An Daphne

Kannst du den Schimmer deiner Stadt
Mit mir, o meine Daphne, fliehen?
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Aus Sälen voller Prunk und Staat
In eine kleine Hütte ziehen?
Kannst du für Thorenlob zu groß
Der eitlen Zirkel dich entwöhnen,
Wo Glanz und Hoheit dich umfloß,
Wo du die schönste warst der schönen.
O Daphne, kannst du dich so leicht
Von jedem Stolz des Glückes scheiden?
Den Frost der deine Wangen bleicht,
Den heißen Strahl des Mittags leiden?
Kann diese weiche weiße Hand
Zu harter Arbeit sich gewöhnen,
Die nur der Freude Kränze wand,
Wo du die schönste warst der schönen?
O Daphne, kann dein zartes Herz
Gefahr und Unglück mit mir theilen?
Kannst du den Gram, kannst du den Schmerz
Durch deine sanfte Stimme heilen?
Wenn halbgebrochen um dich her
Nur meine kranken Seufzer stönen,
Denkst du an jenen Ort nicht mehr,
Wo du die schönste warst der schönen?
Und wird des Todes kalter Hauch
Mein leidendes Gesicht entstellen,
Kannst du mit diesem Lächeln auch
Des Grabes dunkle Nacht erhellen?
Fühlst du noch meinen lezten Blick?
Gibst meinem Staube deine Thränen?
Und denkst dahin nicht mehr zurück
Wo du die schönste warst der schönen?

Notes
Erstdruck in: Musenalmanach für 1773, Göttingen (Dieterich), dort unter dem Titel »An Daphne«. Hier nach einer jüngeren handschriftlichen Fassung mit dem Titel »Die Schönste der Schönen«.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Boie, Heinrich Christian. An Daphne. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-3BC8-C