[190] Morgen-Lied

Seele, du must munter werden,
Denn der Erden
Blickt hervor ein neuer Tag.
Komm, dem Schöpffer dieser Strahlen
Zu bezahlen,
Was dein schwacher Trieb vermag.
Doch, den grossen Gott dort oben
Recht zu loben,
Wollen nicht nur Lippen seyn;
Nein! es hat sein reines Wesen,
Auserlesen,
Hertzen ohne falschen Schein.
Deine Pflicht kanst du erlernen
Von den Sternen,
Deren Gold der Sonne weicht.
So laß auch vor Gott zerrinnen,
Was den Sinnen
Hier im Finstern schöne deucht.
Wer Ihn ehret, wird mit Füssen
Treten müssen
Lust und Reichthum dieser Welt.
Wer ihm irrdisches Ergetzen
Gleich will schätzen,
Der thut, was Ihm mißgefällt.
Schau, wie das, was Athem ziehet,
Sich bemühet
Um der Sonnen holdes Licht;
Wie sich, was nur Wachsthum spüret,
Freudig rühret,
Wenn ihr Glantz die Schatten bricht.
[191]
So laß dich auch fertig finden,
Anzuzünden
Deinen Weyrauch, weil die Nacht,
Da dich Gott vor Unglücks-Stürmen
Wollen schirmen,
Nun so glücklich hingebracht.
Bitte, daß er dir Gedeihen
Mag verleihen,
Wenn du auf was gutes zielst;
Aber, daß Er dich mag stören,
Und bekehren,
Wenn du böse Regung fühlst.
Es wird nichts so klein gesponnen,
Das der Sonnen
Endlich unverborgen bleibt:
Gottes Auge sieht viel heller,
Und noch schneller,
Was ein Sterblicher betreibt.
Denck, daß Er auf deinen Wegen
Stets zugegen,
Daß Er allen Sünden-Wust,
Ja die Schmach verborgner Flecken
Kan entdecken,
Und errathen, was du thust.
Wir sind an den Lauff der Stunden
Fest gebunden,
Der entführt, was eitel heißt;
Weil er dein Gefäß, O Seele,
Nach der Höle
Eines Sterb-Gewölbes reißt.
Drum so seuffze, daß mein Scheiden
Nicht ein Leiden,
Sondern sanftes Schlaffen sey,
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Und daß ich mit Lust und Wonne
Seh die Sonne,
Wenn des Todes Nacht vorbey.
Treib indessen Gottes Blicke
Nicht zurücke,
Wer sich nur nach ihm beqvemt,
Den wird schon ein frohes Gläntzen
Hier bekräntzen,
Das den Sonnen-Strahl beschämt.
Kränckt dich etwas diesen Morgen,
Laß Gott sorgen,
Der es, wie die Sonne, macht,
Welche pflegt der Berge Spitzen
Zu erhitzen,
Und auch in die Thäler lacht.
Um das, was Er dir verliehen,
Wird Er ziehen
Eine Burg, die Flammen streut.
Du wirst zwischen Legionen
Engel wohnen,
Die der Satan selber scheut.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Canitz, Friedrich Rudolph Ludwig von. Gedichte. Geistliche Gedichte. Morgen-Lied [1]. Morgen-Lied [1]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-4A2A-6