[196] Rhingulphs Lied

An Sined den Druiden der Harfe. 1


Wo bin ich? – Schlief ich nicht im Walde
Arbeitermüdet ein?
Im Walde, wo des Lenzes
Tonvoller Vogel nicht nistet,
Im Walde, wo kein Barde
Noch seine Harf' in die Schatten trug?
Er ist es, wo ich entschlief,
Der Wald voll brütender Schauer,
Als wär' er hinter Helas
Grotte gegen Walhalla gepflanzt;
Denn wie vom Felde der Seligen
Tönt mir durch seine Fichtengänge
Der Bardenharfe Geräusch.
Mich umwandelt der Geist der Lieder,
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Wie die Seele der Brünstiggeliebten
Um den einsam trauernden Jüngling schwebt.
O sey du mir willkommen!
Ruft der Verzweifelnde.
O sey du mir willkommen!
Ruf' ich und reiße mich auf,
Daß die zweigigte Fichte schwankt,
Und streife windschnell über das Haidenkraut,
Und eil' und fliege gegen den Harfenruf,
Der bei jedem von Felsen
Zu Felsen gewagten Sprunge
Immer näher und näher tönt.
Da rauschet mir gewaltig
Josephs Namen entgegen;
Es rufen dort oben die Felsen,
Dort unten die Fichten rufen
Joseph's Namen zurück.
Und hier sind Nachtigallen;
Hier scherzt das kühle Lüftchen
Um junge Wiesenblumen;
Weidende Rehe hüpfen
Fröhlich am Bach.
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Heil mir! nun bin ich am Ziel!
Heil mir! da ist der Sänger!
Götter! da ist die Harfe! durstig
Trink' ich all' ihre Töne auf.
Vergieb dem Bardensohne,
Vergieb, du Bindengeschmückter!
Wer bist du?
Druide mit der gold'nen Sichel
In deinem Priestergürtel!
Wer bist du? Sänger Josephs!
Du lächelst, theurer Sänger!
Aber ich kenne die Harfe;
Und nun kenn' ich dich, Sined!
Den Freund an Ossians Busen,
Dem er am Abend
Seiner Augen 2 die Harfe ließ.
O singe, singe
Joseph den Frühgeliebten,
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Wie er im Frieden groß
Segen um sich, und über sich hat!
O singe, singe,
So lange diesseit Walhallas
Er seine Schritte verweilt,
Joseph's Kriegsgesang nicht!
Zwar wie der Adler,
Liegt er am kühlen Mondenlicht,
Brütend über seinen Geliebten,
Und scheint in sanften Träumen zu ruhn;
Aber waget der Gey'r, waget der Habicht sich
Seinen Geliebten zu droh'n, hui! dann erhebt er sich,
Und wird hoch aus der Gegend des Mond's
Seinen Räuber herunterstürzen! –
Drum singe, singe,
Daß er bis an das Morgenroth
Ueber seinen Geliebten ruh't! –
Aber ach! kenn' ich denn nicht,
Sined! Ossians Harfe,
Die vom Rauschen der Speere,
Vom Säuseln des Schwertes gerne begleitet ward!
Wie der krieg'rische Jüngling
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Des dauernden Friedens satt,
Wird sie, wenn du ein Friedenslied willst,
Harte Triumphtöne geben.
Aber dann singe von Joseph nicht!
Trage dein Harfenspiel tief in den Eichenwald;
Geh' zu dem Grabe Dauns, dort, wo die Fahnen weh'n,
Dort, wo die Kriegesdonner harren,
Singe, dort singe den Ruhm, den er in mancher Schlacht
Auf die Gebote Theresiens
Der Heldenmutter Josephs ersiegte. 3

Fußnoten

1 Von Kretschmann aus Zittau. Es wird zum Verstehen des folgenden Gesangs nothwendig.

2 Im Tode.

3 Sined wußte lange nicht, wem er dieß schöne Lied zu verdanken hatte. Endlich erfuhr er es, da entstand der folgende Gesang.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Denis, Michael. Gedichte. Gedichte. Rhingulphs Lied. Rhingulphs Lied. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-7E11-3