14. Die gläserne Kugel.

Mündlich in Seesen.


Es war einmal ein König, der hatte seine Gemahlin sehr lieb, und die Königin liebte ihn von ganzem Herzen wieder; sie hatten aber kein einziges Kind, und darüber waren sie traurig. Nun begab sich's eines Tages, daß der liebe Gott ihr Bitten erhörte und der Königin einen kleinen Sohn schenkte; die Kammerfrau aber, die eine böse Hexe war, bemalte und bewickelte ein Stück Holz wie ein Kind, legte es in die Wiege und brachte den Prinzen in eine Fischerhütte. Als der König hereinkam, um seine Gemahlin und seinen Sohn zu begrüßen, fand er das Stück Holz, schüttelte mit dem Kopfe und gieng traurig wieder fort; die Königin aber weinte und wäre fast gestorben vor Schreck. Nach einem Jahre bekam sie wieder einen kleinen Sohn, und dießmal legte die Kammerfrau ein Bund Schwefelhölzer in die Wiege, während sie auch diesen Prinzen in die Fischerhütte brachte. Der König wurde nicht nur traurig, sondern auch zornig, und die Königin rang lange mit dem Tode. Wieder nach einem Jahre genas sie eines dritten Sohnes, und als der König hereinkam und statt eines Kindes eine Bierflasche fand, welche die boshafte Kammerfrau in die Wiege geschoben hatte, da ergrimmte er und ließ die Königin durch einen Jäger ins Gefängnis[49] abführen. Des freute sich die alte Hexe und hoffte, nun solle ihre Tochter Königin werden; das gelang ihr aber nicht, da der König trauriger war als seine Gemahlin, die sich ihrer Unschuld tröstete, so kümmerlich es ihr auch im Kerker gieng.

Unter der Zeit wuchsen die drei Prinzen in der Fischerhütte heran und meinten, sie wären die Söhne des alten ehrlichen Fischers, und als dieser starb, weinten sie, als wenn ihr rechter Vater gestorben wäre, erbten dankbar sein Vermögen, das aus der ärmlichen Hütte, aus Netzen und Angeln bestand, trieben sein Handwerk nach wie vor und waren ehrlich und fleißig und deshalb heiter und guter Dinge. Eines Tages, als die beiden ältesten Netze flickten und der jüngste die Küche hatte, trat ein Greis in die Hütte, das war ein Zwerg, und sagte: »Habt ihr nicht Lust, die arme Königin zu erlösen?« und erzählte ihnen deren Leidwesen, wie der König sie verstoßen habe und nun meine, sie sitze in einem ordentlichen Gefängnis, wie aber die böse Kammerfrau sie mit hartherzigen Kriegsleuten umgeben habe, die sie fortwährend peinigen müßten. Das rührte ihr gutes Herz, und obgleich alle drei hinwollten, so ließen sie doch dem ältesten den Vorrang. »Ich gehe hin«, sprach er, und der Greis gab ihm ein Pferd und eine gläserne Kugel und sagte: »Setz dich aufs Ross und reite der Kugel nach; sieh dich aber nicht um, was dir auch widerfahren möge.« Der Prinz versprach es, saß auf und folgte der Kugel, die in stetem Laufe vor ihm hinrollte; der Zwerg aber war plötzlich verschwunden. Als er eine Weile geritten war, kamen viele Leute hinter ihm her und schrieen: »Wo willst du hin? Wo willst du hin?« Neugierig sah er sich um und war eine steinerne Bildsäule; und das hatte die böse Hexe gethan. – Am andern Tage kam der Greis wieder in die Fischerhütte und sagte zu dem zweiten Königssohne: »Dein Bruder wird wohl nicht wiederkommen; willst du die Königin erlösen?« Er war sogleich willig dazu, und der Zwerg fuhr fort: »Setz dich aufs Ross und reite dieser gläsernen Kugel nach; sieh dich aber nicht um, sieh dich nicht nm, was dir auch widerfahren möge!« Der Prinz versprach es, saß auf und folgte der Kugel, die in stetem Laufe vor ihm hinrollte. [50] Als er eine Weile geritten war, kam ein blanker Reiter hinter ihm hergesprengt und rief: »Halt! ich sollte dir noch was Wichtiges bestellen!« Neugierig sah er sich um und war eine steinerne Bildsäule; und das hatte die böse Hexe gethan. – Am andern Tage kam der Greis wieder in die Fischerhütte und sagte zum jüngsten Königssohne: »Deine Brüder werden wohl nicht wiederkommen; willst du die Königin erlösen?« Er war sogleich willig dazu, und der Zwerg fuhr fort: »Setz dich aufs Ross und reite dieser gläsernen Kugel nach; sieh dich aber nicht um, sieh dich ja nicht um, was dir auch widerfahren möge!« Der Prinz versprach es, saß auf und folgte der Kugel, die in stetem Laufe vor ihm hinrollte. Als er eine Weile geritten war, kamen viele Leute hinter ihm her und riefen dieß und das; er sah sich nicht um. Jetzt hörte er's hinter sich raßeln wie von geharnischten Rittern, und allerlei verschiedene Stimmen spotteten und höhnten ihn; er sah sich nicht um, und die Kugel rollte immer vor ihm auf. Zum drittenmal ward es laut hinter ihm und ein wahrer Höllenlärm; er sah sich nicht um, und die Kugel rollte immer vor ihm auf und rollte immer geschwinder und geschwinder. Plötzlich ward es still hinter ihm wie im Grabe, und plötzlich blieb die Kugel liegen, und er hielt am Thor eines wolkenhohen Thurmes. Und siehe! die Kugel zerplatzte, und aus ihr sprang der Zwerg. Freundlich gieng dieser auf den Königssohn zu, gab ihm einen Zauberstab und sagte: »Wo du Lebendiges mit diesem Stabe berührst, das schläft sofort ein; kein Thor aber und keine Kette giebt es, die nicht aufsprängen, so du das Stäbchen daran hältst.« Als der Königssohn es an das große Gitterthor hielt, sprang es in der That krachend auf; ebenso öffnete es ihm die Thüren zu elf Zimmern, in welchen er nichts Lebendiges antraf. Jetzt hielt er den Stab an eine neue Thür; sie sprang auf, und er befand sich in einem großen Saale, in deren Mitte ein ganz kleines Haus stand. Bewacht wurde das Haus von vielen hundert Kriegsleuten, welche von der Hexe hieher gestellt waren; sie drangen ingrimmig auf ihn ein und wollten ihn aufspießen, da berührte er flink ihre Speere mit seinem Zauberstabe, und alle die gewaltigen [51] Kriegsleute standen sogleich machtlos da wie nickende Kornähren und schliefen, und ein Kind hätte sie köpfen können. Nun gieng er in das Haus, und obgleich er nicht wußte, daß die bleiche Königin seine Mutter sei, fühlte er es doch beinahe, besonders als sie ihr Haupt weinend an seine Brust lehnte und sagte: »Ich danke dir; du hast mich von großem Leid erlöst!« Eilig giengen sie durch die Reihen der schlafenden Soldaten und durch die übrigen Zimmer und trafen vor dem Thore den hülfreichen Zwerg an, der alles so wohl gemacht hatte. Als sie ihm nun danken wollten, besonders die Königin, antwortete er: »Laßt das sein; ich selber habe meine Freude daran.« Hierauf wandte er sich zu dem Prinzen und sagte: »Du hast ein Werk vollführen helfen, das ich aus Liebe zur Königin und aus Haß gegen die böse Hexe, meine alte Feindin, jahrelang vorbereitet habe; dafür wünsche dir, was du willst, es soll dir werden.« »So laß meine Brüder wiederkommen!« sagte der Prinz, und sie waren da. »Wünschest du dir weiter nichts?« fragte der Greis. »Ich danke«, versetzte der Königssohn. »So will ich ein übriges thun«, murmelte der Zwerg. Und er gieng mit ihnen zum König und sprach zu ihm: »Ich bringe dir deine edle Gemahlin und deine drei Söhne; die Kammerfrau ist eine trügerische Hexe und hat auch dich aufs schändlichste belogen und betrogen.« Als sie nun eben noch beim Umarmen waren und ihrer Freude kein Maß zu finden wußten, kreischte es draußen, und die Hexe kam hereingestürzt und schrie, und die Haare flogen ihr nur so um den Kopf, und schrie: »Wer hat die Königin gestohlen und meine schmucken Jungen eingeschläfert?« »Ha, Unthier«, sprach der Zwerg, »kennst du diesen Stab?« Sie wollte ihm denselben aus der Hand reißen; bei der ersten Berührung indes schlief sie ein, sank zu Boden, und der Zwerg zog ein Schwert und hieb ihr mit einem einzigen Schlage das häßliche Haupt von den Schultern. Damit war er verschwunden. Nach einer Weile reichte der König seiner Gemahlin die Hand und bat um Verzeihung; »ich habe dir nie gegrollt«, versetzte sie, »ich wußte, du handeltest wider deinen Willen.« Nun wurde große Freude im Schloße und [52] im ganzen Lande; die drei Prinzen holten sich auch jeder bald eine schöne Prinzessin zur Frau, und nach dem Tode des alten Königs erhielt der jüngste Sohn das Reich. So wünschten es auch seine Brüder.


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TextGrid Repository (2012). Colshorn, Carl und Theodor. 14. Die gläserne Kugel. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-56CF-4