Die letzten Sonette

1

»Du sangest sonst von Frauen-Lieb und Leben,
Mein trauter Freund, mir schöne Lieder vor;
An deinen lieben Lippen hing mein Ohr,
Ich fühlte mich in Lieb und Lust erbeben.
Du singst nicht mehr; – um deine Lyra weben
Die Spinnen, dünkt mich, einen Trauerflor;
Sprich, wirst du nie die Lust, die ich verlor,
Du süßer Liedermund, mir wiedergeben?«
Ich trage selbst – still, still! mein gutes Kind –
Geduldig und entbehre sonder Klage;
Bin müde jetzt, verklungen ist mein Singen.
Ein Sänger war ich, wie die Vögel sind,
Die kleinen, die nur zwitschern ihre Tage. –
Der Schwan nur... – Reden wir von andern Dingen!

2

Ich fühle mehr und mehr die Kräfte schwinden;
Das ist der Tod, der mir am Herzen nagt,
Ich weiß es schon und, was ihr immer sagt,
Ihr werdet mir die Augen nicht verbinden.
Ich werde müd und müder so mich winden,
Bis endlich der verhängte Morgen tagt,
Dann sinkt der Abend und, wer nach mir fragt,
Der wird nur einen stillen Mann noch finden.
[495]
Daß so vom Tod ich sprechen mag und Sterben,
Und doch sich meine Wangen nicht entfärben,
Es dünkt euch mutig, übermutig fast.
Der Tod! – der Tod? Das Wort erschreckt mich nicht,
Doch hab ich im Gemüt ihn nicht erfaßt,
Und noch ihm nicht geschaut ins Angesicht.
[496]

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Chamisso, Adelbert von. Die letzten Sonette. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-4EA4-5