lump ist und daß er selbst mit diesem Gesindel unter einer Decke steckt.

Herr: Du könntest wohl recht haben ... Es ist unmöglich, sich einen sanftmütigeren, höflicheren, feineren, rechtschaffeneren, menschlicheren, teilnehmenderen, uneigennützigeren Mann zu denken als den Herrn von Merval. Nachdem meine Volljährigkeit und Sicherheit hinlänglich erwiesen waren, nahm Herr von Merval eine überaus liebreiche und betrübte Miene an und sagte in wehmütigem Tone, er sei in Verzweiflung, aber erst heute morgen habe er sich gezwungen gesehen, einem guten Freunde, der sich in einer verzweifelten Lage befunden, unter die Arme zu greifen, und das habe ihn gänzlich ausgebeutelt. Er wandte sich hierauf zu mir und setzte hinzu: ›Mein lieber Herr! Machen Sie sich keine Vorwürfe, daß Sie nicht früher gekommen sind. Ich wäre untröstlich gewesen, es Ihnen abschlagen zu müssen; aber ich hätte doch nicht umhin gekonnt, denn Freundschaft geht allem vor.‹

Da standen wir nun alle und sperrten den Mund auf. Der Ritter, Le Brun selbst und Fourgeot baten Merval aufs flehentlichste; aber Herr von Merval antwortete: ›Meine Herren, Sie kennen mich. Ich bin gefällig und verbittere nicht erst die Dienste, die ich jemandem leisten will, durch unnötige Schwierigkeiten und Weigerungen. Aber bei dem Wort eines ehrlichen Mannes! Ich habe keine vier Louisdors im Hause.‹

[247] Was mich betrifft, so glich ich unter allen diesen Herren einem armen Sünder, der sein Urteil anhört. Ich sagte zu dem Ritter: ›Ritter, laßt uns fortgehen, da die Herren nicht imstande sind ...‹

Aber der Ritter zog mich beiseite. ›Du bedenkst nicht; morgen ist ihr Namenstag. Ich habe ihr, damit du es nur weißt, schon einen Wink gegeben, und sie macht sich auf eine Galanterie von deiner Seite gefaßt. Du kennst sie ja, nicht als ob sie interessiert wäre, aber sie ist wie alle Mädchen, die sich in ihrer Erwartung nicht gern täuschen lassen. Sie wird sich schon gegen ihren Vater, ihre Mutter, ihre Tanten, gegen alle ihre Freundinnen damit gerühmt haben; und wenn sie ihnen dann nichts vorzeigen könnte, so wäre das gar zu kränkend.‹

Und hierauf machte er sich von neuem an Merval und drang noch weit heftiger in ihn.

Nachdem Merval sich lange genug hatte bestürmen lassen, sagte er endlich: ›Ich bin doch das närrischste Geschöpf von der Welt, daß ich unmöglich Leute in Verlegenheit sehen kann! Ich sinne und sinne, und da fällt mir etwas ein ...‹

Ritter: Und was denn?

Merval: Wie wäre es, wenn Sie Waren nähmen?

Ritter: Haben Sie welche vorrätig?

Merval: Nein; aber ich kenne eine Frau, die Ihnen welche verschaffen kann, eine brave, ehrliche Frau.

Le Brun: Ja, die uns aber lauter Plunder aufhängen wird, den wir ihr mit Gold aufwiegen müssen und den wir nicht wieder loswerden können.

Merval: Im Gegenteil: die schönsten Stoffe, goldene und silberne Bijouterien, Perlen und Juwelen, seidene Zeuge von jeder Art. Sie werden nur sehr wenig daran verlieren. Es ist ein gutes Geschöpf, das mit einem kleinen Profitchen vorliebnimmt, wenn sie nur wegen der Bezahlung sichergestellt ist. Es sind lauter Sachen aus Exekutionen und verfallene Pfänder, die sie sehr billig zu stehen kamen. Übrigens können Sie sie ja ansehen; das kostet nichts.

Ich stellte Merval und dem Ritter vor, daß mein Stand mir [248] nicht erlaube, mich mit Schachern und Verkaufen abzugeben, und daß überhaupt meine jetzige Lage mir nicht die Zeit dazu ließe, wenn ich auch meinen Widerwillen vor solchen Auskunftsmitteln überwinden wollte; die allezeit dienstfertigen Le Brun und Matthes de Fourgeot riefen aber beide zu gleicher Zeit: ›Daran stoßen Sie sich nicht! Wir wollen für Sie verkaufen. Das ist in einem halben Tage geschehen.‹

Und so ward die Fortsetzung der Sitzung auf den Nachmittag bei Herrn von Merval verlegt, der mir sanft auf die Schulter klopfte und in einem salbungsreichen, innigen Tone zu mir sagte: ›Mein lieber Herr, ich bin zwar sehr erfreut, Ihnen dienen zu können; aber glauben Sie mir: Borgen Sie selten auf die Art! Es läuft zuletzt immer übel ab. Es wäre ein Wunder, wenn Sie hierzulande noch einmal mit zwei so ehrlichen Leuten wie die Herren Le Brun und Matthes de Fourgeot zu tun bekämen.‹ Le Brun und Fourgeot de Matthes oder Matthes de Fourgeot dankten ihm mit vielen Bücklingen und setzten hinzu, er sei allzu gütig, sie hätten seither sich nur bemüht, ihre kleinen Geschäfte gewissenhaft zu treiben, und so etwas verdiene kein Lob.

Merval: Sie irren sich, meine Herren! Denn wo findet man in unsern Zeiten noch Gewissenhaftigkeit? Fragen Sie einmal den Herrn Ritter von Saint-Ouin? Der muß Ihnen ein Liedchen davon zu singen wissen.

Wir verließen nun das Haus des Herrn Merval, der uns noch von seiner Treppe herab nachrief, ob er sich fest darauf verlassen und die Frau mit den Waren bestellen könne? Wir bejahten es und aßen alle vier unsere Mittagsmahlzeit in einem benachbarten Wirtshause, um zur festgesetzten Stunde gleich bei der Hand zu sein.

Matthes de Fourgeot bestellte das Essen, und zwar auf das beste und leckerste. Beim Dessert kamen zwei Murmeltierträgerinnen mit ihren Leiern an unsern Tisch. Le Brun nötigte sie zum Sitzen; man gab ihnen zu trinken; man plauderte mit ihnen; man ließ sich etwas vorleiern, und während meine drei Gäste mit der einen Schindluder trieben, flüsterte [249] mir ihre Gefährtin, die neben mir saß, leise ins Ohr: ›Mein Herr! Sie befinden sich hier in sehr schlechter Gesellschaft; unter diesen Leuten ist auch nicht einer, dessen Name nicht im roten Buche der Polizei stände.‹

Zur bestimmten Zeit verließen wir das Wirtshaus und begaben uns zum Herrn von Merval. Ich vergaß dir zu sagen, daß dieser Schmaus meinem und des Ritters Beutel vollends den letzten Stoß gab und daß unterwegs Le Brun gegen den Ritter, der es mir wiedersagte, sich verlauten ließ: daß Matthes de Fourgeot zehn Louisdors für seine Mühwaltung verlange und daß man ihm nicht weniger geben könne; denn wäre er mit uns zufrieden, so würden wir auch die Waren wohlfeileren Kaufs bekommen und die Scharte beim Verkauf leicht wieder auswetzen.

Wir waren nun wieder in Herrn Mervals Zimmer, wo wir die Frau mit den Waren schon vorfanden. Mamsell Bridoie (so hieß sie) überhäufte uns mit Höflichkeiten und Knicksen und kramte uns Stoffe, Zeuge, Spitzen, Ringe, Juwelen, goldene Dosen und dergleichen Herrlichkeiten aus. Wir nahmen von allem. Le Brun, Matthes de Fourgeot und der Ritter taxierten die Sachen, und Merval schrieb auf. Das ganze belief sich auf neunzehntausendsiebenhundertfünfundsiebzig Livres. Ich wollte einen schriftlichen Empfangsschein darüber ausstellen, als Mamsell Bridoie mit einem tiefen Knicks (denn sie redete mit niemandem, ohne ihn vorher zu beknicksen) zu mir sagte: ›Gnädiger Herr, ist es Ihre Absicht, Ihren Schuldschein zur Verfallzeit zu bezahlen?‹

›Allerdings‹, gab ich ihr zur Antwort.

›In dem Falle‹, erwiderte sie, ›wird es Ihnen gleichgültig sein, ob Sie mir einen bloßen Schein oder einen Wechsel schreiben.‹

Bei dem Worte Wechsel verfärbte ich mich. Der Ritter ward es gewahr und sagte zu Mamsell Bridoie: ›Wechsel, Mamsell? Aber diese Wechsel werden zirkulieren, und man kann nicht wissen, in welche Hände sie kommen.‹

›Sie spotten, Herr Ritter! Unsereiner weiß wohl, was man [250] Personen von Ihrem Range für Achtung schuldig ist.‹ (Ein Knicks.) ›Man verwahrt dergleichen Papiere in seiner Brieftasche und bringt sie nicht eher zum Vorschein, als bis es Zeit ist. Sehen Sie her!‹ (Wieder ein Knicks.) Sie zog ihre Brieftasche heraus und verlas eine Menge Namen von Leuten aus allen Ständen und Klassen.

Der Ritter hatte sich mir genähert und raunte mir zu: ›Wechsel? Das ist verteufelt ernsthaft. Überlege, was du tun willst! Die Frau scheint übrigens ehrlich und gut zu sein; und dann, ehe die Verfallzeit kommt, bist entweder du bei Gelde oder ich.‹

Jakob: Und Sie stellten den Wechsel aus?

Herr: Ja.

Jakob: Die Väter, wenn sie ihre Söhne nach Paris schicken, pflegen ihnen sonst eine kleine Predigt zu halten: ›Besuche keine schlechten Gesellschaften; mache dich bei deinen Obern durch Pünktlichkeit in deinen Pflichten beliebt; bleib gottesfürchtig; meide den Umgang mit liederlichen Mädchen und Glücksrittern; und vor allen Dingen, stelle nie Wechsel aus!‹

Herr: Was willst du, ich habe es so gemacht wie alle anderen. Das erste, was ich vergaß, waren die guten Lehren meines Vaters. Nun hatte ich Waren die Menge; aber ich brauchte Geld. Es befanden sich einige Paar sehr schöne Spitzenmanschetten darunter. Der Ritter steckte sie um den taxierten Preis zu sich und sagte: ›Da ist schon ein Stück von deinem Einkauf untergebracht, woran du nichts verlieren wirst.‹ Matthes de Fourgeot nahm eine Uhr und zwei goldene Dosen und versprach, auf der Stelle Geld dafür zu bringen. Das übrige nahm Le Brun in seine Verwahrung. Ich steckte eine prächtige Spitzengarnitur nebst den Manschetten in meine Tasche und bestimmte sie zu einem Teil des Angebindes, das ich zu geben hatte. Matthes de Fourgeot war in einem Hui mit sechzig Louisdors wieder da; zehn davon behielt er für sich, und die andern fünfzig bekam ich. Er versicherte, er habe weder die Dose noch die Uhr verkauft, aber sie als Pfand abgegeben.

Jakob: Als Pfand?

[251] Herr: Ja.

Jakob: Ich weiß wo.

Herr: Wo?

Jakob: Bei der Mamsell mit den vielen Knicksen, der Bridoie.

Herr: Du hast recht. Außer den Manschetten und der dazugehörigen Spitzengarnitur nahm ich noch einen hübschen Ring und eine mit Gold gefütterte Schönheitspflästerchendose. Ich hatte fünfzig Louisdors in der Tasche, und wir, der Ritter und ich, waren in der besten Laune von der Welt.

Jakob: Das ist alles recht schön; nur eins interessiert mich: die Uneigennützigkeit des Herrn Le Brun. Bekam dieser nicht auch sein Teil von der Beute?

Herr: Jakob, du scherzest, oder du kennst Herrn Le Brun nicht. Ich erbot mich, für seine guten Dienste mich erkenntlich zu zeigen; aber er ward böse und antwortete, ich würde ihn doch für keinen Matthes de Fourgeot halten, er habe sich nie die Hand versilbern lassen. ›Da haben wir unsern lieben Le Brun,‹ rief der Ritter, ›er bleibt sich immer gleich! Aber wir würden uns schämen müssen, wenn er es uns in dem, was sich gebührt, zuvortun wollte‹, und sogleich ergriff er von unseren Waren zwei Dutzend Schnupftücher nebst einem Stück Musselin und bat ihn, es für seine Frau und seine Tochter anzunehmen. Le Brun betrachtete die Schnupftücher und fand sie so schön; das Stück Musselin schien ihm so fein, und alles ward ihm auf eine so gute Art angeboten, und er hatte bald Gelegenheit, sich durch den guten Verkauf unserer Waren zu revanchieren, daß er sich bewegen ließ, unser kleines Geschenk nicht zu verschmähen. Nun verließen wir das Haus und jagten in einem Fiaker nach der Wohnung der Geliebten, für welche die Spitzengarnitur, die Manschetten, der Ring und das Döschen bestimmt waren. Das Geschenk tat seine volle Wirkung: man war bezaubernd; man probierte auf der Stelle die Garnitur und die Manschetten an; der Ring schien für den Finger gemacht. Ich blieb zum Abendessen, das, wie du leicht denken kannst, äußerst fröhlich und aufgeräumt war.

Jakob: Blieben Sie nicht auch die Nacht da?

[252] Herr: Nein.

Jakob: Also wohl der Ritter?

Herr: Ich glaub es.

Jakob: Bei der Lebensweise, die man Sie führen ließ, können Ihre fünfzig Louisdors nicht lange gereicht haben.

Herr: Nein. Nach Verlauf von acht Tagen verfügten wir uns zu Herrn Le Brun, um zu sehen, was aus unsern übrigen Effekten gelöst wäre.

Jakob: Nichts oder sehr wenig. Le Brun war traurig und schimpfte auf Merval und die Mamsell mit den Knicksen, nannte sie Spitzbuben, Schelme, Betrüger, vermaß sich von neuem, nichts wieder mit ihnen zu schaffen zu haben, und zahlte Ihnen sieben-oder achthundert Livres.

Herr: Ungefähr so viel: achthundertsiebzig Livres.

Jakob: Wenn ich also gut rechnen kann: achthundertsiebzig Livres von Le Brun, fünfzig Louisdors von Merval oder Fourgeot, die Garnitur mit den Manschetten, der Ring, wir wollen sie auch zu fünfzig Louisdors anschlagen – das wäre denn alles, was Sie für ihre neunzehntausendsiebenhundertfünfundsiebzig Livres an Waren bekommen hätten! Zum Teufel, das läßt sich hören! Merval hatte recht. Man hat nicht alle Tage mit so ehrlichen Leuten zu tun.

Herr: Du vergißt die Manschetten, die der Ritter zum taxierten Preis an sich nahm.

Jakob: Weil der Ritter ihrer nie mit einem Worte wieder gedacht hat.

Herr: Das ist wahr; aber du sagst auch nichts von den beiden Dosen und der Uhr, die Matthes verpfändete.

Jakob: Weil ich nicht weiß, was ich davon sagen soll.

Herr: Unterdessen waren die Wechsel verfallen ...

Jakob: ... und weder Sie noch der Ritter bei Kasse.

Herr: Ich mußte mich verstecken. Man schrieb es meinen Eltern, und einer von meinen Onkeln kam nach Paris. Er reichte bei der Polizei eine Klagschrift gegen alle diese Schelme ein. Die Klagschrift ward einem der einschlägigen Beamten überwiesen; der Beamte war ein besoldeter Beschützer von Merval. [253] Man gab meinem Onkel zur Antwort, die Polizei könne hier nichts tun, da die Sache in ihrem ordentlichen Rechtsgange sei. Der Pfandleiher, dem Matthes die beiden Dosen anvertraut hatte, ließ diesen vor Gericht laden. Ich ward in diesen Prozeß verwickelt. Die aufgelaufenen Gerichtskosten waren so ungeheuer, daß nach Verkauf der Uhr und der beiden Dosen noch fünf- bis sechshundert Livres nachgeschossen werden mußten.


Leser, du glaubst das nicht? So höre die Geschichte eines Limonadeschenken, der vor einiger Zeit in meiner Nachbarschaft starb und zwei arme, noch minderjährige Waisen hinterließ. Der Kommissar begab sich sogleich in das Haus des Verstorbenen. Erst ward alles versiegelt, dann das Siegel wieder abgenommen, dann ein Inventar aufgenommen und hierauf eine Auktion veranstaltet. Die Auktion warf nicht mehr ab als acht- bis neunhundert Livres; davon die Gerichtskosten abgezogen, blieben noch zwei Sous für jede dieser armen Waisen übrig. Diese zwei Sous gab man ihnen in die Hand und schickte sie ins Armenhaus.

Herr: Das ist entsetzlich!

Jakob: Und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Herr: Mein Vater starb unterdessen; ich bezahlte die Wechsel und kam aus meinem Schlupfwinkel wieder zum Vorschein, wo, ich muß es zu ihrer Ehre bekennen, der Ritter und meine Geliebte mir treulich Gesellschaft geleistet hatten.

Jakob: Nun waren Sie vom Ritter und Ihrer Schönen noch ebenso eingenommen wie zuvor; und Ihre Schöne hängte Ihnen das Zuckerbrot höher als jemals.

Herr: Und warum das, Jakob?

Jakob: Weil Sie jetzt Ihr eigner Herr und Besitzer eines ansehnlichen Vermögens waren und man also aus Ihnen einen kompletten Dummkopf machen wollte, einen Ehemann.

Herr: Ich glaube in der Tat, daß dies ihre Absicht war; aber es gelang ihnen nicht.

Jakob: Da haben Sie wirklich Glück gehabt, oder die andern sind sehr ungeschickt gewesen.

[254] Herr: Aber es scheint mir, daß deine Stimme weniger rauh ist und dir das Sprechen wieder leichter fällt.

Jakob: Das scheint Ihnen bloß so, ist aber nicht der Fall.

Herr: Du könntest deine Liebesgeschichte also nicht fortsetzen?

Jakob: Nein.

Herr: Und du meinst, ich solle mit der meinigen fortfahren?

Jakob: Ich meine, man sollte eine Pause machen und die Flasche lüpfen.

Herr: Was! Trotz deiner Halsschmerzen hast du dir den Kürbis wieder füllen lassen?

Jakob: Ja, aber, bei allen Teufeln, mit Kräutertee; außerdem habe ich keinen einzigen Gedanken, ich bin ganz blöd, und solang nur Tee im Kürbis ist, werde ichs auch bleiben.

Herr: Was tust du da?

Jakob: Ich schütte den Tee auf den Boden, ich fürchte, er bringt uns nur Unglück.

Herr: Du bist verrückt!

Jakob: Gescheit oder verrückt, es wird nicht soviel wie eine Träne im Kürbis bleiben.

Während Jakob seine Kürbisflasche auf den Boden ausleert, schaut sein Herr nach der Uhr, öffnet seine Tabaksdose und schickt sich an, seine Liebesgeschichte fortzusetzen.


Und ich, Leser, bin versucht, ihm den Mund zu stopfen, indem ich ihm von weitem einen alten Militär zeige, der mit gebeugtem Rücken eilig dahertrabt, oder eine junge Bäuerin im Strohhütchen und mit roten Unterröcken, die zu Fuß oder auf einem Esel daherkommt. Und warum sollte der alte Militär nicht Jakobs Hauptmann oder dessen Freund sein?

›Aber er ist doch gestorben?‹

Du glaubst es? Warum könnte die junge Bäuerin nicht Frau Susanne oder Frau Margarete sein oder die Wirtin vom ›Großen Hirsch‹ oder die Mutter Jeanne oder vielleicht gar ihre Tochter Denise? Ein Romanschreiber würde sich das nicht entgehen lassen, aber ich mache mir nichts aus Romanen, außer [255] wenn sie von Richardson sind. Ich schreibe Geschichte; diese Geschichte wird interessieren oder nicht, das ist meine geringste Sorge. Meine Absicht ist, wahr zu sein, ich habe sie ausgeführt. Ich werde daher auch nicht den Bruder Hans aus Lissabon zurückkehren lassen; und dieser dicke Prior, der in dem Einspänner an der Seite einer jungen hübschen Frau auf uns zukommt, wird sich nicht als der Abt Hudson entpuppen.

›Aber der Abt Hudson ist doch gestorben?‹

Du glaubst es? Hast du seinem Leichenbegängnis beigewohnt?

›Nein.‹

Du hast ihn nicht in die Erde einsenken sehen?

›Nein.‹

Er ist also tot oder lebt noch, ganz wie es mir gefällt. Es hinge nur von mir ab, diesen Einspänner anzuhalten und zusammen mit dem Abt und seiner Reisegefährtin eine Folge von Ereignissen aussteigen zu lassen, um derentwillen du weder Jakob noch seines Herrn Liebesgeschichte erfahren würdest; aber ich verschmähe alle solche Auskunftsmittel, ich sehe nur, daß mit ein klein wenig Einbildungskraft und gutem Stil nichts leichter ist, als einen Roman auszuspinnen. Bleiben wir bei der Wahrheit und lassen, indes wir abwarten, daß Jakobs Halsschmerzen vorübergehen, seinen Herrn reden.


Herr: An einem Morgen kam mir der Ritter sehr traurig vor. Es war gerade der Morgen nach einem Tage, den wir sehr vergnügt auf dem Lande zugebracht hatten. Die Gesellschaft hatte aus dem Ritter, seiner oder meiner Freundin (vielleicht auch der Freundin von beiden zugleich), dem Vater, der Mutter, den Tanten, den Cousinen und mir bestanden. Er fragte mich, ob ich mir vielleicht eine Unvorsichtigkeit hätte zuschulden kommen lassen, durch welche die Eltern über meine Liebe aufgeklärt worden seien? Der Vater und die Mutter, fuhr er fort, wären in Sorge wegen meines Courmachens bei ihrer Tochter und hätten erklärt: Wenn ich ehrliche Absichten hätte, so brauchte ich nur mit der Sprache herauszukommen, und man würde sich eine Ehre daraus machen, mir unter dieser Bedingung [256] ferner den Zutritt zu verstatten; wenn ich mich aber binnen vierzehn Tagen nicht darüber aus ließe, so müßte man mich bitten, meine Besuche einzustellen, weil sie zu sehr in die Augen fielen und zu allerlei Gerede Anlaß gäben und ihrer Tochter zum Nachteil gereichen könnten, da aus Furcht vor einem Korbe andere Freier abgeschreckt würden.

Jakob: Nun, gnädiger Herr, hatte Jakob nicht eine gute Nase?

Herr: Der Ritter setzte hinzu: ›Vierzehn Tage nur! Der Termin ist verdammt kurz. Du liebst und wirst geliebt. Was willst du nach Verlauf der vierzehn Tage tun?‹ Ich antwortete dem Ritter ganz trocken: ›Nicht mehr hingehen.‹

›Du willst nicht mehr hingehen? Du liebst sie also nicht?‹

›Ich liebe sie, und zwar recht herzlich; aber ich habe Verwandte, einen Rang, einen Namen, Aussichten, und ich kann mich unmöglich entschließen, alle diese Vorteile in dem Laden eines kleinen Bürgermädchens zu vergraben.‹

›Soll ich ihr das sagen?‹

›Wenn du willst ... Aber, Ritter, die plötzliche skrupelhafte Delikatesse dieser Leute fällt mir auf; sie haben ihrer Tochter erlaubt, meine Geschenke anzunehmen; sie haben mich wohl zwanzigmal mit ihr allein gelassen; sie fährt mit dem ersten besten, der ihr seinen Wagen anbietet, in die Schauspielhäuser, auf Bälle, Assembleen und Promenaden; die Eltern liegen ruhig in ihren Betten, während bei der Tochter Musik oder Gesellschaft ist; du gehst in dem Hause aus und ein, sooft es dir beliebt, und, unter uns, Ritter, wo du zugelassen wirst, da kann man auch andere zulassen. Ihre Tochter steht nicht im besten Ruf. Ich glaube ebensowenig, was man von ihr sagt, als ich es in Abrede stellen will; aber du wirst mir zugeben, daß die Eltern hätten früher darauf denken sollen, für die Ehre ihres Kindes zu wachen. Soll ich dir aufrichtig meine Meinung sagen? Man hat mich für einen guten Einfaltspinsel gehalten, den man bei der Nase zum Traualtar führen könnte. Aber sie haben sich getäuscht. Ich finde Mamsell Agathe entzückend; ich bin sogar in sie vernarrt, und ich dächte, die Unsummen, die ich für sie aufgewandt und verschwendet [257] habe, wären Beweis genug dafür. Ich bin gar nicht abgeneigt, meine Liebschaft mit ihr fortzusetzen, aber wenigstens will ich die Gewißheit haben, sie für mein vieles Geld in Zukunft weniger spröde zu finden. Ich bin nicht willens, ewig zu ihren Füßen zu seufzen und mein Glück und meine Zeit zu vertändeln, die ich anderswo besser und nützlicher anwenden könnte. Dies letztere kannst du Fräulein Agathe sagen und alles, was ich vorher sagte, ihren Eltern. Entweder unser Umgang hört auf, oder er muß auf einem andern Fuß fortgesetzt werden, und Mamsell Agathe muß aus mir etwas Besseres machen, als sie seither gemacht hat. Erinnerst du dich wohl, Ritter, als du mich in ihrem Hause einführtest, daß du mir mit Gefälligkeiten schmeicheltest, die ich doch nicht gefunden habe? Ritter, du hast mich ein wenig hinters Licht geführt!‹

Ritter: Wahrhaftig, ich bin selbst zuerst hinter das Licht geführt worden. Wer, Teufel, hätte sich einbilden sollen, daß das junge Ding bei ihrer leichten Art und ihrem freien und vergnügten Ton ein solcher kleiner Tugenddrache sein würde!

Jakob: Den Teufel, Herr, das heißt von der Leber weg geredet! So haben Sie sich doch einmal in Ihrem Leben ein Herz gefaßt!

Herr: Ich habe so meine Tage. Ich hatte auch gar manches auf dem Herzen: die Geschichte mit den Wucherern, meine Wechselflucht vor der Mamsell Bridoie und mehr als dies alles: die Sprödigkeit der Mamsell Agathe; ich war es satt, mich am Seilchen führen zu lassen.

Jakob: Und was taten Sie nach dieser mutigen Herzenserleichterung gegenüber Ihrem teuern Freund, dem Ritter von Saint-Ouin?

Herr: Ich hielt Wort und stellte meine Besuche ein.

Jakob: Bravo! Bravo! Mio caro maestro!

Herr: Es gingen vierzehn Tage hin, ohne daß ich ein Wort von ihnen hörte, ausgenommen daß der Ritter mich getreulich von den Wirkungen unterrichtete, welche mein Ausbleiben auf die Familie gehabt habe, und daß er mich aufmunterte, standhaft zu bleiben. ›Man fängt an, sich zu wundern‹, sagte er zu mir.[258] ›Man sieht einander an, man fragt sich, was man dir für Anlaß zum Mißvergnügen gegeben habe. Die Mamsell spielt die Stolze; sie sagte mit affektierter Gleichgültigkeit, durch welche aber der Verdruß nur zu deutlich durchschimmert: »Man sieht den Herrn gar nicht mehr. Wahrscheinlich will er, daß man ihn nicht mehr sehen soll. Immerhin, das ist seine Sache.« Und dann macht sie eine Pirouette, trillert sich eins oder geht ans Fenster; aber wenn sie sich wieder umdreht, hat sie rote Augen, und jedermann sieht, daß sie geweint hat.‹

›Daß sie geweint hat?‹

›Sie setzt sich, nimmt ihre Arbeit, will arbeiten, aber arbeitet nicht; man schwatzt von diesem und jenem, sie bleibt stumm; man sucht sie aufzumuntern, sie wird böse; man schlägt ihr ein Spiel, einen Spaziergang, die Komödie vor, sie nimmt es an, aber wenn es dazu kommt, verfällt sie auf etwas anderes, um es den Augenblick darauf ebenfalls zu verwerfen ... Allein das macht dich unruhig, ich sage kein Wort mehr.‹

›Aber, Ritter, du glaubst also, wenn ich wieder zu ihr ginge ...‹

›So würdest du wie ein Tor handeln. Man muß hübsch standhaft bleiben und sich durch nichts irre machen lassen. Kommst du von selbst wieder, ohne daß man dich ausdrücklich zurückgerufen hat, so bist du verloren. Man muß solchen Leuten Lebensart beibringen.‹

›Und wenn man mich nicht zurückruft?‹

›Man wird dich zurückrufen.‹

›Wenn man es auf die lange Bank schöbe?‹

›Das wird nicht geschehen. Zum Henker, ein Mann wie du ist nicht so leicht ersetzt! Kämst du aber von selbst zurück, so würde man mit dir schmollen, dich deine Beleidigung teuer büßen lassen und dir das Gesetz auferlegen, das man dir auferlegen wollte und unter das du dich schmiegen müßtest, du möchtest wollen oder nicht. Willst du der Herr oder willst du der Sklave, und zwar ein recht hart gehaltener Sklave sein? Wähle! Aufrichtig gestanden: Dein Betragen ist ein wenig unbesonnen gewesen; wenigstens verrät es keinen zärtlichen [259] Liebhaber; aber was geschehen ist, ist geschehen, und wenn es möglich ist, Nutzen daraus zu ziehen, so muß man wenigstens nichts vernachlässigen.‹

›Aber sie hat geweint.‹

›Nun gut, sie hat geweint; es ist doch besser, sie weint als du.‹

›Wenn sie mich aber nicht zurückruft?‹

›Ich sage dir, sie wird dich zurückrufen! Bin ich bei ihr, so spreche ich so wenig von dir, als wenn du nicht in der Welt wärst. Man klopft vorsichtig bei mir auf den Busch, ich tue nicht dergleichen. Endlich fragt man mich, ob ich nichts von dir gesehen hätte. Ich antworte ganz gleichgültig bald ja, bald nein. Dann spricht man von etwas anderem, aber bald lenkt man das Gespräch wieder darauf, warum du so plötzlich mit ihr gebrochen habest. Das erste Wort kommt immer entweder vom Vater oder von der Mutter oder von der Tante oder von Agathe, und es heißt: »Nach allen den Aufmerksamkeiten, die wir für ihn gehabt haben! Nach dem Anteil, den wir an seiner letzten Affäre nahmen! Nach der Freundschaft, die meine Nichte ihm bewiesen! Nach den Höflichkeiten, womit ich ihn überhäufte! Nach so vielen Beteuerungen von Ergebenheit und Anhänglichkeit, die er uns gemacht hat! Ja, ja, man traue nur den Männern. Man öffne nun wieder sein Haus dem ersten besten, der kommt! Man glaube nur an Freundschaft!«‹

›Und Agathe?‹

›Die ganze Familie ist voller Bestürzung, du kannst es mir glauben.‹

›Und Agathe?‹

›Agathe zieht mich beiseite und sagt zu mir: »Ritter, begreifen Sie Ihren Freund? Sie haben mir so oftmals versichert, daß er mich liebe. Wahrscheinlich glaubten Sie es, und warum sollten Sie es auch nicht geglaubt haben, glaubte ich es doch.« Dann macht sie eine Pause, ihre Stimme verändert sich merklich; ihre Augen füllen sich mit Tränen ... Aber die deinigen machen es ja nicht besser. Nein, ich sage dir kein Wort weiter, [260] gewiß nicht! Ich sehe wohl, wo du hinauswillst; aber daraus darf nichts werden, durchaus nichts! Nachdem du einmal die Torheit begangen hast, um nichts und wieder nichts zu brechen, so will ich nicht, daß du noch die zweite, größere begehst und dich ihnen an den Hals wirfst. Man muß diesen Vorfall zu nützen suchen, um in deiner Angelegenheit mit Mamsell Agathe größere Fortschritte zu machen; man muß ihr zeigen, daß sie dich nicht so am Seilchen hat und daß sie dich verlieren könnte, sobald sie es nicht besser anfängt, dich zu behalten. Du hast so viel für sie getan und willst noch nicht weiter mit ihr gekommen sein, als ihr die Hand küssen zu dürfen? Marquis, die Hand aufs Herz, wir sind Freunde, und du kannst gegen mich offenherzig sein, ohne eine Indiskretion zu begehen: Ist es wahr, daß du nicht weiter bei ihr gekommen bist?‹

›Ja.‹

›Du lügst, du machst den Delikaten!‹

›Das würde ich vielleicht tun, wenn ich Ursache dazu hätte; aber ich schwöre dir, ich bin nicht so glücklich, auf die Art lügen zu müssen!‹

›Es ist unbegreiflich, denn du weißt doch sonst deine Sachen geschickt anzufangen. Wie? Man hat auch nicht die geringste Anwandlung von Schwachheit für dich gehabt?‹

›Nein.‹

›Vielleicht war sie soweit, und du wurdest es nicht gewahr und hast den günstigen Augenblick ungenutzt verstreichen lassen. Mir ist bange, daß du dich in der Sache ein wenig blöde benommen hast. So aufrichtige, feinfühlige und zärtliche Menschen wie du sind zuweilen dem ausgesetzt.‹

›Aber du, Ritter, was machst du bei ihr?‹

›Nichts.‹

›Du solltest gar keine Absichten auf sie gehabt haben?‹

›Um Verzeihung, im Gegenteil, Absichten, die ziemlich lange dauerten; allein du kamst, sahst und siegtest. Ich wurde gewahr, daß man immer nur Augen für dich und fast gar keine mehr für mich hatte, und verstand den Wink. Wir sind übrigens [261] gute Freunde geblieben; man vertraut mir seine kleinen Geheimnisse an und befolgt zuweilen meinen Rat; in Ermangelung eines Bessern habe ich mich zu der untergeordneten Rolle bequemt, auf welche du mich reduziert hast.‹

Jakob: Herr, erlauben Sie mir zwei Anmerkungen: die erste, daß ich in meiner Geschichte nie habe ruhig forterzählen können, ohne daß nicht der Teufel oder jemand anderes mich unterbrochen hätte; hingegen Ihre Erzählung geht wie am Schnürchen. Sehen Sie, das ist der Gang des Lebens: der eine läuft durch Dornen und Disteln, ohne sich zu stechen, der andere mag sich noch so sehr vorsehen, wo er den Fuß hinsetzt, er findet Dornen auf dem gebahntesten Wege und kommt geschunden und zerfetzt ans Ziel.

Herr: Hast du deinen Spruch, das große Buch und die Schrift dort oben vergessen?

Jakob: Meine zweite Anmerkung ist, daß ich steif und fest dabei bleibe, Ihr Ritter ist der größte Gauner und Spitzbube. Erst teilt er Ihr Geld mit Ihren Wucherern, Le Brun, Merval, Matthes de Fourgeot oder Fourgeot de Matthes und der Bridoie; und jetzt sucht er Ihnen in allem Guten und allen Ehren seine Mätresse vor Pfaffen und Zeugen an den Hals zu hängen, um auch Ihre Frau mit Ihnen zu teilen ... Au weh, mein Hals!

Herr: Du weißt wohl, was du jetzt eben getan hast? Etwas sehr Gemeines und Impertinentes.

Jakob: Dessen bin ich wohl fähig.

Herr: Du beklagst dich, daß man dich unterbrochen hat, und du unterbrichst selbst.

Jakob: Das ist die Folge des bösen Beispiels, das Sie mir gegeben haben. Eine Mutter ist galant und will nicht, daß Ihre Tochter es sein soll; ein Vater will sein Geld zum Fenster hinauswerfen und will, daß sein Sohn knickern soll; ein Herr will ...

Herr: ... seinem Diener ins Wort fallen, sooft es ihm beliebt, aber nicht von ihm unterbrochen werden.

[262] Ist dir nicht bange, lieber Leser, daß sich der Auftritt im Gasthof erneuern möchte, wo der eine schrie: ›Du sollst hinunter!‹ und der andere antwortete: ›Ich will nicht hinunter!‹ Was hindert mich, dich die Worte hören zu lassen: ›Ich will unterbrechen!‹ – ›Du wirst nicht unterbrechen!‹ Soviel ist gewiß, ich brauchte nur ein wenig bei Jakob oder seinem Herrn zu schüren, so ginge der Zank von neuem los; und hätte ich ihn einmal ausbrechen lassen – wer weiß, wie und wann er endete? Aber die Wahrheit ist, daß Jakob seinem Herrn bescheiden antwortete: »Herr, ich unterbreche Sie nicht, sondern ich plaudere nur mit Ihnen, wie Sie mir das erlaubt haben.«

Herr: Es mag gut sein; aber das ist noch nicht alles.

Jakob: Und welche Sünde kann ich denn noch verschuldet haben?

Herr: Du greifst dem Erzähler vor und stiehlst ihm das Vergnügen, das er sich von deiner Überraschung versprach. Durch eine sehr zur unrechten Zeit angebrachte Prahlerei mit Scharfsinn hast du erraten, was er dir sagen wollte; und so bleibt ihm nichts übrig, als zu schweigen. Also schweige ich!

Jakob: Nicht doch, gnädiger Herr!

Herr: Verwünscht seien alle Leute von Geist!

Jakob: Ganz Ihrer Meinung; aber Sie werden doch nicht die Grausamkeit haben ...

Herr: Gestehe wenigstens, daß du es verdientest!

Jakob: Ich räume es ein; allein Sie werden demungeachtet auf Ihre Uhr sehen; Sie werden Ihre Prise Tabak nehmen; Ihre böse Laune wird verfliegen; und Sie werden Ihre Erzählung fortsetzen.

Herr: Der durchtriebene Bursche! Er macht mit mir, was er will!

Einige Tage, nachdem ich diese Unterredung mit dem Ritter gehabt hatte, kam er wieder zu mir. Er hatte eine triumphierende Miene.

›Nun, Freund,‹ sagte er, ›wirst du ein anderes Mal mehr meinen Prophezeiungen trauen? Ich hatte es dir wohl gesagt, wir sind im Vorteil; und hier ist ein Brief von der Kleinen ...‹

[263] Dieser Brief lautete sehr sanftmütig; er enthielt Klagen, Vorwürfe und so weiter. Und siehe da, schon ging ich in ihrem Hause wieder aus und ein!

Lieber Leser! du hältst hier mit Lesen inne. Was ficht dich an? Ah, ich glaube es zu erraten. Du möchtest gern diesen Brief lesen. Madame Riccoboni hätte nicht ermangelt, ihn dir zu zeigen. Und der Brief, welchen Frau von Pommeraye den beiden Betschwestern diktierte, ich bin überzeugt, daß du ihn auch vermißt hast. Obgleich er weit schwerer zu schreiben war als Agathens Brief und obgleich ich kein großes Zutrauen zu meinem Talent habe, so glaube ich doch, daß ich mich mit Ehren aus dem Handel gezogen hätte. Aber der Brief wäre kein Original gewesen; es wäre ihm gegangen wie den erhabenen Reden des Titus Livius in seiner ›Römischen Geschichte‹ oder des Kardinals Bentivoglio in seinen ›Flandrischen Kriegen‹. Man liest sie mit Vergnügen; allein sie zerstören die Illusion. Ein Geschichtsschreiber, der seinen Helden Reden unterschiebt, die sie nicht gehalten haben, kann ihnen auch Handlungen andichten, die sie nicht taten; daher bitte ich dich, lieber auf die beiden Briefe zu verzichten und weiterzulesen.

Herr: Man verlangte von mir Rechenschaft wegen meines Wegbleibens. Ich sagte, was ich wollte. Man begnügte sich mit dem, was ich sagte, und alles ging wieder seinen gewöhnlichen Gang.

Jakob: Das heißt, Sie fuhren mit Geldausgeben fort und kamen in Ihren Liebesangelegenheiten nicht weiter.

Herr: Der Ritter fragte mich, wie es damit stände, und schien ordentlich die Geduld darüber zu verlieren.

Jakob: Vielleicht verlor er sie im Ernst.

Herr: Und warum das?

Jakob: Warum? Weil er ...

Herr: Weiter!

Jakob: Ich werde mich wohl hüten; man muß das dem Erzähler überlassen.

Herr: Ich sehe, meine Lehren schlagen bei dir an, und das freut mich.

[264] Eines Tages schlug der Ritter mir einen Ausflug vor, wo wir ganz unter uns sein wollten. Wir machten uns in aller Frühe auf den Weg, brachten den Tag auf dem Lande zu und aßen mittags und abends im Gasthof. Der Wein war vortrefflich; wir tranken stark und führten politische, religiöse und galante Diskurse. Noch nie zuvor hatte mir der Ritter soviel Vertrauen und soviel Freundschaft bezeigt. Er erzählte mir mit der unglaublichsten Offenherzigkeit alle Begebenheiten seines Lebens und verschwieg mir weder Gutes noch Böses. Bald trank er, bald umarmte er mich, bald weinte er vor Zärtlichkeit. Ich trank, umarmte ihn und weinte ebenfalls. In seinem ganzen vergangenen Leben gab es nur eine einzige Tat, die ihn bis ins Grab mit Gewissensbissen verfolgen würde, die er sich vorwarf und die ihn, wie er sagte, bis ins Grab bedrücken und ihm leid tun würde.

›Ritter, beichte sie deinem Freunde; das wird dir Erleichterung verschaffen. Sage ihm, was es war; vielleicht ein kleines Vergehen, das deine Delikatesse dir vergrößert?‹

›Nein, nein,‹ rief der Ritter, indem er seinen Kopf in seine beiden Hände legte und sich vor Scham das Gesicht zuhielt, ›es ist ein Bubenstück, ein unverzeihliches Bubenstück! Wirst du's glauben können? Ich, der Ritter von Saint-Ouin, ich habe einmal meinen Freund betrogen, ja, betrogen!‹

›Wie ging das zu?‹

›Ach, wir besuchten beide dasselbe Haus wie du und ich. In diesem Hause war ein junges Mädchen wie Mamsell Agathe; er war in sie verliebt, und sie liebte mich. Er ruinierte sich ihr zuliebe, und ich war im Genuß ihrer Gunstbezeigungen. Ich habe nie das Herz gehabt, es ihm zu gestehen; aber sollten wir uns je wieder antreffen, so will ich ihm alles entdecken. Dies schreckliche Geheimnis, das ich im Grunde meines Herzens bewahre, drückt mich zu Boden; es ist eine Last, die ich notwendig abwälzen muß.‹

›Ritter, du wirst wohl daran tun.‹

›Du rätst es mir also?‹

›Allerdings rat ich es dir.‹

[265] ›Und wie glaubst du, daß mein Freund die Sache aufnehmen wird?‹

›Wenn er wirklich dein Freund ist und billig denkt, so wird er deine Entschuldigung in sich selbst finden. Er wird von deiner Freimütigkeit und deiner Reue gerührt werden, seine Arme um deinen Hals schlingen, kurz, tun, was ich an seiner Stelle tun würde.‹

›Glaubst du das?‹

›Ich glaube es.‹

›Und so würdest du handeln?‹

›Ohne allen Zweifel.‹

Augenblicklich stand der Ritter auf, näherte sich mir mit weinenden Augen und ausgebreiteten Armen und sagte: ›Freund, so umarme mich!‹

›Wie, Ritter?‹ rief ich. ›Bist du's? Bin ichs? Ist diese Spitzbübin Agathe?‹

›Ja, Freund; aber ich gebe dir dein Wort zurück; du sollst Herr und Meister sein, mit mir zu verfahren, wie es dich gut dünkt. Glaubst du wie ich, daß meine Beleidigung keine Entschuldigung verdient, so entschuldige mich nicht. Verlaß mich, betrachte mich als einen Gegenstand deines Abscheus und gib mich meinem Schmerz und der Schande preis! Ach, Freund, wenn du wüßtest, welche Gewalt die Ruchlose über mein Herz gewonnen hatte! Ich bin mit ehrlichen Gesinnungen geboren. Schließe nun selbst, wieviel ich bei der unwürdigen Rolle leiden mußte, zu der ich mich erniedrigte! Wie oft habe ich meine Blicke von ihr gewendet und sie, über meine und ihre Verräterei seufzend, auf dich geheftet! Es ist unglaublich, daß du es nie bemerkt haben solltest.‹

Ich war unterdessen so unbeweglich wie eine Bildsäule und hörte kaum, was der Ritter zu mir sagte. ›Die Nichtswürdige! Du! Du, mein Freund?‹ rief ich dann aus. ›Ja, ich war dein Freund und ich bin es noch, da ich, um dich aus den Schlingen dieser Kreatur zu befreien, dir ein Geheimnis verrate, das mehr ihr Geheimnis als das meine ist. Besonders bringt mich das zur Verzweiflung, daß du von ihr noch nichts erhalten hast, [266] was dich hätte für alles das entschädigen können, was du so lange für sie tatest.‹ (Jakob fing hier an, zu lachen und zu pfeifen.)


›Aber das ist ja, Trunkener Mund, wahrer Mund' von Collé?‹ Leser, du weißt nicht, was du sagst! In deinem Bestreben, Geist zu zeigen, entpuppst du dich als ein Dummkopf. Es ist so wenig trunkener Mund, wahrer Mund, daß man es weit eher trunkener Mund, Lügenmund nennen könnte. Allein ich habe dir etwas Beleidigendes gesagt: es tut mir leid, und ich bitte dich deswegen um Vergebung.


Herr: Mein Zorn schwand nach und nach. Ich umarmte den Ritter; er nahm wieder Platz auf seinem Stuhl, stemmte sich mit dem Ellbogen auf den Tisch und hielt sich mit der Hand die Augen zu: er vermochte nicht, mich anzusehen.

Jakob: Er war tief traurig, und Sie hatten die Güte, ihn zu trösten. (Jakob pfiff wieder.)

Herr: Mir schien es das beste zu sein, die Sache ins Lustige zu ziehen, aber sooft ich scherzen wollte, erwiderte mein niedergeschlagener Freund: ›Es gibt keinen solchen Mann mehr wie du. Du bist einzig, du bist hundertmal mehr wert als ich! Ich zweifle, ob ich so viel Großmut oder Stärke gehabt hätte, dir eine ähnliche Beleidigung zu verzeihen; und du scherzest noch darüber? Das ist ohne Beispiel! Freund, was kann ich tun, um das wiedergutzumachen? – Aber nein, ach nein! Nein! Nein! Es kann nie wiedergutgemacht werden! Nie, nie werde ich weder mein Verbrechen noch deine Nachsicht vergessen! Das sind zwei Züge, die zu tief hier eingegraben stehen. Ewig werde ich mich beider erinnern, um mich zu verabscheuen und dich zu bewundern und meine Ergebenheit für dich zu verdoppeln.‹

›Genug, Ritter! Du siehst die Sache in einem ganz falschen Lichte; du übertreibst sowohl meine als deine Tat. Deine Gesundheit, Ritter! Nun gut, so wollen wir die meinige trinken, weil du nicht willst, daß es die deine sein soll.‹ Der Ritter faßte langsam wieder Mut; er erzählte mir alle Umstände seiner [267] Verräterei, belegte sich selbst mit den härtesten Beinamen und schonte weder Tochter noch Mutter, weder Vater noch Tante, noch die ganze Familie, die er mir als ein Pack Lumpengesindel schilderte, das meiner unwürdig; aber seiner vollkommen würdig sei. Dies waren seine eignen Worte.

Jakob: Darum warne ich alle Frauen, sich Leuten hinzugeben, die sich betrinken. Ich verachte Ihren Herrn Ritter ebensosehr wegen seiner Indiskretion in der Liebe als wegen seiner Treulosigkeit in der Freundschaft. Was Teufel, er brauchte nur ... ein ehrlicher Mann zu sein und gleich von vornherein gerade mit der Sprache gegen Sie herauszugehen ... Aber sehen Sie, Herr, ich bleibe dabei, er ist ein Schurke, ein ausgemachter Schurke! Ich weiß nicht, was die Sache für ein Ende nehmen wird; indes gewiß will er Sie noch einmal betrügen, indem er tut, als ob er Ihnen einen Betrug aufdeckte. Oh, geschwind, befreien Sie mich, befreien Sie sich selbst aus diesem Gasthof und von der Gesellschaft dieses Mannes!

Hier griff Jakob wieder zu seiner Flasche, ohne daran zu denken, daß sie weder Tee noch Wein enthielt. Sein Herr fing an zu lachen. Jakob hustete eine Viertelstunde lang ohne Unterbrechung. Sein Herr zog seine Uhr und seine Tabaksdose aus der Tasche und fuhr in seiner Geschichte fort, die ich unterbrechen werde, wenn es dir paßt, lieber Leser, sei es auch nur, um Jakob in Zorn zu bringen, indem ich ihm beweise, daß es nicht, wie er glaubte, dort oben geschrieben stand, daß er immer unterbrochen werden würde, sein Herr hingegen nie.

Herr: Ich sagte zu dem Ritter: ›Nach diesem Geständnis hoffe ich, du wirst Agathe nicht wiedersehen.‹ – ›Ich sie wiedersehen? Nur das tut mir weh, von dannen gehen zu sollen, ohne gehörig Rache zu nehmen. Man sollte also einen wackern Mann betrogen, an der Nase herumgeführt, verspottet und ausgeplündert haben? Man sollte die Leidenschaft und Schwachheit eines andern wackern Mannes – denn ich wage es, mich noch dafür zu halten – gemißbraucht haben, um ihn in eine Folge von Abscheulichkeiten zu verwickeln? Man sollte zwei Freunde der Gefahr ausgesetzt haben, einander zu hassen [268] oder vielleicht zu ermorden? Denn gestehe es selbst, Lieber: Wenn du hinter meine Streiche gekommen wärest ... Du hast Herz, du würdest vielleicht darüber so erbittert geworden sein ...‹

›Nein, soweit wäre es nie gekommen! Warum denn und für wen? Wegen eines Vergehens, wo niemand bürgen könnte, daß er es nicht auch verschulden würde? War es meine Frau? Und wenn sie es gewesen wäre! War es meine Tochter? Nein, eine kleine abgefeimte Dirne! Und du glaubst, daß ich eines solchen Dirnleins wegen..? Doch wir wollen davon schweigen, lieber Freund, und eins trinken. Agathe ist jung, feurig, weiß, füllig und rundlich, nicht wahr? Sie hat das festeste Fleisch und eine Haut, so sanft wie Flaum, und ich wette, daß du in ihren Armen dich recht glücklich fühltest und gewiß nicht Zeit hattest, an deinen Freund zu denken.‹

›Das ist gewiß: Wenn die Reize der Person und die Wonne des genossenen Vergnügens einen begangenen Fehler minder strafbar machen könnten, so würde niemand unter der Sonne weniger strafbar sein als ich!‹

›Ritter, ich widerrufe; ich nehme meine vorige Nachsicht zurück und will deine Verräterei nur unter einer Bedingung vergessen ...‹

›Rede, Freund! Befiehl! Sprich! Soll ich zum Fenster hinausspringen? Soll ich mich erhängen? Soll ich mich ersäufen? Soll ich mir ein Messer in die Brust stoßen?‹ Und zugleich ergriff der Ritter ein Messer, das auf dem Tisch lag, machte sich den Kragen bloß, schob sein Hemd zurück und setzte sich mit starren und verwirrten Blicken die Spitze des Messers, das er in der rechten Hand hielt, in die Grube des linken Schlüsselbeins. Er schien nur auf meinen Befehl zu warten, um sich auf antike Art aus der Welt zu schaffen.

›Davon ist nicht die Rede, Ritter! Laß das häßliche Messer liegen!‹

›Ich lasse es nicht fahren; ich verdiene nichts Besseres! Winke!‹

›Leg das Messer hin, sage ich! Ich fordere keine Buße um einen so hohen Preis von dir!‹

[269] Unterdessen blieb die Spitze des Messers doch immer über der Grube des linken Schlüsselbeins schweben, bis ich ihn endlich beim Arm ergriff, ihm das Messer wegriß und es weit von mir schleuderte. Ich nahm dann die Flasche, schenkte ihm sein Glas voll und sagte: ›Erst laß uns einmal trinken, und dann sollst du erfahren, unter welchen fürchterlichen Bedingungen ich dir verzeihen will. Agathe ist also recht wollüstig, ein rechter Leckerbissen?‹

›Ach, Freund, warum weißt du das nicht ebensogut aus Erfahrung wie ich!‹

›Doch warte, erst soll man uns eine Flasche Champagner bringen, und dann sollst du mir das Gemälde einer der Nächte entwerfen, die du bei ihr zugebracht hast. Lieber Verräter, du wirst nicht eher losgesprochen, als bis du es haarklein erzählt hast. Frisch, mache den Anfang! Hast du mich nicht verstanden?‹

›Ich verstehe dich recht gut.‹

›Scheint dir mein Ausspruch zu hart?‹

›Nein.‹

›Du denkst nach.‹

›Ich denke nach.‹

›Was hab ich von dir verlangt?‹

›Die Schilderung einer der seligen Nächte, die ich bei Agathe zugebracht habe.‹

›Eben das.‹

Unterdessen maß mich der Ritter von Kopf bis zu den Füßen und sagte wie zu sich selbst: ›Er hat denselben Wuchs! Er ist fast von gleichem Alter! Und sollte auch einige Verschiedenheit obwalten, so brennt ja kein Licht, und in der vorgefaßten Meinung, daß ich es sei, wird sie nichts argwöhnen.‹

›Aber, Ritter, du sprichst vor dich hin. Dein Glas steht noch eingeschenkt, und du machst keinen Anfang mit deiner Erzählung.‹

›Ich denke, Freund ... kurz, es ist alles richtig. Umarme mich! Wir werden gerächt werden; ja, wir werden gerächt werden! Zwar ist es von meiner Seite eine Verräterei; doch wäre sie [270] auch meiner unwürdig, so ist sie doch der kleinen Spitzbübin desto angemessener und würdiger. Du verlangst von mir die Schilderung einer Nacht der Liebe?‹

›Ja; ist das zuviel verlangt?‹

›Nein; aber wenn ich statt der Schilderung dir selbst zu einer solchen Nacht verhelfen würde?‹

›Das wäre freilich besser!‹ (Jakob fing an zu pfeifen.)

Sogleich zog der Ritter zwei Schlüssel, einen kleinen und einen großen, aus seiner Tasche. ›Der kleine‹, sagte er zu mir, ›ist der Hauptschlüssel zur Haustür; der große gehört zu Agathens Vorzimmer. Hier sind sie; sie stehen beide ganz zu deinen Diensten. Ich will dir sagen, wie ich es täglich seit sechs Monaten zu halten pflegte und wie du es auch machen mußt. Ihre Fenster gehen, wie du weißt, nach vorn heraus; ich spaziere so lange in der Gasse auf und ab, als ich Licht im Zimmer sehe. Ein Topf mit Basilikum, der vor das Fenster gesetzt wird, ist das verabredete Signal. Dann nähere ich mich der Haustür, schließe sie auf, gehe hinein, schließe sie wieder zu und schleiche mich so leise wie möglich die Treppe hinauf. Nun betrete ich den kleinen Gang, der nach rechts führt. Die erste Tür links in diesem Korridor ist ihre, wie du weißt. Ich öffne diese Tür mit dem großen Schlüssel und trete in die kleine Garderobe, die rechts liegt. Hier finde ich eine kleine Nachtlampe, bei deren Schein ich mich ganz mit Muße ausziehen kann. Agathe läßt die Tür ihrer Kammer offen. Ich gehe hinein und finde sie in ihrem Bette. Hast du mich verstanden?‹

›Recht gut.‹

›Da um und neben uns Leute sind, so reden wir kein Wort.‹

›Ich glaube überhaupt, daß ihr andere Dinge zu tun haben werdet, als zu plaudern.‹

›Im Notfall könnte ich aus ihrem Bett springen und mich in einem kleinen Nebenkabinett einschließen; doch in die Lage bin ich noch nicht gekommen. Gegen vier Uhr morgens pflegen wir uns gewöhnlich zu trennen. Sollte die Fülle des Vergnügens oder das Bedürfnis nach Ruhe uns länger aufhalten, stehen wir zusammen auf. Sie geht hinunter; ich bleibe in [271] dem kleinen Kabinett, kleide mich an, lese, ruhe aus und warte, bis es Zeit ist, mich im Hause sehen zu lassen. Dann gehe ich ebenfalls hinunter, begrüße die Leute und umarme sie, als ob ich den Augenblick erst ins Haus getreten wäre.‹

›Erwartet man dich diese Nacht?‹

›Alle Nächte werde ich erwartet.‹

›Und du willst mir deine Stelle abtreten?‹

›Von ganzem Herzen! Denn daß du die Nacht selbst der Beschreibung vorziehst, davor ist mir nicht bange. Nur eins wünschte ich ...‹

›Sag es frei heraus; es gibt wenig Dinge, die zu unternehmen ich mich nicht mutig genug fühlte, um dich zu verbinden.‹

›Ich wünschte, du verweiltest in ihren Armen, bis es Tag wird; ich wollte dann dazukommen und euch überraschen.‹

›O nein, Ritter, das wäre gar zu heimtückisch!‹

›Zu heimtückisch? Oh, ich bin das nicht so sehr, als du glaubst! Vorher wollte ich mich in dem kleinen Kabinett ausziehen.‹

›Lieber Ritter, du hast den Teufel im Leibe! Und dann geht es ja nicht an! Gibst du mir die Schlüssel, so kannst du ja nicht mehr hinein.‹

›Ach, Freund, bist du einfältig!‹

›Doch nicht allzusehr, scheint mir.‹

›Können wir denn nicht beide zusammen hineingehen? Du würdest dich zu Agathe begeben und ich solange im Kabinett bleiben, bis du mir das verabredete Zeichen gibst.‹

›Meiner Treu! Das ist so drollig, so lustig, daß ich fast meine Einwilligung dazu geben möchte. Aber, Ritter, alles wohl überlegt, möchte ich lieber dieses Possenspiel für eine von den folgenden Nächten aufheben.‹

›Ah, ich verstehe dich; deine Absicht ist, uns mehr als einmal zu rächen.‹

›Wenn du's zufrieden bist ...‹

›Vollkommen!‹

Jakob: Ihr Ritter wirft alle meine Vermutungen über den Haufen, ich bildete mir ein ...

Herr: Was bildetest du dir ein?

[272] Jakob: Nichts, Herr! Fahren Sie nur fort!

Herr: Wir tranken und hatten tausend lustige Einfälle, über die bevorstehende Nacht sowohl wie über die folgenden und besonders über die Nacht, da Agathe sich zwischen dem Ritter und mir befinden würde. Der Ritter war äußerst liebenswürdig und aufgeräumt geworden, und der Text unserer Unterredung war nichts weniger als traurig. Er gab mir allerlei Vorschriften, wie ich mich in dieser Nacht zu betragen hätte, die indes nicht alle gleich leicht zu befolgen waren. Aber nach einer langen Reihe anderwärts wohl angewendeter Nächte konnte ich bei meinem Debüt die Ehre des Ritters unschwer zu behaupten hoffen, so viele Wunderdinge er auch von seiner Bravour prahlte. Und wir vertieften uns derart in alle Einzelheiten von Agathens Talenten, Vorzügen und Vollkommenheiten, daß wir kein Ende finden konnten. Der Ritter wußte mit unglaublicher Kunst den Taumel der Leidenschaft mit dem Taumel des Weinrausches zu verbinden. Der Augenblick des zu bestehenden Abenteuers oder unserer Rache schien sich uns viel zu langsam zu nähern. Unterdessen standen wir vom Tische auf. Der Ritter bezahlte die Zeche zum ersten Mal in seinem Leben. Wir bestiegen unseren Wagen; wir waren betrunken; unser Kutscher und unsere Bedienten waren es aber noch mehr als wir.


Leser! Was hält mich ab, hier Kutscher und Pferde und Wagen und Herren und Bediente in ein Morastloch zu werfen? Oder, wenn das Loch dir bange macht, was hält mich ab, sie richtig und wohlbehalten nach der Stadt zu bringen, wo ich ihren Wagen an einen anderen Wagen anfahren ließe, den ich ebenfalls mit bekneipten jungen Leuten besetzte? Es würde dann von Schimpfworten zum Handgemenge kommen, die Degen würden aus der Scheide fliegen, kurz, eine Schlägerei in aller Form würde entstehen. Oder was hält mich ab, wenn du sowenig ein Freund von Schlägereien wie vom Umwerfen bist, statt dieser jungen berauschten Herren Mamsell Agathe mit einer von ihren Tanten in der Kutsche sitzen zu lassen?[273] Von dem allen ereignete sich indes nichts. Der Ritter und Jakobs Herr kamen glücklich nach Paris; letzterer zog des Ritters Kleider an. Es war Mitternacht, und sie standen unter Agathens Fenster. Das Licht ward ausgelöscht und der Topf mit dem Basilikum herausgesetzt. Sie gingen noch einmal die Gasse auf und ab, und der Ritter wiederholte seinem Freunde seine Lektion noch einmal. Endlich näherten sie sich der Tür; der Ritter schloß auf, ließ Jakobs Herrn hinein, behielt den Haustürschlüssel, gab ihm den Schlüssel zum Korridor, schloß die Haustür wieder zu und entfernte sich. Nach diesem kleinen, ziemlich lakonisch vorgetragenen Detail nahm Jakobs Herr wieder das Wort und erzählte weiter.

»Das Lokal war mir bekannt. Ich schleiche auf den Fußspitzen hinauf, öffne die Tür zum Korridor, schließe sie wieder zu und gehe in das Kabinett, wo ich die kleine Nachtlampe finde. Ich ziehe mich aus. Die Tür des Zimmers stand offen: ich gehe hinein und auf den Alkoven zu, wo Agathe liegt und nicht schläft. Ich mache die Vorhänge auf, und sogleich fühle ich, daß zwei nackte Arme sich um mich schlingen und mich an sich ziehen. Ich lasse alles mit mir machen, lege mich nieder und erwidere die Liebkosungen, womit man mich überhäuft. Jetzt hielt ich mich für den glücklichsten Sterblichen, den es auf der Welt gäbe, und war noch in diesem Wahn, als ...«

... als Jakobs Herr gewahr wurde, daß Jakob schlief oder sich wenigstens so stellte. »Du schläfst,« fuhr er ihn an, »du schläfst, Einfaltspinsel, bei der interessantesten Stelle meiner Geschichte?« Und eben da erwartete Jakob seinen Herrn.

»Willst du wohl munter werden?«

»Ich glaube es nicht.«

»Und warum nicht?«

»Weil, wenn ich aufwachte, auch mein böser Hals mit aufwachen könnte und ich also der Meinung bin, daß es besser ist, wir ruhen beide.« Mit diesen Worten ließ Jakob seinen Kopf vorwärtsfallen.

»Du wirst den Hals brechen.«

[274] »Das werde ich, wenn es dort oben so geschrieben steht. Befinden Sie sich nicht in Mamsell Agathens Armen?«

»Ja.«

»Befinden Sie sich dort nicht recht wohl?«

»Sehr wohl.«

»So bleiben Sie da.«

»Ich soll in Agathens Armen bleiben? Nicht wahr, das wäre dir recht?«

»Wenigstens bis ich die Geschichte von Desglands' Pflaster weiß.«

Herr: Du rächst dich, du tückischer Mensch!

Jakob: Und wenn auch! Herr! Haben Sie nicht die Erzählung meiner Liebesgeschichte durch tausend Fragen, durch tausend wunderliche Einfälle, ohne das geringste Murren von meiner Seite, unterbrochen? Sollte es mir also nicht erlaubt sein, Sie zu bitten, auch Ihre Erzählung zu unterbrechen und mir zu sagen, was für eine Bewandtnis es mit dem Pflaster des wackeren Desglands hatte, dem ich so vielen Dank schuldig bin, der mich aus den Händen des Wundarztes befreite, als es mir an Geld fehlte und ich nicht wußte, was ich anfangen sollte, und bei dem ich die Bekanntschaft mit Denise machte, ohne die ich Ihnen nicht ein Wort von dieser ganzen Reise gesagt hätte? Mein Herr, mein lieber Herr, ich bitte Sie um die Geschichte von Desglands' Pflaster! Fassen Sie sich so kurz, wie es Ihnen beliebt! Unterdessen wird die Schläfrigkeit vergehen, die mich befallen hat und über die ich nicht Herr werden kann. Dann dürfen Sie auf meine ganze Aufmerksamkeit rechnen.

Herr (zuckt die Achseln und sagt): In Desglands' Nachbarschaft lebte eine liebenswürdige Witwe, die manches in ihrem Charakter mit einer berühmten Kurtisane des vergangenen Jahrhunderts gemein hatte. Sie war aus Vernunft tugendhaft und aus Temperament ausschweifend, und wenn sie den Tag vorher eine Torheit begangen hatte, so bereute sie es den Tag darauf bitterlich. So brachte sie ihr ganzes Leben in einem beständigen Wechsel zwischen Vergnügen und Reue und zwischen Reue und Vergnügen hin, ohne daß die Gewohnheit des [275] Vergnügens die Reue oder die Gewohnheit der Reue den Geschmack am Vergnügen erstickt hätte. Ich habe sie in den letzten Augenblicken ihres Lebens gekannt; sie sagte, endlich stände sie im Begriff, zwei großen Widersachern zu entrinnen. Ihr zweiter Mann, der voll Nachsicht gegen den einzigen Fehler war, den er ihr vorzuwerfen hatte, beklagte sie, solange sie lebte, und vermißte sie noch lange nach ihrem Tode. Er behauptete, es wäre von seiner Seite ebenso lächerlich gewesen, wenn er seine Frau hätte hindern wollen, der Liebe zu pflegen, als wenn er sie hätte abhalten wollen zu trinken. Er verzieh ihr die Menge ihrer Liebschaften in Rücksicht auf die feine Wahl, mit der sie dabei zu Werke ging. Nie nahm sie die Huldigung eines Dummkopfes oder eines Bösewichts an. Ihre Gunstbezeigungen waren immer der Lohn des Talents oder der Rechtschaffenheit. Wenn man von einem Menschen sagte, er wäre ihr Liebhaber oder er wäre es gewesen, so war das ebensoviel, als ob man gesagt hätte, er sei ein Mann von Verdiensten. Da sie ihre Flatterhaftigkeit kannte, so gelobte sie nie Beständigkeit. ›Ich habe nur einen falschen Schwur in meinem Leben getan,‹ sagte sie, ›und das war der erste.‹ Man mochte ihr untreu werden oder sie selbst die Neigung verlieren, die man ihr eingeflößt hatte, so blieb man doch immer ihr Freund. Nie hatte es ein auffallenderes Beispiel von dem Unterschied zwischen der Anständigkeit des Charakters und der Sittlichkeit des Lebenswandels gegeben. Man konnte nicht von ihr sagen, daß sie eine Frau von unbescholtenen Sitten sei; aber man mußte bekennen, daß es schwerhalten würde, ein ehrenhafteres Wesen zu finden als sie. Ihr Pfarrer sah sie selten in der Kirche; aber er fand jederzeit ihre Börse zu milden Gaben für die Armen offen. Sie pflegte scherzhaft von der Religion und den Gesetzen zu sagen, es wären ein paar Krücken, die man den Leuten nicht wegnehmen dürfe, welche schwach auf den Füßen wären. Die Damen fürchteten ihren Umgang mit ihren Männern ebensosehr, wie sie ihren Umgang mit ihren Kindern wünschten.

Jakob (nachdem er zwischen seinen Zähnen gemurmelt hatte: [276] Dieses verwünschte Porträt sollst du mir bezahlen!, setzte hinzu): Sie sind in diese Frau vernarrt gewesen?

Herr: Ich wäre es sicher geworden, wenn Desglands mir nicht zuvorgekommen wäre. Desglands verliebte sich in sie.

Jakob: Sind die Geschichte seines Pflasters und die Geschichte seiner Liebe so miteinander verwoben, daß sich beide nicht voneinander trennen lassen?

Herr: Sie lassen sich trennen. Das Pflaster war eine bloße Episode; aber die Geschichte ist eine treue Schilderung von allem, was sich während ihrer Liebe zugetragen hat.

Jakob: Und hat sich vielerlei zugetragen?

Herr: Vielerlei.

Jakob: So erlauben Sie mir, Ihnen vorzustellen, daß, wenn Sie bei jedem Umstand so weitschweifig sein wollen wie bei dem Porträt Ihrer Heldin, wir vor Pfingsten nicht von hier wegkommen werden und daß es um die Erzählung Ihrer und meiner Liebesgeschichte getan sein wird.

Herr: Deine eigene Schuld! Warum hast du mich zu diesem Seitensprung verleitet? Hast du nicht ein kleines Kind bei Desglands gesehen?

Jakob: Das boshaft, starrköpfig, unverschämt und kränklich war? Ja, ich habe es gesehen.

Herr: Es war ein natürlicher Sohn von Desglands und der schönen Witwe.

Jakob: Das Kind wird ihm großen Verdruß machen. Es ist ein einziges Kind; Grund genug, um ein Taugenichts zu werden. Es weiß, daß es einmal reich sein wird; wieder ein hinreichender Grund zu einem künftigen Taugenichts.

Herr: Und da es kränklich ist, so lehrt man es nichts, man zwingt es zu nichts, man widerspricht ihm in nichts; ein dritter hinreichender Grund, daß ein Taugenichts aus ihm werden muß.

Jakob: Eines Nachts erhob der kleine Bösewicht ein unmenschliches Geschrei. Das ganze Haus kam in Alarm, man eilte herbei. Er verlangte, daß sein Papa aufstehen sollte.

›Der Papa schläft.‹

[277] ›Das tut nichts. Er soll aufstehen! Ich will es haben, ich will es haben!‹

›Er ist krank.‹

›Das tut nichts. Er soll aufstehen! Ich will es, ich will es!‹

Man weckte Desglands, der nun seinen Schlafrock umwarf und zu ihm ging.

›Nun, lieber Kleiner, da bin ich! Was willst du?‹

›Ich will, daß sie hierherkommen sollen!‹

›Wer?‹

›Alle, die im Schloß sind!‹

Sie wurden alle zusammengerufen, Herren, Diener, Fremde, Tischgenossen, Jeanne, Denise und ich mit meinem kranken Knie, alle, ausgenommen eine alte unvermögende Beschließerin, der man aus Mitleid eine Wohnung in einem Häuschen fast eine Viertelstunde vom Schlosse eingeräumt hatte. Auch diese sollte geholt werden.

›Aber, liebes Kind, es ist Mitternacht.‹

›Ich will es haben, ich will es haben!‹

›Du weißt, sie wohnt sehr weit von hier, ist alt und kann nicht gehen.‹

›Ich will es haben, ich will es haben!‹

Kurz, die alte Beschließerin mußte geholt werden. Man brachte sie getragen; denn anders hätte sie den Weg nicht zurücklegen können. Als wir alle beisammen waren, verlangte er aufzustehen und angekleidet zu werden. Er ward aus dem Bett genommen und an gekleidet. Nun verlangte er, daß wir alle in den großen Saal gehen und ihn mitten unter uns auf den Großvaterstuhl seines Papas setzen sollten. Es geschah. Er verlangte, daß wir uns alle bei der Hand fassen sollten. Es geschah. Er verlangte, daß wir alle im Kreis um ihn her tanzen sollten. Und wir fingen alle an, im Kreis um ihn her zu tanzen. Aber was nun kommt, ist vollends unglaublich.

Herr: Ich hoffe, daß du mir das erlassen wirst.

Jakob: Nein, nein, Herr, Sie müssen es anhören! Glauben Sie, daß Sie mir ungestraft ein vier Ellen langes Porträt von der Mutter gemacht haben sollen?

[278] Herr: Jakob, ich verziehe dich!

Jakob: Desto schlimmer für Sie!

Herr: Das langweilige und lange Porträt der Witwe ärgert dich; aber ich sollte meinen, du hättest mir die Langeweile durch die lange und öde Geschichte der kindischen Einfälle des Sohnes zur Genüge vergolten.

Jakob: Wenn Sie das meinen, so fahren Sie in der Geschichte des Vaters fort; aber bitte keine Porträts: sie sind mir in den Tod verhaßt.

Herr: Und warum sind dir die Porträts so verhaßt?

Jakob: Weil sie so unähnlich sind, daß, wenn man zufällig die Originale antrifft, man sie nie zu erkennen imstande ist. Erzählen Sie mir die Tatsachen und Worte getreu, und ich will bald wissen, mit welchem Mann ichs zu tun habe. Ein Wort, eine Gebärde haben mich manchmal klüger gemacht als das Geschwätz der ganzen Stadt.

Herr: Eines Tages lud Desglands ...

Jakob: Wenn Sie nicht zu Hause sind, gehe ich zuweilen in Ihre Bibliothek. Ich nehme mir ein Buch, und gewöhnlich ein historisches.

Herr: Eines Tages lud Desglands ...

Jakob: Ich überschlage alle Porträts.

Herr: Eines Tages lud Desglands ...

Jakob: Verzeihung, lieber Herr, aber die Maschine war einmal aufgezogen, und so mußte sie ablaufen.

Herr: Ist sie abgelaufen?

Jakob: Ja.

Herr: Eines Tages lud Desglands die schöne Witwe mit einigen Herren von Adel aus der Nachbarschaft zu sich zu Tische. Desglands' Regiment neigte sich seinem Ende zu. Unter den Gästen befand sich einer, zu dem ihre Flatterhaftigkeit anfing, sich hingezogen zu fühlen. Desglands und sein Rivale saßen bei Tische nebeneinander und der schönen Witwe gegenüber. Desglands bot seinen ganzen Witz auf, um das Gespräch zu beleben, und sagte der Witwe die galantesten Sachen von der Welt; aber sie blieb zerstreut, hörte auf nichts und wandte [279] kein Auge von seinem Rivalen. Desglands hielt ein frisches Ei in der Hand. Eine krampfhafte, durch die Eifersucht erregte Bewegung befiel ihn, er ballte seine Fäuste; das Ei flog aus seiner Schale und spritzte seinem Nachbar ins Gesicht. Dieser machte mit der Hand eine Bewegung. Desglands ergriff sein Handgelenk, hielt es fest und flüsterte ihm ins Ohr: ›Mein Herr, ich nehme sie für empfangen an.‹ Eine tiefe Stille lagerte sich über die ganze Tafel. Der schönen Witwe ward unwohl; die Mahlzeit war traurig und kurz; nach Tische ließ sie Desglands und seinen Rivalen in ein Nebenzimmer rufen. Alles, was eine Dame mit Anstand nur tun kann, um sie zu versöhnen, das tat sie. Sie bat, sie weinte, sie ward ohnmächtig; und zwar im Ernst ohnmächtig; sie drückte Desglands die Hand, heftete ihre in Tränen schwimmenden Augen auf seinen Rivalen, sagte zu dem einen: ›Und Sie lieben mich?‹, zu dem andern: ›Und Sie haben mich geliebt?‹, zu beiden: ›Und Sie wollen mich ins Unglück stürzen, mich zum Märchen, zur Zielscheibe des Hasses und der Verachtung der ganzen Provinz machen? Wer von euch beiden seinem Gegner das Leben raubt, der soll mir nie wieder vor Augen kommen, er kann weder mein Freund noch mein Liebhaber sein; ich gelobe ihm einen Haß, der nur mit meinem Leben enden kann!‹ Sie fiel hierauf von neuem in Ohnmacht, und indem ihre Sinne schwanden, sprach sie noch die Worte: ›Barbaren, zieht eure Degen und stoßt sie mir in die Brust! Seh ich nur sterbend euch versöhnt, so sterbe ich gern!‹ – Desglands und sein Rivale blieben unbeweglich oder halfen ihr, und einige Tränen entfielen ihren Augen. Unterdessen mußte man sich trennen, und man brachte die schöne Witwe mehr tot als lebendig in ihre Wohnung.

Jakob: Aber, lieber Herr, wozu brauchte ich das Porträt dieser Dame, das Sie mir vorher entwarfen? Würde ich nicht jetzt ebensogut alles wissen, was Sie mir von ihr gesagt haben?

Herr: Den andern Morgen stattete Desglands seiner reizenden Ungetreuen einen Besuch ab. Er traf seinen Rivalen bei ihr an. Dieser und die schöne Witwe waren nicht wenig verwundert, [280] Desglands' rechte Backe mit einem großen, runden Stück schwarzen Taffet beklebt zu sehen.

›Was ist das?‹ fragte die Witwe.

Desglands: Es ist nichts.

Sein Rivale: Vielleicht eine kleine Schwellung?

Desglands: Es wird schon vergehen.

Nach einem kurzen Gespräch nahm Desglands wieder Abschied, und im Weggehen gab er seinem Rivalen einen Wink, der sehr gut verstanden wurde. Dieser folgte ihm. Der eine ging auf dieser, der andere auf jener Seite der Straße fort. Sie trafen hinter dem Garten der schönen Witwe aufeinander, schlugen sich, und Desglands' Nebenbuhler blieb schwer, aber nicht tödlich verwundet auf dem Platze. Während man ihn nach seinem Hause schaffte, ging Desglands wieder zu der schönen Witwe und setzte sich zu ihr. Sie unterhielten sich wieder über den gestrigen Vorfall; sie fragte ihn von neuem, was das ungeheure und lächerliche Schönheitspflästerchen bedeute, welches ihm die Backe bedecke? Er stand auf und besah sich im Spiegel. ›Wirklich,‹ sagte er, ›ich finde, daß es ein wenig zu groß ist!‹ Er nahm eine Schere der Dame, tat sein Taffetpflaster ab, beschnitt es ringsherum ein oder zwei Zentimeter breit, legte es wieder auf und sagte zu der Witwe: ›Wie finden Sie mich nun?‹

›Um ein oder zwei Zentimeter weniger lächerlich als zuvor.‹

›Ja, nun, es ist doch immerhin etwas.‹

Desglands' Nebenbuhler wurde geheilt, und es fand ein zweites Duell statt, wobei der Sieg wieder auf Desglands' Seite war. Dasselbe trug sich noch fünf-oder sechsmal hintereinander zu, und nach jedem solchen glücklich überstandenen Zweikampfe schnitt Desglands ein kleines Rändchen von seinem Pflaster ab und klebte den Rest wieder auf seine Backe.

Jakob: Was nahm diese Sache für ein Ende? Wenn ich mich recht erinnere, trug Desglands sein Schönheitspflästerchen nicht mehr, als man mich auf sein Schloß brachte.

Herr: Das Ende dieses Abenteuers war der Tod der schönen Witwe. Der anhaltende Gram, den sie darüber empfand, richtete [281] ihre schwache und schwankende Gesundheit vollends zugrunde.

Jakob: Und Desglands?

Herr: Eines Tages, als wir zusammen spazierengingen, erhielt er ein Billett. Er machte es auf, las es und sagte: ›Er war ein sehr wackerer Mann, aber ich kann über seinen Tod nicht traurig sein‹, und zugleich riß er von seiner Backe den Rest des schwarzen Pflasters ab, das durch das häufige Beschneiden fast zu der Größe eines gewöhnlichen Schönheitspflästerchens zusammengeschrumpft war. Dies ist die Geschichte von Desglands' Pflaster. Ist Jakob nun befriedigt, und darf ich hoffen, daß er die Geschichte meiner Liebschaft anhören oder in der seinen fortfahren wird?

Jakob: Keines von beiden.

Herr: Und warum?

Jakob: Weil es zu heiß ist, weil ich müde bin, weil dieses Plätzchen allerliebst ist, weil wir unter diesen Bäumen im Schatten sein und uns ausruhen werden, während wir uns am Rande dieses Baches abkühlen.

Herr: Ich bin es zufrieden. Aber dein Husten?

Jakob: Er ist durch Hitze entstanden, und die Ärzte behaupten ja, daß Entgegengesetztes durch Entgegengesetztes geheilt wird.

Herr: Eine sowohl moralische als physische Wahrheit! – Ich habe eine sehr merkwürdige Beobachtung gemacht, nämlich daß es wenige moralische Maximen gibt, aus welchen man nicht einen medizinischen Lehrsatz gemacht hätte, und umgekehrt wenige medizinische Lehrsätze, aus denen man nicht eine moralische Maxime gemacht hätte.

Jakob: Das muß so sein.

Sie stiegen vom Pferd und streckten sich ins Gras. Jakob sagte zu seinem Herrn: »Wollen Sie wachen oder schlafen? Wachen Sie, so schlafe ich. Schlafen Sie, so wache ich.«

Sein Herr gab zur Antwort: »Schlaf nur, schlaf!«

»Ich kann mich also darauf verlassen, daß Sie wachen werden? Bedenken Sie wohl, daß wir diesmal zwei Pferde einbüßen könnten.«

[282] Der Herr zog seine Uhr und Dose heraus, und Jakob schickte sich zum Schlafen an; aber jeden Augenblick fuhr er heftig im Schlafe auf und schlug seine beiden Hände in der Luft gegeneinander. Sein Herr fragte ihn endlich: »Den Teufel auch! Mit wem hast du es vor?«

Jakob: Mit den Fliegen und Mücken. Ich möchte wohl wissen, wozu dieses lästige Geschmeiß nütze ist?

Herr: Und weil du's nicht weißt, glaubst du, daß sie zu nichts nütze sind? Die Natur hat nichts Unnützes oder Überflüssiges gemacht.

Jakob: Das glaube ich gern, denn weil eine Sache da ist, muß sie wohl dasein.

Herr: Wenn du zuviel oder zu böses Blut hast, was tust du? Du läßt einen Wundarzt kommen und dir etwas davon abzapfen. Nun gut! Diese Mücken, über die du dich beschwerst, sind ein Schwarm von kleinen geflügelten Wundärzten, die mit ihren kleinen Lanzetten dich stechen, dich zur Ader lassen und dir tropfenweise das Blut abzapfen.

Jakob: Ja, aber aufs Geratewohl, ohne zu wissen, ob ich zuviel oder zuwenig habe. Legen Sie einmal einen Schwindsüchtigen hierher, und Sie sollen sehen, daß die kleinen geflügelten Wundärzte auch ihn werden zur Ader lassen wollen. Sie denken nur an sich, und so denkt alles in der Natur an sich, nur an sich. Wen kümmert es, ob jemand anders Schaden leidet, wenn er selbst sich nur wohl dabei befindet!

Hierauf fing er von neuem an, mit beiden Händen in der Luft zu fechten und auszurufen: »Verwünscht seien die kleinen geflügelten Wundärzte!«

Herr: Jakob, kennst du die Fabel vom Garo?

Jakob: Ja.

Herr: Wie findest du sie?

Jakob: Schlecht.

Herr: Das ist bald gesagt.

Jakob: Und bald bewiesen. Wenn statt Eicheln die Eiche Kürbisse getragen hätte, würde wohl der dumme Garo sich unter die Eiche schlafen gelegt haben? Und wenn er nicht unter einer [283] Eiche eingeschlafen wäre, was ging es das Wohl oder Weh seiner Nase an, ob Kürbisse oder Eicheln herabfielen? Geben Sie das Ihren Kindern zu lesen!

Herr: Ein Philosoph, der deinen Namen trägt, will es nicht haben.

Jakob: Weil jeder seine Meinung hat und weil Hans Jakob nicht Jakob ist.

Herr: Desto schlimmer für Jakob.

Jakob: Wer kann das wissen, bevor er nicht bis an das letzte Wort der letzten Zeile auf der Seite gekommen ist, die er in dem großen Buche ausfüllt.

Herr: Worüber denkst du nach?

Jakob: Darüber, daß, indem Sie mit mir redeten und ich Ihnen antwortete, Sie mit mir redeten, ohne es zu wollen, und ich Ihnen antwortete, ohne es zu wollen.

Herr: Weiter!

Jakob: Weiter? Und daß wir zwei richtige Maschinen waren, welche leben und denken.

Herr: Aber was willst du jetzt?

Jakob: Meiner Treu, es ist immer noch ebenso! In den beiden Maschinen ist nur eine Feder mehr im Spiel.

Herr: Und diese Feder?

Jakob: Der Teufel soll mich holen, wenn ich begreife, daß sie ohne Ursache spielen kann! Mein Hauptmann pflegte zu sagen: ›Setze eine Ursache, und es wird eine Wirkung daraus erfolgen: aus einer schwachen Ursache eine schwache Wirkung, aus einer augenblicklichen Ursache eine augenblickliche Wirkung, aus einer intermittierenden Ursache eine intermittierende Wirkung, aus einer gehemmten Ursache eine verlangsamte Wirkung, aus einer aufhörenden Ursache eine aufgehobene Wirkung und so weiter.‹

Herr: Aber mich dünkt, ich fühle in mir selbst, daß ich frei bin, so wie ich fühle, daß ich denke.

Jakob: Mein Hauptmann sagte: ›Ja, jetzt, weil du nichts willst; aber stürze dich bitte einmal von deinem Pferde.‹

Herr: Gut, ich stürze mich hinab.

[284] Jakob: Mit leichtem Herzen, ohne Widerstreben, ohne Überwindung, so, als ob Sie vor der Tür eines Gasthauses abstiegen?

Herr: Nicht völlig so; aber was liegt daran, wenn ich mich nur hinabstürze und so beweise, daß ich frei bin.

Jakob: Mein Hauptmann sagte ferner: ›Wie? Du bemerkst nicht, daß ohne meinen Widerspruch es dir nie in den Sinn gekommen sein würde, dir den Hals zu brechen? Also bin ich es, der dich bei den Beinen faßt und aus dem Sattel wirft. Wenn also dein Fall etwas beweist, so beweist er nicht, daß du frei, sondern daß du nicht recht gescheit bist.‹ Mein Hauptmann setzte noch hinzu: ›Der Genuß einer Freiheit, welche sich ohne Beweggrund ausüben ließe, würde das wahre Kennzeichen eines Wahnsinnigen sein.‹

Herr: Das ist für mich zu hoch. Aber deinem Hauptmann und dir zum Trotz glaube ich doch, daß ich will, wenn ich will.

Jakob: Aber wenn Sie es jetzt oder wenn Sie es immer in Ihrer Gewalt haben, zu wollen – warum lieben Sie nicht jetzt eine gemeine Dirne, oder warum haben Sie nicht aufgehört, Agathe zu lieben, als Sie aufhören wollten? Lieber Herr! Man bringt drei Viertel seines Lebens damit hin, etwas zu wollen und es nicht zu tun.

Herr: Das ist wahr.

Jakob: Und etwas zu tun, ohne es zu wollen.

Herr: Willst du mir das beweisen?

Jakob: Wenn Sie es zufrieden sind ...

Herr: Ich bin es zufrieden.

Jakob: Das soll geschehen; jetzt aber wollen wir von etwas andrem reden.

Nach diesem Geplauder und einigen anderen Gesprächen von gleichem Gewicht schwiegen beide. Und Jakob schlug seinen ungeheuren Hut in die Höhe, der bei schlechtem Wetter als Regendach, bei heißem aber als Sonnenschirm und überhaupt zum Schutz des Hauptes diente, das dämmrige Heiligtum, unter welchem eins von den besten Gehirnen, die je existiert haben, das Schicksal bei großen Verlegenheiten um Rat fragte. [285] Waren die Krempen dieses Hutes aufgeschlagen, so wiesen sie seinem Gesicht ungefähr die Mitte des Leibes zum Platze an; waren sie aber niedergeschlagen, so konnte Jakob kaum zehn Schritte vor sich etwas erkennen. Daher war es ihm zur Gewohnheit geworden, beständig die Nase himmelwärts zu tragen, und dann konnte man mit Recht von seinem Hute sagen:


Os illi sublime dedit, coelumque tueri
Jussit, et erectos ad sidera tollere vultus.

Jakob schlug also seinen ungeheuren Hut in die Höhe, ließ seine Blicke in die Ferne schweifen und sah einen Ackersmann, der vergeblich auf ein Pferd losprügelte, das mit noch einem anderen Gaul an seinen Pflug gespannt war. Dies junge und kraftvolle Pferd hatte sich in der Furche niedergelegt, und der Ackersmann mochte es noch so sehr am Zügel zerren, ihm noch so viele gute Worte geben, ihm schöntun, drohen, fluchen oder es schlagen – das Pferd blieb unbeweglich liegen und weigerte sich halsstarrig, aufzustehen.

Als Jakob einige Zeit dieser Szene zugesehen hatte, sagte er zu seinem Herrn, der ebenfalls aufmerksam darauf achtgab: »Wissen Sie, Herr, was da vorgeht?«

Herr: Was anders, als was ich sehe?

Jakob: Sie erraten nichts?

Herr: Nein. Aber du? Was errätst du?

Jakob: Ich errate, daß dieses dumme, stolze, träge Pferd ein Städter ist, der, stolz auf seinen vorigen Reitpferdstand, den Pflug verachtet. Kurz, um Ihnen alles in einem Wort zu sagen: Es ist Ihr Pferd, das Bild Ihres Jakob, den Sie hier vor sich sehen, und das Bild so vieler anderer feiger Tröpfe wie er, die das Land verlassen haben, um in der Stadt Livree zu tragen, und die sich ihr Brot lieber auf den Gassen erbetteln oder vor Hunger umkommen, als wieder zum Ackerbau, dem nützlichsten und ehrenvollsten aller Gewerbe, zurückzukehren.

Der Herr fing an zu lachen, und Jakob wandte sich zu dem Ackersmann, der ihn nicht verstand: »Armer Teufel!« rief er. »Prügle nur! Prügle, solange du willst; der Gaul bleibt doch, [286] was er ist, und du wirst mehr als eine Schmitze an deiner Peitsche abnutzen, ehe du diesem Halunken ein wenig Gefühl von wirklicher Würde und Geschmack an Arbeit einflößest!«

Der Herr fuhr fort zu lachen. Jakob sprang halb aus Ungeduld, halb aus Mitleid auf und näherte sich dem Ackersmann, und er hatte noch nicht zweihundert Schritte gemacht, als er sich nach seinem Herrn umwandte und schrie: »Herr, kommen Sie geschwind! Es ist Ihr Pferd, Ihr Pferd!«

Das war es auch wirklich. Kaum hatte das Tier Jakob und seinen Herrn erkannt, als es von selbst auf stand, die Mähne schüttelte, zu wiehern anfing, sich bäumte und zärtlich mit seinem Maul das Maul seines Kameraden beschnupperte. Jakob brummte unterdessen voller Unwillen zwischen den Zähnen: »Taugenichts! Faulenzer! Was hält mich ab, dir zwanzig Fußtritte zu geben!«

Sein Herr hingegen küßte es, strich ihm mit der einen Hand über den Rücken, klopfte es mit der andern sanft in die Seite, weinte fast vor Freude und rief aus: »Mein gutes Pferd! Mein armes Pferd! Finde ich dich wieder?«

Der Ackersmann wußte nicht, was er von dem allen denken sollte. »Ich sehe wohl, meine Herren,« sagte er endlich, »daß dieses Pferd Ihnen gehört hat; aber deswegen besitze ich es nicht minder rechtmäßig: ich habe es auf dem letzten Viehmarkt gekauft. Wollen Sie es mir für zwei Drittel von dem, was es mich gekostet hat, wieder abnehmen, so werden Sie mir einen großen Dienst erweisen, denn ich kann gar nichts damit anfangen. Will ich es aus dem Stalle bringen, so ist der Teufel los, will ich es anspannen, so ist es noch ärger, und kommt es auf den Acker, so legt es sich hin und ließe sich lieber totschlagen, als daß es einen einzigen Zug täte oder einen Sack auf seinem Rücken litte. Meine Herren. Hätten Sie wohl die große Güte, mich von diesem verwünschten Tier zu befreien? Es ist schön, aber zu nichts auf der Welt gut, als unter einem Reiter zu stolzieren, und das ist nicht meine Sache.«

Man schlug dem Landmann einen Tausch gegen eins der beiden andern Pferde vor. Er war es zufrieden, und unsere beiden [287] Reisenden kehrten langsam nach ihrem Ruheplätzchen zurück und sahen mit Vergnügen, daß das Pferd, welches sie dem Ackersmann abgetreten hatten, sich willig in seinen neuen Stand schickte.

Jakob: Nun, Herr?

Herr: Nun? Höre, soviel ist ausgemacht, du mußt inspiriert sein, ob aber von Gott oder dem Teufel, das weiß ich nicht. Doch, Jakob, lieber Jakob, ich fürchte, du hast den Teufel im Leibe!

Jakob: Und warum eben den Teufel?

Herr: Weil du Wunder tust und deine Grundsätze höchst verdächtig sind.

Jakob: Und was können die Grundsätze, zu denen man sich bekennt, und die Wunder, die man tut, miteinander gemein haben?

Herr: Ich sehe wohl, du hast den Dom La Taste nicht gelesen.

Jakob: Und was sagt dieser Dom La Taste, den ich nicht gelesen habe?

Herr: Er sagt, daß beide, Gott und der Teufel, Wunder tun.

Jakob: Und wie unterscheidet er die Wunder Gottes von den Wundern des Teufels?

Herr: Durch die Lehr- und Grundsätze. Sind diese gut, so sind die Wunder von Gott; sind diese böse, so sind die Wunder vom Teufel.

Hier fing Jakob an zu pfeifen, und dann setzte er hinzu: »Und wer belehrt mich armen unwissenden Wicht, ob die Lehrsätze des Wundertäters gut oder böse sind? Kommen Sie, Herr! Wir wollen uns wieder zu Pferde setzen. Was kann es Sie kümmern, ob Gott oder Beelzebub Ihnen wieder zu Ihrem Pferde verholfen hat! Wird es darum schlechter gehen?«

Herr: Nein; indes, Jakob ... wie, wenn du besessen wärest?

Jakob: Was für ein Heilmittel gäbe es dagegen?

Herr: Es bliebe nichts übrig, als daß du bis zum Exorzismus nichts als Weihwasser tränkest.

Jakob: Ich, Herr, nichts als Wasser? Jakob nichts als Weihwasser? [288] Lieber sollen tausend Legionen Teufel in mir hausen, als daß mir auch nur ein Tropfen geweihtes oder ungeweihtes Wasser über die Lippen kommt. Haben Sie das noch nicht bemerkt, daß ich ein Hydrophobos bin?

›Ach, ein Hydrophobos! Der Bediente Jakob soll gesagt haben, ein Hydrophobos!‹

Nein, Leser, nein! Ich gestehe, das Wort ist nicht von ihm; aber mit dieser strengen Kritik kannst du nicht eine einzige Szene von einem Trauerspiel oder Lustspiel oder einen einzigen Dialog lesen, so gut er auch sein mag, ohne die Worte des Autors in dem Munde seiner Personen zu ertappen. Eigentlich sagte Jakob: »Herr, haben Sie noch nicht bemerkt, daß beim Anblick des Wassers die Wut mich packt?« – Als ich mich anders ausdrückte, war ich weniger genau, aber weit kürzer.

Sie schwangen sich wieder in den Sattel, und Jakob sagte zu seinem Herrn: »Sie waren in ihrer Liebesgeschichte bis zu dem Augenblick gekommen, da Sie nach einem zweimaligen Genuß des höchsten Glücks sich vielleicht zu einem dritten anschickten ...«

Herr: ... als plötzlich die Gangtür aufging und das Zimmer sich mit einer Menge Menschen füllte, die mit großem Geräusch hereinkamen. Ich sah Licht; ich vernahm Männer- und Weiberstimmen, die alle zu gleicher Zeit sprachen; die Vorhänge am Bett wurden ungestüm aufgerissen, und ich erblickte den Vater, die Mutter, die Tanten, die Vettern, die Basen und einen Polizeibeamten, der ernsthaft zu ihnen sagte: ›Meine Herren, meine Damen, fassen Sie sich! Die Tat liegt klar am Tage. Der Herr ist ein wackerer Herr; er wird sich erinnern, daß es nur ein Mittel gibt, den Schaden wiedergutzumachen, und er wird es lieber in Güte tun, als durch die Gesetze dazu gezwungen sein wollen.‹ Bei jedem Wort wurde er von dem Vater und der Mutter, die mich mit Vorwürfen überhäuften, unter brochen, ebenso von den Tanten und Basen, die Agathe, welche sich in das Bettuch gehüllt hatte, mit den schonungslosesten Beiworten überhäuften. Ich war ganz [289] verblüfft und wußte nicht, was ich sagen sollte. Der Polizeikommissar fuhr in einem höhnischen Tone gegen mich fort: ›Mein Herr! Sie mögen sich hier zwar recht gut befinden; allein ich muß Sie doch bitten, aufzustehen und sich anzukleiden.‹ Ich tat es und zog meine Kleider an, welche an die Stelle von des Ritters Kleidern gelegt worden waren. Man schob einen Tisch vor, und der Kommissar fing an zu protokollieren. Unterdessen ließ die Mutter sich von vier Leuten an beiden Arme halten, um ihre Tochter nicht zu erwürgen. ›Fasse dich, Frau!‹ schrie der Vater. ›Fasse dich! Und wenn du deine Tochter auch erwürgtest, so würde der Fehltritt deswegen doch geschehen sein. Es wird schon alles in Ordnung kommen.‹ Die anderen Personen saßen ringsumher auf Stühlen in den verschiedenen Stellungen des Schmerzes, des Unwillens und des Zorns. Von Zeit zu Zeit schalt der Vater auf die Mutter und sagte: ›Das kommt heraus, wenn man auf seine Tochter und ihre Aufführung nicht aufpaßt.‹ Die Mutter antwortete: ›Wer hätte auch bei dem biedern und ehrlichen Gesichte dieses Herrn ihm so etwas Arges zutrauen sollen!‹ Alle übrigen beobachteten ein tiefes Stillschweigen. Das Protokoll war fertig; man las es vor, und da es weiter nichts als die Wahrheit enthielt, so unterschrieb ich es und begab mich hierauf mit dem Kommissar weg. Dieser bat mich sehr höflich, in einen Fiaker zu steigen, welcher vor der Türe hielt, und ließ mich hierauf mit einer ziemlich zahlreichen Begleitung geradenwegs nach dem For-l'Evêque bringen.

Jakob: Nach dem For-l'Evêque? Ins Gefängnis?

Herr: Ins Gefängnis. Und nun begann ein abscheulicher Prozeß. Es war von nichts Geringerem die Rede, als Mamsell Agathe zu heiraten; die Eltern wollten von gar keinem andern Vergleiche hören. Gleich den Morgen darauf besuchte mich der Ritter. Er wußte alles. Agathe war außer sich; ihre Verwandten waren wütend; sie hatten ihm die grausamsten Vorwürfe gemacht, daß er sie mit einem so treulosen Menschen wie mich bekannt gemacht habe; er sei die erste Ursache von dem Unglück und der Schande ihrer Tochter; kurz, [290] man müsse Mitleid mit den armen Leuten haben, wenn man sie sehe. Er habe hierauf gebeten, Agathe allein sprechen zu dürfen, und die Erlaubnis nicht ohne Schwierigkeiten erhalten; Agathe habe ihm die Augen auskratzen wollen und ihm die gehässigsten Namen beigelegt. Er sei aber darauf gefaßt gewesen, habe ihre Wut austoben lassen und hierauf versucht, ob er sie nicht bewegen könnte, der Vernunft Gehör zu geben. ›Aber das Mädchen‹, fuhr der Ritter fort, ›machte mir einen Einwurf, gegen den ich nichts vorzubringen wußte. »Mein Vater und meine Mutter«, sagte sie, »haben mich in den Armen Ihres Freundes überrascht; soll ich ihnen entdecken, daß ich mich in Ihren Armen glaubte, als ich in den seinen lag?« Er hätte ihr zur Antwort gegeben: »Können Sie im Ernst sich einbilden, daß mein Freund Sie heiraten werde?« – »Nein,« hätte sie erwidert; »aber Sie Verführer, Sie Niederträchtiger, sollten eigentlich dazu gezwungen werden!«‹

›Allein, Ritter‹ sagte ich, ›es kommt nur auf dich an, mich aus dem Handel zu ziehen.‹

›Und auf welche Art?‹

›Auf welche Art? Du brauchst ja nur die Sache zu erzählen, wie sie war.‹

›Ich habe Agathe damit gedroht; aber ich kann mich unmöglich dazu entschließen. Es ist höchst ungewiß, ob dieses Mittel uns etwas helfen könnte, hingegen sehr ausgemacht, daß es uns mit Schande überhäufen würde. Auch ist es deine eigene Schuld!‹

›Meine Schuld?‹

›Ja, deine Schuld. Hättest du in das Schelmenstück gewilligt, das ich dir vorschlug, so würde Agathe in den Armen zweier Mannspersonen überrascht worden sein und alles sich zu ihrem Spott und Schimpf gewendet haben; allein das ist nicht geschehen, und nun müssen wir nur darauf denken, wie wir uns aus diesem schlimmen Handel ziehen.‹

›Höre, Ritter! Kannst du mir einen kleinen Umstand erklären: wie meine Kleider an die Stelle der deinigen und wie diese zu dir ins Kabinett kamen? Ich mag mir noch so sehr den Kopf [291] darüber zerbrechen, es bleibt mir immer ein Rätsel, das ich nicht erraten kann; es hat mir Agathe ein wenig verdächtig gemacht. Mir ist eingefallen, sie könnte um die List gewußt haben, und es könnte zwischen ihr und ihren Eltern ich weiß nicht welches Einverständnis gewesen sein.‹

›Vielleicht hat man dich hinaufgehen sehen. Soviel ist gewiß: Du warst kaum ausgezogen, so schickte man mir meine Kleider wieder und ließ mir die deinigen abfordern.‹

›Es wird sich mit der Zeit aufklären.‹

Indem der Ritter und ich so beschäftigt waren, einander gegenseitig zu betrüben und zu trösten, einander die Schuld zu geben, Vorwürfe zu machen und wieder um Verzeihung zu bitten, trat der Kommissar herein. Der Ritter entfärbte sich und schlüpfte aus dem Zimmer. Der Kommissar, ein sehr rechtschaffener Mann, wie es deren in seinem Stande einige gibt, hatte zu Hause sein Protokoll überlesen und sich dabei erinnert, daß er vorzeiten mit einem jungen Menschen studiert hatte, der ebenso geheißen wie ich. Ihm fiel ein, ich könnte vielleicht ein Verwandter oder gar der Sohn seines alten akademischen Freundes sein; und wirklich verhielt es sich so. Seine erste Frage an mich war, wer der Mensch gewesen sei, der sich bei seinem Eintritt so plötzlich aus dem Staube gemacht hätte.

›Er hat sich nicht aus dem Staube gemacht‹ antwortete ich, ›er ist nur weggegangen. Es war mein vertrautester Freund, der Ritter von Saint-Ouin.‹

›Ihr Freund? Da haben Sie eine feine Art von Freund! Wissen Sie wohl, daß dieser Mensch mich geholt hat? Er kam in Begleitung des Vaters und eines andern Verwandten zu mir.‹

›Er?‹

›Ja, er.‹

›Sind Sie Ihrer Sache auch gewiß?‹

›Vollkommen! Aber wie nannten Sie ihn?‹

›Ritter von Saint-Ouin!‹

›Da haben wirs! Und wissen Sie denn, wer Ihr Freund, Ihr vertrauter Freund, der Ritter von Saint-Ouin ist? Ein Gauner, ein durch hundert schlechte Streiche gebrandmarkter Mensch. [292] Die Polizei läßt dergleichen Leute nur deswegen auf freiem Fuß, weil sie dann und wann sie zu brauchen und zu nutzen weiß. Sie sind Schurken, aber auch Spürhunde und Verräter von Schurken, und wahrscheinlich findet man sie nützlicher durch das Schlechte, dem sie zuvorkommen oder das sie aufdecken, als schädlich durch das Böse, das sie tun.‹

Ich erzählte nun dem Polizeikommissar den ganzen Verlauf meines traurigen Abenteuers. Es erschien ihm darum in keinem günstigeren Lichte; denn alles, was zu meiner Freisprechung beigetragen hätte, konnte vor dem Richterstuhl des Gesetzes weder angeführt noch erwiesen werden. Indessen übernahm er es doch, den Vater und die Mutter rufen zu lassen, der Tochter ins Gewissen zu reden, dem Richter die Sache in ihrem rechten Licht darzustellen und überhaupt nichts außer acht zu lassen, was zu meiner Rechtfertigung dienen konnte. Aber er bekannte offenherzig, daß, wenn die Leute gut beraten wären, die Obrigkeit wenig dabei ausrichten könnte.

›Wie, Herr Kommissar? Ich würde gezwungen werden, das Mädchen zu heiraten?‹

›Heiraten ... das wäre zu hart, das fürchte ich nicht; allein man wird auf Schadloshaltung dringen, die in solchen Fällen immer sehr beträchtlich ist.‹ – Doch, Jakob, es war mir, als ob du etwas sagen wolltest.

Jakob: Ja, ich wollte Ihnen sagen, daß Sie unglücklicher daran waren als ich, der bezahlen mußte, ohne bei dem Mädchen geschlafen zu haben. Übrigens glaube ich, den Ausgang Ihrer Geschichte schon mit einem Blick übersehen zu haben. Nicht wahr, Agathe war schwanger gewesen?

Herr: Du hast es erraten. Einige Zeit nach meiner Verhaftung meldete mir der Kommissar, daß sie zu ihm gekommen sei und sich bei ihm schwanger gemeldet habe.

Jakob: Und nun waren Sie Vater eines Kindes ...

Herr: ... dem ich wenigstens nichts geschadet hatte ...

Jakob: ... das aber auch nicht von Ihnen war.

Herr: Weder der Schutz des Richters noch die Bemühungen des Kommissars konnten verhindern, daß diese Sache den [293] Rechtsgang ging. Da aber die Tochter und ihre Eltern in üblem Ruf standen, so war die Rede nicht vom Heiraten, sondern man erkannte nur auf eine beträchtliche Geldbuße, die Erstattung der Kosten des Kindbettes und die Versorgung und Erziehung eines Kindes, welches das Erzeugnis meines Freundes, des Ritters von Saint-Ouin, und sein Ebenbild im kleinen war. Mamsell Agathe kam zwischen dem siebenten und achten Monat glücklich mit einem dicken, stämmigen Jungen nieder. Man gab ihm eine gute Amme, die ich bis auf den heutigen Tag bezahlt habe.

Jakob: Wie alt ist nun Ihr Herr Sohn?

Herr: Bald zehn Jahr. Ich habe ihn die ganze Zeit über auf dem Lande gelassen, wo ihn der Schulmeister im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet hat. Er befindet sich nicht weit von dem Orte, wo wir hinreisen, und ich benutze die Gelegenheit, um den Leuten zu zahlen, was ich ihnen schuldig bin, ihn wegzunehmen und einem Handwerker in die Lehre zu geben.


Jakob und sein Herr blieben noch eine Nacht unterwegs. Sie waren dem Ziel ihrer Reise zu nah, als daß Jakob wieder von seiner Liebesgeschichte hätte anfangen sollen. Außerdem fehlte noch viel, daß seine Halsschmerzen vorbei waren.

Den Tag darauf langten sie an.

›Wo?‹

Auf Ehre, das weiß ich nicht!

›Und was hatten sie da zu tun?‹

Das magst du dir selbst denken. Glaubst du, daß Jakobs Herr seine Geschäfte jedermann auf die Nase band? Indes brachte er nicht über vierzehn Tage damit zu. Ob sie sich gut oder schlecht abwickelten, das weiß ich gleichfalls nicht. Jakobs böser Hals wurde durch zwei Heilmittel vertrieben, die ihm sehr zuwider waren: durch Diät und Ruhe.


Eines Morgens sagte der Herr zu seinem Diener: »Jakob, sattle und zäume die Pferde und fülle deine Kürbisflasche; wir wollen fort, du weißt schon!« Gesagt, getan! Sie befanden sich [294] nun auf dem Weg nach dem Orte, wo seit zehn Jahren auf Unkosten von Jakobs Herrn das Kind des Ritters von Saint-Ouin erzogen wurde. Als sie einige hundert Schritt geritten waren, wendete sich der Herr mit folgenden Worten zu Jakob: »Jakob, was sagst du zu meiner Liebesgeschichte?«

Jakob: Ich sage, daß dort oben sonderbare Dinge geschrieben stehen. Da ist nun ein leibhaftiges Kind. Gott weiß wie! Und wer weiß, was für eine Rolle der kleine Bankert einst spielen wird. Wer weiß, ob es nicht in die Welt gekommen ist, um das Glück oder den Umsturz eines Reiches zu bewirken!

Herr: Daß sich das nicht ereignet, dafür stehe ich dir. Der Junge soll mir ein guter Drechsler oder ein guter Uhrmacher werden. Er wird heiraten und Kinder zeugen, die in alle Ewigkeit auf dieser Welt nichts als Stuhlfüße drehen werden.

Jakob: Ja, wenns dort oben so geschrieben steht. Aber warum sollte nicht ein Cromwell aus der Werkstatt eines Drechslers hervorgehen können? War der Mann, welcher seinem Könige den Kopf vor die Füße legen ließ, nicht vom Bottich eines Bierbrauers auf den Schauplatz der Welt getreten? Und sagt man nicht heute ...

Herr: Laß das gut sein! Du bist wieder gesund, du weißt meine Liebesgeschichte und kannst dich mit gutem Gewissen nicht davon entbinden, deine eigene wieder aufzunehmen.

Jakob: Dem widersetzt sich alles; erstlich: die Kürze des Weges, den wir noch vor uns haben; zweitens: daß ich nicht weiß, wo ich stehengeblieben bin; drittens: eine verteufelte Ahnung, die mir im Kopfe steckt, daß diese Geschichte nie zu Ende kommen soll und daß ihre Erzählung uns lauter Unheil über den Hals bringt. Kaum werde ich sie angefangen haben, so wird mir schon wieder eine glückliche oder unglückliche Katastrophe das Wort vom Munde wegnehmen.

Herr: Desto besser, wenn es eine glückliche Katastrophe ist!

Jakob: Das gebe ich zu; aber mir ist es, als ob es eine unglückliche sein würde.

Herr: Unglücklich? Immerhin! Doch ob du schweigst oder sprichst, wird sie sich darum weniger ereignen?

[295] Jakob: Wer kann das wissen?

Herr: Du bist um zwei oder drei Jahrhunderte zu spät auf die Welt gekommen.

Jakob: Nein, Herr! Zu rechter Zeit, wie jeder Mensch.

Herr: Du hättest einen großen Auguren abgegeben.

Jakob: Ich weiß nicht ganz genau, was für ein Ding das ist, ein Augur. Es liegt mir aber auch nicht am Herzen, es zu wissen.

Herr: Es ist eins von den wichtigen Kapiteln deines Traktats von der Divination.

Jakob: Das kann sein; aber er ist vor so langer Zeit geschrieben worden, daß ich mich an kein einziges Wort mehr erinnere. Herr, hier sehen Sie etwas, was mehr davon weiß als alle Auguren, weissagenden Gänse und heiligen Hühner der Republik zusammengenommen: hier meine Kürbisflasche. Lassen Sie uns meine Kürbisflasche um Rat fragen!

Jakob nahm seine Kürbisflasche und fragte sie lange um Rat; sein Herr zog seine Uhr und seine Dose aus der Tasche, sah, wieviel es an der Zeit war, nahm eine Prise Tabak, und endlich sagte Jakob: »Es ist mir jetzt, als ob ich das Schicksal weniger schwarz erblickte. Sagen Sie mir, wo bin ich stehengeblieben?«

Herr: In Desglands' Schloß. Dein Knie war ein wenig besser, und Denise hatte von ihrer Mutter den Auftrag erhalten, dich zu pflegen.

Jakob: Denise war gehorsam. Die Wunde an meinem Knie schloß sich fast, und ich hatte sogar in der Kindnacht mit im Kreise tanzen können; indessen empfand ich doch noch von Zeit zu Zeit unsägliche Schmerzen daran. Dem Schloßwundarzte, der ein wenig mehr von seiner Kunst verstand als sein Herr Kollege, kam der Gedanke, daß diese Leiden, die so hartnäckig wiederkehrten, keinen anderen Grund haben könnten als einen fremden Körper, der nach dem Herausziehen der Kugel im Fleisch sitzengeblieben sei. Demzufolge kam er an einem Morgen in aller Frühe auf mein Zimmer und ließ einen Tisch vor mein Bett schieben. Als meine Vorhänge aufgezogen[296] waren, sah ich diesen Tisch mit einer Menge schneidender Instrumente bedeckt. Denise saß am Kopfende meines Bettes und weinte die bittersten Tränen, ihre Mutter stand mit verschränkten Armen sehr traurig vor mir, der Chirurg aber hatte seinen Überrock ausgezogen, die Ärmel seiner Weste aufgestreift und seine rechte Hand mit dem Inzisionsmesser bewaffnet.

Herr: Du erschreckst mich.

Jakob: Ich erschrak auch. ›Mein Freund,‹ redete der Chirurg mich an, ›seid Ihr es müde, länger zu leiden?‹

›Sehr müde.‹

›Wollt Ihr, daß es ein Ende nehmen soll und Ihr Euer Bein behaltet?‹

›Gewiß.‹

›So streckt es aus dem Bett und laßt mich nach Herzenslust daran schneiden.‹

Ich streckte mein Bein aus dem Bett; der Chirurg faßte den Stiel des Schnittmessers zwischen die Zähne, schob mein Bein unter seinen linken Arm, klemmte es fest an sich, nahm sein Messer wieder in die Hand, fuhr mit der Spitze in die Öffnung meiner Wunde und machte einen breiten und tiefen Einschnitt. Ich verzog das Gesicht nicht einen Augenblick; aber Jeanne drehte den Kopf weg, und Denise stieß einen lauten Schrei aus und fühlte sich schlecht.

Hier machte Jakob eine Pause in seiner Erzählung und sprach seiner Kürbisflasche von neuem zu. Dieses Zusprechen war um so häufiger, je kürzer die Entfernung war; oder wie ein Geometer sich ausdrücken würde: Es stand im umgekehrten Verhältnis zu der Entfernung. Er traf es so genau mit seinen Abmessungen, daß die Kürbisflasche, die er bei der Abreise immer bis oben angefüllt hatte, am Ort der Ankunft sicher ganz leer war. Die Herren von dem Brücken-und Wegbau hätten einen vortrefflichen Hodometer daraus machen können. Auch hatte jeder Zug daraus immer seinen hinreichenden Grund: zum Beispiel der Zug, den er jetzt getan, hatte die Absicht, Denisen aus ihrer Ohnmacht wieder zu sich kommen [297] zu lassen und sich selbst von dem Schmerz des Einschnitts zu erholen. Sobald also Denise wieder wohl und er gestärkt war, fuhr er fort: »Durch diesen ungeheuren Einschnitt konnte man bis auf den Grund meiner Wunde sehen, und der Chirurg zog mit seiner kleinen Zange ein Stückchen Tuch von meiner Hose heraus, das darin steckengeblieben war, mir bisher die Schmerzen verursachte und die gänzliche Heilung meiner Wunde verhindert hatte. Seit dieser Operation wurde mein Zustand – dank Denisens Pflege! – immer besser und besser. Ich hatte weder Schmerzen noch Fieber mehr; Appetit, Schlaf und Kräfte stellten sich wieder ein. Denise verband mich mit der größten Sorgfalt und einer unendlichen Zartheit. Sie hätten nur sehen sollen, wie behutsam und leicht ihre Hand meinen Verband öffnete, wie sie sich fürchtete, mir im geringsten weh zu tun, und wie sie meine Wunde auswusch! Ich saß am Rande meines Bettes; sie kniete mit einem Knie auf der Erde, und mein Bein ruhte auf ihrem Schenkel, den ich zuweilen ein wenig drückte. Ich hatte die eine Hand auf ihre Schulter gelegt und sah ihr mit einer Rührung zu, an der sie, wie ich glaube, Anteil nahm. War der Verband gemacht, ergriff ich ihre beiden Hände, dankte ihr und wußte nicht, was ich sagen und wie ich ihr meine Erkenntlichkeit bezeigen sollte. Sie stand vor mir mit niedergeschlagenen Augen und hörte mir zu, ohne ein Wort zu sprechen. Kein Hausierer durfte sich auf dem Schlosse blicken lassen, ohne daß ich ihm nicht etwas für sie abkaufte: bald ein Halstuch, bald ein paar Ellen Kattun oder Musselin, bald ein goldenes Kreuz, bald baumwollene Strümpfe, einen Ring, ein Halsband von Granaten und so weiter. Hatte ich meinen kleinen Einkauf gemacht, so befand ich mich in der größten Verlegenheit, wie ich das Gekaufte ihr zustellen wollte, und sie war ebenso verlegen, wenn sie es annahm. Zuerst zeigte ich ihr das Gekaufte; gefiel es ihr, so sagte ich: ›Denise, es ist dein; ich habe es für dich gekauft.‹ Meine Hand zitterte, indem ich es ihr zeigte, und die ihre zitterte gleichfalls, wenn sie es aus der meinigen annahm. Einmal wußte ich nicht, was ich ihr geben sollte, und kaufte ihr Strumpfbänder; [298] sie waren von Seide, weiß, rot und blau verbrämt, und trugen einen Spruch. Am Morgen, ehe sie kam, hängte ich sie über die Lehne des Stuhls, der vor meinem Bett stand. Kaum hatte Denise sie erblickt, so rief sie aus: ›Ach, die hübschen Strumpfbänder!‹

›Sie sind für mein Liebchen bestimmt‹, gab ich zur Antwort.

›Sie haben also ein Liebchen, Herr Jakob?‹

›Freilich! Hab ich es dir noch nicht gesagt?‹

›Nein ... Ohne Zweifel ist sie sehr liebenswert?‹

›Sehr liebenswert.‹

›Und Sie haben sie recht lieb?‹

›Von ganzer Seele.‹

›Und sie hat Sie ebenso lieb?‹

›Das weiß ich nicht. Allein die Strumpfbänder sind für sie bestimmt, und sie hat mir dafür etwas versprochen, was mich, glaube ich, vor Freude närrisch machen wird, wenn sie Wort hält.‹

›Und was hat sie Ihnen denn dafür versprochen?‹

›Daß ich ihr das eine von den Strumpfbändern mit eigenen Händen umbinden soll.‹«

Denise ward blutrot, legte meine Reden ganz falsch aus und glaubte, die Strumpfbänder wären für eine andere bestimmt. Sie ward stille und traurig, beging eine Ungeschicklichkeit nach der anderen, suchte, was sie zu meinem Verband brauchte, hatte es vor Augen stehen und sah es nicht, stieß den Wein um, den sie gewärmt hatte, näherte sich meinem Bette, um mich zu verbinden, faßte mein Bein mit zitternden Händen, löste meine Bandage am falschen Ende auf, und als sie meine Wunde waschen sollte, hatte sie vergessen, was sie dazu brauchte. Sie ging weg, holte es, verband mich und – ich sah sie weinen.

›Denise, ich glaube, du weinst. Was fehlt dir?‹

›Nichts.‹

›Hat man dir etwas zuleid getan?‹

›Ja.‹

›Und wer ist der Bösewicht, der dir etwas zuleid getan hat?‹

›Sie.‹

[299] ›Ich?‹

›Ja.‹

›Wie ist das möglich gewesen?‹

Anstatt mir zu antworten, heftete sie ihre Blicke auf die Strumpfbänder.

›Wie?‹ sagte ich. ›Deswegen weinst du?‹

›Ja.‹

›Ei, Denise, so trockne deine Tränen; denn für dich habe ich sie ja gekauft!‹

›Herr Jakob, ist das wahr?‹

›Durchaus wahr! So wahr, daß ich sie dir hier gebe.‹

Zu gleicher Zeit reichte ich ihr beide hin, behielt aber eins zurück. Augenblicklich brach ein Lächeln durch das Tränengewölk. Ich faßte sie beim Arm, zog sie an mein Bett, nahm einen von ihren Füßen, setzte ihn auf den Rand des Bettes, schlug ihr die Röcke bis ans Knie zurück, wo sie sie mit beiden Händen festhielt, küßte ihr Bein und band ihr das Strumpfband um, das ich in den Händen behalten hatte. Es war kaum umgebunden, so trat Jeanne, ihre Mutter, herein.

Herr: Ein ungelegener Besuch!

Jakob: Vielleicht, vielleicht auch nicht. Statt unsere Verwirrung zu bemerken, sah sie nur das Strumpfband, das ihre Tochter in der Hand hielt.

›Ein schönes Strumpfband,‹ sagte sie, ›aber wo ist das andere?‹

›An meinem Bein‹, antwortete Denise. ›Er sagte, er habe sie für sein Liebchen gekauft, und ich glaubte, sie wären für mich. Nicht wahr, liebe Mutter, ich muß auch das andere Strumpfband behalten, weil ich das eine schon umhabe?‹

›Ja, Herr Jakob, da hat Denise recht. Ein Strumpfband kann nicht von dem andern getrennt werden, und Sie werden ihr doch nicht das wieder nehmen wollen, das sie schon hat?‹

›Warum nicht?‹

›Weil das Denise sowenig wird zugeben wollen wie ich.‹

›Aber wir wollen uns vergleichen; ich will ihr das andere in Eurer Gegenwart umbinden.‹

[300] ›Nein, nein, das geht nicht an.‹

›So muß sie mir alle beide wiedergeben.‹

›Das geht ebensowenig an.‹

Aber – Jakob und sein Herr befanden sich am Eingang des Dorfes, wo sie das Kind und die Pflegeeltern von dem Kind des Ritters besuchen wollten. Jakob schwieg, und sein Herr sagte zu ihm: »Wir wollen absteigen und hier eine Pause machen.«

»Warum?«

»Weil du aller Wahrscheinlichkeit nach jetzt am Ende deiner Liebesgeschichte bist.«

»Noch nicht ganz.«

»Ist man einmal bis zum Knie gekommen, so hat man nicht mehr weit.«

»Lieber Herr! Denise hatte einen längern Schenkel als andere Mädchen!«

»Laß uns immerhin absteigen!«

Sie stiegen vom Pferde, Jakob zuerst, und geschwind stellte er sich neben dem Steigbügel seines Herrn auf. Kaum hatte der den Fuß in den Steigbügel gesetzt, so gingen die Riemen auf, und der Reiter hätte sich rückwärts ziemlich unsanft auf den Boden niedergelassen, wäre er nicht von seinem Bedienten in den Armen aufgefangen worden.

Herr: Hoho! Jakob! Gibst du so auf mein Zeug acht? Es fehlte wenig, so hätte ich mir eine Rippe oder einen Arm gebrochen, mir den Kopf eingeschlagen oder vielleicht gar das Leben eingebüßt.

Jakob: Kein großes Unglück!

Herr: Was sagst du? Warte, Halunke! Ich will dich reden lehren!

Und der Herr, nachdem er den Hängeriemen am Peitschenstiel ein paarmal um die Hand gewunden hatte, verfolgte Jakob; aber Jakob lief immer im Kreise um das Pferd herum und wollte vor Lachen fast bersten. Sein Herr fluchte, sakramentierte, schäumte vor Wut und lief ebenfalls im Kreise um das Pferd und hinter Jakob her, wobei er einen Strom von Scheltworten [301] gegen ihn ausstieß. Dieses Laufen und Jagen dauerte so lange, bis beide über und über in Schweiß und von Müdigkeit erschöpft waren und der eine auf dieser, der andere auf jener Seite des Pferdes stehenblieb. Jakob war außer Atem und lachte in einem fort. Sein Herr war auch außer Atem und schoß wütende Blicke auf ihn. Endlich fingen sie an, wieder zu Atem zu kommen, und Jakob sagte zu seinem Herrn: »Wird mein lieber Herr es mir nun eingestehen?«

Herr: Und was soll ich dir eingestehen, Hund, Spitzbube, Schurke, als daß du der boshafteste von allen Dienern bist und ich der unglücklichste von allen Herren?

Jakob: Liegt es nicht klar am Tage, daß wir die meiste Zeit handeln, ohne zu wollen? Hand aufs Herz, und sagen Sie selbst, ob Sie das Geringste von dem wollten, was Sie seit einer halben Stunde gesagt und getan haben? Sind Sie nicht meine Marionette gewesen? Und würden Sie nicht noch einen ganzen Monat lang mein Polichinelle geblieben sein, wenn ich es mir vorgenommen hätte?

Herr: Wie? Es war nur ein Scherz?

Jakob: Ja, ein Scherz.

Herr: Und du wußtest es vorher, daß der Steigbügelriemen aufgehen würde?

Jakob: Ich hatte es so eingerichtet, daß er aufgehen mußte.

Herr: Das war also der Draht, den du an meinem Kopf befestigt hattest, um mich nach deiner Phantasie tanzen zu lassen?

Jakob: Richtig.

Herr: Und deine impertinente Antwort war ebenfalls vorher ausgesonnen?

Jakob: Vorher ausgesonnen.

Herr: Du bist ein gefährlicher Taugenichts!

Jakob: Sagen Sie vielmehr, daß ich – Dank sei meinem Hauptmann, der sich einmal einen gleichen Zeitvertreib auf meine Unkosten erlaubte – ein sehr subtiler Schlüssezieher bin.

Herr: Wenn ich mir aber Schaden getan hätte?

Jakob: Es stand dort oben und in meiner Voraussicht geschrieben, daß das nicht geschehen sollte.

[302] Herr: Komm, wir wollen uns setzen! Wir haben beide die Ruhe nötig.

Sie setzten sich und Jakob rief aus: »Die Pest über den Dummkopf!«

Herr: Du meinst vermutlich dich?

Jakob: Ja, mich, daß ich keinen Schluck mehr in meiner Kürbisflasche gelassen habe.

Herr: Laß dir das nicht leid sein, ich hätte ihn selbst getrunken, denn ich sterbe vor Durst.

Jakob: Die Pest also über den Dummkopf, daß er deren nicht zwei darin ließ!

Sein Herr bat ihn, seine Erzählung fortzusetzen und so Müdigkeit und Durst zu verschwatzen; aber Jakob weigerte sich. Sein Herr schmollte; Jakob ließ ihn schmollen.

Endlich fuhr Jakob, nachdem er gegen alles Unglück, das daraus entstehen konnte, protestiert hatte, folgendermaßen in seiner Liebesgeschichte fort:

»An einem Festtage, als der Herr des Schlosses auf der Jagd war ...« Bei diesen Worten brach er kurz ab und sagte: »Ich weiß nicht, aber – es ist mir unmöglich, fortzufahren. Es ist mir immer, als ob ich fühlte, wie mich die Hand des Verhängnisses bei der Gurgel gefaßt hat und sie mir zuschnürt. Erlauben Sie mir um Gottes willen, daß ich schweige, Herr ...«

»Nun gut, so schweig und erkundige dich in der ersten Bauernhütte, wo die Amme meines Kindes wohnt.«

Es war eine Tür weiter. Sie begaben sich zu Fuß dahin, und jeder führte sein Pferd am Zügel. In dem Augenblick ging die Tür bei der Amme auf, und es trat ein Mann heraus.

Jakobs Herr stieß einen Schrei aus und legte die Hand an den Degen; der Mann tat ein gleiches. Die beiden Pferde wurden über dem Geklirr der Klingen scheu; Jakobs Pferd zerriß den Zügel, und im gleichen Augenblick ward der Mann, mit welchem sein Herr sich schlug, tot zu Boden gestreckt. Die Bauern im Dorf liefen herbei, aber Jakobs Herr schwang sich schnell in den Sattel und ritt davon. Man bemächtigte sich Jakobs; man band ihm die Hände auf den Rücken und brachte [303] ihn zu dem Richter des Ortes, der ihn in das Gefängnis führen ließ. Der Getötete war der Ritter von Saint-Ouin, den der Zufall gerade an diesem Tage in Begleitung Agathens zu der Amme ihres Kindes geführt hatte. Agathe lag auf dem Leichnam ihres Liebhabers und raufte sich die Haare aus. Jakobs Herr war schon so weit weg, daß man ihn aus dem Gesicht verloren hatte. Indem Jakob aus dem Hause des Richters in das Gefängnis wanderte, sagte er: »Alles das mußte so geschehen, denn dort oben stand es geschrieben!«


Und ich, ich mache hier Schluß, denn ich habe euch von meinen beiden Helden alles erzählt, was ich von ihnen wußte.

›Und Jakobs Liebesgeschichte?‹

Hat Jakob nicht hundertmal gesagt, es stehe dort oben geschrieben, daß er seine Liebesgeschichte nie zu Ende bringen solle? Ich sehe jetzt, Jakob hatte recht. Ich sehe aber auch, Leser, daß euch das leid tut. Nun gut! So fangt seine Erzählung wieder da an, wo er stehengeblieben ist, und setzt sie nach eurer Phantasie fort. Oder stattet einen Besuch bei Mamsell Agathe ab; sucht von ihr den Namen des Dorfes zu erfahren, wo Jakob im Gefängnis sitzt. Besucht Jakob und fragt ihn aus; er wird sich gewiß nicht lange bitten lassen und euren Wunsch befriedigen, denn es wird ihm selbst die Langeweile vertreiben. Laut gewissen Memoiren, die ich in Händen habe, die ich aber aus guten Gründen für verdächtig halte, könnte ich zwar das Fehlende vielleicht ergänzen, aber wozu das? Man kann sich nur für das interessieren, was man für wahr hält. Indes weil es zu kühn sein würde, ohne weitere Untersuchung über ›die Gespräche Jakobs des Fatalisten und seines Herrn‹ ein Urteil zu fällen (ein Buch, das gewiß unter die wichtigsten gehört, die seit dem ›Pantagruel‹ des Meisters François Rabelais und seit dem ›Leben und den Abenteuern des Gevatters Matthies‹ erschienen sind), so will ich diese Memoiren mit all der Anstrengung des Geistes und all der Unparteilichkeit, deren ich fähig bin, von neuem durchlesen und nach acht Tagen euch, meinen Lesern, mein Endurteil bekanntmachen, [304] wobei ich mir aber vorausbedinge, meine Meinung zurücknehmen zu dürfen, sobald ein Klügerer mir beweist, daß ich mich getäuscht habe. Der Herausgeber setzt nun hinzu: Die acht Tage sind vorbei. Ich habe die bewußten Memoiren durchgelesen und von den drei Abschnitten, welche diese Memoiren mehr als mein Manuskript enthalten, nur den ersten und den letzten für original, den mittelsten aber augenscheinlich für untergeschoben erklären können. Hier folgt der erste Abschnitt, der aber in der Unterredung Jakobs und seines Herrn eine zweite Lücke voraussetzt:

An einem Feiertage, als der Herr des Schlosses auf die Jagd gegangen war und die übrigen Leute des Schlosses in der Pfarrkirche, die eine gute Viertelstunde davon entfernt lag, der Messe beiwohnten, war Jakob aufgestanden; Denise aber saß neben ihm, und beide beobachteten ein tiefes Stillschweigen. Sie sahen aus, als ob sie miteinander schmollten, und sie taten dies auch wirklich. Jakob hatte alles angewendet, um Denise zu bewegen, ihn glücklich zu machen, aber Denise war standhaft geblieben. Nach dem langen Stillschweigen sagte Jakob, der die heißesten Tränen weinte, in einem harten und bittern Ton zu ihr: »Du liebst mich eben nicht!« Denise, außer sich, sprang hastig auf, faßte ihn beim Arm, führte ihn zu dem Bette, setzte sich darauf und sagte: »Gut, Herr Jakob! Ich habe Sie also nicht lieb? Gut, Herr Jakob! Machen Sie aus der unglücklichen Denise, was Sie wollen!« Indem sie diese Worte sprach, zerfloß sie fast in Tränen und erstickte fast vor Seufzen und Schluchzen. Sage, Leser, was würdest du an Jakobs Stelle getan haben?

›Nichts.‹

Er auch. Er führte Denise zu ihrem Stuhle zurück, warf sich ihr zu Füßen, wischte die Tränen ab, die aus ihren Augen stürzten, küßte ihr die Hände, tröstete und beruhigte sie und war überzeugt, daß sie ihn zärtlich liebte, und stellte ihrer Zärtlichkeit ganz die Bestimmung des Augenblicks anheim, wo es ihr gelegen sein würde, seine Liebe zu belohnen. Dieses Betragen rührte Denise sehr.

[305] Man wird vielleicht den Einwurf machen, daß Jakob zu Denises Füßen ihr nicht die Augen trocknen konnte ... der Stuhl müßte denn sehr niedrig gewesen sein. Das Manuskript sagt das zwar nicht, doch läßt es sich mutmaßen.


Der zweite Abschnitt ist aus dem Leben des Tristram Shandy kopiert, es wäre denn, daß die Unterredung zwischen Jakob und seinem Herrn älter als dieses Werk und folglich der Prediger Sterne der Plagiarius gewesen wäre, was ich aber nicht glaube, da ich Herrn Sterne ganz besonders hochschätze, den ich von der Mehrzahl der Schriftsteller seiner Nation, die uns recht häufig zu bestehlen und uns Injurien zu sagen pflegen, wohl zu unterscheiden weiß.

An einem andern Tage, des Morgens in aller Frühe, kam Denise, um Jakob zu verbinden. Alles schlief noch im Schlosse. Denise näherte sich zitternd. Als sie vor Jakobs Tür kam, blieb sie stehen, unschlüssig, ob sie hineingehen sollte oder nicht. Mit Beben ging sie hinein und verweilte ziemlich lange neben Jakobs Bett, ohne daß sie es wagte, die Vorhänge aufzuziehen. Endlich tat sie es doch, wünschte zitternd Jakob einen guten Morgen, erkundigte sich nach seinem Befinden und wie er die Nacht zugebracht habe, und das alles mit Zittern. Jakob antwortete, er habe kein Auge zugetan und unter einem heftigen Jucken an seinem Knie äußerst gelitten; er leide noch daran. Denise erbot sich, ihm Linderung zu schaffen. Sie nahm ein Stück Flanell; Jakob streckte sein Bein aus dem Bett, und Denise fing an, mit ihrem Flanell unterhalb der Wunde, anfangs mit einem Finger, dann mit zweien, dann mit dreien, dann mit vieren, endlich mit der ganzen Hand zu frottieren. Jakob sah ihr zu und berauschte sich in Liebe. Nun frottierte Denise mit ihrem Flanell auf der Wunde selbst, deren Narbe noch rot war, anfangs mit einem Finger, dann mit zweien, dann mit dreien, dann mit vieren, zuletzt mit der ganzen Hand. Aber es war noch nicht damit abgetan, daß sie das Jucken unterhalb des Knies und auf dem Knie gestillt hatte, es mußte auch noch oberhalb gestillt werden, wo es sich nur um so heftiger spüren [306] ließ. Denise applizierte ihren Flanell oberhalb des Knies und fing an, ziemlich stark zu reiben, anfangs mit einem Finger, dann mit zweien, mit dreien, mit vieren und zuletzt mit der ganzen Hand. Die Leidenschaft Jakobs, der kein Auge von ihr verwandt hatte, stieg zu einem solchen Grade, daß er ihr nicht länger widerstehen konnte, stürmisch Denisens Hand ergriff – und – sie küßte ...

Was das Plagiat vollends außer Zweifel setzt, ist folgender Umstand. Der Plagiarius sagt noch: Leser! Behagt euch das nicht, was ich euch von Jakobs Liebesgeschichte offenbart habe, so macht es besser, ich habe nichts dagegen. Ihr mögt euch dabei anstellen, wie ihr wollt, ich bin im voraus überzeugt, daß ihr endigen werdet wie ich.

›Du täuschst dich, schändlicher Verleumder! Ich werde nicht endigen wie du! Denise blieb tugendhaft.‹

Und wer hat dir das Gegenteil gesagt? Jakob ergriff ihre Hand und küßte sie, diese Hand! Du bist es, der eine verdorbene Phantasie hat und etwas heraushört, was man mit keinem Wort andeutete!

›Gut, er küßte also bloß ihre Hand?‹

Ja, Jakob hatte zu viel Verstand, um ein Mädchen zu mißbrauchen, aus dem er seine Frau machen wollte, und sich so ein Mißtrauen zu bereiten, welches sein übriges Leben vergiftet hätte.

›Aber es steht ja ausdrücklich in dem vorhergehenden Abschnitt, daß Jakob alles mögliche aufgeboten habe, um Denise zu bewegen, ihn glücklich zu machen?‹

Offenbar wollte er sie damals noch nicht heiraten.


Der dritte Abschnitt zeigt uns unsern Jakob, unsern armen Fatalisten, an Händen und Füßen gefesselt, wie er in der Tiefe eines düsteren Kerkers, auf Stroh gebettet, sich alles wiederholt, was er von den Grundsätzen der Philosophie seines Hauptmanns im Gedächtnis behalten hatte, und wie er sich nicht abgeneigt fühlt, zu glauben, es könne vielleicht ein Tag kommen, an welchem er diese feuchte, finstere, stinkende Wohnung [307] bedauern werde, wo schwarzes Brot und Wasser seine Nahrung waren und wo er Hände und Füße beständig gegen die Angriffe der Mäuse und Ratten verteidigen mußte. Wir erfahren, daß er mitten in diesen Betrachtungen durch das Einbrechen der Türen seines Kerkers gestört ward und sich nebst einem Dutzend Gaunern in Freiheit gesetzt und unter Mandrins Bande angeworben sah. Die berittene Gendarmerie, die seinem Herrn auf dem Fuß nachsetzte, hatte ihn endlich eingeholt, ergriffen und in ein anderes Gefängnis eingekerkert, aber aus diesem Gefängnisse war er durch die Dienste des guten Kommissars befreit worden, der ihm schon bei seinem ersten Abenteuer so tätigen und nützlichen Beistand geleistet hatte. Der Herr begab sich auf Desglands' Schloß und lebte daselbst schon drei Monate im stillen und verborgenen, als ihm der Zufall unvermutet einen Diener wiederschenkte, der zu seiner Glückseligkeit ebenso wesentlich unentbehrlich war wie seine Uhr und seine Dose; denn er nahm nie eine Prise Tabak und tat nie einen Blick auf die Uhr, ohne seufzend auszurufen: »Armer Jakob! Was ist aus dir geworden!«

In einer Nacht ward Desglands' Schloß von der Mandrinschen Bande angegriffen. Jakob erkannte die Wohnung seines Wohltäters und seiner Geliebten, legte Fürsprache bei Mandrin ein und brachte es dahin, daß das Schloß von der Plünderung verschont blieb.

Nun folgt ein pathetisches Detail der unvermuteten Zusammenkunft Jakobs mit seinem Herrn, Desglands, Denise und Jeanne.

»Bist du es, lieber Jakob?«

»Sind Sie's, lieber Herr?«

»Wie bist du unter diese Leute geraten?«

»Und wie kommt es, daß ich Sie hier antreffe?«

»Bist du's, Denise?«

»Sind Sie's, Herr Jakob? Wie viele Tränen haben Sie mich nicht gekostet!«

Und Desglands rief: »Gläser her! Wein her! Geschwind, geschwind! Er hat uns allen das Leben gerettet!«

[308] Einige Tage darauf starb der alte Hausvogt des Schlosses; Jakob bekam seine Stelle und heiratete Denise, mit der er nun beschäftigt ist, dem Zeno und Spinoza Jünger zu zeugen. Desglands liebt ihn, sein Herr hält ihn in Ehren, seine Frau betet ihn an; denn so stand es dort oben geschrieben.

Man hat mir weismachen wollen, sein Herr und Desglands hätten sich in seine Frau verliebt. Ich weiß nicht, ob etwas daran ist, aber das weiß ich gewiß, daß Jakob sich jeden Abend sagt: ›Steht es dort oben geschrieben, daß du Hörner tragen sollst, so wirst du es, du magst es anfangen, wie du willst; steht es hingegen nicht dort oben geschrieben, daß du Hörner tragen sollst, so mögen sie es anfangen, wie sie wollen, du wirst es doch nicht ... Also kannst du ruhig schlafen, Freund!‹ Und er schlief ein.

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TextGrid Repository (2012). Diderot, Denis. Romane. Jakob und sein Herr. Jakob und sein Herr. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-7EDA-3