Sonntag
(Der Revolutionär »en famille.«)

Im Vorzimmer stehen die sechs geerbten Stühle, die damals Speisezimmerstühle waren und eigentlich zu Nussholz passten. Nun, man konnte ja später die grossen gelben Kästen in Nussholz färben, eine schöne Harmonie herstellen.

Überrascht mich damit zu Weihnachten – – –,« sagte die Hausfrau.

Auf dem Tischchen lag eine gestickte rothe Decke in Wolle und darauf stand eine Lampe ganz aus Kristallglas, sogar der Fuss, das Gestelle waren aus Glas.

Die Sachen waren nicht neu, aber gut conservirt, ein schönes frisches Greisenalter.

Im Zimmer beim Herrn brannte es fest im Ofen. Es duftete nach Teppich und Holz.

»Oh die Hitze – – –«, sagt immer der Hausherr, wenn er nach Hause kommt, knüpft das Gilet auf, dann das Leibchen mit den goldenen Knöpfen, bekommt Congestionen – – –.

»No, no – –«, sagt die Hausfrau, »wenn man von draussen kommt, natürlich – – –.«

»Ja – –«, sagt der Hausherr, »bitte, ich komme von draussen« und versucht den Ofen kalt zu machen,[102] indem er an dem Thürchen kleine Manipulationen vornimmt und mit dem Ofenbesteck ziemlich klappert.

»Ein unruhiger Geist – –«, sagt die Hausfrau.

Dieses Gespräch war sehr oft, eigentlich war es immer, besonders Sonntags und die Kinder hatten die Empfindung von – – nun, sie hätten gerne gesagt: »Um das dreht es sich?? Der ›neue Hauch‹ geht an Euch vorüber – –«. Obzwar es gar nicht herpasste. Aber wenn man das Gefühl hat?! Jedesfalls war das Ganze gutmüthig patriarchalisch, so wie wenn man sagt: »Das sind unsere Sorgen, nicht wahr, nichts Bedeutendes, GottseiDank – – –?!«

Jetzt aber sass der blasse Sohn bei diesem Ofen, wärmte sich und erwartete die Eltern.

Er hatte die Empfindung »Sonntag Vormittag« und »ein geordnetes Hauswesen« und »oh gewiss Jülienne-Suppe«.

Endlich kamen die Eltern, Beide ausgepumpt vom Stiegensteigen und den Pelzröcken.

Wo waren die Herrschaften?! Bei der Tochter natürlich. Von der Tochter zu der Tochter, zu der Tochter, von der Tochter – – ein Lebenslauf!

»Man wird über den Kleinen sprechen – –«, dachte der Sohn, »Gott wie fad, ich liebe nur kleine Mädchen, die haben Gracie, riechen gut und man kann sie auf die Haare küssen – – –.«

Er wusste, dass er etwas Facheuses sagen würde, die Stimmung stören würde, die Nervenschlüssel drehen, bis das Instrument auf ges, des, as, es, wäre – – –.

[103] »Grosseltern sind Schablone – –«, dachte er, »überhaupt Alles – – –.«

Natürlich kam Jülienne-Suppe.

»Die Suppe ist wie Feuer – –«, sagte der Vater, »Alles ist heiss bei Euch – –.«

Als ob er nicht »Euch« wäre! Solche Ausdrücke sollen eine Kluft bezeichnen, das verwischte alte Bild eines Kampfes, der nie war und der nie sein wird, ein Protest gegen – – –. Nun man sagt ja Nichts. Gebt Ruhe.

»Lass' die Suppe auskühlen – –« sagte die Mutter, »oh wie fein ist sie, geh' Alterl, sei nicht so – – –.«

»Brillat-Savarin sagt – – –.«

»Wir wissen schon, was Brillat-Savarin sagt, aber iss' Deine Suppe – – –.«

»Brillat-Savarin – – –«, dachte der Sohn, »nun, wenigstens ist es korrekt ausgesprochen – – –.«

Meistens kommt: »Wisst Ihr, was der berühmte – – – sagt?!« Aber diesen Namen kennt die Welt nicht. Und übrigens war Niemand neugierig, was der Berühmte sagte, jedesfalls etwas Irritirendes, Etwas aus anderen Gesichtspunkten.

Die Mutter nahm diese Citate aus der »Revue« wie eine schlechte Gewohnheit, zum Beispiel wie das Hinaufschnupfen oder Ärgeres – – –. Der Sohn dachte darüber: »Matte Flügelschläge eines alten Vogels, lasse es sein – – –. Bist Du denn Graf Mirabeau?!«

»Die Suppe ist wie sie ist – –« dachte die Mutter, »sie kostet genug und die frühere Generation [104] war auch gesund. Ich sehe nicht die Resultate. Ihr geht jedes Jahr zum Zahnarzt – –. Suppe muss heiss sein – –.«

Es kam Filet mit verschiedenen Gemüsen, eine gewölbte weisse rauhe Fläche, Blumenkohl, etwas zerpatschtes Graugrünes, kleine spitzige röthliche weiche Zäpfchen und Erdäpfel gerippt mit der Maschine und goldgelb gebraten. Das Ganze sah aus wie ein Blumenbeet.

»Wer hat das heutige Feuilleton gelesen – –!?«, sagt der Vater, »das ist plastisch, so wie wenn man dort wäre – –, so solltest Du schreiben, Albert – –!«

»Ja, es ist ein Schmarren – –«, sagte der Sohn, welcher ziemlich enttäuscht war, dass nicht über den Enkel gesprochen wurde. Wo sollte er seine üble Laune anbringen, bitte?!

Denn die Eltern thaten ihm nur leid, er liess sie gerne in ihrem warmen Dunste, Lebensdunste.

Die waren ja schon auf dem Wege – –. »Euer Glück ist die Ruhe«, fühlte er.

Aber mit den Anderen, dieser »trägen schlappen Jugend«, wollte er anbinden, wollte kämpfen, beleidigen – – –. »Ihr Verharrenden, ihr Stagnirenden, ihr Sumpfschildkröten – – –!«

Überhaupt, er brauchte ein Feld, eine Tribüne, wie Danton, Marat, Robespierre – – –.

»Ihr wollt Mieder tragen, eure Milz, eure Leber zerdrücken?! Fort auf die Guillotine! Ihr wollt das Glück, heute, wo hunderte Millionen Menschen – –?!

[105] Fort auf die Guillotine! Ihr wollt Ruhe, Frieden?! Fort auf die Guillotine!«

Er wusste, dass die Unruhe, diese »innere Unruhe« die Quelle alles Fortschrittes sei, des »Sich-Bedenkens«, der »Einkehr«, der »Umwandlung« und er fand überall nur das schamlose Bedürfniss nach Ruhe, Ruhe, Ruhe – – –! Die Eltern wollten Ruhe, die Gatten wollten Ruhe, die Ehefrauen, die Töchter, sogar die Bräute und die Bräutigame – –. Alle strömen in diesen Gift-Sumpf Ruhe – – –.

Herrgott, aber war denn das die Ruhe, die heilige, die auf den Gipfeln?!

Betäubung war es, Lethargie, Morphin – – –!

So ist das Familienleben – –. Ist es draussen anders?! Alles Morphium, die Liebe, der Alkohol, der Patriotismus – – –. Also was denn?! Ja, was denn – – –!? Nun, die Kunst, die Natur, das Leben des Diogenes, des Chr. – – –! Bewegungen der Seele, des Geistes, die die Kräfte in neue Verbindungen brächten, die trägen Stoffe wegschwemmten, einen kleinen Wirbel, Strudel erzeugten. Kurz, er dachte: »Zum Teufel, Mensch sein heisst sich bewegen, sich von sich wegbewegen, irgendwohin, nach vorwärts, nach aufwärts!«

»Bei Uns ist es gemüthlich, Bruder – – –« sagte das sanfte Schwesterchen, »Du solltest – – –.«

Er sah sie an – – –.

»Du verachtest Uns – – –« sagte die Schwester, »wozu – – –?!«

[106] »Oh – –«, sagte er, »aber bitte, macht nächsten Sonntag nicht Jülienne-Suppe – – –!?«

»Nicht – – –?!«, sagte die Schwester, »was denn – – –?!«

»Nun, macht Karfiolsuppe – – –!«

»Eine ›falsche Suppe‹, am Sonntag – – –?!«

»Ja, einmal eine falsche – – –«, sagte Robespierre und verliess triumphirend die Tribüne.

»Ich werde es mit Mama besprechen – – –« dachte die sanfte Schwester.

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TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Prosa. Wie ich es sehe. Revolutionär. Sonntag. Sonntag. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-D837-1