[30] Sineds Träume

Erster Traum

Tochter des schönsten Rosenstockes! Einsam
Stehst du noch immer. Deine Schwestern alle
Glänzen und duften lange schon um edler
Jünglinge Scheitel.
Wandelt der Sohn des Liedes dich vorüber
Unter dem Abendwinde, dann umwallt ihn
Deines Geruches süße Fluth. Er seufzet:
Immer noch einsam!
Aber um dich her schrecken unversöhnte
Dörner, um dich her windet sich ein hoher
Dreimal geflochtner Zaun, und gönnt dem Auge
Kaum dich zu sehen.
Blick' ich durch seine Klüfte, dann entdeck' ich,
Holde! dein Streben. Hielte dich dein Stengel
Minder, du trotztest deiner Hürde, flögest
Feurig herüber.
[31]
Freudig erhübe deinen Flug der Barde.
Freudig erklängen seine Feiersaiten:
Heil dem beglückten Erdesohn', in dessen
Hände du sänkest.
Wonnevoll hüpften Fluren dir entgegen,
Trunken von Hoffnung, sich mit Erben deiner
Farbe zu kleiden, sich mit Erben deiner
Düfte zu kleiden.
Tochter des schönsten Rosenstockes! Aengstig
Ist mir um dich die Seele. Deine milden
Sonnen verblinken, und die Morgen hauchen
Kälter, und Reif dräut.
Fällt er, und welken deine Blätter, o dann
Bleibet dir noch ein Trost beschieden. Einstens
Sieht dich mein Aug' in seligern Gefilden
Herrlicher aufblüh'n.

[32] Zweiter Traum

Holder Sänger der Nacht! Schön ist im bebenden
Mondenschimmer dein Lied, wenn der gelinde West
Sich im sprossenden Wipfel
Kühler Maiengebüsche wiegt,
Wenn die Gegend umher duftender Knospendrang
Still durchathmet, und nur, nur der entfesselte
Fernher lispelnde Waldquell
Deiner Kehle Begleiter ist.
Schön ist, Sänger! dein Lied. Aber wer horchet ihm?
Buchen ragen um dich, ragen, und horchen nicht.
Hügel steigen um dich her,
Triften liegen, und horchen nicht.
Taub ist alles und todt. Ungehört, unbelohnt
Strömt dein heller Gesang dennoch die Nächte durch,
Federbarde, Verschwender
Deiner göttlichen Liederkraft!
[33]
Auf, und hasse den Hain ohne Gefühl und Dank!
Auf, und lenke den Flug milderen Gegenden,
Und verdienteren Zeugen
Deiner reizenden Künste zu!
Wo manch dürstendes Ohr, Sänger! dich ganz versteh't;
Wo manch fühlendes Herz deinem Geseufze schmilzt,
Und vom zärtlichen Auge
Deinen Klagen entgegenthau't.
Oder liebst du den Hain ohne Gefühl und Dank,
Willst du bleiben, so schweig', schwelge dich satt und fett
An dem Sommergewürme,
Buhl' und schnäble die Tage durch,
Und durchschlumm're die Nacht an der gefälligsten
Freundinn Seite! Warum folgtest du, Sänger! nicht
Andern Vögeln des öden
Haines ohne Gefühl und Dank? –
Doch du bleibest und ström'st deine Gesänge fort,
Hör'st mein Warnen nicht an. Ha, ich verstehe dich!
Zeugen sind dir entbehrlich,
Federbarde! Du sing'st für dich.
[34]
O so singe denn fort, sicher der Göttlichkeit
Deiner Klänge! Geneuß einsam, geneuß dich selbst,
Bis mit klügeren Sängern
Dich dein Winter verstummen heißt!

License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Denis, Michael. Sineds Träume. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-7E89-A