[95] Das Lied vom verlornen Sohne

Auf den Hügel geht alleine
Vollmond unser Schäferknabe,
Geht an einem Tannenstabe,
Seine Schäflein fern alleine,
Ihn treibt der Sternenblick
Hin und zurück.
Lichte Augen reiner Frauen,
Wollet euch doch nicht verschleiern,
Lasset euch mit Inbrunst feiern,
Leuchtet ihm den Weg zu schauen,
Des Reinen Liebesblick
Deutet zum Glück.
Schüchtern sind die jungen Kinder
Lieber hinterm Wolkenschleier
Schämen sie sich vor dem Freier
Ihre Augen aus wie Sünder,
Er sucht nach Liebesblick
Hin und zurück.
Von dem leeren Himmels-Hügel
Sieht er zu dem Thale nieder,
Sieht sich selbst im Strome wieder,
In der Nixen Augen-Spiegel,
Es ging ein Liebesblick
Hin und zurück.
[96]
Hell hernieder zu den Schönen
Rief er: Süße Kühle, Lieben,
Wie ist mir die Zeit vertrieben,
Haar und Ohr durchzieht ein Tönen,
Im Auge Liebesblick,
Hin und zurück.
Spieglend werfen ihn die Schönen
Sich einander zu wie Bälle,
Flüsternd, winkend wie die Welle,
Well' auf Welle in dem Sehnen,
Sie werfen Liebesblick
Hin und zurück.
Zarter Knabe, zarte Glieder,
Zarte Mädchen, wild im Tanze,
Alle Sterne vor dem Glanze
Schlagen ihre Blicke nieder.
Es schlägt ein wilder Blick.
Liebe zurück.
Hoch und tief die Nixen schwingen.
Ewig tanzen, nichts erfassend,
Ewig suchen, um sich lassend,
Himmel kann nicht Erde zwingen.
Es geht nur Liebesblick
Hin und zurück.
Ach der arme Knabe klaget:
»Meine Schäflein sind verlaufen,
Und wie weit hab ich zu laufen,
Ach wie spät bin ich vertaget.
Es weist kein Sternenblick
Mich nun zurück.«
[97]
Weine nur, du alter Knabe,
Auch die Nixen sind verschwunden,
Bist ja sichelkrumm gewunden,
Wollen dich nicht länger haben,
Ein bessrer Lebensblick,
Sonnenglück.
Ach das will sein Herz ihm brechen,
Daß er sich so wild verschwendet,
Daß sich alles von ihm wendet;
Er will durch die Wolken brechen,
Da hält der Sonne Blick
Ihn scheu zurück.
Sehet ihrer Strahlen Fülle,
Faßt und fühlet alles Leben,
Alle Stäubchen lusterbeben,
Sie nur steht ein fester Wille,
Sie strahlet Liebesblick
Allen zurück.
Darum steht er noch am Himmel
Wie ein Geist, sein eigner Schatten,
Dünn und weiß und im Ermatten
Wie der Wolken hell Getümmel.
Es strahlt sein letzter Blick
Hin und zurück.
Mutter Sonne ruft zum Armen,
Seht die Schuld, sie ist doch meine,
Daß ich dich so ganz alleine
Austrieb ohne viel Erbarmen.
Ein treuer Mutterblick
Schützte dein Glück.
[98]
So mit seinem letzten Blicke
Sieht er ihre stillen Grüße,
Fühlet ihre frommen Küsse,
Fühlt ein schmerzliches Entzücken.
So kehrt ein Liebesblick
Doch noch zurück.

Notes
Entstanden zwischen 1806 und 1808. Erstdruck in dieser Sammlung.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2011). Arnim, Ludwig Achim von. Das Lied vom verlornen Sohne. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-1366-C