[169] [184]Dem Menschen wie den Tieren ist ein Zwischenknochen der Obern Kinnlade zuzuschreiben

Jena, 1786


Einige Versuche osteologischer Zeichnungen sind hier in der Absicht zusammengeheftet worden, um Kennern und Freunden vergleichender Zergliederungskunde eine kleine Entdeckung vorzulegen, die ich glaube gemacht zu haben.

Bei Tierschädeln fällt es gar leicht in die Augen, daß die obere Kinnlade aus mehr als einem Paar Knochen bestehet.

Ihr vorderer Teil wird durch sehr sichtbare Nähte und Harmonien mit dem hinteren Teile verbunden und macht ein Paar besondere Knochen aus.

[184] Dieser vorderen Abteilung der oberen Kinnlade ist der Name Os intermaxillare gegeben worden. Die Alten kannten schon diesen Knochen 1 und neuerdings ist er besonders merkwürdig geworden, da man ihn als ein Unterscheidungszeichen zwischen dem Affen und Menschen angegeben. Man hat ihn jenem Geschlechte zugeschrieben, diesem abgeleugnet 2, und wenn in natürlichen Dingen nicht der Augenschein überwiese, so wurde ich schüchtern sein aufzutreten und zu sagen, daß sich diese Knochenabteilung gleichfalls bei dem Menschen finde.

Ich will mich so kurz als möglich fassen, weil durch bloßes Anschauen und Vergleichen mehrerer Schädel eine ohnedies sehr einfache Behauptung geschwinde beurteilet werden kann.

Der Knochen von welchem ich rede hat seinen Namen daher erhalten, daß er sich zwischen die beiden Hauptknochen der oberen Kinnlade hineinschiebt. Er ist selbst aus zwei Stücken zusammengesetzt, die in der Mitte des Gesichtes aneinanderstoßen.

Er ist bei verschiedenen Tieren von sehr verschiedener Gestalt und verändert, je nachdem er sich vorwärts streckt oder sich zurückezieht, sehr merklich die Bildung. Sein vorderster breitester und stärkster Teil, dem ich den Namen des Körpers gegeben, ist nach der Art des Futters eingerichtet, das die Natur dem Tiere bestimmt hat, denn es muß seine Speise mit diesem Teile zuerst anfassen, ergreifen, abrupfen, abnagen, zerschneiden, sie auf eine oder andere Weise sich zueignen; deswegen ist er bald flach und mit Knorpeln versehen, bald mit stumpfern oder schärferen Schneidezähnen gewaffnet, oder erhält eine andere der Nahrung gemäße Gestalt.

Durch einen Fortsatz an der Seite verbindet er sich aufwärts mit der obern Kinnlade, dem Nasenknochen und manchmal mit dem Stirnbeine.

[185]

Inwärts von dem ersten Schneidezahn oder von dem Orte aus, den er einnehmen sollte, begibt sich ein Stachel oder eine Spina hinterwärts, legt sich auf den Gaumenfortsatz der oberen Kinnlade an und bildet selbst eine Rinne, worin der untere und vordere Teil des Vomers oder Pflugscharbeins sich einschiebt. Durch diese Spina, den Seitenteil des Körpers dieses Zwischenknochens und den vorderen Teil des Gaumenfortsatzes der obern Kinnlade werden die Kanale (Canales incisivi oder naso-palatini) gebildet, durch welche kleine Blutgefäße und Nervenzweige des zweiten Astes des fünften Paares gehen.

Deutlich zeigen sich diese drei Teile mit Einem Blicke an einem Pferdeschädel auf der ersten Tafel.


A. Corpus.
B. Apophysis maxillaris.
C. Apophysis palatina.

An diesen Hauptteilen sind wieder viele Unterabteilungen zu bemerken und zu beschreiben. Eine lateinische Terminologie, die ich mit Beihülfe des Herrn Hofrat Loders verfertiget habe und hier beilege, wird dabei zum Leitfaden dienen können. Es hatte solche viele Schwierigkeiten, wenn sie auf alle Tiere passen sollte. Da bei dem einen gewisse Teile sich sehr zurückziehen, zusammenfließen und bei andern gar verschwinden: so wird auch gewiß, wenn man mehr ins Feinere gehen wollte, diese Tafel noch manche Verbesserung zulassen.

Os intermaxillare.

A. Corpus.
a. Superficies anterior.
1. Margo superior in quo Spina nasalis.
2. Margo inferior seu alveolaris.
3. Angulus inferior exterior corporis.

b. Superficies posterior, qua Os intermaxillare iungitur Apophysi palatinae Ossis maxillaris superioris.

c. Superficies lateralis exterior, qua Os intermaxillare iungitur Ossi maxillari superiori.

d. Superficies lateralis interior, qua alterum Os intermaxillare iungitur alteri.

[186] [188]e. Superficies superior.

Margo anterior, in quo Spina nasalis. vid. 1.

4. Margo posterior sive Ora superior canalis naso-palatini.
f. Superficies inferior.
5. Pars alveolaris.
6. Pars palatina.
7. Ora inferior canalis naso-palatini.

B. Apophysis maxillaris.
g. Superficies anterior.
h. Superficies lateralis interna.
8. Eminentia linearis.
i. Superficies lateralis externa.
k. Margo exterior.
l. Margo interior.
m. Margo posterior.
n. Angulus apophyseos maxillaris.

C. Apophysis palatina.
o. Extremitas anterior.
p. Extremitas posterior.
q. Superficies superior.
r. Superficies inferior.
s. Superficies lateralis interna.
t. Superficies lateralis externa.

Die Buchstaben und Zahlen, durch welche auf vorstehen der Tafel die Teile bezeichnet werden, sind beiden Umrissen und einigen Figuren gleichfalls angebracht. Vielleicht wird es hier und da nicht sogleich in die Augen fallen, warum man diese und jene Einteilung festgesetzt und eine oder die andere Benennung gewählt hat. Es ist nichts ohne Ursache geschehen, und wenn man mehrere Schädel durchsieht und vergleicht, so wird die Schwierigkeit deren ich oben schon gedacht noch mehr auffallen.

Ich gehe nun zu einer kurzen Anzeige der Tafeln. Übereinstimmung und Deutlichkeit der Figuren wird mich einer weitläuftigen Beschreibung überheben, welche ohnedies Personen, die mit solchen Gegenständen bekannt sind, nur unnötig und verdrießlich sein wurde. Am meisten wünschte ich, daß meine Leser Gelegenheit haben möchten, die Schädel selbst dabei zur Hand zu nehmen.

Die IIte Tafel stellt den vorderen Teil der oberen Kinnlade [188] [191]des Ochsen von oben vor, ziemlich in natürlicher Größe, dessen flacher und breiter Körper keine Schneidezähne enthält.

Die IIIte Tafel das Os intermaxillare des Pferdes, und zwar n. 1. um ein Drittel, n. 2. und 3. zur Hälfte verkleinert.

Tab. IV. ist die Superficies lateralis interior ossis intermaxillaris eines Pferdes, an dem der vordere Schneidezahn ausgefallen war, und der nachschießende Zahn noch in dem hohlen Körper des Ossis intermaxillaris liegt.

Tab. V. ist ein Fuchsschädel von dreien Seiten. Die Canales naso-palatini sind hier länglich und schon besser geschlossen wie beim Ochsen und Pferde.

Tab. VI. Das Os intermaxillare des Löwen von oben und unten. Man bemerke besonders bei n. 1. die Sutur, welche Apophysin palatinam maxillae superioris von dem Ossi intermaxillari trennt.

Tab. VII. Superficies lateralis interior des Ossis intermaxillaris eines jungen Trichechus rosmarus, größerer Deutlichkeit wegen mit roter Farbe angelegt, zugleich mit dem größten Teile der Maxillae superioris.

Tab. VIII. zeigt einen Affenschädel von vorn und von unten. Man sehe bei n. 2., wie die Sutur aus den Canalibus incisivis herauskommt, gegen den Hundszahn zuläuft, sich an seiner Alveole vorwärts wegschleicht und zwischen dem nächsten Schneidezahne und dem Hundszahne, ganz nah an diesem letzteren, durchgeht und die beiden Alveolen trennt.

Tab. IX. und X. sind diese Teile eines Menschenschädels.

Am sichtbarsten fällt das Os intermaxillare vom Menschen bei n. 1. in die Augen. Man sieht ganz deutlich die Sutur, die das Os intermaxillare von der Apophysi palatina maxillae superioris trennt. Sie kommt aus den Canalibus incisivis heraus, deren untere Öffnung in ein gemeinschaftliches Loch zusammenfließt, das den Namen des Foraminis incisivi oder palatini anterioris oder gustativi führt, und verliert sich zwischen dem Hunds- und zweiten Schneidezahn.

Bei n. 2. ist es schon etwas schwerer zu bemerken, wie dieselbe Sutur sich in dem Nasengrunde zeigt. Es ist diese Zeichnung nicht die glücklichste; allein an den meisten [191] Schädeln, besonders jüngeren, kann man solche sehr deutlich sehen.

Jene erste Sutur hatte schon Vesallus bemerkt 3und in seinen Figuren deutlich angegeben. Er sagt, sie reiche bis an die vordere Seite der Hundszähne, dringe aber nirgends so tief durch, daß man dafür halten könne, der obere Kinnladenknochen werde dadurch in zwei geteilt. Er weist, um den Galen zu erklären, der seine Beschreibung bloß nach einem Tiere gemacht hatte, auf die erste Figur pag. 46., wo er dem menschlichen Schädel einen Hundeschädel beigefügt hat, um den an dem Tiere gleichsam deutlicher ausgeprägten Revers der Medaille dem Leser vor Augen zu legen. Die zweite Sutur, die sich im Nasengrunde zeigt, aus den Canalibus naso-palatinis herauskommt und bis in die Gegend der Conchae inferioris verfolgt werden kann, hat er nicht bemerkt. Hingegen finden sich beide in der großen Osteologie des Albins auf der Tafel I mit dem Buchstaben M bezeichnet. Er nennt sie Suturas maxillae superiori proprias.

In Cheseldens Osteographia finden sie sich nicht, auch in John Hunters Natural history of the human teeth ist keine Spur davon zu sehen; und dennoch sind sie an einem jeden Schädel mehr oder weniger sichtbar und, wenn man aufmerksam beobachtet, ganz und gar nicht zu verkennen.

Tab. X. ist ein halber Oberkiefer eines gesprengten Menschenschädels, und zwar dessen inwendige Seite, durch welche beide Hälften miteinander verbunden werden. Es fehlten an dem Knochen, wornach er gezeichnet worden, zwei Vorderzähne, der Hunds- und erste Backenzahn. Ich habe sie nicht wollen supplieren lassen, besonders da das Fehlende hier von keiner Bedeutung war, vielmehr kann man das Os intermaxillare ganz frei sehen. Auf der Pictura lineari habe ich, was ohnstreitig Os intermaxillare ist, mit Rot getuscht. Man kann die Sutur von den Alveolen des Schneide- und Hundezahnes bis durch die Kanäle verfolgen.

Jenseits der Spinae oder Apophysis palatinae, die hier eine Art von Kamm macht, kommt sie wieder hervor und ist bis [192] [194]an die Eminentiam linearem sichtbar, wo sich die Concha inferior anlegt.

Ich habe in der pictura lineari ein rotes Sternchen dahin gezeichnet.

Man halte diese Tafel gegen Tab. VII., und man wird es bewundernswürdig finden, wie die Gestalt des ossis intermaxillaris eines solchen Ungeheuers, wie der Trichechus rosmarus ist, lehren muß denselben Knochen am Menschen zu erkennen und zu erklären. Auch Tab. VI. n. 1., gegen Tab. IX. n. 1. gehalten, zeigt dieselbe Sutur beim Löwen wie beim Menschen auf das deutlichste. Ich sage nichts vom Affen, weil bei diesem die Übereinstimmung zu auffallend ist.

Es wird also wohl kein Zweifel übrigbleiben, daß diese Knochenabteilung sich sowohl bei Menschen als Tieren findet, ob wir gleich nur einen Teil der Grenzen dieses Knochens an unserm Geschlechte genau bestimmen können, da die übrigen verwachsen und mit der oberen Kinnlade auf das genaueste verbunden sind. So zeigt sich an den äußeren Teilen der Gesichtsknochen nicht die mindeste Sutur oder Harmonie, wodurch man auf die Mutmaßung kommen könnte, daß dieser Knochen bei dem Menschen getrennt sei.

Die Ursache scheint mir hauptsächlich darinne zu liegen.

Dieser Knochen, der bei Tieren so außerordentlich vorgeschoben ist, zieht sich bei dem Menschen in ein sehr kleines Maß zurück. Man nehme den Schädel eines Kindes, oder Embryonen vor sich, so wird man sehen, wie die keimenden Zähne einen solchen Drang an diesen Teilen verursachen und die Beinhäutchen so spannen, daß die Natur alle Kräfte anwenden muß, um diese Teile auf das innigste zu verweben. Man halte einen Tierschädel dagegen, wo die Schneidezähne so weit vorwärts gerückt sind und der Drang sowohl gegeneinander als gegen den Hundszahn nicht so stark ist. Inwendig in der Nasenhöhle verhält es sich ebenso. Man kann, wie schon oben bemerkt, die Sutur des ossis intermaxillaris aus den canalibus incisivis bis dahin verfolgen, wo die ossa turbinata oder conchae inferiores sich anlegen. Hier wirkt also der Trieb des Wachstumes dreier [194] verschiedenen Knochen gegeneinander und verbindet sie genauer.

Ich bin überzeugt, daß denjenigen, die diese Wissenschaft tiefer durchschauen, dieser Punkt noch erklärbarer sein wird. Ich habe verschiedene Fälle, wo dieser Knochen auch bei Tieren zum Teil oder ganz verwachsen ist, bemerken können, und es wird sich vielleicht in der Folge mehr darüber sagen lassen. Auch gibt es mehrere Fälle, daß Knochen, die sich bei erwachsenen Tieren leicht trennen lassen, schon bei Kindern nicht mehr abgesondert werden können.

Die Tafeln, die ich beifüge, sind meistens nur die ersten Versucharbeiten eines jungen Künstlers, der sich unter dem Arbeiten gebessert hat. Es ist eigentlich nur die dritte und siebente Tafel völlig nach der Camperischen Methode gearbeitet; doch habe ich nachher das os intermaxillare verschiedener Tiere nach selbiger auf das bestimmteste zeichnen lassen; und sollte ein solcher Beitrag zur vergleichenden Knochenlehre den Kennern interessant sein, so wäre ich nicht abgeneigt, eine Folge dieser Abbildungen in Kupfer stechen zu lassen.

Bei den Cetaceis, Amphibien, Vögeln, Fischen habe ich diesen Knochen teils auch entdeckt, teils seine Spuren gefunden.

Die außerordentliche Mannigfaltigkeit, in der er sich an den verschiedenen Geschöpfen zeigt, verdient wirklich eine ausführliche Betrachtung und wird auch selbst Personen auffallend sein, die an dieser so dürr scheinenden Wissenschaft sonst kein Interesse finden.

Man könnte alsdann mehr ins einzelne gehen und bei genauer stufenweiser Vergleichung mehrerer Tiere vom Einfachsten auf das Zusammengesetztere, vom Kleinen und Eingeengten auf das Ungeheuere und Ausgedehnte fortschreiten.

Welch eine Kluft zwischen dem os intermaxillare der Schildkröte und des Elefanten, und doch läßt sich eine Reihe Formen dazwischenstellen, die beide verbindet. Das, was an ganzen Körpern niemand leugnet, könnte man hier an einem kleinen Teile zeigen.

Man mag die lebendigen Wirkungen der Natur im ganzen [195] und großen übersehen, oder man mag die Überbleibsel ihrer entflohenen Geister zergliedern: sie bleibt immer gleich, immer mehr bewundernswürdig.

Auch würde die Naturgeschichte einige Bestimmungen dadurch erhalten. Da es ein Hauptkennzeichen unseres Knochens ist, daß er die Schneidezähne enthält: so müssen umgekehrt auch die Zähne die in denselben eingefügt sind als Schneidezähne gelten. Dem Trichechus rosmarus und dem Kamele hat man sie bisher abgesprochen und ich müßte mich sehr irren, wenn man nicht jenem vier und diesem zwei zu eignen könnte.

Und so beschließe ich diesen kleinen Versuch mit dem Wunsche, daß er Kennern und Freunden der Naturlehre nicht mißfallen und mir Gelegenheit verschaffen möge, näher mit ihnen verbunden, in dieser reizenden Wissenschaft, soviel es die Umstände erlauben, weitere Fortschritte zu tun.

Fußnoten

1 Galenus, Lib. de ossibus. Cap. III.

2 Campers sämtliche kleinere Schriften, herausgegeben von Herbell. Ersten Bandes zweites Stück S. 93 u. 94. Blumenbach de varietate generis humani nativa, pag. 33.

3 Vesalius de humani corporis fabrica (Basil. 1555) Libr. I. Cap. IX. Fig. II. pag. 48. 52. 53


Notes
Entstanden 1784. Erstdruck in: Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie (Stuttgart/Tübingen), 1. Band, 2. Heft, 1820 [ohne Tafeln].
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Goethe, Johann Wolfgang von. Dem Menschen wie den Tieren ist ein Zwischenknochen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-671A-6