Adagio
(Der Revolutionär geht ganz einfach spazieren.)

Sie lebt in stiller Zurückgezogenheit bei ihrer Schwester, Frau Fabriksdirektor S., in der riesigen gelben Spinnfabrik in dem Flussthale. Tausend Spinnräder stürmen um sich selbst herum und unten übereilt sich der Fluss und stürzt sich über ein Wehr herunter und wird ganz weiss.

Dort wohnt die junge Dame.

Ein Dichter würde sie vielleicht approximativ in seiner überspannten Weise so beschreiben: »Tiefes Leben, das die Materie fast durchleuchtend macht, eine Vereinigung von Melancholie und Jugend, von Ergebung und poetischer Hoffnung.« Das Auge sagt: »Wann kommt Es?!« und »Schlafe ich?!« Aber auf der klassischen Stirne steht das Wort geschrieben: »Friede«.

Gewöhnliche Sterbliche würden hingegen von ihr sagen: »Wirklich ein feines eigenthümliches Geschöpf –.«

[133] November-Nachmittag. Der Herr ging spazieren, den See entlang, den Fluss hinab.

Wie schön, wie rührend ist das Adieu-sagen der Natur!

Einige Sträucher sagen: »ich will nicht«, andere beugen das Haupt und weinen Schnee herab. Aus den weissen Teppichen, welche über die Wiesen gebreitet sind, ragen die Gräser wie grüne Stacheln heraus, welche den Schnee durchbohren wollen. Die Birken erbleichen vor Kälte und zittern, wenn die Krähen sich auf ihnen niederlassen. Im Walde an der Berglehne sind alle Braun und Roth und Gelb der Welt. Eine junge Buche ist sogar chokoladefarbig und ein alter Ahorn hat die Farbe und den matten Glanz von englischen dog-skin-Handschuhen. Die weissen Nebel liegen über dem See wie ein Meer, ziehen sich langsam in die Länge, leuchten in der Herbstsonne und wehen und wallen – – –. Man kann von ihnen sagen wie vom Meere: »Sie sind immer gleich und immer anders.«

Manchesmal stürmen sie daher und manchesmal ist Friede. Ruhig schwimmen sie dann hin und her, hängen sich an die Spitzen der Fichten an und wiegen sich – – –.

Der Herr ging den Fluss abwärts.

Auf den Wiesen lagen eingeweichte graugrüne und braungrüne Blätter, welche der Schnee abgeschlagen hatte. Eigentlich hatte er sich in dicken Häufchen auf sie gelegt und sie herabgedrückt. Unten aber bekam er sie ganz in seine Gewalt.

[134] Er sog sich in sie hinein und zerknitterte sie wie feuchtes Seidenpapier.

Weisse Nebel schwammen den Fluss herauf. Zwei kleine schwarze Vögel schossen in dem kalten weissen Dampfe hin und her. Sie schrieen vor Liebe und begatteten sich im Fluge. Es waren Wasser-Amseln.

Der Herr stand da und gab der Natur seine stumme Liebe, welche sie schweigend annahm. Da traf er die junge Dame, welche in die Fabrik ging.

Zwischen den kleinen schwarzen Vögeln, welche vor Liebe schrieen und der Natur, welche schweigend die Liebe des Herrn hinnahm, liegt ein Drittes, eine Art idealer Vereinigung Beider.

Die junge Dame fühlte: »Erwache ich?!«

Der Herr lehnte am Fluss-Geländer und blickte ihr nach, bis sie in der riesigen gelben Fabrik verschwunden war, in welcher tausend Spinnräder um sich selbst herum stürmten.

Er dachte: »Wirklich ein feines eigenthümliches Geschöpf – – –.«

Er stand bei der riesigen gelben Fabrik, in welcher tausend Spinnräder um sich selbst herum stürmten und wo der Fluss sich übereilte und über ein Wehr hinunter stürzte und ganz weiss wurde.

Er stand da und gab der Natur seine stumme Liebe, welche sie brausend annahm.

Das Fräulein in der Fabrik dachte: »Wie diese Spinnräder heute schön singen – – –!«

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TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Adagio. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-DAE6-5