72. Hans Clauert's Lügenmärchen
oder:
Wie man die Kinder vom Schlaf ermuntert und wacker macht.

Hans Clawerts Werckl. Hist., beschrieb. durchBartholomeum Krüger. 1591.


Hans Clauert pflegte oftmals von sich selber zu sagen:

»Als ich ein kleines Kindlein war und oftmals ersahe, daß unsere Nachbarskinder aus dem Holze kamen und junge Vöglein [194] nach Haus brachten, die sie aus den Nestern genommen hatten; gedacht' ich auch einmal in den Wald zu gehen und Vogelnester zu suchen. Da ich aber in den Wald kam, sah ich ein kleines Vögelein aus einem Baum fliehen. Ich gieng hinzu; da fand ich ein so kleines Löchlein, daß ich kaum einen Finger hineinbringen mochte, und als ich den Finger hineinsteckte, fiel ich mit dem ganzen Leib in den Baum hinab. Darunter fand ich einen Teich, darein gebratene Fische giengen, und über dem Teiche war ein Butterberg, darvon die Butter durch den warmen Sonnenschein herab auf die gebratenen Fische troff. Derselben Fische aß ich mich so satt, daß ich aus dem Baume nicht wieder kommen konnte, lief derhalben heim, holte eine Barte und hieb mich aus dem Baum heraus. Doch war mir's leid, daß ich der gebratenen Fisch' nicht etliche mit mir genommen, darvon ich hätt' rühmen mögen. Da aber trug sich's zu, daß am Wege ein großer Haufen Tauben saß; darunter warf ich, daß die Federn so dick blieben liegen, daß ich meine Barte nicht wiederfinden konnte. Ich lief eilends nach Haus, holte Feuer und zündete die Federn an; da verbrannte die Barte, und der Stiel blieb liegen. Weil ich also zu meinen Eltern nicht wieder kommen durfte, begab ich mich auf die Wanderschaft und kam zu einem Brunnen. Da hätte ich gerne getrunken, wußte doch nicht, worin ich Waßer schöpfen sollte; weil mir aber als einem gar jungen und kleinen Kinde die Hirnschalen noch nicht recht zusammengewachsen waren, nahm ich den halben Theil derselben vom Kopf herab, schöpfte Waßer darein und trank daraus. Es schmeckte mir auch das Waßer so wohl, daß ich darüber entschlief; und da ich erwachte, war es fast Abend worden. Dessen erschrak ich sehr, lief ganz unbesonnen darvon und kam in ein Dorf. Da drosch ein Bauer die Erbsen auf dem Balken, und das Stroh fiel herab, die Erbsen aber blieben auf dem Balken liegen. Dessen verwunderte ich mich sehr und fragte den Bauern, wie solches käme, daß die Erbsen auf dem Balken blieben; worauf er mich fragte, wie ich mit dem halben Kopfe daher käme. Da gedacht' ich erst an meine Hirnschale, lief alsbald zurück, fand sie auch und sieben Enteneier [195] darin. Dieselben legte ich unter eine Henne und ließ sie ausbrüten; da ward ein Pferd daraus, sieben Meilen lang. Mit demselben verdiente ich viel Geld; denn wenn die Leute über Land reisen wollten und am Kopf aufsaßen, und das Pferd sich nur umwandte, so waren sie vierzehn Meilen weg. Einsmals hatte ich etliche vom Adel gedinget, die gern eilends wären an ihren bestimmten Ort gewesen; und als sie fast hin waren, trug sich mit dem Pferde, welches sehr gut zu verdauen pflegte, was zu, es wandte sich darnach um und brachte die Edelleute noch eins so weit zurück, als wo sie zuvor sich aufgesetzt hatten, derhalben sie vor Zorn mein Pferd mitten entzwei hauen thäten. Dem wußte ich nicht beßer zu helfen, als daß ich Weiden nahm und band das Pferd darmit wieder zusammen. Die Weiden bekleibeten in dem Pferde und wuchsen so sehr, daß ein ganzer Wald auf dem Pferde ward, daß auch die, so darauf ritten, Sommerzeit in kühlem Schatten saßen, wodurch mir das Pferd hernach viel mehr erwarb als zuvor; und gegen den Winter ließ ich die Weiden alljährlich verhauen und kaufte aus demselben Holze so viel Geld, daß ich auf den heutigen Tag noch einen Zehrpfennig habe. Sonst wäre ich längst zum Bettler worden.«

Das war er nämlich.


Solchergestalt pflegte Hans Clauert auch wohl zu sagen:

»Als ich einmal zu Wittenberg war, gedacht' ich zu meinen guten Freunden gen Leipzig zu wandern; und da ich jenseit Kemberg in die diebische Heiden kam, war der Schnee so groß, daß ich wieder umzukehren Willens war. Jedoch ersahe ich einen Steig, der wohl gebahnet und betreten war; demselben folgete ich nach, der Hoffnung, er würde mich wieder zum rechten Wege bringen. Als ich aber nicht weit fürbaß gegangen war, fand ich einen ganzen Haufen Leute bei einander sitzen, die hatten Gesottenes und Gebratenes, auch bei sich eine Tonne Bier stehen und hielten Mahlzeit, hießen auch mich niedersitzen und gaben mir Eßen und Trinken. Ich sahe sie für Jäger an, weil sie [196] ihre Pferde an die Bäume geheftet hatten. Da aber alles ausgegeßen und ausgetrunken war, stießen sie den einen Boden aus der Tonnen, ergriffen mich und sprachen, ob ich lieber sterben oder in die Tonne steigen wollte; daraus ich wohl vernahm, daß es Räuber waren. Was sollt' ich armer gefangener Tropf machen, ich mußte unter zweierlei Bösem das beste erwählen, stieg in die Tonne und ließ mich verspunden. Da nun solches geschehen, sprangen sie auf ihre Pferde und ritten darvon und ließen mich also in der Tonnen liegen. Darein verhorchte ich die ganze Nacht, bis des andern Morgens die hungerigen Wölfe kamen und die Knochen auffraßen, so die Räuber weggeworfen hatten. Da griff ich zum Spundloch hinaus und erhaschte den einen Wolf beim Schwanz und hielt denselben mit beiden Händen gar fest. Er lief vor Schrecken durch das hohe Heidenkraut und schleifte mich mit der Tonnen hinter sich her, bis ich endlich einen Fuhrmann erhörte; den schrie ich an und bat um Errettung, und er kam mir treulich zu Hülfe, schlug den Wolf mit einem eisern Flegel zu Tode und die Tonne entzwei, darinnen ich lag. Also ward ich errettet. Und dem Wolfe zogen wir die Haut abe, verkauften sie zu Wittenberg und bekamen so viel Geld dafür, daß ich meinestheils noch heutigestags darvon zu zehren habe.«


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TextGrid Repository (2012). Colshorn, Carl und Theodor. 72. Hans Clauert's Lügenmärchen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-56AF-C