Der Revolutionär hat sich eingesponnen

Kannst Du Dir vorstellen, mein Freund, dass ein Botaniker, mit dem »unheiligen organischen Hunger« in seinen Nerven, fähig sei, ein Gericht von Erbsen oder Blumenkohl auf sein Wesentliches zu prüfen?!

Und Ihr, Un-Gelehrte, mit eurem »unheiligen organischen Hunger« in den Nerven, unterfangt Euch, dieses zarteste Gebilde »Weib« zu diagnosticiren?!

Elende! Von eurem Hunger aus!


Es giebt nur eine Unanständigkeit des Nackten – – das Nackte unanständig zu finden!


Sein eigenes Leben nicht ernster nehmen als ein Stück von Shakespeare! Aber auch nicht minder ernst! Sich von dem Leben in Besitz nehmen lassen wie im Theater. Das Theater des Lebens. Der ideale Zuschauer seiner selbst zu sein! Ganz drin sein und dennoch aus den facheusen Complicationen herauskommen können in die frische Nachtluft; erlebt haben, was man nicht erlebt hat, nicht erlebt haben, was man erlebt hat!

So reinigst Du Dich von Dir selber!!

Und die »Tragödien deiner selbst« bringen Dir das Lächeln – – der Weisheit! [163] Die tragischen Schwächungen: Essen, wenn man nicht hungrig ist. Trinken, wenn man nicht durstig ist. Sich bewegen, wenn man Ruhe – bedürftig ist. Sich begatten, wenn man Liebe – los ist.

In Weisheit führt uns die Natur! Wenn wir hungern, zum Brode. Wenn wir dürsten, zum Wasser. Wenn wir müde sind, zum Schlafe. Wenn wir Liebe – voll sind, zum Weibe.


Lieben wollen ist das Bedürfnis latenter überschüssiger Kräfte unseres Organismus, in andere Organisationen auszuströmen. Geliebt werden wollen hingegen das Bedürfnis mangelnder latenter Kräfte, sich durch andere einströmende zu ergänzen.

Gott liebt und Gottes Sohn! Und die Mutter und die Sonne lieben! Ihre überschüssigen latenten Liebes – Kräfte strömen aus in die Welt, in die Menschen. Ihr Herz ist vollblütig. Man muss es schröpfen, ihm Kraft entziehen, um es gesund zu erhalten.

Aber diese anderen Herzen sind blutarm. Sie bedürfen eines Franzensbad's. Fremder Kräfte, fremder Seelen bedürfen sie, um functioniren zu können. Dieses Franzensbad »Sie liebt mich«! Wie plärrende Babies nach Milch und Ruhe sind diese Herzen. Der Andere muss einlullen. Dieser Zummel »sie liebt mich«! Kindliches Männer-Geschlecht! Wann wirst Du mannbar werden?! Wann wirst Du wie [164] die Sonne unerschöpfliche Kräfte einer Erde geben, die nichts zu rück giebt?! Einer Undankbaren?! Ihr Blühen ist ihr Dank! Drückt die Sonne, unbekümmert um der Erde Undank, sie nicht durch jeden Wärmestrahl und Lichtstrahl liebevoll an sich und hilft ihr wachsen?! Feiert sie nicht ewige Hochzeitstage, indem sie dieser Erde Nacht in Tag verwandelt?!

Ihr aber, Dunkle, Kalte, armselige Nehmer, Tausch-Händler der Seele, Glück-Hausirer!?

Gott liebt und Gottes Sohn!! Die Mütter lieben und die Sonne liebt!!

Ihr aber wünscht geliebt zu werden!


Schlaf! Heiliger Reorganisator der in der Tages – Schlacht verlorenen Streitkräfte! Unter deiner heiligen Führung giebt es keine Niederlagen!


Der Mann legt die Frauen-Seele auf das Prokrustes-Bett seiner Bedürfnisse.


Alles verzeih' ich dem Mann – – nur nicht das vergebliche Ringen! Schweigend verhülle dein Haupt,Cäsar des Lebens, wenn Brutus, das Schicksal, tödtlich gegen Dich stösst! Vergebliches Ringen geziemet dem Weibe, der Sklavin des Lebens! Noch, im Abgrunde schwebend, krümmt sie die Finger zum Griff!! [165] Das Unvermögen, sich mit einem anderen Weibe zu vereinigen als jenem, welches man mit der Seele liebt, ist – – göttliche Potenz!


Der Mann hat eine Liebe – – die Welt!
Die Frau hat eine Welt – – die Liebe!

Der vorsichtige feige Lebens-Mensch versetzt seine Ideale vermittelst der Religionen in die Sterne, in den Himmel, um sich das Vergebliche eines Versuches, denselben nahe zu kommen, zu beweisen.

Der unbedenkliche und kühne Künstler-Mensch versetzt sie in seine eigene Brust, um ihnen nicht entrinnen zu können!


Die Frau ist die vom Schöpfer in die Welt gesetzte göttliche Wunsch-Maid Brünnhilde, der »Weib gewordene« Wunsch Gottes selbst: Mann, werde Gott-gleich! Werde All-gütig, All-weise und All-mächtig, deines eigenen All's mächtig, über Dich selbst die Macht habend!

Aber diese Anderen fordern: Mann, sei Thier!
Teufelinen!

Mann, Herr des Lebens! Wann wirst Du Dich endlich entschliessen, Dich mit dem geliebten Weibe in einen anderen Contact zu setzen, als den, welchen Du mit dem Hunde, dem Pawiane und dem Schweine [166] gemeinsam zu haben die Ehre und das Vergnügen hast?!!


Der Künstler-Mensch verlangt von seinem Weibe nur eine einzige Treue – – – dass sie ihm die Rasse nicht verschandele!

Schönheit, Vervollkommnungen träumt er. Das ist seine Liebe!

Aber diese Anderen wollen – – – sich fortpflanzen. Ha ha ha ha – – auch eine Art, Vervollkommnungen zu träumen!


Ich will ein König sein, der bettelt bei einer Königin, nicht ein Bettler, der König ist bei einer Bettlerin!!


Die Eifersucht ist keine Leidenschaft. Es ist eine Furcht! Die tiefste Furcht, die ewige des Lebens, die unentrinnbare organische Furcht, Etwas zu verlieren, ohne das man nicht mehr lebendig sein kann – – seine Lunge, sein Rückenmark, sein Gehirn, das Herz des Anderen, welches unseres geworden ist und welches unseren Blutkreislauf erhält und schützt wie das eigene. Wie wenn dieses stille stünde, ist der Verlust des anderen. Die Eifersucht ist keine Leidenschaft! Die Eifersucht ist eine Furcht, die ewige organische unentrinnbare, innerlich sterben zu müssen! Eine Todesfurcht! [167] Indem der Dichter das »Reich, das da kommen wird« in sich trägt und das »Reich, das da ist« erlebt, befindet er sich in Frieden mit jenen neuen Ansprüchen der Seele, welche die alten Herzen der Anderen in Unruhe versetzen und zerstören. Denn die Unruhe ist die Wirkung des »Ungewissen«. Der Dichter aberweiss in sich, was kommen wird!! In Ruhe wartet er und singt indessen und verkündet!


Es giebt drei Idealisten: Gott, die Mütter, die Dichter!

Sie suchen das Ideale nicht im Vollkommenen – – – sie finden es im Unvollkommenen.

Ökonomie:

»Du sollst erst essen, bis Du hungrig bist und schon aufhören, ehe Du satt bist« ist ein tieferes göttlicheres Gesetz als »Es soll Dich nicht gelüsten nach – –« und Anderes. Denn Jenes macht Diese entbehrlich. In ihm liegt die Kraft, die Ruhe, die Weisheit, die Wahrheit und das Glück!!

Im Ausdrucke des Antlitzes steht es mit einfachen klaren Linien geschrieben: »Hier herrscht das teuflische Überflüssige« oder: »Hier regiert die göttliche Nothwendigkeit«! Mehr Dampf in einer Locomotive erzeugen als nöthig ist für ihre höchste [168] Bewegung, ist die That eines wahnsinnig gewordenen Maschinenführers.

So ist der Mensch!

Es rast dahin den Weg des Lebens und wird zu Brei zermalmt auf seiner Strecke!


Auch die Kreuzigung hat eine Erlösungs-Wollust.

Das Weib, das an seiner Liebe stirbt, empfindet dieselbe Wollust, die sie im Hochzeitsbette gehabt hätte. Sie folgt den letzten Befehlen ihres Herzens! Wollust ist die »Dankbarkeit des Nervensystems« für die Befolgung seiner gerechten Ansprüche. Die »Erfüllung des Gesetzes« empfindet der Mensch alsWollust. Der letzte Seufzer todgeweihter Liebe hat die Musik des ersten im Hochzeitsbette!! Die Seele hat Erlösung gefunden. Beide vergehen in gleicher Weise in Liebe, die Glücklichste der Sterblichen und die Unglückseligste! Ohne Wollust aber lebt und stirbt, wer das Gesetz seiner Seele missachtet, contrecarrirt!

Mode-Journal:

Dein Gewand sei die Erweiterung und Fortsetzung deines Wesens über die Epidermis hinaus. Die letzte Hülle deiner Seele, die Dich enthüllt! Faltenreiches weites Gewand ist das Symbol deiner Vergeistigung, deiner Immaterialisirung! Der Körper verschwindet und es bleibt weite reiche fliessende Bewegung. Weiche seidene Stoffe in tausend [169] Plissés sind daher die wahre »englische Mode«. Je mehr Bewegung ein Gewand Dir gestattet, desto göttlicher ist es. Das schönste Gewand wären Flügel!


Die Frauenseele ist bescheiden: Sie sucht Jesus Christus und Napoleon, Diogenes und Hölderlin vereint in einem Wesen! Diese einzige Wahrheit des noch Lüge-losen und Concessions-freien Herzens nennen die Hunde: Backfisch-Träume!


Der Schlaf ist der heilige Versuch der Natur, die Tages-Wunden zum Verheilen zu bringen. Den Schlaf vorzeitig unterbrechen, heisst, heilige Verbände vernarbender Wunden wegreissen!

Man fragte eine Mutter: »Wie erziehen Sie Ihr Töchterchen?!«

Ich lasse sie schlafen – –« antwortete diese Beste, Weiseste.

Ich würde ein Gesetz erlassen, ein einziges: Jeder hat ein Recht auf den ungestörten, von selbst endenden Schlaf!

Dieses Gesetz machte alle anderen entbehrlich. Es enthält den Frieden, die Gesundheit und das Glück!

Schlaf! Immer komme ich wieder auf Dich zurück. Denn Du bist das physische Evangelium der Nerven![170] Die Frau stellt in ihrer »schönen Form« das dar, was der Künstler-Mensch in seinem »schönen Geiste« zum Ausdruck bringt. Die Genialität ihres Leibes ist gleich der Genialität seines Geistes. Ihr Leib ist sein »Materie gewordener« Geist. Sein Geist ist ihr entmaterialisirter Leib. Was er »denkt«, »ist« sie!


Die überschüssigen Kräfte seiner Seele los werden können in Räuschen, in Extasen! Das ist die Hygieine der Herzen, welche – – an überschüssigen Kräften leiden.

Aber die zarte Frauenseele hat nur Träume. Träume sind keine Extasen. Träume sind keine Räusche. Es sind die – – Träume von Räuschen! Sie kann ihre überschüssigen Kräfte nicht los werden. Sie hat keine Hygieine. Sie bleibt überladen, krank. Die Hunde aber sagen: »Hystherisches Frauenzimmer!« Das ist ihre Rache für die Extasen, die sie nicht bereiten – – –!


Wenn ich denke, rede ich – – – wenn ich liebe, begehre ich.

Sonst bleibe ich ewig stumm!

Das ist Menschenthum!!

Menschenthum ist: schweigen, wenn Geist und Seele nicht sprechen! Es ist tönender, in's Wort, in Begattung sich aussprechender, sich offenbarender, sich erlösender Geist! Das Wort, das ich spreche, der Kuss, den ich gebe, sind die [171] heiligen Geburten des Geistigen in mir zu »lebendigem Leben«, zu »physischer That«!


Dichter, Denker, Künstler, Prophet – – – giebt es ein Besseres?! Ja!

Ein Hecht sein im Karpfen-Teiche!!
Bewegung bringen Bewegungslosen!!
Verstehen sie denn die »Stimmen von oben«??!
Aber wenn der Hecht schnappt, verstehen sie – – sich zu emotioniren!
Schnappe, Hecht!

Treue ist das »Gesetz der Trägheit« der Seele.
Ah, treue Seelen, wie treulos seid Ihr – – euremWerden!

Die Frau ist ihre Sehnsucht!

Das, was sie nicht geworden ist, ist sie!

Dieses zweite geheimnisvolle Leben der Frau will zum Leben kommen, geboren werden, sein!

Indem sie eine Tochter gebärt, gebärt sie ihre »Sehnsucht« zu einem »lebendigen Organismus« aus, und kann zur Ruhe kommen ihrer drängenden Kräfte. Die Frau ist ein Halb-Wesen. Sie und ihr Töchterchen zusammen sind erst Eines! In dieser will sie erst sich selbst erleben, die nie lebte!

Heilige Zwei-Einigkeit!! Der »Sehnsucht seiende« Mensch und seine »Mensch gewordene« Sehnsucht! Wehe Dir, tochterlose [172] Frau! Wo wirst Du dieses un gebor'ne Leben »Sehnsucht« anbringen, dass es zur Welt komme?!


Eine junge Dame sagte einmal: »Niemand versteht A.K. – – – denn jeder Satz ist schon der 8. Satz.

Die vorhergehenden 7 Sätze überlässt Er uns! So eine Achtung hat Er vor unserem Herzen, unserem Geiste. Wie mit »Mündigen des Lebens« verkehrt Er mit uns. Wie ein Kapellmeister der Hof-Oper mit seiner Künstlerschaar. Bescheiden sitzen sie an ihren Pulten, blicken vertrauensvoll hin und verstehen seine Intentionen.

Aber mit Euch müsste Er reden wie mit Schul-Babies: a, a, a, a, b, b, b, b.

Sehet! Wenn man mir am Claviere die 7 Noten anschlägt: a, f, e, gis, a, ais, h, so spüre ich das ganze Liebes-Leid Isolden's!«

A rebours:

Décadence?! Geburts-Wehen künftiger Entwicklungen. Auch die Frau wird geschwächt durch Schwangerschaften! Gesunde Krankheit einer kranken Gesundheit, Reconvalescenzen vom Thier-Stadium.


Glückliche Liebe?! Eine, die das Unglück hat, dass ihr der »heilige Weg« durch ein Ziel abgeschnitten werde.

Unglückliche Liebe?! Eine, die das Glück hat des »ewig Wandernden zur Sonne«.
[173] Auch Bewegung ist ein Rasten – – vom Rasten!

Auch die Dissonanz hat ihre Idee! Ihre Idee ist die Sehnsucht nach Erlösung in der Consonanz. Consonanz?! Eine Dissonanz, die ihre Idee verloren hat.


Keuschheit?!

Organe, welche bisher Selbstherrscher, Caracalla's waren, in die heiligen und ausschliesslichen Dienste des Kaisers »Seele« zwingen!! Sie zu heiligen Vollstreckern kaiserlicher Befehle erhöhen!!


Christenthum?! Heidenthum?! Einen einzigen Menschen gab es bis heute.

In Keuschheit wurde Er geboren! Daher bekam Er nur Reines mit. Und konnte Liebe geben ohne Gegendienste!! Und um Liebe sterben, weil die »blöde Leidenschaft des Lebens« Ihn nicht zeugte und sich nicht in seine Nerven grub!

Wandle seine Bahnen!


Dante Alighieri stand in einem Lorbeer-Walde 16 Jahre und wartete auf Beatrice – – –.

Diese Anderen aber warten einen Tag – – und gehen dann doch in die »Kleine Blutgasse; nicht läuten, klopfen«!


Ende des Cyclus »Revolutionär«.

[174]

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Der Revolutionär hat sich eingesponnen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-D9D4-6