[182] Die Völkerwanderung

Die Jungfrau thront auf weißen Bergen,
Die heil'ge Mystel in der Hand,
Die Tannen, eingekrümmt zu Zwergen,
Bedecken schwarz ihr ödes Land.
So zarte Schönheit sucht Vergnügen
In Einsamkeit beim Sternenkreis,
Und was die Götter künftig fügen,
Sieht sie im Spiegel auf dem Eis.
Darum ist sie auch weit verehret,
Sie ist der deutschen Fürsten Rath,
Und ihr Gestirne sie belehret,
Von nie gedachter künft'ger That.
Und traurig sieht sie auf der Haide
Der Menschen Träume wunderbar,
Der Hoffnung täuschend leere Freude,
Ihr ist die Zukunft offenbar.
Ihr streift das Gold der Wolkenzüge,
Mit kaltem Schauer um die Brust,
Die nordischen Gedankenflüge
Sind solch ein Schauer unbewußt.
Sie sieht das leere Spiel des Lichtes
Und sieht beglückt so manches Aug',
Die Sonne gleichen Angesichtes,
Geht ihr vorüber wie ein Rauch.
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Und alles scheint bei ihr zu leben
In ew'ger Unzerstörbarkeit,
Das Eingefrorne zu beleben,
Ist noch nicht kommen ihre Zeit.
Denn vieles kann sie nicht verstehen,
Ihr Stern ist stumm, ihr Spiegel blind,
Die Liebe nur kann Liebe sehen,
Nur Lieb' die Räthselwelt ersinnt.
Da kommt der Frühling hergeflogen
In stiller Nacht mit hohem Sinn,
Die Sonne ist mit ihm gezogen,
Wohl mir, daß ich geboren bin.
Des Frühlings Flügel seh ich schlagen,
Sie reißen auf das dürre Land,
Hervor sich alle Keime wagen,
Der Schnee ist auf den Berg verbannt.
Er hat den Wanderer erhalten,
Der in der Kälte niedersank,
Doch flieht ihn der, läßt sich nicht halten,
Dem Frühling klingt sein Lustgesang.
Der Sonne goldne Schale strömet
Ein zwitschernd Heer von Süden aus,
Der Frühling grün die Wälder krönet,
Er bringt den Mädchen manchen Strauß.
Das Murmelthier vom Winterschlafe
Erwacht zu einem muntern Tanz,
Der Mensch ist aller Wesen Affe,
Wie Blasen springt Gedankenglanz.
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Er kann nichts denken, kann nichts träumen,
Den Frühling sieht er immer an,
Er will nicht gern die Zeit versäumen,
Und doch das Schaun nicht lassen kann.
Bald opfern ihm des Volkes Schaaren,
Ein Festtag wird die weite Welt,
Und keiner kommt mehr zu erfahren,
Was ihm die Zukunft hat bestellt.
Die Jungfrau sieht sich ganz verlassen,
Des Berges Weg bewächst mit Moos,
Sie glaubt den Frühling nun zu hassen,
Und mach die Zauberwaffen los.
Sie sieht das Grün am Felsenrande:
»Er wähnt im Rausch der Herrschaft Glück,
Zerschmettert liegt er bald im Lande,
Wohin die Herrschaft trug sein Blick!«
Ein Panzerhemd aus Nebelgifte,
Die Lanze aus dem späten Reif,
Ihr Schild des kalten Nordwinds Düfte,
Ihr Ritterpferd der Vogel Greif.
So kommt die Zauberin gezogen,
O Frühling, du bist waffenlos,
Und unter Blumen auferzogen,
Die Brust dem Pfeil der Liebe bloß.
Die Völker eilen, ihn zu schützen,
Die Jungfrau hat sie bald zerstreut;
Nichts kann der Menschen Sorge nützen,
Der Frühling ist zur Flucht bereit.
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Der Frühling trauet seinen Flügeln,
Er neckt die schöne Kriegerin,
Sie drohet, stürmt von allen Hügeln,
Doch immer weicher wird ihr Sinn.
Sie weht auf ihn des Schnees Blüthen,
Er schüttelt leicht die falschen ab,
Doch die im Frühlingsschein erglühten,
Die Blüthen ziehn sie mit hinab.
Und über Felder, Wälder, Seen,
Und immer nach dem Süden zu,
Weiß sie den Frühling hinzuwehen,
Und hinter ihm ist Todtenruh.
Ihr Haß weiß selbst zu übersteigen
Die Alpen und den schnellen Rhein,
Und schon die fremden Ströme neigen
Nach Süden ihren grünen Schein.
Und Gold-Orangen in den Zweigen,
Oliven in dem bleichen Laub,
Mit breitem Blatt die süßen Feigen,
Der Düfte Geister-Blüthenstaub.
Vertreiben ihre Zaubersäfte:
Der Nebel steigt, der Reif zerfließt,
Der Nordwind giebt die wilden Kräfte
Dem Weine ab, der glühend fließt.
Verlassen von den Zauberwaffen,
Ihr Vogel Greif wird Nachtigall,
Sieht sie den Frühling muthig schaffen,
Die Liebe dringet durch das All.
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Sie stehet bei dem Meere stille,
Wo sich die Woge donnernd bricht,
So wild, so stolz war einst ihr Wille,
Bis ihr erschien des Frühlings Licht.
Sie meint, der Tod sei ihr geschworen,
Als sie den Jüngling nahen sieht,
In seiner Schönheit ganz verloren,
Sie seinem Arme nicht entflieht.
Der Jüngling spricht: »Mit gleichen Waffen
Sind wir gerüstet, du wie ich,
Doch, unterlieg' ich deinen Waffen,
Ja, wahrlich, dann bestrafe mich.«
Die Jungfrau spricht: »Sind unsre Waffen
Auch nicht in diesem Streite gleich,
So wird mein Muth doch Waffen schaffen,
Er machet unsre Waffen gleich.«
Die Scham giebt ihr die letzten Kräfte,
Doch spielend endet er den Streit,
Denn vielgeübt im Kriegsgeschäfte,
Ist jede Kunst für ihn bereit.
Bald liegt sie in dem weichen Moose,
Und fühlet nicht und athmet nicht,
Aus ihrem Blute eine Rose
Beschattet sie mit rothem Licht.
Der Frühling ist ihr Sieger worden,
Beginnt denn Liebe stets im Streit?
Sucht Frühling noch die Lieb' im Norden?
Dem Frühling nach zog Liebe weit.
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So sind die Römer hingezogen
In's wilde, alte deutsche Land,
Die Deutschen haben sie erzogen,
Bis sie von ihnen sind verbannt.
So sind dann Völker hingezogen
Vom deutschen Heerd zum Römerland,
Dem Frühling sind sie nachgezogen,
Den noch die Zaubermacht verbannt.
Als Sieger sind sie eingezogen,
Der Frühling nahm die Waffen ab,
Hat dich der Frühling auch betrogen,
Die Rose zeigt der Liebe Grab.
Und diese Rose dir zu pflücken,
Zieh ich in's warme Römerland,
Kann dich mein Lied auch nicht entzücken,
So sieh des Frühlings Vaterland.
Und das Eis auf allen Höhn,
Und das Eis im fernen Norden,
Wo der Frühling ward gesehn,
Ist zur Lust geschmolzen worden.
Und die Drachen sind verbannt,
Von den Bergen klingen Feste,
Dumpfe Wälder sind verbrannt,
Alle sind des Himmels Gäste.

Notes
Aus dem Roman »Ariels Offenbarungen«, Erstdruck 1804, dort unter dem Titel »Sieg des Frühlings«. Erstdruck der vorliegenden, erweiterten Fassung in dieser Sammlung.
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TextGrid Repository (2011). Arnim, Ludwig Achim von. Die Völkerwanderung. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-0864-5