Hugo Ball
Preußen und Kant

Man kann die Erniedrigung, die das preußische Pflichtideal postuliert, und die Depravation, zu der es notwendig führen muß, nicht verstehen, wenn man seine Entwicklung nicht kennt. Dem preußischen Pflichtideal liegt noch heute eine Art stillschweigenden Vertragsverhältnisses zugrunde zwischen dem Fürsten und seinem Untertanen. Der Untertan verpflichtet sich, zu »dienen«, der Fürst »schützt« ihn dafür. Überall, wo es Fürsten gibt, hat es einen ähnlichen Vertrag gegeben. In Preußen aber kam dazu folgendes: Das Elend des dreißigjährigen Krieges hatte vagabundierende Soldaten hinterlassen, die marodierend, raubend und wohl auch mordend das Land durchstreiften. Vielleicht aus Frömmigkeit – Armenwesen und Polizei gehen in protestantischen Staaten Hand in Hand – schuf Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst, den miles perpetuus, das stehende Heer. Der Pflichtvertrag wurde zur »verdammten Pflicht und Schuldigkeit« aus Anerkennung gegen die kurfürstliche Güte. Der miles perpetuus ist ein tief verworfenes Geschöpf; er kann seinem Herrgott danken, daß der Kurfürst ihn nicht aufknüpft, sondern lebenslänglich »dienen« läßt. Der Kurfürst war kein gelinder Herr. Aufs strengste ging er gegen das Raufen und Balgen seiner Offiziere vor: Duellanten und Sekundanten bestrafte er mit dem Tode. Durch hinreichenden und »regelmäßig ausgezahlten« Sold fesselte er die Offiziere an sich. Auch durch die Macht seiner »christlichen« Persönlichkeit. Der preußische Militarismus in seinen Grundlagen ist »gottesfürchtig«. Die von Gott eingesetzte Obrigkeit begnadet den Sünder. Es ist ein religiöser Militarismus. Bei einer Exaltierung des Bußbegriffes ließe sich daraus ein preußischer Militärkatholizismus abstrahieren. Soweit sind wir noch nicht gekommen, weil es an produktiven Köpfen fehlt. Aber wenn Herr Scheler sich einmal damit beschäftigen wollte, ließe sich denken, daß man Katholizismus an diesem Punkte mit Preußentum wohl vereinigen kann. Dann würde es preußische Freiwillige geben aus Dandysmus. Die »verdammte« Pflicht und Schuldigkeit besagt, daß es hier eine Hölle gab ohne Entrinnen.

[180] Das Exerzieren des miles perpetuus und die Exerzitien der Jesuiten treffen sich in punkto menschlicher Erbärmlichkeit, Nullität und Zerknirschung. Kaserne, Kloster und Zuchthaus wetteifern in Pauperismus, schlechter Kost und Verachtung des menschlichen Stolzes. Die militärische »Generalobservation« jenes Soldatennarren Friedrich Wilhelm I. und die »geistlichen Bußübungen« des Ignatius von Loyola berühren einander im Paragraphen. Artikel I: »Es muß zuvorderst woll darauff gesehen werden, daß, so offt ein Kerl im Gewehr, und absonderlich auf dem Exerzierplatz ist, sich bon-air gebe, nemlich den Kopf, Leib und Füße recht ungezwungen halte, und den Bauch einziehe.« Artikel VII: »Das Erste im Exerzieren muß sein, einen Kerl zu dressieren, und ihm das air von einem Soldaten beyzubringen, daß der Bauer herauskommt.« Oder Artikel II für die Offiziere: sie sollen, »wenn sie von eines Soldaten gottlosen Leben in Erfahrung bringen, selbigen vermahnen, und wenn er sich nicht bessert, den Kerl zum Priester schicken«. So im »Reglement, vor die Königl. Preußische Infanterie, vom I. März 1726.«

Dieses grundlegende Reglement ist beeinflußt vom Kriegsreglement des Spaniers Della Sala ed Abarca (1681), das auf Befehl des Königs ins Deutsche übersetzt und mit geringen Änderungen auch von Friedrich dem Großen übernommen wurde. Von letzterem stammt das Wort, das die Herkunft der preußischen Disziplin bezeichnet:

»Kann ein Fürst, der seine Truppen in blaues Tuch kleidet, der sie sich kehren läßt rechtsum und linksum, sie ehrenhalber einen Feldzug tun lassen, ohne den Ehrentitel eines Anführers von Taugenichtsen zu verdienen, die nur aus Not gedungene Henker werden, um das ehrbare Handwerk von Straßenräubern zu treiben?«

Man sieht: die preußische Armee regt zum Philosophieren an, und es ist kein Scherz, wenn ich sage, der preußische Militarismus beruht auf »Religionsphilosophie«. Er ist spanisch nach seiner Herkunft und wird nur überwunden werden von einer geistigen Disziplin, die sich an jesuitischen Vorbildern schulte. Die preußische Armee in ihrem Ursprung ist ein Verbrecherinstitut, dem die Gnade des Fürsten zuteil geworden ist, und noch der Sadismus heutiger Unteroffiziere und preußischer Offiziere [181] beim Drill, der eine absolute Inferiorität des ihm ausgelieferten »Menschenmaterials« voraussetzt, zeigt Parallelen mit dem Gefängniswesen, die Gegenstand theologischer Dissertationen werden könnten. Die Rache ist Ausgangspunkt einer brandenburgischen Hausphilosophie, der auch Kants Rigorismus sich nicht zu entziehen vermochte und der alle strengeren Naturen ihr spekulatives Interesse nicht versagen können. Die Subordination des Individuums, wie das preußische System sie verlangt, beginnt die Kirche zu interessieren, und die verwöhntesten Geister beginnen uns abzufallen, wenn wir der Satansschule uns nicht gewachsen zeigen.

Was ist es anderes als Mathematik, wenn Friedrich Wilhelm I. vor dem dröhnenden Gleichschritt der »langen Kerle«, vor den unerhört genauen Bewegungen der Körper und Linien Wirbelkrämpfe bekommt? »Enfin, ein Regiment ist die Braut, darumb man tanzet.« Der Kantonist war zu lebenslänglichem Dienst verpflichtet. Unerbittlich regierte der Stock. Ist es ein Zufall, daß Kant schrieb: »Wir stehen unter einer Disziplin der Vernunft. Pflicht und Schuldigkeit sind die Benennungen, die wir allein unserem Verhältnisse zum moralischen Gesetze geben müssen.« War nicht auch er fasziniert, ein Schüler Friedrich Wilhelms I.? »Pflicht, du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst....« Und liegen nicht hier die metaphysischen Gründe, die Katholiken heute zu Kantianern machen? Kant suchte die Wurzeln einer »edlen Abkunft« dieser Pflicht. Er fühlte als Mensch und Preuße sich verpflichtet, der teuflischen Wirklichkeit eine göttliche Wurzel zu suchen. Und er fand diese Wurzel, die Würde, in der freiwilligen Zustimmung zu Gebot und Befehl: in der Antizipation des Befehls, und er nannte sie »kategorischer Imperativ« im Namen der »Persönlichkeit«.

Ist ein Satz wie der folgende zu verstehen ohne diese Prämissen? Kant schreibt:

»Hält nicht einen rechtschaffenen Mann im größten Unglück des Lebens (dem Militärdienst), das er vermeiden konnte, wenn er sich nur hätte über die Pflicht wegsetzen können, noch das Bewußtsein aufrecht, daß er die Menschheit in seiner Person doch in ihrer Würde erhalten und geehrt habe; [182] daß er sich nicht vor sich selbst zu schämen und den inneren Anblick der Selbstprüfung zu scheuen Ursache habe?«

Hält man Kant noch immer für den weltabgewandten Stubengelehrten? War das Substrat dieser abstrakten Sätze nicht Friedrich Wilhelms Knutensystem? Glaubt man, ohne Grund ist Kant für die Chamberlain und Konsorten »die Braut, darumb man tanzet«? Er hat dem preußischen Untertanen das gute Gewissen gegeben, sich knuten und knebeln zu lassen. Er war der zweite Deutsche nach Luther, der das Gewissen verriet; so sublim und abstrakt und so dunkel, daß es gewitzigter Sinne bedarf, hier noch die Urschrift zu lesen. Kant hob die preußische Knutung zur Metaphysik.

[183]

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TextGrid Repository (2012). Ball, Hugo. Schriften. Preußen und Kant. Preußen und Kant. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-AAB6-A