Die Primitive
(Der Revolutionär benimmt sich ungewöhnlich.)

Nacht-Café, 4 Uhr.

An einem Tisch sitzen sieben »Vacirende« und erwarten den Morgen, den goldenen rosigen Morgen, wie die Touristen am Schafberg, am Rigi.

Aber hier ist wahrlich keine Bergesluft.

Der »Vacirende«, das ist die aus dem Geleise gehobene Maschine »Mensch«. Sie beginnt zu stolpern,[120] rast dahin, dorthin, thut unnütze Sachen, giebt Kraft aus, wofür, überschlägt sich und bleibt liegen, wie der Trunkene im Gassenkothe.

Diese Leute sitzen da, geben Geld aus, reden und reden und bringen Alles mit grosser Wichtigkeit vor und sind ganz betrunken.

Und gleich tragen sie Wetten an und erhitzen sich.

An einem anderen Tische sitzen die Fiaker. Die haben Alle eine stille, in sich gekehrte Rohheit. Selten, nie bricht das Gewitter los. Alles ist wie zusammengeschnürt. Ich glaube, es geht Alles an den Pferden aus. »Du Canaille – –!« Ein Fusstritt in den Bauch. Die Canaille sitzt aber drin, im Lokal – – oder anderswo. Das arme Thier ist nur der Repräsentant. Alle Leidenschaften fliessen in diesen Kanal »Pferd«.

Ein junges Mädchen mit einem wunderschönen bleichen Gesicht, lehnt an dem Tisch, an welchem ein junger bleicher Mann sitzt.

»Was haben Sie?!« sagte der junge Mann und berührte leise ihre schöne weisse Hand.

»Ich fürchte mich«, sagte das Mädchen.

»Was will der dort von Ihnen?!«

»Nichts – –! Ich glaube, er wird mich prügeln, wenn ich auf die Strasse komme. Ich traue mich nicht nach Hause. Ich brauche Keinen, der mich liebt –. Ich brauche Geld, schöne Kleider. Aber er wird mich prügeln – – –.«

»Kommen Sie mit mir« sagte der junge Mann und erhob sich.

Er hatte eine tiefe Sympathie für Die, die das [121] wahre aufrichtige Wort des Inneren verkünden, und sei es brutal, wie die Natur selbst.

»Ich brauche Keinen, der mich liebt – – ich brauche Geld, schöne Kleider.« Das entzückte ihn. Er liebte Diese, für die die Sprache Identität mit dem Gesammtorganismus war, ja, der tönend gewordene Gesammtorganismus selbst, nicht ein Instrument, wie die Flöte, die Klarinette, auf dem man beliebig spielen konnte, so oder so. Und dann legt man es weg. Man ist kein Flötist mehr. Niemand sieht es Dir an, was Du bist. Du wischst die Lippen ab und fertig. Ein Musiker bist Du – – kein Mensch! Der kann seine Musik nicht los werden, sich die Lippen abwischen – – –. Immer müssen sie sein Menschenthum singen, wenn auch ganz leise, dass kaum Einer es hört. Ist es brutal – – singe brutal!

Aber diese Cultivirten spielen, was Du willst.

Zuerst sei dein Wort Wahrheit! Daraus kann Schönheit erblühen – – kann.

So dachte er das. Ihm genügte die Basis »Wahrheit«.

»So bin ich«, sagte sie und das entzückte ihn.

Er dachte dann: »Es ist die Erde in der Kreideperiode. Was weiter?!«

So wurde er ihr Ritter, ihr Beschützer.

Sie hängte sich in ihn ein, schmiegte sich an ihn, aus Furcht vor »Petrucchio«. »Ich brauche Keinen, der mich liebt« murmelte sie.

Es war fünf Uhr Morgens.

Soll ich den Morgen in den Strassen beschreiben?!

[122] Diese arme schäbige Menschen-Frühwelt, die die süsse Bettwärme an die kalte Morgenluft abgiebt, für 30 Kreuzer, für 40, für 60?!

Aus den Bäckerläden strömt Dir ein wunderbarer Duft entgegen.

Was kann man da noch sagen?! Man ist nicht sehr fröhlich gestimmt.

Es ist ein Gegensatz mit Denen, welche die Sonne erwarten können, wenn sie weisses Licht, laue Strahlen in die Strassen schüttet – – –.

Er führte das junge Mädchen zu sich nach Hause.

Sein Zimmerchen war klein, aber es hatte eine »Individualität«. Erstens duftete es immer sehr stark nach Quittenäpfeln, welche in einer Ecke in einem Holzkübel lagen. Zweitens war es rein wie eine holländische Stube und die Fenster hatten wunderschöne breite Stores, à jour gestickt, wie alte gelbliche Brüsseler Spitzen. Drittens hing über dem Bett ein wundervoller Stich von E.v. Gebhardt's »Heiligem Abendmahl«. Über den Kopf des Judas in der halbgeöffneten Thüre war eine dicke goldene Münze geklebt, mit dem wundervoll gravirten Kopfe Spinoza's.

»Dieser tilgt die Schmach Jenes. Er deckt ihn mit seinem puren Golde, wetzt die Scharte aus.«

Das war der Sinn.

Der junge Mann nahm duftendes Kienholz und legte in dem breiten hellgrünen Ofen die Späne [123] auf. Dann zündete er an und legte lose gutes hartes Holz darauf.

Bald verbreitete sich laue Wärme und dann wurde es heiss, gemüthlich.

Das junge Mädchen sass splitternackt in der Ecke beim Ofen.

Der junge Mann sass an seinem Tische, ihr gegenüber und schrieb in ein Heft: »De pudore. Schamgefühl! Vielleicht ist es die Empfindung der Kluft zwischen dem, was Wir physisch sein sollten, könnten, und dem, was Wir noch sind. Wir trauern um unser eigenes Ich, das im Drang des Lebens verkrüppelt. Diese Trauer heisst ›Schamgefühl‹. Sieh' nicht her, Mensch, wie ich bin! Wir schämen Uns alles dessen, was unser Ich zerstört, die Entfaltung gehemmt hat. Es ist die Sehnsucht, dass wir noch nicht die ›Letzten‹, die ›Gott-Gleichen‹ sind – – –.«

Was verbirgst Du aber, wenn Du dein eigenes Ideal geworden bist, wenn Du in »That gewordener Idee« erstrahlst?!

Dann bist Du im Paradies wie einst und zeigst Dich nackt!

Das »Schöne« tödtet die »Scham«!

Es ist vielleicht ein Gefühl, das in Uns gelegt ist, damit wir es überwinden durch unsere Vollkommenheit.

Wenn Du das bist, was Du sein sollst, lasse die Hüllen fallen, Siegreicher!«

»Was schreiben Sie da?!« sagte das junge Mädchen.

[124] Er las es ihr vor, erklärte es. »Es kommt von Ihnen« sagte er, »ich habe es nur abgeschrieben.«

Sie sagte: »Sehen Sie, ich liebe meinen Leib, ich betrachte ihn als etwas Heiliges. Ich habe sehr viel Sorge und Rücksicht für dieses Gebilde. Zum Beispiel braucht es einen langen selbstendenden Schlaf, einfache, leicht verdauliche Nahrung und tausend andere Dinge. Wenn ich erwache, liegt mein Zimmer schon in einem guten warmen Dunst von Holzfeuer. In der Mitte des Zimmers steht eine grosse Wanne mit kaltem Quellwasser. Lustig springe ich aus dem Bette in das Wasser und liege da fünf Minuten. Dann zurück in's Bett. Ah, da dunste ich – – tausend Leben strömen in mir! Dann stehe ich auf. Das macht mir sehr viel Freude – – –. Später esse ich eine Hühnerbouillon mit drei eingesprudelten Eidottern, dann ein Seefischlein, dann Roquefort. Ich trinke nur Wasser, rauche nicht. »Sie sind der Typus einer Egoistin«, sagte einmal ein Herr zu mir. Aber wem mache ich denn Vergnügen, mir oder jenen, die dann denken: »Wenn Du das bist, was Du sein sollst, lasse die Hüllen fallen, Siegreiche!«?!«

Sie stand lächelnd da in ihrer Pracht – –!

Er küsste sie auf den Mund.

»Sie haben Geist« sagte er. Aber es war sein eigener.

Er sagte: »Sie haben einen Athem wie der Duft von gekochten, noch warmen, geschälten, süssen Mandeln.

Er dachte; »Dieser Athem ist die Consequenz [125] des Gesammtorganismus. Um dieses Athem's willen liebe ich Dich. Er ist ein Gotteszeichen, ein wahrer Gotteshauch: »So rein kann Alles an Uns werden!««

Es überkam ihn die »göttliche Frohheit« über das Vollkommene. Es ist wie das Aufjauchzen des Wanderers auf dem sonnigen Berggipfel – – – höher geht es nicht! Daher die Ruhe, der Friede, das Glück! Der erfüllte Wunsch Gottes – – es giebt nichts Heiligeres! Und dieser Wunsch bezieht sich auch auf jenen »schweren Träger der Seele«. Er werde schön! Man achtet ein schönes Gebilde, sucht ihm die Ewigkeit zu geben – – – aber das Unvollkommene, mag es verwüstet werden, entehrt! Was liegt daran?!

Dieser ideale Leib, dieser urreine Athem, lösten das schäbige Gefühl der Leidenschaft, des Triebes, in die grosse Empfindung der erlösten Welt auf.

So gingen sie schlafen wie Bruder und Schwester.

Als sie erwachte, sass er vor ihr. Es war drei Uhr Nachmittag. Sie war ganz rosig.

Das Zimmer lag in einem warmen Dunst von duftendem, knisterndem Fichtenholz.

In der Mitte stand eine glänzende Wanne mit kaltem Quellwasser.

Auf dem weiss gedeckten Tische lag in einer flachen Schüssel ein hellgrauer Branzin. In einem Glasschüsselchen flimmerte Aspik, wie Weintopas – –.

Auf einem silbernen Tellerchen lag ein weissgrünes Stück Roquefort.

[126] »Oh« sagte die Langschläferin erstaunt, »Sie sind gut!«

Sie badete fünf Minuten. Dann dampfte dieser blühende ideale Leib im Bett.

Dann setzte sie sich nackt an den Tisch und speiste.

Er bediente sie, wie der Leibjäger den König.

Zum erstenmale empfand diese »Primitive« einen Mann als einen Menschen – – –. Ihm war das heilig, was ihr heilig war – – – – ihr schöner Leib. Sie empfand eine Art von Berechtigung auf seine Pflege. Es war wie ein Hauch von Griechentum – – –. Zwischen dem, wie er es verstand und wie sie, war ein Zusammenhang. Es war nicht eine Komödie, die einer vor dem andern spielte. Es war Freiheit, Verständigung. Darum emfand sie für ihn! Ja, er war durch diese complicirte Auslegung des Primitiven in ihr fast ein Erzieher. Er gab dem »schönen Unbewussten« eine philosophische Basis, eine psychologische Auslegung. Er »erkannte« das Primitive! Es hiess: »Was macht es?! Gottes Schönheit hast Du!«

Wir können die Menschen nicht nach unserem Sinne formen, sondern nur nach ihrem. Ihr Ideal liegt in ihnen verborgen, nicht in Uns!

Man könnte fast sagen: Erziehen heisst »organischem Wachsthum lauschen.«

Aber diese Anderen wollen biegen, knicken, beschneiden, zerdrehen, brechen, zerstören – –! [127] Wen zerstören sie denn?! Sich selbst! Und dann jammern sie um ihre »gemordeten Ideale«.

Beim Abschied sagte das junge Mädchen: »Schenken Sie mir diese goldene Münze auf dem Bilde – – –«.

Das war Geldgier und Neugier zugleich. Sie wollte wissen, was dahinter war.

Er nahm das Bild aus dem Rahmen und löste die Münze ab. Da erblickte sie den Kopf des Judas.

»Auch ein Zerstörer – – –!« sagte sie.

»Wieso auch?! Es ist immer derselbe. Der liegt in Uns und der ›Andere‹ auch. Das verstehen Sie aber nicht. Immer ist Einer in Uns, der den ›Ideal-Menschen‹ in Uns verräth, verkauft, tödtet – – –!«

Sie nahm die Münze mit dem Kopte Spinoza's.

»Adieu« sagte sie und küsste ihn auf den Mund.

Er fühlte wieder diesen Athem, der nach heissen, geschälten, süssen Mandeln duftete.

»Adieu« sagte er.

Und dann hing er das Bild zurück an die Wand über sein Bett.

Da sassen wieder die todtraurigen Edlen mit ihrem todmüde gehetzten Edelsten, dieser Blüthe der ganzen Menschheit. Und Judas stand bleich in der halbgeöffneten Thüre, durch welche dämmerndes Frühlicht schimmerte. Der Morgen brach an – – –.

Es war aber nicht der Morgen, der anbrach – – es war die Nacht, die hereinbrach!

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TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Die Primitive. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-DC19-5