Keim einer Tragödie
(Der Revolutionär macht in Idylle.)

Als Er sie kennen lernte, war sie wie die Apfelblüthen. Ganz so. Aber sie wusste es nicht.

Und Er sagte zu ihr: »Sie sind wie die Apfelblüthen – – –.«

Abends sagte sie zu ihrer Mama: »Er sagte zu mir, ich sei wie die Apfelblüthen – – –.«

Die Mutter passirte wie im Fluge ihr ganzes Leben und sagte ruhig: »Reibe deine Hände mit Glycerin ein. Wirklich wie wenn Du am Felde arbeiten würdest – – –.«

Eines Tages sagte Er: »Kann man tausend Jahre so wegwischen?! Die Rasse liegt in den Händen – – –. Franz Liszt, Rubinstein, die Menter – – –.«

»Oh – –« sagte die Mutter der Apfelblüthe, »gerade Diese?! Natürlich, wenn man täglich zehn Stunden übt – – –!?«

Die Apfelblüthe kochte draussen eine Crême d'oranges für Ihn, schonte nicht ihre Hände.

»Nein, nach dem Kochbuche?! Keineswegs. Da verlasse ich mich ganz auf mein Genie. Nicht, Marie?!«

»Ja, Fräulein, aber zweieinhalb Dotter – – –.«

Das Fräulein fühlte: »Mein lyrisches Gedicht ist es an Ihn, welches ich verfertige!«

Er sagte eines Tages zu ihr: »Ihr Herz ist durchsichtig, wie ein Kristall. Ich sehe, wie es arbeitet.

[149] Es treibt wie eine Pumpe Güte und Milde in Ihren Gesammtorganismus. Sie – – –.«

Beim Souper aber sagte Er: »Messer und Gabel halten?! Nein, das ist Sache des Genie's. Ich habe ein Negermädchen gekannt, welches sein ganzes Leben lang mit den Fingern gegessen hatte und dennoch alle englischen Prinzessinnen übertraf. Die Grazie – – –.«

Die Mutter sagte verlegen: »Crême d'oranges und Crême d'oranges – – – wird es Ihnen nicht fade?!«

»Nein – –« erwiderte Er und sah das junge Herz von Kristall, wie es gleich einer Pumpe Güte und Milde in den Gesammtorganismus trieb.

Und Er sagte leise zu ihr: »Liebste, Süsseste – –.«

Die Mutter sass da und passirte wie im Fluge ihr ganzes Leben – – –. Und dann dachte sie an die englischen Prinzessinnen am Hofe der Königin, vor welchen die Lords das Knie beugten und welche Messer und Gabel hielten wie Sarasate seine Geige und welche Finger hatten wie Spinneweben und Mondesschimmer – – –.

Alle schwiegen.

Er blickte auf den gelben Hügel aus Obers, Eidotter und Orangensaft, welcher gleichsam in Liebe er standen war!

Das Mädchen aber fühlte: »Womit beschäftigt Ihr Euch?! Wie alte fade Philosophen seid Ihr. Sokrates oder was weiss ich. Wie wenn Ihr irgendwohin [150] versinken würdet. Ganz verlegen seid Ihr. Wie wenn man stolperte. Dennoch hat Er zu mir gesagt: »Berg-Kristall«. Berg-Kristall! Wie Quellwasser ist es, zur dritten Potenz erhoben. H2O zur dritten ist Berg-Kristall! So bin ich, ich, ich. Denn Er hat es mir gesungen – – –!«

Abends sagte die Mutter: »Du, reibe doch deine Hände mit Glycerin ein. Wirklich wie wenn Du am Felde arbeiten würdest – – –.«


Eines Tages sagte Er: »Die Meisten sind nur für Augenblicke das, was Gott in Dieselben hineinlegte. Wie der Auerhahn am frischen März Morgen auf dem Fichten-Aste! In diesen heiligen Momenten ihres sonst heidnischen Lebens sehen sie und spüren sie nichts mehr. Wie Poeten, die gänzlich verzückt sind! Wie der Auerhahn am frischen März-Morgen auf dem Fichten-Aste! Immer lebt Dieser in düsterer Waldung und äst und äst. Aber eines Morgens wird das Vieh zum Dichter. Auf dem Fichten-Aste bäumt er und singt. Das Auer-Mädchen lockt er, bethört es. Denn er bedarf ihrer! Herrliche Strophen singt er von Liebe in die frische Morgendämmerung hinein, mit prachtvoll gesträubtem Gefieder. Und sieht nichts und hört nichts und ist ganz Liebe. Aber nach diesem März-Morgen verstummt er. Weiter lebt er in düsterer Waldung und äst und äst. Wir aber sind keine Auerhähne mit gesträubtem Gefieder. Wen brauchen Wir zu [151] bethören?! Nicht für Minuten werden wir zu inneren Dichtern. Wir sind es! Ein Leben lang! Keine Räusche machen Uns blind und taub. Durch-Schauende, Fern-Hörende bleiben Wir. Wir leben in schrecklicher und tyrannischer Ruhe. Wir berauschen Uns nicht an Uns. Nüchterne Berauschte sind Wir!! Nichts macht Uns zu wahnsinnigen Sängern. Denn Wir sind selbst ewig die »Mensch gewordenen« Symphonieen Beethoven's? Wer kann Uns singen, wer verstummen machen?! Uns Welt-Gesänge?! Ihr?!

Kron-Wächter der Ideale sind wir. Vehm-Richter der Unzulänglichkeiten. Unsere Seele guillotinirt und setzt auf Throne! Ha ha ha ha – – – keine März-Morgen haben Wir auf dem Fichten-Aste!«

Die Mutter sagte verlegen: »Wie schön Sie sprechen! Wie schwungvoll – –!« Wie wenn sie es oratorisch nähme und nicht nach seinen Abgründen. Dann verstummte sie, wie ein alter trauriger und unbehilflicher Vogel. Sie passirte wie im Fluge ihr ganzes Leben – –. Sie wagte es nicht, zu ihrer Tochter hinzusehen mit ihren schweren rothen Händen ohne Anmut.

Siehe! Diese aber sass da wie gefeit!! Wie Sebastianus Sanctus! Die Pfeile verbogen sich an ihrem festen Herzen, brachen die Spitze und fielen ihr zu Füssen, wie Spielzeug-Pfeile aus Papier-maché!

Und der Herr sagte wieder sanft zu ihr: »Liebste, Süsseste – – –« und wusste nichts mehr von ihren schweren rothen Händen und wusste es dennoch!

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TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Prosa. Wie ich es sehe. Revolutionär. Keim einer Tragödie. Keim einer Tragödie. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-DB7E-9