Phidile

Ich war erst sechszehn Sommer alt,
Unschuldig und nichts weiter,
Und kannte nichts als unsern Wald,
Als Blumen, Gras, und Kräuter.
Da kam ein fremder Jüngling her;
Ich hatt ihn nicht verschrieben,
Und wußte nicht wohin noch her;
Der kam und sprach von Lieben.
Er hatte schönes langes Haar
Um seinen Nacken wehen;
Und einen Nacken, als das war,
Hab ich noch nie gesehen.
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Sein Auge, himmelblau und klar!
Schien freundlich was zu flehen;
So blau und freundlich, als das war,
Hab ich noch keins gesehen.
Und sein Gesicht, wie Milch und Blut!
Ich hab's nie so gesehen;
Auch, was er sagte, war sehr gut,
Nur konnt ich's nicht verstehen.
Er ging mir allenthalben nach,
Und drückte mir die Hände,
Und sagte immer Oh und Ach,
Und küßte sie behende.
Ich sah ihn einmal freundlich an,
Und fragte, was er meinte;
Da fiel der junge schöne Mann
Mir um den Hals, und weinte.
Das hatte niemand noch getan;
Doch war's mir nicht zuwider,
Und meine beide Augen sahn
In meinen Busen nieder.
Ich sagt ihm nicht ein einzig Wort,
Als ob ich's übelnähme,
Kein einzigs, und – er flohe fort;
Wenn er doch wiederkäme!

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Claudius, Matthias. Phidile. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-53E6-6