40. Das graue Männchen.

Mündlich in Vollbüttel.


Es war einmal ein kleines herziges Mädchen, das hatte eine böse, böse Stiefmutter und mußte alle Tage ins Holz, um dürre Zweige zu suchen, und brachte es einmal ein kleines Bündel heim, so bekam es viele Schläge und wenig Brod. Einmal hatte es ein Stück mitbekommen, das war nach einem blanken Thaler zugeschnitten, und war gerade ebenso groß und dick, und das Kind dachte bei sich: »Sollst erst suchen und sammeln und das Eßen aufsparen bis auf den Heimweg«; und es suchte und sammelte, und der kalte Wind wehte ihm durch die dünnen und zerrißenen Kleider. Als es da nun stand und in die Händchen blies und sie rieb und bitterlich dabei weinte, denn es war Wintertag, kam ein graues Männchen daher und sagte: »Ich bin hungerig; gieb mir ein bißchen Brod!« Das graue Männchen aber sah so kläglich aus, daß das Mädchen sich nicht lange besann und ihm sein Stück Brod gab, welches so groß und so dick war wie ein Thaler; und das Männchen bedankte sich nicht und verschwand. Weil aber dem Mädchen die dünnen Finger so steif waren, konnte es nur wenig dürre Zweiglein brechen, und abgefallene fand es gar nicht mehr, da es heftig schneite, und der [133] Schnee alles bedeckte; so bekam es denn des Abends Schläge und mußte hungerig in das leere Bett. Am folgenden Tage gab ihm die Stiefmutter ein Stück Brod, das war nach einem blanken Gulden zugeschnitten und war gerade ebenso groß und dick, und das Kind dachte: »Sollst erst Zweige brechen und alsdann eßen;« und es brach, so viel es nur vermochte. Es schaffte jedoch nicht viel, denn die Händchen waren ihm von der Kälte gelähmt; und auf der Erde fand es gar nichts, denn der Schnee lag hoch und war oben hart gefroren. Als es da nun stand und bitterlich weinte, kam wieder das graue Männchen daher und sagte: »Ich bin hungerig; gieb mir ein bißchen Brod!« Es sah aber wieder so kläglich aus, daß ihm das Mädchen ohne Zaudern sein Stück Brod gab, welches so groß und so dick war wie ein Gulden; und das Männchen bedankte sich nicht und verschwand. Dießmal brachte das Kind nur ganz wenig Reiser heim, erhielt eine fürchterliche Strafe und mußte hungerig ins leere Bett. Den dritten Tag bekam es ein Stück Brod, das war nach einem blanken Groschen zugeschnitten und war gerade ebenso groß und dick; es war aber grimmig kalt, der Schnee knirschte unter den Füßen, und die Wölfe heulten vor Frost und vor Hunger; und das Mädchen dachte: »Sollst erst Zweige brechen und alsdann eßen.« Es konnte indes nicht ein einzig Zweiglein brechen, so matt war es und so starr vor Kälte; und als es da nun stand und bitterlich weinte, kam wieder das graue Männchen und sagte: »Ich bin hungerig; gieb mir ein bißchen Brod.« Und das Mädchen gab ihm sein Stück, welches so groß und so dick war wie ein Groschen. Da bedankte sich das graue Männchen, holte aus dem Busch einen warmen Mantel und hieng ihn dem Mädchen um, brachte ihm in einer goldenen Schale eine warme Suppe und gab ihm einen goldenen Löffel in die Hand. Und das Mädchen weinte und aß sich satt. Hierauf sprach das graue Männchen: »Weil du so gut gewesen bist, will ich dir jemanden schicken, über den du dich freuen sollst;« und es verschwand. Das Mädchen aber gieng nach Hause; und die Stiefmutter nahm den Mantel und die goldenen Sachen und gab sie ihrer rechten Tochter, und [134] als sich da alles in schlechte Dinge verwandelte, erhielt die Stieftochter noch schlimmere Strafe und mußte ins leere Bett; und sie betete zum lieben Gott und schlief ein.

Sie hatte aber kaum die Augen zugethan, so sprang eine weiße Katze in die Kammer und aufs Bett; und als das Mädchen erwachte und sich erschrak, sprach die Katze: »Fürchte dich nicht; ich thue dir nichts.« Und weil sie so warm war, nahm das Mädchen sie in den Arm und freute sich; denn seit dem Tode der Mutter hatte es immer allein schlafen müßen, und da war es im Winter immer so kalt im leeren Bett gewesen. Und das Mädchen streichelte die weiße Katze, und jedesmal leuchtete sie hell auf, und jedesmal sprang ein blankes Goldstück auf das zerrißene Brautkleid der seligen Mutter, mit dem es zugedeckt war. So gieng es eine volle Stunde, da sprach die Katze: »Ich muß nun fort; sammle das Gold und verwahre es.« Damit verschwand sie. Am andern Morgen sammelte das Mädchen alle Goldstücke und verwahrte sie; und als es ins Holz kam, um Zweige zu holen, lag ein gutes Bündlein da, und daneben stand eine goldene Schale voll warmer Suppe, und in der Schale befand sich ein goldener Löffel. Es aß sich satt, nahm Holz und Geräth mit, und als sich in den Händen der Stiefschwester das Gold wieder in schlechte Sachen verwandelte, bekam es wieder Strafe und wurde ins leere Bett geworfen. In der zweiten und in der dritten Nacht war es wieder so wie in der ersten und am zweiten Tage wie am ersten; als aber die weiße Katze in der dritten Nacht fortwollte, sprach sie: »Morgen früh sammle alle Goldstücke, sag keinem etwas davon und geh heimlich weg; so wird alles gut.« Das Mädchen sammelte am andern Morgen die Goldstücke und wollte fort; da indes dachte es: »Mußt doch von Mutter und Schwester Abschied nehmen!« Als diese aber das viele Gold sahen, nahmen sie es für sich, und plötzlich waren es lauter schlechte Sachen; da stieß die Stiefmutter das arme Mädchen aus dem Hause, trat es mit Füßen und jagte es hinaus in den Schnee und in den Sturm.

Jammernd irrte es draußen umher und gieng in den Wald und gieng immer weiter und stieg zuletzt auf einen Berg, der im [135] Walde lag. Hier schlief es ein. Und als es erwachte, konnte es nicht aufstehen; denn es befand sich auf dem Berge, in welchem die Zwerge wohnten. Und es schlief wieder ein. Da war es ihm, als ob ein schöner Knabe käme und trüge es auf seinen feinen weißen Händchen den Berg hinab. Als es die Augen aufthat, da schien es ihm wie ein Traum gewesen zu sein und noch zu sein; es irrte sich aber: ein schöner Zwerg hatte es wirklich in den Berg geholt. Da war es nun in einem großen goldenen Saale, hatte viele kleine Kinder um sich, und auf einem goldenen Throne saß das graue Männchen und war freundlich gegen alle. Und als sie gegeßen und getrunken hatten, giengen sie auf eine große Wiese und spielten und tanzten; das graue Männchen jedoch sah nicht zu: das gieng aus dem Berge in die Welt, um andere gute Kinder aufzusuchen, die viel Leiden hatten, und sie in das goldene Schloß zu holen oder ihnen sonst behülflich zu sein.

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TextGrid Repository (2012). Colshorn, Carl und Theodor. Märchen und Sagen. Märchen und Sagen aus Hannover. 40. Das graue Männchen. 40. Das graue Männchen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-5625-2