Aeneis
(Aeneis)

Erster Gesang

[139] Erster Gesang.

Kriegstaten will ich besingen, den Helden dazu, der als Flüchtling,
Opfer des Schicksals, von Troja zuerst Italien erreichte,
dort, wo er später Lavinium gründete. Gnadenlos jagte
Juno voll Haß ihn über die Länder und Meere. Er mußte
furchtbare Kämpfe auch ausfechten, bis er in Latium endlich
Wohnstätten schuf für sich selbst und die Götter der Vorfahren: Ursprung
für die Latiner, die Väter von Alba, Roms riesige Mauern.
Sage mir, Muse: Was für ein Widerstand kränkte und welcher
Ärger reizte die Fürstin der Götter, daß sie den treuen,
pflichtbewußt handelnden Helden so viele Gefahren und Leiden
aussetzte? Können sich Himmelsbewohner so rachgierig zeigen?
Lange schon stand, von Siedlern aus Tyrus gegründet, Karthago,
grad gegenüber Italien, fern vor der Mündung des Tiber,
wohlhabend, auch in der Kriegskunst bewährt, gefürchtet von Gegnern.
Juno, erzählt man, habe die Hafenstadt ihrem geliebten
Samos noch vorgezogen: Ihr hatte sie Waffen und Wagen
anvertraut, wollte in glühendem Eifer, sofern nur das Schicksal
günstig sich zeigte, zur Herrscherin über die Welt sie erhöhen.
Aber ihr war zu Ohren gekommen, daß Nachfahren Trojas
einstmals die tyrische Gründung dem Erdboden gleichmachen sollten,
daß sie ein weithin gebietendes, stolzes Kriegervolk werden
sollten, zum Untergang Libyens, gemäß der Entscheidung der Parzen.
Davor bangte sie, konnte den Krieg auch niemals vergessen,
den sie bei Troja in vorderster Reihe zugunsten des teuren
Argos einst führte, nein, nährte noch immer den Groll und den bittren
Ärger: Tief nagte an ihrem Herzen das Urteil des Paris,
der sie, so stattlich sie war, doch zurückwies, der Haß auf die Sippe
[139] Ilions, auf Ganymedes, den Jupiter raubte und ehrte.
Dadurch noch grimmiger aufgebracht, trieb sie die Schar der Trojaner,
die den Hellenen, dem wilden Achilleus entrann, auf den weiten
Fluten umher und hielt sie von Latium fern; das Verhängnis
jagte sie viele Jahre dahin auf sämtlichen Meeren.
Derartig mühevoll war es, das Römergeschlecht zu begründen.
Freudig erreichten die Troer das offene Meer, und Siziliens
Küste versank; um die ehernen Buge schäumte die Salzflut.
Da überlegte Juno, noch immer den Stachel im Herzen:
»Soll ich klein beigeben, abstehen etwa von meinem Beginnen,
unfähig sein, dem Fürsten der Teukrer Italien zu sperren?
Ja, mir verwehrt es das Schicksal. Doch Pallas durfte in Flammen
setzen die griechische Flotte, die Mannschaften elend ersäufen,
nur weil der Sohn des Oïleus der schuldhaften Leidenschaft nachgab,
schleuderte selbst aus den Wolken Jupiters Blitzstrahl, zerstreute
weithin die Schiffe, zerwühlte das Meer mit stürmischen Winden,
stieß dem Verbrecher quer durch die Brust die tödliche Flamme,
hob ihn empor im Orkan und spießte ihn hoch auf die Klippe!
Ich, die ich unter den Göttern als Königin schreite, des Herrschers
Schwester und Gattin, ich schlage so viele Jahre miteinem
Volk mich herum! Wer soll denn künftig zu Juno noch beten,
demütig ihren Altären die schuldigen Ehren erweisen?«
So überlegte die Göttin wutflammenden Herzens und machte
sich nach Äolien auf, zur Heimat der Wolken, dem Ursprung
rasender Stürme. Hier herrscht in riesiger Grotte der König
Aiolos über die trotzigen Winde und brausenden Wetter,
dämpft sie mit Macht und hält sie durch Kerker und Fesseln im Zaume.
Unwillig donnern sie gegen die fest verschlossenen Tore,
dumpf erdröhnen die Bergwände. Aiolos thront mit dem Zepter
hoch auf dem Gipfel, beschwichtigt die Wütenden, mäßigt ihr Grollen.
Andernfalls rafften sie Land und Meer und das Himmelsgewölbe
ungestüm fort und fegten mit ihnen geschwind durch die Lüfte.
[140] Doch der allmächtige Vater, aus eben solchen Bedenken,
barg sie in finsteren Höhlen, unter schwer lastenden, hohen
Bergen und setzte den König über sie; in Übereinkunft
sollte er festhalten oder auch loslassen sie, je nach Auftrag.
Bittend wandte sich Juno an ihn mit folgenden Worten:
»Aiolos, der du, vom Vater der Götter und Menschen ermächtigt
wurdest, das Meer zu besänftigen oder mit Stürmen zu peitschen:
Über die Flut des tyrrhenischen Meeres bringen jetzt meine
Feinde zu Schiff nach Italien Trojas geschlagene Götter!
Hetze die Winde auf sie, laß kentern und sinken die Schiffe,
gib den Besatzungen, weithin verstreut, ein Grab in den Fluten!
Sieben hervorragend hübsche Nymphen sind mir zu eigen;
eine von ihnen, die schönste, Deïopeia, sie werde
dir zur Gemahlin ich geben, zu festem Bunde; für deinen
mir jetzt erwiesenen Dienst soll ewig mit dir sie vereinigt
leben und soll dich beglücken mit ganz vortrefflichen Kindern.«
Aiolos gab ihr zur Antwort: »Herrin, du brauchst mir nur deine
Wünsche zu sagen, ich muß als heilige Pflicht sie erfüllen.
Meine bescheidene Stellung, mein Zepter und Jupiters Gnade
danke ich dir, du vergönnst mir den Platz an der Tafel der Götter,
du auch verleihst mir die Herrschaft über die Wolken und Winde.«
Derart sprach er und stieß mit dem stumpfen Ende des Speeres
tief in die Flanke des Berges. Da brausten aus klaffender Öffnung,
jäh, wie zur Schlacht, die Winde und wirbelten über die Fluren,
stürzten sich nieder aufs Meer; gemeinsam Euros und Notos,
Africus auch, der böige, wühlten zutiefst aus dem Schlunde
aufwärts die Fluten und wälzten mächtige Wogen zur Küste.
Laut begannen die Männer zu rufen, hell knarrten die Taue.
Düstere Wolken entrissen den Augen der Teukrer ganz plötzlich
Himmel und Sonne, schon lastete finstere Nacht auf dem Meere.
Krachend begann es zu donnern, grell zuckte von Blitzen der Äther,
überall drohte den Männern der Tod aus furchtbarer Nähe.
[141] Kaltes Entsetzen lähmte sogleich dem Aeneas die Glieder.
Aufstöhnend reckte er dann die Arme empor zu den Sternen,
stieß die Worte hervor: »Ihr dreifach und vierfach Beglückten,
die ihr vor Trojas ragenden Mauern hinsinken durftet
unter den Augen der Väter! Du, Sprößling des Tydeus, von allen
Griechen der Tapferste, warum konntest du nicht auf dem Schlachtfeld
Trojas mit deiner Rechten das Leben mich aushauchen lassen,
dort, wo der grimmige Hektor erlag dem Speer des Achilles,
gleichfalls Sarpedon, der riesige, fiel, der Simóeis im Wasser
Schilde und Helme und Leichen tapferer Kämpfer mit fortreißt!«
Während er sprach, schlug wuchtig der Nordwind mit pfeifender Böe
gegen die Segel und peitschte die Wogen empor zu den Sternen.
Ruder zerbrachen, die Schiffe verloren die Richtung, sie boten
plötzlich die Seite den Wellen; ein Wasserberg schwoll in die Höhe,
hoch auf dem Wogenkamm tanzten sie, schauten in klaffende Tiefen
bis auf den Meeresgrund, sahen die Fluten in Sandmassen wühlen.
Drei von den Schiffen warf der Süd auf verborgene Klippen –
Felsen auf offener See, der Italer nennt sie »Altäre«,
langgestreckt unter der Oberfläche –; drei drängte der Oststurm
bis zu den Untiefen hin, in die Syrte, ein klägliches Schauspiel,
stieß auf die Sandbänke sie und umschloß sie gleichsam mit Dünen.
Über dem einen – mit Lykiern an Bord und dem treuen Orontes –
brach vor den Augen des Anführers eine gewaltige Woge
nieder aufs Heck; den Steuermann rissen kopfüber die Fluten
mit sich hinweg; doch den Schiffsrumpf drehte der Wasserschwall dreimal
wirbelnd im Kreise, dann schlang ihn der Strudel hinab in die Tiefe.
Über dem brodelnden Abgrund sah man nur wenige Menschen
schwimmen, Schilde und Kappen, auch Planken und Stücke aus Trojas
Schatzkammern. Nunmehr erlag dem Orkan das tüchtige Fahrzeug
[142] des Ilioneus, jenes des Abas, das Schiff auch des greisen
Helden Aletes; gieriges Meerwasser drang durch die grausam
undicht geschlagenen Wände, schon klafften gefährliche Risse.
Aber inzwischen vernahm Neptunus den donnernden Aufruhr,
den auf dem Meere wütenden Sturm, sah selbst aus der stillen
Tiefe die sonst so ruhigen Wasser aufwärts sich bäumen.
Auftauchend hob er sein friedliches Haupt aus den Wogen zur Umschau.
Weithin verstreut schon sah er die Flotte des Helden Aeneas
über die See, bedrängt von der Flut und von prasselndem Regen,
und durchschaute sogleich die grimmige Tücke der Schwester
Juno. Da rief er Zephyros zu sich und Euros und sagte:
»Ist euch der Stolz auf euer Geschlecht zu Kopfe gestiegen?
Wagt ihr es, Winde, ohne daß ich es befehle, in Aufruhr
Himmel und Erde zu stürzen, so riesige Wogen zu türmen?
Wartet nur – aber ich möchte erst lieber den Wellengang dämpfen.
Keineswegs sollt ihr noch einmal so glimpflich davonkommen. Schleunigst
schert euch von dannen, erstattet eurem Gebieter die Meldung:
Ihm nicht ward die Befehlsgewalt über das Meer und den scharfen
Dreizack gegeben, nein, mir! Er beherrscht nur die riesigen Felsen,
Euros, in denen ihr wohnt. Dort mag sich Aiolos brüsten,
über den sicher verschlossenen Kerker der Winde regieren!«
Derart sprach er und dämpfte sofort die stürmischen Wogen,
scheuchte die Wolken hinweg, ließ wieder das Sonnenlicht strahlen.
Kymothóë und Triton schoben gemeinsam vom spitzen
Felsen die Schiffe herunter. Neptunus half mit dem Dreizack
nach, er lockerte hemmenden Schwemmsand und glättete Wogen,
glitt mit dem Rossegespann ganz mühelos über die Wellen.
Wie in der riesigen Menge des Volkes ein Aufruhr schon ausbricht,
unter den niederen Massen die Leidenschaft wütet und Steine,
lodernde Brandsätze fliegen, zur Waffe die Rasenden greifen,
aber sogleich beim Anblick eines verdienten und seinem
Vaterland treuen Mannes verstummen und lauschend verharren,
während sein Wort die Tobenden bannt, die Erbitterung mäßigt:
[143] ebenso legte das Tosen des Meeres sich, als jetzt Neptunus
spähenden Blicks bei heiterem Himmel die See überquerte,
ungehemmt ausgreifen ließ die Rosse an lockeren Zügeln.
Völlig erschöpft versuchte die Schar des Aeneas den nächsten
Strand zu erreichen; sie näherte sich der libyschen Küste.
Abseits gelegen war die Stätte; ein Eiland erstreckte
quer vor der Bucht sich und machte zum Hafen sie: Denn an der Insel
brachen die Wogen sich, strömten in friedlicher Ruhe landeinwärts.
Beiderseits drohten riesige Felsen und Klippen, zum Himmel
ragend, und jenseits, zu Füßen der Spitzen, breitete völlig
still sich der Hafen. Im Hintergrund ragte mit zitterndem Laubwerk
dunkel ein Waldstück und warf von oben düsteren Schatten.
Ebendort bildeten, unterhalb, hängende Felsspitzen eine
Grotte voll Süßwasserquellen und Sitzen aus schlichtem Naturstein,
eine Behausung der Nymphen. Hier brauchen die Schiffe nach langer
Seefahrt kein Tau zum Festhalten, keinen krummzackigen Anker.
Sieben Fahrzeuge konnte Aeneas noch sammeln. Mit ihnen
lief in den Hafen er ein. Voll tiefer Sehnsucht nach festem
Lande betraten die Troer dankbar das sandige Ufer,
streckten sich, noch vom Salzwasser triefend, hin am Gestade.
Aber zuerst entlockte Achates dem Kieselstein Funken,
fing sie in dürren Blättern, nährte das Flämmchen mit trocknem
Brennstoff und lockte sehr rasch empor die lodernde Flamme.
Trotz der Erschöpfung holte man die vom Wasser verdorbnen
Körner, Geräte dazu und begann die geborgene Feldfrucht
über dem Feuer zu rösten und zwischen den Steinen zu mahlen.
Aber Aeneas bestieg inzwischen den Felsturm und schaute
weithin im Umkreis über das Meer, um etwa den Antheus
noch als Verschlagnen zu sichten, die doppelt beruderten Schiffe,
Kapys vielleicht, auf hohem Heck das Gerät des Kaïkos.
[144] Doch er erspähte kein Schiff, sah nur am Gestade drei Hirsche
streifen und hinter ihnen ein ganzes Rudel; es äste
friedlich in langem Zuge, verteilt auf die fruchtbaren Täler.
Stehen blieb er und griff zum Bogen sowie zu den flinken
Pfeilen, die der treue Gefährte Achates ihm nachtrug,
schoß und erlegte zuerst die drei Leittiere, die auf den Häuptern
stolz die verzweigten Geweihe trugen; dann scheuchte den ganzen
Schwarm er mit Pfeilen in wilder Flucht bis ins grünende Buschwerk,
hörte erst dann auf, als er sieben stattliche Stücke
hingestreckt hatte, für jedes der ihm verbliebenen Schiffe
eines; dann kehrte zum Hafen zurück er und teilte die Beute,
teilte den Wein auch, den der edle und tapfre Akestes
ihnen in Krüge füllte zum Abschied am Strande Siziliens,
suchte darauf zu ermuntern seine betrübten Gefährten:
»Freunde, wir hatten schon früher Unglück, ja, schwerer als heute.
Auch aus der heutigen Lage dürfte ein Gott uns erlösen.
Ihr erlebtet die wütende Skylla, das grauenhaft laute
Rauschen der Klippen, die felsigen Höhlen im Land der Kyklopen.
Deswegen faßt euch, ergebt euch nicht länger der Furcht und der Trauer:
Sicher wohl werdet ihr gern auch ans Heute euch einmal erinnern!
Vielerlei Mißgeschick, zahlreiche höchste Gefahren begleiten
uns bis nach Latium. Dort verheißt uns göttlicher Wille
friedliches Wohnen, dort soll sich Troja aufs neue erheben.
Haltet noch aus und bewahrt euch für künftige glückliche Tage!«
Derart sprach er und zeigte, trotz mitleidlos drängender Sorgen,
Zuversicht, suchte den Kummer selbst tief im Herzen zu bergen.
Doch die Gefährten wandten der Beute sich zu und der Mahlzeit,
trennten vom Fleische das Fell und entblößten die inneren Teile,
schnitten in Stücke das Fleisch, das noch zuckte, und spießten es; andre
stellten die Kessel am Strand auf und nährten und schürten die Feuer.
Anschließend stärkten sie sich beim Schmause und tranken, im Grase
ausgestreckt, alten Wein zum nährend-saftigen Wildbret.
[145] Als sie den Hunger gestillt und die Reste abgeräumt hatten,
fragten sie eifrig einander nach ihren verschollenen Freunden,
schwankten zwischen der Furcht und der Hoffnung: Ob sie noch lebten,
ob sie ertranken und Stimmen von Rufenden gar nicht mehr hörten.
Innig klagte, für sich allein, der treue Aeneas,
daß der kühne Orontes, Amykos auch, starben, daß Lykos
schrecklich ertrank, der tapfere Gyas, der wackre Kloanthos.
Endlich verstummten die Klagen. Da schaute aus Höhen des Äthers
Jupiter über das segelumflatterte Meer und das Festland,
Küsten und weithin siedelnde Völker, und trat auf des Himmels
Gipfel und heftete spähend den Blick auf das Königreich Libyen.
Während er dastand, vertieft in sorgenvolle Gedanken,
näherte Venus sich ihm, recht traurig, die glänzenden Augen
tränenumflort, und sagte: »Du, der du den Menschen und Göttern
ewig gebietest, sie auch in Schrecken versetzt durch den Blitzstrahl,
sag mir: Was tat mein Aeneas, was taten die Troer dir Unrecht,
daß, nach so schweren Verlusten, sie ausgesperrt werden vom ganzen
Erdkreis, nur weil sie Italien als Ziel der Meerfahrt sich setzten?
Sollten von dort doch im Kreislauf der Jahre einstmals die Römer
stammen, die Fürsten vom frisch belebten Blute des Teukros,
unumschränkte Gebieter zu Wasser, zu Land: Das versprachst du!
Warum, mein Vater, hast du deine Entscheidung geändert?
Über den Untergang Trojas und seine traurigen Trümmer
tröstete ich mich hinweg durch die Hoffnung auf künftigen Ausgleich.
Aber das Unglück verfolgt jetzt weiter die Männer mit derart
furchtbaren Schlägen. Wann machst du, Erhabener, Schluß mit den Plagen?
Quer durch die Scharen der Griechen konnte Antenor entkommen,
bis zur illyrischen Bucht gelangen, verlustlos in ihrem
Winkel Liburnergebiet und Timavusquell hinter sich bringen,
wo aus neun Schlünden unter gewaltigem Dröhnen des Berges
[146] gleichsam ein Meer hervorbricht und über die Fluren dahinrauscht!
Dennoch gründete dort er Patavium, machte die Teukrer
seßhaft und gab dem Volke den Namen; die troischen Waffen
durfte er weihen, des Friedens behagliche Ruhe genießen.
Uns zwar versprachst du, deinen Kindern, die Festung des Himmels,
doch weil nur eine Göttin uns zürnte, sind wir verraten,
büßten die Schiffe ein, wurden fern von Italien verschlagen.
Heißt das die Treue belohnen, uns eine Herrschaft verleihen?«
Lächelnd nickte ihr zu der Vater der Götter und Menschen,
zeigte das heitere Antlitz, mit dem er die Stürme besänftigt,
küßte die Tochter recht zärtlich und gab ihr folgende Antwort:
»Sorge dich nicht, Kythereia: Das Schicksal der Deinen vollzieht sich
ohne Störung. Laviniums Stadtmauern wirst du noch sehen,
wie ich versprach, wirst hoch hinauf zu den Sternen des Himmels
tragen den tapfren Aeneas; ich ändre nicht meine Entscheidung.
Aussprechen will ich es, weil dich die Sorge so hartnäckig peinigt,
will dir, weit ausholend, klar das Geheimnis der Zukunft enthüllen:
Angestrengt kämpfen noch muß der Held in Italien, wilde
Völker bezwingen, Verfassung und Stadtrecht ihnen gewähren,
bis ihn drei Sommer die Herrschaft in Latium ausüben sahen,
dreimal, besiegt, die Rútuler Winterquartiere bezogen.
Aber sein Sohn Ascanius, jetzt als Iulus bezeichnet –
Ilos hieß er, solange noch Ilions Königreich blühte –,
wird in dem Kreislauf der Monate dreißig Jahre lang herrschen,
wird von Lavinium aus die Macht nach Alba verlagern,
kraftvoll das Städtchen zu einer befestigten Hauptstadt erhöhen.
Anschließend werden für dreihundert Jahre die Nachkommen Hektors
dort noch regieren, bis Ilia, Priesterin fürstlichen Stammes,
schwanger durch Mars, die Mutter von Zwillingen wird. Und voll Freude über
das bräunliche Fell der Wölfin, die hilfreich ihn säugte,
setzt dann Romulus fort das Geschlecht; die Mauern der Marsstadt
gründet er, nennt nach dem eigenen Namen die Einwohner Römer.
[147] Diesen bestimme in Raum und Zeit ich keinerlei Grenzen,
lasse sie endlos herrschen. Sogar die grausame Juno,
heute noch Göttin des Schreckens für Meer und Festland und Himmel,
dürfte sich eines beßren besinnen, mir beipflichten, eifrig
fördern die Römer, die Herren der Welt, die Träger der Toga.
Derart lautet mein Wille. Und einstmals, im Wandel der Zeiten,
wird das Geschlecht des Assárakos Phthia ins Sklavenjoch spannen
nebst dem berühmten Mykene, auch Argos besiegen und knechten.
Aus dem erhabnen Geschlecht ersprießt, als Trojaner, dann Caesar;
bis an den Ozean dehnt sich sein Reich, sein Ruhm zu den Sternen;
Iulius lautet sein Name, vererbt vom großen Iulus.
Ledig der Sorgen, empfängst du im Himmel ihn einst, wo er eintrifft
mit den Trophäen des Ostens; auch ihm winkt göttliche Ehre.
Aufhören wird dann der Krieg, die Härte der Menschen sich mildern.
Fides, ergraut schon, und Vesta, Quirinus, vereint mit dem Bruder
Remus, erlassen Gesetze; des Krieges schreckliche Tore
schließt man mit eisernen Riegeln. Drin hockt auf den grausigen Waffen
Furor, der Gottlose, rücklings mit hundert ehernen Ketten
sicher gefesselt, und knirscht entsetzlich mit blutigem Rachen.«
Derart sprach er und schickte den Sprößling der Maja vom Himmel:
Gastfreundlich sollte die neugegründete Burg von Karthago
offenstehen den Teukrern, Dido, in Kenntnis der Pläne
Jupiters, gern sie empfangen. Über das Himmelsgewölbe
flog mit eilenden Schwingen Hermes zur libyschen Küste,
wo er den Auftrag erfüllte. Entsprechend dem göttlichen Willen
ließen die trotzigen Punier sich umstimmen; Dido, vor allen,
wollte die Teukrer in Ruhe und Frieden voll Güte empfangen.
Vielerlei freilich erwog in der Nacht der fromme Aeneas,
kam zum Entschluß, mit dem Aufgang des wärmenden Sonnenlichts, selber
aufzubrechen, das Land, in das sie der Sturmwind verschlagen,
[148] rings zu erkunden, mit seinen Bewohnern, vielleicht auch nur Tieren –
schien es doch unbebaut –, dann den Gefährten Bericht zu erstatten.
Unter der Wölbung des Felsens, die der Wald über dachte
und mit schaurigem Schatten umfing, verbarg er die Schiffe,
brach dann zum Spähergang auf, mit nur einem Begleiter, Achates,
schwang in der Faust zwei Lanzen mit breiter eiserner Spitze.
Mitten im Walde begegnete ihnen ganz plötzlich die Mutter,
Mädchen nach Antlitz und Haltung, auch wie ein Mädchen bewaffnet,
eine Spartanerin etwa, auch Thrakiens Kind Harpalyke,
flinker als Rosse, ja schneller auch noch als der reißende Hebros.
Denn auf den Schultern trug sie, nach Jägerart, griffbereit ihren
Bogen und ließ die gelockerten Haare flattern im Winde,
nackt die Knie, geschürzt den wallenden Bausch des Gewandes.
»Sagt mir doch, bitte, ihr Männer«, begann sie zu sprechen, »erblicktet
eine von meinen Schwestern ihr hier auf den Spuren des Wildes,
Köcher geschultert und in ein geflecktes Luchsfell gekleidet?
Oder verfolgt sie, laut rufend, einen schäumenden Eber?«
Derart fragte sie. Seinerseits fragte ihr Sohn in der Antwort:
»Keine von deinen Schwestern hörte und sah ich – doch, Mädchen,
sag mir, wie soll ich dich nennen? Dein Antlitz erscheint mir nicht sterblich,
auch nicht nach Menschenart sprichst du. Du bist doch sicherlich eine
Göttin – die Schwester des Phöbus? Ein Wesen vom Nymphengeschlechte?
Bringe uns Glück, wer immer du bist, und hilf uns in unsrer
Not und erklär uns, in welcher Gegend, an welchem Gestade
wir uns herumtreiben. Ohne das Land und die Menschen zu kennen,
streifen wir ziellos, von Sturm und Strömung hierher verschlagen;
reichlich auch wollen wir Opfer dir bringen an unsern Altären.«
[149] Da sprach Venus: »Ich habe kein Recht auf göttliche Ehrung.
Mädchen von Tyros tragen gewöhnlich den Köcher und schnüren
purpurne Jagdstiefel hoch um die Waden. Hier hast du vor Augen
punischen Herrschaftsbereich, die Festung Agenors und Tyrier.
Libyen heißt das Gebiet, sein Volk sind trotzige Krieger.
Dido regiert. Sie stammt aus Tyros, geflohen vor ihrem
Bruder. Langwierig ist die Geschichte des Unrechts, der Hergang
ziemlich verwickelt. Ich möchte dir nur das Wichtigste sagen.
Dido war mit Sychaios vermählt, Phöniziens reichstem
Grundbesitzer. Ihn liebte heiß die bemitleidenswerte
Herrin; sie hatte noch keiner begehrt, bevor sie der Vater
jenem zur Frau gab. Doch über Tyros herrschte der Bruder
Didos, Pygmalion, ein ganz außergewöhnlicher Schurke.
Rasender Haß auf den Gatten befiel ihn, und vor dem Altare,
gottlos, vor Geldgier blind, aus dem Hinterhalt, schlug er den völlig
Arglosen tot; so gleichgültig war ihm die Liebe der Schwester.
Lange verheimlichte er die Schandtat und täuschte mit leeren
Hoffnungen tückisch die unverwandt liebende traurige Gattin.
Aber im Traume erschien ihr der unbestattete Tote,
wandte gespenstisch sein bleiches Gesicht ihr entgegen, enthüllte,
was am Altar an Greueln geschehn, wie der Stahl ihn durchbohrte,
deckte rückhaltlos auf den verborgenen Schandfleck des Hauses.
Schleunige Flucht aus der Heimat riet er danach der Gemahlin,
nannte als Mittel zur Reise ihr alte, im Erdreich verborgne
Schätze an Gold und Silber, von denen kein anderer wußte.
Dido entschloß sich zur Flucht und suchte sich treue Gefährten.
Bitterer Haß auf den Herrscher, lähmende Furcht auch vereinte
viele. Seetüchtiger Schiffe bemächtigten sie sich, beluden
sie mit dem Golde, entführten den Schatz vor der Habgier des Fürsten
über das Meer. Es lenkte Dido als Frau das Geschehen.
Dorthin gelangten sie, wo du jetzt siehst die gewaltigen Mauern,
auch das allmähliche Wachsen der Burg des neuen Karthago;
so viel vom Boden hatten gekauft sie – es heißt ja auch Byrsa –,
wie man mit einer Stierhaut bequem zu umfassen vermochte.
Aber zu euch jetzt: Wer seid ihr? Von woher seid ihr gekommen?
Wohin führt euch der Weg?« So fragte sie.
[150] Aber Aeneas
seufzte und gab ihr zugleich, in tiefer Erregung, zur Antwort:
»Göttin, erzählte von Anfang an ich unsre Geschichte,
hättest du Zeit auch, dem Leidensberichte zu lauschen, so wäre
dann der Olymp schon verschlossen, der Tag dem Abend gewichen.
Fern aus dem uralten Troja – sofern dir der Name der Festung
einmal zu Ohren gekommen – fuhren wir über die Fluten,
als ein Orkan uns plötzlich verschlug an die libysche Küste.
Ich, der getreue Aeneas, entriß dem Feind die Penaten,
führe im Schiffe sie mit, mein Ruhm erreichte den Himmel.
Nach Italien möchte ich, wo mir die Ahnen, vom Stamme
Jupiters, lebten. Über das Phrygermeer fuhr ich mit zwanzig
Schiffen und folgte, nach Weisung der Mutter, meiner Bestimmung.
Wogen und Sturmwind ließen mir sieben, beschädigt, noch übrig.
Jetzt, aus Europa und Asien vertrieben, irre ich, keinem
hierzulande bekannt, ein Bettler, durch Einöden Libyens.«
Da unterbrach ihn Venus im Klagen mit folgenden Worten:
»Wer du auch sein magst, schwerlich lebst du und atmest als einer,
den die Unsterblichen hassen, wo du Karthago erreichtest!
Gehe nur weiter, begib dich von hier zum Königspalaste!
Deine Gefährten kehrten zurück, die verschollenen Schiffe
lenkte der Nordwind zum Hafen – das habe ich dir zu berichten –,
wenn mich die Eltern erfolgreich die Kunst der Vogelschau lehrten.
Sieh die zwölf Schwäne dort ruhig dahinziehen: Eben noch scheuchte
Jupiters Bote, vom Äther herabschießend, jäh sie vom heitren
Himmel; jetzt sieht man in langem Zug sie die Erde erreichen,
einige auch, die von oben herab noch schauen zum Boden:
Wie sie dort aufsetzen, froh der Rettung, mit rauschenden Schwingen,
teils noch am Himmel kreisen und singen in heiterer Stimmung,
ebenso weilen schon deine Schiffe mitsamt der Besatzung
sicher im Hafen, teils nahen sie ihm vor günstigem Winde.
Schreite nur vorwärts und folge dem eingeschlagenen Wege!«
[151] Derart sprach sie und wandte sich ab. Ihr Nacken erstrahlte
rosig, vom Haupte dufteten köstlich ambrosische Haare;
bis auf die Füße wallte herab das Gewand: So enthüllte
sie sich im Gehen als Göttin. Aeneas erkannte die Mutter,
rief hinterdrein ihr, verbittert, während sie schnell sich entfernte:
»Warum verhöhnst du, nicht weniger grausam als andere Götter,
derart den Sohn mit verlogenen Angaben? Weigerst ihm deinen
Handschlag und einen ehrlichen Austausch lauterer Wahrheit?«
Solchen Vorwurf erhob er und lenkte die Schritte zur Mauer.
Venus umgab die beiden mit undurchsichtiger Luftschicht,
hüllte sie gleichsam in ein Gewand aus wogendem Nebel;
sollte doch niemand sie sehen oder sie treffen, auch niemand
anhalten sie und etwa den Grund des Kommens erfragen.
Danach entschwebte die Göttin nach Paphos, begrüßte die Stätte
freudig, an der sich ihr Tempel erhebt und auf hundert Altären
Weihrauch von Saba dampft, auch blühende Kranzblumen duften.
Angespannt folgten inzwischen die zwei der Richtung des Weges.
Bald erklommen den Hügel sie, der als höchster die Siedlung
weit überragt und auf die Befestigungswerke hinabschaut.
Staunend erblickte Aeneas den riesigen Bauplatz – hier standen
ehemals Hütten! –, die Tore, die Straßen, das laute Getümmel.
Glühender Arbeitseifer spornte die Tyrier; sie zogen
Mauern, sie bauten die Burg, sie wälzten die Steine mit Händen.
Andere suchten den Platz für ihr Haus und zogen die Grenzen.
Wahlen vollzog man für Richter, Beamte, ehrwürdige Ratsherrn.
Becken für Häfen legte man an und schuf Fundamente
für das Theater, recht tief, und hieb aus natürlichem Felsen
mächtige Säulen als würdigen Schmuck für die Bühnengebäude.
Ebenso fleißig arbeiten Bienen im Frühsommer, zwischen
Blüten, im Sonnenschein, führen den eben erwachsenen Nachwuchs
rührig ins Freie, tragen den fließenden Honig zusammen –
sollen sich doch die Zellen prall füllen mit köstlichem Nektar –,
nehmen voll Eifer entgegen die Lasten der Kommenden oder
[152] scheuchen als Kampftrupp die Drohnen, das müßige Pack, von den Krippen;
glühende Schaffenskraft spornt sie, von Thymian duftet der Honig.
»Glücklich, ihr Tyrier, seid ihr, da eure Mauern schon wachsen!«
rief Aeneas, bewunderte, abwärts steigend, die hohen
Giebel und mischte sich, wundersam dicht von Nebel umflossen,
unter die tätigen Menschen, ohne gesehen zu werden.
Mitten im Stadtgebiet lag ein Wäldchen, voll kühlendem Schatten.
Ebendort hatten die Punier am Anfang, vom Sturm grad verschlagen,
ausgegraben das Zeichen, das ihnen die Herrscherin Juno
einstmals verhieß: den Pferdekopf; denn mit seinem Besitze
würden erfolgreich sie kämpfen und glücklich lange Zeit leben.
Ebendort ließ jetzt Dido einen gewaltigen Tempel
bauen für Juno; das Walten der Göttin und Weihgaben hoben
glanzvoll sein Ansehen. Bronzen, über der Freitreppe, waren
prächtig die Schwellen, die Torpfeiler bronzen, die Torflügel, knarrend
noch in den Angeln. Erst hier benahm, unvermutet, ein Bildwerk
unserem Helden die Furcht, ließ mutig ihn Zuversicht fassen,
gab, noch im Unglück, Vertrauen auf glückliche Zukunft ihm wieder.
Denn, auf die Königin wartend, betrachtete er in dem weiten
Innenraum einzeln die Stücke, bestaunte den Reichtum Karthagos
und das Zusammenwirken der Handwerker wie auch der Künstler.
Dabei erblickte er plötzlich, der Reihe nach dargestellt, Szenen
aus dem Trojanischen Krieg, die der Ruhm um die Welt schon getragen,
Priamos, dann die Atriden, Achilles, voll Wut auf sie beide.
Stehen blieb er, ihm kamen die Tränen, er rief: »Mein Achates,
gibt es auf Erden noch Stätten, die unserem Kampf sich verschließen?
Priamos, sieh nur! Man würdigt auch hier die rühmliche Leistung,
[153] weint auch über das Unglück, betroffen vom Schicksal der Menschen.
Sei nicht mehr bange: Der Ruhm verheißt dir irgendwie Rettung!«
Derart rief er, genoß in tiefer Bewegung die Bilder,
stöhnte, schmerzlich ergriffen, und netzte mit Tränen die Wangen.
Sah er doch auf dem Schlachtfeld vor Troja die fliehenden Griechen,
sah, wie das troische Heer sie furchtbar bedrängte; dann aber,
wie, hoch zu Wagen, im Helmbusch, Achilles die Phryger verfolgte.
Nahe dabei erspähte er weinend die Zelte des Rhesos,
schneeweiß das Leinen, in denen zu Anfang der Nacht Diomedes,
heimlich genaht, bei wüstem Gemetzel mit Blut sich bespritzte,
dann die feurigen Rosse ins Lager der Griechen entführte,
ehe sie Futter von Troja und Wasser vom Xanthos gekostet.
Troilos hatte zur Flucht die Waffen von sich geworfen –
unglückverfolgt, der Junge, im Kampf dem Achill nicht gewachsen –,
hing aus dem leeren Wagen, rücklings, geschleift von den Pferden,
fest noch die Zügel umklammernd, Nacken und Haarschopf am Boden;
hinter ihm, umgekehrt, furchte den Staub die Spitze der Lanze.
Frauen von Troja schritten zum Tempel der feindlichen Pallas,
trugen, mit wallenden Haaren, das herrliche Prachtkleid der Göttin,
demütig flehend, betrübt, mit den Händen die Brüste sich schlagend;
aber Minerva wandte sich ab und schaute zu Boden.
Dreimal schon hatte Achill um die Mauern Trojas den toten
Hektor geschleift; jetzt gab er heraus ihn für goldene Schätze.
Bitterlich stöhnte Aeneas aus tiefstem Herzen bei diesem
Anblick: Die Rüstung, der Wagen, der Leichnam des tapferen Freundes,
Priamos endlich, waffenlos flehend, die Hände erhoben.
Selber erblickte er dann sich im Kampf mit griechischen Fürsten,
fern aus dem Osten die Heerschar des dunkelhäutigen Memnon.
Die Amazonen mit halbmondförmigen Schutzschilden führte
Penthesilea; sie focht voll Eifer inmitten der Massen,
[154] unter entblößter Brust das goldene Wehrgehenk, mutig,
wagte, noch jung, fast ein Mädchen, mit Männern im Kampf sich zu messen.
Während der troische Held die Gemälde voll Staunen sich ansah,
während ergriffen er dastand, versenkt in das einzelne Bildnis,
nahte dem Tempel sich Dido, die Königin, strahlend vor Schönheit,
rings in stattlicher Menge von rüstigen Männern umgeben.
Wie am Eurotas oder auf hohem Kynthos Diana
anführt den Reigen der Bergnymphen, die ihr zu Tausenden folgen,
wimmelnd in Scharen sich tummeln, sie aber geschultert den Köcher
trägt und im Zuge über die Göttinnen alle hinausragt,
dabei im stillen herzliche Freude empfindet: Genauso
schön war Dido, ebenso freudig im Kreis der Begleiter
schritt sie einher, auf die Arbeit bedacht und die Herrschaft der Zukunft.
Dann, in der Vorhalle, vor der inneren Türe des Tempels,
ließ sie, von Wachen umgeben, auf hohem Throne sich nieder.
Recht und Gesetz für das Volk verwaltete dort sie, verteilte
einzelne Aufträge, teils nach Billigkeit, teils nach Verlosung.
Plötzlich gewahrte Aeneas, wie, umgafft von den Leuten,
Antheus, Sergestos, der tapfre Kloanthos und andere Teukrer
ankamen; hatte sie doch der düstre Orkan auf dem Meere
kürzlich zerstreut nur, zu ferneren Stellen des Festlands verschlagen.
Staunen ergriff ihn, Staunen ergriff auch Achates, und Freude
mischte mit Furcht sich. Es drängte sie, ihnen die Hände zu schütteln,
aber ihr plötzliches Auftauchen setzte sie doch in Bestürzung.
Unter dem Schutze des Nebels hielten sie stille und schauten,
was mit den Freunden geschah, wo sie die Flotte gelassen,
was sie hierherführe; stammten die Leute des Trupps doch von allen
Schiffen und nahten als Bittende, inständig rufend, dem Tempel.
[155] Als sie die Halle betreten und Redeerlaubnis erhalten
hatten, begann Ilióneus, als Ältester, ruhig zu sprechen:
»Königin, die du aus Jupiters Gnade eine ganz neue
Stadt hier errichtest und trotzige Völker rechtmäßig zügelst:
Bittflehend nahen wir elenden Troer, von Stürmen getrieben
über die Meere; beschütz uns die Schiffe vor grausigem Feuer,
schone uns redliche Leute, laß näher von uns dir berichten!
Keinesfalls kamen wir, libysches Gut mit dem Schwert zu verheeren
oder um Beute zu machen und an das Gestade zu schleppen.
Solche Gewalttat, solch Übermut liegt nicht im Sinn von Besiegten.
Ferne gibt es ein Land, das die Griechen Hesperien nennen,
uralt, machtvoll durch siegreiche Waffen und fruchtbares Erdreich,
von den Oinótrern bewohnt; jetzt erzählt man, Spätere hätten
ihm den Namen Italien – nach einem König – gegeben.
Dorthin wollen wir segeln.
Aber Orion, der Bringer der Stürme, verschlug uns mit jähem
Unwetter weithin in Untiefen, riß auseinander die Flotte,
peitschte vor schamlosem Süd und brandender See uns durch schroffe
Klippen. Wir wenigen retteten uns an euer Gestade.
Was für ein Volk bewohnt dies Gebiet? Welch Barbarentum duldet
Mißbrauch des Gastrechts? Verweigert man uns doch die hilfreiche Küste,
droht uns mit Waffen, verbietet den Aufenthalt uns am Gestade!
Trotzt ihr dem Menschenrecht schon und den Waffen, die Sterbliche führen,
fürchtet die Götter doch wenigstens, Hüter des Rechts vor dem Unrecht!
Über uns herrschte König Aeneas; an rechtlichem Handeln,
Pflichtgefühl, Kunst der Kriegführung hat ihn kein Mensch übertroffen.
Wenn ihn das Schicksal am Leben erhielt, wenn er heute noch atmet,
noch nicht verweilt im grausamen Reiche der Schatten, so brauchen
wir nichts zu fürchten – du wirst nicht bereuen, als erste uns gütig
Hilfe geleistet zu haben. Denn auch auf Sizilien gibt es
[156] Städte in Waffen, als Herrn den berühmten Trojaner Akestes.
Lasse an Land uns ziehen die leckgeschlagenen Schiffe,
bitte, im Wald uns Planken schlagen und Ruderholz glätten!
Dürfen Italien wir, vereint mit den Freunden und unsrem
König, erreichen, so wollen wir froh nach Latium steuern;
bleibt uns die Rettung versagt, birgt, teuerster Vater der Teukrer,
tief dich die libysche See, erweckt kein Iulus mehr Hoffnung,
segeln wir wenigstens zur sizilischen Meerenge, offnem
Siedlungsgebiet, von dem wir hierherkamen, und zu Akestes.«
Derart sprach Ilioneus, und zustimmend murmelten alle
Dardaner.
Dido erwiderte kurz, vom Thron aus die Bittenden musternd:
»Teukrer, ihr braucht euch nicht länger zu fürchten, verbannt nur die Sorgen!
Bittre Erfahrung, die Schwäche des eben begründeten Reiches
zwingen mir Maßnahmen auf zum sicheren Schutz des Gebietes.
Gibt es noch Menschen, die nicht das Geschlecht des Aeneas, nicht Troja,
nicht die bewährten Trojaner, nicht ihre Kampfleistung kennen?
Derartig teilnahmslos sind wir Punier nicht, und so ferne
liegt auch nicht Tyros der Stätte, wo Sol sein Roßgespann anschirrt!
Wollt ihr ins Land des Saturnus, ins große Hesperien, ziehen,
oder zum Eryxgebiet, dem Reiche des Königs Akestes:
Sicher geleiten werde ich euch und tatkräftig helfen.
Wollt ihr bei mir, in meinem Reiche, ansässig werden:
euch auch gehört die Stadt, die ich baue. Aufs Trockene könnt ihr
ziehen die Schiffe. Mir gelten Troer und Tyrier gleichviel.
Wäre, wie ihr vom Südwind verschlagen, der König Aeneas
anwesend! Zuverlässige Späher will ich entsenden;
Libyens grenznahe Landstriche sollen genau sie durchforschen.
Schiffbrüchig irrt er durch Wälder wohl oder durch volkreiche Städte.«
Dieser Empfang ermutigte gleich den tapfren Achates
wie auch den Vater Aeneas; sie brannten darauf, aus der Wolke
offen herauszutreten. Achates drängte als erster:
»Sprößling der Götter, welchen Entschluß gedenkst du zu fassen?
Sicherheit weißt du ringsum, die Flotte, die Freunde gerettet.
[157] Einer nur fehlt, wir sahen auf hohem Meere ihn sinken.
Alles übrige stimmt überein mit der Auskunft der Mutter.«
Während er dieses noch sprach, zerriß überraschend die Wolke,
die sie umhüllte, und löste sich fernhin zum offenen Äther.
Sichtbar wurde Aeneas und glänzte im heiteren Lichte,
stattlich wie Götter an Haupt und Schultern; ihm hatte die Mutter
herrliche Locken verliehen und leuchtende Schönheit der Jugend,
hatte ihm reizvolle Anmut über die Augen gebreitet.
Ebenso schmücken Künstlerhände das Elfenbein, werden
Silber, auch parischer Marmor umrahmt von schimmerndem Golde.
Plötzlich, von keinem, der hier im Tempel weilte, erwartet,
sprach er die Königin an: »Ich stehe vor euch, der vermißte
Troer Aeneas, glücklich geborgen aus libyschen Wogen!
Du nur empfindest Mitleid mit Trojas furchtbarem Unglück:
Uns, die den Griechen entrannen, die wir zu Wasser, zu Lande
alles erdenkliche Leid erfuhren und alles entbehren,
uns nimmst gastlich du auf, in der Stadt und am Herde! Dir danken,
Dido, können wir nicht, auch nicht die anderen Troer,
die noch irgendwo leben, verstreut weit über den Erdkreis.
Götter nur mögen – sofern noch Gottheiten Pflichtgefühl schätzen,
noch die Gerechtigkeit gilt und Verantwortung lebt und Gewissen –
würdig dir lohnen! Glücklich die Zeit, die zum Leben dich weckte,
ruhmreich die Eltern, die solcher Tochter sich freuen! Solange
Ströme ins Meer sich ergießen, über die Berghänge Schatten
ziehen, der Himmel den Herden der Sterne Weideland bietet,
möge in Ewigkeit dauern dein ruhmreicher Name – wo immer
ich auch auf Erden dann weile.« So sprach er und streckte die Rechte
seinem Freund Ilioneus entgegen, die Linke Serestos,
weiter den andern, dem tapferen Gyas, dem wackren Kloanthos.
Staunen empfand schon Dido beim ersten Anblick des Helden,
stärker noch angesichts seines Schicksals. So gab sie zur Antwort:
»Was für ein Unglück, du Sprößling der Göttin, verfolgt dich durch derart
[158] große Gefahren? Welch bitterer Zwang verschlägt dich in wilde
Gegenden? Bist du Aeneas, der Mann, den die gütige Venus
dem Anchises aus Dárdanos schenkte, an Phrygiens Simoeis?
Ja, ich erinnere mich, in der Tat: Nach Sidon gelangte
ehemals Teukros, verbannt aus der Heimat, erwarb sich ein neues
Reich mit der Hilfe des Belos. Der hatte – mein Vater – das reiche
Kypros verheert und als Sieger seiner Gewalt unterworfen.
Seitdem weiß ich vom Untergang Trojas, kenne auch deinen
Namen und jene der griechischen Fürsten. Teukros, als Gegner
Trojas sogar, bedachte mit glänzendem Lobe die Teukrer,
rühmte sich selber als Nachfahren ihres alten Geschlechtes.
Deswegen tretet nur ein in unsere Wohnstatt, ihr Männer.
Mich auch verfolgte ein ähnliches Schicksal mit vielerlei Plagen,
gönnte zum Schluß erst in diesem Land mir ein sicheres Obdach.
Eigenes Unglück lehrt mich, Bedrängten Hilfe zu leisten.«
Derart sprach sie und führte Aeneas zum Fürstenpalaste,
ordnete gleichzeitig Dankfeiern an für die Tempel der Götter,
schickte, genauso aufmerksam, für die Gefährten am Strande
zwanzig Stiere und hundert stattliche borstige Schweine,
hundert Lämmer dazu, von den Muttertieren begleitet,
Opfer zu freudigem Fest.
Fürstliche Pracht entfaltete sich im Innern des Schlosses
glanzvoll. Im mittleren Saale wurde das Festmahl gerichtet,
kunstreich gewebte Teppiche, leuchtend von köstlichem Purpur,
Mengen von Silbergeschirr auf den Tafeln, auf goldnen Gefäßen
Taten des Altertums dargestellt, die sehr zahlreiche Helden
seit dem Beginn des Geschlechtes in stattlicher Reihe vollbrachten.
Aber Aeneas, dem das Vaterherz Ruhe nicht gönnte,
schickte Achates auf schnellstem Weg zu den Schiffen; Ascanius
sollte er gleich unterrichten und selbst nach Karthago geleiten;
galt doch dem Sohn die ständige Sorge des liebenden Vaters.
Außerdem hieß er Geschenke ihn mitbringen, wie man aus Trojas
Trümmern sie barg: den mit goldenen Bildern prunkvoll verzierten
Mantel, den Schleier auch, sorgsam umwebt mit gelbem Akanthos,
Schmuck der Argeierin Helena; diese nahm, bei dem Aufbruch
[159] zu der verbotenen Hochzeit, die außerordentlich schöne
Gabe der Mutter Leda mit fort von Mykene nach Troja.
Weiter das Zepter, das einstmals Ilione führte, des Königs
Priamos älteste Tochter; eine aus Perlen gereihte
Halskette; einen goldenen Stirnreif, besetzt mit Juwelen.
Eilig begab sich Achates, dem Auftrag gehorsam, zur Flotte.
Doch Kythereia schmiedete zusätzlich listige Pläne:
In der Gestalt des hübschen Ascanius sollte Cupido
kommen, nicht kenntlich als Liebesgott, sollte mit diesen Geschenken
Dido zu tiefer, leidenschaftlicher Neigung entflammen;
vor der Verlogenheit der Familie bangte die Göttin
wie vor der Falschheit der Tyrier, auch vor der Erbitterung Junos,
die ihr die Nächte vergällte. Sie sprach zum geflügelten Amor:
»Junge, der du den Blitz des erhabenen Vaters verachtest,
Junge, der ganz allein du meine Allmacht verkörperst,
biete mir Zuflucht und leiste mir Hilfe, ich bitte dich dringend!
Wie auf dem Meere dein Bruder Aeneas vom Haß der ergrimmten
Juno verschlagen wurde an alle möglichen Küsten,
ist dir bekannt; oft teiltest du meinen schmerzlichen Ärger.
Ihn umgarnt jetzt die Punierin Dido mit schmeichelnden Worten.
Aber ich sehe schon, was die Gastfreundschaft Junos bedeutet.
Nie wird Juno bei solcher Wendung untätig bleiben.
Deswegen will ich beizeiten die Fürstin zu glühender Neigung
reizen – ihr darf kein Unsterblicher diese Empfindung zerstören,
sondern sie soll so innig wie ich den Helden Aeneas
lieben. Vernimm jetzt, wie ich die Erfüllung der Absicht mir denke!
Eben jetzt rüstet mein Liebling Ascanius sich, in dem Auftrag
seines Vaters, zum Gang nach Karthago, mit jenen Geschenken,
die man den Flammen Trojas entriß und dem Wüten des Meeres.
Einschläfern möchte ich ihn, auf den Höhen der Insel Kythera
oder im Tempel Idalions dann den Jungen verstecken;
keinesfalls darf er die Täuschung bemerken und Störenfried werden!
Nimm sein Aussehen an und zeige sein wohl dir bekanntes
Antlitz, du brauchst nur für eine Nacht die Rolle zu spielen.
[160] Setzt an der fürstlichen Tafel, beim Trunk des Lyaios, dich Dido
freudig erregt auf ihren Schoß, umarmt sie dich innig,
heftet auf deine Lippen dir zärtliche Küsse, dann hauche
heimliche Gluten ihr ein und errege ihr Liebesgefühle!«
Amor gehorchte dem Auftrag der teuren Mutter. Die Schwingen
legte er ab und ging mit Freuden zu Fuß, wie Iulus.
Venus indessen versenkte Ascanius friedlich in Schlummer,
liebevoll barg sie im Schoß ihn und trug zu Idalions Wäldern
hoch ihn hinauf. Dort umfing Majoran ihn zärtlich mit seinen
Blüten und schmeichelte ihm mit köstlich duftendem Schatten.
Nunmehr brachte, getreu der Weisung, Cupido des Königs
Gaben den Tyriern, mit heitrem Gesicht, geführt von Achates.
Als er eintraf, hatte die Königin Platz schon genommen
auf dem vergoldeten Sofa, inmitten des Saales, den prachtvoll
Teppiche schmückten. Aeneas und seine Trojaner erschienen
gleichzeitig; auf den purpurnen Decken ließ man sich nieder.
Wasser zum Waschen der Hände brachten die Diener, verteilten
Brot dann aus Körben, auch Handtücher von geschorener Wolle.
Fünfzig Mägde wirkten im Schloß, um die Speisen in Menge
ordentlich anzurichten, die Herdfeuer sorglich zu nähren.
Weitere hundert und ebensoviele gleichaltrige Diener
legten die Speisen den Sitzenden vor und reichten die Becher.
Zahlreich auch waren die Tyrier geströmt in die festliche Halle,
hatten, gebetene Gäste, gesetzt sich auf farbig gestickte
Polster, bewunderten des Aeneas Geschenke, bestaunten
auch den Iulus, die feurigen Blicke, sein zwanglos-geschicktes
Plaudern, den Mantel, den gelb mit Akanthos gemusterten Umwurf.
Aber besonders die schon dem nahenden Unglück geweihte
Dido vermochte nicht satt sich zu sehen. Der Anblick entfachte
immer noch stärker ihr Sehnen. Die Gaben, der Junge – dies beides
traf sie zutiefst. Noch hing das Kind am Hals des Aeneas,
stillte die Neigung seines vermeintlichen Vaters. Dann freilich
glitt es zur Königin hin. Mit den Augen, dem Herzen verhaftet,
koste im Schoß sie den Kleinen, die Arme, ohne zu ahnen,
[161] was für ein Gott ihr schmeichelte. Aber Cupido vergaß nicht,
was ihm die Mutter auftrug, er ließ das Bild des Sychaios
langsam verblassen, suchte anstatt der erkaltenden alten
Liebe die darbende Fürstin mit einer neuen zu fesseln.
Als man die Mahlzeit beendet, die Tische abgeräumt hatte,
stellte man mächtige Mischkrüge auf und bekränzte die Becher.
Lebhafter scholl das Stimmengewirr durch die glänzenden Hallen.
Von dem vergoldeten Deckengetäfel hingen hellstrahlend
Leuchter herab, die Wachsfackeln bannten das nächtliche Dunkel.
Nunmehr verlangte die Königin die von Gold und Juwelen
funkelnde Schale und füllte mit lauterem Wein sie, ein alter
Brauch seit den Zeiten des Belos. Da wurde es still in dem Saale.
»Jupiter, weithin gerühmt als Hüter des Gastrechtes, bitte,
lasse den heutigen Tag für Tyrier und Troer zum Festtag
werden, den unsere Nachkommen treu im Gedächtnis bewahren!
Bacchus, der Freudenspender, und Juno, die Gütige, mögen
unter uns weilen! Eröffnet denn, Tyrier, mit Beifall die Feier!«
Derart betete Dido, benetzte die Tafel mit frommer
Trankspende, nippte danach als erste am Inhalt der Schale,
reichte sie dann mit ermunterndem Zuspruch dem Bitias. Dieser
leerte mit kräftigem Zug das Gefäß bis zum goldenen Boden.
Weitere Adlige folgten. Der lockengeschmückte Iopas
spielte lauthallend auf goldener Harfe; als Schüler des Atlas
sang er vom Wege des Mondes, vom mühsamen Kreislauf der Sonne,
über den Ursprung von Mensch und Getier, von Regen und Feuer;
über Arkturos, niederschlagsreiche Hyaden und beide
Bären; weswegen die Sonne so schnell in den Ozean absinkt
während des Winters, die Nächte im Sommer so zögernd nur kommen.
Beifall klatschten die Tyrier, laut schlossen sich an die Trojaner.
Tief in den Abend hinein unterhielt sich Dido, zum Unglück,
über vielerlei Themen und nährte die innige Liebe,
fragte voll Spannung nach Priamos, voller Spannung nach Hektor,
[162] nach der Bewaffnung des Sohnes Auroras, nach dem Gespann auch,
das Diomedes lenkte, nach Größe und Kraft des Achilles.
»Aber erzähl uns doch lieber von Anfang an alles, verehrter
Gast«, so verlangte sie schließlich, »die Kriegslist der Griechen, das Schicksal
deiner Landsleute, deine Irrfahrten: Denn schon der siebte
Sommer erblickt dich als Heimatlosen in Ländern und Meeren!«
[163]

Zweiter Gesang

Zweiter Gesang.

Alle verstummten im Saale und blickten gespannt auf Aeneas.
Von dem erhöhten Sitz begann der Held zu erzählen:
»Königin, dein Verlangen belebt aufs neue den Kummer
über den Sturz der trojanischen Macht und des kläglichen Reiches
durch die Hellenen, über das Gräßliche, das ich erlebte,
selber aufs stärkste beteiligt. Kein Mensch kann davon berichten,
kein Myrmidone, kein Dóloper, auch kein Krieger des harten
Kämpfers Odysseus, ohne zu weinen! Schon senkt sich vom Himmel
feuchtkühl die Nacht, die erblassenden Sterne raten zum Schlummer.
Aber besteht ein so starkes Verlangen, mein Leid zu erfahren,
und von dem Todeskampf Trojas in aller Kürze zu hören,
möchte ich anfangen – wenn ich auch vor der Erinnerung schaudre,
ausweichen will vor dem Schmerz.
Im Felde geschlagen, vom Schicksal
bitter enttäuscht nach so viel Jahren, entschlossen die Fürsten
Griechenlands sich, nach dem Rat der Minerva, ein Pferd zu erbauen,
groß wie ein Berg, und die Seiten mit Tannenholzplanken zu decken.
Weihgabe sollte es sein für die Heimfahrt, so wurde gemunkelt –
fälschlich: Denn heimlich verbargen sie auserlesene Helden
tief in der finsteren Höhlung und füllten des mächtigen Bauches
Raum bis zum letzten Winkel mit schwerbewaffneten Kriegern.
Tenedos liegt vor dem Festland in Sichtweite, eine bekannte
Insel, an Schätzen reich, solange noch Priamos herrschte,
jetzt ein verödeter Strand und als Hafen verrufen. Die Griechen
fuhren dorthin und bezogen Verstecke fern dem Gestade.
Aber wir glaubten, fort seien sie, heimgekehrt nach Mykene!
Frei vom lang quälenden Kummer fühlten sich alle Trojaner.
[164] Aufgemacht wurden die Tore, man strömte voll Freude nach draußen,
sah das geräumte Lager der Griechen sich an und die leere
Küste: ›Hier lagen die Doloper – dort der wilde Achilleus –
hier die Schiffe und dort der Schauplatz erbitterter Kämpfe!‹
Andre bestaunten das Unheilsgeschenk für die Jungfrau Minerva,
dieses gewaltige hölzerne Pferd. Thymoites als erster
riet, in der Stadt es aufzustellen, und zwar auf dem Burgberg,
sei es aus Tücke oder weil Trojas Schicksal es wollte.
Kapys dagegen und andere, besser beraten, verlangten,
dieses verdächtig-bedrohliche Griechengeschenk in die Fluten
jählings zu stürzen, in Brand es zu stecken oder den Hohlraum
aufzubohren und nachzusehen, was er enthalte.
Unschlüssig spaltete sich in Parteien die streitende Menge.
Während des Wortwechsels eilte, mit großem Gefolge, doch allen
weit voraus, zornglühend, Laókoon her von der Stadtburg,
rief schon von weitem: ›Ihr Elenden, seid ihr denn wahnsinnig, Bürger?
Glaubt ihr, fort seien die Feinde? Griechen verteilten Geschenke,
ohne Betrug zu verüben? Kennt ihr Odysseus so wenig?
Entweder halten sich Griechen versteckt in dem hölzernen Bauwerk,
oder es wurde gezimmert als Kampfmittel gegen die Mauern
Trojas, zum Einblick in Häuser, zum Angriff von oben, versucht auch
einen ganz anderen Trick! Mißtraut dem Pferde, ihr Troer!
Jedenfalls fürchte ich Griechen, auch wenn sie Geschenke uns bieten.‹
Damit schleuderte kraftvoll er seine gewaltige Lanze
gegen die Flanke des Tieres und gegen die Bauchhöhlung. Zitternd
haftete fest die Waffe im Holz. Es erdröhnte beim Aufprall
dumpf das Gebälk, und die Hohlräume stöhnten im Nachhall. Ja, wären
göttlicher Wille und Torheit im Spiel nicht gewesen, er hätte
uns überzeugt, mit dem Stahl das Griechengeschenk zu vernichten.
Troja, du ragende Festung des Priamos, stündest noch heute!
[165] Doch währenddessen schleppten dardanische Viehhüter einen
Mann mit rücklings gefesselten Händen herbei. Triumphierend
schrien sie. Freiwillig hatte der Unbekannte sich ihnen
eben gestellt, in der Absicht, Troja den Griechen zu öffnen,
zuversichtlich, auf beides gefaßt: Mit Hinterlist seine
Rolle zu spielen – oder den sicheren Tod zu erleiden.
Schaulustig strömten von allen Seiten herbei die Trojaner,
drängten sich um den Gefangenen, höhnten ihn laut um die Wette.
Hör, was die Griechen voll Tücke geplant – vom Verbrechen des einen
schließ auf sie alle!
Waffenlos stand er und scheinbar verwirrt, durchbohrt von den Blicken,
in dem Gedränge und schaute umher auf die Scharen der Phryger,
rief dann: ›Ach, welches Festland, welch Meer noch bietet mir Zuflucht?
Was bleibt mir vom Unglück Geschlagenen schließlich noch übrig?
Nirgendwo darf bei den Griechen ich bleiben, und außerdem fordern
heftig erbittert die Troer von mir noch blutige Sühne!‹
Dieses Gejammer beeindruckte jeden, man höhnte nicht länger.
Auskunft verlangten wir, wem er entstamme und was er zu bieten
habe, worauf er sich endlich, als ein Gefangener, stütze.
Da überwand er, so schien es, die würgende Angst und erklärte:
›König, ich werde die Wahrheit dir sagen, was immer auch komme,
leugne, fürs erste, auch gar nicht, vom Volk der Argeier zu stammen.
Hat schon das Schicksal den Sinon gestürzt in bitteres Elend,
soll es ihm trotzdem Charakter und Wahrheitsliebe nicht rauben.
Möglicherweise vernahmst du bereits in Gesprächen den Namen
des Palamedes, des Enkels des Belos, und hörtest von seinem
Ruhme. Zu Unrecht bezichtigten ihn des Verrates die Griechen,
ließen aufgrund gefälschter Beweismittel, weil er vom Kriege
abriet, ihn hinrichten. Um den Ermordeten trauern sie heute.
Sein Gefährte, Verwandter auch, war ich: Ihm hatte mein Vater,
der sich nur dürftig durchschlug, mich zugeschickt anfangs des Krieges.
[166] Während als Fürst er noch waltete, auch sich im Kriegsrat bewährte,
fiel auch auf mich ein Abglanz des großen Namens und Ruhmes.
Aber sobald er infolge der tückischen List des Odysseus –
eine bekannte Geschichte – vom Reiche der Lebenden ausschied,
führte ich, niedergeschlagen und traurig, mein Leben im Dunkeln,
litt, aufs tiefste empört, an dem Schicksal des schuldlosen Freundes,
konnte auch, töricht, nicht schweigen, gelobte sogar, je nach Lage,
wenn nach errungnem Siege ins Heimatland Argos ich kehrte,
Rache zu üben. Doch säte ich Haß nur durch solcherlei Reden.
Damit begann mein Unglück. Odysseus richtete ständig
neue Verleumdungen gegen mich, ließ zweideutige Worte
öffentlich fallen, wollte mir, schuldbewußt, Fallstricke spannen.
Ununterbrochen wühlte er, bis er mit Hilfe des Kalchas –
aber was rühre, vergeblich, ich auf das leidige Übel?
Hemme euch nur, wo ihr alle Achaier für gleichwertig einschätzt,
euch schon der Name allein genügt? Bestraft mich doch endlich!
Das bezweckt ja der Ithaker, lohnen sogar die Atriden!‹
Aber wir brannten erst recht jetzt darauf, von dem Fall zu erfahren,
rechneten nicht mit der schamlosen Schandtat, der griechischen Tücke.
Weiterhin spann, mit erheuchelter Angst, er sein Lügengewebe:
›Oftmals schon wünschten die Dánaer einen Abzug von Troja,
wollten, erschöpft durch die dauernden Kämpfe, den Feldzug beenden –
schade, sie taten es nicht! –, oft hemmten die Stürme des Meeres
wütend den Aufbruch, setzte der tobende Süd sie in Schrecken.
Vollends nach Bau des aus Ahornhölzern errichteten Pferdes
peitschten mit Wolkenbrüchen die Unwetter nieder vom Himmel.
Angstvoll entsandten Eurýpylos wir zum Orakel des Phoibos,
baten um Auskunft. Vom Tempel brachte er furchtbare Nachricht:
›Widrige Winde habt ihr durch Mädchenblut damals besänftigt,
Danaer, als ihr zum Kampf nach den Küsten Ilions aufbracht.
Auch für die Rückkehr müßt ihr das Leben eines Argeiers
opfern.‹ Als dieses Orakel unter den Männern bekannt ward,
[167] packte Entsetzen sie alle, durchfuhr ein eiskalter Schauder
jedem das Mark: Wen wollten sie töten, wen wünschte Apollon?
Unter gewaltigem Auflauf stellte Odysseus den Seher
Kalchas ganz offen zur Rede, worauf der Wille der Götter
eigentlich ziele. Und mancher bezog auf mich schon die böse
Tücke des listigen Schurken, durchschaute im stillen die Ränke.
Volle zehn Tage lang schwieg der Seher, hielt sich verborgen,
weigerte sich, durch Nennung des Namens einen dem Tode
preiszugeben. Doch schließlich, laut von Odysseus genötigt,
rückte heraus er den Namen des Opfers, wie sie sich verschworen:
meinen! Man stimmte ihm zu, es sah mit Zufriedenheit jeder,
was er gefürchtet, gelenkt auf das bittere Schicksal des einen.
Aber sobald der Unglückstag anbrach und ich mich zum Opfer
schon mit gesalzenem Schrotmehl und Binden gerüstet erblickte,
da, ich gestehe es, sprengte ich meine Fesseln und konnte
knapp mich dem Tode entreißen und barg mich im Schilfgras des Sumpfes,
nachtsüber, bis die Flotte in See stach, zweifellos wirklich.
Keinerlei Hoffnung blüht mir, die alte Heimat, die lieben
Kinder, den innig ersehnten Vater wiederzusehen –
denen vielleicht noch die Heimkehrer, weil ich entkam, zur Bestrafung
dieses Vergehens den Tod auferlegen, ein schuldloses Sterben!
Deswegen, bei den himmlischen Göttern, den Hütern der Wahrheit,
bei der niemals befleckten, dem Rechte gewidmeten Treue,
bitte, erbarme dich meines entsetzlichen Unglücks, erbarme
dich des vom Schicksal grausam Verfolgten, der unschuldig leidet!‹
Für das Gejammer erhielt er sein Leben geschenkt und errang sich
außerdem unser Mitgefühl. Priamos ließ ihm die Hände
gleich von den Fesseln befreien und sprach in freundlichem Tone:
›Wer du auch bist, vergiß jetzt die Griechen, die heimwärts sich wandten!
Einer der Unseren bist du! Doch sag mir, der Wahrheit entsprechend:
Weswegen schuf man dies riesige Pferd? Wer plante es? Welcher
Aufgabe dient es? Der Götterverehrung? Dem Einsatz im Kampfe?‹
[168] Darauf erhob der Gefragte, ein Meister pelasgischer Tücke,
die von den Fesseln befreiten Hände empor zu den Sternen:
›Ewige Flammen, ihr, deren Götter den Meineid nicht dulden,
auch ihr Altäre und ruchlosen Schwerter, denen ich eben
noch mich entzog, ihr geweihten Opfertierbinden, bezeugt mir:
Auflösen darf ich die heiligen Bande, die mich mit den Griechen
einen, und hassen die Männer und alles ans Tageslicht bringen,
was sie geheimhalten wollen. Die Heimat verpflichtet mich nicht mehr.
Halte dein Wort nur, Troja, und bleibe, nach deiner Errettung,
aufrichtig treu, erkaufe ich teuer mein Leben – für Wahrheit.
Jegliche Hoffnung auf Sieg in dem Kriege setzten die Griechen
stets auf die Hilfe der Pallas. Aber seitdem der verruchte
Sprößling des Tydeus, der Anstifter auch von Verbrechen, Odysseus,
dreist auf der Höhe der Burg die Wächter erschlugen, Minervas
schicksalsträchtiges Bildnis heraus aus dem Heiligtum rissen,
hastig das Weihestück fortrafften und mit den blutigen Händen
schamlos die Binden berührten, den Schmuck des göttlichen Mädchens,
schwand und zerrann allmählich die Hoffnung der Danaer, ihre
Kräfte waren gelähmt, die Göttin zur Feindin geworden.
Pallas bestätigte das durch Wunder, die niemand bezweifelt.
Als man das Bildnis im Lager kaum aufgestellt hatte, da zuckten
Flammen aus seinen geweihten Augen, die Glieder bedeckte
salziger Schweiß, ja, dreimal sprang es sogar in die Höhe –
wahrhaft zum Staunen! –, den Schild und den zitternden Speer in den Händen.
Einen sofortigen Abzug zur See verkündete Kalchas:
Pergamon könne nicht fallen unter argeischen Waffen,
brächten das Bildnis – das jetzt sie über die Fluten entführen –
sie nicht von Argos zurück mit neuem und glücklichem Omen.
Wenn sie ins Heimatland jetzt, nach Mykene, segeln, so wollen
dort sie nur rüsten und Götter als Helfer gewinnen und plötzlich
wieder hierherfahren: Das rät Kalchas als Deuter der Zeichen.
Wegen des Pallasbildraubes, der Kränkung der Göttin, erbauten
sie, um den schlimmen Frevel zu sühnen, dies riesige Holzpferd.
[169] Kalchas verlangte, das Werk aus Eichenholzbalken zu solcher
mächtigen Höhe zu türmen, beinahe zum Himmel: Es sollte
sich durch die Tore nach Troja nicht ziehen lassen und niemals,
wie einst das heilige Pallasbildnis, die Troer beschützen.
Solltet ihr nämlich die Gabe für Pallas verletzen, so gingen –
kehrten die Götter gegen den Kalchas selber das Omen! –
elend zugrunde des Priamos Reich und sämtliche Phryger.
Zöget ihr freilich das Pferd in die Stadt mit eigenen Händen,
rücke einst Asien, furchtbar im Kampfe, gegen des Pelops
Mauern und laure das tödliche Unglück auf unsere Enkel.‹
Derart verlogen, gestützt auch auf Meineid, verschaffte sich Sinon
Glauben, bezwang durch Tücke und mittels geheuchelter Tränen
Helden, die kein Diomedes und kein Larissäer Achilles,
keine gewaltige Flotte, kein Krieg von zehn Jahren geschlagen!
Aber ein anderer, schlimmerer, ja entsetzlicher Vorgang
sollte, ganz unvermutet, uns wesentlich stärker verwirren.
Eben wollte Laokoon, als der erkorene Priester
des Neptunus, einen stattlichen Stier am Altare
opfern. Da wälzten zwei Schlangen von Tenedos her – beim Erzählen
schaudre ich noch! – sich in mächtigen Windungen über die ruhig
wogende See und strebten nebeneinander zur Küste.
Aufgereckt waren im Wasser die Brüste, die purpurnen Kämme
sträubten sich über die Wellen. Die hinteren Teile der Körper
wanden, die Oberfläche nur streifend, gewaltig sich vorwärts.
Aufschäumend rauschte die Flut. Jetzt erreichten die Tiere das Festland.
Blutunterlaufen, wie Feuerglut rot die wütenden Augen,
leckten mit schlüpfrigen Zungen sie ihre gellzischenden Rachen.
Weit auseinander stoben wir, bleich wie der Tod. Und die Tiere
griffen, geraden Weges, Laokoon an. Und fürs erste
wanden sie beide sich schwer um die schlanken Leiber der Söhne,
schluckten, die Rachen gespreizt, die Unglücklichen hinunter.
Hilfe gedachte der Vater zu bringen, erhob schon die Klinge.
Aber da packten sie ihn auch und schnürten mit mächtigen Schlingen
[170] würgend ihn ein; die schuppigen Fesseln legten sich zweimal
je um den Körper, den Hals, überragten das Opfer mit ihren
Köpfen und Nacken. Laokoon suchte mit Fäusten die Knoten
noch zu zerreißen; doch trieften die heiligen Binden von Geifer,
trieften von tödlichem dunklem Schleim schon. Empor zu den Sternen
schrie er, entsetzlich, vergleichbar dem Stier, den beim Opfer der Axthieb
unsicher traf, der verwundet davonläuft, die Waffe vom Nacken
schüttelt. Das Schlangenpaar aber, nach dem vollzogenen Morde,
schlüpfte zum Tempel hinauf, zur Burg der grausamen Pallas,
barg sich zu Füßen und hinter dem großen Schildrand der Göttin.
Eine noch stärkere Furcht durchbebte jetzt alle Trojaner.
Rechtmäßig habe Laokoon schwer gesühnt sein Vergehen,
meinten sie, weil er das heilige Holz mit der Waffe beschädigt,
schuldhaft den Speer in die Flanke des Rosses hineingebohrt hatte.
Sämtlich verlangten sie laut: ›Ins Heiligtum gleich mit dem Bildnis,
fleht zu Minerva um Gnade!‹
Wir durchbrachen die Stadtmauer, öffneten damit die Festung.
Jeder legte mit Hand an. Gleitrollen schob man dem Pferde
unter die Füße, Hanfstricke warf man ihm über den Nacken.
Hoch an den Mauerring rückte das schicksalsschwere, mit Waffen
schwangere Trugbild. Ringsum sangen Jungen und Mädchen
Festlieder, suchten mit Freuden ein Stückchen Strick zu berühren.
Drohend rollte das Pferd hinein in das Innere Trojas.
Vaterland – Ilion, o Wohnstatt der Götter – im Kampfe bewährte
Mauern der Dárdaner! Viermal stockte im Torweg, wie strauchelnd,
heftig das Roß, und im Leibe klirrten ihm viermal die Waffen.
Aber wir schleppten es weiter, verwarfen die Warnung, in blindem
Eifer, und zogen zur heiligen Burg das elende Scheusal.
Jetzt prophezeite uns auch Kassandra das kommende Unheil,
ohne daß nur ein Trojaner – auf göttliche Weisung – ihr glaubte:
[171] Nein, wir bekränzten die städtischen Tempel mit festlich belaubten
Zweigen, wir Armen, die wir den letzten Tag doch erlebten!
Dämmerung sank, aus dem Ozean stieg das nächtliche Dunkel,
barg in tiefem Schatten die Erde, den Himmel, die böse
Tücke der Griechen. Die Teukrer verstummten, zerstreut in der Festung.
Tiefer Schlaf umfing die ermatteten Glieder. Da stachen
schon von Tenedos aus die argeischen Krieger, zum Kampfe
völlig gewappnet, in See und nahmen, begünstigt vom stillen
Mondschein, den Kurs auf die ihnen vertraute Küste. Vom Flaggschiff
war ein Signal aufgeflammt, und, geschützt von grausamen Göttern,
öffnete Sinon verstohlen die Fichtenholzriegel, den drinnen
Eingeschlossenen Zeichen zum Ausstieg. Ins Freie entließ sie
alle das Roß, und erleichtert verließen die hölzerne Höhle
eiligst die Fürsten Thessandros, Sthénelos, auch der verfluchte
König Odysseus – sie ließen am Seil sich hinab –, und Akamas,
Thoas, darauf Neoptólemos, weiter der edle Machaon,
dann Menelaos, nach diesem Epeios, Erbauer des Rosses.
Über die Stadt, die in Schlummer und Weinrausch versunken sich darbot,
fielen sie her, erschlugen die Wachen, empfingen durch offne
Tore die Freunde und schlossen zum Kampf, wie geplant, sich zusammen.
Dies geschah in der Stunde, wo erster Schlummer die müden
Menschen erquickt und als köstlichste Gabe der Götter umschmeichelt.
Da erschien mir im Traume Held Hektor. Gezeichnet von tiefster
Trauer, vergoß er Ströme von Tränen: So hatte er damals
ausgesehen, als ihn das Zweigespann schleifte, vom Staube
blutig geschwärzt, die geschwollenen Füße durchbohrt von den Riemen –
ach, wie entsetzlich sein Anblick! Wie völlig verschieden von jenem
Hektor, der stolz mit der Rüstung des Helden Achilles vom Schlachtfeld
[172] kam, der den phrygischen Brand in die Griechenschiffe geschleudert! –,
starrend vor Schmutz jetzt der Bart, verklebt von geronnenem Blute
filzig das Haar, bedeckt von den Wunden, die zahlreich im Kampfe
er vor den Mauern der Heimat empfing. Ich selber auch weinte,
redete an den Helden und sprach tieftraurig die Worte:
›Leuchtender Ruhm Dardanias, sicherste Hoffnung der Teukrer,
warum verweilst du so lange? Und woher kommst du, mein Hektor,
sehnlich erwartet? Wie sehen wir dich jetzt wieder, ermattet
nach den so schweren Verlusten der Deinen, nach vielerlei Plagen
Trojas und seiner Bewohner? Und welche Mißhandlung entstellte
schamlos dein heiteres Antlitz? Was sollen die furchtbaren Wunden?‹
Keinerlei Antwort gab er auf meine so sinnlosen Fragen,
seufzte nur schwer aus tiefstem Herzen und mahnte mich dringend:
›Fliehe, du Sohn der Göttin, entzieh dich den drohenden Flammen!
Feinde besetzen die Stadt, es stürzt von der Höhe schon Troja.
Kämpfer genug verteidigten Heimat und Priamos. Könnten
Fäuste Pergamon retten, es wäre gerettet durch meine.
Troja vertraut dir sein Heiligstes an, das sind die Penaten.
Nimm sie zu Schicksalsgefährten, zu ihrem Schutze errichte
mächtige Mauern: Nach mancherlei Irrfahrten wirst du sie bauen!‹
Derart sprach er und trug mit den Händen aus heiligstem Raume
Vesta, die Herrscherin, bindengeschmückt, und die ewige Flamme.
Jammergeschrei aus der Ferne durchdrang inzwischen des Hauses
Wände. Obwohl das Heim des Anchises, beschattet von Bäumen,
abseits gelegen, ein wenig zurücktrat, schwoll das Getöse
lauter und lauter heran, auch ein gräßliches Klirren von Waffen.
Jäh aus dem Schlafe schreckte ich auf, erklomm rasch des Daches
höchsten Punkt und stand mit angestrengt lauschenden Ohren.
Ebenso staunt der nichtsahnende Hirt, der auf hohem Gesteinsblock
angespannt lauscht auf den Lärm, wenn Flammen vor tobendem Südwind
[173] plötzlich das Saatfeld ergreifen oder ein reißender Sturzbach
jäh von den Bergen die Flur überschwemmt, die üppigen Saaten,
Leistung der Stiere, bedeckt und Bäume rasend mit fortrafft.
Handgreiflich war jetzt Sinons Treubruch, die Tücke der Griechen
völlig entlarvt. Das stattliche Haus des Deíphobos stürzte
krachend zusammen in lohender Glut, das Haus Ukalegons,
unseres Nachbarn, brannte. Sigeions Meerenge strahlte
weithin im Widerschein. Männer schrien, laut dröhnten Trompeten.
Waffen erraffte ich, fast wie von Sinnen; doch gab es kein Planen.
Aber Gefährten zum Kampfe zu sammeln, die Burg zu besetzen,
wünschte ich heiß. Ein rasender Zorn ergriff mich ganz plötzlich,
brennend durchfuhr der Gedanke mich, ruhmvoll in Waffen zu sterben.
Da erblickte ich Panthus, den Sohn des Othrys, den Priester
unserer Burg und des Phöbus, den Schwertern der Griechen entronnen.
Tempelgerät, die besiegten Götter, ein Kind auch, den Enkel,
schleppte im Laufschritt er mit; verstört übertrat er die Schwelle.
›Wo tobt, Panthus, der wichtigste Kampf? Wo halten wir eine
Stellung?‹ so rief ich. Laut stöhnend fiel er ins Wort mir: ›Der letzte
Tag und das unausweichliche Ende der Dardanerfestung
sind gekommen. Wir waren einst Troer, auch Troja mit seinem
mächtigen Ruhmesglanz war. Der grausame Jupiter schenkte
alles den Danaern, Griechen beherrschen die brennende Festung.
Mitten im Mauerkranz ragt das hölzerne Pferd, und in Massen
speit es Bewaffnete aus, und Sinon, voll Hohn im Erfolge,
schürt überall die Flammen. Die vielen, die einst von Mykene
eintrafen, wimmeln zur Zeit um die offenstehenden Tore
oder halten die engen Straßen besetzt mit gezückten
Waffen; es starren die blanken Schwerter mit funkelnden Schneiden,
drohen den Tod. Kaum können am Stadtrand die Torwächter kämpfend
Widerstand leisten, sie fechten ohne Ziel und erfolglos.‹
Diese Worte des Panthus, mit ihnen das Walten der Götter
trieben mich fort in die flammende Schlacht; auch die harte Erinys
[174] rief mich, der wütende Kampflärm, das himmelwärts gellende Schreien.
Rhipeus gesellte sich zu mir im Mondschein, der tüchtige Kämpfer
Epytos gleichfalls; Hýpanis trat uns zur Seite, auch Dymas,
schließlich der junge Koroibos, der Sohn des Mygdon. In diesen
Tagen erst war er nach Troja gekommen, von inniger Liebe
zu Kassandra ergriffen, und wollte als Schwiegersohn Hilfe
bringen dem König Priamos und den Trojanern – der Arme,
der den prophetischen Warnungen seiner von Göttern beseelten
Braut nicht gehorchte!
Als ich die Gruppe geschlossen und mutig zum Kampfe bereit sah,
rief ich: ›Ihr Jungen, so tapfer, obwohl Erfolge nicht winken,
seid ihr entschlossen, das äußerste Wagnis auf euch zu nehmen –
denn die verzweifelte Lage habt ihr deutlich vor Augen.
Fort aus den Tempeln und von den Altären flohen die Götter,
einstige Stützen unserer Macht; die Stadt, der ihr helfen
möchtet, sie brennt: Wir wollen ins Kampfgewühl stürzen und sterben!
Keinerlei Hoffen auf Rettung errettet allein die Besiegten.‹
Derart entflammte der Mut der Männer zur Wut. Wie die Wölfe,
Räuber in wallendem Nebel, die blindlings der wütende Hunger,
auch die Erwartung ihrer im Schlupfloch verbliebenen, gierig
lechzenden Jungen hinaustreibt, so zogen durch feindliche Waffen
wir in den sicheren Tod und lenkten zur Stadtmitte unsre
Schritte. Die finstere Nacht umgab uns mit deckendem Schatten.
Keiner vermag das nächtliche Blutbad, die Menge der Toten
recht zu beschreiben, den Qualen genügende Tränen zu widmen.
Unsere uralte Stadt, so lange schon mächtig, sie stürzte.
Massenhaft lagen auf Straßen, in Häusern, sogar auf geweihten
Schwellen der Tempel, in allen Winkeln reglos die Leichen.
Aber es floß nicht das Blut der Teukrer allein. Auch Besiegte
rafften zuweilen sich auf zu beherztem Handeln, auch Griechen
fielen als Sieger. Grausiger Schmerz überall, überall auch
blutiger Schrecken, der Tod in unsagbar vielen Gestalten.
[175] Erster der Danaer, der uns begegnete, war, an der Spitze
zahlreicher Krieger, Andrógeos. Freunde wähnte in unsrem
Trupp er zu sehen und stellte uns, glimpflich tadelnd, zur Rede:
›Los, Kameraden! Was haltet ihr tatenscheu fern euch dem Kampfe?
Andere raffen schon Beute hinweg aus dem brennenden Troja!
Kommt ihr etwa erst jetzt hierher von den ragenden Schiffen?‹
Derart rief er, doch merkte sofort an dem Ausbleiben einer
klaren Erwiderung, daß er im Kreise von Feinden schon weilte.
Stehen blieb er verdutzt, ihm gerieten die Worte ins Stocken.
Wie man in rauhem Gestrüpp unvermutet auf eine verborgne
lauernde Schlange tritt und entsetzt vor dem Ungetüm fortläuft,
das sich emporreckt vor Wut und den schillernden Halsbeutel aufbläht,
ebenso wollte er fliehen, entsetzt durch unseren Anblick.
Aber wir stürzten uns auf sie, zersprengten den wimmelnden Haufen,
streckten die jäh überraschten, des Ortes nicht kundigen Gegner
nieder. So hatte das Glück uns beim ersten Kampfe begünstigt.
Frohlockend angesichts dieses Erfolges riet uns Koroibos:
›Freunde, den Weg, den ein gütiges Schicksal zuerst uns als günstig
zeigte, auf dem es auch selber uns half, den laßt uns beschreiten!
Nutzen wir, statt der unseren, griechische Schilde und Helme!
Wer unterscheidet Tücke und Tapferkeit noch vor dem Feinde?
Sollen sie selbst uns bewaffnen!‹ Und den mit dem Roßschweif verzierten
Helm des Androgeos setzte er auf und ergriff auch den Schutzschild,
kenntlich am griechischen Wappen, und hängte das Griechenschwert über.
Rhipeus tat es ihm nach, auch Dymas und alle Gefährten,
hoffnungsvoll freudig. Jeder bewaffnete sich aus der Beute.
Unter den Griechen, doch nicht mehr geschützt von unseren Göttern,
zogen wir durch die finstere Nacht und bestanden noch manche
Kämpfe, entsandten noch manchen Danaer nieder zum Hades.
Einige Griechen ergriffen die Flucht zu den Schiffen und suchten
[176] fortrennend Schutz am Gestade; andre, in schmachvollem Schrecken,
kletterten wieder ins Pferd, verschwanden im bergenden Schoße.
Keiner vertraue auf Götter, die keine Gnade mehr spenden!
Aus dem Minervatempel, aus heiligstem Innenraum, schleifte
man an den Haaren Kassandra soeben, die Priamostochter.
Himmelwärts richtete sie, vergeblich, die brennenden Augen;
waren doch ihre zarten Arme in Fesseln geschlagen.
Rasend vor Wut, vermochte Koroibos den gräßlichen Anblick
nicht zu ertragen, er stürzte sich, todbereit, unter die Feinde.
Allesamt folgten wir ihm ins dichte Kampfesgetümmel.
Jäh überschüttet wurden wir jetzt vom Giebel des Tempels
durch die Geschosse der Unsern und hatten schwere Verluste,
nicht als Trojaner erkannt infolge der griechischen Waffen.
Aber die Griechen auch, brüllend vor Wut, weil wir ihnen Kassandra
eben entrissen, sammelten neu sich zum Gegenstoß, Aias,
furchtbar erbittert, beide Atriden, die Doloper alle.
Ebenso gehen die Winde, bei Ausbruch des Wirbelsturms, rasend
los aufeinander, Zephyros, Notos, der Euros mit seinen
Rossen des Ostens; dann brausen die Wälder, dann wütet, gischtsprühend,
Nereus und wühlt mit dem Dreizack das Meer auf aus finstersten Tiefen.
Griechen auch, die wir durch unsre Verkleidung ins nächtliche Dunkel
fortscheuchten und in sämtliche Gassen der Festung zerstreuten,
tauchten jetzt wiederum auf; sie erkannten als erste die falschen
Schilde und Schwerter und zogen aus unsrer Aussprache Schlüsse.
Ungesäumt fielen sie über uns her. Koroibos als erster
fiel von der Hand des Penéleos an dem Altare Minervas.
Rhipeus auch brach zusammen, er, der Gerechteste unter
sämtlichen Troern, der stärkste Verfechter billigen Urteils –
ungerecht lohnten die Götter ihm! Dymas und Hypanis starben,
von Kameraden durchbohrt. Dich, Panthus, bewahrte nicht deine
eifrige Frömmigkeit, nicht die Binde Apolls vor dem Tode.
[177] Asche von Troja – flammendes Grabmal der Meinen, zu Zeugen
rufe ich euch: Ich entzog mich bei eurem Sturz nicht den tödlich
drohenden Waffen der Feinde, ich hätte, sofern es das Schicksal
wollte, verdient, durch die Griechen zu fallen! Doch von den Gefährten
trennte der Kampf mich, nur Iphitos blieb mir und Pelias, jener
altersgeschwächt schon, dieser verletzt von Odysseus und hinkend.
Gellendes Schreien wies uns die Richtung zum Priamosschlosse.
Grauenhaft tobte das Hauptringen hier, als gäbe es Kämpfe
anderswo nicht, als brauchte in Troja sonst niemand zu sterben.
Hemmungslos wütete Mars. Den Palast versuchten die Griechen
wild zu erstürmen, umringten im Schutze des Schilddachs die Schwelle.
Steil an den Wänden schon lehnten die Leitern, die Angreifer klommen
über die Türpfosten aufwärts; sie schützte der Schild in der Linken
gegen Geschosse, die Rechte suchte die Zinnen zu packen.
Aber die Dardaner schlugen Türme und Dächer und Giebel
rasend in Trümmer und warfen zur Abwehr sie gegen die Feinde,
schon vor den Augen das Ende, noch zähe dem Tod widerstrebend,
wälzten auch abwärts die goldenen Balken, den Prachtschmuck der Ahnen.
Andere hielten von innen die Tore besetzt mit gezückten
Klingen, bewachten den Zugang in eng geschlossenen Reihen.
Dieser Anblick ermutigte uns auch, das Schloß zu beschützen,
den Kameraden zu helfen, Besiegten Verstärkung zu bringen.
Eine Geheimtür gab es und einen Durchgang, der alle
Räume des Priamosschlosses erreichte, vom Feind übersehen.
Über ihn pflegte die arme Andrómache oft, in der Glanzzeit
Trojas, allein den Schwiegereltern Besuch abzustatten,
nahm für den Großvater nur den kleinen Astýanax mit sich.
Heute gelangte auf ihm ich zum Dachfirst, von dem aus die Troer
ihre Geschosse schleuderten, nutzlos, zum Scheitern verurteilt.
Steil in die Höhe ragte ein Turm weit über den Dachgrat
bis zu den Sternen; von ihm überschaute man Troja im ganzen,
[178] auch die Schiffe der Danaer wie das achaische Lager.
Über ihn fielen wir her mit dem Eisen, und wo er am Dachstuhl
aufsaß und Lücken zum Aushebeln zeigte, wuchteten kraftvoll
wir ihn heraus und stießen ihn abwärts. Im donnernden Sturze
riß er noch Bruchstücke mit sich und fiel in die Sturmschar der Griechen.
Andere rückten gleich nach, und der Hagel von Steinen und vielen
weiteren Wurfstücken hörte nicht auf.
Dicht vor der Torschwelle, dicht an der Vorhalle unsres Palastes
wütete ungestüm Pyrrhos, schimmernd in eherner Rüstung.
Ebenso schlüpft die Natter zutage; im eiskalten Winter
barg sie, geschwollen, sich unter der Erde; von giftigen Kräutern
nascht sie und häutet sich jetzt, sie prangt in erneuerter Jugend,
schlängelt behende sich vorwärts, den Oberleib steil in die Höhe
sonnenwärts reckend, und spielt mit der dreifach gespaltenen Zunge.
Neben ihm stürmten das Schloß der gewaltige Périphas, weiter
Held Automedon, Fahrer und Schildträger einst des Achilles,
mit den Gefährten von Skyros und schleuderten Brand in den Dachstuhl.
Pyrrhos inmitten der ersten durchschlug mit der Streitaxt die feste
Schwelle und riß die mit Bronze beschlagenen Pfosten von ihren
Angeln; vom Loch im Balken der Schwelle aus hieb er das harte
Eichenholz durch und öffnete einen geräumigen Durchblick.
Sichtbar wurde das Innere, weithin geöffnet die Halle,
sichtbar die Räume des Priamos und der früheren Herrscher,
sichtbar der Trupp der Bewaffneten, kampfbereit hinter der Schwelle.
Doch aus dem Hintergrund schollen Gejammer und klägliches Lärmen.
Zwischen den Häusern hallte der Hofraum wider vom lauten
Schreien der Frauen. Empor bis zum Sternengold drangen die Klagen.
Angstgepeitscht irrten die Mütter umher in den stattlichen Räumen,
klammerten sich an die Türpfosten, küßten sie. Pyrrhos indessen
drang mit der Kraft des Vaters voran, ihn konnten nicht Riegel,
[179] konnten nicht Wachtposten hemmen. Die Stöße des Sturmbalkens ließen
wanken das Tor, aus den Angeln gehoben stürzten die Flügel.
Wütend brach die Gewalt sich den Weg. Eindrangen die Griechen,
metzelten nieder die Wachen, ergossen sich weit in die Räume.
Wenn nach dem Brechen der Dämme ein Fluß wildschäumend aus seinen
Ufern heraustritt, die Deiche begräbt in den strudelnden Fluten,
schießt er nicht derart wütend geballt weit über die Fluren,
rafft nicht so rasend das Vieh mit den Ställen hinweg. Ich erblickte
Pyrrhos als tobenden Mörder, ich sah die Atriden am Eingang,
Hekabe, hundert Gattinnen, Priamos, wie er die Flamme
auf dem Altar, die er selber einst weihte, befleckte mit seinem
Blut. Und die Ehegemächer – fünfzig, so zahlreiche Enkel
wurden erhofft! – und die Pfosten, voll prächtiger goldener Beute,
sanken. Was Flammen verschonten, das wurde Besitztum der Griechen.
Über den Tod des Priamos möchtest vielleicht du noch etwas
wissen! Sobald der Greis die Festung erobert, des Schlosses
Tore gesprengt, die Feinde im eigenen Hause erblickte,
legte die Rüstung er sich, die schon lange beiseite gelegte,
über die alterszittrigen Schultern – ganz zwecklos! – und hängte,
unnütz!, das Schwert um, begab sich dann todbereit unter die Feinde.
Mitten im Schloßhofe unter freiem Himmel erhob sich
mächtig des Hauses Altar, überragt von einem uralten
Lorbeerbaum, der die Penaten mit seinem Schatten umfaßte.
Hekabe, mit ihr die Töchter, drängten sich um die geweihte
Stätte, vergeblich, wie Tauben vor düsteren Unwetterwolken
jählings fliehen, und klammerten sich an die Bilder der Götter.
Als sie den Priamos sah in der Rüstung, wie früher als jungen
Krieger, da rief sie: ›Du Ärmster, was planst du an schrecklichem Unheil,
daß du die Rüstung dir anlegst? Und wohin reißt dich der Wahnsinn?
Solcherlei Hilfe und solche Verteidiger brauchen wir heute
nicht mehr, nicht einmal, wenn noch mein Hektor unter uns weilte.
[180] Komme doch hierher! Dieser Altar behütet uns alle –
oder du stirbst, gemeinsam mit uns!‹ Und sie zog den betagten
König zu sich und wies ihm den Platz an heiliger Stätte.
Eben versuchte Polites, einer der Priamossöhne,
sich vor dem Tode zu retten. Verwundet schon, zwischen gezückten
Waffen und wütenden Feinden, durchlief er den Säulengang, suchte
Schutz in der offenen Halle. Ihn jagte mordgierig Pyrrhos,
packte ihn jetzt mit der Faust und versetzte ihm tödliche Stöße:
Grad noch entronnen dem Tod vor den Augen der Eltern, so brach er
nunmehr zusammen, vom Blut überströmt, und verhauchte sein Leben.
Priamos, selbst schon vom Tode bedroht, vermochte bei diesem
Anblick nicht länger zu schweigen, nicht länger die Wut zu verdrängen.
›Dieses Verbrechen‹, so rief er, ›diesen schamlosen Frevel
mögen die Götter – denkt man im Himmel gerecht noch bei solcher
Schandtat – dir lohnen, gebührend und deinem Handeln entsprechend:
Hast du doch meinen Sohn vor meinen Augen ermordet,
hast durch den Anblick des Toten das Antlitz des Vaters geschändet.
Anders verhielt sich dem Feind gegenüber der tapfre Achilles,
den du zu Unrecht als Vater bezeichnest. Er achtete eines
Flehenden Recht und Vertrauen, er gab mir den Leichnam des Sohnes
Hektor zurück und ließ mich wieder nach Ilion ziehen!‹
Damit entsandte der Greis die Lanze auf Pyrrhos, doch schwächlich;
wirkungslos prallte sie auf die dröhnende Bronze des Schildes,
blieb dann am Schildbuckel hängen, ohne Wunden zu schlagen.
Höhnend entgegnete Pyrrhos: ›So bringe als Bote denn meinem
Vater die Nachricht, erzähl ihm von meinen schäbigen Taten,
sag ihm, auf welche Weise ihm Pyrrhos Unehre machte!
[181] Stirb!‹ Mit den Worten riß er den Zitternden, der in des Sohnes
Blutlache ausglitt, hin zum Altare, krallte mit seiner
Linken ihm fest in das Haar, erhob mit der Rechten die blanke
Klinge und senkte dem Alten sie tief in die Brust, bis zum Griffe.
So starb Priamos, sollte, gemäß dem Willen des Schicksals,
noch vor dem Tode Troja in Flammen und Pergamon stürzen
sehen, der einst auf so zahlreiche Völker und Landmassen stolze
Herrscher von Asien. Nunmehr liegt der stattliche Körper
dicht am Gestade, enthauptet, namenlos, faulender Rumpf nur.
Aber mich packte zuerst bei dem Anblick ein kaltes Entsetzen,
ließ mich erstarren. Mein teurer Vater erschien mir vor Augen,
als ich den König, betagt wie jener, an grausamer Wunde
jämmerlich sterben sah. Auch Krëusa erschien mir, verlassen,
und das geplünderte Haus – was geschah mit dem kleinen Iulus?
Umschau hielt ich sogleich, wie viele Gefährten mir blieben.
Alle waren verschwunden, erschöpft, zu Boden gesunken,
oder sie hatten sich, lebensmüde, gestürzt in die Flammen.
Übriggeblieben war ich allein.
Da erblickte ich plötzlich
Helena. Ängstlich geduckt am Eingang des Tempels der Vesta
kauerte sie und hielt sich, ohne ein Wort nur zu sprechen,
reglos versteckt. Die Feuersbrunst leuchtete mir beim Durchschreiten
widriger Trümmer, beim achtsamen Spähen nach sämtlichen Seiten.
Ja, die Verhaßte, durch Trojas Verderben ein Abscheu den Teukrern,
aber nach Ehebruch auch der Bestrafung durch Griechen gewärtig,
fürchtete beide, ein Fluchgeist für Troja, zugleich auch für Hellas,
hatte mit Grund sich verborgen und hockte im Schutz der Altäre.
Rasende Wut entflammte mich, spornte zur Rache für meines
Vaterlands Unglück, zur Strafe für einen schrecklichen Frevel.
[182] Soll sie, unangetastet, Sparta, das traute Mykene
wiedererblicken, dazu triumphierend als Königin schreiten,
Vaterhaus, Gatten und Kinder genießen, begleitet von Sklaven,
kriegsgefangenen Frauen und Männern aus Ilions Mauern?
Priamos aber ein Opfer des Schwertes, Troja der Flammen?
Trojas Küste so oft durchfurcht von Strömen des Blutes?
Nein! Zwar verschafft es niemandem Ehre und Auszeichnung, eine
Frau zu bestrafen, man erntet nicht Ruhm von solchem Erfolge.
Tilge ich aber das Scheusal, bestrafe es für die Verbrechen,
ernte ich Lob – und wärme ich mich an der Flamme der Rache,
sühne die Asche der Meinen, so wird es mir Freude bereiten!
Solche Erwägungen stellte ich an und ließ mich von wildem
Rachedurst hinreißen. Da erschien mir, ganz deutlich, die teure
Mutter und leuchtete hell durch das Dunkel in lauterem Glanze,
offen als Göttin, ganz wie sie die Himmlischen sehen in voller
Größe und Kraft. Mit der Rechten ergriff sie mich, hemmte mein Schreiten,
sprach dann zu mir aus jugendlich-rosigem Munde: ›Welch bittrer
Unmut entfesselt, mein Sohn, so zügellos Rachegefühle?
Bist du von Sinnen? Denkst du an uns, die Deinen, nicht länger?
Willst du nicht lieber nach deinem vom Alter entkräfteten Vater
ausschauen, nach Anchises? Nach deiner Gattin Krëusa,
deinem Sohne Ascanius? Allseits von streifenden Kriegern
Griechenlands sind sie umringt, und wenn ich nicht wachsam sie schützte,
wären verbrannt sie oder von feindlichen Waffen durchbohrt schon.
Nicht die dir bitter verhaßte Spartanerin Helena oder
Paris, den man beschuldigt, nein, unbarmherzige Götter
tilgten die phrygische Macht und stürzten Troja vom Gipfel.
Schau nur – ich möchte sämtliche Wolken zerstreuen, die hemmend
jetzt noch dein sterbliches Auge umwallen, mit fließendem Dunkel
trüben den Blick; du brauchst nicht die Weisung der Mutter zu fürchten,
sollst dich nicht weigern, ihren Befehlen Folge zu leisten:
Hier, wo du Massen von Trümmern, aus Fugen gerissene Steine,
[183] wogenden Rauch und Staubschwaden siehst, erschüttert Neptunus
mit dem gewaltigen Dreizack Mauern mitsamt Fundamenten,
wühlt aus dem tiefsten Grunde hervor und zerschlägt die gesamte
Festung. Dort hält die grimmige Juno das Westtor vor allen
andern besetzt und ruft, mit dem Schwerte umgürtet, die Griechen
wütend herbei von den Schiffen.
Blicke jetzt dorthin: Da sitzt auf der Höhe des Burgfelsens Pallas,
leuchtet hervor aus den Wolken, furchtbar geschützt von der Gorgo.
Vater Jupiter selbst ermutigt und kräftigt die Griechen
immer aufs neue und hetzt die Götter gegen die Teukrer.
Fliehe aufs schnellste, mein Sohn, und kämpfe nicht länger! Ich bleibe
immer bei dir und geleite dich sicher zum Hause des Vaters.‹
Damit verschwand sie im dichten Schatten der Nacht. Und vor meinen
Augen erschienen die Schreckensgestalten der mächtigen Götter,
denen Troja verhaßt war.
Nunmehr versank ganz Troja in einem feurigen Meere,
ausgelöscht schien von Grund auf die Stadt, die Neptunus einst baute.
Ebenso gehen im hohen Gebirge oft Landleute einer
uralten Esche mit Beilen und wuchtigen Axthieben kräftig
und um die Wette zuleibe; schon wankt der Riese bedrohlich,
zittert hinauf bis zum Astgewirr, neigt, schwer erschüttert, den Wipfel,
bis er den Wunden nicht länger mehr standhält, zum letztenmal aufstöhnt,
schließlich, getrennt vom Rücken des Berges, jählings hinabstürzt.
Nieder stieg ich vom Berghügel, Flammen und Feinden entwand mich
Göttergeleit; mich verschonten Geschosse und sengende Gluten.
Sicher gelangte zum Vaterhaus ich und trat in das alte
teure Gebäude. Ich suchte den Vater vor allem und wünschte
hoch ins Gebirg ihn zu tragen, an eine sichere Stätte.
[184] Aber er wollte den Untergang Ilions nicht überleben,
nicht die Verbannung ertragen. Er sagte: ›Ihr, rüstigen Alters,
frisch noch, mit ungebrochenen Kräften, ihr sollt euch bemühen,
lebend davonzukommen.
Wollten die Himmelsbewohner mein Leben verlängern, so würden
sie mir die Wohnstatt erhalten haben. Mir reicht es schon, einmal
Ilions Fall und Zerstörung mit angesehen zu haben.
Laßt mich denn gleichsam bestattet hier liegen, begrüßt mich zum Abschied,
geht dann! Mich wird schon ein Grieche erschlagen, sich meiner erbarmen
und mir die Rüstung nehmen. Ein Grab verschmerze ich gerne.
Lange schon bin ich den Göttern verhaßt und zögre mein Sterben
sinnlos hinaus, seitdem mich der Vater der Götter und Menschen
hart mit dem Blitzstrahle traf und im Feuer die Glieder mir lähmte.‹
Dabei verharrte er, ließ sich auch nicht durch Bitten erweichen.
Tränenden Auges baten wir, meine Gemahlin Krëusa,
unser Ascanius, sämtliche Diener, er solle nicht selber
sich ins Verderben stürzen, den Schicksalsschlag nicht noch verschärfen.
Aber er weigerte sich, blieb sitzen, beharrte beim Vorsatz.
Kämpfen wollte ich wieder und sterben, vom Unglück geschlagen;
blieb mir kein anderer Ausweg doch übrig, kein anderes Schicksal.
›Wähnst du denn wirklich, Vater, ich könnte im Stiche dich lassen?
Durfte ein Vater zu solchem gottlosen Handeln verführen?
Wünschen die Götter, daß spurlos die mächtige Festung verschwindet,
bist du entschlossen, dich und die Deinen unter den Trümmern
Ilions mitzubegraben, so steht solch ein Sterben uns offen.
Pyrrhos, bespritzt mit dem Blute des Priamos, wird gleich erscheinen,
hat vor dem Vater den Sohn, am Altar dann den Vater gemordet.
Botest du, gütige Mutter, vor feindlichen Waffen und Flammen
deshalb mir Rettung, damit ich, zu Hause umringt von den Griechen,
Vater und Sohn und Gattin vor meinen Augen erschlagen
[185] sähe, den einen im Blute des anderen? Waffen, ihr Männer,
her mit den Waffen! Das letzte Tageslicht ruft die Besiegten.
Gebt mich den Danaern wieder! Noch einmal möchte ich kämpfen.
Allesamt sterben wir heute, doch werden wir Rache noch üben!‹
Wiederum gürtete ich mit dem Schwerte mich, schob auch die Linke
zwischen die Schildriemen, wollte verlassen das Haus. Auf der Schwelle
aber umschlang mir Krëusa die Knie, hielt fest mich umklammert,
streckte zum Vater den kleinen Iulus empor: ›Wenn du sterben
möchtest, so nimm uns doch mit in jedes beliebige Unheil!
Setzt du jedoch in den Einsatz der Waffen begründete Hoffnung,
schütze vor allem dein Haus! Was erwartet den kleinen Iulus,
was den Vater, was deine Gemahlin, sind sie verlas sen?‹
Derart flehend, erfüllte das Haus sie mit kläglichem Jammern.
Aber da zeigte sich plötzlich ein kaum zu beschreibendes Wunder:
Zwischen Gesichtern und Händen der traurigen Eltern ergoß sich
über den Kopf des Iulus ein spitzes, leuchtendes Flämmchen,
das man getrost zu berühren vermochte, da es nicht sengte.
Dieses umspielte das zarte Haar und die Schläfen des Jungen.
Angstvoll versuchten das Feuer wir aus den Haaren zu schütteln,
wollten mit Wasser vom Quell den heiligen Flammenschein löschen.
Aber mein Vater Anchises blickte empor zu den Sternen,
freudig gestimmt, und betete, himmelwärts reckend die Hände:
›Jupiter, du, Allmächtiger, kann ein Gebet dich erweichen,
schaue auf uns – wir erflehen nicht mehr –, und sollte es unsre
Treue verdienen, bestätige uns durch ein Zeichen die Gnade!‹
Gleich nach den Worten des Greises erscholl ein donnerndes Krachen
plötzlich zur Linken, und eine aufblitzende Sternschnuppe sprühte
hell durch das Dunkel und glitt vom Himmel zur Erde hernieder.
Über den Dachgiebel sahen wir deutlich sie ziehen und schließlich
leuchtend im Walde am Ida versinken, Zeugen des ganzen
[186] Weges, den sie genommen; denn über die Bahn hin erstreckte
lang sich ein feuriger Schweif, und Schwefeldampf wogte im Umkreis.
Fest überzeugt war nunmehr der Vater, erhob sich, die Augen
aufwärts gerichtet, und flehte zum heiligen Stern und den Göttern:
›Länger nicht säume ich, Götter der Väter. Ich folge euch treulich,
wohin ihr immer mich führt. Bewahret das Haus und den Enkel!
Ihr entsandtet dies Zeichen, ihr lenkt Trojas Geschicke.
Nachgeben will ich, mein Sohn, und dich ohne Sträuben begleiten.‹
Derart sprach er. Schon stärker dröhnte das Sausen der Flammen
dumpf durch die Wände, die Feuersbrunst wälzte den Gluthauch noch näher.
›Gehen wir, lieber Vater; laß auf den Rücken dich heben.
Hier, ich beuge die Schultern, mich drückt nicht die teuere Bürde.
Wie auch das Schicksal sich wende, wir meistern gemeinsam Gefahren,
freuen zu zweit uns der Rettung. Der kleine Iulus begleite
mich, und in einigem Abstand möge die Gattin uns folgen.
Diener, beachtet genau die Weisung, die euch ich erteile:
Wenn man die Festung verläßt, so stößt man auf eine Erhöhung;
darauf erhebt sich ein uralter Tempel der ›Einsamen Ceres‹,
neben ihm eine geweihte Zypresse, seit Zeiten der Ahnen
treulich verehrt und gepflegt. Dort wollen wir uns aus verschiednen
Richtungen treffen. Nimm, Vater, das Kultgerät samt den Penaten!
Ich, nach dem gräßlichen Kampfe, noch frisch besudelt vom Blute,
darf sie nicht anrühren, ehe ich mich in fließendem Wasser
reinwaschen konnte.‹
Derart sprach ich, breitete über Nacken und starke
Schultern mir eine Decke, ein bräunliches Löwenfell gleichfalls,
bückte mich unter die Last dann; der kleine Iulus erfaßte
kräftig die Rechte mir, folgte dem Vater mit trippelnden Schritten.
Hinter uns ging Krëusa. Wir hielten bewußt uns im Dunkeln:
Lange versetzte mich schon kein Geschoßhagel mehr in Erregung,
auch nicht der Angriff einer Abteilung bewaffneter Griechen –
[187] aber jetzt schreckte ein Luftzug mich auf, in Spannung erhielt mich
jedes Geräusch, und ich bangte zugleich um den Sohn und den Vater.
Nahe schon war ich dem Tor, und ich hoffte, die Strecke im ganzen
sicher durchmessen zu haben. Da schlug mir Getrappel von Schritten
plötzlich ans Ohr, und mein Vater, bemüht, das Dunkel mit seinem
Blick zu durchdringen, mahnte mich laut: ›Da kommen sie! Fliehe,
fliehe, mein Sohn! Da funkelt die Bronze, da glänzen die Schilde!‹
Was für ein feindlicher Gott mir in meiner Verwirrung an dieser
Stelle den Rest der Besonnenheit raubte, das weiß ich nicht. Laufend
wich ich vom Wege, verließ die bekannte Richtung. Indessen
aber entriß mir das Schicksal, mir Elendem, grausam die Gattin.
Machte sie halt, verlief sie sich, mußte ermattet sie rasten?
Niemals erfuhr ich den Hergang, niemals auch sah ich sie wieder,
merkte auch erst den Verlust und dachte zurück an die Teure,
als wir beim Hügel, der heiligen Stätte der uralten Ceres,
angelangt waren. Hier sammelten sich die Getreuen. Krëusa
fehlte, vom Gatten, vom Sohn nicht bemerkt und von keinem der andern.
Außer mir war ich und wälzte die Schuld auf Menschen und Götter,
sah in dem Vorfall den grausamsten Schlag beim Untergang Trojas.
Meinen Gefährten vertraute Iulus ich an und den Vater
samt den Penaten und hieß sie im Talgrund in Sicherheit bringen,
kehrte dann selber, mit blanker Waffe, zurück in die Festung,
wollte aufs neue ins Unglück mich stürzen, ganz Troja durchstreifen,
wollte zum zweiten Male die Stirn den Wagnissen bieten.
Bis zu den Mauern gelangte ich erst und zum düsteren Tore,
dort, wo die Stadt ich verließ, und verfolgte quer durch das Dunkel
die hinterlassenen Spuren genau, hielt angespannt Umschau.
[188] Überall lauerte Schrecken, auch Stille jagte mir Furcht ein.
Dann begab ich nach Hause mich; hatte Krëusa viel leicht sich
dorthin gewandt? Erstürmt und besetzt von den Danaern alles!
Gierig schon fraß sich das Feuer zum oberen Teil des Gebäudes,
über den Dachfirst züngelten Flammen, hoch stoben die Funken.
Weiter gelangte ich dann zum Priamosschloß und zur Stadtburg.
In den verödeten Hallen der Juno – einst heiliger Freistatt! –
walteten Phoinix bereits und der schlimme Odysseus als Wächter
sämtlicher Beutestücke. Man hatte die troischen Schätze
Tempeln entrafft und hierher zusammengetragen, geweihte
Tische der Götter, vergoldete Mischkrüge, schöne Gewebe.
Kinder und schreckenverstörte Mütter standen, zu langen
Zügen gereiht, ringsumher.
Schließlich wagte sogar ich laut durch das Dunkel zu rufen,
ließ durch die Straßen tieftraurig den Namen Krëusas erschallen
und wiederholte ihn immer aufs neue, doch ohne Ergebnis.
Während ich zwischen den Häusern umsonst, wie von Sinnen, sie suchte,
trat mir Krëusa als Bildnis des Unglücks, als Schatten, ganz plötzlich
klar vor die Augen, größer, als ich sie im Leben einst kannte.
Starr vor Entsetzen stand ich, mir sträubte das Haar sich, die Stimme
stockte. Da sprach sie mich an und benahm mir Schrecken und Sorge:
›Warum, mein teurer Gefährte, ergibst du dich derart verzweifelt
grundlosem Schmerze? Nicht ohne das Wirken der Götter vollzog sich
alles Geschehene. Weder das Schicksal noch Jupiter, Herrscher
hoch im Olympus, gestatten, daß dich Krëusa begleitet.
Lange Zeit heimatlos, wirst du weithin die Meere durchfurchen.
Auch nach Hesperien wirst du gelangen. Der lydische Tiber
windet sich dort gemächlich voran durch fruchtbare Fluren.
Dort erringst du dir Glück, ein Königreich, eine Gemahlin
fürstlichen Stammes. Beweine nicht deine geliebte Krëusa!
Keinen stolzen Palast bei den Dolopern und Myrmidonen
werde ich sehen, nicht griechische Mütter als Sklavin bedienen,
ich, als Dardanerin, Schwiegertochter der göttlichen Venus.
[189] Nein, hierzulande behält mich die mächtige Mutter der Götter.
Lebe jetzt wohl, bewahr dir die Liebe zu unserem Jungen!‹
Vieles noch wollte ich, unter Tränen, zur Antwort ihr sagen,
doch sie verließ mich, entwich und löste sich auf in die Lüfte.
Dreimal versuchte ich ihr noch den Arm um den Nacken zu schlingen,
dreimal indessen griffen die Hände ins Leere; der Schatten
war wie der Windhauch so leicht, er glich dem geflügelten Traumbild.
Als die Gefährten ich wiedersah, war die Nacht schon vorüber.
Staunend erblickte ich jetzt den gewaltig geschwollenen Zustrom
neuer Begleiter, Mütter und Männer, Menschen im Elend,
eine zum Auswandern willige Schar. Sie waren von allen
Seiten zusammengeströmt, voll Mut, mit den Resten der Habe,
wünschten in See zu stechen, wohin ich auch immer sie führte.
Lucifer stieg vom Rücken des Ida bereits in die Höhe,
Bote der Ankunft des Tages. Fest hielten die Danaer Trojas
Tore besetzt, uns winkte keinerlei Hilfe. Zum Aufbruch
mahnte ich, zog dann, den Greis auf den Schultern, voran ins Gebirge.«
[190]

Dritter Gesang

Dritter Gesang.

»Untergegangen war nach dem Ratschluß der Götter des Königs
Priamos Herrschaft in Asien, schuldlos, gesunken das stolze
Troja Neptuns, die Stadt ein rauchender Haufen von Trümmern.
Göttliche Weisung auch trieb in die Fremde und öde Gebiete
weithin uns fort auf mancherlei Wegen und ließ in Antandros,
nahe dem Fuße des Ida, uns eine Flotte erbauen.
Wohin würde das Schicksal uns leiten, wo Heimstätten schenken?
Jedenfalls zogen wir Mannschaft zusammen.
Bei Anbruch des Sommers
hieß uns Anchises die Segel dem Schicksal getrost überlassen.
Tränen im Auge, verließ ich des Vaterlands Küste und Hafen,
Ilions Stätte. Ich stach als Verbannter in See, in Gemeinschaft
mit den Gefährten, dem Sohn, den Penaten, den mächtigen Göttern.
Ferne erstreckt sich ein Land des Mars, mit weiten, von tapfren
Thrakern bewohnten Flächen, einst strenge beherrscht von Lykurgos,
Troja verbündet durch Gastrecht sowie durch vereinte Penaten
während der Zeiten des Glücks. Hier bin ich – zum Unheil! – gelandet,
gründete erstmals ein Städtchen am buchtenreichen Gestade,
nannte die Einwohner, meinem Namen gemäß, Aeneaden.
Opfer für Venus, meine Mutter, wollte ich bringen,
auch für die Götter, die uns begünstigten, schließlich am Strande
einen recht stattlichen Stier dem Fürsten der Himmlischen schlachten.
Nahe der Stätte erhob sich ein Erdhaufen; buschartig wuchsen
Kirschen darauf, dicht starrten, gleich Lanzen, auch Äste von Myrten.
Näher trat ich heran, um grünende Zweige zu pflücken,
wollte mit dichtbelaubtem Gesträuch die Altäre bedecken.
Etwas Entsetzliches mußt ich da, wie ein Wunder, er blicken.
[191] Denn von dem Busch, den als ersten ich über dem Wurzelstock abbrach,
perlten tiefdüstere Blutstropfen nieder und bildeten Flecke,
eitriges Gift, auf dem Boden. Ein eisiger Schrecken durchzuckte
schlagartig mich, vor Furcht gerann mir das Blut in den Adern.
Weitre geschmeidige Ruten noch wollte, an anderer Stelle,
ich aus dem Boden ziehen, des Erdreichs Geheimnisse lüften.
Aber auch hier entquollen blutige Tropfen der Rinde.
Sorgenvoll wandte ich flehend mich gleich an die Nymphen des Hügels
wie an den Schutzherrn der getischen Fluren, den Vater Gradivus,
gnädig das unheilverkündende Zeichen zum Segen zu wenden.
Aber sobald ich zum dritten Mal, kräftiger zupackend, pflücken
wollte, dabei die Knie gegen den Sandboden stemmte –
spreche ich? schweige ich? –, scholl aus der Tiefe des Hügels ein bittres
klägliches Stöhnen, drangen zum Ohre mir folgende Worte:
›Warum zerfleischst du mich Armen, Aeneas? Gönn mir des Grabes
Ruhe, beflecke nicht deine noch reinen Hände! Trojaner
bin ich, kein Fremder für dich, das Blut entströmt nicht dem Holze –
meide dies grausame Land und meide die Küste der Habgier!
Hör: Polydoros bin ich! Die zahlreichen Waffen, die tödlich
hier mich durchbohrten, sie schlugen Wurzeln in mir, und sie trieben!‹
Zwiespältig waren meine Gefühle, ich stand vor Entsetzen
wie ein Betäubter, mir sträubte das Haar sich, mir stockte die Stimme.
Priamos hatte, der Elende, seinen Sohn Polydoros,
goldene Schätze dazu, einst heimlich dem thrakischen König
sorglich in Pflege gegeben, die Niederlage für Troja
ungewiß fürchtend, vor Augen die schon umzingelte Festung.
Als dann die Macht der Teukrer zerbrach, ihr Glücksstern verblaßte,
schlug sich der thrakische Fürst auf die Seite der Sieger, verletzte
Gastrecht und Blutsbande, mordete den Polydoros und raubte
[192] schamlos den goldenen Schatz. Was tust du den Menschen für Zwang an,
Goldgier, verfluchte!
Sobald mein Entsetzen sich legte, erzählte
ich den erwählten Fürsten des Volks und vor allen dem Vater,
was für ein Wunder geschehen, und bat sie, dazu sich zu äußern.
Einstimmig schlugen sie vor, das Land des Verbrechens, des schnöden
Bruches des Gastrechts, zu meiden, den Winden uns anzuvertrauen.
Ordnungsgemäß noch beerdigten wir Polydoros. Ein Hügel
wurde, recht stattlich, errichtet, Altäre zu Ehren der Manen
gleichfalls, mit tiefblauen Bändern der Trauer und düstren Zypressen;
feierlich standen rings troische Frauen mit offenen Haaren.
Weihgüsse brachten wir, lauwarme Milch in schäumenden Schalen,
heiliges Blut auch; wir bargen zu ewiger Ruhe den Toten,
riefen die Worte des Abschieds ihm zu mit hallender Stimme.
Als wir der See dann vertrauen durften, der Luftzug das Wasser
friedlich nur kräuselte, singender Süd zur Ausfahrt uns lockte,
strömten die Freunde zur Küste und zogen die Schiffe ins Wasser.
Hinter uns blieb der Hafen, Länder und Städte entschwanden.
Innig geliebt von der Gattin des Nereus sowie von Neptunus,
Herrn der Ägäis, erhebt sich im Meere ein heiliges Eiland.
Ehemals trieb es von Küste zu Küste. Der Meister des Bogens
gab ihm dann Halt am Gýaros und am hohen Mykonos,
machte, zum Dank, es bewohnbar und sicher vor stürmischen Winden.
Dorthin steuerten wir; die Insel empfing uns Erschöpfte
freundlich in sicherem Hafen. Wir grüßten voll Ehrfurcht Apollos
Tempel an Land. Und Anios, König, zugleich auch des Gottes
Priester, kam uns entgegen, mit Bändern und heiligem Lorbeer
festlich umkränzt; er kannte von früher Anchises als Gastfreund.
Herzlich schüttelten wir uns die Hand und betraten die Wohnstatt.
[193] Inständig betete ich vor dem uralten Tempel Apollos:
›Schenke, Thymbräer, uns eine Heimat! Schenk uns Erschöpften
Mauern und Kinder und sichere Bleibe! Behüte ein neues
Ilion, das den Hellenen entrann und dem wilden Achilles!
Nenne den Führer, das Ziel uns, den Ort, wo wir Häuser uns bauen!
Gib uns ein Zeichen, Vater, ermutige, stärke uns, bitte!‹
Derart betete ich. Ein Erdbeben folgte den Worten.
Tempel und Lorbeerwäldchen des Gottes, das nahe Gebirge
wankten, das Heiligtum öffnete sich, das Orakel erdröhnte.
Nieder zu Boden warfen wir uns und lauschten den Worten:
›Unglückgestählte Trojaner, das Land, das ehemals eure
Ahnen hervorbrachte, wird euch an üppiger Mutterbrust wieder
freundlich empfangen. Auf, suchet die Mutter der Vorfahren! Über
sämtliche Länder gebietet von dort einst der Stamm des Aeneas,
Kinder und Enkel desgleichen und deren Nachkommen alle!‹
Dieses Orakel erregte einen gewaltigen Ausbruch
lärmender Freude, und jeder wollte den Namen des Landes
wissen, das Phöbus uns Heimatlosen zur ›Heimkehr‹ empfohlen.
Aber Anchises gedachte der Helden der Vorzeit und sagte:
›Höret, ihr Fürsten, und laßt euch erzählen, was Hoffnung euch spendet!
Kreta, die Insel des mächtigen Jupiter, ragt aus dem Meere,
wo sich der Ida erhebt und die Wiege unsres Geschlechtes.
Hundert glänzende Städte bilden dort machtvolle Reiche.
Dorther gelangte, sofern ich mich richtig erinnere, Teukros,
unser Ahnherr, zum Strand von Rhoiteion und suchte sich einen
Platz für die Stadtgründung. Ilion gab es noch nicht, auch die Festung
Pergamon nicht; man bewohnte die Täler am Fuße des Ida.
Dorther auch stammt die Mutter, wohnhaft am Berge Kybele,
stammen die Klangbecken der Korybanten, das Wäldchen am Ida,
unser Geheimkult, das Löwengespann vor dem Wagen der Herrin.
Folgen wir also der Richtung, die göttliche Weisung uns vorschreibt,
flehen um günstigen Wind und segeln zum Reiche von Knossos –
keine sehr lange Strecke! Wenn Jupiter gnädig uns beisteht,
[194] brauchen drei Tage wir nur bis zur Landung am Strande von Kreta.‹
Auf den Altären brachte er dann die geschuldeten Opfer,
einen Stier für Neptunus und einen dir, edler Apollo,
für den Orkan ein schwarzes, ein weißes Lamm freundlichen Zephyrn.
Fürst Idomeneus, erzählte man, ward aus dem Reiche der Väter
kürzlich vertrieben, verlassen liege die Küste von Kreta;
frei von den Feinden, verödet, stünden die Städte und Häuser.
Von Ortygia segelten wir am gebirgigen Naxos,
wo die Bakchantinnen schwärmen, vorüber, am grünen Donysa,
an Olearos, dem schneeweiß schimmernden Paros, dem ganzen
Kreis der verstreuten, von rauschender Brandung umtobten Kykladen.
Wetteifernd schollen die Rufe der Schiffer, ermunternd auch riefen
wohlgemut alle Gefährten: ›Nach Kreta, zu unseren Ahnen!‹
Kräftig frischte der Rückenwind auf und trieb uns zum Ziele.
Zügig erreichten wir schließlich das uralte Land der Kureten.
Eifrig begann ich den Aufbau der Stadt, die so sehnlich wir wünschten,
nannte sie Pergamos, mahnte das Volk, das des Namens sich freute,
liebzugewinnen die Herde und höher die Burg noch zu türmen.
Längst schon waren die Schiffe ans trockne Gestade gezogen,
waren die Pläne der Jugend auf Heirat und Feldbau gerichtet,
teilte ich Wohnstätten zu und gab auch Gesetze. Da brachte
plötzlich ein Umschlag des Wetters mit unheilschwangeren Dünsten
eine für Menschen wie Bäume und Saaten gleich tödliche Seuche.
Entweder schied man vom lieblichen Dasein, oder man schleppte
schwerkrank sich hin; der Sirius ließ die Fluren verdorren.
Pflanzen dürsteten; Saaten, geschwächt, verweigerten Nahrung.
Wieder zur See zu Apollos Orakel auf Delos zu fahren,
riet mir mein Vater, den Gott um Gnade zu bitten, zu fragen,
wie er die Krankheit beenden wolle, woher wir im Elend
Hilfe uns holen, wohin wir die Reise fortsetzen sollten.
Tief in der Nacht – der Schlaf hielt alle Geschöpfe umfangen –
traten mir heilige Göttergestalten, die Phrygerpenaten,
[195] die ich aus Trojas lodernden Flammen mitgebracht hatte,
deutlich vor Augen. Ich sah sie im Schlaf unverkennbar vor meiner
Lagerstatt stehen, in hellem Licht, auf der Seite des Zimmers,
die, durch die Öffnung der Fenster, im Scheine des Vollmondes glänzte.
Meine Sorgen benahmen sie mir mit folgenden Worten:
›Was dir Apollo, kämst du nach Delos, mitteilen würde,
läßt er durch uns dir ausrichten, hier, in deiner Behausung.
Wir, die durch Trojas Flammen, durch blutige Kämpfe dir folgten,
die wir in deiner Obhut die wogenden Fluten durchquerten,
werden auch deine Enkel einst unter die Sterne versetzen,
deiner Stadt die Weltherrschaft geben. Mächtige Mauern
baue für mächtige Herrscher und trag die Strapazen der Irrfahrt!
Weiter noch müßt ihr ziehen. Apollo von Delos erteilte
dir nicht den Rat, an diesem Gestade, auf Kreta, zu siedeln.
Nein, es erstreckt sich ein uraltes Land, das die Griechen Hesperien
nennen, gewaltig im Kampfe, gesegnet mit fruchtbarem Boden,
von den Oinotrern bewohnt. Die Nachkommen sollen es heute,
nach dem Namen des Herrschers, als Italien bezeichnen.
Dieses Gebiet ist unser. Dárdanos ward hier geboren,
Vater Iasios auch, der Urahn unsres Geschlechtes.
Auf, überbringe voll froher Zuversicht deinem betagten
Vater die klare Weisung: Nach Kórythos möge er streben,
in Ausonien. Jupiter gibt dir auf Kreta kein Wohnrecht.‹
Tiefe Bestürzung empfand ich beim Sehen und Hören der Götter.
Schwerlich war das ein Traumbild; denn ich erblickte leibhaftig
vor mir die Haare, umkränzt, die Gesichter, die freundlichen Mienen.
Eiskalter Schweiß brach mir aus den Poren und näßte die Glieder.
Auf von der Lagerstatt raffte ich mich und streckte die Hände
betend zum Himmel. Dann goß als gefällige Spende ich lautren
Wein auf den Herd. Nach Vollzug der Pflicht überbrachte ich meinem
Vater voll Freude ausführliche Nachricht von dem, was geschehen.
Unsrer zweideutigen Herkunft und doppelten Ahnherren konnte
er sich erinnern, erkannte auch die Verwechslung der Länder
[196] unseres Ursprungs und sagte: ›Mein Sohn, durch den Untergang Trojas
bitter geprüft, vernimm: Kassandra erschloß mir die Wahrheit!
Sie – ich erinnere mich – enthüllte mir unsre Bestimmung,
nannte Hesperien oftmals, auch oftmals ein Reich in Italien.
Aber wer glaubte denn, Teukrer würden Hesperiens Küste
einstmals betreten? Wen konnte Kassandras Spruch überzeugen?
Folgen dem Rat wir des Phöbus und streben zum richtigen Ziele!‹
Freudig gehorchten wir alle dem neuen Befehle, verließen
Kreta, geboten nur einigen, dort zu verbleiben. Die Segel
setzten wir, fuhren über die unermeßlichen Fluten.
Als wir die hohe See erreichten, kein Land mehr sich ringsum
zeigte, nur Himmel und Meer uns von allen Seiten umgaben,
ballten sich über mir tiefblaue Regenwolken zusammen,
brachten Orkan und Nacht. Schwarz bäumten sich drohend die Wogen.
Winde begannen das Meer zu peitschen, wandelten weite
Flächen zur Brandung. Wir tanzten verstreut auf gähnenden Strudeln.
Dunstmassen raubten den Tag. Den Himmel entraffte die nasse
Finsternis, zuckende Blitze zerrissen die Wolken. Vom Kurse
kamen wir ab, durchirrten, Blinden vergleichbar, die Wellen.
Selbst Palinuros gestand, den Tag wie das nächtliche Dunkel
nicht unterscheiden, die Richtung nicht länger halten zu können.
Ungewiß irrten drei Tage wir, ohne zu sehen, auf hohem
Meere, erspähten bei Tag nicht die Sonne, bei Nacht nicht die Sterne.
Endlich, am vierten Tage, tauchte vor unseren Blicken
Land auf, fern ragten Gebirge, und Rauchfahnen wehten. Die Segel
refften wir, packten die Ruder. Gleich legten die Mannschaften wacker
sich in die Riemen und ließen schäumen die bläulichen Fluten.
Ledig der Seenot, betrat ich als erster den Strand der Strophaden.
›Inseln der Umkehr‹ heißen sie bei den Hellenen, im weiten
Ionischen Meere gelegen. Hier hauste die wilde Kelaino
[197] mit den andern Harpyien, seitdem sich die Wohnstatt des Phineus
ihnen verschloß und die Furcht aus dem alten Revier sie verscheuchte.
Niemals erstand aus den Fluten der Styx ein schlimmeres Untier,
niemals ein wilderes Scheusal, ein roherer Rachgeist der Götter:
Vögel mit Mädchengesichtern und scheußlichem Auswurf des Darmes,
krallenbewehrten Fängen und einem durch stetigen Hunger
fahlgelben Antlitz.
Ein natürlicher Hafen empfing uns. Da sahen am Lande
weithin wir muntere Herden von Rindern auf Weiden sich tummeln,
Ziegen desgleichen, ohne daß irgendein Hirt sie bewachte.
Über sie fielen wir her mit der blanken Waffe und luden
Götter und Jupiter selber zu Gaste. Behagliche Lager
schufen wir uns an der Bucht, um das üppige Mahl zu genießen.
Doch die Harpyien glitten in schaudererregendem Fluge
jäh von den Bergen heran, sie schüttelten rauschend die Schwingen,
rafften die Speisen hinweg und besudelten fürchterlich alles.
Ekler Gestank und kreischende Stimmen wirkten zusammen.
Nunmehr bereiteten wir zum zweiten Male, in tiefer
Felsgrotte sicher versteckt, von Bäumen und schaurigem Schatten
dicht überwölbt, die Mahlzeit, entzündeten neu die Altäre.
Aber auch diesmal stürzten, aus anderer Richtung und dunklem
Hinterhalt, krächzend die Räuber, umschwärmten krallend die Beute,
spien sie geifernd voll Unrat. Da rief ich meine Gefährten
laut zu den Waffen, zum Kampfe gegen die gräßliche Plage.
Diesem Befehle gehorchten sie gleich, sie tarnten die Schwerter
griffbereit unter dem Gras und hielten die Schilde verborgen.
Als die Geschöpfe am Rande der Bucht gell schreiend sich setzten,
stieß auf der Höhe des Ausgucks Misenos mit Kraft ins Signalhorn.
Vorbrachen kühn die Gefährten zum Kampf, den noch niemals sie führten,
[198] wollten mit Schwertern die scheußlichen Vögel des Meeres zerfleischen.
Aber die Federn trotzten den Hieben, man konnte die Leiber
gar nicht verwunden. Rasch flohen die Tiere hinauf zu den Sternen,
angenagt ließen das Mahl sie zurück, abscheulich die Spuren.
Aber Kelaino, allein, blieb sitzen auf ragendem Felsen,
eine Prophetin des Unheils, und rief mit dröhnender Stimme:
›Stiere und Kühe würgtet ihr ab, ihr Laomedonsenkel –
dafür rüstet ihr euch jetzt zum Kriege, wollt die Harpyien,
schuldlose Wesen, aus ihrem Vaterlande vertreiben?
Höret denn, was ich euch sage, und prägt es euch fest ins Gedächtnis!
Mitgeteilt hat der allmächtige Vater es Phöbus und dieser
mir. Als die mächtigste Furie will ich es euch prophezeien:
Kurs auf Italien nehmt ihr, werdet mit Hilfe der Winde
glücklich erreichen das Land und die Häfen aufsuchen dürfen.
Aber ihr werdet die Stadt, die das Schicksal euch zuweist, mit Mauern
dann erst umgeben, wenn furchtbarer Hunger – die Sühne für euren
Angriff auf uns! – euch nötigt, die Tische voll Gier zu verschlingen!‹
Darauf entschwand sie mit rauschenden Schwingen über den Bäumen.
Plötzlicher Schrecken durchzuckte die Freunde, und eiskalt erstarrte
ihnen das Blut. Entmutigt waren sie, wünschten den Frieden,
aber nicht länger im Kampfe, sondern durch inniges Beten,
wären die Vögel nun Göttinnen oder bloß gräßliche Tiere.
Vater Anchises breitete vom Gestade die Arme,
rief die göttlichen Mächte, versprach die geschuldeten Ehren:
›Götter, erfüllt nicht die Drohung, erspart uns so furchtbares Elend,
gnädig bewahrt vor Unheil die Frommen!‹ Die haltenden Taue
hieß er uns lösen, aufwickeln auch das übrige Tauwerk.
[199] Südwind blähte die Segel. Wir suchten auf schäumenden Wogen
schleunigst das Weite, wohin uns der Wind und der Steuermann lenkten.
Auftauchten bald aus der Flut die bewaldete Insel Zakynthos,
weiter Dulichion, Same, auch Neritos, ragend mit Klippen.
Ithakas Riffe umfuhren wir glücklich, das Reich des Laërtes,
fluchten dem Land, das den grausamen Fürsten Odysseus ernährte.
Darauf erschienen die wolkenumwogten Berge von Leukas,
dann das Apollonheiligtum, das die Seeleute fürchten.
Dorthin fuhren wir, völlig erschöpft, und erreichten das Städtchen,
warfen vom Vorschiff die Anker; die Heckteile zeigten zur Küste.
Derart betraten wir, endlich, wider Erwarten das Festland,
brachten dem Jupiter Sühnopfer und vollzogen Gelübde
auf den Altären, erneuerten auch an der aktischen Küste
troische Kampfspiele. Nackt und gesalbt, so übten im alten
heimischen Sport sich die Freunde, beglückt, daß sie schadlos so vielen
griechischen Städten mitten im Lande der Feinde entrannen.
Aber inzwischen vollendete sich der Kreislauf des Jahres,
eisiger Wintersturm jagte mit rauhem Nordwind die Wellen.
Vorn an das Tempeltor heftete ich den ehernen Schutzschild,
den der gewaltige Abas einst trug, mit folgender Aufschrift:
›Diese Trophäe entriß Aeneas den siegreichen Griechen.‹
Platz auf den Ruderbänken befahl ich zum Aufbruch zu nehmen.
Wetteifernd peitschte die Mannschaft das Meer und durchfurchte die Fluten.
Hinter uns ließen wir schon die hohen phäakischen Gipfel,
liefen, vorbei am Strand von Epeiros, den Hafen Chaoniens
an und gelangten zur ragenden Stadt und Festung Buthroton.
Ebendort durften wir eine kaum glaubliche Nachricht vernehmen:
Helenos, Sprößling des Priamos, herrsche in griechischen Städten,
habe den Thron übernommen von Pyrrhos, dem Aiakosenkel,
wiederum sei jetzt Andrómache Gattin eines Trojaners.
Staunend empfand ich ein außergewöhnlich starkes Verlangen,
[200] Helenos selber zu sprechen, sein seltsames Los zu erfahren.
Während von Bord ich aufbrach und mich vom Hafen entfernte,
war, in dem heiligen Hain vor der Stadt, am Ufer des neuen
Flusses Simoeis, Andromache eben mit Opfern beschäftigt,
spendete feierlich-traurige Gaben mit Anruf der Manen
vor dem Ersatzgrab Hektors, das sie mit frischgrünem Rasen,
auch zwei Altären, zu bittrem Gedenken eingeweiht hatte.
Als sie mich ankommen sah im Kreis von bewaffneten Troern,
war sie vor Staunen außer sich. Völlig verblüfft von dem Anblick,
stockte sie in der Bewegung, ihr wich das Blut aus den Wangen.
Mühsam hielt sie sich aufrecht, vermochte nur stockend zu sprechen:
›Bist du es wirklich, Sprößling der Göttin? Du bringst uns tatsächlich
Nachricht? Du lebst? Erlosch dir freilich selber die Sonne,
sag mir: Wo weilt mein Hektor?‹ Und schmerzlich begann sie zu weinen,
durchdringend hallte ihr Jammern. Ihr raubte der Gram die Besinnung.
Selber vermochte ich stammelnd nur weniges ihr zu entgegnen.
›Allerdings lebe ich, schleppe mein Dasein durch furchtbarstes Elend.
Zweifle nicht, siehst schon das Richtige!
Ach, wie erging es dir nach dem Verlust des tapferen Gatten?
Fandest ein Schicksal du endlich, wie du es wirklich verdientest?
Hektors Andromache – immer noch eines Pyrrhos Gemahlin?‹
Nieder schlug sie die Augen und gab ganz leise zur Antwort:
›Glücklich vor allen anderen Frauen die Priamostochter,
die vor den ragenden Mauern Trojas, am Grabmal des Feindes,
sterben mußte! Sie brauchte nicht Opfer des Loses zu werden,
brauchte nicht einem der Sieger als Bettsklavin Dienste zu leisten.
Weithin entführt nach dem Brande von Troja über die Meere,
mußte den Hochmut des Pyrrhos ich dulden, als Sklavin dem stolzen
Manne ein Kind gebären. Doch nahm er die Enkelin Ledas
später zur Frau, Hermione, aus Lakedaimon, und schickte
mich als Gemahlin zu Helenos, zu dem Sklaven die Sklavin.
[201] Aber Orestes, aus Liebe zu der ihm entrißnen Verlobten,
auch von den rächenden Furien gehetzt, überfiel den verhaßten
Pyrrhos, der ahnungslos war, am Achillesaltar und erschlug ihn.
Nach der Ermordung fiel ein Teil des Pyrrhosgebietes
Helenos zu, nach Gebühr. Der benannte nach Chaon, dem Bruder,
dieses Gebiet als Chaonien und sein Volk als Chaonier,
baute auch Pergamon dort auf dem Berge, als ilische Festung.
Was für Winde und Umstände trieben jetzt dich nach Chaonien?
Was für ein Gott verschlug dich an unseren Strand, und du ahntest
gar nichts? Wie geht es deinem Ascanius? Lebt er und atmet,
den du von Troja – – –
Macht sich der Junge noch Sorgen um seine verlorene Mutter?
Dienen ihm Vater Aeneas, sein Onkel Hektor als Vorbild,
einstmals bewiesene Tüchtigkeit, männlichen Mut zu bewähren?‹
Tränenden Auges stieß sie die Fragen hervor, und noch lange
mußte sie hemmungslos weinen. Da kam aus den Mauern des Städtchens
Helenos an, des Priamos Sohn, mit großem Gefolge.
Landsleute sah er sogleich in uns und führte voll Freude
uns zu den Wohnstätten, fragte und sprach, unterbrochen von Tränen.
Vorwärts schritt ich, erblickte dann plötzlich ein Troja im kleinen,
ähnlich dem einstigen großen, ein trockenes Flußbett mit Namen
Xanthos, umarmte dann, nieder mich werfend, des Skaiischen Tores
Schwelle. Die Freunde auch grüßten das ihnen aufs engste verbundne
Städtchen voll Innigkeit. Gastlich empfing sie der König im weiten
Schloßhof. Dort brachten sie Trankopfer dar aus Bacchuspokalen,
Speisen auf goldenen Schüsseln, geweihten Opfergefäßen.
Als zwei Tage vergangen waren, die Brise zum Segeln
lockte, die Leinwand sich nach dem Hauche des Südwindes bauschte,
richtete ich an den Seher folgende Bitte: ›Du Sprößling
Trojas, Prophet, der das Walten Apollos du wahrnimmst und deutest,
[202] Dreifüße, Lorbeer des Phöbus von Klaros, die Bahnen der Sterne,
Stimmen der Vögel, die Arten auch ihres Fluges, erteil mir
Auskunft! Erfolgreiche Fahrt verhießen mir alle Orakel,
alle befragten Gottheiten wiesen als Ziel mir Italien,
hießen entlegene Länder mich aufsuchen. Lediglich eine
von den Harpyien, Kelaino, weissagte seltsames Unheil,
drohte mit Strafe durch zornige Götter, furchtbarem Hunger.
Welche Gefahren muß ich vor allen anderen meiden?
Wodurch vermag ich so bittere Prüfungen fest zu bestehen?‹
Helenos opferte Stiere zunächst, nach der Vorschrift, erflehte
friedliche Fahrt von den Göttern, löste die Binden von seinem
heiligen Haupte und führte zu deinem Tempel mich, Phöbus.
Während mich Ehrfurcht durchschauerte vor dem Walten der Gottheit,
kündete mir der Priester aus göttlichem Munde die Zukunft:
›Sprößling der Göttin, ohne Zweifel befährst du die Wogen
unter höherer Lenkung – der Götterfürst gibt ja die Lose,
regelt die Abfolge auch; so will es die Ordnung des Weltlaufs.
Wenig von vielem nur kann ich hier nennen, damit du in größrer
Sicherheit fremde Meere durchquerst und glücklich in einem
Hafen Ausoniens landest. Helenos darf nicht mehr wissen,
fordern die Parzen – darf nicht mehr sagen, gebietet mir Juno.
Erstens: Italien, das du, ohne genauere Kenntnis,
nahe schon wähnst und in dessen Häfen du bald schon zu landen
hoffst, das trennen von dir noch weite, gefahrvolle Wege.
Vorher noch mußt im Sizilischen Meer die Ruder du krümmen,
mußt auch die salzigen Fluten Ausoniens segelnd erkunden
und den avernischen See, auch die Insel der Kirke von Aia.
Dann erst vermagst du die Stadt dir auf sicherem Festland zu gründen.
Zeichen will ich dir nennen, bewahre sie fest im Gedächtnis!
Stößt du, von Sorgen gequält, an einsamer Flußmündung unter
Eichen am Ufer auf eine stattliche Sau, die soeben
dreißig Frischlinge warf und am Boden ausgestreckt daliegt –
[203] weiß die Mutter und weiß an den Zitzen die Jungen –, so wisse:
Ebendort baust du die Stadt, den Ruhepunkt nach den Strapazen!
Weiter: Du brauchst vorm Verschlingen der Tische nicht furchtsam zu zittern;
Auswege findet das Schicksal, auf Anruf hilft dir Apollon.
Meide jedoch die Teile und Küstenstriche Italiens,
die sich am nächsten, jenseits unseres Meeres, erstrecken;
feindlich gesonnene Griechen bewohnen dort sämtliche Städte.
Von den narykischen Lokrern wurden hier Mauern errichtet.
Fürst Idomeneus aus Lyktos führte bewaffnete Scharen
ins Sallentinergebiet. Philoktetes, der Fürst Meliboias,
baute auf felsigem Grunde die kleine Festung Petelia.
Selbst wenn das Meer du bezwangst und glücklich zu landen vermochtest,
wenn du am Strand auf Altären den Göttern schon Dankopfer darbringst,
hülle zur Vorsicht dein Haar in einen purpurnen Schleier:
Soll doch bei heiliger Flamme während der Ehrung der Götter
kein Unberufener nahen und stören die fromme Bemühung.
Deine Gefährten, du selbst auch sollen derartig opfern;
derart auch sollen die Enkel in Reinheit den Gottesdienst üben.
Aber sobald dich von hier aus der Wind zur sizilischen Küste
treibt und die Meerenge sich am Kap von Pelorum dir öffnet,
halte dich links, nah dem Lande, und suche zur Linken in weitem
Umweg die Weiterfahrt. Meide den Strand und die Fluten zur Rechten!
Einstmals, erzählt man, trennte das Land sich durch Erdbebeneinsturz –
solche Veränderung kann der Zeitenlauf bringen – gewaltsam,
während doch vorher beide Landmassen eine nur waren.
Zwischen die Landmassen drängte das Meer sich und schnitt mit den Wogen
von dem italischen Festland die Insel Sizilien, bedeckte
Felder und Städte längs der zwei Küsten in brandender Enge.
Skylla lauert zur Rechten, die wilde Charybdis zur Linken.
Letztere schlürft aus der strudelnden Tiefe dreimal am Tage
jählings die Fluten sich ein bis zum Grunde und speit sie im Wechsel
[204] wieder empor in die Lüfte, der Gischt umsprüht die Gestirne.
Skylla indessen verbirgt sich in finsterer Höhle, ganz plötzlich
streckt sie ihr Antlitz hervor und zieht die Schiffe auf Klippen.
Menschengestaltig zeigt sich ihr Oberleib, stattlich ihr Busen;
aber ihr Unterleib ist ein grausiges Meerungeheuer,
Bäuche von Seewölfen, auslaufend in den Schwanz von Delphinen.
Besser, man nimmt sich die Zeit und umfährt das Kap von Pachynum,
macht um Sizilien einen beträchtlichen Umweg, als einmal
nur in der weiten Höhle die gräßliche Skylla zu sehen,
schwarzblauer Hunde Gebell vom Felsgestein dröhnen zu hören!
Ferner: Bewährt tatsächlich Helenos weise Voraussicht,
ist er vertrauenswürdig, enthüllte ihm Phöbus die Wahrheit,
möchte vor allem ich eines dir sagen, Sprößling der Göttin,
immer aufs neue es einhämmern dir als ernsteste Mahnung:
Flehe besonders eindringlich stets zur gewaltigen Juno,
bringe ihr feierlich-freudig Gelübde, versuche die hohe
Herrin voll Demut durch Gaben zu rühren; dann wirst von Sizilien
schließlich erfolgreich du noch die Fahrt nach Italien meistern.
Bist du dort eingetroffen, betratest erst Cumae mit seinen
heiligen Seen, dem Averner im Kranz der rauschenden Wälder,
wirst die Prophetin du sehen, die gottbegeistert in tiefer
Felsgrotte weissagt und Namen wie Zeichen einträgt auf Blättern.
Sämtliche von der Jungfrau hier festgehaltenen Sprüche
werden gezählt und geordnet von ihr und bewahrt in der Grotte,
unter Verschluß; sie bleiben dort unbeeinträchtigt liegen.
Wenn allerdings beim Öffnen der Tür ein mäßiger Luftzug
eindringt und durch den Spalt die leichten Blattseiten hochreißt,
läßt die Prophetin sie ruhig die Höhle durchflattern, sie sammelt
nicht das Verstreute und stellt nicht die Sprüche aufs neue zusammen.
Wer die Sibylle nicht selber befragt, erhält kein Orakel,
scheidet verärgert. Laß dich durch Wartezeit nicht daran hindern –
wenn die Gefährten auch murren, dein Ziel auch gebieterisch Abfahrt
fordert und günstiger Wind dir die Segel aufbläht –, persönlich
dich an die Jungfrau zu wenden und sie um Auskunft zu bitten.
[205] Gnädig möge sie weissagen dir und die Zukunft erschließen.
Über die Völker Italiens, künftige Kriege, die Mittel,
die du benötigst, Gefahren zu meiden oder zu meistern,
wird sie berichten, auf Bitten dir glückliche Fahrt auch gewähren.
Soweit vermag ich für mein Teil dir Vorschau und Ratschlag zu bieten.
Auf denn, erhebe durch Taten Troja zur Größe, zum Äther!‹
Freundlich erteilte der Seher die Auskunft. Dann ließ er Geschenke,
kostbare Stücke aus Gold und Elfenbein, gleich zu den Schiffen
bringen, die Frachträume füllen mit reichlichen Mengen von Silber,
Kesseln vom Heiligtume Dodonas, weiterhin einem
Panzer aus Ringen von dreifach geflochtenen goldenen Drähten,
einem Schutzhelm mit prächtiger Spitze und wallendem Buschen,
einstmals die Waffen des Pyrrhos. Dem Vater auch bot er Geschenke,
sandte auch Rosse und Kenner des Weges,
füllte die Mannschaften auf und ergänzte Geräte und Waffen.
Vater Anchises befahl indessen, die Segel zu setzen;
sollte man doch den günstigen Wind nicht ungenutzt lassen.
Achtungsvoll sprach zu dem Greis der Prophet des Apollo: ›Anchises,
einstmals von Venus eines erhabenen Bundes gewürdigt,
Liebling der Götter, zweimal gerettet aus Ilions Trümmern,
sieh dein Italien dort! Auf, segle ihm zügig entgegen!
Freilich, erst mußt du entlangfahren an der dortigen Küste;
der dir von Phöbus versprochene Landstrich erstreckt sich noch ferne.
Auf, du als Vater durch Treue des Sohnes Beglückter! Ich schweige
jetzt, denn die Südwinde frischen schon auf, ihr sollt sie ja nutzen!‹
Auch Andromache brachte, voll Wehmut über die letzte
Trennung, Geschenke, mit Gold bestickte Gewänder, auch einen
phrygischen Mantel, bestimmt für Ascanius, reiche Gewebe
[206] zusätzlich, ebenso großzügig wie ihr Gatte, und sagte:
›Nimm das, mein Junge, als Andenken, das ich mit eigner Hand webte,
aber zugleich als Zeugnis stetiger Liebe, die Hektors
Gattin dir widmet! Nimm es, ein letztes Geschenk von den Deinen,
du, der allein mich an meinen Astýanax deutlich erinnert!
Ebenso blickte er, regte die Hände, verzog auch die Miene.
Gleichaltrig wäre er heute mit dir, erwüchse zum Manne!‹
Scheidend entgegnete ich und konnte die Tränen nicht halten:
›Lebet im Glück – euch brachte das Schicksal bereits die Erfüllung!
Uns indessen, uns fordern Verhängnisse wieder und wieder.
Ihr erkämpftet euch Ruhe, ihr braucht nicht das Meer zu durchpflügen,
braucht nicht Ausoniens Fluren zu suchen, die immer aufs neue
vor euch entschwinden. Ihr habt den Xanthos vor Augen, ein Troja,
das ihr euch selber erbautet, zu einem besseren Schicksal,
wünsche ich, weniger preisgegeben den feindlichen Griechen!
Wenn ich den Thybris erreiche und die ihm benachbarten Fluren,
wenn ich die Mauern erblicke, die meinem Geschlechte bestimmt sind,
wollen Epeiros wir und Hesperien, die innig verwandten
Städte und Völker, die doch in Dárdanos ein und denselben
Stammvater haben, auch gleichem Schicksal verfielen, zu einem
Troja verbinden, voll Zuversicht – Aufgabe unserer Enkel!‹
Über die Fluten segelten wir, längs des Donnergebirges,
dorthin, von wo man Italien erreicht auf kürzestem Wege.
Als die Sonne versank und die Höhen in Schatten sich hüllten,
streckten wir aus uns am Strand, auf den Schoß der willkommenen Erde,
konnten, nach Einteilung unserer Wachen, am trocknen Gestade
Ruhe genießen. Die müden Glieder erquickte der Schlummer.
Aber die Horen erreichten noch nicht die Mitternachtsstunde,
als Palinuros sich eifrig erhob von dem Lager, den Luftzug
sorgfältig prüfte und seinem Pfeifen angespannt lauschte,
[207] alle Gestirne beschaute, die schweigend die Himmelsbahn zogen,
rings den Arkturos, die niederschlagsreichen Hyaden, die beiden
Bären, Orion auch suchte, den Jäger in goldener Rüstung.
Als er sie alle am heiteren Himmel deutlich erblickte,
blies er vom Hinterdeck schmetternd zum Wecken. Auf standen wir, stachen
schleunigst in See und breiteten eifrig die Schwingen der Segel.
Völlig verblaßten die Sterne bereits vor der Röte Auroras.
Da, in der Ferne, erblickten wir dämmernde Hügel und, niedrig,
unser Italien. ›Italien!‹ rief als erster Achates,
und die Gefährten grüßten mit freudigen Rufen: ›Italien!‹
Vater Anchises umkränzte einen mächtigen Mischkrug,
füllte mit lauterem Wein ihn und flehte inständig, vom hohen
Hinterdeck aus, zu den Göttern:
›Götter, allmächtig zu Wasser, zu Lande, Gebieter der Stürme,
bitte, erleichtert die Fahrt uns, sendet uns günstige Winde!‹
Kräftiger blies die willkommene Brise, in größerer Nähe
öffnete schon sich der Hafen, man sah des Minervabergs Tempel.
Segel reffte man, kehrte die Hintersteven zur Küste.
Ausgespült hatten östliche Stürme die Bucht wie zum Halbkreis.
Felsspitzen ragten ins Meer, vom salzigen Gischte umbrandet,
tarnten den Hafen. Turmhohe Klippen, zwei Mauern vergleichbar,
reichten vom Lande zu ihnen, verdeckten von unten den Tempel.
Hier erblickte ich – erstes Omen! – vier Pferde, die weithin
grasten auf grünender Weide; wie Schnee, so glänzten die Tiere.
Laut rief Vater Anchises: ›Krieg bringst du uns, gastliche Erde!
Rosse benutzt man im Krieg: Krieg drohen uns diese Geschöpfe!
Aber die Vierfüßer lassen ja auch vor den Wagen sich schirren,
lassen im Joche sich einträchtig lenken: So bleibt auch die Hoffnung
wirksam auf Frieden!‹ Wir flehten zur hohen, waffenumklirrten
Pallas, die unsere Freudengebete als erste erhörte,
hüllten die Häupter auch vor den Altären in phrygische Schleier,
brachten dann feierlich Brandopfer dar der Juno von Argos,
ganz nach Gebühr, der ernsten Mahnung des Helenos folgsam.
[208] Gleich nach dem ordnungsgemäßen Vollzug der heiligen Pflichten
kehrten dem Meer wir die Rahen entgegen, verließen die Küste,
die mit Gefahren uns drohte, die griechischen Siedlungsgebiete.
Bald erblickten den Meerbusen wir von Tarent, das wahrscheinlich
Herkules baute. Dann hob gegenüber Lakinions Göttin
sich aus dem Meere, die Höhen von Kaulon, Skylakion weiter,
Schrecken der Seeleute, schließlich von ferne Siziliens Ätna.
Weither schon hörten wir mächtiges Rauschen, das Peitschen der Wogen
gegen die Felsen, das Tosen der Flut, die sich brach am Gestade.
Aufwallte siedend das Meer, Sand wirbelte wild in dem Wasser.
Vater Anchises rief: ›Da haben wir ja die Charybdis,
dort auch die Klippen, die furchtbaren Felsen, vor denen uns Seher
Helenos warnte! Gleichmäßig rudert, schnell fort, Kameraden!‹
Eifrig gehorchten sie seinem Befehle. Rasch warf Palinuros
seitwärts das Steuer, laut knarrend wandte nach links sich der Schiffsbug.
Linkshin auch schwenkte, mit Rudern und Segeln, die übrige Flotte.
Himmelwärts hob uns die Flut auf schwellendem Rande des Strudels.
Abwärts dann glitten den Trichter wir, bis zu den Manen der Tiefe.
Dreimal brüllten zwischen den Felswänden zackige Riffe,
dreimal sprühte der Gischt empor und troff von den Sternen
nieder. Erschöpft schon – die Sonne sank, und es schwiegen die Winde –,
landeten wir, des Weges nicht kundig, am Strand der Kyklopen.
Windgeschützt liegt die natürliche Hafenbucht, mächtigen Umfangs.
Aber ganz nahe schon dröhnt der Ätna von furchtbaren innren
Einstürzen, stößt auch zuweilen düstere Wolken zum Äther,
pechschwarz sich kräuselnde Dämpfe und Asche, hellsprühend von Funken,
schleudert feurige Klumpen und züngelt empor zu den Sternen.
Manchmal auch wirft er Felsbrocken hoch aus den Schlünden des Berges.
Gleichzeitig speit er Lava und wirbelt sie hoch in die Lüfte,
[209] grollend und tosend, und siedet und braust aus untersten Tiefen.
Auf dem vom Blitzstrahl zur Hälfte verbrannten Enkélados lastet,
heißt es, mit seiner drückenden Bürde der riesige Ätna,
läßt aus zerklüfteten Essen die wabernden Glutmassen lecken;
wälzt der gequälte Gigant sich auf die andere Seite,
zittert und dröhnt ganz Sizilien, verschleiert mit Dünsten den Himmel.
Während der Nacht, in dem Schutze des Walds, überstanden wir leidlich
dieses entsetzliche Tosen, ohne den Ursprung zu kennen.
Funkelte doch kein Gestirn, das Himmelsgewölbe verharrte
glanzlos, es schien überzogen von düsteren Wolken. Unheimlich
hielt in den finsteren Dünsten die Nacht das Mondlicht verborgen.
Endlich erhob sich der Tag mit dem ersten Leuchten Auroras,
fort vom Himmel scheuchte die Göttin das taufeuchte Dunkel.
Plötzlich trat aus dem Walde ein Mann, wie noch keinen wir sahen,
mager, fast wie ein Skelett, in erbärmlicher Weise verwahrlost.
Schutzflehend streckte die Hände er aus zum Gestade. Wir alle
schauten auf ihn. Verschmutzt zum Erschrecken war er, sein Barthaar
wucherte, Dornen hielten die Lumpen zusammen: Ein Grieche,
um es vorwegzunehmen, am Kampf um Troja beteiligt.
Als er von ferne an Kleidung und Waffen in uns die Trojaner
deutlich erkannte, erschrak er zunächst, blieb stehen und wagte
keinen Schritt weiterzugehen. Dann aber, wider Erwarten,
stürzte er weinend und flehend zum Strand: ›Ich beschwöre euch, bitte,
bei den Gestirnen, den Himmelsbewohnern, dem Licht, das uns Leben
spendet: Nehmet mich mit euch, ihr Teukrer, wohin ihr es immer
wollt – das genügt mir! Ich weiß, ich gehörte zur griechischen Flotte,
kämpfte auch, offen gestehe ich's, gegen Trojas Penaten.
Habe ich dadurch sehr schwer mich vergangen, so reißt mich in Stücke,
[210] werft dann die Teile ins Wasser, versenkt sie im riesigen Meere!
Soll ich schon sterben, so sterbe ich gern durch die Hände von Menschen!‹
Damit umfaßte er unsere Knie und rutschte an ihnen
flehend umher. Wir forderten Klarheit über ihn selber,
über die Abkunft, dann über das Schicksal, das ihn bedränge.
Vater Anchises reichte sogleich dem Manne die Rechte,
hob ihm Vertrauen und Mut durch diese verpflichtende Geste.
Endlich hatte die Furcht sich gelegt, und der Flüchtling erzählte:
›Ithaker bin ich, gehörte zur Mannschaft des Dulders Odysseus,
Achaimenides, des Adamastos Sohn. Nur die Armut –
wäre ich arm doch geblieben! – lockte zum Kampf mich um Troja.
Meine Gefährten flohen in zitternder Angst aus der weiten
grausigen Höhle des wilden Kyklopen, vergaßen mich, ließen
hier mich zurück. Ein riesiges Felsloch, voll Eiter und Resten
blutigen Fraßes, und finster! Der Riese, hochragend, an Sterne
stoßend – ihr Götter, befreit von solchem Scheusal die Erde!
Schrecklich sein Anblick, für freundliche Worte niemals empfänglich!
Schwärzliches Blut und Leber und Herz der elenden Opfer
schlingt er hinab. Ich sah ihn mit mächtiger Faust zwei der Unsern
packen, ausholen dann, sie inmitten der Höhle am Felsen
jählings zerschmettern; bespritzt vom Eiter, schwammen die Wände –
sah ihn die von gerinnendem Blute triefenden Glieder
kauen, die zwischen den Zähnen, noch warm, fast noch lebend, ihm zuckten.
Freilich, ihn traf die Vergeltung. Das ließ sich Odysseus nicht bieten.
Ithakas Fürst blieb standhaft sich treu auch in solcher Bedrängnis:
Als der Kyklop, gesättigt vom Fraß, überwältigt vom Weinrausch,
neigte den Nacken, riesig ausgestreckt quer durch die Höhle
dalag und rülpsend im Schlaf sich erbrach, mit Wein und mit Eiter
blutig vermengte Brocken ausspie, da flehten wir innig
helfende Götter an, warfen das Los und stürzten von allen
Seiten uns auf ihn und stachen das Auge ihm aus mit dem Spitzpfahl;
[211] eins nur, ein riesiges, hatte er unter der finsteren Stirne,
wie ein argeischer Schild, wie des Phöbus Licht, so gewaltig.
Derart genossen die Rache wir für die ermordeten Freunde.
Aber jetzt flieht, ihr Elenden, flieht, die haltenden Taue
reißt vom Gestade!
Denn so entsetzlich und riesig wie Polyphemos in seiner
Höhle die Schafe einschließt und Ziegen melkt – ganz genauso
hausen noch Hunderte andrer roher Kyklopen in Scharen
längs des gekrümmten Gestades, durchstreifen die ragenden Berge.
Dreimal schon rundeten sich die Sicheln der Luna zum Vollmond,
seit ich in Wäldern mein Leben friste, in Schlupfwinkeln wilder
Tiere ganz einsam hocke, vom Fels nach den grausigen Riesen
ausschaue, vor dem Getöse der Tritte und Stimmen erzittre.
Kümmerlich nähre ich mich von Beeren und steinharten Kirschen,
Baumzweigen auch und von Wurzeln, die ich dem Erdreich entreiße.
Angespannt aufmerksam immer, sah ich Schiffe zum ersten
Male hier landen – die euren. Euch wollte ich gleich mich ergeben,
wer ihr auch wäret. Es reicht mir, dem grausamen Volk zu entrinnen.
Lieber noch lasse von euch ich das Leben, wie immer, mir rauben!‹
Soweit berichtete er. Da sahen wir schon Polyphemos
selber, den riesigen Hirten, auf hohem Berge, von seinen
Herden umwimmelt, sich vorwärts tasten, auf seinem gewohnten
Weg zum Gestade, den furchtbaren, häßlichen, rohen, jetzt seines
Auges beraubten Unhold; ein Fichtenstamm lenkte und stützte
ihn auf dem Pfade. Ihm folgten die Schafe, die einzige Freude,
die ihn im Unglück tröstete.
Er erreichte die Küste und watete weiter ins Tiefe,
wusch sich das Blut aus der Höhle des ausgestochenen Auges,
knirschte dabei mit den Zähnen und stöhnte. Mitten im Meere
stand er bereits, doch reichte die Flut nicht zur Höhe der Hüften.
Angstgepeitscht suchten wir eifrig das Weite, nahmen den Flüchtling
mit uns, wie er es verdiente, und kappten stillschweigend die Taue.
Wetteifernd legten wir uns mit aller Kraft in die Riemen.
[212] Aber das merkte der Riese und schritt in die Richtung des Klatschens.
Freilich, es war ihm nicht möglich, uns mit der Rechten zu packen,
watend Schritt mit der Strömung des Ionischen Meeres zu halten.
Dafür erhob er jedoch ein wüstes Gebrüll; es erbebten
weithin die Wogen der See, es erschraken zutiefst auch Italiens
Fluren, es dröhnte der Ätna mit seinen zerklüfteten Höhlen.
Aufgescheucht stürzten hervor aus den Wäldern, herab von den Bergen
gleich die Kyklopen zur Bucht und drängten sich an das Gestade.
Grimmigen Blickes, doch hilflos reckte vor unseren Augen
stehend die Sippschaft vom Ätna die mächtigen Schädel zum Himmel,
wahrlich, ein furchtbarer Haufen! So stehen auf ragendem Gipfel
Eichen, zum Himmel sich streckend, Zypressen auch, Träger von Zapfen,
stattlicher Hochwald Jupiters oder ein Hain der Diana.
Bohrende Furcht trieb blindlings uns an, die Segel zu setzen,
voll sie zu bieten den günstigen Winden, wohin sie uns führten.
Aber uns fiel die Warnung des Helenos ein, daß die Durchfahrt
zwischen Charybdis und Skylla den Rand des Todes bedeute,
wenn vom bisherigen Kurs wir wichen. Wir setzten die Segel
kurzerhand bei, und der Nordwind half uns vom Sund am Pelorum,
Bote der Götter. Die felsenumsäumte Pantagiasmündung
ließen wir liegen, die Megarerbucht und das offene Thapsos.
Achaimenides erklärte die Namen; er war ja schon einmal
nordwärts gezogen den Weg, als Begleiter des Dulders Odysseus.
Vor der Sizilischen Bucht, gegenüber der wogengepeitschten
Spitze Plemmyrions, liegt ein Eiland. Es hieß in den alten
Zeiten Ortygia. Hierher schlich auf dem Grunde des Meeres
einst der Alpheios von Elis, berichtet die Sage; durch deinen
Quell, Arethusa, vereint er sich heut mit sizilischen Fluten.
Pflichtgemäß ehrten wir hier die gewaltigen Götter der Stätte,
fuhren vorbei dann am fruchtbaren Schwemmland des trägen Heloros,
bogen in engem Kreis um die ragenden Felsen und spitzen
[213] Klippen Pachynums. Auftauchte von fern Kamarina – die Götter
hatten verboten, ›an ihn zu rühren‹ – und Gelas Gefilde,
einstmals benannt nach dem grausamen Flusse. Aus großer Entfernung
zeigte von hohem Berghang Akragas, früher berühmte
Zuchtstätte feuriger Rosse, seine gewaltigen Mauern.
Schnell vor dem Winde passierten wir dich auch, Selinus, mit deinen
herrlichen Palmen, die klippigen Untiefen dann Lilybaions.
Schließlich empfingen mich Drepanons Hafen und freudlose Küste.
Hier verlor ich, nach Überstehen so zahlreicher Stürme,
meinen Vater Anchises, den Trost bei jeglicher Sorge,
jeglichem Unglück. Mich völlig Erschöpften verläßt du hier, bester
Vater, der du nach soviel Gefahren dein Ziel nicht erreichtest!
Weder der Wahrsager Helenos, mit so zahlreichen schlimmen
Warnungen, sagte den Schlag mir voraus, noch die wilde Kelaino.
Damit endete unsere Irrfahrt, wir standen am Ziele.
Trieb uns von Drepanon doch ein Gott an eure Gestade.«
Derart erzählte, unter gespanntem Zuhören aller,
Vater Aeneas die götterverhängten Geschicke und Fahrten,
hörte mit Sprechen dann auf und fand zu erholsamer Ruhe.
[214]

Vierter Gesang

Vierter Gesang.

Aber die Königin, längst schon von heißem Verlangen gepeinigt,
nährte im Innern den Schmerz und schmolz an heimlichen Flammen.
Immer aufs neue beeindruckten sie die Taten, die hohe
Abstammung ihres Gastes. Tief eingeprägt waren ihr seine
Miene, sein Wort, und ihr Sehnen verwehrte ihr, friedlich zu schlummern.
Schon überstrahlte Aurora das Land mit dem Lichte des Phöbus,
hatte bereits vom Himmel verjagt die triefenden Schatten.
Da sprach Dido bekümmert zur treuen, liebenden Schwester:
»Anna, mich schrecken Traumbilder, lassen mich zweifeln und schwanken.
Was für ein seltsamer Gastfreund betrat doch unsere Wohnstatt,
aufrecht die Haltung und würdevoll, mutig sein Planen und Kämpfen!
Unbeirrt glaube ich jetzt, daß sein Stammbaum auf Götter zurückführt.
Furcht entlarvt die gemeinen, die niedrigen Seelen. Er mußte
Schreckliches durchmachen! Stehen im Kampf bis zum bitteren Ende!
Hätte ich mich nicht unumstößlich entschlossen, mich niemals
wieder an einen Ehegefährten zu binden, seit einmal
grausam die erste Liebe durch bitteren Tod mich enttäuschte,
wäre die Brautkammer mir nicht verhaßt wie die Fackel der Hochzeit,
könnte ich heute vielleicht der Schuld des Treubruchs erliegen.
Anna, ich sage dir offen: Seitdem mein armer Sychaios
elend durch Bruderhand fiel und mit Blut die Penaten befleckte,
rührte der Gast zutiefst mich, als einziger, brachte jetzt meinen
Gleichmut zum Wanken. Ich spüre das Brennen von früher bekannter
Flammen. Doch möge mich eher die Tiefe der Erde verschlingen,
mag der allmächtige Vater durch Blitz mich zum Schattenreich schleudern,
[215] fort in die düstere Nacht, zu des Erebus bleichen Gespenstern,
als daß ich, Ehrgefühl, dich und deine Rechte verletzte!
Er, der als erster zur Gattin mich nahm, entraffte mir alle
Liebesgefühle; er möge sie bei sich bewahren im Grabe.«
Derart sprach sie, zum Schoße rannen ihr quellende Tränen.
Anna entgegnete: »Schwester, mir lieber als Sonne und Leben,
willst du die Jugend hindurch als Witwe im Gram dich verzehren,
niemals die Gaben der Venus, nie Kinderfreuden genießen?
Wähnst du, es sorgten sich drum die Asche, die Manen des Grabes?
Wäre es so: Kein Mann, nicht in Libyen, auch nicht in Tyros,
hat dich beeindruckt in deiner Trauer. Iarbas und andre
Fürsten, die Afrika, reich an Triumphen, hervorbringt, verschmähtest
du ganz bewußt. Jetzt sträubst du dich gegen beglückende Liebe?
Siehst du nicht ein, in wessen Gebiet du dich niedergelassen?
Hier die gaetulischen Städte, niemals bezwingbar im Kriege –
Numider, die beim Reiten kein Zaumzeug brauchen – die wilde
Syrte – und dort die trockene Wüste, das weithin im Umkreis
plündernde Volk der Barkäer! Schließlich der Krieg, der von Tyros
droht, von dem Bruder!
Wirklich, durch göttliche Lenkung, durch Junos gnädigen Beistand
wurden die troischen Schiffe vom Sturmwinde hierher verschlagen!
Großartig, Schwester, wirst du die Stadt hier, dein Reich, durch den stolzen
Ehebund aufsteigen sehen! Mit Hilfe teukrischer Waffen
wird sich der punische Ruhm zu leuchtenden Höhen erheben!
Flehe nur innig um göttliche Gnade, nach eifrigem Opfern
zeig dich als liebreiche Wirtin, verzögre die Abfahrt mit guten
Gründen, solange der Sturm und der Bringer des Regens, Orion,
toben auf See, die Flotte beschädigt, das Wetter noch schlecht ist!«
Damit entflammte sie stärker Didos Liebesgefühle,
ließ die Zweifelnde hoffen, bezwang ihr schamhaftes Sträuben.
Gleich zu den Tempeln begaben sie sich, und an den Altären
flehten um Frieden sie, opferten, treu der Sitte, erwählte
Schafe für Ceres, den Hort der Gesetze, für Phöbus, für Vater
Bacchus, für Juno vor allen, die Schutzherrin gültiger Ehen.
[216] Selbst, in der Rechten die Schale, goß die stattliche Dido
zwischen die Hörner der schneeweißen Kuh die heilige Spende,
trat, vor den Augen der Götter, an üppig gefüllte Altäre;
feierlich weihte den Tag sie mit Gaben und wollte sich Auskunft
holen, indem sie voll Eifer die zuckenden inneren Teile
sämtlicher Opfer sich ansah. Wahn der Prophetin! Was nützten
ihr noch Gelübde und Tempel? Schon tiefer fraß sich ins zarte
Mark ihr die Flamme, schon brannte die Wunde ihr heimlich im Herzen.
Feuer erfaßte die Elende völlig. Beinahe von Sinnen,
schweifte sie quer durch die Stadt, wie eine getroffene Hirschkuh,
die in den kretischen Wäldern arglos weidete; plötzlich
traf sie von ferne ein Hirt mit dem Bogen; er ahnte vom Treffer
gar nichts, verzichtete auf das Geschoß; fort stürmte die Hirschkuh
durch den diktäischen Bergwald, den tödlichen Pfeil in der Flanke.
Nunmehr geleitete Dido den Gast durch die wachsende Festung,
zeigte die Schätze aus Sidon, die Wohnstätten, offen den Bürgern,
setzte zum Sprechen auch an; doch stockte ihr Redefluß plötzlich.
Abends lud sie den Gast aufs neue zu Tische und wünschte,
töricht, zum zweiten Male vom Untergang Trojas zu hören,
ließ dann zum zweiten Male den Blick nicht vom Mund des Erzählers.
Wenn sie zum Schlusse sich trennten, der Mond schon wieder verblaßte,
die schon am Himmel sich neigenden Sterne zur Nachtruhe mahnten,
blieb sie bekümmert allein im leeren Palaste und streckte
sich auf das Lager, das er verlassen, wähnte den Helden
deutlich zu sehen, zu hören; Ascanius, Ebenbild seines
Vaters, ihn hielt sie im Schoße, wollte die brennende Liebe
noch unterdrücken – an ihm! Die Stadttürme wuchsen nicht weiter,
weder übten sich Männer in Waffen noch machten zur Abwehr
Häfen und Mauern sie fest. Die Arbeiten ruhten, halbfertig
blieben die drohenden Wände und himmelhohen Gerüste.
Juno, die teure Gemahlin Jupiters, sah, wie die Fürstin
Qualen erlitt, wie ihr Sehnen nicht einmal die Nachrede scheute.
[217] Ohne zu säumen, richtete sie an Venus die Worte:
»Wirklich, glänzenden Ruhm und reiche Beute gewinnt ihr,
du und dein Sprößling; eine recht hohe, denkwürdige Ehre,
wenn zwei Götter durch List ein einzelnes Weib überwinden!
Doch ich durchschaue sehr wohl, daß aus Furcht vor unseren Mauern
du die erhabene Stätte Karthagos heftig beargwöhnst.
Aber wie endet der Streit? Wozu noch mit Anstrengung kämpfen?
Wollen wir jetzt nicht lieber ewigen Frieden und einen
Ehebund stiften? Besitzt du doch, was du nach Kräften erstrebtest:
Dido entbrannte in Liebe, verfiel der Leidenschaft völlig.
Lasset uns deshalb gemeinsam dies Volk und mit gleicher Befugnis
lenken, möge die Fürstin dem Gatten aus Phrygien dienen,
deiner Rechten die Tyrier anvertrauen als Mitgift!«
Venus begriff, daß Juno heuchelte, daß sie die ferne
Weltherrschaft Roms auf die Küsten Libyens ablenken wollte.
Daher entgegnete sie: »Wer könnte so töricht sich zeigen,
daß er dein Ansinnen ablehnte, lieber gegen dich kämpfte?
Wenn nur das Schicksal den Plan, wie du ihn mir darlegst, begünstigt!
Aber ich zweifle am göttlichen Willen: Ob Jupitereine
Stadt für die Tyrier wünscht und die Flüchtlinge Trojas, ein Bündnis
zwischen den Völkern und eine Vermischung ihres Geschlechtes?
Du bist seine Gemahlin, du darfst ihn mit Bitten bestürmen.
Los denn, ich folge!«
Ihr gab die Herrscherin Juno zur Antwort:
»Ich übernehme die Ausführung, möchte dir kurz nur erklären –
gib jetzt, ich bitte dich, acht! –, wie der Plan sich verwirklichen ließe.
Held Aeneas, mit ihm die vom Unglück geschlagene Dido
wollen zur Jagd die Wälder durchstreifen, sobald sich die Sonne
morgen erhebt und den Erdkreis mit ihren Strahlen erleuchtet;
über sie werde ich düsteren Regen und Hagelschlag bringen,
während die Treiber in Eile den Wald mit Netzen umspannen,
werde mit Donnerschlägen den Himmel in Aufruhr versetzen.
Sämtliche Jagdgenossen entfliehen, verschwinden im Dunkel.
[218] Dido allein und der Troerfürst finden Zuflucht ineiner
Höhle. Dort bin ich zugegen, und kommst du mir freundlich zu Hilfe,
werde ich Dido zu fester Ehe als Frau ihm verbinden.
Hochzeitstag sei es für beide.« Venus stimmte dem Vorschlag
ungesäumt zu und lächelte über die listige Planung.
Aus dem Okeanos stieg inzwischen Aurora zur Höhe.
Frisch aus den Toren strömten mit Sonnenaufgang die jungen
Jagdhelfer. Jagdnetze, Fanggarne, Spieße trug man vorüber,
Reiter – Massyler – stoben dahin, und Spürhunde folgten.
Punische Adlige harrten am Eingang der Fürstin, die drinnen
weilte. Ihr Jagdroß stand schon, strahlend von Gold und von Purpur,
ungestüm biß es in die vom Schaume triefenden Zügel.
Endlich trat sie ins Freie, umdrängt von Begleitern in Menge,
trug ein sidonisches Jagdkleid mit prächtig besticktem Besatze.
Golden erglänzte ihr Köcher, golden ihr Haarknoten, golden
war auch die Spange, die ihr das Purpurkleid festhielt. Dann rückten
Phryger heran, bei denen sich Iulus fröhlich bewegte.
Aber von allen als stattlichster folgte Aeneas dem Zuge,
schloß die Gesellschaft der Jagd mit seinen eigenen Leuten.
So wie Apollo vom Winterquartier am Xanthos in Lykien
aufbricht und Delos, die Insel der Mutter, aufsucht, dort Chöre
wiederum auftreten läßt, rings um die Altäre dann Kreter,
Dryoper, auch Agathyrsen, bunt tätowiert, sich helljauchzend
drängen; der Gott auf den Höhen des Kynthos dahinzieht, mit zartem
Laub sich die Haarsträhnen kränzt, sie ordnet, mit Goldband sie einfaßt,
während der Köcher ihm klirrt auf den Schultern: ebenso rüstig
nahte Aeneas, genauso erhaben strahlte sein Antlitz.
Als man die ragenden Berge, des Wildes Verstecke, erreichte,
sah man die wilden Ziegen von Felsen springen und abwärts
fliehen ins Tiefland; an anderen Stellen Hirsche die offnen
Flächen im Lauf überwinden, sich ballen zu staubüberwölkten
[219] Rudeln, darauf in hastiger Flucht das Gebirge verlassen.
Aber Ascanius freute sich, mitten im Talgrunde, seines
feurigen Rosses, er überholte bald diesen, bald jenen,
wünschte, es möge unter dem harmlosen Wilde ein Eber
schäumend hervorbrechen, bräunlich ein Löwe vom Berge auch steigen.
Während der Jagd begann es am Himmel dröhnend zu donnern,
anschließend regnete es, und Hagel prasselte nieder.
Angstvoll zerstoben die Jäger aus Tyros und Troja, mit ihnen
auch der dardanische Enkel der Venus, und suchten ein Obdach
sich an verschiedenen Stellen. Zu Tale rauschten die Wasser.
Dido und Ilions Fürst begegneten sich in derselben
Höhle. Da gaben Tellus zuerst und die Herrin der Ehe,
Juno, das Zeichen. Dann leuchteten Blitze und, Zeuge der Hochzeit,
flammte der Äther. Vom höchsten Berggipfel jauchzten die Nymphen.
Dieser Tag erschloß den Weg zum Tode, zum Unheil.
Dido verschmähte die Rücksicht auf Anstand und trefflichen Leumund,
strebte nicht länger nach einer verstohlenen Liebeserfüllung.
Nein, sie bemäntelte Schuld mit dem würdigen Namen der Ehe.
Ohne Verzug durcheilte Fama Libyens große
Städte, Fama, sämtlicher Unheilsgöttinnen schnellste.
Ihre Beweglichkeit gibt ihr Bedeutung, die Schnelligkeit stärkt sie.
Anfangs nur winzig aus Scheu, erhebt sie sich bald in die Lüfte,
schreitet gewaltig einher und umhüllt das Haupt mit den Wolken.
Mutter Terra gebar sie zuletzt aus Wut auf die Götter,
heißt es, für Koios und für Enkélados einstmals als Schwester,
gab ihr geschwinde Füße und hurtige Schwingen. Ein Scheusal
wurde sie, fürchterlich, riesig. Soviel an den Schwingen ihr Federn
haften, so viele wachsame Augen besitzt sie darunter,
ebenso viele Zungen und schwatzende Mäuler und ständig
lauschende Ohren – ein Wunder! Nachts fliegt sie, bei Dunkelheit, zwischen
[220] Himmel und Erde und zischelt, verschmäht den erquickenden Schlummer.
Tagsüber hockt sie als Aufpasser lauernd an Dachfirsten oder
ragenden Türmen und setzt auch mächtige Städte in Schrecken,
hält die Verzerrung und Lüge nicht weniger fest als die Wahrheit.
Nunmehr verbreitete freudig sie neue weltweite Gerüchte,
mengte, ganz unterschiedslos übertreibend, Falsches und Wahres:
Angelangt wäre Aeneas, der Held von troischem Stamme,
Dido, die strahlende Fürstin, hätte zum Mann ihn erkoren;
über den langen Winter hin lebten sie nur dem Vergnügen,
hätten die Pflichten des Herrschers vergessen aus schimpflicher Neigung.
Unter das Volk trug solche Lügen die schreckliche Göttin,
wandte sich dann geradenweges zum König Iarbas,
hetzte ihn auf und entflammte zur Wut ihn mit ihrem Gerede.
Sprößling des Ammon und der garamantischen Nymphe, die jener
einstmals entführte, hatte Iarbas dem Jupiter hundert
riesige Tempel erbaut und Altäre, auch ewige Flammen
ewigem Wachdienst geweiht in seinem gewaltigen Reiche;
Opferblut tränkte den Boden, und Kränze umblühten die Tore.
Außer sich jetzt und aufs höchste erregt durch die bittere Nachricht,
hob am Altar er, im Banne göttlichen Waltens, die Hände
flehend zu Jupiter auf und betete innig zum Vater:
»Kannst du, Allmächtiger, den jetzt auf bunten Kissen beim Schmause
die Mauretaner durch Weinspenden ehren, kannst du die Schande
ruhig mitansehen? Oder empfinden wir, schleuderst du Blitze,
unnötig Schrecken, entsetzen uns Flammen im Wolkendunst ohne
jeglichen Grund und lassen den Donner wirkungslos grollen?
Diese entlaufene Frau, die gegen Bezahlung in unsrem
Reiche ein Städtchen sich aufbauen durfte, der wir am Gestade
Ackerland nebst Gesetzgeberrechten gewährten, verschmähte
mich als Gemahl und nahm als Gebieter ins Land den Aeneas!
Dieser Paris der Zweite mit seinem Weibergefolge,
der sich sein Kinn und sein duftendes Haar mit mäonischer Haube
[221] zubindet, greift sich die Beute! Wir freilich verehren noch deine
Tempel und fördern nur einen ganz nichtigen Glauben des Volkes!«
Derart betete er, die Hand am Altare. Ihn hörte
gleich der Allmächtige, wandte den Blick zur Königsburg Didos
und auf die Liebenden, die nicht des guten Leumunds gedachten.
Danach erteilte er dem Mercurius folgenden Auftrag:
»Mache dich auf, mein Sohn, entbiete den Zephyr und fliege!
Sprich den dardanischen Fürsten, der jetzt in Karthago sich aufhält,
ohne an die ihm vom Schicksal verliehenen Städte zu denken,
und überbring durch die flüchtige Luft ihm meine Befehle!
Keineswegs ist er der Held, den die Schönste der Mütter mir einstmals
zusprach, den deshalb sie zweimal vor griechischen Waffen bewahrte.
Nicht doch, er sollte das waffendurchklirrte Italien, die Wiege
künftiger Reiche, regieren, vom hohen Geschlechte des Teukros
selber ein Volk hervorbringen, dann sich die Welt unterwerfen!
Kann ihn der Ruhm so herrlicher künftiger Taten nicht reizen,
rührt er sich nicht um eigner preiswürdiger Leistungen willen –
gönnt er die Burgen von Rom dem Ascanius nicht, als der Vater?
Was beabsichtigt er? Was verspricht ihm die Rast bei den Feinden?
Will er die Enkel vergessen, die Römer, und Latiums Fluren?
Absegeln soll er! So lautet mein Auftrag. Verkünde ihm diesen!«
Derart befahl er. Der Bote, gehorsam dem mächtigen Vater,
rüstete gleich sich zum Aufbruch. Die goldenen Flügelsandalen
band er sich unter, die hoch durch die Lüfte so schnell wie ein Windhauch
über die Länder und Meere mit ihren Schwingen ihn tragen,
griff dann zum Stabe; mit diesem ruft er vom Orkus die bleichen
Seelen hervor, schickt andre zum grausigen Tartarus nieder,
spendet und raubt auch den Schlaf und öffnet die Augen von Toten.
Ihn benutzte er jetzt, beschwingte die Winde, durchquerte
brauende Wolken. Bald sah er im Fliegen Gipfel und schroffe
Hänge des kraftvollen Atlas, der auf dem Haupte den Himmel
[222] trägt, dem düstres Gewölk die von Fichten bewachsene Kuppe
ständig umwogt, den die Regenschauer und Sturmwinde peitschen.
Schnee überrieselt die Schultern, vom Kinne des Greises hernieder
stürzen die Flüsse, vereist starrt schreckenerregend das Barthaar.
Gleitend auf seinem Schwingenpaar, ließ der Kyllenier erstmals
hier sich zu Boden, schwang sich kopfüber herab dann zum Meere,
gleichend dem Seeadler, der sich im Tiefflug längs des Gestades
über den fischreichen Klippen am Rande des Wogenschwalls tummelt.
Ebenso flog jetzt Mercurius zwischen Erde und Himmel
über den sandigen libyschen Strand hin, kreuzte die Winde,
abwärts vom Haupte des Großvaters Atlas, des Vaters der Maja.
Als er auf seinen geflügelten Füßen Karthago erreichte,
sah er Aeneas beim Bau der Befestigungswerke und neuer
Häuser beschäftigt. Sein Schwertgriff leuchtete gelblich von Jaspis,
der von den Schultern ihm wallende Mantel glänzte von Purpur
tyrischer Arbeit, Geschenken der reichen Dido. Sie hatte
selbst das Gewebe durchwirkt mit feinen goldenen Fäden.
Ohne Verzug unterbrach ihn der Bote: »Grundmauern legst du
jetzt für das hohe Karthago und baust als Weiberknecht eine
herrliche Stadt? Vergaßest die Pflicht und die eigene Herrschaft?
Jupiter, Herrscher der Götter, der Lenker von Himmel und Erde,
schickt mich als Bote zu dir vom hellen Olympus hernieder,
Jupiter sendet durch flüchtige Lüfte dir seine Befehle:
Was beabsichtigst du? Was verspricht dir die Muße in Libyen?
Kann dich der Ruhm so herrlicher künftiger Taten nicht reizen,
rührst du dich nicht um eigner preiswürdiger Leistungen willen,
denk an den Sohn, der heranwächst, und denk an das lockende Erbe
deines Iulus; ihm soll die Herrschaft in Rom und Italien
zufallen!« Derart entledigte sich der Kyllenier seines
Auftrags, entzog sich dann ohne weiteres menschlichen Blicken,
löste in weiter Ferne sich auf zu hauchdünnem Dunste.
Tief überrascht bei dem Anblick, konnte Aeneas nicht sprechen,
Schrecken sträubte das Haar ihm, die Stimme stockte im Schlunde.
[223] Ungestüm möchte er aufbrechen, scheiden vom Land, das er lieben
lernte – so hatte der schroffe Götterbefehl ihn getroffen.
Aber was tun? Wie durfte er, auch mit gebotener Vorsicht,
sich der rasend verliebten Fürstin erklären? Wie einen
Ausgangspunkt finden? Zwiespältig jagten sich seine Gedanken,
suchten die vielerlei möglichen Bahnen bedacht zu erwägen.
Folgender Weg erschien ihm nach kurzem Schwanken als bester.
Zu sich berief er Mnestheus, Sergestos, den tapfren Serestos,
hieß insgeheim sie zum Auslaufen rüsten, am Strand die Gefährten
sammeln, die Waffen ergreifen, den Grund für die Maßnahmen aber
tunlich verschweigen. Da Dido, die edle Fürstin, nichts ahne,
mit dem Zerreißen der Liebesbande auch keineswegs rechne,
wolle er sie in der Zwischenzeit sprechen, den günstigsten Zeitpunkt
suchen, die richtige Form auch für seine Erklärungen. Willig
gingen sogleich die Gefährten daran, den Befehl zu befolgen.
Aber die Königin spürte die List – denn Liebende lassen
schwerlich sich täuschen – voraus, sie erfaßte den nahenden Aufbruch,
mißtraute selbst der Treue. Die gleiche lieblose Fama
trug der Erbitterten zu, daß die Flotte zum Auslaufen rüste.
Außer sich vor Empörung durchstürmte sie rasend die ganze
Stadt, so erregt wie eine Bakchantin nach dem Ergreifen geweihten
Tempelgeräts, wenn den Ruf des Bacchus sie hört, wenn die Festlust –
alle zwei Jahre – sie spornt, der Kithairon zur Nachtzeit sie lärmend
lockt. Doch endlich stellte sie den Geliebten zur Rede:
»Wähntest du etwa, ein solches Verbrechen verhehlen zu können,
wolltest, Verräter, stillschweigend aus meinem Lande dich stehlen?
Hält dich nicht unsere Liebe, nicht deine durch Handschlag verbürgte
Zusage, nicht der grausame Tod, der Dido erwartet?
Auslaufen läßt du die Flotte noch unter den Wintergestirnen.
[224] drängst auf die hohe See im Brausen der Nordstürme, ohne
jedes Gefühl? Ja, zögest du nicht in fremde Gebiete,
fremde Behausungen, stünde das alte Troja noch aufrecht –
würdest nach Troja du segeln über die stürmischen Wogen?
Fliehst du etwa vor mir? Bei meinen Tränen, bei deiner
Rechten – ich Elende ließ mir nichts andres mehr übrig –, bei unsrem
Ehebund, besser: bei unsrer erst halb vollzognen Vermählung,
tat ich ein wenig an Gutem dir nur und empfingst du ein wenig
Liebe: Erbarme dich meines wankenden Hauses – ich flehe,
sollte das Flehen noch nützen –, ändre den schrecklichen Vorsatz!
Deinetwegen hassen mich Libyer, Numiderfürsten,
Tyrier sogar, und deinetwegen entsagte ich meiner
Scham wie dem trefflichen Leumund, der einst mir den Weg zu den Sternen
bahnte. Wem willst du mich Todgeweihte jetzt preisgeben, Gastfreund –
bleibt mir doch diese Bezeichnung allein noch übrig vom Gatten?
Soll ich noch warten? Bis etwa mein Bruder Pygmalion meine
Mauern zertrümmert? Der Fürst der Gätuler, Iarbas, mich wegschleppt?
Hätte ich wenigstens, ehe du abfährst, ein Kind noch empfangen
dürfen von dir und spielte ein kleiner Aeneas in meiner
Hofburg, in dem ich, nach deiner Flucht, dein Ebenbild sähe:
Keinesfalls schiene ich dann mir so elend getäuscht und verlassen!«
Derart sprach sie. Doch ungerührt blieb Aeneas, dem Auftrag
Jupiters treu, unterdrückte kraftvoll den bohrenden Kummer,
sprach dann nur wenige Worte: »Niemals werde ich leugnen,
Königin, was du an Wohltaten reich mir erwiesest und nunmehr
aufzählst, mit Recht! Nie werde ich Dido vergessen, solange
noch mein Bewußtsein sich regt und die Glieder dem Geiste gehorchen.
Dies nur zum Sachverhalt: Glaub nicht, ich wähnte, mein Fortgehen etwa
tückisch geheimzuhalten; nie wollte ich Fackeln zur Hochzeit
tragen, auch kam ich hierher nicht, um solche Verbindung zu knüpfen.
[225] Ließe das Schicksal nach eigenem Plan mich mein Leben gestalten,
könnte auf eigene Faust ich meine Maßnahmen treffen,
würde zuerst ich für Troja und für die noch atmenden Lieben
sorgen; dann stünde das ragende Schloß des Priamos weiter,
hätte aufs neue ich Pergamon für die Besiegten errichtet.
Doch jetzt befahlen Apollon von Grynion und die Orakel
Lykiens mir, nach Italien zu ziehen, dem großen Italien.
Liebe und Heimat erwarten mich dort. Wenn Karthago, der Anblick
libyscher Städte dich als Phönizierin anzieht – weswegen
gönnst du den Troern es nicht, in Ausonien sich niederzulassen?
Wir auch genießen das Recht, in der Fremde ein Reich uns zu suchen.
Immer, wenn Nacht die Erde umhüllt mit taufeuchten Schatten,
leuchtend die Sterne dann aufgehen, mahnt mich im Traume das Schreckbild
meines Vaters Anchises, versetzt mich in Furcht und Bestürzung,
mahnt auch mein teurer Ascanius mich, dem Unrecht ich tue,
wenn ich ihm sein in Italien verheißenes Reich noch entziehe.
Eben – ich rufe unserer beider Häupter zu Zeugen! –
brachte der Bote der Götter im Auftrag Jupiters selber
mir den Befehl durch die Lüfte. Leibhaftig sah ich die Gottheit
eintreten hier in die Stadt und hörte sie deutlich auch sprechen.
Quäle nicht weiterhin mich wie dich mit fruchtlosen Klagen.
Freiwillig ziehe ich nicht nach Italien.«
Lange schon, während er sprach noch, hatte die Fürstin begonnen,
ihn mit verächtlichen Blicken vom Kopf zu den Füßen zu mustern,
schweigend, entgegnete spät erst, glühend vor bitterem Zorne:
»Keine Göttin gebar und kein Dárdanosnachkomme zeugte
dich, du Verräter! Du stammst von den harten Felsen der wilden
Kaukasusberge, dich säugten Tigerweibchen Hyrkaniens.
Warum zurückhalten, aufsparen mich für noch schlimmere Qualen?
Seufzte er, während ich weinte? Schenkte mir wenigstens Blicke?
Weinte er selber vor Schmerz und empfand für die Liebende Mitleid?
Nicht mehr mit Schlimmerem rechne ich. Nicht die gewaltige Juno,
[226] nicht der Saturnier schauen auf mich mit freundlichen Augen.
Nirgendwo gibt es noch Treue. Im Schiffbruch, im Elend gewährte
Obdach ich ihm und Anteil an meiner Herrschaft, wie töricht!,
rettete ihm die Flotte, rettete seine Gefährten.
Flammende Wut ergreift mich. Eben brachten der Seher
Phöbus, eben Lykiens Orakel, eben im Auftrag
Jupiters selber der Bote der Götter die harten Befehle
dir durch die Lüfte. Natürlich, so mühsame Pflichten bereiten
Sorgen den Göttern! Ich halte dich nicht, ich möchte nicht streiten.
Zieh nach Italien, suche dein Reich auf stürmischer Meerfahrt!
Hoffentlich wirst du auf See – wenn noch Götter Gerechtigkeit pflegen! –
büßen, von Klippen zerfleischt, und jämmerlich flehend den Namen
Dido rufen. Trotz weiter Entfernung folge mit düstren
Flammen ich dir. Trennt eisig der Tod mir die Seele vom Körper,
will ich als Schatten dich ständig umschweben. Dulde die Strafe,
Schuft, du! Hinab zu den Manen wird mich die Nachricht erreichen!«
Damit brach das Gespräch sie ab und floh vor dem freien
Himmel, von Schmerzen gequält, und entzog sich den Blicken, verließ den
Helden, der furchtsam schwankte, obwohl ihn so vieles zum Sprechen
drängte. Dann sank sie bewußtlos zusammen. Es trugen die Mägde
sie in den marmornen Schlafraum und betteten sie auf das Lager.
Aber der pflichtbewußte Aeneas, beseelt zwar vom Wunsche,
tröstend zu lindern die Qual, zu zerstreuen den bitteren Kummer,
folgte dem Götterbefehl, wenn auch schmerzlich stöhnend, erschüttert
durch die Gewalt der Liebe. Zur Flotte begab er sich wieder.
Angestrengt waren die Teukrer beim Werke, sie zogen die hohen
Schiffe zu Wasser vom Strand. Frisch geteert schon schwammen die Kiele,
brachte noch grünende Ruder man her, auch Eichenholzstangen,
noch nicht behauen beim eifrigen Aufbruch.
[227] Überall sah man Trojaner die Stadt in Eile verlassen.
Ebenso plündern die Ameisen einen gewaltigen Haufen
Körner, des Winters gedenk, und tragen zum Bau ihn, ergießen
über die Fluren in dunklem Zuge sich, schleppen durch Kräuter
emsig auf schmalem Pfad die Beute zusammen; die großen
Lasten stemmt man mit Schultern; auch Antreiber drängen und strafen
Säumige. Lodernde Arbeitslust scheint den Pfad zu durchglühen.
Was empfandest du, Dido, bei diesem Anblick, wie bitter
stöhntest du, als du herab vom Turme des Schlosses die Küste
weithin von Menschen wimmeln sahest, die Fläche des ganzen
Meeres vor deinen Augen von regem Getümmel erdröhnte?
Treuloser Amor, du zwingst die Herzen der Menschen zu allem!
Wiederum nötigte er sie zu Tränen, zu flehenden Bitten,
nötigte sie, voll Demut den Stolz vor der Liebe zu beugen,
alles aufs Spiel zu setzen, um nicht vergeblich zu sterben.
»Anna, du siehst die eilige Arbeit am Strande, von allen
Seiten strömt man zusammen, das Leinen lockt schon den Luftzug,
freudig umwinden die Seeleute ihre Schiffe mit Kränzen.
Konnte ich diesen qualvollen Schmerz erwarten, so werde
nunmehr ich auch ihn verwinden. Doch tue, Anna, in meiner
Not noch das eine für mich. Dir allein ja erwies der Verräter
Achtung, vertraute dir seine geheimste Empfindung. Allein auch
kennst du den Zugang zu ihm, den richtigen Weg und die rechte
Stunde. Demütig sprich zu dem stolzen Gegner und flehe!
Keineswegs schwor ich zu Aulis im Kreise der Danaer, Troja
ganz zu vernichten, schickte nicht gegen Pergamon Schiffe,
wühlte nicht aus dem Erdreich die Asche des Vaters Anchises.
Warum verweigert gefühllos er mir das Gehör, überstürzt die
Ausfahrt? Nur eines mag er der unglücklich Liebenden spenden:
Warten auf Abfahrt bei gutem Wetter und günstigem Fahrtwind!
Nicht um den Ehebund bitte ich mehr, den er lange schon preisgab,
nicht um Verzicht auf sein herrliches Latium wie auf die Herrschaft,
nein, um ein bißchen Zeit nur, damit sich die Leidenschaft lege,
bis mich die Umstände lehren, ins bittere Leid mich zu schicken.
[228] Diese Gnade erflehe zuletzt ich – erbarm dich der Schwester! –,
gönnt er sie mir, so will ich ihn freigeben, glücklich im Tode.«
Derart bat sie, und immer wieder brachte die arme
Schwester das klägliche Anliegen vor. Doch wurde Aeneas
nicht durch die Tränen gerührt, nicht zum Hören gestimmt. Denn das Schicksal
hemmte, die Gottheit schlug den gütigen Helden mit Taubheit.
Wie wenn die Nordstürme, her von den Alpen, sich wetteifernd mühen,
fauchend die uralte, stämmige Eiche an dieser wie jener
Seite zu packen und jäh zu entwurzeln; die Krone wild aufrauscht
und der geschüttelte Stamm den Boden mit Schichten von Blättern
zudeckt; der Baum an die Felsen sich klammert und gleichweit mit seinem
Wipfel zum Himmel sich wie mit den Wurzeln zum Tartaros hinstreckt:
Ebenso wurde der Held von Didos beharrlichen Bitten
rastlos bestürmt und litt im empfindsamen Herzen unsäglich.
Aber er ließ sich nicht rühren. Die Tränen flossen vergebens.
Nunmehr, erschreckt von der Schicksalsgewalt, ersehnte die arme
Dido den Tod; sie wollte nicht länger den Himmel erblicken.
Mehr noch bestärkten den Vorsatz, vom Lichte zu scheiden, zwei Wunder:
Als sie am weihrauchumdampften Altare die Trankspende darbot,
sah sie – ein schrecklicher Vorfall – den heiligen Wein sich verdunkeln,
sah die vergossenen Tropfen grausig zum Blute gerinnen.
Keinem enthüllte sie dieses Omen, nicht einmal der Schwester.
Außerdem stand im Schlosse ein Marmorheiligtum ihres
ersten Gemahls, das sie außergewöhnlich mit Ehren bedachte;
schneeweiße Wollbinden, festliche Laubkränze schmückten das Bauwerk.
Während die Nacht das Erdreich in Dunkelheit einhüllte, glaubte
Dido von dorther den ersten Gatten rufen zu hören.
Übrigens sang oft ein Uhu, ganz einsam, sein Totenlied klagend
hoch auf dem Dachfirst und ließ es in langen Tönen verklingen.
[229] Zahlreiche alte Orakel frommer Propheten auch setzten
heute sie mahnend in Schrecken. Aeneas selber in seiner
Grausamkeit scheuchte im Schlafe sie auf. Ganz einsam, verlassen
sah sie sich immer, sah sich ohne Begleiter auf langer
Straße dahinpilgern und in der Einöde Tyrier suchen –
so wie Pentheus im Wahnsinn die Eumeniden erblickte,
seinen Augen zwei Sonnen sich boten, zwei Städte von Theben;
wie Agamemnons Sprößling Orestes gehetzt auf der Bühne
vor der mit Fackeln und düsteren Schlangen bewaffneten Mutter
fortläuft, indes die entsetzlichen Göttinnen lauern am Tore.
Als sie, vom Schmerz überwältigt, ein Opfer der Leidenschaft, endlich
fest sich zum Sterben entschloß, da wollte sie selber die Stunde
sich und die Todesart wählen und sprach zu der traurigen Schwester,
tarnte dabei den Entschluß und heuchelte frohe Erwartung:
»Anna, ich habe das Mittel entdeckt – Glück kannst du mir wünschen! –,
das mir den Helden zurückbringt – wenn nicht, mich erlöst von der Sehnsucht.
Fern am Okéanosrand, wo der Sonnenball sinkt und als letztes
Volk Äthiopier wohnen, wo auch der gewaltige Atlas
ragt, auf den Schultern das sternenleuchtende Himmelsgewölbe,
nannte man eine massylische Priesterin mir, die im Tempel
der Hesperiden als Hüterin wirkte, dem Drachen das Futter
reichte und über die heiligen Zweige des Apfelbaums wachte,
flüssigen Honig träufelte, Mohn auch, der Schlummer uns spendet.
Diese erbietet sich, Herzen durch Zaubergesang zu befreien,
ganz nach Belieben, doch andre in drückende Fesseln zu schlagen,
Flüsse zum Stillstand zu zwingen und Sterne zur Umkehr der Bahnen;
Manen beschwört sie zur Nacht; man hört, ihr zu Füßen, die Erde
dröhnen und sieht, auf ihr Wort, die Eschen von Berghöhen steigen.
Ungern nur nehme ich Zuflucht zu magischen Künsten, geliebte
Schwester, ich schwöre bei Göttern und dir und deinem so teuren
Haupte! Schichte mir heimlich im Schloßhofe, ohne Bedachung,
[230] Scheiter zum Haufen und packe auf diesen die Waffen und alles,
was der Verräter zurückließ im Zimmer, die Kleidung, das Lager,
das mich zugrunde richtete. Alle Erinnerungsstücke
an den Verruchten zu tilgen beglückt mich, entspricht auch der Weisung
jener Priesterin.« Dido verstummte, ihr Antlitz erbleichte.
Dennoch argwöhnte Anna durchaus nicht, daß jene ihr eignes
Sterben mit solchem seltsamen Opferbrauch meinte, durchschaute
gar nicht den Wahnwitz, kaum stärker besorgt als beim Tod des Sychaios.
Ahnungslos führte den Auftrag sie aus.
Als nun der Holzstoß im Hof des Palastes hoch in die Lüfte
ragte, geschichtet aus Scheitern von Fichten und Eichen, begab sich
Dido zu ihm und schmückte mit Totenkränzen und Blumen
festlich die Stätte. Kleidung, das Schwert, ein Bild des Aeneas
legte sie über das Kissen, des Kommenden zweifellos sicher.
Beiderseits standen Altäre; die Priesterin, offen die Haare,
rief mit schallender Stimme dreihundert Götter: das Chaos,
Erebus, Hekate, das dreiköpfige Mädchen Diana,
hatte gesprengt mit unechten Tropfen avernischen Nasses.
Kräftige Giftkräuter suchte man emsig beim Scheine des Mondes,
die man mit eherner Sichel mähte, und tödliche Säfte,
suchte das Liebesgeschwür auch, das man von Stirnen der Fohlen
abreißt, bevor noch die Stute es frißt.
Dido, in reinen Händen das Opferschrot, einen der Füße
nackt, das Gewand entgürtet, rief, zum Tode entschlossen,
vor den Altären die Götter zu Zeugen, als Kenner des Schicksals
auch die Gestirne, flehte darauf zu den Mächten, die über
unglücklich Liebenden doch auch gerecht und verständnisvoll walten.
Nächtliche Stille herrschte, erschöpft genossen die Wesen
friedlichen Schlummer auf Erden, auch Wälder und grimmige Meere
ruhten; die Sterne zogen dahin inmitten der Bahnen.
[231] Schweigen beherrschte die Fluren; die Herden des Viehs und die bunten
Vögel, Bewohner der klaren Seen und stechender Büsche,
alle lagen im Schlafe während des nächtlichen Schweigens,
konnten die Sorgenlast lindern und ihre Nöte vergessen.
Aber die arme Phönizierin fand nicht Erquickung im Schlummer,
Augen und Herz gewährten nicht Einlaß dem trostreichen Dunkel.
Doppelt stark quälten die Sorgen, die leidenschaftliche Liebe
steigerte sich und wallte im Branden bitteren Zornes.
Derart verharrte sie bei dem Entschluß und rang mit sich selber:
»Was jetzt beginnen? Erneut mit Bewerbern von einst es versuchen,
selbst ein Gespött, mich Nomadenfürsten voll Demut als Gattin
anbieten, deren Anträge ich so oft schon zurückwies?
Also der ilischen Flotte, der schimpflichsten Weisung der Teukrer
folgen? Sie ließen in ihrem Schiffbruch so gerne sich helfen,
bleiben voll Dankbarkeit eingedenk jeder empfangenen Wohltat!
Aber wer nähme, sofern ich es wollte, noch mich, die Verhaßte,
auf in die stolzen Schiffe? Kennst du noch nicht zur Genüge,
Elende, Treubruch und Falschheit dieser Laómedonsippe?
Andernfalls: Ziehe allein ich davon mit dem jubelnden Schiffsvolk?
Folge mit allen meinen Tyriern blindlings den Troern,
führe erneut auf die Wogen die Landsleute, die ich der Heimat
Sidon soeben entriß, und lasse die Segel sie setzen?
Lieber noch stirb, nach Gebühr, und beende die Qual mit der Waffe!
Schwester, durch Didos Tränen bezwungen, stürztest als erste
du die Verliebte ins Unglück und gabest mich preis dem Verräter!
Leider, ich durfte als Liebende nicht, wie die Tiere, in Unschuld
führen mein Leben und solchen bitteren Schmerz mir ersparen!
Nein, ich verriet die dem toten Sychaios geschworene Treue!«
So überließ sich die Fürstin den hemmungslos strömenden Klagen.
Aber Aeneas, zur Ausfahrt entschlossen, genoß auf dem hohen
Schiffe den Schlaf; war alles doch trefflich zum Aufbruch gerüstet.
Plötzlich erschien ihm im Traume der göttliche Bote; er kehrte
wieder mit gleicher Miene wie erst und mahnte aufs neue,
[232] ganz der Mercurius, nach der Gesichtsfarbe wie nach der Stimme,
auch nach dem Blondhaar und seinen jugendlich-stattlichen Gliedern:
»Sprößling der Göttin, du kannst in dieser entscheidenden Stunde
sorgenlos schlummern, erkennst die Gefahren nicht, die dich umlauern?
Du überhörst – im Leichtsinn! – das Pfeifen des günstigen Zephyr?
Dido erwägt Verbrechen und tückische Pläne, sie möchte
sterben zwar, aber sie treibt in der Brandung bitteren Zornes!
Mach dich davon, solange die Wege noch offen dir stehen!
Feindliche Kiele siehst du sehr bald das Wasser durchfurchen,
lodernde Fackeln bald strahlen, die Küste von Flammen erglühen,
sollte Aurora dich hier beim Verweilen am Strande noch treffen.
Auf denn, kein Zögern! Als launisch und niemals beständig erweist sich
immer die Frau!« So sprach er und tauchte ins nächtliche Dunkel.
Aufgescheucht durch den Gott, der so plötzlich erschien wie entschwebte,
schreckte Aeneas empor und jagte die Mannschaft vom Lager:
»Aufstehen, Freunde, sofort, und die Ruderbänke besetzen,
Segel auch aufziehen, schnell! Vom hohen Äther als Bote
spornte schon wieder ein Gott mich, schleunig zu fliehen und ohne
Säumen die Haltetaue zu kappen. Wir folgen dir, heilige Gottheit,
wer du auch bist, und gehorchen dem Auftrag begeistert aufs neue.
Nahe uns, hilf uns in Gnaden und lenke die Sterne am Himmel
gütig zu unseren Gunsten!« So rief er und riß aus der Scheide
blitzend sein Schwert und durchhieb das haltende Seil mit der Klinge.
Alle beseelte der gleiche Eifer. Man raffte, man stürzte,
stieß vom Gestade. Schon sah man vor Schiffen das Wasser nicht länger.
Angespannt peitschten die Ruder zu Schaum die bläulichen Fluten.
Eben erhob sich Aurora vom goldgelben Bett des Tithonos,
wiederum ließ sie ihr Licht verströmen über die Länder.
[233] Hoch vom Palaste aus sah die Fürstin das Morgenlicht grauen,
sah dann die Flotte im Aufbruch mit gleichmäßig schwellenden Segeln,
öde und leer schon den Strand und den Hafen. Da schlug sie im Schmerze
dreimal und viermal mit krallender Hand die herrlichen Brüste,
raufte die blonden Locken. »Oh, Jupiter!« schrie sie. »Der Fremde
geht schon, er soll jetzt meiner Machtstellung spotten? Die Waffen
nehmet zur Hand, allesamt! Ihr Bürger alle, verfolgt ihn!
Reißt aus den Werften die Schiffe ins Meer, bringt Brandsätze schleunigst,
los doch, und Lanzen und Pfeile, und peitscht mit den Rudern die Wellen!
Aber was rede, wo bin ich? Raubt den Verstand mir der Wahnsinn?
Elende Dido, verletzt dich der Treubruch erst heute? Er sollte
damals es tun, als das Zepter du anbotest! Treue, durch Handschlag
tückisch besiegelt von dem, der Penaten der Heimat, erzählt man,
mitführt, den greisen Vater sich pflichtbewußt lud auf die Schultern!
Fortschleppen sollte ich ihn und zerreißen, ins Meer dann die Stücke
schleudern! Die Mannschaften ihm, ja, Ascanius selber erdolchen,
darauf die Glieder des Sohnes zur Mahlzeit reichen dem Vater!
Ungewiß freilich war dann der Ausgang des Kampfes. Und trotzdem:
Sollte ich, todgeweiht, jemanden fürchten? Ich hätte ins Lager
Fackeln geworfen, die Schiffe verbrannt, den Sohn und den Vater
samt dem Geschlechte vernichtet, mich selbst auch gestürzt in die Flammen!
Sonnengott, der du mit Flammen das Wirken des Weltalls erleuchtest –
Juno, die solchen Kummer du kennst und sachkundig deutest –
Hekate, nächtlich durch Heulen verehrt an den Kreuzungen aller
Städte – ihr rächenden Furien, Götter der sterbenden Dido:
Höret mich, setzt nach Gebühr für das Unglück euch ein, das ich dulde,
bitte, erfüllt mein Flehen! Muß der Verräter den Hafen
glücklich erreichen und unabdingbar Italien betreten,
[234] fordert das Jupiters Weisung und bleibt es als Endziel bestehen:
möge er dann, von tapferen Männern im Kampfe geschlagen,
Flüchtling und aus des Iulus Armen gerissen, um Hilfe
betteln, die Seinen einem unwürdigen Tode verfallen
sehen; und möge er, einem schmachvollen Frieden verpflichtet,
weder der Herrschaft noch eines behaglichen Lebens sich freuen,
vorzeitig sterben vielmehr und unbestattet verwesen!
Dies mein Gebet, mein Schlußwort, es strömt mir dahin mit dem Blute.
Aber ihr, Tyrier, verfolgt mit Haß den Trojaner und seine
Nachkommen alle und schenkt sie meiner Asche als Spenden!
Keinerlei Liebe, kein Bündnis walte zwischen den Völkern!
Möge aus meinen Gebeinen dereinst ein Rächer erstehen,
der mit Feuer und Schwert die dardanischen Ansiedler heimsucht,
heute und künftig, wann immer die Macht ihm Gelegenheit bietet.
Möge hier Küste mit Küste, Woge mit Woge, und Streitmacht
gegen die Streitmacht kämpfen, die Lebenden wie auch die Enkel!«
Nach dem Gebet erwog sie alle denkbaren Wege,
möglichst schnell vom verhaßt gewordenen Licht sich zu trennen,
wandte sich kurz dann an Barke, die Amme des toten Sychaios –
ruhte die eigene doch in der Heimat im düsteren Staube –:
»Rufe mir, teure Amme, die Schwester Anna zur Stelle!
Sag ihr, sie möge geschwind sich mit Flußwasser sprengen, die Tiere
bringen zum Opfer und, weisungsgemäß, die Mittel zur Sühne.
Danach umwinde dir selber die Schläfe mit heiliger Binde.
Abschließen will ich das Opfer, das ich nach Vorschrift begonnen,
für den stygischen Jupiter, möchte die Leiden beenden,
anstecken endlich den Holzstoß, mitsamt dem Dardanerbildnis.«
Mit der Geschäftigkeit einer Greisin enteilte die Amme.
Hastig, verstört durch ihr schreckliches Vorhaben, rollte jetzt Dido
ihre mit Blut unterlaufenen Augen, stürzte, von Flecken
dicht übersät die zuckenden Wangen, erbleicht vor dem nahen
Tode, hinein in den Hof und erklomm, wie von Sinnen, den hohen
Holzstoß, riß aus der Scheide sodann die dardanische Klinge,
die sie zu solchem Dienste sich niemals auserwählt hätte.
[235] Hier, bei dem Anblick der Troergewänder sowie des vertrauten
Lagers, verweilte sie kurz und vergoß Erinnerungstränen,
sank auf die Kissen und sprach als letztes die Worte: »Ihr Stücke,
die mein Entzücken ihr waret, solange der Gott und das Schicksal
mir es erlaubten, nehmet mein Leben, beendet die Qualen!
Völlig durchmaß ich die Bahn, die dem Glück wie dem Unglück ich danke.
Tief in die Unterwelt wandelt jetzt gleich mein machtvoller Schatten.
Glanzvoll die Stadt, die ich gründete – mein auch die Mauern vor meinen
Augen. Ich rächte den Gatten, bestrafte den feindlichen Bruder.
Glücklich, zu glücklich wohl wäre ich, wenn die dardanischen Schiffe
niemals an unsrem Gestade angelegt hätten!« Sie preßte
fest in das Kissen ihr Antlitz. »Ich konnte mich freilich nicht rächen,
aber ich sterbe als Heldin; ins Schattenreich ziehe ich freudig.
Soll der gefühllose Troer von hoher See aus die Flammen
hier noch erspähen, mein Todeszeichen als Omen des Unglücks
mitnehmen!« Sprechend noch, sank sie unter dem Schwertstoß zusammen;
Blut überschäumte die Klinge, die Hände. So fanden die Frauen
ihre Gebieterin vor.
Der Palast erdröhnte vom Jammer.
Trauer durchraste die Stadt, die Nachricht erschütterte jeden.
Wehegeschrei und Stöhnen, das Heulen der Frauen erfüllte
sämtliche Häuser. Vom Schlagen der Brüste hallte der Äther
wider, nicht anders, als stürze Karthago unter dem Ansturm
feindlicher Scharen, als stürze das alte Tyros, als wälzten
rasend sich Flammen durch hohe Paläste von Menschen und Göttern.
Stockenden Atems, entsetzt, vernahm es die Schwester. Im Laufschritt,
sich mit den Nägeln das Antlitz, mit Fäusten die Brüste entstellend,
[236] stürzte sie durch das Getümmel, den Namen der Sterbenden rufend:
»Schwester, das plantest du? Suchtest mich hinterlistig zu täuschen?
Das bezweckten mein Holzstoß, die Flammen, dazu die Altäre?
Worüber klage zuerst ich, allein jetzt? Im Tode verschmähtest
du die Begleitung der Schwester! Du solltest zum Sterben mich rufen:
Hingerafft hätten ein Kummer und eine Stunde uns beide.
Selber noch schichtete ich die Scheiter, die Götter der Heimat
rief ich – und sollte, ich Grausame, einsam dich hinscheiden lassen!
Schwester, du löschtest mit dir auch mich aus, dein Volk und die Väter
Sidons, die eigene Stadt! – Bringt Wasser zum Waschen der Wunden!
Tut sie noch einen letzten Atemzug, will ich im Kusse
auffangen ihn.« Sie erklomm auf den Scheitern die Höhe des Stoßes,
schlang um die schwach noch atmende Schwester die Arme mit bittrem
Stöhnen und trocknete das gerinnende Blut mit dem Kleide.
Aufschlagen wollte noch Dido die lastenden Lider, doch fehlten
ihr schon die Kräfte. Die klaffende Brustwunde zischte ganz leise.
Dreimal noch stemmte die Fürstin sich mühsam empor auf dem Arme,
dreimal auch sank sie zurück auf das Kissen. Mit schweifenden Augen
suchte am Himmel sie Licht und stöhnte beim Anblick der Sonne.
Doch die allmächtige Juno empfand für den langen und schweren
Todeskampf Didos Mitleid. Sie sandte vom hohen Olympus
Iris, die ringende Seele vom sterblichen Körper zu lösen.
Starb doch die Elende weder durch Schicksalsbeschluß noch zur Strafe;
vorzeitig schied sie vielmehr im Ausbruch wilder Verzweiflung.
Deswegen hatte Prosérpina ihr auch vom Kopfe noch keine
Locke geschnitten, die Sterbende nicht dem Orkus gewidmet.
[237] Gegen die Sonne flog denn die taufeuchte Iris mit ihren
safranleuchtenden Schwingen vom Himmel, vielfarbig den Bogen
nachziehend, trat dann zu Didos Häupten. »Ich weihe die Locke,
wie mir befohlen, dem Pluto und löse dich hiermit vom Körper«,
sprach sie und schnitt mit der Rechten die Haare ab. Jählings erbleichten
nunmehr die Wangen Didos, ihr Leben zerstob in die Winde.
[238]

Fünfter Gesang

Fünfter Gesang.

Sicher verfolgte Aeneas auf hoher See schon mit seiner
Flotte den Kurs und durchschnitt vor dem Nord die sich kräuselnden Wellen.
Hinter sich sah er die Mauern im Schimmer der Flammen, die eben
Didos Gebeine verzehrten. Den Anlaß des mächtigen Feuers
wußte zwar niemand. Doch drückten der Kummer, eine so heiße
Liebe verraten zu haben, die Kenntnis auch, wessen gekränkte
Frauen sich fähig erweisen, schmerzlich die Stimmung der Teukrer.
Als sie im Umkreise keinen Streifen Landes mehr sahen,
ihnen auf allen Seiten nur Wasser und Himmel sich boten,
ballten sich droben tiefblaue Regenwolken zusammen,
brachten Orkan und Nacht; schwarz bäumten sich drohend die Wogen.
Steuermann Palinuros erhob vom Heck aus die Stimme:
»Wehe! Warum nur verhüllen so düstere Wolken den Äther?
Vater Neptunus, was hast du im Sinne?« Und ohne zu säumen,
hieß er das Schiffsgerät zurren, mit Kraft in die Riemen sich legen,
schräg zum Lavieren die Segel auch stellen und sprach zu Aeneas:
»Mutiger Fürst, auch wenn Jupiter selbst das Versprechen mir gäbe,
hoffte bei solchem Wetter ich kaum nach Italien zu kommen.
Drehte sich doch in die Quere der Wind, frischt brausend vom finstren
Westen jetzt auf, und die Luftmassen ballen sich düster zu Nebel.
Unsere Kräfte reichen nicht aus, dem Sturme zu trotzen.
Tragen wir Rechnung dem übermächtigen Schicksal und fahren
dorthin, wohin es uns ruft! Das Brudergestade des Eryx,
sicher für uns, und die Häfen Siziliens liegen nicht ferne,
wenn ich mich richtig erinnre, die Sternbilder wieder bedenke.«
Antwort gab ihm Aeneas: »Die Richtung der Winde erkenne
ich schon seit langem, du stemmst dich ihnen vergeblich entgegen.
[239] Ändre die Stellung der Segel! Ich wählte kein andres Gestade
lieber zum Anlaufen für die vom Sturme gefährdeten Schiffe
als das Gebiet, das meinem Akestes aus Troja ein Obdach
bietet, ein Grab auch den sterblichen Resten des Vaters Anchises.«
Ohne zu säumen, nahmen sie Kurs auf den Hafen, und günstig
schwellte der Zephyr die Segel. Beschleunigt jagte die Flotte
über die Wogen, erreichte mit Glück das bekannte Gestade.
Staunend gewahrte Akestes die Ankunft befreundeter Schiffe
fernher vom Berggipfel aus und eilte ihnen entgegen,
furchteinflößend mit Jagdspieß, im Fell der libyschen Bärin,
Sprößling des Flußgotts Crimisus und einer troischen Mutter;
eingedenk seiner Eltern, empfing er die Rückkehrer freudig,
teilte von Herzen mit ihnen all seine ländliche Habe,
bot den Erschöpften Erquickung mit Gaben aufrichtiger Freundschaft.
Als dann der folgende helle Morgen die Sterne verscheuchte,
rief Aeneas vom ganzen Strand die Gefährten zusammen,
sprach von dem hohen Anchisesgrabmal folgende Worte:
»Helden des Dardanosstammes, unsterblichem Blute entsprossen,
höret: Ein volles Jahr verstrich im Kreislauf der Monde,
seit wir die sterbliche Hülle meines göttlichen Vaters
hier in dem Erdreich bargen, Altäre zur Trauer auch weihten.
Täuscht mich kein Irrtum, so haben wir heute den Tag, den ich immer
traurig und feierlich-würdig begehen werde, nach eurem
Willen, ihr Götter. Müßte ich ihn in der Fremde verbringen,
bei den gätulischen Syrten – im Argosmeer – auch in Mykene,
würde ich Jahresgelübde und Umzüge, heiligem Brauche
fügsam, vollziehen, Altäre auch bauen zu schuldigem Opfer.
Heute jedoch verweilen wir bei dem Grabe des Vaters
selber – kaum ohne die Zustimmung, ohne das Walten der Götter –,
konnten uns retten vor dem Orkan in befreundete Häfen.
Zollen wir deswegen willig gemeinsam dem Toten die Ehren!
Mögen uns günstige Winde beglücken und möge der Vater
später alljährlich im Tempel der neuen Hauptstadt die Opfer
[240] gnädig empfangen! Der Troer Akestes schenkt uns für jedes
unserer Schiffe zwei Rinder. Ladet zum Mahl die Penaten,
jene auch, die Akestes verehrt, der uns freundlich bewirtet!
Bringt dann Aurora zum neunten Male der Menschheit den Nahrung
spendenden Tag und erhellt mit ihren Strahlen den Erdkreis,
sollen zuerst sich die teukrischen Schiffe im Wettrudern messen.
Tüchtige Läufer zum zweiten und kühne, kraftvolle Männer,
die sich im Speerwerfen auszeichnen wie auch im flüchtigen Pfeilschuß
oder den Faustkampf mittels rohlederner Handschuhe wagen,
mögen sich allesamt stellen zum Spiel um die Palme des Sieges.
Wahret jetzt heilige Stille, umkränzt euch die Schläfen mit Zweigen!«
Darauf umkränzte sein Haupt er mit Myrten, dem Strauche der Mutter.
Helymos tat es ihm gleich, auch der hochbetagte Akestes,
gleichfalls Ascanius, dem die übrigen Mannschaften folgten.
Aus der Versammlung begab sich Aeneas inmitten der Menge
dicht an das Grab, noch enger umringt von vielen Begleitern.
Ordnungsgemäß vergoß er als Spende zwei Becher voll lautren
Weines zur Erde, dann zwei voll Frischmilch und zwei mit geweihtem
Blute, bestreute das Grab dann mit leuchtenden Blumen und sagte:
»Sei mir gegrüßt, du heiliger Vater, gegrüßt mir noch einmal,
Asche, vergeblich geborgen, du Seele, du Schatten des Vaters!
Aufsuchen muß ich jetzt ohne dich die uns vom Schicksal bestimmten
Fluren Italiens und den ausonischen Thybris, wer immer
dieser auch sein mag.« Kaum hatte er ausgesprochen, da schlüpfte
tief aus dem Grabhügel eine gewaltige Schlange, in sieben
Windungen zog sie sich friedlich rings um das Grabmal und zwischen
beide Altäre. Blauschimmernde Flecken zierten den Rücken,
goldener Glanz umglühte die Schuppen, wie gegen die Sonne
vor dem Gewölk der Regenbogen in mancherlei Farben
schillert. Aeneas erstaunte. Weithin sich streckend, gelangte
[241] schließlich das Tier zu den Schalen und kunstreich geglätteten Bechern,
naschte vom Inhalt und zog sich dann harmlos zurück in des Hügels
Tiefe, verließ die Altäre, nachdem es die Proben gekostet.
Aber Aeneas opferte um so freudiger weiter –
war nun die Schlange ein Schutzgeist des Grabes oder ein Bote
von dem Verstorbenen –, schlachtete jeweils, wie üblich, zwei Schafe,
Schweine und Jungstiere, diese mit dunkelfarbigem Rücken,
spendete Wein aus den Schalen und rief die Seele des großen
Vaters und die vom Acheron freigegebenen Manen.
Willig auch opferten die Gefährten, je nach Vermögen,
reichlich beluden sie die Altäre und schlachteten Stiere.
Andere stellten die Kessel bereit, und, im Grase gelagert,
nährten die Glut sie unter den Spießen und brieten die Stücke.
Endlich begann der erwartete Tag, und in heiterem Glanze
ließen die Rosse Phaëthons zum neunten Male Aurora
schimmern. Die Kunde, der Name des großen Akestes auch, hatten
Nachbarn zur Stelle gelockt. Sie wimmelten fröhlich am Strande,
wollten teils zuschauen, teils auch als Wettkämpfer selber sich tummeln.
Mitten im Wettspielgelände stellte zuerst man vor aller
Augen die Preise für Sieger zur Schau, frischgrünende Kränze,
Palmzweige, heiligem Dienste gewidmete Dreifüße, Waffen,
Purpurgewänder und je ein Talent an Gold wie an Silber.
Dann erscholl von der Düne Trompetengeschmetter zum Anfang.
Vier aus der Flotte erwählte Schiffe von ungefähr gleicher
Schnelligkeit glitten mit wuchtigen Rudern sogleich an den Startplatz.
Mnestheus war Kapitän des blitzartig rudernden »Haifischs«,
Mnestheus sehr bald, als Italer, der Ahnherr des Memmiergeschlechtes;
Gyas gebot auf der massig großen »Chimaera«, die einem
Stadtwall fast gleichkam; in dreifacher Reihe trieben die Troer
rudernd sie vorwärts, drei Bänke erhoben sich übereinander;
[242] Held Sergestos, der Ahnherr des Sergiergeschlechts, kommandierte
über den großen »Kentauren«; Kloanthos schließlich, dein Urahn,
Römer Cluentus, war Kapitän auf der tiefblauen »Skylla«.
Fern vor der brandenden Küste ragt aus dem Meere ein Felsblock.
Hüllen im Winter Nordweststürme düster in Wolken die Sterne,
wird er zuweilen ganz überspült von den steigenden Fluten.
Aber bei ruhiger See erhebt er sich flach aus dem stillen
Wasser und schenkt ein willkommenes Plätzchen zum Sonnen den Tauchern.
Hierher pflanzte Aeneas aus grünendem Eichenstamm eine
Zielsäule für die Matrosen; hier sollten sie kunstgerecht wenden,
sollten den Felsblock in ausreichend weiter Biegung umrunden.
Anschließend wurden die Plätze verlost. Auf dem Hinterdeck jeweils
standen, in Purpur und Gold weit leuchtend, die Kapitäne.
Zweige der Pappel umkränzten die übrige Mannschaft, es glänzten
fett die entblößten Schultern, gesalbt mit geschmeidigem Öle.
Platz auf den Bänken nahm man und packte kraftvoll die Ruder,
horchte gespannt auf das Zeichen zum Start. Die pochenden Herzen
quälte ein banges Erwarten nebst festem Willen zum Siege.
Als die Trompete schmetternd Signal gab, schossen die Schiffe
gleich aus den Haltebereichen vorwärts. Schreie der Mannschaft
gellten zum Himmel, unter dem Ruderschlag schäumten die Wellen.
Gleichmäßig furchten die Kiele das Wasser. Zerspalten von Rudern,
wie von dreizackigen Schnäbeln, klaffte die Flut auseinander.
Derartig stürzen sich nicht aus den Schranken die Doppelgespanne,
rasen so ungestüm nicht voran auf der ebenen Rennbahn;
derartig schütteln nicht Wagenlenker die schwirrenden Zügel
über die fliegenden Rosse und beugen zum Schlage sich vorwärts.
Klatschen und Toben und eifriges Anfeuern ließen das Wäldchen
hinter der Küste erdröhnen, stauten sich längs des Gestades,
brachen zu donnerndem Widerhall sich an den waldigen Höhen
[243] Gleich an die Spitze im freien Gewässer setzte sich Gyas,
von dem Geschrei der Rivalen umtobt. Ihm folgte Kloanthos,
zwar mit den Rudern im Vorteil, aber gehemmt von dem schweren
Fichtenholzkiel. In gleichem Abstand setzten den beiden
»Haifisch« nach und »Kentauros« und maßen sich untereinander.
»Haifisch« gewann jetzt den Vorsprung, dann ließ der große »Kentauros«
wiederum jenen zurück; nun glitten sie Seite an Seite
vorwärts, durchfurchten die salzige Flut mit den mächtigen Kielen.
Nahe dem Felsblock schon waren sie, hielten die Zielsäule sorglich
fest mit den Blicken. Da stellte Gyas, über den Wellen
siegreich der erste bis jetzt, den Steuermann schallend zur Rede:
»Warum, Menoites, so weithin nach rechts? Los, hierher die Richtung!
Näher dem Felsen! Links sollen die Ruder das Riff fast berühren!
Laß doch den andern das offene Wasser!« Aber Menoites
scheute verborgene Klippen und steuerte rechtshin ins Freie.
Nochmals befahl ihm Gyas lautrufend: »Weswegen den andern
Kurs? An die Felsen, Menoites!« Schon sah er Kloanthos von hinten
aufholen, sah ihn den Weg ganz nahe den Felsklippen wählen.
Wirklich, er schob sich zwischen umbrandeten Fels und »Chimaera«
vorwärts auf linkem Kurs, überholte in engerem Kreise
plötzlich den Gyas, passierte die Säule, gewann jetzt aufs neue
sicheres Fahrwasser. Aber den jungen Gyas durchglühte
wütender Ärger, ihm kamen die Tränen, er konnte nicht länger
Haltung bewahren, das Wohl der Mannschaft bedenken: Vom hohen
Hinterdeck stieß er Menoites, den überbedächtigen, jählings
seitwärts ins Wasser; als Kapitän übernahm er das Steuer,
spornte die Mannschaft durch Zuruf und lenkte näher dem Felsen,
während Menoites sich mühsam aus gähnender Tiefe emporrang,
älter an Jahren bereits, durch die triefenden Kleider behindert,
schließlich den Felsblock erklomm und an trockener Stelle sich setzte.
[244] Lachend sahen die Teukrer ihn fallen und schwimmen, und lachend
sahen sie zu, wie er prustend und stöhnend das Salzwasser ausspie.
Heitere Hoffnung beschwingte nunmehr Sergestos und Mnestheus,
zu überholen sogleich den zurückgefallenen Gyas.
Vorsprung gewann Sergestos und näherte schon sich dem Felsen,
konnte indes die »Chimaera« nicht ganz überholen, auf halbe
Länge nur drängte der Bug des »Haifischs« im Kampfe sich vorwärts.
Mitten im Schiffe, zwischen den Reihen der Ruderer, mahnte
Mnestheus: »Jetzt, Kameraden Hektors, jetzt legt euch mit aller
Kraft in die Riemen! Euch wählte ich mir zu Gefährten im letzten
Kampfe um Troja; bewährt jetzt aufs neue die schwungvollen Kräfte,
zeigt auch den Mut, die ihr in den Syrten Gätuliens bewieset,
auf dem Ionischen Meer, auf den tobenden Wellen Maleas!
Nicht mehr als erster möchte ich siegreich die Strecke bezwingen,
mag auch – doch siege, wem du, Neptunus, die Auszeichnung zusprichst!
Schämt euch allein, die letzten zu werden! Erringt nur in diesem
Sinne den Sieg, vermeidet die Schande!« Aufs äußerste strengten
nunmehr die Männer sich an. Der eherne Schiffsrumpf erbebte
unter den wuchtigen Schlägen, nach rückwärts schossen die Fluten.
Keuchen entrang sich den trockenen Mündern, Schweiß strömte in Bächen.
Doch den ersehnten Erfolg bescherte den Männern der Zufall.
Während Sergestos den Bug in rasendem Vordrängen nämlich
zu weit dem Felsen näherte, einwärts, auf schwieriger Strecke,
fuhr er zum Unglück auf unsichtbar tückisch vorspringende Klippen.
Unter dem Dröhnen der Riffe zerkrachten die Ruder beim Aufprall
über dem zackigen Stein, zerschellt blieb hängen das Vorschiff.
Aufsprangen jäh die Matrosen, erstarrten in gellendem Aufschrei,
packten dann eisenbeschlagene Stangen, auch Staken mit scharfen
Spitzen und fischten hervor aus der Flut die zerbrochenen Ruder.
Mnestheus dagegen, erfreut, durch die Hilfe des Glückes ermutigt,
strebte mit schnellem Ruderschlag, flehend um günstigen Windhauch,
[245] landwärts bereits von der Strömung getrieben, ins offene Wasser.
Wie aus dem Schlupfwinkel aufgescheucht plötzlich die Taube von ihrem
Nest und der niedlichen Brut im zerklüfteten Lavastein auffliegt,
schnell in das Freie erst stürmt und im Schreck mit den Schwingen gewaltig,
dicht vor der Niststätte, flattert, dann aber sehr bald durch die stillen
Lüfte dahinschwebt, ohne ein hastiges Regen der Flügel:
Ebenso furchte jetzt Mnestheus mit seinem »Haifisch« die letzte
Strecke der Wettfahrt, trug ihn die Wucht des gewonnenen Schwunges.
Er überholte zuerst den Sergestos, der immer auf hohem
Riff noch im flachen Wasser sich anstrengte, fruchtlos um Hilfe
schrie, mit zerbrochenen Rudern vorwärtszukommen versuchte.
Darauf erreichte er Gyas und dessen große »Chimaera«;
hinter ihm blieb sie zurück, da der richtige Steuermann fehlte.
Kurz vor dem Ziel blieb nunmehr Kloanthos als einziger übrig.
Einholen wollte ihn jetzt noch mit äußerster Anstrengung Mnestheus.
Doppelt stark gellte darauf das Geschrei, die Zuschauer alle
feuerten an den Verfolger, vom Tosen erdröhnte der Himmel.
Aber die Leute der »Skylla« empörten sich, den schon errungnen
Sieg und den Ruhm zu verlieren, sie wagten für diese ihr Leben,
während dem Gegner das Lächeln der Hoffnung die Zuversicht stärkte.
Steven an Steven hätten vielleicht sie beide gewonnen,
würde Kloanthos die Arme zum Meere nicht ausgestreckt, würde
innig er nicht durch Gelübde die Götter angefleht haben:
»Ewige Herrscher des Meeres, deren Reich ich durchquere,
einen weißschimmernden Stier will ich euch als glücklicher Sieger
hier am Gestade opfern, fest meinem Gelöbnis verpflichtet,
edlere Teile und lauteren Wein den Salzfluten spenden!«
Tief auf dem Grunde des Meeres vernahmen die Töchter des Nereus
dieses Gebet, der Reigen des Phorkos, dabei Panopeia,
und mit gewaltiger Faust schob Vater Portunus persönlich
[246] vorwärts die »Skylla«. Schneller als Südsturm und fliegende Pfeile
schoß sie dem Lande entgegen und warf in der Hafenbucht Anker.
Nunmehr berief Aeneas, wie üblich, die Teilnehmer alle,
ließ durch den Herold lautschallend Kloanthos zum Sieger erklären,
schmückte die Schläfen ihm dann mit dem Kranz von grünendem Lorbeer,
gab für die Mannschaften jeweils drei junge Stiere zur Auswahl,
Wein desgleichen, ein volles Silbertalent noch als Handgeld.
Den Kapitänen zollte er ganz besondere Ehren:
Einen mit Gold bestickten Mantel dem Sieger; ein breiter
Doppelbesatz meliböischen Purpurs, mäandrisch gewunden,
säumte das Stück; Ganymedes, eingewebt, hetzte mit seinem
Wurfspieß im Sturmschritt am waldigen Ida rüstige Hirsche,
feurig, er keuchte förmlich; da raffte ihn jählings vom Berghang
fort mit den Krallen der Blitzträger Jupiters, aufwärts zum Himmel;
hoch zu den Sternen streckten flehend, umsonst, die betagten
Wächter die Hände, das rasende Kläffen der Meute verhallte.
Dann überreichte er Mnestheus, dem tüchtigen Zweiten, als Gabe
einen Panzer aus Ringen von dreifach geflochtenem Golddraht,
den er als Sieger im Kampfe dereinst dem Demóleos auszog
unter den Mauern von Troja, am reißenden Strome Simoeis,
Zierde dem Helden und gleichzeitig sicherer Schutz auf dem Schlachtfeld.
Phegeus und Ságaris konnten, als Diener, das kunstreich geschaffne
Stück auf den Schultern kaum schleppen – Demoleos hatte es früher
auch noch im Laufschritt getragen, verfolgte er schweifende Troer!
Gyas, dem Dritten, gab er zwei Kessel aus Bronze und weiter
silberne Trinkschalen, treffliche, kunstvoll getriebene Arbeit.
Soweit schon waren die Schiffer beschenkt und stolz auf die reichen
Gaben und traten zurück, auf den Häuptern die purpurnen Binden,
als noch Sergestos, belächelt und ruhmlos, sein Fahrzeug zur Küste
[247] lenkte. Er hatte das Schiff sehr geschickt, doch mit Mühe, vom spitzen
Felsriff gelöst, nach Verlust der Ruder links einreihig, langsam
fahrend. Wie eine Schlange zuweilen, gequetscht auf dem Dammweg,
weil sie ein Bronzerad jäh überfuhr, auch ein Fußgänger heftig
zuschlug und halbtot verwundet sie auf dem Pfade zurückließ,
ohne Erfolg in langen Windungen fortkriechen möchte,
vorne noch ungestüm-kraftvoll, mit glühenden Augen, den Nacken
fürchterlich zischend erhoben, doch hinten gehemmt durch die Wunde,
mag sie sich ringeln auch, sich zu stützen versuchen auf ihre
Wirbel: so ruderte, schwerfällig nur, der »Kentaur« ans Gestade;
freilich noch segelnd, gewann er mit schwellendem Leinen die Einfahrt.
Froh der Errettung des Schiffs samt der Mannschaft, gewährte Aeneas
dem Sergestos die vorher versprochenen Gaben, auch eine
Sklavin aus Kreta, Pholóë; sie war im Schaffen Minervas
äußerst erfahren und trug noch Zwillingssöhne am Busen.
Nunmehr begab sich der pflichtbewußte Aeneas zur Wiese,
die sich als Talgrund inmitten bewaldeter Hügel erstreckte.
Auf ihr befand sich die Rennbahn, ringsum die Zuschauerplätze.
Dorthin verfügte der Held sich, umdrängt von Tausenden Menschen,
ließ in dem Kreise sich nieder auf eigens errichtetem Sitze.
Sämtliche Männer, die sich am Wettlauf beteiligen wollten,
lockte durch Preise er an und bestimmte die Ehrengewinne.
Teukrer, mit ihnen Sizilier, strömten zusammen, als erste Nisos und Euryalos,
letzterer ausgezeichnet durch Schönheit und blühende Jugend,
jener durch treue Liebe zu diesem Jungen. Den beiden
folgte Diores, ein Sproß des fürstlichen Priamosstammes.
Salios kam dann mit Pátron, ein Akarnane der eine,
von arkadischem Stamme der andre, und zwar aus Tegea.
Darauf zwei junge Sizilier, gewöhnt an das Leben im Walde.
[248] Helymos und Panópes, Gefährten des greisen Akestes.
Außerdem Zahlreiche andre, die Namen verschweigt uns die Sage.
Unter der Schar der Teilnehmer sprach Aeneas die Worte:
»Lasset euch eines noch sagen und nehmt es mit Freuden zur Kenntnis:
Keiner von euch verläßt mir die Rennbahn ohne Geschenke!
Jeweils zwei gnosische Lanzen, poliert auf Hochglanz die Spitzen,
eine Doppelaxt auch, ziseliert am silbernen Schafte,
sollen als Auszeichnung jedem gehören. Den ersten drei aber
winken noch Preise, außer dem Kranz vom goldgelben Ölzweig:
Dem, der als Sieger hervorgeht, ein Roß mit herrlichem Brustschmuck;
aber dem Zweiten ein Köcher, wie Amazonen ihn haben,
voller thrakischer Pfeile, an breitem Goldgurt zu tragen;
letzteren schließt ein geschliffnes Juwel als handliche Schnalle.
Mit dem argeischen Helm hier sei der Dritte zufrieden.«
Darauf begaben die Läufer sofort sich zum Start. Auf das Zeichen
schossen sie vor aus den Schranken und über die Rennbahn, wie eine
ungestüm jagende Sturmwolke, hielten das Ziel fest im Auge.
Allen voran enteilte mit weitem Vorsprunge Nisos,
schneller als Stöße des Windes, als Schwingen zuckender Blitze.
Salios kam ihm zunächst, doch in einem beträchtlichen Abstand.
Diesem folgte als dritter Euryalos, wieder mit großem Zwischenraum,
anschließend Helymos. Letzterem unmittelbar auf den Fersen
flog Diores dahin, er neigte im Rennen beinahe
über die Schulter des Vordermanns sich, und wäre die Strecke
länger noch, so überholte er ihn und machte den Ausgang
zweifelhaft.
Angelangt waren sie fast schon am Ende
der Rennbahn,
nahe dem Ziele, ermattet. Da rutschte Nisos in einer
Blutlache unglücklich aus; hier hatten geopferte Stiere
kürzlich den Boden bespritzt, durchtränkt auch die grünenden Kräuter.
[249] Jubelnd bereits im Siegesrausch, kam der Läufer ins Wanken,
konnte nicht aufrecht sich halten auf schlüpfrigem Boden. Kopfüber
stürzte er langhin ins Opferblut und in den klebrigen Unrat.
Doch er vergaß nicht Euryalos, nicht die verpflichtende Bindung.
Aufrappelnd sich aus der Pfütze, hemmte den Lauf er des Salios,
der in dem stäubenden Sande gleich ausglitt und rücklings sich wälzte.
Aber Euryalos schoß vorbei; dank der Hilfe des Freundes
ward er der Erste und stürmte zum Ziel in tosendem Beifall.
Helymos folgte ihm gleich und als dritter Gewinner Diores.
Salios aber führte lautschallend Beschwerde im weiten
Zuschauerraum, bei den Plätzen der Edlen, der vorderen Reihe,
forderte die ihm durch Tücke entrissene Auszeichnung wieder.
Doch den Euryalos schützten der Beifall, die Lieblichkeit seiner
Tränen, sein Wesen, verdeutlicht erst recht durch die äußere Schönheit.
Beistand auch leistete ihm Diores mit mächtiger Stimme;
winkte ihm jetzt doch der Preis des Dritten, den er verlieren
mußte, sofern man die Ehre des Ersten dem Salios gäbe.
Da sprach Vater Aeneas: »Eure Belohnungen bleiben,
Jungen, euch sicher, und keiner verändert die Reihe der Preise.
Aber bedauern mag ich den Sturz des schuldlosen Freundes.«
Damit reichte er Salios hin das riesige Fellkleid
eines gätulischen Löwen, dicht zottig, vergoldet die Tatzen.
Darauf beklagte sich Nisos: »Erhalten Besiegte schon solche
Preise, bemitleidest du die Gestürzten – wie ehrst du den Nisos
dann nach Verdienst? Ich hätte den Kranz des Ersten errungen,
würde nicht Mißgeschick mich wie den Salios hingestürzt haben.«
Antlitz und Körper zeigte er während der Klage, verschandelt
durch den klebrigen Schmutz. Ihn belächelte freundlich der Vater,
hieß ihm den Schutzschild, den Didymáon kunstreich geschmiedet,
bringen. Den hatten die Griechen dem Neptuntempel entrissen;
jetzt übergab er als Auszeichnung ihn dem tüchtigen Jungen.
Gleich nach dem Lauf und der Siegerehrung erklärte Aeneas:
»Los denn, wen Kraft und Selbstvertrauen beseelen, der trete
[250] vor jetzt und schwinge zum Faustkampf seine umgürteten Hände!«
Ausstellen ließ er sogleich die beiden Kampfpreise, einen
Stier, mit vergoldeten Hörnern und Binden geschmückt, für den Sieger,
für den Besiegten als Trostpreis ein Schwert nebst prachtvollem Schutzhelm.
Darauf erhob sich Dares sofort, der ausnehmend Starke,
zeigte voll Stolz sein Antlitz unter dem Beifall der Männer.
Er als einziger pflegte einst Paris die Stirne zu bieten,
hatte am Grabhügel auch des tapferen Hektor den ständig
siegreichen Riesen Butes, der prahlend sich als Bebryke
und als Amykosnachkomme vorstellte, niedergeschmettert,
tödlich ihn hingestreckt auf dem gelblichen Sande. Ein solcher
Faustkämpfer war es, der jetzt den Kopf zum Ausscheide reckte,
dabei die breiten Schultern zeigte, im Wechsel die Arme
vorstieß und wuchtige Lufthiebe führte. Man suchte nach einem
Gegner für ihn. Doch niemand aus einer so zahlreichen Menge
wagte mit ihm sich zu messen, die Faust in die Riemen zu schnüren.
Wohlgemut wähnte er gleich, daß alle den Kampfpreis ihm ließen,
trat vor Aeneas, packte, ohne zu zögern, mit seiner
Linken den Stier beim Horne und rief: »Du Sprößling der Göttin,
wenn schon keiner voll Wagemut gegen mich antritt – wie lange
soll ich dann stehen, wie lange noch dürfte ich untätig warten?
Laß mich die Kampfpreise nehmen!« Laut spendeten alle Trojaner
Beifall und forderten, ihm die versprochenen Preise zu geben.
Gegen Entellos wandte sich jetzt ernst mahnend Akestes;
saß er doch neben dem alten Freund auf der grünenden Wiese:
»Nutzlos, Entellos, vollbrachtest du einstmals tapferste Taten,
wenn du voll Langmut und ohne zu kämpfen so wertvolle Preise
fortnehmen läßt! Wo bleibt jetzt dein göttlicher Lehrmeister Eryx,
dessen du sinnlos dich rühmtest? Wo bleibt dein bei allen Siziliern
geltender Name und deine zu Hause hängende Beute?«
Jener entgegnete: »Ehrgeiz und Ruhmstreben wichen der Feigheit
niemals. Doch stockt mir erkaltend das Blut infolge des Alters;
lange erschlafft schon, entbehren die Kräfte im Körper der Frische.
[251] Käme die Kraft noch der Jugend zu Hilfe mir – wie dort dem Prahlhans,
der im Vertrauen auf sie nur so schamlos sich aufführt! –, ich stellte
ohne die Lockung der Preise und eines prachtvollen Stieres
gleich mich dem Gegner – ich brauche keine Geschenke!« Nach diesen
Worten warf er zur Mitte des Kreises ein ausnehmend schweres
Schlagriemenpaar; das pflegte zum Faustkampf der tapfere Eryx
einstmals zu tragen, die Arme ins harte Leder zu schnüren.
Alles erstaunte. Verarbeitet waren die Felle von sieben
mächtigen Stieren, durchsetzt mit Stücken von Blei und von Eisen!
Dares auch staunte, vor allen, und wollte vom Kampf nichts mehr wissen,
während der Sproß des Anchises die Schlagriemen wog in den Händen,
hierhin und dorthin die zahllosen Knoten der Fellstreifen drehte.
Grimmig erleichterte nunmehr sein Herz der betagte Entellos:
»Was erst, sofern man des Herkules eigene Riemen gesehen
hätte, den furchtbaren Faustkampf dazu an diesem Gestade!
Diese hier führte vor Zeiten dein Bruder Eryx als Waffe –
siehst hier noch Spritzer von Blut und Gehirn auf den Riemen –, mit ihnen
trat er dem großen Enkel des Alkeus entgegen. Mit ihnen
kämpfte auch ich, als mein Blut noch frischer mich stärkte, das böse
neidische Alter noch nicht auf das Haar an den Schläfen mir Silber
streute. Wenn aber Held Dares aus Troja die Riemen hier ablehnt,
dies auch der Pflichtmensch Aeneas wünscht und Ak estes es billigt,
laßt uns zu gleichen Bedingungen kämpfen. Auf Riemen des Eryx
will ich verzichten, du brauchst nichts zu fürchten – verzichte auf deine
troischen!« Gleich von den Schultern zog er den doppelten Mantel,
zeigte die mächtigen Glieder, den starken Knochenbau, seine
wuchtigen Arme und trat, voll gewaltiger Kraft, auf den Kampfplatz.
[252] Gleichschwere Schlagriemen holte nunmehr der Sproß des Anchises,
schnürte sie gleichmäßig dann um die Fäuste der beiden Rivalen.
Aufgereckt stand auf den Zehen sogleich dann ein jeder und streckte,
ohne ein Zeichen von Furcht, die Arme zum Schlag in die Lüfte,
zog auch zurück, steil aufwärts, den Kopf in Erwartung von Treffern.
Darauf plänkelten sie, die Fäuste verschränkt miteinander,
reizten zum Kampfe sich, Dares gewandter zu Fuß und auf seine
Jugendkraft bauend, Entellos an Körpergewicht über legen;
aber steif wankten die Knie ihm, die Atemnot plagte den Riesen
weidlich. Dann tauschten, aufs Blut schon, sie Schläge, doch ohne Entscheidung,
trafen voll Wucht wiederholt die Rippen und ließen des Gegners
Brustkorb erdröhnen. Um Ohren und Schläfen schwirrten die Fäuste,
unter hart sitzenden Hieben krachten die Knochen der Kiefer.
Standhaft behauptete, niemals erschüttert, Entellos die Stellung;
nur durch Bewegen des Oberkörpers entging er den Schlägen,
wachsamen Blickes. Doch Dares – wie Feldherrn mit Heeresmacht stolze
Städte bestürmen, auch Festungen hoch im Gebirge belagern –
spähte an wechselnden Stellen nach Blößen und ließ sich, erfahren,
kunstgerecht keine entgehen, doch scheiterte stets mit dem Angriff.
Höher jetzt reckte Entellos sich aufwärts und holte mit seiner
Rechten weit aus. Doch der Gegner erspähte den Hieb, der von oben
drohte, und konnte ihm ausweichen noch mit blitzschneller Wendung.
Kraftvoll ins Leere nur sauste die Faust des Alten, und selber
stürzte er, mitgerissen vom Hiebe, wuchtig zu Boden.
Ebenso stürzt zuweilen vom Erymanthos, vom großen
Ida auch, eine schon hohle Fichte, entwurzelt, zur Tiefe.
Voller Erregung sprangen Sizilier und Teukrer von ihren
[253] Plätzen, und himmelwärts hallten die Schreie. Akestes als erster
half voll Mitleid dem Altersgenossen und Freund auf die Beine.
Weder gehemmt noch erschreckt durch den Sturz begab sich der Tapfre
eifriger noch zurück in den Kampf und steigerte seine
Kräfte im Zorn. Ihn entflammten Ehrgefühl und das Bewußtsein
eigener Leistung. Wild jagte er Dares über den Kampfplatz,
unaufhaltsam, und deckte ihn ein mit der Rechten wie Linken,
gönnte kein Ausruhen ihm und kein Rasten. Wie hoch auf den Dächern
Hagelschlag trommelt, so scheuchte der Held mit ununterbrochen
hämmernden Hieben beider Fäuste den Gegner im Kreise.
Da ließ Vater Aeneas den Ingrimm nicht weiter sich steigern,
ließ den Entellos in seiner Erbitterung weiter nicht wüten,
sondern machte dem Kampfe ein Ende, entzog den erschöpften
Dares dem Gegner und tröstete ihn mit versöhnlichen Worten:
»Unglückverfolgter, du bist wohl vom Wahnsinn geschlagen! Die Gottheit –
spürst du das nicht? – verlieh dem andern die Kräfte zum Siegen.
Weiche dem göttlichen Wirken!« Sein Zuspruch bewirkte den Abbruch.
Treulich besorgte Gefährten brachten den Dares zur Flotte.
Mühsam nur taumelte er, ihm schwankte bedenklich der Schädel,
mit dem geronnenen Blute erbrach er zerschlagene Zähne.
Freunde auch nahmen, nach Aufruf, das Schwert in Empfang und den Schutzhelm,
mußten Entellos die Palme des Siegs und den Stier überlassen.
Siegesbewußtsein und Stolz, auf den Stier beseelten den Alten.
»Sprößling der Göttin, ihr Teukrer auch«, rief er, »kommt zur Erkenntnis,
was für gewaltige Kräfte ich früher besaß, in der Jugend,
welchem Tode ihr auch den Dares hilfreich entrisset!«
Damit trat er ganz dicht vor den Schädel des Stieres, der reglos
dastand als Kampfpreis, und holte weit aus mit der Rechten. Fast senkrecht
[254] hieb er den Faustriemen wuchtig zwischen die Hörner des Tieres,
brach mit dem Schlage, das Hirn auch zerschmetternd, den Knochen. Zu Boden
sackte der Stier und streckte die Glieder, verendete zuckend.
Über ihm rief der Alte in tiefer Bewegung: »Dir, Eryx,
opfre ich lieber dies Leben als jenes des Dares. Und hiermit
gebe ich dir den Caestus und meine Fertigkeit wieder!«
Anschließend rief Aeneas zum Wettkampf der schwirrenden Pfeile
jeden, der teilnehmen wollte, bestimmte die Preise und stellte
dann mit gewaltigen Armen den Mastbaum vom Schiff des Serestos
aufrecht. Er hatte ans Holz mit einem Seilende eine
Taube gebunden und ließ am ragenden Stamme sie flattern,
Ziel für den Schützen. Man strömte zusammen, sie warfen in einen
Schutzhelm die Lose. Bei tosendem Beifall ergab sich der erste
Schuß für den Spößling des Hýrtakos, für Hippokóon. Ihm folgte
Mnestheus, der eben den Wettkampf zu Schiffe als Sieger bestanden
hatte, geschmückt mit dem Kranz noch aus grünenden Zweigen des Ölbaums.
Held Eurytion wurde der dritte – dein Bruder, berühmter
Pandaros, der du, beauftragt, den Waffenstillstand zu brechen,
einst dein Geschoß als erster unter die Griechen entsandtest.
Unten im Helme lag als letztes das Los des Akestes,
der sich, betagt schon, zu messen wagte mit jungen Rivalen.
Eifrig krümmten die Schützen die Bogen im Einsatz der starken
Arme, ein jeder für sich, und entnahmen den Köchern die Pfeile.
Unter dem Himmel durchschnitt, geschnellt von der summenden Sehne,
sausend der Pfeil des Hyrtakossohnes als erster die leichten
Lüfte. Er traf auf das Holz und bohrte sich hoch in den Mastbaum.
Zitternd schwankte der Stamm, und die Taube, jählings erschrocken,
schlug mit den Flügeln vor Angst. Der Beifallssturm donnerte weithin.
Dann ging Mnestheus mit kraftvoll gespanntem Bogen in Stellung;
sorgfältig zielend wies er dem Pfeil die Richtung zur Höhe.
[255] Aber den Vogel selber zu treffen, das sollte dem Armen
doch nicht gelingen. Das kräftig verknotete Tau nur zerschoß er,
das um die Füße der Taube sich schlang und am Pfahle sie festhielt.
Hoch in die Lüfte, zum düstren Gewölk entschwirrte der Vogel.
Doch Eurytion, schon längst den gespannten Bogen im Anschlag,
richtete schnell ein Gebet an den Bruder, faßte die Taube
scharf ins Visier – froh regte sie hoch am Himmel die Schwingen –,
schoß und durchbohrte sie, ehe sie noch die Wolken erreichte.
Leblos stürzte sie, ließ ihr Leben im Reich der Gestirne,
brachte im Sturze den Pfeil, der sie tötete, wieder zur Erde.
Ohne die Aussicht auf Sieg blieb nunmehr Akestes noch übrig.
Trotzdem entsandte er sein Geschoß empor in die Lüfte,
zeigte als Meister sein Können allein schon am Singen des Bogens.
Aber da zeigte sich plötzlich den Blicken ein Wunder von schwerer
Zukunftsbedeutung; das lehrten gewichtig die Folgen: Die Seher
sprachen von einer schrecklichen späten Erfüllung des Omens.
Fing doch der Pfeil, in den leichten Wolken bereits, an zu brennen,
zeichnete deutlich den Weg mit sprühenden Flammen und löste
schließlich sich auf in die Lüfte, wie oftmals am Himmelsgewölbe
Sterne sich trennen, die Flugbahn mit feurigem Schweif dann durchziehen.
Staunend und voller Bestürzung standen Sizilier und Teukrer,
sandten Gebete empor zu den Göttern. Der tapfre Aeneas
lehnte das Zeichen nicht ab, nein, umarmte Akestes, der gleichfalls
freudig erregt war, bot ihm reichlich Geschenke und sagte:
»Nimm es nur, Vater! Dir wollte der mächtige Herr des Olympus
außergewöhnliche Ehren erweisen mit dieser Erscheinung.
Hier das Geschenk des greisen Anchises soll dir gehören,
dieser so fein ziselierte Mischkrug, den Kisseus, der Thraker,
einst als vorzügliche Auszeichnung meinem Vater verehrte,
als ein Erinnerungsstück an ihn selbst und als Zeugnis der Liebe!«
Darauf umkränzte er ihm die Schläfen mit grünendem Lorbeer,
würdigte ihn als ersten Sieger vor sämtlichen andern.
Held Eurytion war auf den Vorzug nicht neidisch in seiner
Biederkeit, hatte auch er doch den Vogel vom Himmel geschossen.
[256] Mnestheus erhielt als dritter den Preis – die Fesseln der Taube
schoß er entzwei –, Hippokoon als letzter; er traf nur den Mastbaum.
Doch vor dem Abschluß der Kampfspiele rief der Vater Aeneas
noch den Begleiter und treuen Wärter des jungen Iulus,
den Epytiden, und erteilte ihm folgenden Auftrag:
»Gehe und sag dem Ascanius: Hat er die Knabenschwadronen
aufgestellt schon und alles zum Reiterspiel fertig gerüstet,
soll er die Scharen zu Ehren des Großvaters vorführen, selber
sich in dem Waffenschmuck zeigen!« Das dichte Gedränge des Volkes
hieß er die Kampfbahn räumen, um freies Gelände zu schaffen.
Unter den Augen der Eltern ritten jetzt, gleichmäßig stattlich,
strahlend die Jungen heran auf gezäumten Rossen. Voll Staunen
grüßten die Männer Siziliens und Trojas die Reiterschar jubelnd.
Laubkränze, frisch geschnitten, zierten, wie üblich, die Haare.
Jeweils ein Lanzenpaar, eisern die Spitzen, Kornelholz die Schäfte,
führten die Reiter, ein Teil auf den Schultern auch glänzende Köcher.
Halsketten, Flechtwerk aus Goldringen, schmiegten vom Nacken zur Brust sich.
Drei Abteilungen ritten im ganzen, vor jeder ein Führer;
jedem folgten zwölf Jungen, jeweils zu sechst in zwei Gliedern,
prächtig zu schauen; zwei Rittmeister wachten bei jeder Abteilung.
Führer der ersten, umjauchzt von den Jungen, war der noch kleine
Priamos, der nach dem Großvater hieß, dein Sprößling, Polites,
ruhmreich als späterer Mehrer Italiens; auf schwarzweiß geschecktem
thrakischem Rosse saß er; weiß glänzten die Fesseln des Tieres,
ebenso weiß auch glänzte auf stolzem Kopfe die Blesse.
Führer der zweiten war Atys, der Ahn der latinischen Atier,
gleichfalls noch jung, in herzlicher Freundschaft mit Iulus verbunden.
Führer der dritten Iulus, so stattlich wie keiner der andern;
auf dem Sidonierroß ritt er, das ihm die herrliche Dido
schenkte, Erinnerungsstück an sie selber und Zeugnis der Liebe.
[257] Auf sizilischen Rossen, der Zucht des alten Akestes,
saßen die übrigen Jungen.
Beifall empfing die noch schüchternen Reiter. Die Teukrer erblickten
sie mit besonderer Freude, erkannten in ihnen die Eltern.
Froh und ermutigt ritten die Jungen durch die Versammlung
unter den Augen der Ihren. Dann gab, wie vereinbart, von weitem
der Epytide durch Ruf und Peitschenknall laut sein Kommando.
Paarweise sprengten die Sechsertrupps gleich in jeder Abteilung
jäh auseinander, schwenkten darauf, nach zweitem Kommando,
wiederum ein, die Waffen gegeneinander erhoben,
preschten zum Angriffe vor und wandten sich wechselnd zum Rückzug,
Gegner auf Abstand, verflochten in Reihen Kreise mit Kreisen,
tummelten eifrig im Scheingefecht sich mit geschwungenen Waffen,
zeigten bald fliehend die Rücken, boten bald, wirbelnd die Spieße,
wieder die Stirn, vereinten sich bald auch im Stillstand der Waffen.
Wie nach der Sage das Labyrinth auf dem ragenden Kreta
einstmals nur Gänge durch fensterloses Gemäuer und tausend
Strecken voll zweifelerregender Tücke enthielt, wo der Irrweg
keinerlei Orientierung und keinerlei Rückkehr an festen
Punkten ermöglichte: Ebenso schlangen die jungen Trojaner
täuschend den Reigen im wechselnden Spiel von Rückzug und Angriff,
wie die Delphine, die spielerisch schwimmend die salzigen Fluten
des karpathischen wie des libyschen Meeres durchschneiden.
Kampfspiele dieser Art erneuerte erstmals Ascanius,
als er den Mauerring zog um Alba Longa, und lehrte
auch die Latiner der Vorzeit, sie würdig als Fest zu begehen,
wie er als Knabe sie selber beging mit den troischen Jungen.
Die Albaner gaben den Ihren sie weiter. Das große
Rom übernahm sie von ihnen und pflegte das Erbe der Ahnen.
»Troja« nennt man das Reiterspiel, »troisch« den Festzug der Knaben.
Heute noch gelten die Spiele dem heiligen Vater Anchises.
[258] Nunmehr erwies sich Fortuna das erste Mal wieder als treulos.
Während am Grabmal festlich die Spiele durchgeführt wurden,
schickte Juno, die Tochter Saturns, vom Himmel die Iris
zu den trojanischen Schiffen und ließ vor dem Winde sie fliegen;
Tückisches plante sie, litt an dem alten Kummer noch immer.
Iris durchflog in Eile den vielfarbig leuchtenden Bogen.
Ohne gesehen zu werden, erreichte geschwind sie die Erde,
sah den gewaltigen Menschenauflauf, flog an der Küste
weiter, erblickte die Häfen verödet, die Flotte verlassen.
Ferne am einsamen Strande beweinten die troischen Frauen
schmerzlich den Tod des Anchises und blickten, die Augen voll Tränen,
über das endlose Meer. »Auf uns, die Ermatteten, wartet
soviel an Untiefen noch und an Salzwasser«, klagten sie alle.
»Heimat erflehen wir, haben jetzt satt die Plagen der Seefahrt!«
Unter sie mischte sich Iris und legte, befähigt zu bösen
Taten, Gestalt und Kleidung der Göttin von sich. Verwandelt
in die betagte Frau des Doryklos vom Tmaros, Beróë,
die durch ihr edles Geschlecht und tüchtige Söhne bekannt war,
trat sie sogleich in den Kreis der klagenden troischen Mütter.
»Elende«, rief sie, »die euch im Kriege die griechischen Fäuste
nicht in den Tod vor den Mauern der Heimatstadt schleiften! Du armes
Volk – für welchen Untergang läßt euch Fortuna noch übrig?
Seit der Zerstörung Trojas vergeht schon der siebente Sommer,
da wir Länder und Meere, so viele unwirtliche Klippen,
unwetterdrohende Sterne bewältigen müssen auf unsrer
Irrfahrt in wogender See zu dem Ziel, das uns hinhält, Italien!
Unsere Brüder wohnen am Eryx hier, Gastfreund Akestes –
niemand verwehrt es uns, Mauern und Häuser für uns zu errichten!
Vaterland – ihr auch, Penaten, umsonst vor den Feinden gerettet:
Soll es kein neues befestigtes Troja mehr geben? Und sehe
niemals ich Hektors Ströme, Xanthos, Simoeis auch, wieder?
Auf denn, gemeinsam laßt uns die Unglücksschiffe verbrennen!
Sah ich im Traume doch, wie die Prophetin Kassandra mir Fackeln
reichte, hellflammende: ›Hierzulande suchet euch Troja‹,
[259] mahnte sie, ›hier harrt eurer die Heimat!‹ Wir müssen gleich handeln,
dürfen bei solchem Wunder nicht zaudern. Da, vier Altäre,
Weihstatt Neptuns: Der Gott ermutigt uns, gibt uns die Fackeln!«
Damit entraffte sofort sie ein brennendes Scheit den Altären,
holte weit aus mit der Rechten und schwang die feindliche Flamme,
ließ sie dann fliegen. Staunen und tiefe Bestürzung durchzuckte
Ilions Frauen, und eine, an Jahren die älteste, Pyrgo,
Amme so zahlreicher Priamossöhne im Schlosse zu Troja,
warnte: »Ihr habt nicht Beroë vor Augen, die Frau des Doryklos,
keine Trojanerin, keine, ihr Mütter! Betrachtet die Zeichen
göttlicher Schönheit, die feurigen Blicke, das stolze Gebaren,
gebt auf das Antlitz Obacht, die klangvolle Stimme, das Schreiten!
Selber verließ ich Beroë soeben. Unwillig war sie,
weil sie, erkrankt, der Feier als einzige fernbleiben mußte,
nicht dem Anchises die schuldigen Ehren darbieten konnte.«
Derart warnte sie.
Aber die Mütter, zunächst noch unschlüssig, musterten scheelen
Blickes die Schiffe und schwankten zwischen der leidigen Sehnsucht,
hier zu verbleiben, und jener lockenden Herrschaftsverheißung.
Plötzlich erhob sich die Göttin mit ihren Schwingen zum Himmel,
flog auf dem riesigen Bogen unter dem Wolkendunst aufwärts.
Nunmehr erst recht wie vom Donner gerührt durch das Wunder, verblendet,
schrien sie auf, sie rissen sich Brandsätze teils aus den Häusern,
teils von Altären, schleuderten Laub auch und Zweige und Fackeln
wild in die Schiffe. Und hemmungslos wütend, flammte Vulcanus
über die Balken, die Ruder, bemalte Tannenholzsteven.
Nachricht vom Brande der Schiffe brachte Eumelos zum Grabmal
des Anchises und unter die Zuschauermenge. Man konnte
auch schon von dort die düsteren Qualmwolken aufsteigen sehen.
Ohne zu säumen, sprengte Ascanius, wie er soeben
fröhlich den Reiterkampf führte, so eifrig als erster zum Lager.
[260] wo schon Getümmel tobte, gehorchte nicht mehr den bestürzten
Rittmeistern. »Was für ein Wahnsinn herrscht hier, was wollt ihr bezwecken,
elende Troerinnen?« So rief er. »Nicht Feinde verbrennt ihr,
auch nicht ein griechisches Lager, nein, eure eigene Hoffnung.
Seht mich, ich bin doch Ascanius!« Aufgeregt warf er den Frauen
vor die Füße den Helm, mit dem er im Reiterspiel kämpfte.
Schleunigst erschien auch Aeneas, mit ihm die Scharen der Teukrer.
Aber die Frauen stoben am Strande vor Furcht auseinander,
rannten zum Walde hin, suchten, wo möglich, in felsigen Höhlen
sich ein Versteck. Sie bereuten ihr Handeln, scheuten die Sonne,
kannten die Ihrigen wieder, verwarfen den Einfluß der Juno.
Aber deswegen verloren die züngelnden Flammen nicht ihre
hemmungslos rasende Kraft. Im feuchten Eichenholz steckte
Werg und entsandte schwelend den Rauch, und über den Schiffskiel
schlich sich der Qualm, bald erlag der gesamte Schiffsrumpf dem Unheil.
Kraftvoller Einsatz von Helden und Ströme von Wasser erreichten
gar nichts. Da riß sich der fromme Aeneas die Kleidung vom Leibe,
reckte die Hände empor und erflehte die Hilfe der Götter:
»Sind dir, allmächtiger Jupiter, noch nicht alle Trojaner
bitter verhaßt und nimmt sich die uralte Gnade der Götter
irdischer Mühsale an, so verschone, Vater, die Schiffe
jetzt vor den Flammen, entreiß die ärmliche Habe der Teukrer
hilfreich dem Untergang – oder vernichte mit feindlichem Blitzstrahl,
bin ich es schuldig, den Rest, begrabe ihn hier mit der Rechten!«
Kaum verhallten die Worte, da setzte in maßlosem Wüten
düster ein Unwetter ein. Der Regen rauschte, vom Donner
zitterten Berge und Ebenen. Wassermassen entstürzten
wirbelnd dem Himmel, tiefschwarz, gepeitscht von ununterbrochnen
Böen. Voll liefen die Schiffe, schon trieften die halb nur verbrannten
[261] Planken, bis jegliches Qualmen erlosch und die Flotte im ganzen,
unter Verlust von vier Fahrzeugen, vor dem Verderben bewahrt blieb.
Aber der Vater Aeneas, erschüttert vom Schlage des Unheils,
sah sich von widerspruchsvollen Erwägungen qualvoll zerrissen.
Sollte er, untreu dem Auftrag des Schicksals, hier auf Sizilien
Wohnsitze gründen – sollte er weiter Italien suchen?
Nautes, betagt schon, als einziger von der tritonischen Pallas
einst unterwiesen und glänzend geschult in vielerlei Künsten –
sie erteilte ihm Auskunft über die Folgen des schweren
Zornes der Götter oder die Forderungen des Schicksals –,
Nautes gedachte Aeneas zu trösten mit folgenden Worten:
»Folgen wir, Sprößling der Göttin, dem Schicksal, vorwärts wie rückwärts!
Jedes Geschick, wie immer es sei, unterliegt durch – Ertragen!
Dir zu Gebote steht ein Dardaner, göttlichen Ursprungs,
Held Akestes: Gewinn ihn zum Helfer im Rat, er begrüßt es;
ihm auch vertraue die Mannschaften an der vernichteten Schiffe,
jene dazu, die vor deinen gewaltigen Taten sich scheuen!
Die überalterten Männer und die von der Meerfahrt erschöpften
Mütter, die Kranken und alle, die vor den Gefahren sich fürchten,
sondere aus: Die Ermatteten sollen hier Mauern errichten,
mögen die Stadt – erlaube es ihnen! – Akesta dann nennen.«
Tief in Erregung versetzt durch die Worte des älteren Freundes,
fühlte Aeneas erst recht sich gestürzt in nagende Zweifel.
Nacht schon umfing mit dem Doppelgespann verdüsternd den Himmel.
Plötzlich erschien ihm, vom Himmel herab, ein Abbild des toten
Vaters Anchises und ließ sich mit folgender Mahnung vernehmen:
»Lieber Sohn, der du teurer mir warst als das Leben, solange
Leben mir blühte – mein Sohn, schwer geprüft durch den Untergang Trojas:
Jupiter schickt mich zu dir, er löschte den Brand bei den Schiffen,
brachte jetzt endlich vom Himmel herab voll Erbarmen dir Hilfe.
Folge dem ganz vortrefflichen Ratschlag, den der betagte
Nautes erteilte! Nur auserlesene Mannschaften führe
[262] bis nach Italien, die Tapfersten; denn auf latinischem Boden
mußt du ein hartes und rauhes Volk überwinden. Doch vorher
komm noch in Plutos Unterweltsreich, durch avernische Tiefe
suche mich auf, mein Sohn. Ich hause ja nicht in dem schlimmen
Tartarus, bei den entsetzlichen Schatten, ich darf im Elysium
wohnen, im Kreis der Gerechten. Nach reichlichem Opfern des Blutes
schwarzer Tiere geleitet dorthin dich die keusche Sibylle:
Über dein ganzes Geschlecht und die künftige Wohnstatt erhältst du
Auskunft. Leb wohl! Die taufrische Nacht überwand schon die halbe
Strecke, der grausame Morgen umweht mich mit schnaubenden Rossen.«
Damit entschwand er, löste wie Rauch sich auf in die Lüfte.
»Wohin enteilst du?« rief Aeneas. »Wem willst du entfliehen?
Oder wer hindert dich etwa, von mir dich umarmen zu lassen?«
Gleichzeitig weckte er aus der Asche die schlummernde Flamme,
ehrte den Lar von Pergamon wie auch die Weihstatt der greisen
Vesta in dankbarer Demut mit Mehl und dampfendem Weihrauch.
Darauf berief er die Freunde sogleich, vor allen Akestes,
teilte den Auftrag Jupiters ihnen, die Weisung des teuren
Vaters und seinen eigenen festen Entschluß mit. Und ohne
Einwände stimmte man zu, auch Akestes zeigte sich willig.
Man überwies der neuen Siedlung die Mütter und jeden,
der es noch wünschte, der keinerlei Ehrgeiz und Ruhmstreben hegte.
Aber die andern erneuerten auf den Schiffen die Bänke,
tauschten verbrannte Balken aus, rüsteten Ruder und Taue,
wenige nur nach der Zahl, doch befähigt und willig zum Kampfe.
Gleichzeitig zog Aeneas die Grenzen der Neustadt mit einem
Pflug und verteilte durch Los die Baustellen; Troja und Ilion
sollten sie werden. Akestes, als Troer, begrüßte die Gründung,
setzte Gerichtszeiten fest sowie des Senates Befugnis.
Hoch auf dem Eryx, nahe den Sternen, plante man einen
Tempel für Venus Idalia, schuf auch ein Priesteramt, legte
weithin ein heiliges Wäldchen noch an für das Grab des Anchises.
[263] Festlich geschmaust schon hatte das Volk neun Tage und Opfer
reichlich gebracht. Da glätteten milde Winde die Fluten,
ununterbrochen wehte der Südwind und mahnte zur Ausfahrt.
Tränen des Abschieds flossen längs der gebogenen Küste,
innig umarmte man sich und konnte, zur Nacht wie bei Tage,
schwerlich sich trennen. Sogar die Mütter, die noch vor kurzem
schrecklich den Anblick des Meers, unerträglich den Namen schon fanden,
wollten mit absegeln, alle Strapazen der Irrfahrt ertragen.
Gütig tröstete sie Aeneas mit freundlichen Worten,
gab sie dem Stammesverwandten Akestes, selbst weinend, in Obhut.
Darauf ließ er drei Kälber für Eryx, ein Lamm für die Stürme
opfern, die Schiffe dann hintereinander das Ankertau lösen.
Selber, das Haupt umkränzt mit beschnittenen Zweigen des Ölbaums,
stand er, weit sichtbar, am Bug, in den Händen die Schale, und weihte
edlere Opfertierteile und lautere Weine der Salzflut.
Kräftig frischte der Rückenwind auf und trieb sie von dannen,
wetteifernd peitschte die Mannschaft das Meer und durchfurchte das Wasser.
Aber inzwischen wandte sich Venus, von Sorgen gepeinigt,
bittflehend an Neptun und begann eindringlich zu klagen:
»Junos erbitterter Zorn und niemals zu stillende Rachgier
nötigen mich, Neptunus, demütig Bitten zu sprechen.
Weder die Zeit versöhnt sie noch fromme Erfüllung der Pflichten,
keine Weisung des Gatten, kein Schicksalsspruch bringt sie zur Ruhe.
Ihrem abscheulichen Haß genügt es noch nicht, aus der Mitte
unseres Volkes Troja getilgt und aufs schlimmste mit allen
Plagen getroffen zu haben; sie sucht auch die Reste, die Asche,
ja, die Gebeine noch heim! Sie weiß wohl die Gründe für solche
rasende Wut. Erlebtest du selbst doch, wie sie vor kurzem
plötzlich das Libysche Meer in Aufruhr versetzte: Die Wogen
türmte sie himmelwärts – freilich umsonst! – mit des Aiolos Hilfe,
wagte es dreist in deinem Bereich!
[264] Aufgehetzt hat sie verbrecherisch auch die troischen Mütter,
hieß sie die Schiffe, wie schändlich!, verbrennen, erzwang durch den Schaden,
daß in der Fremde Frauen und Männer zurückbleiben mußten!
Lasse in Gnaden die übrigen, bitte, über die Fluten
sicher dahinsegeln und den laurentischen Thybris erreichen,
ist mir dies Flehen erlaubt und gewähren die Parzen dort Wohnrecht!«
Antwort erteilte der Sproß des Saturnus, der Zwingherr des Meeres:
»Du, Kythereia, du kannst auf mein Reich mit Sicherheit bauen,
stammst du doch selber aus ihm. Ich verdiente es auch; denn ich zähmte
oftmals bereits die rasende Wut des Himmels und Meeres.
Auch auf dem Lande – ich rufe Simoeis und Xanthos zu Zeugen –
kümmerte ich mich um deinen Aeneas: Als damals Achilleus
wild die erschöpften Scharen der Troer zur Stadtmauer jagte,
dort sie zu Tausenden tötete, als dann die Ströme, von Leichen
völlig verstopft, laut stöhnten und Xanthos den Weg nicht mehr finden,
nicht in das Meer sich ergießen konnte, da stellte Aeneas
sich dem Peliden – an Götterschutz ihm und an Kraft unterlegen –,
und ich entführte in Wolken den Helden, obwohl ich die Mauern
umstürzen wollte, die ich den verlogenen Troern einst baute!
Ebenso bin ich auch heute ihm gnädig. Du brauchst nichts zu fürchten!
Sicher gelangt er, nach deinem Wunsch, in avernische Häfen.
Einen nur wird er verlieren, du magst in den Wogen ihn suchen,
einen als Opfer für viele!«
Damit beruhigte er die Göttin und stimmte sie heiter,
schirrte dann gleich die Rosse ins Goldjoch, das schaumübersprühte
Zaumzeug auch zwang er den feurigen auf, ließ ihnen die Zügel
schießen darauf. Leicht streifte im Flug der bläuliche Wagen
über das Meer. Schon duckte die Flut sich, glatt wurden die Wogen
[265] unter der dröhnenden Achse, vom Himmel stoben die Wolken.
Viele Begleiter umschwammen ihn, Ungeheuer des Meeres –
das schon betagte Gefolge des Glaukos – Palaimon, der Sprößling
Inos – geschwinde Tritonen – die mächtige Heerschar des Phorkos.
Links von ihm schwärmten die Nymphen, Melite, Panópeia, Thetis,
weiter Nisaia und Speio, Thalia dann und Kymodóke.
Nunmehr empfand Aeneas, anstelle der nagenden Sorge,
freudige Zuversicht. Aufrichten ließ er sämtliche Masten,
schneller als üblich, und an den Rahen die Segel entfalten.
Alle zusammen lavierten gleichzeitig, lösten mit halbem
Winde bald rechts und bald links das Leinen, gemeinsam auch drehten
alle die Enden der Rahen. Sie fuhren vor günstiger Brise.
Vorn an der Spitze lag Palinuros, er führte die dichte
Reihe der Schiffe, ihm sollten die übrigen gleichmäßig folgen.
Fast schon die Hälfte der himmlischen Strecke war von der feuchten
Nacht überwunden. In friedlicher Ruhe streckte die Mannschaft,
unter den Rudern, auf ihren harten Bänken die Glieder,
als von den Sternen des Äthers der flüchtige Schlummer herabglitt.
Quer durch die Dunkelheit flog er zu dir, Palinuros, und brachte,
ohne daß Schuld dich belastete, dir ein tödliches Traumbild.
Hoch auf dem Hinterdeck ließ die Gottheit sich nieder, dem Phorbas
äußerlich gleichend, und sprach: »Du Sproß des Iasios, höre,
mein Palinuros! Die Fluten tragen allein jetzt die Flotte.
Gleichmäßig atmet die Brise; die Stunde gehört der Erholung.
Lehne dein Haupt an, entziehe die müden Augen der Plage!
Selber ein Weilchen vertreten möchte ich dich bei der Arbeit.«
Mühsam nur hielt Palinuros die Augen noch offen und sagte:
Ȇber die scheinbar so friedliche Salzflut sollte ich keine
Kenntnis besitzen, sollte dem Ungeheuer vertrauen,
sollte tatsächlich dem launischen Lufthauch einen Aeneas
preisgeben, wo mich ein heiterer Himmel so oft schon enttäuschte?«
[266] Derart sprach er und ließ den Steuergriff nicht aus den Händen,
die ihn umschlossen, blickte auch dauernd empor zu den Sternen.
Aber da schwenkte die Gottheit ihm über die Schläfen hin einen
Zweig, der, vom Tau der Lethe benetzt, mit stygischem Zauber
Schlummer bewirkte, und schloß ihm, trotz Sträubens, die tränenden Augen.
Jäh überwand ihn die erste Ruhe, die Glieder erschlafften.
Ohne zu zögern, packte der Gott ihn und warf ihn ins Wasser.
Während des Sturzes riß Palinuros, ans Steuer geklammert,
auch noch ein Heckteil mit sich, erwachte und rief, doch vergeblich,
mehrfach die Freunde. Und fern in die Lüfte entschwebte die Gottheit.
Trotzdem verfolgte die Flotte den Kurs in Stetigkeit weiter,
ohne Gefährdung, gemäß dem Versprechen des Vaters Neptunus,
näherte schon sich dem Riff der Sirenen. Die Felsinsel drohte
einstmals den Schiffern, am Strande bleichten viele Gebeine.
Ununterbrochen dröhnten die Klippen vom Anprall der Brandung.
Da erst bemerkte Aeneas, daß schwankend das Fahrzeug dahintrieb,
führerlos, und übernahm für die Nachtstunden selber die Lenkung,
bitterlich klagend, aufs tiefste erschüttert vom Unglück des Freundes:
»Zu sehr verließest du dich auf das ruhige Wetter; an fremdem
Strand, Palinuros, wirst du jetzt liegen, ohne Bestattung.«
[267]

Sechster Gesang

Sechster Gesang.

Schmerzlich klagte er, weinend, und bot die Segel dem Winde.
An das Euböergestade von Cumae trieben sie endlich.
Seewärts kehrte man gleich die Buge; dann krallten die Anker
fest sich im Grunde, schon säumten geschweifte Steven die Küste.
Glühend vor Eifer, sprangen scharenweise die Männer
an das hesperische Ufer, entlockten geäderten Kieseln
Funken sogleich, entrafften dem Wald, der Heimat des Wildes,
Kleinholz und suchten und fanden ergiebige Quellen. Aeneas
aber, der Pflicht sich bewußt, begab sich zum Tempel, dem hohen
Sitze Apollos, nicht allzu entfernt, und zur riesigen Grotte,
wo die Sibylle einsam und schauerlich wohnte. Ihr hauchte
Phöbus prophetische Geisteskraft ein und erschloß ihr die Zukunft.
Bald erreichten sie Trivias Hain und das goldene Bauwerk.
Dädalus hatte, erzählt man, zur Flucht aus dem Reiche des Minos
einst es gewagt, mit gefiederten Schwingen zum Himmel zu steigen,
schwamm auf der ungewöhnlichen Bahn zu den eisigen Bären.
Über der Burg von Chalkis beschloß er die luftige Reise.
Hier, wo zuerst er wieder den Boden betrat, hier verehrte
er dir die Schwingen, Phöbus, und baute den riesigen Tempel.
Dargestellt war auf dem Tor, wie Andrógeos starb, wie zu bittrer
Sühne Athen alljährlich sieben Knaben als Opfer
ausliefern mußte; noch stand, nach dem Ziehen der Lose, die Urne.
Doch gegenüber erhob sich das gnosische Land aus den Fluten,
gab sich Pasíphaë preis dem Stiere zu grausiger Wollust,
stand Minotaurus, das Doppelgeschöpf mit dem menschlichen Körper,
aber dem Stierhaupt, ein Zeugnis der unnatürlichen Liebe,
bot sich der mühsam geschaffene Kerker, der Irrgarten, ohne
Ausweg; doch Dädalus, voller Erbarmen für die verliebte
Tochter des Königs, brach das Geheimnis des Bauwerks und lenkte
mittels des Fadens die tastenden Schritte. Du, Ikarus, hättest
[268] ebenfalls Platz auf dem Kunstwerk gefunden, hätte der Kummer
dies nicht verhindert; zweimal versuchte der Vater den Absturz
kunstreich in Gold zu gestalten, doch zweimal versagten die Hände.
Näher das Tor zu betrachten, verbot die Ankunft des vorher
abgesandten Achates sowie der Deíphobe, einer
Priesterin für Apoll und Diana. Sie sprach zu Aeneas:
»Schwerlich erlaubt dir die Stunde, dies Kunstwerk genau zu beschauen.
Opfre aus einer vom Joch nicht berührten Herde jetzt lieber
sieben Stiere und sieben getreu der Sitte erwählte
Schafe!« Der Weisung gehorchend, vollzogen die Teukrer das Opfer.
Anschließend rief die Priesterin sie in den ragenden Tempel.
Ausgehöhlt ist der euböische Felsen zu mächtiger Grotte.
Einhundert Zugänge jeweils und Ausgänge klaffen geräumig,
hundertfach dröhnt aus den Schlünden, was die Sibylle verkündet.
Als sie den Einstieg erreichten, begann die Jungfrau zu rufen:
»Fleht jetzt um Auskunft! Da, sehet die Gottheit!« Während sie diese
Worte am Eingang hervorstieß, veränderte jäh sich ihr Antlitz,
wurde sie bleich, begannen die Haare zu flattern. Sie keuchte,
wild überfiel der prophetische Rausch sie, größer und höher
wuchs die Gestalt, sie sprach nicht mit menschlicher Stimme mehr, spürte
göttlichen Hauch schon, ganz nahe. »Noch immer, Trojaner Aeneas,
betest du nicht? Noch immer nicht? Vorher verweigert dir diese
schon von der Gottheit in Bann geschlagene Stätte die Auskunft!«
Eisiger Schauer durchzuckte die schon in Gefahren gestählten
Teukrer, aus innerstem Herzen begann der König zu beten:
»Phöbus, schon immer erbarmtest du dich der Drangsale Trojas,
hast den dardanischen Pfeil vom Bogen des Paris erfolgreich
gegen Achilles gelenkt. So zahlreiche Meere, im Umkreis
riesiger Länder, durchfuhr ich, gelenkt von dir, zum entlegnen
[269] Volk der Massyler, den Landstrichen auch zur Seite der Syrten:
Endlich erreichten wir jetzt die stets weichende Küste Italiens.
Wenn uns doch Trojas trauriges Schicksal bis hierher nur folgte!
Ihr auch solltet, zu Recht, das Volk von Pergamon schonen,
Götter und Göttinnen, die ihr Troja einst haßtet mit seinem
glänzenden Ruhm! Du, heiligste Seherin, kennst ja die Zukunft:
Gönne – ich fordre nur eine vom Schicksal verheißene Herrschaft –,
gönne den Teukrern und ihren die Fremde durchirrenden Göttern,
die man aus Troja vertrieb, im latinischen Lande ein Wohnrecht!
Aufbauen werde ich dann für Apoll und Diana aus reinem
Marmor ein Heiligtum, stiften ein Fest auf den Namen des Phöbus.
Dich auch erwartet ein würdiger Tempel in unserem Reiche.
Will ich doch deine Orakel, Geheimnisse, die du je meinem
Volke enthülltest, bewahren und dir, du Gütige, Priester
wählen und weihen. Nur schreibe nicht, bitte, die Sprüche auf lose
Blätter; sie sollen nicht, Spielzeug dem raffenden Wind, durcheinander
wirbeln! Erteil sie uns mündlich!« Damit beschloß er sein Beten.
Doch die Prophetin, noch nicht vom Geiste des Phöbus durchdrungen,
wehrte, wie wild, sich im Innern der Grotte, versuchte des Gottes
Bürde vom Leib sich zu schütteln. Er zäumte indessen nur schärfer
ihren begeisterten Mund und machte durch Druck sie, trotz ihres
Sträubens, gefügig. Die hundert gewaltigen Schlünde der Höhle
taten von selber sich auf und ließen den Spruch durch die Lüfte
dröhnen: »Du, der die Gefahren des Meeres du endlich bestandest –
schwerere warten zu Lande auf dich! –, du, höre: Die Troer
kommen ins Land von Lavinium, daran zweifle nicht länger –
aber sie werden die Ankunft bereuen. Entsetzliche Kriege
sehe ich toben, den Thybris vom Blut der Gefallenen schäumen.
Nicht den Simoeis und Xanthos, auch nicht ein dorisches Lager
wirst du vermissen; in Latium lebt schon ein zweiter Achilles,
er auch geboren von einer Göttin. Und Juno als Feindin
peinigt die Teukrer auch weiterhin, magst du in schwieriger Lage
alle nur möglichen Völker und Städte Italiens um Hilfe
[270] bitten. Und wiederum stürzt die Trojaner ins Unglück ein fremdes
Weib und eine mit ihr geschlossene Ehe!
Laß dich vom Unheil nicht werfen, nein, trotz ihm mit stärkerem Mute,
als es die äußere Lage erlaubt; den Weg zum Erfolge
bahnt dir, dich selbst überraschend, eine Griechengemeinde!«
Schauerlich rätselhaft gab die Sibylle von Cumae mit diesen
Worten die Auskunft und ließ die Wahrheit, freilich verdunkelt,
dumpf aus der Grotte erschallen. Am Zaum der Begeisterten zerrte
Phöbus und preßte ins Herz ihr die Sporen des Rausches. Allmählich
wich die Besessenheit, schließlich verstummte der Mund der Prophetin.
Darauf begann Aeneas: »Jungfrau, nicht eines der Leiden,
die du mir nanntest, trifft mich plötzlich und wider Erwarten.
Über sie alle ging ich mit mir schon gründlich zu Rate.
Eines erflehe ich noch: Hier soll sich der Zugang zum Reiche
Plutos befinden, der finstere Sumpf auch, der Acheronausfluß.
Laß vor die Augen meines geliebten Vaters mich treten,
zeige den Weg mir und öffne mir seine geheiligten Tore.
Quer durch die Flammen, durch dichten Geschoßhagel trug ich auf meinen
Schultern den Vater und rettete ihn aus den Scharen der Feinde.
Treulich bestand er mit mir die Fahrt auf sämtlichen Meeren,
trotzte den Schrecken der See und des Wetters, selber geschwächt schon,
leistete mehr, als die schwindenden Kräfte des Alters gestatten.
Er auch erteilte mir dringend die Weisung, bittflehend in deiner
Grotte dich aufzusuchen. Erbarme dich beider, des Sohnes
wie auch des Vaters, gütige Seherin! Alles vermagst du,
Hekate gab nicht umsonst den avernischen Wald dir in Obhut –
konnte tatsächlich einst Orpheus die Manen der Gattin vom Orkus
holen, der thrakischen Harfe vertrauend, dem Klingen der Saiten,
konnte auch Pollux durch Austausch des Todes den Bruder erlösen,
hin und zurück den Orkusweg schreiten. Brauche ich Theseus,
gar den Alkiden zu nennen? Auch ich hin Jupiters Enkel!«
[271] Derart flehte Aeneas und hielt die Hand am Altare.
Antwort erteilte die Seherin: »Troer, Sohn des Anchises,
Göttersproß, mühelos steigst du hinab zur avernischen Tiefe.
Nächte und Tage hindurch steht offen der Eingang zum düstren
Pluto – die Rückkehr allein, der Weg zu den Lüften des Himmels,
kostet beschwerliche Leistung. Nur wenige Söhne von Göttern
brachten sie fertig, entweder Lieblinge Jupiters oder
Helden, die feurige Tatkraft zum Himmel emportrug. Den Abstieg
schirmen rings Wälder, umfließt auch in finsterem Kreis der Kokytos.
Möchtest du aber mit derart glühender Leidenschaft zweimal
über die stygischen Seen fahren, zweimal den dunklen
Tartarus schauen und widernatürlich in Mühen dich stürzen,
nun, so vernimm, was du vorher zu tun hast. Sicher verborgen
wächst in schattiger Baumkrone, blattreich, zähstielig, ein Goldzweig,
heilig der Juno des Orkus. Ihn schützen Bäume von allen
Seiten, in finsterem Tale umschließt ihn das Dunkel des Waldes.
Niemandem ist es vergönnt, hinab in die Tiefe zu dringen,
ehe vom Baume den golden belaubten Zweig er sich pflückte.
Diesen bestimmte die schöne Prosérpina sich als geweihtes
Ehrengeschenk. Sobald man ihn pflückte, beginnt schon ein zweiter
Goldzweig zu wachsen, bedeckt sich genauso mit goldenen Blättern.
Gründlich durchspähe das Dickicht und pflück ihn, sobald du ihn fandest,
ordnungsgemäß mit der Hand: Er läßt sich mit Leichtigkeit brechen,
wenn dich das Schicksal ruft; denn andernfalls kannst du gewaltsam
niemals ihn abtrennen, auch nicht mit hartem Eisen ihn schneiden.
Außerdem starb – du erfuhrst es noch nicht – ein Mann aus dem Kreise
deiner Gefährten. Noch unbestattet, befleckt er die Flotte,
während du hier um Auskunft ersuchst an unserer Schwelle.
Schaffe sein Grab ihm an einem gebührenden Platze! Dann bringe
Opfervieh, schwarzes, es soll dich entsühnen, ehe du aufbrichst.
Dann erst erblickst du die stygischen Wälder, kein Lebender dürfte
[272] sonst sie betreten.« Nach diesen Worten verstummte die Jungfrau.
Traurig verließ Aeneas die Höhle und schritt mit gesenkten
Blicken, erwog den möglichen Ausgang des dunklen Geschehens.
Neben ihm stapfte mit schweren Schritten der treue Achates,
fühlte sich von den gleichen Sorgen bedrückt. Im Gespräche
äußerten sie verschiedne Vermutungen, wen die Prophetin
mit dem gestorbenen Freunde, den man beerdigen müsse,
meine. Da sahen sie bei der Ankunft Misenos als Opfer
eines unwürdigen Todes liegen am trocknen Gestade,
den Äoliden. Niemand vermochte besser als dieser
mit dem Signalhorn lautschmetternd die Männer zum Kampf zu entflammen.
Hektor, den Helden, begleitete er, als Hektors Gefährte
zog er zur Schlacht, zugleich am Horn wie am Speer zu erkennen.
Aber seit siegreich Achilles dem Hektor das Leben entraffte,
hatte der Tapfere sich dem Dardanossprößling Aeneas
angeschlossen, einem wahrlich nicht schlechteren Helden.
Heute nun blies er auf dröhnender Muschel über die Wogen,
töricht, und forderte durch sein Spielen die Götter zum Wettstreit.
Folgerecht hatte der neidische Triton – soll man das glauben? –
ihn auf den Klippen gepackt und hinab in die Brandung gerissen.
Schmerzlich beklagten ihn jammernd alle Gefährten, am meisten
aber der treue Aeneas. Dann taten sie, ohne zu säumen,
was die Sibylle befohlen: Errichteten eilig, in Tränen,
himmelhoch strebend das Leichengerüst aus Baumstämmen, zogen
gleich in den Urwald deswegen, die ragende Heimstatt des Wildes.
Kiefern stürzten, von Axthieben dröhnten die Steineichen, Keile
sprengten Eschenholzstämme zu Scheitern, spaltbares Kernholz
splitterte. Mächtige Wildeschen rollten herab von den Hängen.
Auch bei solcherlei Arbeiten wirkte Aeneas als erster,
spornte die Freunde, benutzte mit ihnen die gleichen Geräte.
Aber beim Anblick des endlosen Urwalds kam ihm in seinem
Kummer ein andrer Gedanke und ließ ihn beiläufig beten:
»Zeigte sich uns doch gerade in diesem gewaltigen Dickicht
jener goldene Zweig! Denn die Seherin bot uns in allem,
was dich, Misenos, betraf, nur allzu sicher die Wahrheit!«
Kaum verstummte er wieder, da kamen zwei Tauben geflogen,
unmittelbar vor seinen Augen, und ließen im grünen
[273] Blättergewirr sich nieder. In ihnen erkannte der tapfre
Held die Vögel der Mutter und äußerte freudig die Bitte:
»Führt mich, sofern ein Weg sich erstreckt, und fliegt zu der Stelle,
wo der kostbare Zweig den fruchtbaren Boden beschattet!
Aber du, göttliche Mutter, laß mich in schwieriger Lage
niemals im Stich!« So betete er, blieb stehen und spähte,
was wohl die Tiere an Zeichen gäben, wohin sie wohl flögen.
Nahrung sich suchend, flatterten so weit sie jeweils nur vorwärts,
daß mit den Blicken die Suchenden ihnen zu folgen vermochten.
Als sie den engen Zugang zum dunstumwallten Averner
See erreichten, schossen sie aufwärts und ließen nach kurzem
Gleitflug sich an der gesuchten Stelle, auf doppelt belaubter
Baumkrone, nieder: Goldene Blätter durchglänzten die grünen!
Wie sich die Mistel im Walde, bei eiskaltem Winter, mit frischem
grünendem Laub schmückt, das nicht dem Baume gehört, der sie aufnahm,
dabei den rundlichen Stamm umschlingt mit goldgelben Trieben,
ebenso glänzten in schattiger Steineichenkrone die goldnen
Blätter, so raschelten die metallenen Scheiben im leichten
Luftzug. Aeneas packte und brach gleich voll Eifer den spröden
Zweig und trug ihn zur Grotte, in der die Seherin hauste.
Aber die Teukrer beweinten indes am Gestade Misenos,
zollten die letzten Ehren dem Leichnam, der niemandem dankte.
Aufgebaut hatten zuerst sie den mächtigen Holzstoß aus starken
Scheitern mit harzigem Kien, die Seiten verkleidet mit dunklen
Blättern; sie stellten Zypressen davor, die Bäume der Gräber,
packten als Schmuck dann hoch auf den Haufen funkelnde Waffen.
Andere brachten Wasser in flammenumzüngelten Kesseln
wallend zum Sieden, wuschen und salbten den längst schon erstarrten
Toten. Laut schollen die Klagen. Aufgebahrt wurde dann unter
Tränen der Leichnam, bedeckt auch, wie üblich, mit Purpurgewändern.
Wiederum andere hoben empor die gewaltige Trage –
schmerzliche Pflicht – und hielten zum Schluß an den Holzstoß die Fackeln,
abgewandt, treu der Sitte der Ahnen. Die Flammen verzehrten
alles, den Weihrauch, die Speisen, das Öl und die leeren Gefäße.
[274] Als der Holzstoß zusammengesunken, die Flamme erstickt war,
gossen sie Wein auf die Reste, die durstig noch glühende Asche.
Held Korynaios barg die Gebeine in bronzener Urne;
dreimal umschritt er danach die Gefährten mit lauterem Wasser,
sprengte sie mit dem benetzten Zweige des fruchtbaren Ölbaums,
reinigte derart die Männer. Dann sprach er das Schlußwort der Feier.
Doch auf den riesigen Grabhügel legte der fromme Aeneas
sämtliche Waffen des Freundes, dazu auch Signalhorn und Ruder,
dicht an dem Fuße des ragenden Berges, der jetzt noch Misenus
heißt nach dem Toten und diesen Namen in Ewigkeit fortträgt.
Gleich nach der Feier befolgte der Held das Geheiß der Sibylle.
Eine gewaltige Höhle gähnte in ragender, schroffer
Felswand, geschützt von dem düsteren See und schattigen Wäldern.
Vögel nicht einmal könnten sich ohne Gefährdung mit ihren
Schwingen darüber bewegen; so furchtbare Dunstmassen quollen
vor aus den finsteren Schlünden und stiegen zum Himmelsgewölbe.
Deshalb auch gaben die Griechen der Stätte den Namen »Aornos«.
Hierher führte die Priesterin gleich vier Stiere mit schwarzen
Rücken, begoß dann mit Wein die Stirnen der Tiere und zupfte
Haarspitzen mitten zwischen den Hörnern hervor. Als die ersten
Spenden des Opfers warf sie die Borsten ins heilige Feuer,
Hekate rufend, die Herrin der Unterwelt wie auch des Himmels.
Diener durchschnitten die Kehlen der Tiere und ließen den warmen
Blutstrom in Schalen fließen. Aeneas erstach für die Mutter
der Eumeniden und ihre gewaltige Schwester ein schwarzes
Lamm und für dich, Proserpina, eine Kuh, die nicht kalbte.
Für den Gebieter der Unterwelt weihte er nächtliche Herde,
legte das Opferfleisch ungeschmälert hinein in die Flammen,
goß auch dickflüssiges Öl noch über die brennenden Teile.
Über die Schwellen des Lichtes lugte mit frühesten Strahlen
eben die Sonne. Da fing der Boden unter den Füßen
dumpf an zu dröhnen, begannen die waldigen Höhen zu wanken,
[275] heulten, so schien es Aeneas, Hunde zum Zeichen der Ankunft
Hekates. »Haltet euch ferne, ihr nicht geweihten Gemeinen«,
warnte die Seherin, »wartet abseits des heiligen Haines!
Ziehe dein Schwert aus der Scheide, Aeneas, beginne den Abstieg:
Nunmehr bedarfst du der Kühnheit und eines nicht wankenden Mutes!«
Damit begab sie sich, wild wie berauscht, in das Innre der Grotte.
Neben der Führerin hielt sich Aeneas mit sicheren Schritten.
Götter im Reiche der Seelen, ihr ewig schweigenden Schatten,
Chaos, Phlegéthon, ihr weiten, ihr nächtlich stillen Gefilde:
sei es vergönnt mir, zu sagen, was ich erfuhr, und mit eurer
Gunst zu enthüllen, was tief im Erdenschoß finster sich abspielt!
Dunkelumwallt, in einsamer Nacht, durchschritten sie Plutos
ödes, verfinstertes Reich, die Gefilde der nichtigen Schatten,
wie man bei spärlichem Schein des unsicher flimmernden Mondes
tief durch den Urwald zieht, wenn Jupiter düster den Himmel
einhüllt und schwarze Nacht die Farben der Dinge hinwegrafft.
Schon an der Vorhalle, vor dem Schlund, der zum Orkus hinabführt,
haben die Trauer, daneben das böse Gewissen ihr Lager,
hausen die bleichen Krankheiten, lauern das traurige Alter,
Furcht, der zum Unheil ratende Hunger, die schmachvolle Armut,
schreckliche Elendsgestalten, bei ihnen der Tod und die Mühsal,
weiter der Bruder des Todes, der Schlaf, und die sinnlichen Lüste,
Boten des Unglücks, und, grad auf der Schwelle, der tödliche Kriegsgott,
ragt die eiserne Zelle der Furien, hockt die verwirrte
Zwietracht, mit blutigen Binden im schlangenwimmelnden Haare.
Mitten im Vorhof breitete eine gewaltige Ulme
schattend die uralten Äste. Dort haben, erzählt man, die leeren
Träume in Schwärmen ihr Nest und hängen zwischen den Blättern.
Aber auch zahlreiche Ungetüme, verschieden gestaltet,
hausten am Eingang, Kentauren und Skyllen mit zweierlei Körpern,
[276] Briareus, wuchtig mit hundert Armen, die Schlange von Lerna,
grauenhaft zischend, Chimaera mit züngelnden Flammen, Gorgonen,
dann die Harpyien, Geryon dazu mit seinen drei Leibern.
Jähes Entsetzen ergriff hier Aeneas, im Banne des Grauens
hielt er die blanke Klinge der nahenden Menge entgegen.
Hätte ihn nicht die Sibylle belehrt, daß hier hohle Gestalten,
körperlos, nichtig nur flatterten, hätte in plötzlichem Ansturm
er mit dem Schwerte ganz sinnlos die Schatten in Stücke gehauen.
Weiter ging es von hier zum tartarischen Acheronstrome.
Schlammwirbelnd wallte sein Wasser in Strudeln von gähnender Tiefe,
spie die Massen von treibendem Sand in das Bett des Kokytos.
Diese Gewässer und Flüsse bewachte der furchtbare Fährmann
Charon, entsetzlich verwahrlost. Graues Barthaar umwirrte,
niemals gepflegt, sein Kinn. Stier blickend, glühten die Augen.
Lässig verknotet, hing von den Schultern sein schmutziger Mantel.
Selber bediente er sicher sein Fahrzeug mit Stange und Segel,
brachte im schwärzlichen Kahn die Toten über das Wasser,
alt schon, als Gottheit indessen noch rüstig, doch roh und gefühllos.
Hin zu dem Fährmann drängte ans Ufer die wartende Menge,
Mütter und Gatten, vom Leben geschiedene tapfere Helden,
Knaben auch, Mädchen dazu, noch keinem Manne verbunden,
kraftvolle Männer, dem Holzstoß verfallen vor Augen der Eltern:
Ebenso zahlreich wie Blätter im Wald, die beim herbstlichen Froste
gleich auf den Erdboden wehen, wie Vögel auch, die sich in Schwärmen
landwärts ziehen vom hohen Meere, sobald sie die kalte
Jahreszeit über die See hinwegscheucht in sonnige Länder.
Bittflehend standen sie da, zur Überfahrt vorwärts sich drängelnd,
streckten die Arme voll Sehnsucht dem anderen Ufer entgegen.
Aber der mürrische Fährmann gewährte Bestimmten nur Zutritt;
andere hieß er zurücktreten, weit vom Sande des Ufers.
Voller Erstaunen, empört auch über das wilde Gedränge,
fragte Aeneas: »Was, Mädchen, bedeutet der Sturm auf das Ufer?
[277] Was erflehen die Seelen? Welch Unterschied zwingt sie, zum Teile
hier zu verbleiben, teils über die tiefblauen Fluten zu rudern?«
Antwort erteilte in Kürze ihm gleich die langlebige Jungfrau:
»Sohn des Anchises, du echter Göttersproß, dir vor den Augen
liegt der Kokytos, träge und tief, und der stygische Sumpfstrom,
den die Unsterblichen auch als Rächer von Falscheiden fürchten.
Hilflos dort wimmelt die Menge der unbestatteten Seelen.
Charon ist der Fährmann, er setzt die bestatteten über.
Durch die dumpf brausenden Fluten dürfen zum schrecklichen Strande
lediglich Seelen von schon begrabenen Leichnamen fahren.
Hundert Jahre lang flattern die anderen ziellos am Ufer;
dann erst bekommen sie die ersehnten Gewässer vor Augen.«
Reglos stehen blieb der Sohn des Anchises und dachte
mitleidig an das Los, das die Seelen unverdient quälte,
sah auch inmitten der Traurigen, die man im Tode nicht ehrte,
den Kommandanten der lykischen Flotte, Orontes, Leukaspis
neben ihm; während der stürmischen Meerfahrt von Ilion packte
beide der Südsturm, riß in die Tiefe das Schiff und die Mannschaft.
Aber da irrte umher auch der Steuermann, Freund Palinuros,
der auf der Fahrt von Libyen kürzlich, die spähenden Blicke
fest auf die Sterne gerichtet, vom Heck in die Wogen gestürzt war.
Als Aeneas den Tiefbetrübten im Dunkel erkannte,
richtete er gleich die Worte an ihn: »Palinuros, erzähl mir,
welcher Himmlische dich uns entriß, in die Fluten auf hohem
Meere dich tauchte! Denn Phöbus, der vorher niemals mich täuschte,
hat mit dem einen Orakel mich sichtlich betrogen: Er sagte,
daß du gesund zu Wasser Ausoniens Küste erreichen
würdest. Soll ich in dieser Auskunft die Wahrheit erkennen?«
Antwort gab der Gefragte: »Fürstlicher Sproß des Anchises,
Phöbus täuschte dich nicht, mich begrub kein Gott in den Wellen.
Wurde das Steuer doch, das ich beim Lenken des Schiffes nach Kräften
[278] wachsam umklammerte, plötzlich gewaltsam vom Schiffsrumpf gerissen,
zerrte mich mit in die Tiefe. Ich schwöre beim grausamen Meere:
Weniger um mich selber bangte ich, fürchtete vielmehr,
ohne das Steuer, mit dem zugleich auch der Steuermann ausfiel,
könne dein Schiff nicht standhalten mehr dem Anprall der Wogen.
Über drei stürmische Nächte trieb mich der heftige Südwind
durch die gewaltigen Fluten; kaum noch vermochte am vierten
Tage, von einer Woge herab, ich Italien zu sehen.
Langsam schwamm ich dem Land zu, erreichte schon sicher die Küste.
Als ich indessen, beschwert vom nassen Gewande, mit meinen
Händen die rauhen Felsspitzen packte, durchbohrten mit Schwertern
grausam mich Landesbewohner, witterten, ahnungslos, Beute!
Spielball von Wellen und Wind, so treibe ich jetzt am Gestade.
Deshalb, beim lieblichen Strahl und dem Luftzug des Himmels, bei deinem
Vater, den Hoffnungen auch, die Iulus erweckte: Entreiß mich,
bitte, du niemals Besiegter, dem Unglück: Entweder streue
Erde auf meinen Leichnam, du kannst es, steure nur wieder
Velias Hafen an; oder, zeigt dir die göttliche Mutter
einen gangbaren Weg – denn nicht ohne das Wirken der Götter
wirst du die mächtigen Ströme, den Sumpf auch der Styx, überqueren –,
gib mir Geplagtem die Rechte und nimm mich mit dir auf die Durchfahrt!
Will ich im Tode doch wenigstens ruhen an friedlicher Stätte.«
Derart flehte er. Aber die Seherin gab ihm zur Antwort:
»Wie, Palinuros, vermagst du solch gräßlichen Wunsch hier zu äußern?
Möchtest, noch ohne bestattet zu sein, die stygischen Fluten
sehen, den schrecklichen Strom der Furien, betreten das Ufer
ohne Befugnis? Suche nicht länger den göttlichen Willen
flehend zu beugen! Doch höre, ich kann dich trösten im Unglück:
Alle Gemeinden, die nahe der Stätte deiner Ermordung
liegen, sie werden, gezwungen durch Wunder des Himmels, die Untat
[279] sühnen, ein Grab dir errichten und Totenfeiern dir stiften.
Nach Palinuros wird man die Stätte in Ewigkeit nennen.«
Diese Verheißung benahm dem Toten den Kummer und brachte
etwas Erleichterung ihm; ihn freute sein rühmlicher Namen.
Weiter verfolgten sie nunmehr den Weg und nahten dem Strome.
Schon von den stygischen Fluten aus sah sie der Fährmann den stillen
heiligen Hain durchschreiten und sich dem Uferrand nähern.
Ohne zu zögern, rief er sie an mit den scheltenden Worten:
»Wer du auch bist, der du unseren Strömen dich nahst, voll bewaffnet,
sage, weswegen du kommst, von drüben aus: Keinen Schritt weiter!
Schatten bewohnen das Land hier, der Schlaf und die Nacht als des Schlafes
Stunde. Lebende dürfen im stygischen Nachen nicht fahren.
Gar nicht zu meiner Freude setzte ich Herkules über,
als er mich aufsuchte, auch nicht Theseus, Peiríthoos mit ihm,
waren sie göttlichen Stamms auch und niemals an Kraft zu bezwingen.
Herkules packte und fesselte nämlich den Tartaruswachhund,
schleppte den Zitternden fort, direkt vom Thronsessel Plutos;
diese versuchten die Herrin aus Plutos Palast zu entführen!«
Kurz nur erteilte ihm die amphrysische Seherin Antwort:
»Keine derartige Hinterlist droht hier, die Waffen verschmähen
jede Gewalt. Du kannst dich beruhigen. Schrecke aus seiner
Höhle auf ewig der Wachhund bellend die blutleeren Schatten,
hüte Proserpina unbelästigt die Schwelle des Onkels!
Der Trojaner Aeneas, berühmt durch Kampfkraft und Treue,
steigt zu dem Vater hinab in die finstere Erebustiefe.
Wenn dich so innige Sohnesliebe allein nicht beeindruckt,
sieh hier den Zweig!« Und sie brachte ihn aus dem Gewande zum Vorschein.
Charons Erregung legte sich gleich, und man wechselte keine
Worte mehr. Staunend sah er die heilige Gabe, des Schicksals
[280] goldenen Zweig, den er lange schon nicht zu Gesicht mehr bekommen,
wandte den schwarzblauen Nachen und kehrte zurück an das Ufer,
scheuchte von Bord die Seelen, die schon auf den Schiffsbänken saßen,
räumte das Fahrzeug gänzlich und ließ den Helden Aeneas
einsteigen. Knackend bogen sich unter der Last die geflochtnen
Binsen, und moddriges Wasser in Strömen drang durch die Ritzen.
Schließlich setzte er jenseits die Seherin samt dem Begleiter
sicher an Land, in häßlichem Schlamm und graugrünem Schilfgras.
Zerberus lag hier, entsetzlich, vorn in der Höhle und dröhnte,
bellend mit seinen drei Rachen, grauenhaft weit durch das Dunkel.
Aufzüngeln sah die Prophetin bereits den schlangenumzischten
Nacken und warf dem Untier zum Einschläfern einen aus starken
Zauberkräutern und Honig gemengten Bissen vor. Gierig
schnappten danach die drei Mäuler. Da dehnte der mächtige Körper
matt sich zu Boden und füllte, entspannt, gewaltig die Höhle.
Schlaf übermannte den Wächter. Aeneas erreichte den Eingang;
eilig verließ er den Strom, der keinem die Rückkehr ermöglicht.
Gleich nach dem Eintreten hörte er Stimmengewirr und Gewimmer,
weinende Seelen von Kindern, die an der Schwelle des Daseins
düster der Todestag fort von der Mutterbrust, fort von des Lebens
Freuden raffte und tief in das grausame Grab schon versenkte.
Neben den Kindern weilen die schuldlos zum Tode Verdammten;
freilich, hier finden sie rechtlich vom Lose bezeichnete Richter:
Minos, als Hauptrichter, schüttelt die Urne; aus schweigenden Scharen
wählt er den Rat der Geschworenen, prüft dann Leben und Taten.
Anschließend hausen voll Wehmut die Elenden, die sich mit eignen
Händen, ganz unschuldig, töteten, die, aus Abscheu vor diesem
Dasein, ihr Leben fortwarfen. Heute würden sie unter
freiem Himmel gern Armut und lastende Mühsal ertragen!
[281] Götterrecht hemmt sie, der Sumpf, der verhaßte, bannt sie mit eklem
Schlamm, und die neunmal gewundene Styx hält fest sie umschlossen.
Ganz in der Nähe erblickt man die »Fluren der Trauer«, die weithin
sich nach sämtlichen Seiten erstrecken. So heißen sie wirklich:
Alle, die einstmals ein grausamer Liebeskummer verzehrte,
hausen versteckt hier hinter verborgenen Pfaden und dichtem
Myrtengebüsch. Sie peinigt der bittere Gram noch im Tode.
Phaedra und Prokris gewahrte der Held hier, auch Eriphyle –
traurig enthüllte sie die ihr vom rächenden Sohne geschlagnen
Wunden –; Euadne, Pasíphaë dann und Laodameia,
weiter den Kaineus, der, einstmals in einen Jüngling verwandelt,
wieder, durch Weisung des Schicksals, als Frau wie früher sich zeigte.
Unter den Schatten durchirrte, mit frisch noch blutender Wunde,
auch die Phönizierin Dido das Dickicht. Sobald ihr Aeneas
nahekam und durch die kaum durchdringbare Nacht sie erkannte –
wie man bei Monatsbeginn den Mond durch düstere Wolken
aufsteigen sieht, nein, besser, sich einbildet, ihn zu erblicken –,
kamen ihm Tränen, er sagte zu ihr voll inniger Liebe:
»Unglückgeschlagene Dido, so stimmt die Nachricht, du wärest
nicht mehr am Leben, du hättest dich selber durchbohrt mit dem Schwerte?
Wehe, verschuldete ich, daß du starbst? Ich kann bei den Sternen
schwören, den Himmlischen, allem auch, was man im Erebus anruft:
nur widerstrebend, Herrin, schied ich von deinem Gestade.
Doch die Befehle der Götter, die jetzt mich zum Gang durch die Schatten,
Stätten voll Moder und Schmutz, durch nächtliche Düsternis zwingen,
trieben gewaltsam mich fort. Ich konnte wahrhaftig nicht glauben,
daß dir mein Aufbruch so furchtbare Qualen zufügen würde.
Bleibe doch stehen! Lasse mich, bitte, dich schauen! Du möchtest
fliehen vor mir? Hier gönnt mir das Schicksal, dich letztmals zu sprechen.«
[282] Derart versuchte Aeneas den glühenden Zorn und die finstren
Blicke Didos freundlich zu mildern, selbst bitterlich weinend.
Abgewandt, hielt sie die Augen fest auf den Boden geheftet,
zeigte von seinen Worten sich ebenso wenig beeindruckt
wie ein gefühlloser Kieselstein oder marpesische Klippen.
Heftig wandte sie schließlich sich ab und suchte erbittert
Zuflucht im schattigen Hain, wo ihr einstiger Gatte Sychaios
ihre Gefühle erwiderte, würdiger Partner der Liebe.
Aber Aeneas auch blickte, von dieser Trennung erschüttert,
lange in Tränen ihr nach; ihn schmerzte ihr Scheiden aufs tiefste.
Weiter verfolgte er den ihm gewiesenen Weg und erreichte
nunmehr als letzte die Stätte berühmter Helden des Krieges.
Tydeus begegnete ihm hier, der als Kämpfer berühmte
Parthenopaios, der Schatten sodann des bleichen Adrastos;
auch die gefallenen, einstmals in Troja innig beweinten
Dardaner, deren lange Reihe ihm bittre und schwere
Seufzer entlockte: Glaukos, Thersílochos, Medon, Antenors
tapfre drei Söhne, danach Polypoites, der Priester Demeters,
weiter Idaios, auch hier noch zu Wagen, im Schmucke der Waffen.
Zahlreich umdrängten sie ihn, zur Rechten wie Linken, mit kurzen
Blicken allein nicht zufrieden, nein, gerne verweilten sie länger,
wollten Geleit ihm geben und wissen, warum er gekommen.
Als ihn jedoch die Danaerfürsten, das Heer Agamemnons,
unter den Schatten in seinen funkelnden Waffen erblickten,
fingen vor Angst sie zu zittern an; einige wandten zur Flucht sich,
so wie sie früher zum Schiffslager liefen; andere wollten
schreien, doch kläglich nur winselten ihre geöffneten Münder.
Plötzlich erspähte er den Priamiden Deiphobos. Furchtbar
war er zerfleischt und grausam entstellt, insbesondre im Antlitz,
abgehauen die Hände, vom Haupte geschnitten die Ohren,
gräßlich und schmachvoll verstümmelt die Nase. Aeneas erkannte
kaum mehr den Helden, der zitternd seine entsetzlichen Wunden
zudecken wollte, und sagte zu ihm mit der Stimme des Freundes:
»Tapfrer Deiphobos, Sprößling vom edlen Stamme des Teukros,
wer vermochte so ausgesucht grausam an dir sich zu rächen?
Durfte dich derartig zurichten? Eines kam mir zu Ohren
[283] während der letzten Nacht: Erschöpft vom wilden Gemetzel
unter den Griechen, wärst du zusammengebrochen auf einem
Haufen von Leichen. Ein Leergrab habe am Strand von Rhoiteion
ich dir errichtet und dreimal laut die Manen gerufen.
Namen und Waffen kennzeichnen die Stätte. Dich selber, mein Lieber,
sah ich nicht, konnte beim Aufbruch dich nicht in der Heimat bestatten.«
Antwort erteilte Deiphobos: »Du unterließest nichts, teurer
Freund, du erwiesest das Nötige mir im Tod wie im Leben.
Mein Verhängnis, der tödliche Trug der Spartanerin, stürzte
mich in dies Unglück; sie hinterließ dies Denkmal der Schande.
Wie wir die letzte Nacht mit unbegründetem Feiern
hinbrachten, weißt du; es haftet zu fest in unsrem Gedächtnis.
Als dann das Pferd des Verderbens im Sprunge das ragende Troja
einnahm, die Last an bewaffneten Männern zur Festung hineintrug,
führte sie heuchlerisch troische Frauen als Bakchenchor jauchzend
hin durch die Straßen, schwenkte auch eine riesige Fackel,
gab von der Berghöhe aus den Griechen das Zeichen zum Angriff.
Ich, von Sorgen erschöpft und vom Schlaf überwältigt, ich ruhte
wehrlos im Ehebett, das zum Verderben mir wurde, in tiefem,
köstlichem Schlummer, nicht anders, als sei ich schon friedlich gestorben.
Aber inzwischen entfernte mein treffliches Weib mir die Waffen,
zog mir sogar mein treues Schwert fort unter dem Kopfe,
rief Menelaos ins Haus und öffnete weit ihm die Türen,
hoffte, sie täte dem Liebhaber einen großen Gefallen,
könne auch damit die Schmach der früheren Untaten löschen.
Kurz: Man stürmte ins Zimmer, im Haufen der Anstifter vieler
schlimmer Verbrechen, der Enkel des Aiolos. Laßt es die Griechen
einstmals entgelten, ihr Götter – erflehe zu Recht ich die Sühne!
Aber erkläre jetzt du mir, was dich als Lebenden hierher
führte. Verschlugen dich Irrfahrten über die Meere, befahlen
Götter den Abstieg? Zwingt dich ein andres Verhängnis, das finstre,
niemals der Sonne geöffnete, freudlose Reich zu besuchen?«
[284] Während der Aussprache hatte Aurora bereits mit dem rosig
schimmernden Viergespann halb die Strecke des Himmels durchmessen.
Sicherlich hätten die Frist sie noch weiter genutzt für Gespräche.
Doch die Sibylle als Führerin mahnte sie kurz mit den Worten:
»Eilig, Aeneas, naht schon die Nacht. Wir verbringen in Tränen
unsere Stunden. An dieser Stelle gabelt der Weg sich.
Rechtshin führt er zur Burg des gewaltigen Pluto, geleitet
uns zum Elysium; linkshin jedoch erreicht er die Richtstatt
aller Verbrecher, schickt die Verdammten zum Tartarusgreuel.«
Darauf bemerkte Deiphobos: »Zürne nicht, weise Prophetin!
Fortgehen will ich zurück in die Nacht, in die Heerschar der Toten.
Gehe, du, Stolz der Trojaner! Gnädiger sei dir das Schicksal!«
Soviel nur sprach er und wandte sich ab noch während der Worte.
Jäh überrascht, erblickte Aeneas zur Linken, am Fuße
felsiger Schroffen, ein riesiges Bauwerk mit dreifacher Mauer.
Ringsum ergoß sich ein reißender Fluß von sausenden Flammen;
Felsblöcke wälzte er donnernd, Phlegethon, der Tartaruswildstrom.
Vorne erhob sich ein riesiges Tor mit stählernen Säulen;
keinerlei Menschengewalt, nicht einmal die Himmelsbewohner
sollten es aufbrechen können. Hoch ragte ein eiserner Turmbau;
lauernd, in blutrotem Umhang, hockte auf ihm Tisiphone;
ohne zu schlafen, bewachte sie, nachts wie bei Tage, den Zugang.
Schmerzensgeschrei erscholl aus der Richtung und Klatschen von rohen
Schlägen; es klirrte von Eisen, laut rasselten Ketten. Aeneas,
jäh von dem Lärmen erschreckt, blieb stehen, er konnte nicht weiter:
»Was für Verbrecher leiden hier? Sag es mir, Jungfrau! Und welche
Strafen erhalten sie? Was für ein Jammer durchhallt hier die Lüfte?«
Darauf begann die Prophetin zu sprechen: »Ruhmreicher Feldherr
Trojas, kein Schuldloser darf die Schwelle des Frevels betreten.
Hekate hieß mich jedoch die avernischen Haine betreuen,
zeigte mir dabei genau die Strafen, die Götter verhängen.
Hier regiert Rhadamanthys von Knossos mit äußerster Strenge,
[285] macht im Verhör zunichte die Ausreden, zwingt zum Geständnis
dessen, was mancher Verbrecher im Leben, froh seiner geschickten,
freilich vergeblichen Lügen, nicht sühnte, nein, aufschob zum Tode.
Über die Schuldigen schwingt als Rächerin gleich Tisiphone
höhnend die Geißel, droht mit den grausigen Schlangen in ihrer
Linken und ruft die wilden Schwärme der Schwestern zur Stelle.
Dann erst, mit gräßlichem Kreischen der Angeln, weichen die Flügel
dieses verwunschenen Tores. Du siehst, wer als Wächter im Vorhof
lauert, was für ein Ungetüm dort die Schwelle behütet.
Furchtbarer noch liegt drinnen, mit fünfzig schwarzgähnenden Rachen,
eine gewaltige Schlange. Dann öffnet der Tartarus selber
jäh in die Tiefe sich, doppelt so weit hinab in das Dunkel,
wie man am Lichte hinaufblickt zum Himmel und seinem Olympus.
Dort in dem Abgrund winden sich Terras uralte Söhne,
die von dem Blitzstrahl hinabgeschleuderten starken Titanen.
Hier erblickte ich auch die zwei Aloiden, die Riesen,
die mit gewaltigen Fäusten das Himmelsgewölbe zerschmettern,
Jupiter selber vom hohen Throne hinabstoßen wollten,
sah auch Salmoneus, der Donner und Blitz des olympischen Herrschers
nachahmte, dabei jedoch der grausamen Strafe anheimfiel.
Stolz auf dem Viergespann fuhr er daher, mit geschwungener Fackel,
durch das Gedränge der Griechen und seine Hauptstadt in Elis,
ließ sich umjubeln und heischte Verehrung, die Göttern gebührte,
Narr, der Gewittergeräusche und unnachahmliche Blitze
vortäuschen wollte durch dröhnendes Erz und Hufegetrappel!
Aber aus dichten Wolken schoß der allmächtige Vater
richtige Blitze, nicht Fackeln und qualmendes Kienholz wie jener,
traf ihn und Stürzte kopfüber ihn, grauenhaft wirbelnd, zur Tiefe.
Tityos war auch zu sehen, der Sohn der Allmutter Terra;
über neun Joch weit erstreckt sich sein gefesselter Körper,
und ein entsetzlicher Geier zerhackt mit dem scharfen gekrümmten
[286] Schnabel die immer neu wachsende Leber; zu ewigen Qualen
reißt das Organ er in Stücken zum Fraß und nistet im hohen
Brustkorb des Riesen. Das Fleisch, stets erneuert, vergönnt ihm kein Ruhen.
Nenne Ixion ich noch und Peirithoos, beide Lapithen?
Andere, über denen ein düsterer Felsblock, mit jähem
Absturze drohend, dahinschwebt? Da leuchten von schwellenden Kissen
goldene Rücklehnen; fertige Mahlzeiten, königlich üppig,
locken den Hungrigen. Aber die furchtbarste Furie lagert
dicht daneben, niemanden läßt sie die Speisen berühren,
schwingt, sich reckend, die Fackel und droht mit donnernder Stimme.
Wer im Leben mit Haß verfolgte die eigenen Brüder,
wer gar den Vater mißhandelte, listig Klienten umgarnte,
wer ganz allein aufgehorteten Schätzen hockte und keinen
Anteil den Seinen vergönnte – die Schuld trifft, wahrlich, sehr viele! –,
wer mit dem Leben für Ehebruch zahlte, wer unrechtem Kriege
kämpfend sich anschloß und seinem Herrn die Treue zu brechen
wagte: Sie harren im Kerker der Strafe. Frag nicht nach allen
Strafen, nicht nach den Verbrechen und Umständen sämtlicher Büßer.
Einige wälzen gewaltige Felsblöcke, andere hängen
qualvoll gespreizt an Radspeichen; dort sitzt Theseus auf ewig,
unheilgeschlagen; und Phlégyas warnt, der Elende, jeden,
ruft durch die Finsternis laut, als Zeuge, beschwörend die Worte:
›Laßt zur Gerechtigkeit mahnen euch, niemals verachtet die Götter!‹
Einer verkaufte für Gold sein Vaterland an den Tyrannen,
gab auch Gesetze für Geld und tilgte sie ebenso wieder;
mancher erzwang sich verbotenen Liebesgenuß mit der Tochter:
Allesamt wagten sie schlimme Verbrechen und freuten sich ihrer.
Nein – und besäße ich hundert Zungen und Münder und eine
eherne Stimme: Ich könnte nicht alle Verbrechen erfassen,
könnte nicht sämtliche Strafen ausführlich im einzelnen nennen!«
Derart berichtete ihm die bejahrte Prophetin Apollos,
drängte dann: »Auf, zieh weiter, es gilt, die Pflicht zu erfüllen!
[287] Eilen wir! Schon erblicke ich die von Kyklopen in ihrer
Werkstatt geschmiedeten Wände, die vorwärts sich wölbenden Tore,
wo wir, der Vorschrift gemäß, die Weihgabe ablegen müssen.«
Gleichmäßig schritten sie weiter über die düsteren Wege,
legten die restliche Strecke zurück und nahten dem Tore.
Zügig erreichte Aeneas den Eingang, besprengte mit frischem
Wasser die Glieder und heftete vorn an die Türe den Goldzweig.
Erst nach Erfüllung der Pflicht, die der Gottheit gebührte, gelangten
sie zu den Stätten der Freude, den lieblich grünenden Hainen,
Orten des Glücks, den Gefilden, in denen die Seligen wohnen.
Üppige himmlische Luft umwebt mit purpurnem Lichte
schimmernd die Fluren, mit eigener Sonne, mit eignen Gestirnen.
Viele Bewohner üben den Körper auf rasiger Kampfbahn,
tummeln im Spiel sich, betreiben auf gelblichem Sande den Ringkampf.
Andere schwingen die Beine im heiteren Reigen und singen.
Auch der thrakische Sänger, als Priester umwallt vom Talare,
läßt zum Gesange die siebensaitige Leier erklingen,
schlägt sie mit Fingern, im Wechsel darauf mit dem Elfenbeinstäbchen.
Hier auch verweilen die herrlichen Enkel des uralten Teukros,
edle und mutige Helden, geboren in besseren Zeiten,
Ilos, Assárakos, Dardanos schließlich, der Gründer von Troja.
Seitlich erspähte Aeneas Waffen, zugleich nicht besetzte
Wagen; die Speere standen, ins Erdreich gebohrt, und die Rosse,
abgeschirrt, weideten: Wer sich an Wagen und Waffen in seinem
Leben erfreute, wer glänzende Rosse aufzog und pflegte,
darf sich im Erdenschoß auch der Lieblingsbeschäftigung widmen.
Andere sah Aeneas zur Rechten wie Linken im Grase
lagern und schmausen, im Chor derweilen ein Festlied auch singen,
mitten im duftenden Lorbeerhaine, aus dem sich nach oben
wasserreich, breit, der Eridanos wälzt durch bewaldete Fluren.
[288] Hier verweilt, wer Wunden empfing im Kampf um die Heimat,
wer als Priester sein ganzes Leben sittenrein führte,
wer sich als frommer Prophet Apollos würdig erwiesen,
auch wer in Kunst und Wissenschaft fruchtbar das Leben erhöhte
oder durch andre Verdienste selber ein Denkmal sich setzte;
schneeweiße Binden umwinden ihnen allen die Häupter.
Während sie um die Besucher sich drängten, sprach die Sibylle
fragend zu ihnen, besonders jedoch zu Musaios – er ragte
hoch aus der Menge, es waren auf ihn die Blicke gerichtet –:
»Sagt uns, ihr glücklichen Seelen und du, vortrefflicher Sänger,
wo hier Anchises sich aufhält! Um ihm zu begegnen, gelangten
wir hierher, überquerten die mächtigen Unterweltsströme.«
Antwort erteilte der Sänger ihr kurz mit folgenden Worten:
»Niemand bewohnt hier bestimmte Gebäude. In schattigen Hainen
sind wir zu Hause, auf rasenschwellenden Ufern, auf frischen
Wiesen, von Bächen durchrieselt. Doch wünscht ihr es dringend, so steigt nur
über den Höhenzug dort! Ich weise euch dann den bequemen
weiteren Pfad.« Gleich schritt er voraus und zeigte von oben
lachende Fluren. Sie aber verließen den Höhenzug talwärts.
Vater Anchises musterte gründlich voll Eifer im grünen
Tal die dort eingeschlossenen Seelen, die wieder zum Lichte
aufsteigen sollten. Zur Stunde prüfte er eben die große
Anzahl der Seinen, die teuren Enkel, die Schicksale eines
jeden, die Zufälle, dann den Charakter und schließlich die Leistung.
Dabei sah er Aeneas, der über die Wiese geraden
Wegs auf ihn zukam, und streckte ihm hastig die Arme entgegen,
während ihm Tränen die Wangen benetzten, und sprach, tief ergriffen:
»Endlich kommst du! Die Liebe des Sohnes, erwartet vom Vater,
hat den beschwerlichen Weg überwunden. Ich darf jetzt dein Antlitz
sehen, bekannte Laute vernehmen und Antwort auch geben.
[289] War ich doch fest überzeugt, es werde so kommen, und zählte
sehnend die Tage. Mich trog nicht, trotz quälender Sorgen, mein Hoffen.
Was für Länder und Meere durchquertest du, bis ich dich heute
anschauen darf, und was für Gefahren hast du bestanden!
Was für Befürchtungen hegte ich, Libyen könnte dir schaden!«
Aber Aeneas erwiderte: »Vater, dein trauernder Schatten
ist wiederholt mir erschienen und trieb mich zum Gang in den Orkus.
Im Tyrrhenischen Meere liegen die Schiffe. Die Rechte
gib mir doch, bitte, Vater, entzieh dich nicht meiner Umarmung!«
Während der Worte strömten die Tränen ihm über das Antlitz.
Dreimal versuchte er jenem den Arm um den Nacken zu schlingen,
dreimal entwich den ins Leere greifenden Händen der Schatten,
ebenso leicht wie ein Windhauch, ebenso flüchtig wie Träume.
Nunmehr erblickte Aeneas im hinteren Teile des Tales
einen gesonderten Hain, ein Dickicht mit raschelnden Blättern,
und die Lethe, den Strom, der am Lande des Glückes entlangfließt.
Zahllos umdrängten Seelen das Ufer in wimmelnden Scharen,
wie auf den Wiesen bei wolkenlos heiterem Himmel im Sommer
Bienen auf vielerlei Blumen sich niederlassen und weiße
Lilien umschwärmen, die Landschaft erdröhnt vom lebhaften Summen.
Ahnungslos fühlte Aeneas bei diesem Anblick von jähem
Schreck sich durchzuckt, und er fragte, was dort für ein Fluß sich ergieße,
was für Leute in solcher Menge am Ufer sich drängten.
Antwort erteilte Anchises: »Die Seelen, die, göttlicher Weisung
fügsam, erneut sich verkörpern, trinken vom Wasser der Lethe,
schlürfen mit ihm Vergessenheit ein und Freiheit von Sorgen.
Lange schon möchte ich dir von ihnen erzählen, sie zeigen,
aufzählen dir die Nachkommen meines Geschlechtes: Mit größrer
Freude begrüßt du danach mit mir die Entdeckung Italiens.«
[290] »Vater, so steigen denn wirklich von hier aus etliche Seelen
aufwärts und schlüpfen aufs neue in träge irdische Körper?
Weswegen streben die Elenden derart fanatisch zum Lichte?«
»Darlegen will ich es dir und deine Bedenken zerstreuen«,
gab Anchises zurück und erklärte der Reihe nach alles.
»Geistige Kraft durchdringt seit Beginn den Himmel, die Erde,
sämtliche Flächen des Wassers sowie die Titanengestirne
Sonne und Mond, sie durchflutet als Weltseele nährend die Teile,
treibt die gesamte Materie, verschmilzt mit dem riesigen Ganzen.
Diesem entstammen die Menschen, die Tiere, die fliegenden Wesen,
sämtliche Scheusale unter dem schimmernden Spiegel des Meeres.
Feurige Stärke und himmlischen Ursprung besitzen die Wesen,
werden beeinträchtigt nur von den schwachen, schädlichen Körpern,
werden entkräftet von irdischen Gliedern und sterblichen Leibern.
Daraus ergeben sich Furcht und Begierde, Kummer und Freude.
Düsterem Kerker verfallen, erkennen die Seelen die reine
Himmelsluft nicht. Sogar wenn das Leben erlosch an dem letzten
Tage, verloren die Armen nicht völlig das Übel, nicht restlos
wichen die Seuchen des Körpers. Es müssen in seltsamer Weise
viele lang haftende Schwächen des Leibes auch Wurzeln in Seelen
schlagen. So dulden die Seelen denn Qualen und sühnen durch Strafen
frühere Sünden: Ausgereckt hängen die einen im Luftraum,
Spielball der Winde; anderen werden die Flecken des Frevels
sauber getilgt in tiefen Gewässern oder im Feuer.
Jeder von uns unterliegt der eigenen Sühne. Im Anschluß
schickt man uns in das weite Elysium, wenige freilich,
die wir im Lande der Freude dann wohnen, bis uns der späte
Zeitpunkt nach Ablauf der Frist befreit von dem Schandfleck und unsre
himmlische Seele, das Feuer der reinen Höhe, zurückläßt.
Alle die Seelen hier ruft, sobald sie im Kreislaufe tausend
Jahre erfüllten, die Gottheit in Scharen zum Strome der Lethe.
Ohne Erinnerung sollen sie wieder die Wölbung des Himmels
sehen, den Wunsch zur Rückkehr in Körpergestalten empfinden.«
[291] Darauf zog Anchises den Sohn und zugleich die Sibylle
unter die Menge, hinein in die summenden Schwärme, und einen
Hügel betrat er, von wo er die langen Reihen der Seelen
deutlich zu mustern und jedes Gesicht zu erkennen vermochte.
»Auf denn, ich möchte den künftigen Ruhm des Dardanerstammes,
alle die Enkel, die aus italischem Blute uns bleiben,
denkwürdig-glanzvolle Seelen als Erben unseres Namens,
darlegen jetzt, dich auch aufklären über dein eigenes Schicksal.
Dort, der Jüngling – du siehst ihn –, gestützt auf die Lanze des Herrschers,
steht nach dem Lose am nächsten der Oberwelt, wird sich als erster
heben zu himmlischen Lüften, italisches Blut in den Adern.
Silvius heißt er – albanisch –, dein letzter Sprößling. Gealtert
bist du, wenn deine Gemahlin Lavinia ihn in den Wäldern
aufzieht zum König, zum Vater auch künftiger Herrscher. Durch diese
soll dann unser Geschlecht in Alba Longa regieren.
Anschließend stehen Prokas, der Ruhm des trojanischen Volkes,
Kapys und Numitor, dann auch dein Namenserbe, Aeneas
Silvius, trefflich zugleich durch Pflichtgefühl wie auch als Kämpfer,
wenn er die Herrschaft in Alba dereinst übernimmt. Was für Jungen!
Siehe doch, was sie für Kräfte erkennen lassen! Sie tragen,
Retter von Bürgern, dicht um die Schläfen Eichenlaubkränze,
werden Nomentum und Gabii, auch Fidenae dir gründen,
hoch auf den Bergen die Festung Collatia, ferner Pometia,
Castrum Iuni, Bola und Cora; sie allesamt werden
später berühmt sein, heute noch Landschaften ohne Benennung.
Anschließen wird sich ein Sprößling des Mars sogar noch dem Ahnherrn,
Romulus; aufziehen wird, vom Assarakosstamm, ihn die Mutter
Ilia. Siehst du ihn stehen mit doppeltem Helmbusch? Ihn zeichnet
hier schon der Vater der Himmlischen aus mit dem würdigen Schmuckstück!
[292] Unter dem Segen des Romulus wird, mein Sohn, das berühmte
Rom mit der Herrschaft die Welt, mit dem Mut den Olympus umfassen,
sieben Festungen mit nur einer Mauer umschließen,
fruchtbar an Helden. So zieht die berekynthische Mutter
unter der Mauerkrone zu Wagen durch phrygische Städte,
freut sich der göttlichen Kinder und schließt in die Arme an hundert
Enkel, sämtlich Bewohner der ragenden Höhen des Himmels.
Blicke hierher jetzt, betrachte dir diese Volksmenge: Deine
Römer! Hier weilen Caesar und sämtliche Nachkommen deines
Sohnes Iulus, die einstmals zum Himmel aufsteigen werden.
Dieser Römer dort ist es, von dessen Erscheinen du oftmals
hörtest: Augustus Caesar, der Sohn des Göttlichen. Über
Latium, das einst Saturnus beherrschte, wird er das Goldne
Zeitalter wiederum bringen, die Reichsgrenzen vorschieben über
die Garamanten und Inder hinaus – dort leuchten ganz andre
Sterne, dort zieht nicht die Sonne, wo Atlas, der Träger des Himmels,
hoch auf den Schultern das strahlend gestirnte Gewölbe in Schwung hält.
Heute schon bangen aufgrund der Orakel die Kaspischen Reiche
wie auch Mäotien vor des Eroberers Ankunft, und angstvoll
zittern die sieben Mündungen des gewaltigen Nilstroms.
Nicht der Alkide durchzog so riesige Landstriche, mochte
er die erzhufige Hirschkuh auch treffen, des Erymanthos
Wälder befrieden und Lerna mit seinen Geschossen erschrecken;
Bacchus auch nicht, der als Sieger mit Zügeln aus Weinlaub vor seinem
Wagen die Tiger herab von Nysas Berggipfel lenkte.
Trotzdem zögern wir noch, durch Taten die Leistung zu steigern –
oder verwehrt uns die Furcht, ausonisches Land zu betreten?
Aber wer trägt dort, noch ferne, kenntlich am Kranze des Ölbaums,
Opfergerät? Ich erkenne das Haar, der ergrauenden Kinnbart
[293] jenes Königs von Rom, der die junge Stadt durch Gesetze
festigt, berufen aus ärmlichem Lande, dem dürftigen Cures,
zu dem bedeutenden Amt. Ihm folgt auf dem Königsthron Tullus;
aufrütteln wird er das Land aus der Ruhe, die müßigen Männer
frisch zu den Waffen rufen, ein Heer, das keiner Triumphe
mehr sich erinnert. Nächst ihm erscheint als Landesherr Ancus,
ruhmredig freilich, schon jetzt ganz maßlos erpicht auf die Volksgunst.
Willst du die stolzen tarquinischen Könige sehen, den Rächer
Brutus dazu, der die höchste Gewalt dem Volke zurückgibt?
Erstmalig wird er die Konsulsgewalt und die grausamen Beile
annehmen, wird als Vater seine rebellischen Söhne
hart mit dem Tode bestrafen zum Schutze der heiligen Freiheit,
unglückgeschlagen, wie immer die Nachwelt sein Handeln beurteilt.
Vaterlandsliebe und maßlose Ruhmsucht geben den Ausschlag.
Sieh dort die Decii – weiter die Drusi – Torquatus, den strengen
Henker des Sohnes – Camillus, den Retter der Feldzeichen! – Diese
beiden jedoch – du siehst sie im gleichen Waffenschmuck strahlen –,
einträchtig heut und solange sie noch in der Unterwelt weilen,
werden, ins Leben gerufen, einander erbittert bekämpfen,
werden verlustreiche Schlachten sich liefern: Herab von den Alpen
und der Monoecusburg steigt, als Schwiegervater, der eine,
während sein Schwiegersohn ferne im Osten gegen ihn rüstet.
Ja nicht, ihr Söhne, gewöhnt euch an solch entsetzliche Kriege,
wendet nicht gegen das Vaterland eure so wirksamen Waffen!
Lasse als erster Schonung walten, du Sproß des Olympus,
lege die Waffen doch nieder, mein Enkel!
Jener dort fährt im Triumph nach dem Fall von Korinth und den Siegen
über die Griechen zum Kapitol einst empor mit dem Wagen.
Dieser vernichtet Argos, dazu Agamemnons Mykene,
[294] schließlich den Äakiden, den Enkel des Helden Achilles,
rächt die troischen Ahnen, die Schändung des Tempels der Pallas.
Wer überginge mit Schweigen dich, großer Cato – dich, Cossus –
wer das Geschlecht der Gracchen – die zwei Scipionen, wie Blitze
zuckend im Kriege, Zerstörer Karthagos – Fabricius, mächtig
grade in seiner Armut – Serranus, den säenden Bauern?
Müde schon bin ich – wohin entrafft ihr mich, Fabii? Du dort,
Maximus, hast uns, allein, den Staat durch Zögern gerettet!
Andere mögen aus Bronze gefälliger gleichsam beseelte
Wesen gestalten, glaube ich, Leben dem Marmor entlocken,
werden vortrefflich öffentlich reden, die Bahnen des Himmels
besser berechnen, genauer den Aufgang der Sterne bestimmen:
Zeige dich, Römer, bewußt der Pflicht, die Völker zu lenken –
hierin beweise dein Können! –, das Friedensgesetz zu diktieren,
die Unterworfnen zu schonen, doch Trotzige niederzuringen!«
So sprach Vater Anchises und fügte den staunenden Hörern
eines hinzu noch: »Sieh dort Marcellus als Sieger im Schmucke
rühmlicher Beute schreiten: weit überragt er die andern!
Auffangen wird er das sinkende Rom im Getümmel der Waffen,
niederstrecken Karthager und aufsässig drohende Gallier,
wird dann als dritter die Beute widmen dem Vater Quirinus.«
Neben Marcellus erblickte Aeneas einen noch jungen
stattlichen Mann mit funkelnden Waffen, der freilich die Augen
unter der düsteren Stirne senkte. Da fragte er: »Vater,
wer begleitet den Helden Marcellus? Ist es sein Sprößling?
Oder auch einer der zahlreichen Enkel? Welch ein Gefolge
drängt mit Getöse sich um ihn! Welch würdevolle Erscheinung!
Aber sein Haupt zeigt finster umwölkt sich von nächtlichem Dunkel.«
Vater Anchises erteilte ihm, unter Tränen, die Auskunft:
»Frage mich nicht, mein Sohn, nach dem bitteren Kummer der Deinen!
[295] Zeigen nur wird das Schicksal den Jüngling der Welt, doch kein langes
Leben ihm gönnen. Das römische Volk erschiene euch, Götter,
allzu gewaltig, bliebe ihm solche Gabe erhalten.
Schmerzliche Klagen der trauernden Männer werden vom Marsfeld
hallen zur Hauptstadt. Welch bittre Bestattung erblickst du dann, Tiber,
wenn du am eben errichteten Hügel des Grabes vorbeifließt!
Wird doch kein Nachkomme ilischen Stamms die latinischen Ahnen
jemals zu solcher Hoffnung berechtigen, niemals die Erde,
die einst den Romulus trug, sich solchen Pflegesohns rühmen!
Pflichtbewußt war er, so treu wie die Vorfahren, siegreich dank seiner
tapferen Rechten! Trug er die Rüstung, so hätte nicht einer
ungestraft ihm sich gestellt, ob zu Fuß auf den Gegner er losging
oder den Sporn in die Flanken des schäumenden Rosses hineintrieb.
Könntest du, armer Junge, trotzen dem grausamen Schicksal!
Nein, ein Marcellus wirst du! Spendet mir Lilien mit vollen
Händen, ich möchte die schimmernden Blüten wenigstens häufen
über der Seele des Enkels, ein Liebesdienst, leider vergeblich!«
Derart durchstreiften sie weit und breit die Gefilde der Lüfte,
nahmen genau in Augenschein alles, was sie erspähten.
Hatte Anchises bis jetzt dem Sohne im einzelnen alles
vorgeführt, ihn auch entflammt zum Erstreben künftigen Ruhmes,
kam auf die Kriege er nunmehr zu sprechen, die noch zu führen
waren, erzählte von den Laurentern, der Stadt des Latinus,
von den Gefahren, die er teils meiden, teils durchstehen sollte.
Träume benutzen zum Austritt zwei Tore. Das eine besteht aus
Horn, ihm entschlüpfen mit Leichtigkeit die tatsächlichen Schatten;
aus hellschimmerndem Elfenbein wurde das andre gestaltet,
dadurch entlassen die Manen nur täuschende Träume zum Himmel.
[296] Hierher geleitete im Gespräche Vater Anchises
Sohn und Prophetin, entließ sie darauf durch den Elfenbeinausgang.
Schleunigst kehrte Aeneas zurück zu Flotte und Mannschaft,
segelte längs der Küste zum Hafen Cajetas; die Anker
warf man herab von den Vorschiffen, Heckteile zeigten zur Küste.
[297]

Siebenter Gesang

Siebenter Gesang.

Du auch, Cajeta, du Nährerin eines Aeneas, verliehest
sterbend unseren Küsten Ruhm für ewige Zeiten.
Heute noch zollt man dir Ehren, dein Name bezeichnet die Stätte
deines Grabes – sofern das ein Ruhm ist: im großen Hesperien.
Ordnungsgemäß vollzog der fromme Aeneas die Pflichten,
häufte den Hügel zu Ehren der Toten, verließ dann, bei friedlich
ruhender See, nach Setzen der Segel den Hafen. Die Brise
wehte zur Nacht hin günstig, der Mond gewährte den Schiffen
gütig sein Licht, es glänzte das Meer im zitternden Scheine.
Dicht am Gestade der Circe glitten sie ruhig vorüber,
wo die begüterte Tochter des Helios ständig mit hellem
Singen ein Echo entlockte den unzugänglichen Hainen
und in dem Prachtschloß duftende Zedern verbrannte als Nachtlicht,
dann mit dem Weberkamm raschelnd strählte das feine Gewebe.
Dorther vernahm man das zornige Brüllen von Löwen, die gegen
Wände von Käfigen tief in der Nacht noch ungestüm tobten,
hörte auch borstige Schweine und Bären wüten in Zwingern,
heulen auch mächtige Wölfe: Allesamt waren sie Menschen;
Circe, die grausame, hatte mit zauberkräftigen Kräutern
jäh sie verwandelt, in Fell sie gehüllt und mit Schnauzen versehen.
Um den frommen Trojanern solch schreckliches Los zu ersparen,
fern sie zu halten der Bucht und dieser gefährlichen Küste,
schwellte Neptunus die Segel mit kräftigem Fahrtwind und lenkte
schnell an den Untiefen sie und der brodelnden Brandung vorüber.
Rötlich erglänzte das Meer schon von Strahlen, vom Himmelsgewölbe
leuchtete golden Aurora im rosigen Zweigespann. Plötzlich
legte der Wind sich, jeder Lufthauch erstarb, und die Ruder
bahnten mit Mühe den Weg auf der trägen, schimmernden Fläche.
Einen stattlichen Hochwald erblickte von See aus Aeneas;
zwischen den Bäumen ergoß sich in lieblicher Strömung der Tiber,
[298] reißend mit mächtigen Strudeln, gelblich vom wirbelnden Schwemmsand,
vorwärts ins Meer. An den Ufern und über den Flußwellen ließen
vielerlei Vögel, heimisch an Lauf und Rändern des Stromes,
schmeichelnd ihr Lied durch die Lüfte erschallen, durchflatternd das Dickicht.
Einschwenken hieß Aeneas die Mannschaft, in Richtung des Festlands,
lenkte hinein in den schattigen Fluß voll freudiger Stimmung.
Auf denn, Erato, von Herrschern und Zeitläuften will ich berichten
und von der Lage im alten Latium während der Landung
des aus der Fremde stammenden Heers an italischer Küste,
will ins Gedächtnis zurückrufen auch den Ausbruch der Kämpfe.
Muse, begeistre den Dichter! Ich singe von schrecklichen Kriegen,
singe von Schlachten, vom Wüten todesmutiger Fürsten,
von dem tyrrhenischen Heer, von Hesperien, das an den Kämpfen
voll sich beteiligte. Größere Taten muß ich gestalten,
Höher es wagen.
König Latinus, bejahrt schon, regierte
längere Zeit in tiefem Frieden Fluren und Städte,
Sprößling des Faunus und der laurentischen Nymphe Marica.
Faunus entstammte dem Picus, und dieser verehrte als Vater
dich, Saturnus. Du bist der Ahnherr dieses Geschlechtes.
Göttliche Weisung versagte dem alternden Herrscher Latinus
männliche Erben; der einzige Sohn war, jung noch, gestorben.
Eine Tochter allein war Erbin des Hauses und seiner
reichen Besitztümer, volljährig schon und gereift zur Vermählung.
Zahlreiche Männer des weiten Latium, ja aus dem ganzen
Lande Italien umwarben sie, Turnus als stattlichster aller,
mächtig allein schon durch Vater und Ahnen. Amata, des Königs
Gattin, begehrte zum Schwiegersohn ihn mit besonderem Eifer.
Göttliche Zeichen voll mancherlei Drohung verboten das aber.
Ragte doch mitten im Hofraum des Schlosses, mit heiligen Blättern,
aufwärts ein Lorbeerbaum, den man seit Jahren ehrfurchtsvoll pflegte.
[299] Vater Latinus sollte ihn gleich bei Errichtung der Stadtburg
selber entdeckt, dem Phöbus geweiht und, entsprechend der Pflanze,
sämtlichen Siedlern den Namen »Laurenter« beigelegt haben.
Hoch auf dem Wipfel des Baumes ließ sich ein Bienenschwarm nieder.
Über den lichten Äther, erstaunlich, nahten die Tiere
ungestüm summend und hingen, die Beinchen verschränkt ineinander,
plötzlich in dichtem Gewimmel an grünendem Zweig in der Krone.
Ohne zu säumen, erklärte der Wahrsager: »Weit aus der Fremde
sehe ich einen Helden kommen, ein Heer auch aus gleicher
Richtung, mit gleichem Ziele, und herrschen in unserer Stadtburg!«
Schließlich erzählte man Folgendes noch: Als das Mädchen Lavinia
auf dem Altare die Gaben gewissenhaft ansteckte, wartend
neben dem Vater dann stand, da begann – nicht wirklich, nur scheinbar –
hellauf zu lodern ihr wallendes Haar; der Kopfschmuck verbrannte
knisternd, die Locken der Königstochter, die edelsteinschwere
glänzende Krone; Lavinia selber dampfte inmitten
schimmernden Lichtes, sie schien den ganzen Palast zu entflammen.
Schrecken erregte der Anblick, er galt als erstaunlich. Die Seher
sagten, das Mädchen werde ein rühmliches Schicksal gewinnen,
freilich das eigene Volk in erbitterte Kämpfe verwickeln.
Über die Wunder bestürzt, begab sich der Fürst zu dem Haine
seines weissagenden Vaters Faunus, unter der hohen
Quelle Albúnea, die, im Gebiete des Waldes die größte,
mächtig herabrauscht und, düster beschattet, beißende Dünste
aushaucht. In schwieriger Lage holen von hier sich Italiens
Völker und holt ganz Oinotria Auskunft. Brachte der Priester
Gaben hierher und legte in schweigender Nacht sich zum Schlummer
nieder auf Fellen geopferter Schafe, bekam er vor Augen
viele Gestalten, die seltsam dahinschwebten, hörte verschiedne
[300] Stimmen und durfte mit Göttern Zwiesprache halten, er durfte
tief im Avernus sogar zu den Mächten des Acheron sprechen.
Vater Latinus auch suchte von hier sich Auskunft. Er brachte
feierlich hundert zweijährige wollige Schafe zum Opfer,
breitete ihre Felle dann aus und streckte zum Schlafen
darauf sich nieder. Da scholl aus der Höhe des Haines die Stimme:
»Niemals, mein Sohn, verheirate deine Tochter an einen
Gatten aus Latium, meide die vorbereitete Hochzeit!
Fernher naht sich der Schwiegersohn, wird mit seinem Geschlechte
unseren Ruhm zu den Sternen tragen: Die Enkel von seinem
Stamme werden, soweit die Sonne vom Ostmeer zum Westmeer
leuchtet, die Völker der Welt unterwerfen und kraftvoll regieren.«
Diese warnende Auskunft, in schweigender Nacht von dem Vater
Faunus erteilt, ward weiter verbreitet vom König Latinus.
Aber die Fama auch hatte im Flug sie bereits durch Italiens
Städte getragen, als die trojanische Mannschaft die Schiffe
an der von Kräutern bewachsenen Böschung des Ufers vertäute.
Unter hochragenden Baumkronen ließen Aeneas, die Fürsten
und der stattliche Jüngling Iulus sich nieder. Die Mahlzeit
richteten sie und legten im Grase unter die Speisen
Opferfladen von Weizengebäck – nach Jupiters Ratschluß –,
nutzten als Unterlage sie dann für die Früchte der Ceres.
Als sie schon alles aufgezehrt hatten, trieb sie der Hunger,
auch nach den Fladen zu greifen und kühn – Entweihung des Opfers! –
kräftig hinein in die schicksalsträchtigen Scheiben zu beißen.
»Ha, auch die Tische verschmausen wir!« rief da Iulus, zum Scherze,
ohne ein Wort noch hinzuzufügen. Aber der Ausruf
sollte das Ende der Irrfahrt bedeuten. Kaum war er verklungen,
griff ihn Aeneas schon auf, betroffen vom Walten der Götter.
Schweigen gebot er der Runde und rief: »Ich grüße dich, Heimat,
die mir vom Schicksal bestimmt, auch euch, ihr treuen Penaten
Trojas! Hier findet ihr Wohnstatt und Vaterland! Dieses Geheimnis
hat mir mein Vater Anchises – jetzt fällt es mir ein – hinterlassen:
[301] ›Nötigt, mein Sohn, dich an einem fremden Gestade der Hunger,
nach der dürftigen Mahlzeit auch noch die Tische zu essen,
glaube, trotz deiner Erschöpfung, die Heimat gefunden zu haben,
lasse gleich Häuser errichten, umgib sie mit mächtigem Schutzwall!‹
Damit beschrieb er den Hunger von heute, der unsere bittre Irrfahrt beschließt!
Auf denn, sogleich bei Aufgang der Sonne lasset uns voller
Freude das Land hier und seine Bewohner, auch Städte erkunden,
aufbrechen uns vom Landeplatz aus nach verschiedenen Seiten!
Bringt jetzt dem Jupiter Trankopfer dar und betet zu meinem
Vater Anchises, setzet die Weinkrüge auf zum Gelage!«
Derart sprach er, umkränzte die Schläfen mit grünenden Zweigen,
flehte zum Schutzgeist der Stätte, zu Tellus darauf als der ersten
Gottheit, den Nymphen sodann, den Flüssen auch, die er noch gar nicht
kannte, zur Nacht und zu ihren soeben aufglänzenden Sternen,
jetzt zum idäischen Jupiter und zur phrygischen Mutter
sämtlicher Götter, den Eltern zum Schluß in Himmel und Orkus.
Hoch aus dem heiteren Äther ließ der allmächtige Vater
dreimal den Donnerschlag grollen und senkte vom Himmelsreich eine
feurig und golden umglitzerte Wolke schwingend hernieder.
Unter den Troern verbreitete gleich sich die Kunde, gekommen
sei jetzt der Tag zur Gründung der Stadt, die sie aufbauen sollten.
Feierlich setzten die Mahlzeit sie fort und schleppten, des guten
Vorzeichens froh, voller Eifer die Weinkrüge, kränzten die Becher.
Als dann der folgende Tag mit dem Frühlicht die Erde erhellte,
zogen sie truppweise aus, um Land und Leute, die Küste
wie auch die Stadt zu erkunden: den trägen Sumpfquell Numicus,
weiter den Thybris, dann das Gebiet der tapfren Latiner.
Darauf befahl der Sohn des Anchises hundert Trojanern
jeglichen Standes, zum stattlichen Schlosse des Königs zu ziehen,
ordnungsgemäß als Gesandtschaft von Zweigen der Pallas umschattet,
[302] Gaben zu bringen dem Herrscher, um Frieden und Freundschaft zu bitten.
Ohne Verzug gehorchten sie eilenden Schrittes dem Auftrag.
Darauf markierte Aeneas den Grundriß der Mauern mit einem
flachen Graben, begann mit dem Bauen, umkränzte die erste
Wohnstatt am Strande, wie üblich bei Lagern, mit Erdwall und Brustwehr.
Doch die Gesandten durchmaßen die Strecke, sie sahen die hohen
Türme und Bauten bereits der Latiner und nahten den Mauern.
Knaben und jugendlich blühende Männer übten zu Rosse
sich vor der Stadt, sie lenkten die staubumflatterten Wagen,
schnellten von Bogen die sausenden Pfeile, schleuderten schwanke
Wurfspieße, maßen sich eifrig im Wettrennen wie auch im Faustkampf.
Schon überbrachte ein Bote zu Pferde voraus dem bejahrten
König die Nachricht vom Eintreffen ausnehmend stattlicher Männer,
deren Bekleidung fremdartig wirke. Latinus entbot sie
gleich zum Palast, ließ selbst auf dem Throne der Ahnen sich nieder.
Ehrwürdig ragte, gewaltig, auf hundert mächtigen Säulen,
hoch auf der Stadtburg, der stolze Palast des laurentischen Picus,
Stätte der Scheu seit den Ahnen, umgeben von schattigen Bäumen.
Zepter und Faszes hier zu empfangen, das galt für die Fürsten
als ein beglückendes Omen. Der Tempel diente als Rathaus,
diente als Stätte dem heiligen Festmahl; nach Schlachtung des Widders
pflegten die Väter an langen Tafeln sich niederzulassen.
Bilder der Ahnen, geschnitzt aus uraltem Holze der Zeder,
zeitlich geordnet, standen im Vorraum: Fürst Italus – weiter
Vater Sabinus, der erste Pflanzer der Reben, die Sichel
auch noch als Standbild bewahrend – der greise Saturnus – dann
Ianus,
Gott mit dem doppelten Antlitz, und andre Gebieter der Vorzeit,
die in den Kämpfen zum Schutze der Heimat Wunden empfingen.
Aufgehängt waren auch zahlreiche Waffen an heiligen Säulen,
[303] Streitwagen, einstmals erbeutet – geschweifte Kampfäxte – Helme,
hoch überragt von Büschen – wuchtige Riegel von Toren –
Wurfspieße – Schutzschilde – Schiffsschnäbel, die man den Kielen entrissen.
Picus, Bezwinger der Rosse, mit quirinalischem Krummstab,
festlich in kurzer Staatstoga und in der Linken den Rundschild,
thronte als einziger; Circe, die ihn zum Gatten begehrte,
hatte, verschmäht, mit dem goldenen Stab ihn ge schlagen, durch einen
giftigen Trank ihn zum buntgesprenkelten Spechte verwandelt.
Mitten in diesem Heiligtum saß auf dem Throne der Väter
König Latinus, berief die Trojaner zu sich und erklärte
ihnen nach ihrem Eintritt ins Schloß mit freundlichen Worten:
»Dardaner, sagt, was ihr wünschet! Wir kennen ja euch wie auch eure
Stadt und vernahmen von eurer Landung an unserer Küste.
Warum, aus welcher Notlage fuhret ihr über die weiten
bläulichen Wogen zum Strande Ausoniens? Mögt ihr auf einer
Irrfahrt, mögt ihr, von Stürmen verschlagen – ein Schicksal, das oftmals
Schiffern auf hohem Meere zuteil wird –, in unseres Flusses
Mündung gefahren sein, nunmehr an sicherem Ankerplatz ruhen:
Lehnt nicht die Gastfreundschaft ab, die wir bieten. Bedenkt, wir Latiner,
Enkel Saturns, wir üben Gerechtigkeit ohne Gesetze,
zwanglos, freiwillig, dem Brauche des uralten Gottes nur folgsam.
Wie ich mich jetzt noch erinnre – Jahre verdunkeln den Hergang –,
sagten betagte Aurunker, Dardanos stamme aus unsrem
Lande, von hier aus sei er zu Phrygiens idäischen Städten
und auf das thrakische Samos, heut Samothrake, gezogen.
Er, der von Kórythos aufbrach, einer Stadt der Tyrrhener,
sitzt jetzt im goldnen Palast des gestirnten Himmels auf hohem
Throne, vermehrt durch seine Altäre die Reihen der Götter.«
Darauf entgegnete ihm Ilióneus mit folgenden Worten:
»König, erhabener Sprößling des Faunus, uns jagte kein wilder
[304] Sturmwind über die Fluten an eure rettende Küste,
leitende Sterne täuschten so wenig uns wie das Gestade.
Planmäßig sind wir, mit voller Absicht, gekommen zu eurer
Hauptstadt. Wir wurden vertrieben aus einem der mächtigsten Reiche,
das je die Bahn der Sonne vom Rande des Himmels erblickte.
Jupiter gilt uns als Ahnherr, ihn feiern Dardanias Männer
freudig als Stammvater, ihm, dem Größten, entstammt auch Aeneas,
König der Troer. Dieser schickt uns zu deinem Palaste.
Welch ein Orkan aus dem wilden Mykene die Fluren am Ida
grausam durchtobte, welch furchtbares Schicksal die zwei Kontinente
Asien und Europa zum Kampf auf die Schlachtfelder hetzte,
davon vernahmen die Menschen am äußersten Nordrand der Erde,
den der Okeanos abschließt, auch jene der heißesten Zone,
die sich inmitten der anderen vier in der Sonnenglut ausdehnt.
Seit der vernichtenden Flut durchirrten wir zahlreiche Meere.
Heute erbitten wir Wohnrecht für unsere Götter, ein kleines,
harmloses Landstück am Strande, dann Wasser und Luft, das Gemeingut.
Keinerlei Schande bringen wir eurem Reich, ihr gewinnt nur
glänzenden Ruhm, nie erlischt der Dank für die Hilfe, und niemals
werden Ausonier die freundliche Aufnahme Trojas bedauern.
Bitte, verschmähe uns nicht, wenn zum Flehen wir freiwillig unsre
bindenumwickelten Arme erheben! Ich schwöre wahrhaftig,
bei dem Geschick des Aeneas und seiner gewaltigen Rechten,
treu, auf dem Schlachtfeld bewährt auch: Zahlreiche Völker und Stämme
wünschten sich dringend in Frieden und Freundschaft mit uns zu verbünden!
Göttliche Weisungen aber befahlen uns streng, nur in eurem
Lande die Zuflucht zu suchen. Dardanos ward hier geboren,
Phöbus verlangt von uns Rückkehr zum Ursprung und drängt auf Gehorsam,
hier zum tyrrhenischen Thybris, zur heiligen Quelle Numicus.
Auch überreicht Fürst Aeneas dir Zeugnisse früheren Glanzes,
diese bescheidenen Gaben, aus Trojas Flammen geborgen:
[305] Hier aus der Goldschale spendete einstmals Anchises den Göttern;
hier die Insignien führte einst Priamos, wenn er vorm Volke
feierlich Recht sprach, das Zepter, die hohe Tiara, das Staatskleid,
Arbeit trojanischer Frauen!«
Derart sprach Ilioneus. Latinus blickte indessen
still auf den Boden, ohne Bewegung, und nur in den Augen
lebte die innere Spannung. Nicht das golden bestickte
Purpurgewand, nicht das Zepter des Priamos reizte den König.
Vielmehr verweilte er grübelnd beim Hochzeitsbunde der Tochter,
prüfte genau die Bedeutung der Auskunft des uralten Faunus:
daß in Aeneas der Schwiegersohn aus der Fremde erscheine,
unter der gleichen Befugnis wie er zur Herrschaft berufen,
daß er der Stammvater ausnehmend tapferer Nachkommen werden
solle, die einstmals kraftvoll die Weltherrschaft antreten würden.
Endlich begann er voll Freude: »Mögen die Götter denn unser
Vorhaben segnen, sie lenken es ja! Ich erfülle den Wunsch dir,
Troer, und weise die Gaben nicht ab. Im Reich des Latinus
sollt ihr ertragreiche Fluren und Trojas Wohlstand nicht missen.
Komme Aeneas doch selber, wenn er so dringend uns sehen,
Freundschaft schließen, als Bundesgenosse dastehen möchte,
scheue sich nicht, vor die Augen wohlwollender Männer zu treten!
Gilt mir ein Händedruck doch schon als Teilstück des künftigen Friedens.
Jetzt übermittelt eurem Gebieter meine Entgegnung:
Meine Tochter als Gattin einem Landsmann zu geben,
ist mir verwehrt durch Orakel, die mir mein Vater erteilte,
wie auch durch himmlische Zeichen. Der Schwiegersohn kommt aus der Fremde,
sagen sie, bleibt hier in Latium, trägt mit seinem Geschlechte
unseren Ruhm zu den Sternen. Ich halte Aeneas für jenen,
heiße den – wenn ich nicht irre – Schicksalserwählten willkommen.«
Darauf erwählte Latinus hundert Rosse – er hatte
dreihundert glänzende Tiere an stattlichen Krippen ja stehen –,
jedem Gesandten eines, und ließ den Teukrern die Renner
vorführen gleich, in zierlich gestickten Decken von Purpur;
[306] goldene Halsketten hingen hernieder zur Brust von den Mähnen,
golden auch leuchteten die Kandaren zwischen den Zähnen;
für den am Strande noch weilenden Helden Aeneas ein Fahrzeug,
prächtig bespannt mit zwei göttlichen, feuerschnaubenden Rossen
jenes Geschlechts, das Circe ohne Wissen des Vaters
listig als Halbblut durch Zuführen einer gewöhnlichen Stute
ehemals züchtete. Derart begrüßt und beschenkt von Latinus,
kehrten die Boten beritten zurück als Bringer des Friedens.
Aber da schwebte gerade Jupiters grimmige Gattin
quer durch die Luft vom inachischen Argos. Aus himmlischer Ferne,
von den sizilischen Höhen Pachynums, erspähte sie Trojas
Flotte, erspähte Aeneas, der freudig an Land sich bewegte,
sah schon die Schiffe geräumt und die Männer beim Hausbau beschäftigt,
Zeichen des Willens, zu siedeln. Da blieb sie, aufs höchste erbittert,
stehen, erleichterte kopfschüttelnd sich mit den zornigen Worten:
»Ha, du verdammte Sippe, ihr Phryger, die dauernd ihr meine
Pläne durchkreuzt! Sie konnten den Tod bei Sigeion nicht finden,
konnten, gefangen schon, fliehen, verbrannten auch nicht in den Flammen
Trojas: Aus feindlichen Scharen, aus tödlichen Glutmassen durften
sie noch entschlüpfen! Ich möchte fast glauben, daß jämmerlich meine
Kräfte versagen, mein Haß, schon gestillt, in Schlummer mich wiegte,
mich, die ich feindlich die Heimatvertriebenen über die Wogen
scheuchte und überall auf den Meeren ihr Fortkommen hemmte!
Völlig erschöpft sind Himmel und Wellen vom Kampf mit den Teukrern.
Syrten und Skylla und wilde Charybdis nützten mir gar nichts.
Sicher am Ziel der Wünsche, am Thybris, ruhen die Troer,
fürchten weder die Wogen noch mich! Mars konnte die Riesen
einst, die Lapithen, vernichten, dem Zorn der gekränkten Diana
opferte einst der Vater der Götter das alte Kalydon –
wofür büßten Kalydon und jene Riesen so grausam?
[307] Aber ich große Gemahlin Jupiters, die ich voll Tatkraft
alles versuchte – vergeblich! – und keinerlei Mittel verschmähte,
ich unterliege Aeneas! Doch bin ich selber zu schwächlich,
hole ich ohne Bedenken mir Hilfe, wo sie sich mir bietet.
Kann ich den Himmel nicht einsetzen, lasse den Orkus ich kommen!
Kann ich Aeneas nicht hindern, Latiums Reich zu betreten,
gibt unumstößlich das Schicksal Lavinia ihm zur Gemahlin,
bitte: so kann ich doch wenigstens stören und hemmen den Fortschritt,
schwer mit Verlusten die Völker der beiden Könige schlagen!
Dafür sollen sich Schwiegervater und Schwiegersohn einen.
Blut von Trojanern und Rútulern nutze als Mitgift, Lavinia,
Göttin Bellona stifte dein Eheglück! Hekabe hatte
einst nicht als einzige Gattin die brennende Fackel geboren;
Venus auch tat es, die Mutter des neuen Paris. So setzen
Fackeln der Hochzeit in Brand auch das wiedererstandene Troja!«
Schreckenerregend ließ sie sogleich sich zur Erde hernieder.
Laut aus der Wohnstatt der Furien, dem finsteren Reiche der Tiefe,
rief sie Allekto, die Unheilsgöttin, die schreckliche Kriege,
Rachgier und Tücke und üble Verbrechen verursacht und fördert.
Pluto selber, auch ihre Unterweltsschwestern verwünschen
grimmig das Scheusal, so vielfältig kann sie sich wandeln, so gräßlich
wirkt ihr Erscheinen, so grauenhaft-finster umwimmeln sie Schlangen.
Aufgehetzt wurde jetzt noch von Juno die furchtbare Göttin:
»Bitte, jungfräuliche Tochter der Nacht, erweise mir einen
Liebesdienst: Niemals verdunkelt, zerbrochen gar werde mir meine
Ehre, und niemals umgarne Aeneas den König Latinus
listig mit Hochzeitsplänen und setze sich fest in Italien!
Einträchtig lebende Brüder vermagst du zum Kampf zu entzweien,
Haß in Familien zu säen, tödliche Fackeln und Geißeln
wild in die Häuser zu schleudern; tausendfach läßt du dich nennen,
tausendfach weißt du zu schaden! Deinen Erfindergeist sporne,
tilge die Friedensvereinbarung, streue die Samen des Krieges!
Sämtliche Männer sollen die Waffen verlangen und packen!«
[308] Völlig durchdrungen vom Gifte der Gorgo, stürzte Allekto
gleich ins laurentische Land und zum Schloß des Königs Latinus,
ließ sich im stillen Gemach der Amata dann nieder. Die Fürstin
wurde, als Frau, von brennenden Sorgen, von Zorn auch gepeinigt
über die Ankunft der Teukrer und über die Hochzeit mit Turnus.
Aus den blauschimmernden Haaren warf ihr die Furie eine
Schlange entgegen. Sie sollte im Innern der Herrin sich bergen,
grimmig sie stacheln zu Wut und zu blinder Verwirrung des Hauses.
Zwischen das Kleid und den zarten Busen schlüpfte unmerklich
züngelnd die Natter, und ohne daß die Erregte es spürte,
hauchte sie Gift ihr ins Herz. Zur goldenen Halskette wurde
machtvoll das Tier, zur Binde am Schleier des Hauptes, verkroch sich
zwischen den Haaren, umschlängelte leicht beweglich die Glieder.
Aber zuerst erfaßte die Kraft des berauschenden Unheils
nur die Sinne, erfüllte mit Glut nur das Knochenmark, ohne
unwiderstehlich das Herz in Flammen zu setzen. Noch ruhig
sagte Amata, ganz sorgende Mutter, zum Gatten und weinte
bitterlich über die Heirat der Tochter mit einem Trojaner:
»Soll ein verbannter Phryger tatsächlich unsre Lavinia
heiraten, Vater, ohne daß du dich der Tochter und deiner
selber erbarmst – auch der Mutter nicht, die der Entführer des Mädchens
treulos verläßt weit über das Meer, wenn der Nordwind erst auffrischt?
Ebenso drang einst nach Sparta ein phrygischer Hirt und entführte
Helena, Ledas Tochter, nach Troja! Wie steht es um deine
niemals gebrochene Treue, die einstige Sorge um deine
Lieben, die Zusagen, die du dem Turnus, unsrem Verwandten,
machtest? Erwarten Latiner den Schwiegersohn wirklich vom Ausland,
ganz unumstößlich, und drängt dich des Vaters Faunus Orakel,
nun, so erachte ich jedes Gebiet, in dem wir nicht herrschen,
sinnvoll als ›Ausland‹ und deute entsprechend die Weisung der Götter.
[309] Prüfen wir derart den Stammbaum, dann finden als Ahnen des Turnus
Inachos wir und Akrisios, kurz, als Kernland: Mykene!«
Aber Amata flehte umsonst. Sie sah, wie Latinus
seinen Standpunkt behauptete. Nunmehr durchdrang das zum Wahnsinn
treibende Schlangengift tiefer die Fürstin, durchsetzte sie völlig.
Aufgepeitscht durch die entsetzliche Wirkung, stürzte die Arme
zügellos durch die riesige Stadt in rasendem Rausche.
Wie sich ein Kreisel, den Knaben voll Eifer im offenen Hofe
spielerisch treiben in mächtigem Bogen, wirbelnd herumdreht,
unter der Peitschenschnur kreist, ein schnurrendes Holzstück aus Buchsbaum,
staunend begafft von den ahnungslosen kleineren Jungen,
ständig beschwingt von den Hieben der Geißel: ebenso stürmte
rasend Amata quer durch die Stadt und durch das Gewimmel
ihres zum Kriege leicht reizbaren Volkes. Doch kam es noch schlimmer:
Wie überwältigt vom Toben des Bacchus, auf stärkeren Frevel,
stärkeres Wüten versessen, trieb sie die Tochter ins Freie,
fort in die Wälder, versteckte sie dort in den laubreichen Bergen,
wollte das Mädchen den Teukrern entreißen, die Hochzeit vereiteln,
»Bacchus, juchhei!« auf den Lippen, als halte sie dich nur der Tochter
würdig; für dich bloß solle sie greifen zum biegsamen Thyrsus,
dir nur sich tummeln im Tanz und weihen die wallenden Locken.
Eilig sprach sich ihr Rasen herum, und sämtliche Frauen,
gleichfalls entflammt von dem Rausche, verließen die Häuser und stürzten
fort in die Wildnis, boten die Nacken, die Haare den Winden,
ließen zum Teil auch den Äther erdröhnen von wildem Geheule,
warfen sich Felle um, schwangen mit Weinlaub umwundene Stäbe.
Unter den Tobenden reckte Amata die lodernde Fackel
hitzig empor, sang Hochzeitslieder für Turnus und ihre
Tochter, rollte die blutunterlaufenen Augen und kreischte
[310] plötzlich: »He, Mütter, latinische Frauen, höret mich, alle:
Haltet ihr pflichtgemäß eurer unglückverfolgten Amata
Treue und drückt euch die Sorgenlast einer wahrhaften Mutter,
löset die Haarbinden, feiert an meiner Seite die Orgien!«
Derart hetzte Allekto die Fürstin im Wahne des Bacchus
rings durch die Wälder und durch die entlegenen Fluren des Wildes.
Hinreichend glaubte die Furie fürs erste die Wut schon gesteigert,
Plan und Familienfrieden des Königs vernichtet zu haben.
Gleich erhob sich die grimmige Göttin auf düsteren Schwingen,
schwebte zur Stadt des kühnen Rutulerfürsten, die einstmals
Danaë gründete mit argeischen Siedlern, vom Südsturm
hierher verschlagen. Die Leute der Vorzeit nannten die Siedlung
Ardea; rühmlich behauptet der Name sich heute noch, aber
Macht und Bedeutung schwanden. Hier hatte Turnus im hohen
Schlosse die finstere Nacht schon zur Hälfte verschlafen. Allekto
legte ihr schreckliches Antlitz und ihren Furienkörper
ab und verwandelte sich in ein altes Mütterchen, furchte
streng sich die Stirn zu häßlichem Anblick, umwand sich mit einer
Binde und einem Olivenkranze die silbrigen Haare,
wurde zu Kálybe, einer betagten Priesterin Junos,
trat dann dem jungen Mann vor die Augen mit folgenden Worten:
»Turnus, du läßt so zahlreiche Mühen erfolglos verrinnen,
läßt es geschehen, daß troische Siedler dein Zepter ergreifen?
Schlägt doch Latinus die Hochzeit und die mit dem Blute erworbne
Mitgift dir ab und holt sich den Erben der Macht aus der Fremde!
Auf denn, du Opfer des Hohnes, besteh die Gefahren, die keinen
Dank dir erwerben, schlag die Tyrrhener, beschütz die Latiner!
Während du ruhtest in nächtlicher Stille, sollte ich diese
Forderung der allmächtigen Juno dir rückhaltlos stellen.
Lasse voll Zuversicht deine Mannschaft sich rüsten, zum Kampfe
ausrücken sie und die phrygischen Fürsten samt ihren bemalten
Schiffen im Lager am Ufer des lieblichen Flusses vernichten!
Das verlangen die mächtigen Himmelsbewohner. Und sollte
König Latinus dir wortbrüchig seine Tochter verweigern,
möge er selbst noch verspüren, was Turnus an Kriegstaten leistet!«
[311] Über die Priesterin lächelnd, gab ihr der Jüngling zur Antwort:
»Daß die dardanischen Schiffe die Mündung des Thybris durchfuhren,
ist mir durchaus nicht, wie du wohl vermutest, entgangen. Erdichte
solche Gefahren mir nicht! Die Himmelskönigin Juno
wird uns bestimmt nicht vergessen.
Aber dich, Muttchen, plagt das untätige Alter, nicht länger
wirklichkeitsoffen, mit nichtigen Sorgen und foppt dich Prophetin
unter den Kampfespflichten der Fürsten mit sinnlosem Schrecken.
Bilder und Tempel der Himmlischen sollst du betreuen. Die Männer,
denen die Kriegführung zusteht, bestimmen den Krieg und den Frieden.«
Diese Entgegnung entflammte Allekto zu wütendem Zorne.
Darauf ergriff den Jüngling noch beim Sprechen ganz plötzlich ein Zittern,
stier verharrte sein Blick: So zischte die Furie mit Schlangen,
zeigte sich gräßlich in wahrer Gestalt. Mit glühenden Augen
stieß sie zurück den Mann – der rang noch, vergeblich, um Worte –,
ließ aus den Haaren zwei Schlangen sich hochrecken, knallte mit ihrer
Peitsche und schleuderte rasend ihm folgende Worte entgegen:
»Sieh mich doch an, die das träge, nicht länger der Wirklichkeit offne
Alter im Kampflärm der Fürsten mit sinnlosem Schrecken verspottet!
Schau hier: Ich kam vom Wohnsitz der schrecklichen Schwestern, ich trage
Kriege und Tod in der Hand!«
Damit schnellte sie auf den Jüngling die Fackel und bohrte
tief in das Herz ihm den Kienspan, der düster noch schwelte. Entsetzen
scheuchte den Fürsten jäh aus dem Schlafe, in plötzlichem Ausbruch
drang aus dem Leib ihm der Schweiß, überströmte sämtliche Glieder.
[312] Aufgewühlt schrie er nach Waffen und suchte im Bett sie, im Zimmer.
Gier nach dem Mordstahl trieb ihn, verbrecherisch rasender Kriegswahn,
Zorn obendrein, wie wenn entzündetes knisterndes Reisig
rings um den kochenden Kessel geschichtet wird, siedend das Wasser
höher noch aufwallt, die qualmende Masse Schaumkronen bildet,
schließlich hoch über den Rand die Gischtflocken sprühen, die Wellen
nicht mehr sich halten und aufwärts, wie Nebel, die Dampfwolken wirbeln.
Gegen Latium also rief nach dem Bruche des Friedens
Turnus die Führer der Mannschaften auf und befahl, sich zu rüsten,
kämpfend Italien zu schützen, den Feind aus dem Lande zu drängen:
Beiden, Latinern wie Teukrern, seien sie völlig gewachsen.
Als den Befehl er gegeben, die Götter unter Gelübden
angefleht hatte, spornten die Männer sich wetteifernd selber;
manchen bewog die jugendlich-frische Erscheinung des Fürsten,
manchen sein uralter Adel oder sein tüchtiges Handeln.
Während Turnus die Rutuler mahnte zu mutigem Einsatz,
schwebte Allekto auf stygischen Schwingen geschwind zu den Teukrern,
weitere Tücken im Sinn. Sie suchte die Stelle am Strande,
wo sich der schöne Iulus pirschend den Jagdfreuden hingab.
Dort versetzte die Frau vom Kokytos ganz plötzlich in wilde
Hetzgier die Meute, sie ließ vertraute Beute sie wittern,
lockte sie auf die Fährte des Hirschs. Dies bewirkte den Ausbruch
furchtbarer Kämpfe, entflammte das Landvolk zu rasender Kriegswut.
Einen hervorragend stattlichen Hirsch mit mächtigen Stangen
hatten die Söhne des Tyrrhus, des Herdenmeisters und Hüters
sämtlicher Fluren des Königs, einstmals der nährenden Hirschkuh
[313] listig entführt und aufgezogen mit Hilfe des Vaters.
Silvia pflegte, die Schwester, sorglich das völlig gezähmte
Tier, sie umwand das Geweih ihm mit zarten Blumengeflechten,
striegelte pfleglich sein Fell und wusch es in reinlicher Quelle.
Streicheln ließ sich der Hirsch, und gewohnt an das Futter der Herren,
streifte er weit durch die Wälder und kehrte von selbst zur vertrauten
Bleibe zurück, wenn auch lange die Nacht schon herniedergesunken.
Heute, auf solchem Streifzug, suchte am Fluß er, stromabwärts
treibend, dann wieder am grünenden Uferrand, Schutz vor der Hitze.
Dabei scheuchte empor ihn die wütende Meute des Iulus.
Dieser entflammte selber sogleich im Ehrgeiz des Jägers,
legte den Pfeil auf und ließ vom gekrümmten Horn ihn entschwirren.
Göttliches Eingreifen stärkte die noch unsichere Rechte.
Sausend durchdrang das Geschoß die Weichen des Hirschs. Der getroffne
konnte noch schnell in seine vertraute Behausung entkommen,
schleppte sich blutüberströmt in den Pferch und ließ von dem lauten,
schmerzlich flehenden Stöhnen den ganzen Stall widerhallen.
Silvia schlug sich, in erster Bestürzung, klagend die Arme,
rief dann um Hilfe; gleich strömten die rüstigen Bauern zusammen.
Urplötzlich – lauerte doch im stillen Walde die Furie –
waren zur Stelle sie, dieser mit feuergehärtetem Knüttel,
jener mit furchtbar gebuckelter Keule; was jeder gerade
auftreiben konnte, benutzte im Zorn er als Waffe. Und Tyrrhus,
eben beschäftigt, mit Keilen den Eichenstamm vierfach zu spalten,
packte wutschnaubend die Axt und hieß die Mannschaft sich ordnen.
Nunmehr war für die spähende Furie die Stunde gekommen,
tätig das Unheil zu steigern. Sie flog auf das Stalldach, vom Firste
gab sie das Hirtensignal, verstärkte, indem sie das Krummhorn
[314] blies, noch die Tartarusstimme. Von diesem Getöse erbebten
sämtliche Triften und hallten die tiefen Waldungen wider.
Fernher vernahm es der Triviasee, desgleichen das helle,
schwefelgesättigte Wasser des Nar und der Quell des Velinus.
Aufgeregt preßten die Mütter vor Angst an den Busen die Kinder.
Auf das Signal hin, so weit die schrecklichen Hornstöße drangen,
griffen die trotzigen Bauern zur Waffe und strömten von allen
Seiten zusammen. Doch auch die troischen Streiter ergossen
sich durch die Tore des Lagers nach außen, um Iulus zu helfen.
Beiderseits bildeten Fronten sich. Nicht mehr wie streitendes Landvolk
prügelte man sich mit Keulen und feuergehärteten Pfählen,
nein, mit zweischneidigen Streitäxten kämpften sie, todbringend starrten,
Saaten des Unheils, gezückte Schwerter, die ehernen Klingen
glänzten im Sonnenlicht fernhin und blitzten hinauf zu den Wolken.
Ebenso bildet das Meer, wenn die Winde auffrischen, weiße
Schaumstreifen, reckt sich allmählich dann höher mit wallenden Wogen,
bäumt sich zum Schluß aus den tiefsten Schlünden empor bis zum Äther.
Hingestreckt ward hier im vordersten Treffen durch sausenden Pfeilschuß
Almo, der älteste Sohn des Tyrrhus, ein rüstiger Junge.
Tief in der Kehle haftete ihm das Geschoß und erstickte
blutig die frische Stimme, zugleich das noch keimende Leben.
Zahlreiche andere fielen, mit ihnen der greise Galaesus,
der beim Versuch, noch Frieden zu stiften, dahinsank, ein Muster
wie an Gerechtigkeit so auch an Reichtum im alten Ausonien;
Schafherden hatte er fünf, gleichviele Herden von Rindern
füllten die Ställe ihm, hundert Pflüge durchfurchten sein Saatfeld.
Während, noch ohne Entscheidung, der Kampf auf dem Schlachtfelde tobte,
schwebte Allekto nach Einlösung ihres Versprechens – sie hatte
blutig eröffnet den Krieg und die ersten Verluste gefordert –
[315] weg von Hesperien, schwang durch die Lüfte sich aufwärts zum Himmel,
sagte zu Juno, stolz über ihr nunmehr erfolgreiches Wirken:
»Siehe, da hast du die Zwietracht, sie gipfelt in offenem Kampfe!
Sollen sie Freundschaft jetzt schließen und durch Verträge besiegeln!
Wo ich nun schon mit ausonischem Blute die Troer befleckte,
möchte ich eines hinzufügen, bleibt mir dein Wohlwollen sicher:
Will durch Gerüchte benachbarte Städte zum Eingreifen reizen,
sie in wahnwitziger Kriegslust entflammen, ringsher den Parteien
Hilfe zu bringen. Ausweiten will ich den Schauplatz der Kämpfe.«
Juno indessen erklärte: »Genug der List und der Schrecken!
Kriegsgründe wirken, schon metzeln die Männer mit Schwertern sich nieder;
Waffen, gezückt erst vom Zufall, triefen stets weiter vom Blute.
Sollen der wackre Sprößling der Venus und König Latinus
derart doch feiern die Eheverbindung mit herrlicher Hochzeit!
Allzu freizügig will dich der Vater, des hohen Olympus
Herrscher, nicht über die Bahnen des Äthers hinstreifen lassen.
Zieh dich zurück! Was noch weiter zu tun bleibt, möchte ich selber
ausführen.« Dies gab Juno zur Antwort. So hob denn Allekto
ihre von Schlangen zischenden Schwingen und flog von den hohen
Weiten des Himmels zurück zur Wohnstatt im Reich des Kokytos.
Zwischen hochragenden Bergen, im Binnenlande Italiens,
liegt das berühmte, sogar in fernen Gebieten bekannte
Tal von Ampsanctus, rings von den dichten Laubkronen düstrer
Wälder umgeben; tosend ergießt sich ein Sturzbach zur Tiefe,
braust um die Felsblöcke, wirbelt in einem gewaltigen Strudel.
Eine entsetzliche Höhle und dunstige Schächte des wilden
Pluto erblickt man; des Acheron mächtig klaffender Abgrund
haucht mit pestbringendem Atem. Hier barg sich die bitter verhaßte
Furie, befreite von ihrem Wirken Erde und Himmel.
Aber inzwischen verlieh dem Krieg die Herrscherin Juno
selbst den entscheidenden Aufschwung. Vom Schlachtfelde strömten die Hirten
zahlreich zur Stadt, die Gefallenen brachten sie, Almo, den Jungen,
[316] den ganz besonders im Antlitz verstümmelten alten Galaesus,
flehten die Götter an, klagten beschwörend beim König Latinus,
über das Blutbad aufs schärfste erbittert. Turnus persönlich
steigerte noch die Bestürzung: Man rufe die Teukrer als Herren,
suche Verwandtschaft mit Phrygern, er seinerseits werde verstoßen.
Auch die Männer der rasend im Bacchusrausch fern durch die Wildnis
schwärmenden Frauen – der Name Amatas verstärkte den Eindruck –
sammelten sich von allen Seiten und drängten zum Kampfe.
Gegen die Vorzeichen, gegen die Weisung der Götter verlangten
alle den gräßlichen Krieg in Verkennung des himmlischen Waltens.
Wetteifernd drängten sie sich um das Schloß des Königs Latinus.
Aber der Herrscher verharrte standhaft bei seinem Entschlusse,
fest wie ein Felsblock im Meer, den die Fluten umbranden, ein Felsblock,
der sich, umtobt vom Klatschen und Donnern der Wogen, mit seiner
Masse behauptet; erfolglos rauschen die gischtübersprühten
Klippen und gleitet der Seetang ins Wasser zurück von den Schroffen.
Doch er vermochte den sinnlosen Plan nicht zum Scheitern zu bringen,
alles vollzog sich gemäß dem Willen der wütenden Juno.
Dringend beschwor der Fürst die Götter zu Zeugen, die leeren Lüfte.
»Die feindlichen Mächte bezwingen mich«, rief er, »ich treibe
fort vor dem Sturm. Ihr werdet den Frevel mit Blut noch bezahlen,
Elende! Grausame Sühne erwartet dich, Turnus, entsetzlich,
anflehen wirst du zu spät mit Gelübden die Götter! Ich habe
mir schon die Ruhe errungen, ich liege schon sicher im Hafen,
werde nur, leider, im Unfrieden sterben.« Er sagte nichts weiter,
zog in das Schloß sich zurück und ließ die Ereignisse laufen.
Schon im hesperischen Latium herrschte der Brauch, den im Anschluß
dann die Albaner voll Ehrfurcht bewahrten, den heute die Weltmacht
[317] Rom auch noch treulich befolgt beim Ausbruch jeglichen Krieges,
mag man das getische Volk mit dem Jammer der Schlachten bedrängen,
Araber oder Hyrkaner; mag man nach Osten zu Indern
aufbrechen oder zurück von den Parthern die Feldzeichen fordern:
»Doppelte Tore« besitzt der Krieg – so heißen sie –, heilig
werden verehrt sie aus Furcht vor dem Mars, dem schrecklichen Gotte.
Hundert eherne Riegel und dauerhaft eisenbeschlagnes
Eichenholz schließen sie, ständig lauert Janus am Eingang.
Wenn unumstößlich die Väter beschlossen, den Krieg zu beginnen,
öffnet der Konsul persönlich im weißen Gewand des Quirinus,
nach gabinischer Weise gegürtet, die knarrenden Flügel,
ruft auch persönlich zum Kampf; ihm folgen die übrigen Männer,
eherne Blashörner dröhnen dazu in kräftigen Stößen.
König Latinus auch sollte den Krieg mit dem Heer des Aeneas
derart verkünden, die Tore der Trauer brauchgemäß öffnen.
Doch er entzog sich dem Auftrag, vermied die Ausführung einer
Amtspflicht, die Unheil nur brachte, und ließ sich im Freien nicht blicken.
Aber da schwang sich die Fürstin der Götter vom Himmel hernieder,
stieß mit der eigenen Hand an die säumigen Tore; die Angeln
drehten sich, Juno erbrach die eisernen Pfeiler des Kampfes.
Kriegsflammen lohten im ehemals friedlichen, stillen Ausonien.
Fußvolk rüstete sich zum Ausmarsch. In Staubwolken sprengten
andre auf stolzen Rossen. Ein jeder besorgte sich Waffen.
Schilde und Wurfspieße putzte man blank und glänzend mit fetten
Speckschwarten, schärfte am Schleifstein die Streitäxte. Feldzeichen tragen
wollte man ebenso gern wie Trompetengeschmetter vernehmen.
In fünf mächtigen Städten wurden auf Ambossen neue
Waffen geschmiedet, im stolzen Atina, im glänzenden Tibur,
in Crustumerium, Árdea wie dem umtürmten Antemnae.
Helme als Kopfschutz verfertigte man und flocht auch aus Weiden
Schilde. Andere schmiedeten eherne Brustpanzer oder
funkelnde Beinschienen unter Verwendung geschmeidigen Silbers.
Ihnen opferte man die Verehrung des Pflugschars, der Sichel,
[318] sämtlicher Landbaugeräte. Um schmiedete man die ererbten
Waffen. Schon dröhnten Signale, die Kampflosung wurde verbreitet.
Aufgeregt riß man den Helm von der Wand, die schnaubenden Rosse
zwang man ins Joch, zog über den golddrahtgeflochtenen Panzer,
packte den Schutzschild und gürtete sich mit dem wackeren Schwerte.
Öffnet den Helikon jetzt, ihr Musen, und singt mir die Lieder:
Welche Fürsten zum Krieg man entbot, was jedem an Mannschaft
folgte aufs Schlachtfeld, mit welchen tapferen Helden Italien
damals schon prangte, mit welchen Waffentaten es glänzte.
Fest im Gedächtnis bewahrt ihr es, Göttinnen, könnt es erzählen;
unsere Ohren erreicht nur der flüchtige Lufthauch der Sage.
Erster im Feld mit gerüsteter Schar, von Tyrrheniens Küste,
war Fürst Mezentius, stolzer Verächter der Götter. Sein Sprößling
Lausus begleitete ihn, der stattlichste sämtlicher Helden,
lediglich Turnus ausgenommen, der Kämpfer Laurentums.
Lausus, ein Rossebändiger und erfolgreicher Jäger,
führte aus Agyllina tausend Streiter – sie sollten
wenig ihm nützen! –; einen anderen Vater verdiente
freilich der Jüngling, auch einen Gebieter von beßrem Charakter.
Weiterhin ließ Aventinus, so trefflich wie einstmals sein Vater
Herkules, sehen auf grünender Aue den palmengeschmückten
Wagen mit siegreichen Rossen. Er führte als Wappen des Vaters
vorn auf dem Schild die von hundert Schlangen umzüngelte Hydra.
Auf aventinischem Hügel, im Walde, brachte ihn heimlich
Priesterin Rhea zur Welt, in das Reich der Sonne; sie hatte
sich mit dem Sieger aus Tiryns vereinigt, als dieser Laurentums
Fluren nach der Vernichtung Geryons erreichte und Spaniens
Rinder zur Schwemme trieb in einem tyrrhenischen Flusse.
Seine Gefährten fochten mit Spießen und schrecklichen Dolchen,
führten geschliffene Degen im Kampf und sabellische Lanzen.
Eingehüllt in das gewaltige Löwenfell, über dem Haupte
schreckenerregend die Mähne, den Rachen mit leuchtenden Zähnen,
[319] so betrat Aventinus die Königsburg, trug um die Schultern
stolz das Gewand des Herkules, ein entsetzlicher Anblick.
Zwillingsbrüder zogen heran aus den Mauern von Tibur,
Männer des Volks mit dem Namen des dritten Bruders, Tiburtus,
Held Catillus und Coras, der Tapfre, argeischer Abkunft,
tummelten sich im Geschoßhagel noch vor dem vordersten Treffen,
wie vom Gebirgsgipfel aus zwei wolkenentstammte Kentauren
reißend herabstürmen, von der Homole, vom weiß überschneiten
Othrys, der mächtige Urwald den Vorwärtsdringenden Raum gibt
und mit gewaltigem Krachen die buschigen Holzmassen brechen.
Caeculus fehlte auch nicht, der Gründer und König Praenestes,
der, nach dem Glauben der Zeitgenossen gezeugt von Vulcanus,
einst bei dem Vieh der Bauern auf brennendem Herde gefunden
wurde. Ihm folgte von weither in Scharen das Landvolk, die Männer,
die in dem hohen Praeneste, im Land der gabinischen Juno,
neben dem eiskalten Anio, auf den von Bächen durchschäumten
Felsen der Herniker wohnen. Die letzteren nährte Anagnia,
üppig auch du, Amasenus. Nicht alle führten sie schwere
Waffen, es klirrten nicht Schilde, nicht Wagen. Die meisten von ihnen
schleuderten blaugraue Bleikugeln, andere schwangen in ihren
Fäusten zwei Spieße; sie trugen bräunliche Kappen aus Wolfsfell,
um sich die Köpfe zu schützen; unbeschuht waren die linken
Füße, indes rohlederne Stiefel die rechten umschlossen.
Auch Fürst Messapus, der Rossebändiger, Sohn des Neptunus –
keiner vermochte ihn je mit Feuer, mit Stahl zu bezwingen –,
rief die schon lange des Kampfes entwöhnten, untätigen Völker
ausnehmend schnell zum Kriegsdienst und griff erneut zu den Waffen.
Aus Feszenninern bestand das Heer, aus faliskischen Äquern,
auch aus Bewohnern des Berges Soracte, der Flur von Flavina,
des ciminischen Berges und Sees wie der Wälder Capenas.
[320] Sie marschierten im Gleichschritt und priesen im Marschlied den König,
wie auch zuweilen schneeweiße Schwäne in lockeren Wolken
während des Rückflugs vom Jagdgrund aus langen Hälsen verschiedne
Weisen erklingen lassen und Fluß und Asias Teiche laut widerhallen.
Niemand wohl wähnte, aus solchem Gewimmel könnten sich klare
Schlachtreihen bilden, eher, ein Vogelschwarm hoch in den Lüften
dränge lautkreischend gewaltsam vom Meere heran ans Gestade.
Siehe dort Clausus vom uralten Stamm der Sabiner mit seiner
mächtigen Heerschar, den Mann, der sämtliche Kampftruppen aufwiegt!
Über ganz Latium ließ er die claudische Tribus und Sippe
weithin sich ausdehnen, seit die Sabiner zu Rom auch gehören.
Ihm unterstand Amiternums Kohorte, die Mannschaft aus Cures,
auch aus Eretum sowie aus dem ölbaumreichen Mutusca;
auch die Bewohner Nomentums, der Róseaflur des Velinus,
Tetricas schrecklicher Felsen, des hohen Severus, Casperias,
Forulis und des Gebietes am Flusse Himella; der Fluren,
denen Thybris und Fabaris Feuchtigkeit spenden; des kühlen
Nursia; Mannschaften Hortas und mancher latinischen Gaue;
Siedler zu beiden Seiten des leidigen Alliastromes –
ebenso dicht, wie die Wogen im libyschen Meere sich wälzen,
wenn der Orion, zum Unheil, versinkt in den tobenden Fluten;
oder wie Ähren am Anfang des Sommers im Sonnenglanz reifen,
sei es am Hermos oder auf Lykiens goldschimmernden Feldern.
Schutzschilde dröhnten, von Marschtritten zitterte schaudernd der Boden.
Auch Agamemnons Gefährte Halaesus, ein Feind der Trojaner,
schirrte die Pferde ins Joch und eilte mit tausend beherzten
Streitern dem Turnus zu Hilfe: Leuten, die, Freunde des Bacchus,
Massikerfluren behackten; Aurunkern, die man aus ihren
Bergen entbot; Sidizinern, die aus der Ebene stammten;
Männer aus Cales auch kamen; Bewohner der Gegend am seichten
Flusse Volturnus; rauhe Satíkuler; Scharen von Oskern.
[321] Letztere führten glatte, an beiden Seiten gespitzte
Wurfspieße, die sie an Riemen schleuderten, rückwärts dann zogen.
Lederne Schutzschilde trugen sie, Krummschwerter eigens zum Nahkampf.
Deiner auch, Oebalus, soll mein Gesang voll Achtung gedenken,
deiner, den Telon, erzählt man, dereinst mit der Nymphe Sebethis
zeugte, als er, bejahrt schon, über die Telebóër
herrschte auf Capri. Freilich, der Sohn, mit dem Reiche des Vaters
gar nicht zufrieden, gebot schon damals dem Volk der Sarrasten,
weiter dem Flachland, das der Sarnus befruchtet, den Leuten
Rufraes und Bátulums wie auch der Fluren Celemnas und jener
obstreichen Landschaft zu Füßen der ragenden Festung Abella.
Wie die Teutonen schleuderten Wurfkeulen sie im Gefechte,
nutzten als Kopfschutz Kappen von Korkeichenrinde; die Schilde
funkelten ehern, es funkelten ebenso ehern die Schwerter.
Hoch aus den Bergen schickte dich Nersae aufs Schlachtfeld, mein Ufens,
einen weithin berühmten, vom Glück begünstigten Kämpfer,
Herrscher der ausnehmend rauhen Äquíkuler, die in den Wäldern
ungestüm jagen und Schollen aus hartem Ackergrund brechen.
Voll bewaffnet betrieben sie Feldbau, schleppten mit Freuden
ständig aufs neue sich Beute zusammen und lebten vom Raube.
Priester und Feldherr zugleich, so kam von den Marsern der tapfre
Umbro, im Auftrag des Königs Archippos. Er hatte den Schutzhelm
dicht mit dem Laube des segenspendenden Ölbaums umwunden.
Einschläfern konnte er Nattern und Gifthauch atmende Schlangen
durch die Berührung der Hand und durch Zaubergesänge, er dämpfte
ihre Erregung, verstand es auch, Bißwunden kunstreich zu heilen.
Freilich mißlang ihm die Heilung des Speerstoßes, den ihm ein Troer
tödlich versetzte; weder einschläfernde Lieder noch Kräuter,
wie man sie sucht auf den marsischen Bergen, halfen dagegen.
[322] Innig beweinten der Hain der Angitia dich und der klare
Fuciner See, ja sämtliche klaren Gewässer.
Teil an dem Kriege nahm auch der edle Hippolytossprößling
Virbius. Mutter Aricia sandte den ruhmreichen Helden,
den in Egerias Hain sie, am Ufer des Waldsees, erzogen
hatte, am opferreichen Altar der milden Diana.
Mußte Hippolytos doch, nach der Sage, sterben infolge
Phaedras Bosheit, er wurde gemäß dem Fluche des Vaters
tödlich zerrissen von scheuenden Pferden; die Liebe Dianas
aber und Kräuter des Heilgottes Paion ließen ihn wieder
sehen die Sterne des Äthers und atmen die himmlischen Lüfte.
Doch der allmächtige Vater, verärgert, weil einer der Menschen
sich von den Schatten der Unterwelt wieder zum Lebenslicht aufschwang,
schleuderte selbst mit dem Blitzstrahl den Sohn des Phöbus, den Schöpfer
derart wirksamer Heilkunst, hinab in die stygischen Sümpfe.
Trivia freilich versteckte voll Güte Hippolytos heimlich,
gab ihn im heiligen Hain in die Obhut der Nymphe Egeria.
Einsam verbrachte er dort in den Wäldern Italiens sein Leben
unter dem Namen Virbius. Niemand kannte den Helden.
Stampfenden Rossen indessen sperrt man den Zugang zum Tempel
Trivias wie auch zum heiligen Hain, weil sie einst an der Küste,
scheu vor dem Untier des Meeres, den Jüngling vom Lenkerstand stürzten.
Nichtsdestoweniger tummelte ständig der Sohn auf der Rennbahn
angestrengt feurige Rosse und zog auch zu Wagen aufs Schlachtfeld.
Unter den ersten bewegte sich stattlich Fürst Turnus in voller
Rüstung und ragte mit seinem Haupte hoch über die Menge.
Dargestellt vorn auf dem Helm, überragt von dreifachem Buschen,
war die Chimaera und schoß aus dem Rachen ätnäische Flammen;
um so entsetzlicher spie sie wütend die widrigen Gluten,
je erbitterter ringsum das blutige Kampfgewühl tobte.
Seinen hell blinkenden Schutzschild schmückte, aus Goldblech getrieben,
[323] Io, im borstigen Fell schon, zur Kuh verwandelt, ein großes
Thema der Kunst, auch Argos, der Wächter des Mädchens, und Vater
Inachos, gießend den Stromquell aus kunstvoll gestaltetem Kruge.
Schwarmweis umgab ihn das Fußvolk, Scharen von Schildträgern ballten
sich im Gefilde, argeische Mannschaft, ein Teil der Aurunker,
Rutuler, auch die alteingeseßnen Sikaner, Sakraner,
schlagbereit schon, und Labiker mit farbig leuchtenden Schilden;
Männer, die deine Waldtäler, Tiber, sowie des Numicus
Ufer bestellen, die Rutulerberge und Hügel der Circe
fleißig beackern, die Fluren, die Jupiter Anxurus hütet,
mit ihm Feronia, die sich an grünenden Wäldern begeistert,
südlich von Sáturas schaurigem Sumpf, wo der eiskalte Ufens
tief durch die Niederung seinen Weg sich bahnt bis zur Mündung.
Überdies stieß noch Camilla vom Stamme der Volsker mit ihren
Reiterschwadronen zum Heere, ehern funkelnden Scharen.
Kämpferin war sie; Spinnrocken, Wollkörbchen, Werkzeug Minervas,
blieben dem Mädchen fremd. Sie vermochte die Härten des Krieges
kühn zu ertragen, sie konnte im Wettlauf den Wind überholen.
Über ein Saatfeld wäre sie hingestürmt, ohne die Spitzen
nur zu berühren und zarte Ähren im Lauf zu verletzen,
über das offene Meer auch geschwebt und die Kämme der Wogen,
ohne die wirbelnden Sohlen mit Schaumtropfen nur zu benetzen.
Sämtliche Männer strömten herbei, aus Häusern, von Feldern,
Scharen von Frauen auch, hielten mit Staunen, weit offenem Munde,
voller Begeisterung Ausschau, sobald die Jungfrau sich nahte:
wie ihr der fürstliche Purpur die zarten Schultern umhüllte,
golden die Spange das Haar ihr umraffte, den lykischen Köcher
kraftvoll sie trug und den Speer mit dem Myrtenholzschafte der Hirten.
[324]

Achter Gesang

Achter Gesang.

Als auf der Burg von Laurentum Turnus die Kriegsflagge zeigte,
dumpf die Signalhörner dröhnten, der Fürst die feurigen Rosse
antrieb und wild mit den Waffen rasselte, packte Erregung
sämtliche Bürger. Infolge des plötzlichen Ausbruchs der Kämpfe
leisteten die Latiner geschlossen den Fahneneid, tobte
grimmig die Jugend. Als erste Fürsten zogen Messapus,
Ufens und Götterverächter Mezentius eilig von allen
Seiten die Truppen zusammen, entblößten von Bauern die Äcker.
Venulus sprengte als Bote zur Stadt, wo der Held Diomedes
herrschte; um Hilfe sollte er bitten: In Latium faßten
Teukrer schon Fuß, Aeneas bringe besiegte Penaten
über den Seeweg ins Land, er behaupte, göttliche Weisung
gebe ihm Königsgewalt; schon verbündeten zahlreiche Völker
sich mit dem Troer, in Latium wachse bedrohlich sein Einfluß;
was Diomedes darauf unternehmen, was er bei gutem
Ausgang des Krieges erstreben solle, das wisse er selber
sicherlich besser als Turnus oder König Latinus.
Dieses geschah in Latium. Aber Aeneas erkannte
gleich die Entwicklung und sah sich von schweren Sorgen umbrandet,
wog in der Eile bald diesen, bald jenen Entschluß. Noch im Zwiespalt,
prüfte von vielerlei möglichen Wegen er jeglichen einzeln,
so wie das zitternde Licht des Wassers in ehernem Kessel
aufblitzt unter den Strahlen der Sonne oder des Mondes,
spiegelnd die Wände des Raums überfliegt, sich dann in die Höhe
richtet und plötzlich über die Deckentäfelung hinhuscht.
Tief in der Nacht – schon umfing ein fester Schlummer auf Erden
alle ermatteten Wesen, die Vögel, die Viehherden – streckte
[325] Vater Aeneas unter dem kühlen Himmelsgewölbe
sich am Flußufer nieder, zutiefst erschüttert vom jähen
Ausbruch des Krieges, und gönnte dem Körper spät erst Erholung.
Da erschien ihm die Gottheit der Stätte, der uralte Tiber,
stieg durch das Dickicht der Pappeln hervor aus dem lieblichen Strome.
Bläulich umhüllte ein Mantel aus feiner Leinwand den Körper,
schattendes Schilfrohr, zum Kranze gewunden, bedeckte die Haare.
Tröstlich benahm der Gott dem Helden die qualvollen Sorgen:
»Sprößling der Götter, der du aus Scharen von Feinden uns Troja
wieder zurückbringst und treulich das ewige Pergamon hütest,
sehnlich erwartet vom Boden Laurentums, von Latiums Fluren,
bleibe, hier ist dir die Heimat, hier sind die Penaten dir sicher!
Laß dich nicht schrecken vom drohenden Krieg! Die Erregung der Götter
hat sich gelegt.
Doch zum Beweis, daß kein Traumbild dich narrt, vernimm das Orakel:
Auffinden wirst du unter den Eichen am Ufer bald eine
stattliche Sau, die dreißig Frischlinge warf; auf dem Boden
liegt sie, weißleuchtend; weißleuchtend umdrängen die Jungen die Zitzen.
[Ebendort baust du die Stadt, den Ruhepunkt nach den Strapazen.]
Ebendort gründet nach dreißig Jahren Ascanius eine
Stadt mit dem ruhmreichen Namen ›Weißleuchtend‹: Alba. Untrüglich
gebe ich Auskunft. Jetzt laß dir in Kürze – gib Obacht! – erklären,
wie du als Sieger aus dem dich bedrohenden Kriege hervorgehst.
Hier in Italien suchten Arkader, Enkel des Pallas,
unter dem König Euander und ihm als Heerschar verpflichtet,
eine geeignete Stelle sich aus und errichteten eine
Stadt in den Bergen, dem Ahnherrn gemäß Pallantéum mit Namen.
[326] Andauernd stehen sie gegen das Volk der Latiner in Waffen.
Wirb sie als Kampfgenossen, schließe ein Bündnis mit ihnen!
Selber will ich in meinem Naß dich, stromaufwärts, geleiten,
will es so einrichten, daß du beim Rudern die Strömung bewältigst.
Auf denn, du Sprößling der Göttin, sofort, wenn die Sterne versinken,
bete gehörig zu Juno, beschwichtige fromm durch Gelübde
ihren bedrohlichen Zorn! Mir brauchst du erst nach dem Erfolge
Ehren zu zollen. Ich bin der bläuliche Thybris – mit voller
Strömung siehst du mich zwischen den Ufern die fruchtbaren Fluren
eifrig durchziehen –, der Strom, den aufs höchste die Himmlischen schätzen
Hier erhebt sich mein Schloß, ich entspringe bei Städten der Berge.«
Gleich nach den Worten verschwand der Gott in der Tiefe des Flusses.
Während die Nacht schon entwich, erwachte Aeneas, erhob sich,
schaute zum Sonnenlicht hin, das vom Rande des Himmels emporstieg,
schöpfte, dem Brauche getreu, aus dem Strome sich Wasser mit hohlen
Händen und ließ sein Gebet zu den Höhen des Äthers erschallen:
»Nymphen ihr, Nymphen Laurentums, Ursprung der Flüsse – du, Vater
Thybris mit deinem geheiligten Strome: Gewährt dem Aeneas
gnädige Aufnahme, bietet ihm endlich Schutz vor Gefahren!
Wo dich das Erdreich auch birgt, der du meiner im Unglück dich annimmst,
wo du auch immer dem Boden entquillst als schönster der Flüsse,
immer will ich mit Ehrungen, immer mit Opfern dich feiern,
stattlich gehörnter Stromgott, König der Wasser Hesperiens!
Hilf mir doch, gütiger noch beweise dein göttliches Walten!«
[327] Nach dem Gebet erwählte er aus der Flotte zwei Schiffe,
hängte die Ruder ein, hieß die Begleiter der Fahrt sich bewaffnen.
Ganz unerwartet enthüllte sich jetzt den Blicken ein Wunder:
Lag doch, weißleuchtend im Walde, mit gleichfalls weißleuchtenden Jungen,
deutlich erkennbar die Sau am grünenden Ufer! Aeneas
weihte sie pflichtbewußt dir, du gewaltige Juno, zum Opfer,
brachte das Tier mitsamt den Jungen sogleich zum Altare.
Schon durch die Länge der Nacht hin hatte Thybris die starke
Strömung gemäßigt, er hemmte sie jetzt und staute sein Wasser,
glättete mild, wie ein friedlicher See mit stehendem Spiegel,
sämtliche Wellen, erleichterte damit den Einsatz der Ruder.
Mühelos kamen geschwind sie voran, froh rauschte das Wasser.
Schnell durch die Fluten glitt das geteerte Kielholz, und staunend
sahen Wasser und Bäume das seltsame Schauspiel: wie weithin
funkelnde Schilde und bunte Schiffe den Flußlauf befuhren.
Weder bei Nacht noch bei Tage hielten sie ein mit dem Rudern,
eilten durch mächtige Windungen, wurden von vielerlei Bäumen
sicher beschattet, durchquerten friedlich tiefgrünende Wälder.
Glühend schon hatte die Sonne die Höhe des Weges erklommen,
als in der Ferne sie Burgmauern sahen und niedrige Häuser,
Bauten, die heute dank römischer Macht fast himmelhoch ragen,
während Euander nur über dürftige Mittel verfügte.
Ohne zu säumen, lenkten sie dorthin und nahten der Siedlung.
Eben an diesem Tage vollzog der arkadische König
festlich die Jahresopfer für Herkules wie auch für andre
Götter, im Hain vor der Stadt, gemeinsam mit Pallas, dem Sohne,
adligen Jünglingen und dem schlichten Senat. Sie verbrannten
Weihrauch, und warmes Opferblut dampfte noch auf den Altären.
Plötzlich erblickten sie ragende Schiffe im Schatten der Bäume;
näher schon glitten sie, schweigend ruderte, eifrig, die Mannschaft.
Aufgeschreckt sprangen sogleich die Arkader empor von der Mahlzeit.
Aber beherzt hieß Pallas das Opfer sie fortsetzen, packte
[328] selber die Lanze und eilte den Fremden entgegen. Von einem
Hügel aus fragte er, noch im Abstand: »Ihr Männer, weswegen
fahrt ihr so kühn in die Fremde? Wohin? Und wer seid ihr, aus welchem
Vaterland, welchem Geschlecht? Bringt Krieg ihr oder den Frieden?«
Antwort erteilte vom hohen Hinterdeck Vater Aeneas,
streckte den Zweig des Ölbaums empor zum Zeichen des Friedens:
»Männer und Waffen von Troja erblickst du, feind den Latinern,
die uns, als Schutz wir erbaten, aus Hochmut gewaltsam verstießen.
König Euander wollen wir sprechen. Bringt ihm die Nachricht;
eine Gesandtschaft troischer Fürsten erbittet ein Bündnis.«
Staunen ergriff den Jüngling beim Hören des ruhmreichen Namens.
»Lande nur, wer du auch bist«, so rief er, »besprich dich mit meinem
Vater persönlich, nahe als Gastfreund unsern Penaten!«
Herzlich begrüßte er ihn mit kräftigem Handschlag. Dann schritten
beide vom Ufer des Flusses zum Hain, der Stätte des Opfers.
Nunmehr eröffnete Vater Aeneas freundlich dem König:
»Tüchtigster unter den Griechen, dir sollte, mit Willen Fortunas,
flehend die bindenumwickelten Zweige ich reichen. Ich hege
keinerlei Furcht, weil Arkader du seist und Danaerfeldherr,
auch schon vom Ursprunge an verwandt mit den beiden Atriden.
Nein, meine eigner Entschluß und heilige Sprüche der Götter,
unsre gemeinsamen Ahnen, dein weltweiter Ruhm, sie verbanden
eng mich mit dir und hießen mich willig dem Götterwort folgen.
Dardanos, Urahn und Gründer von Ilion, den einst Elektra,
Tochter des Atlas, gebar, wie die Griechen berichten, gelangte
in das Gebiet der Teukrer. Sein Großvater war der bekannte
Riese, er trägt auf den Schultern kraftvoll das Himmelsgewölbe.
[329] Doch ihr Arkader stammt von Merkur ab, den einstmals die schöne
Maja empfing und gebar auf den eiskalten Höhen Kyllenes.
Trauen wir der Überlieferung, ist der Vater der Maja
ebenfalls Atlas, der Träger der Himmelsgestirne. Auf diese
Weise entstammen ein und demselben Urahn wir beide.
Hierauf baute ich, als ich es ablehnte, erst durch Gesandte
vorsichtig Fühlung mit dir zu suchen. Persönlich begebe
ich mich in deine Gewalt und bitte dich dringend um Hilfe.
Mich auch bedrängen, genauso wie dich, die Daunier mit einem
grausamen Kriege. Besiegen sie uns, so werden sie sicher
bald ganz Hesperien sich unterwerfen, desgleichen die beiden
Meere, das Adriatische wie das Tyrrhenische. Lasset
Treue einander uns schwören! Wir halten uns tapfer im Kampfe,
zeigen auch Mut, in Gefahren bewährten sich unsere Streiter!«
Derart sprach er. Euander hatte schon lange des Sprechers
Antlitz und Augen, die ganze Erscheinung mit Blicken gemessen.
Kurz nur entgegnete er: »Sehr gern, du tapferster Teukrer,
biete ich Aufnahme dir und erkenne dich an! Ich erinnre
mich noch der Worte, der Stimme, der Miene des großen Anchises!
Weiß ich genau doch, wie Priamos, Sohn des Laómedon, seine
Schwester Hesíone aufsuchte, die in Salamis herrschte,
anschließend dann in die rauhen Berge Arkadiens reiste.
Damals umkeimte der erste Bartflaum die Wangen mir. Staunend
sah ich die Fürsten der Teukrer, staunend auch Priamos selber;
stattlicher aber als sämtliche anderen ragte Anchises.
Damals schon wollte ich gern im glühenden Eifer der Jugend
ansprechen ihn und einen herzlichen Händedruck tauschen,
wagte es schließlich und durfte ihn glücklich nach Phéneos führen.
Einen vortrefflichen Köcher und lykische Pfeile verehrte
er mir zum Abschied, auch einen Mantel aus golden durchwirktem
Stoff und zwei goldene Zügel; heute besitzt sie mein Pallas.
Deshalb besteht schon für mich das von euch erbetene Bündnis,
und wenn das Tageslicht morgen den Erdkreis erleuchtet, entlasse
[330] ich euch – ihr sollt euch an Mannschaft und weiteren Hilfsmitteln freuen.
Aber zur Stunde begehet – ihr seid ja als Freunde gekommen –
mit uns gemeinsam in Andacht das jährliche Fest, das wir niemals
aufschieben dürfen; gewöhnt euch schon heut an die Mahlzeit mit Freunden!«
Darauf befahl er, aufs neue die Speisen und die schon entfernten
Becher zu bringen und bot den Männern Plätze im Grase.
Aber bevorzugt auf Polster und zottigem Löwenfell über
einem aus Ahorn gefertigten Thronsitz ließ er Aeneas
sitzen. Erwählte Jünglinge und der Altarpriester trugen
eifrig den Rindsbraten auf, sie packten die mühsam erzeugten
Gaben der Ceres in Körbe und reichten die Tropfen des Bacchus.
Vater Aeneas und seine Trojaner schmausten vom vollen
Rücken des Stiers und den edleren Teilen des Opfers.
Als dann der Hunger gestillt war, völlig befriedigt die Eßlust,
nahm Euander das Wort: »Dies jährliche Opfer und dieses
üblich gewordene Mahl, den Altar auch des machtvollen Gottes
danken wir nicht dem Irrwahn, dem Abfall von unseren eignen
uralten Göttern. Nein, Gastfreund, aus schweren Gefahren errettet,
gründeten dankbar das Fest wir und feiern es immer aufs neue.
Schau dort zuerst auf den Felsblock, er scheint auf den Steinen zu schweben,
schau die zersprengte Masse, die öde Wohnstatt im Berge,
jenen gewaltigen Steinhaufen, der von dem Einsturz geblieben!
Eine geräumige Höhle, ein Schlupfwinkel, gähnte hier einstmals,
die der entsetzliche Halbmensch Cacus bewohnte. Nie drangen
Strahlen der Sonne hinein. Und ständig dampfte der Boden
frisch von dem Blut der Ermordeten. Vorn an dem Tor des Verbrechers
staken, mit fahlen Gesichtern, die Schädel der Opfer und faulten
gräßlich dahin. Vulcanus war der Vater des Unholds,
der sich, schwarzrauchige Flammen speiend, massig daherschob.
[331] Aber für uns auch brachte die Zeit nach langem und heißem
Sehnen die Ankunft des hilfreichen Gottes. Als machtvoller Rächer
nahte, Bezwinger Geryons, des dreigestaltigen Riesen,
Herkules, trieb des Erlegten gewaltige Stiere als stolzer
Sieger. Die Rinder lagerten weithin im Talgrund am Flusse.
Doch der zur Untat gestachelte Cacus gedachte in seiner
Frechheit auf kein Verbrechen und keinerlei List zu verzichten.
Deswegen trieb er vom Weideplatz fort vier stattliche Stiere,
außerdem noch vier Kühe von außergewöhnlicher Schönheit.
Um aus den Spuren die Wegrichtung nicht erkennen zu lassen,
zog er die Tiere am Schwanz in die Höhle und tarnte auf diese
Weise den Raub. Dann verbarg er die Beute im Dunkel der Felsen.
Einem Verfolger enthüllte kein Zeichen den Weg in die Höhle.
Aber inzwischen trieb der Amphitryonsprößling die Tiere,
die auf der Weide sich gütlich getan, zu schleunigem Aufbruch.
Über den Abzug klagten die Rinder, die Waldungen hallten
wider vom Brüllen, das Vieh verließ lautdröhnend die Hänge.
Antwortend brüllte jetzt tief aus der Höhle eine der Kühe,
machte die Hoffnung des listig-wachsamen Räubers zuschanden.
Doch den Alkiden packte die Wut, ihm kochte die schwarze
Galle vor Ärger. Er packte die wuchtig gebuckelte Keule,
stürmte den Steilhang hinan zum Gipfel des ragenden Berges.
Damals zum ersten Male sahen wir Cacus vor jähem
Schrecken bestürzt, er suchte, geschwinder als Sturmwind, in seinem
Höhlennest Zuflucht, die Angst verlieh dem Eilenden Flügel.
Ungesäumt schloß er sich ein, er sprengte die Ketten und stürzte
abwärts den riesigen Block, den des Vaters Schmiedekunst lange
hoch in der Schwebe gehalten, verrammelte völlig den Zugang.
Aber da war der Tirynthier, rasend vor Wut, schon zur Stelle,
spähte nach möglichen Eingängen, hierhin und dorthin, und knirschte
wild mit den Zähnen. Dreimal musterte, glühend vor Rachlust,
[332] er den gesamten Berg Aventinus; dreimal vergeblich
suchte er Steine zu rücken; dreimal ließ er im Talgrund
kraftlos sich nieder.
Scharfkantig lag ein Granitblock, hochragend,
über der Höhle, rings fielen die felsigen Schroffen zur Tiefe.
Schrecklichen Raubvögeln bot er günstige Plätze zum Nisten,
neigte sich linkshin vom Hange hernieder in Richtung des Flusses.
Gegen ihn stemmte von rechtsher sich Herkules, rüttelte kräftig,
lockerte ihn in der Tiefe, versetzte dann plötzlich ihm einen
mächtigen Stoß. Von dem Sturz erdröhnte der riesige Äther,
barst das Flußbett, drängte vor Schrecken der Wasserschwall rückwärts.
Aufgedeckt lag die Höhle, die mächtige Schlupfburg des Cacus,
offen erschlossen dem Blick bis zum Grund sich die finsteren Grotten,
ganz so, als klaffte die Erde durch rohe Gewalt auseinander,
schlösse die Unterwelt auf und enthüllte die Göttern verhaßten
Sitze der bleichen Seelen, als sähe man unten den tiefen
grausigen Schlund, als erbebten, geblendet vom Lichte, die Manen.
Wider Erwarten plötzlich im Lichte ertappt und in seinen
Klüften gefangen, begann, wie noch niemals, Cacus zu brüllen.
Herkules setzte von oben ihm zu mit Geschossen, benutzte
alle erdenklichen Waffen, bedrängte mit Ästen und Blöcken,
riesig wie Mühlsteinen ihn. Doch der Unhold – er konnte dem Unheil
länger nicht ausweichen – spie aus dem Schlunde, ein wahrhaftes Wunder,
riesige Rauchwolken, hüllte in Düsternis sämtliche Grotten,
raubte den Augen die Sicht und ballte in felsigen Klüften
nachtschwarzen Qualm und ein Dunkel, das spärliche Flammen durchzuckten.
Herkules ließ sich im Zorn das nicht bieten, er schnellte durch Feuer
vorwärts im Sprunge, dorthin, wo der Rauch am dichtesten wogte,
[333] wo auch der Höhlengrund wallte von düster ziehenden Schwaden,
packte im Finstern den Riesen, dem nunmehr das Sprühen von Flammen
gar nichts mehr nützte, umschlang ihn fest und würgte ihn zähe,
bis ihm die Augen herausquollen, blutleer die Kehle ihm stockte.
Anschließend brach er das Tor auf, den Zugang zur düsteren Höhle,
zeigte die Rinder, die ohne Erfolg verheimlichte Beute,
offen dem Himmel und schleifte den häßlichen Leichnam an seinen
Füßen heraus. Nicht sattsehen konnte das Volk sich an diesem
Halbwilden, seinem Gesicht, den gräßlichen Augen, der furchtbar
zottigen Brust und dem Rachen, in dem die Flammen erstickten.
Seitdem begeht man dies Fest, die Nachfahren feiern voll Freude
ständig den Tag, Potitius als der Begründer des Kultes
und die Pinarier als die Betreuer des Herkulesopfers.
Herkules weihte noch selbst den Altar, den wir immer als ›Größten‹
lobpreisen werden, der immer als ›Größter‹ auch dauert in Zukunft.
Deshalb, ihr Jungen, bekränzt euch zum Lobe so rühmlicher Leistung
heiter die Haare mit Laub, erhebt mit der Rechten den Becher,
rufet den Gott, der uns alle beschützt, und spendet vom Weine!«
Soweit Euander. Schon deckten die weißgrünen Blätter der Pappel,
wie sie einst Herkules liebte, als Kranz beschattend die Haare,
hielt den geweihten Becher die Rechte. Froh gossen sie alle
gleich auf den Tisch die Spende und beteten fromm zu den Göttern.
Hoch vom Olympus begann inzwischen der Abend zu dämmern.
Nunmehr kamen die Priester, Potitius ging an der Spitze,
alle im Fellschurz nach alter Sitte, mit brennenden Fackeln.
Fortgesetzt wurde das Mahl, man brachte den Schmaus von dem zweiten
Opfer und häufte die vollen Schüsseln auf den Altären.
[334] Rings um die flammenden Herde scharten zum Lied sich die Salier,
festlich die Schläfen umkränzt mit den Zweigen der Pappel, zwei Chöre,
Junge und Alte getrennt. Sie priesen mit ihrem Gesange
ruhmvolle Taten des Herkules: Wie er das Schlangenpaar tödlich
würgte, die ersten Untiere, die ihm die Stiefmutter schickte;
wie er im Kriege zwei blühende Städte vernichtete, Troja
und Oichalía, wie er im Dienste des Königs Eurystheus
tausend gefährliche Arbeiten, Folgen der Eifersucht Junos,
ausführte. »Niemals Besiegter, die Söhne der Wolke bezwangst du,
die Kentauren Hylaios und Pholos; das Untier von Kreta;
in dem felsigen Tal von Nemea den riesigen Löwen.
Vor dir erbebten die Wasser der Styx und der Wächter des Orkus,
der auf benagten Knochen sich streckt in blutiger Höhle.
Niemand jagte dir Schrecken ein, selbst nicht Typhóeus mit seinen
aufwärts züngelnden Rachen. Besonnen bliebst du im Kampfe,
als dich die Schlange von Lerna mit wimmelnden Köpfen umzischte.
Glück dir, du wahrhafter Jupitersprößling, du Zierde der Götter,
gnädig und glückbringend komme zu uns, nimm teil an dem Opfer!«
Feierlich sangen sie dies und erwähnten vor allem des Cacus
Schlupfwinkel noch und das feuerspeiende Ungetüm selber.
Ringsum hallten die Höhen und weithin die Waldungen wider.
Nach der Erfüllung der kultischen Pflichten zogen sie alle
wieder zur Stadt. Der König schritt, gebeugt schon vom Alter,
zwischen Aeneas und seinem Sohne, auf beide sich stützend,
und verkürzte den Weg durch mannigfache Gespräche.
Staunend ließ Aeneas die lebhaften Blicke im Umkreis
schweifen, die Stätte beeindruckte ihn, er fragte in heitrer
Stimmung nach einzelnem, ließ sich berichten von Taten der Vorzeit.
Dabei erklärte Euander als Gründer der römischen Stadtburg:
[335] »Hier in den Wäldern hausten als Urvolk Faune und Nymphen,
Menschen auch, die noch aus Baumstümpfen sproßten und knorrigen Eichen,
denen Gesittung und Bildung fehlten. Sie konnten nicht Stiere
anschirren, konnten nicht ernten, nicht sparsam Erworbenes nutzen,
nährten sich mühsam von Baumfrüchten wie vom Ertrage der Jagden.
Da erschien vom hohen Olympus als erster Saturnus
als ein Verbannter, durch Jupiter grausam vom Throne gestoßen,
brachte den ungehobelten, über die Berge verstreuten
Wesen Gesetze und staatliche Einheit. ›Sichere Stätte‹,
Latium, nannte das Land er, weil er hier Zuflucht gefunden.
Das weit gepriesene Goldene Zeitalter herrschte in seinem
Reiche. So friedlich lenkte er klug die Geschicke der Völker,
bis sich allmählich die Zeiten verschlechterten, gar nicht mehr glänzten,
rasende Kriegswut sich durchsetzte, gleichzeitig schamlose Habgier.
Die Ausonier wanderten ein und sikanische Stämme,
oftmals veränderte das Gebiet des Saturnus den Namen.
Weitere Könige herrschten, darunter der riesige, rohe
Thybris, nach dem wir Italer dem Fluß hier den Namen verliehen;
Albula hieß ursprünglich der Strom, doch verlor er den Namen.
Ich, aus der Heimat verbannt, bis ans Ende des Meeres verschlagen,
wurde hier seßhaft dank dem allmächtigen Schicksal und einer
unabwendbaren göttlichen Weisung; mich drängte die strenge
Mahnung der Mutter, der Nymphe Carmentis, mich drängte Apollo.«
Derart erzählte er, zeigte darauf nach weiterem Schreiten
gleich den Altar, dazu auch das Tor, das die Römer noch heute
das Carmentalische nennen, seit alters zu Ehren der Nymphe,
die als Prophetin zum ersten Male die künftige Größe
der Aeneaden besang und die ruhmreiche Stadt Pallanteum;
zeigte den prächtigen Hain, den der tapfere Romulus später
[336] klug zum Asyl erklärte; die eisige Grotte Lupercal,
nach dem lykäischen Pan benannt in parrhasischem Sinne;
wies auf den Hain Argiletums auch hin, der heiligen Stätte,
rief sie feierlich an und erzählte vom Tode des Gastfreunds
Argus. Zum Fels der Tarpeja führte er dann den Aeneas,
zum Kapitol, dem »goldenen« heute, doch einstmals von wildem
Urwald umwucherten. Damals schon schreckte die Scheu vor der Stätte
mächtig das Landvolk, es zitterte vor dem Wald und dem Felsen.
»Dieses Waldstück«, erklärte er, »diesen schattig belaubten
Hügel bewohnt ein Gott – wir wissen nicht, welcher. Arkader
sahen leibhaftig den Jupiter, wähnen sie, der in der Rechten
oftmals den düsteren Aegisschild schwang und Sturmwolken ballte.
Außerdem siehst du zwei Burgen mit völlig zertrümmerten Mauern,
Reste, ehrwürdige Denkmäler aus den Zeiten der Alten;
jene errichtete Vater Ianus, diese Saturnus,
jene Ianiculum einstmals genannt, Saturnia diese.«
Derart erreichten sie im Gespräch die Behausung des schlichten
Königs Euander und sahen verstreut auf dem Forum Romanum
Viehherden weiden, vernahmen Rindergebrüll, wo sich heute
stolz die Carinen erstrecken. Am Ziele erklärte Euander:
»Herkules trat nach dem Siege hier ein, ihm reichte vollständig
dieser Palast. Verschmähe auch du entschlossen den Reichtum,
halte des Gottes dich würdig, verachte die Einfachheit ja nicht!«
Damit geleitete er den stattlichen Helden Aeneas
unter das Dach des beengten Gebäudes und bot ihm auf einer
Laubschütte und dem Fell der libyschen Bärin ein Lager.
Nunmehr umhüllte die Nacht mit düsteren Schwingen die Erde.
Mutter Venus jedoch, von berechtigter Sorge gepeinigt
über den furchtbar drohenden Kriegslärm im Volk der Laurenter,
wandte im goldenen Schlafzimmer sich an den Gatten Vulcanus,
weckte zugleich mit den Worten das göttliche Sehnen der Liebe:
»Während die griechischen Fürsten berechtigt Troja und seine
untergangsreifen Burgen durch feindliche Flammen verheerten,
[337] bat für die Elenden nie ich um Hilfe, erflehte den Einsatz
deiner gewaltigen Machtmittel nicht. Ich wollte dein Können,
lieber Vulcanus, niemals für nichtige Zwecke mißbrauchen,
wenn ich zutiefst verpflichtet auch war dem Priamossohne
Paris und oft des Aeneas bittere Mühsal beweinte.
Heute betrat er, auf Jupiters Weisung, die Rutulerküste,
heute bitte ich dich, als meinen Gatten, um Waffen,
ich, die Mutter, für ihren Sohn. Die Tochter des Nereus
konnte durch Tränen dich umstimmen, gleichfalls die Frau des Tithonos.
Schau, was für Völker sich sammeln zum Kampf, was für Städte die Tore
schließen, die Klingen schon gegen mich schärfen, zum Tode der Meinen!«
Derart sprach sie und schlang um den Gatten die schneeigen Arme,
streichelte ihn, der noch zauderte, zärtlich. Da spürte er plötzlich
die ihm vertraute Flamme; die Glut, die er kannte, durchströmte
tief ihm das Herz und durchrann ihm wohlig die bebenden Glieder.
Ebenso bricht im Donner ein zuckender Blitzstrahl sich seine
feurige Bahn quer durch die flimmernden Wolken. Die Gattin
merkte es, froh der List und bewußt der eigenen Schönheit.
Schon in den Fesseln der ewigen Liebe, sagte Vulcanus:
»Weswegen holst du so weit her die Gründe? Verlorest du, Venus,
jedes Vertrauen zu mir? Wenn dir damals die Sorgen genauso
zugesetzt hätten, so hätte ich gleichfalls die Teukrer bewaffnen
dürfen! Nicht der allmächtige Vater, auch niemals das Schicksal
schlossen zehn weitere Kriegsjahre aus für Troja und seinen
König! Und möchtest du heute voll Eifer zum Kampfe dich rüsten:
Was ich auch immer zu leisten vermag in meinem Gewerbe,
was man aus Eisen und flüssigem Silbergolde verfertigt,
was auch die Flammen und Blasbälge hergeben – aber nicht länger
[338] sollst du durch Bitten dein eigenes Können bezweifeln!« Und voller
Sehnsucht umarmte er sie und fand, in den Schoß der Gemahlin
innig geschmiegt, den wohltuend sanften, erquicklichen Schlummer.
Halb schon verflossen war die Nacht, und die erste Erholung
hatte den Schlummer verscheucht. Schon war die Stunde gekommen,
da die Hausfrau, die sich durch Spinnen, die dürftig bezahlte
Arbeit Minervas, durchbringen muß, der glühenden Asche
während der Nacht noch die Flamme entlockt, dann bei künstlichem Lichte
rührig zum Schaffen die Sklavinnen zwingt, um das Lager der Ehe
sittsam bewahren, die Kinder gebührend erziehen zu können.
Ebenso zeitig und fleißig erhob sich der Meister des Feuers
rüstig vom schmeichelnden Lager, sein kunstreiches Werk zu beginnen.
Dicht an der Küste Siziliens, bei der äolischen Insel
Lipara, steigt aus den Wellen ein Eiland von rauchenden Felsen.
Unter ihm dröhnt die Höhle, dröhnen ätnäische Grotten,
wild von Kyklopenflammen zerklüftet. Wuchtige Hiebe
donnern von Ambossen. Glühende Stahlmassen, Chályberschätze,
zischen und brodeln in Becken. Ein Flammenmeer braust durch die Essen.
Haus des Vulcanus und Insel Vulcania nennt man die Stätte.
Hierher begab sich vom Himmel herab der Meister des Feuers.
In der gewaltigen Höhle schmiedeten schon die Kyklopen
Brontes, Steropes, Pyrakmon, die Leiber entblößt. In den Fäusten
hielten sie einen fast fertigen, teilweise auch schon polierten
Blitz, wie sie Jupiter zahlreich vom Himmelsgewölbe hernieder
sendet zur Erde. Nur Teilarbeit war an dem Stück noch zu leisten.
Angefügt hatten sie jeweils bereits drei Strahlen von Hagel,
[339] strömendem Regen, rötlichem Feuer und Sturmwind. Grad setzten
sie das entsetzliche Aufleuchten zu, das donnernde Krachen,
jähes Erschrecken, die züngelnden Flammen als Ausdruck des Zornes.
Andere schufen für Mars ein Fahrzeug mit fliegenden Rädern,
wie er es braucht, um Menschen und Städte aufs Schlachtfeld zu hetzen.
Auch den schrecklichen Panzer der zürnenden Pallas verzierten
wetteifernd sie mit goldenen Schuppen von Schlangen, mit einem
wimmelnden Klumpen von Nattern und, vorn auf dem Harnisch der Göttin,
mit dem Gorgonenhaupt, das, vom Rumpfe getrennt, noch die Augen
wutschnaubend rollte.
Da rief Vulcanus: »He, Ätnakyklopen,
aufhören, fort mit allen begonnenen Arbeiten! Achtung:
Waffen für einen Helden gilt es zu schmieden. Wir brauchen
Kräfte und rührige Hände und meisterhaft fachliches Können.
Vorwärts, kein Säumen!« Er sparte sich weitere Worte. In Eile
teilten sie alle die Arbeit unter sich auf und begannen
emsig das Werk. Schon strömten Kupfer und Gold, in dem großen
Schmelzofen ward der verwundende Stahl der Chalyber flüssig.
Einen gewaltigen Schutzschild formten sie, einen nur gegen
alle latinischen Waffen, nieteten fest ihn aus sieben
Platten zusammen. An Blasebälgen saugten und preßten
andre die Luft, und wiederum andere tauchten das Kupfer
zischend ins Wasser. Vom Krachen der Ambosse stöhnte die Höhle.
Taktmäßig hob die Schar der Kyklopen wuchtig die Arme,
packte mit Zangen und drehte die glühende Masse des Eisens.
Während der lemnische Gott dies vollzog an äolischer Küste,
weckten den König Euander im niedrigen Hause die heitre
Sonne, dazu das Morgengezwitscher der Schwalben am Giebel.
Eilig erhob sich der Greis, er zog den Leibrock sich über,
[340] schnallte sodann sich Tyrrhenersandalen unter die Sohlen,
hängte um Schulter und Hüfte sich seine tegäische Klinge,
schlug auch das Pantherfell von der linken Schulter zur Seite.
Seine zwei Wachhunde liefen voraus von erhabener Schwelle,
folgten getreu dann den Schritten des Herrn. Zum entlegenen Zimmer
seines Gastfreunds Aeneas begab sich der Held und gedachte
dabei der gestrigen Aussprache wie des gegebnen Versprechens.
Ebenso zeitig war auch Aeneas schon munter. Achates
ging ihm zur Seite, wie Pallas, der Sohn, dem Euander. Zusammen
trafen sie, grüßten einander durch Handschlag, ließen sich nieder
mitten im Hof und konnten sich endlich offen beraten.
König Euander begann:
»Mächtigster Feldherr der Teukrer, ich werde, solange du atmest,
niemals die troische Macht als besiegt und verloren erachten.
Freilich, wir steuern zum Krieg, im Vergleich mit eurem so hohen
Ruhme, nur weniges bei. Dort umschließt uns der tuskische Flußlauf,
hier umklirren die Rutulerwaffen unsere Festung.
Aber gewaltige Völker und machtvoll verbündete Heere
will ich dir zuführen; wider Erwarten bietet uns solchen
Vorteil die Stunde: Auf Weisung des Schicksals bist du zur Stelle!
Ganz in der Nähe erhebt sich die Stadt Agylla, in alten
Zeiten auf Felsen errichtet. Hier, auf etruskischen Höhen,
wurde ein lydischer Volksstamm, berühmte Krieger, einst seßhaft.
Jahrelang blühte das Volk, bis König Mezentius grausam
es unterdrückte, mit Waffengewalt, in despotischer Willkür.
Soll ich die gräßlichen Morde, die Greuel des wilden Tyrannen
aufzählen? Mögen die Götter es heimzahlen ihm und der Sippe!
Fesselte er doch Lebende eng mit Toten zusammen,
preßte die Hände auf Hände und Antlitz auf Antlitz, zu einer
ausgesucht furchtbaren Qual, und ließ in der Folterumschlingung,
eiterzerfressen, verwesend, die Elenden langsam verenden!
[341] Endlich ward es dem Volke zuviel. In Waffen umringten
Bürger das Schloß und in ihm den schrankenlos wütenden Fürsten,
schlugen die Höflinge tot und steckten in Brand das Gebäude.
Doch der Despot entrann dem Verderben, die Rutulerfluren
boten ihm Zuflucht, sein Gastfreund Turnus bewaffnete Hilfe.
Jetzt, in berechtigter Wut, erhoben sich alle Etrusker,
forderten, auch schon entschlossen zum Kriege, den Tod des Tyrannen.
Ihnen, den Tausenden, will ich zum Feldherrn dich geben, Aeneas.
Denn die Besatzungen der an der Küste versammelten Schiffe
murren und drängen zum Angriff, doch hemmt mit Orakeln ein alter
Seher die Ausfahrt: ›Erlesene junge Kämpfer Mäoniens,
blühende Zeugen uralten Mutes! Berechtigter Kummer
treibt euch aufs Schlachtfeld, Mezentius erntet gebührend den heißen
Zorn: Doch es darf kein Italer als Feldherr solch mächtigen Volksstamm
führen! Den Feldherrn holt euch von auswärts!‹ Betroffen von dieser
Warnung der Götter, verhält das Etruskerheer kampflos auf seinem
Platze. Boten mit Zepter und Reichskrone sandte Fürst Tarchon
selber zu mir, vertraute mir an die Zeichen der Herrschaft:
Kommen soll ich zum Heer, die etruskische Macht übernehmen.
Aber das lähmende, kalte, von langen Jahren erschöpfte
Alter, die sinkenden Kräfte, zur Tat nicht mehr fähig, verwehren
mir ein Befehlshaberamt. Ich würde dem Sohne es raten,
doch die sabinische Mutter macht ihn zum halben Italer.
Du, nach Alter und Adel vom Schicksal begünstigt, von Göttern
sichtbar berufen, du, zeig dich als tapferster Feldherr der Teukrer
wie der Italer! Auch meinen Trost und mein Hoffen, den Pallas,
will ich dir mitgeben. An die Strapazen des Krieges, das harte
Handwerk des Mars, soll er sich beizeiten gewöhnen, bewundernd
deine Taten vor Augen, von dir geleitet. Ich gebe
[342] zweihundert Reiter ihm mit, erlesene junge Arkader;
ebenso viele erwählt zur Begleitung auch Pallas sich selber.«
Auf die Erklärung des Königs hielten der Sproß des Anchises
und der getreue Achates die Blicke gesenkt, und noch lange
würden betrübten Herzens sie mancherlei Mühsal erwogen
haben. Da gab aus heiterem Himmel Venus ein Zeichen.
Jäh überraschend zuckte vom Äther ein Blitz, dem ein lauter
Donnerschlag folgte. Es war, als stürze das Weltall zusammen,
schmettere nachhallend eine Tyrrhenertrompete ins Weite.
Aufwärts blickten sie, wieder und wieder krachte der Donner.
Waffen sahen sie jetzt, bei sonst freibleibendem Himmel,
golden durch einen Wolkenkreis schimmern und hörten sie klirren.
Alle erstarrten vor Staunen. Der troische Held nur erkannte
gleich die Bedeutung des Klangs, ein Versprechen der göttlichen Mutter.
Darauf erklärte er : »Freund, du brauchst nicht zu fragen, was diese
Zeichen verkünden: Ich selber werde verlangt vom Olympus!
Diese Erscheinungen hat für den Kriegsfall die göttliche Mutter
einst mir versprochen; sie wird durch die Lüfte mir Waffen zu Hilfe
schicken, die Gott Vulcanus schmiedete.
Wehe, welch furchtbares Blutbad erwartet die armen Laurenter!
Turnus, wie bitter wirst du mir büßen! Thybris, wie viele
Schilde und Helme, die Leichen der Tapferen auch, die sie tragen,
wirst du versenken! Verlangt nur den Kampf und brecht nur das Bündnis!«
Derart sprach er, erhob sich vom ragenden Thron und entfachte
auf dem Altar des Herkules gleich die schlummernden Flammen,
wandte sich dann, wie am Vortag, mit freudigem Herzen den schlichten
Hausgöttern zu. Euander, mit ihm die trojanischen Helden,
brachten erlesene Schafe, nach heiligem Brauche, zum Opfer.
[343] Zu den Schiffen begab sich Aeneas und zu den Gefährten,
wählte von ihnen die Tapfersten aus, die zum Kampfe ihm folgen
sollten. Die übrigen ließen sich, ohne die Ruder zu regen,
leicht von der Strömung flußabwärts tragen; sie sollten Ascanius
über das Bündnis und über den Weg des Vaters berichten.
Pferde erhielten die Teukrer zum Ritt ins Gebiet der Tyrrhener,
einen vortrefflichen Renner Aeneas; ein Löwenfell deckte
bräunlich den Körper des Rosses, hell glänzten, vergoldet, die Tatzen.
Schnell überflog das Gerücht vom schleunigen Aufbruch der Reiter
nach dem Küstengebiet der tyrrhenischen Herrscher die Siedlung.
Inniger beteten angstvoll die Mütter. Die nahen Gefahren
schürten die Furcht, schon sah man deutlich die Schrecken des Krieges.
Vater Euander drückte zum Abschied die Rechte des Sohnes
kräftig und lange und sagte, ohne den Tränen zu wehren:
»Jupiter, gib mir zurück die entschwundene Jugend, die Kräfte,
die ich besaß, als zum ersten Mal, vor den Mauern Praenestes,
Feinde ich schlug, die Haufen erbeuteter Schilde verbrannte,
siegreich mit meiner Hand zum Tartarus schickte den König
Erulus, dem beim Gebären die Mutter Feronia – schrecklich! –
dreierlei Leben mitgab; ich mußte ihn dreimal bekämpfen,
dreimal zu Boden ihn strecken! Doch meine Rechte entraffte
dreimal das Leben ihm, ebensooft auch die Rüstung! Dann würde
niemals ich heute, mein Sohn, mich losreißen müssen aus deiner
lieben Umarmung, dann hätte Mezentius niemals so viele
Menschen gemordet, die Stadt nicht entblößt von so zahlreichen Bürgern,
mir, der an seiner Grenze ich lebe, zu bitterem Hohne!
Anflehen will ich euch, Himmlische, dich auch, Beherrscher der Götter,
Jupiter, bitte, erbarmt euch des arkadischen Königs,
hört, wie ein Vater euch anfleht! Wenn euer machtvolles Walten,
wenn auch das Schicksal mir Pallas am Leben erhält, mir vergönnt ist,
[344] wiederzusehen den Sohn und ihn zu begrüßen, dann, bitte,
laßt mich am Leben, ich werde auch härteste Mühsal ertragen!
Drohst du mir aber mit unaussprechlichem Unheil, Fortuna,
bitte, entreiße mir heut noch das grausame Leben, solange
zwischen der Furcht und der Hoffnung die Sorge mir schwankt und solange
ich dich umarme, mein lieber Sohn, dich, die einzige späte
Freude! Ach, blieben die Ohren verschont mir von einer so bittren
Botschaft!« So klagte der Vater beim letzten Abschied vom Sohne,
brach dann zusammen. Bediente mußten ins Zimmer ihn tragen.
Nunmehr verließen die Reiterschwadronen das offene Stadttor,
unter den ersten Aeneas, den treuen Achates zur Seite,
weitere troische Fürsten nach ihnen, dann, mitten im Schwarme,
auffallend weithin mit Mantel und buntem Schutzschilde, Pallas,
wie aus den Wogen des Ozeans Lucifer, der von der Venus
heißer als alle anderen himmlischen Flammen geliebt wird,
himmelwärts richtet sein heiliges Haupt und die Finsternis fortjagt.
Kummervoll hatten die Mütter den Stadtwall besetzt, mit den Blicken
folgten der Staubwolke sie und dem ehernen Funkeln der Kämpfer.
Doch die gewappneten Reiter durchzogen auf kürzestem Wege
eilend das Dickicht, sie jauchzten, sie schlossen sich enger zusammen,
unter den trappelnden Hufen erdröhnte das lockere Erdreich.
Nahe dem kühlen Strome von Caere ragte ein Hochwald,
schon von den Vorfahren heilig gehalten. Ihn kränzten von allen
Seiten, ein Kessel, mit düsteren Tannen bestandene Höhen.
Früh schon, erzählt man, weihten Pelasger, die vormals als erste
in dem Latinerland wohnten, den Hain, ein jährliches Fest auch
fromm dem Silvanus, dem göttlichen Schutzherrn der Fluren und Herden.
Ganz in der Nähe lagerten Tarchon und seine Tyrrhener
[345] klug in geschützter Stellung. Von oben ließ sich das ganze
Heer übersehen, es streckte sich weit hinaus ins Gelände.
Hierher rückte Aeneas mit seinen erlesenen Kriegern,
fand nach dem harten Ritt Erholung für Männer und Rosse.
Zwischen den Wolken des Äthers war schon die leuchtende Venus
mit den Geschenken zur Stelle. Als sie den Sohn im entlegnen
Tale allein am kühlen Ufer des Flusses erblickte,
trat sie ihm offen als göttliche Mutter entgegen und sagte:
»Sieh hier die Waffen, es hat sie mein Gatte, getreu dem Versprechen,
kunstreich vollendet! Jetzt fordre, mein Sohn, die stolzen Laurenter,
fordre den tapferen Turnus zum Kampfe, ohne zu schwanken!«
Damit lehnte die Göttin die funkelnde Rüstung an eine
Eiche, dem Sohn gegenüber, und schloß ihn beglückt in die Arme.
Freude empfand er über die ruhmreiche Gabe der Göttin,
konnte sich sattsehen nicht, betrachtete staunend die Stücke
einzeln und wendete sie wiederholt in den Händen; den festen,
flammensprühenden Helm mit dem fürchterlich nickenden Buschen;
weiter das tödliche Schwert; den von Bronze starrenden Panzer,
blutrot, von riesiger Größe, wie eine blau schimmernde Wolke,
die von den Strahlen der Sonne erglüht und fernehin leuchtet;
schließlich die glänzenden Beinschienen, Silbergold neben dem reinen
Golde; den Speer; das schwerlich beschreibbare Kunstwerk des Schildes.
Hatte auf ihm doch Vulcanus, in Kenntnis mancher Orakel,
wohl unterrichtet über die Leistungen kommender Zeiten,
Taten italischer Helden und Siege der Römer in Bildern
dargestellt, des Ascanius Stamm und der Reihe nach alle
Kriege: Wie einst in der grünenden Grotte des Kriegsgotts die Wölfin
[346] lag, zum Säugen bereit; wie die Zwillinge furchtlos im Spielen
sich an den Zitzen festsaugten, zärtlich die Amme beleckten;
wie sich die Wölfin zurückbog mit schmiegsamem Nacken und beide
liebkoste, dann mit der Zunge sorglich das Jungenpaar putzte.
Wie man im nahegelegenen Rom bei den Spielen im Zirkus
dreist die sabinischen Mädchen von ihren Plätzen entführte,
plötzlich das Volk des Romulus sich im Krieg mit dem greisen
Tatius maß und den sittenstrengen Bürgern von Cures;
wie dann, nach Schlichtung des Streites, die Fürsten im Schmucke der Waffen
vor dem Altare Jupiters standen, die Schalen in ihren
Händen, und mit dem Opfer der Sau den Staatsvertrag schlossen.
Ganz in der Nähe hatten vier feurige Rosse den Mettus
grausam zerrissen – weswegen auch brachest dein Wort du, Albaner! –,
fortschleifen ließ schon Tullus die Teile des toten Verräters
quer durch das Dickicht, die Blutspritzer troffen herab von den Dornen.
Durchsetzen wollte Porsenna die Rückkehr des kürzlich verbannten
Königs Tarquinius, Rom durch harte Blockade bezwingen.
Doch die Aeneasenkel stürmten zum Kampf für die Freiheit.
Deutlich sah man den König Porsenna ärgerlich drohen,
weil voll Verwegenheit Cocles soeben die Pfahlbrücke abbrach,
Cloelia aus der Gefangenschaft über den Tiber davonschwamm.
Auf der tarpejischen Burghöhe hielt, zum Schutze des Tempels,
Manlius Wache, er hütete das Kapitol, und die Hütte –
»Hofburg« des Romulus – leuchtete hell mit erneuertem Strohdach.
Hier auch im goldenen Säulengang meldete schnatternd, die Flügel
schlagend, die silberne Gans den drohenden Angriff der Gallier.
Hatten doch diese durch dichtes Gestrüpp den Berg schon erklommen,
[347] günstig getarnt dank der nächtlichen Finsternis: Golden erglänzte,
lockig, ihr Haar, ihr Gewand auch, es leuchteten ihre gestreiften
Mäntel, um milchhelle Nacken hingen goldene Ketten;
sicher gedeckt durch die Langschilde, hielten sie fest in den Fäusten
stoßbereit die in den Alpen üblichen blinkenden Spieße.
Tanzende Salier, nackte Luperker zeigte daneben
gleich das Relief, die wolleumwundenen Mützen, die Schilde,
die einst vom Himmel herabfielen. Ehrbare Hausfrauen fuhren
Opfergeräte durch Rom in gefederten Prachtkutschen.
Ferne
zog sich der Tartarus hin, die gähnenden Tore des Pluton,
wo man die Frevler bestrafte, wo du, Catilina, an steiler
Felsenwand hingst, vor den Furien zitternd, und abseits die milde
Heimstatt der Seligen, denen ein Cato Recht und Gesetz gab.
Zwischen den Bildern erstreckte das wogende Meer sich ins Weite,
golden, doch trugen die tiefblauen Wellen schäumende Kämme.
Silberhelle Delphine peitschten rings mit den Schwänzen
spielend zum Kreise die Flut und durchfurchten die Wogen. Inmitten
sah man die Seeschlacht von Actium dargestellt, ehern beschlagne
Kriegsflotten, sah das Kap am Leukate von kämpfenden Schiffen
rührig umwimmelt, die Wellen auch schäumen in goldenem Glanze.
Caesar Augustus stand dort auf ragendem Hinterdeck, Feldherr
aller Italer, mit Vätern und Volk, mit Penaten und machtvoll
hilfreichen Göttern; ihm strahlten die Helmwangen, sicher des Sieges;
über dem Haupte erschien hellglänzend der Glücksstern des Vaters.
Seitlich führte, begünstigt von Göttern und Winden, in straffer
Haltung Agrippa die Flotte; als stolze Auszeichnung glänzte
ihm um die Schläfen der Kranz, der mit goldenen Schiffsschnäbeln prangte.
[348] Ihm gegenüber Antonius, Feldherr zahlreicher fremder
Truppen, im Orient siegreich, am Roten Meer, kommandierte
Streiter Ägyptens, des ferneren Ostens, ja Bactras, der fernen
Grenzstadt; ihm folgte, zu bitterer Schmach, die ägyptische Gattin.
Allesamt stürzten sie sich in den Kampf, wild schäumte das Wasser
unter den Rudern, durchwühlt von dreizackigen Rammen. Man drängte
weit in die offene See, als schwämmen, vom Grunde gerissen,
fort die Kykladen, als prallten Berge mit Bergen zu sammen:
Derart gewaltig maßen im Kampf sich die turmhohen Schiffe.
Brandfackeln wurden geschleudert, es hagelte spitze Geschosse,
Blutströme röteten Neptuns Wogen wie niemals vor Zeiten.
Mitten im Schlachtgewühl spornte die Fürstin mit Isisgeklapper
rüstig die Ihren, sie sah nicht das Schlangenpaar hinterrücks drohen.
Vielerlei göttliche Scheusale, wie auch der Kläffer Anubis,
zückten die Waffen gegen Neptun, Minerva und Venus.
Kunstreich aus Eisen gemeißelt, tobte im Zentrum des Kampfes
Mars, aus dem Äther schwebten die grausigen Furien, in wildem
Freudenrausch schritt die Zwietracht einher mit zerrissenem Kleide;
Göttin Bellona folgte ihr nach mit blutiger Peitsche.
Hoch vom Kap Actium sah es Apollo und spannte den Bogen.
Jähes Entsetzen ergriff da Ägypter, Araber, Inder
sämtlich, es wandten zur Flucht sich alle Sabäer. Die Fürstin
selber sah man die Winde anflehen, sah sie mit vollen
Segeln davonfahren, lockern so weit wie möglich die Taue.
Dargestellt hatte der Feuergott sie, wie die Flut und der Nordwind
sie dem Gemetzel entführten, erblaßt vor dem nahenden Tode,
ihr gegenüber den mächtigen Nil, der traurig die Arme
breitete und die Besiegten, winkend mit seinem Gewande,
rief in den bläulichen Schoß, in die sichere Obhut des Stromes.
[349] Caesar jedoch, als dreifacher Sieger, erreichte die Hauptstadt,
brachte Italiens Göttern ein niemals vergängliches frommes
Denkmal: Er weihte in Rom an die dreihundert prächtige Tempel.
Freude und Spiel und lärmender Beifall durchdröhnten die Straßen:
Chöre von Müttern und Festaltäre in sämtlichen Tempeln –
vor den Altären der Boden bedeckt von geschlachteten Rindern!
Selber thronte am schneeweißen Tor er des leuchtenden Phöbus,
musterte prüfend die Gaben der Völker und ließ an die stolzen
Pfeiler sie heften. Der Zug der Besiegten dehnte sich weithin,
vielfach verschieden an Sprache, verschieden an Kleidung und Waffen.
Dargestellt sah man Nomaden, Afrer mit wallenden Kleidern,
Leleger, Karer, mit Pfeil und Bogen bewehrte Gelonen.
Ruhiger strömte der Euphrat bereits. Vom Rande der Erde
kamen die Móriner, weiter der Rhein mit der zweifachen Mündung,
trotzig die Daher, zum Schluß der Araxes, der Brücken verabscheut.
Diese Reliefs bestaunte Aeneas am Schild des Vulcanus,
den ihm die Mutter geschenkt. Er verstand nicht die Bilder, doch freudig
hob er sich über die Schulter die ruhmreichen Taten der Enkel.
[350]

Neunter Gesang

Neunter Gesang.

Während sich dies auf etrurischem Boden ereignete, schickte
Juno, die Tochter Saturns, vom Himmel die Iris zum tapfren
Turnus hernieder. Er lagerte eben im heiligen Tale
unter den Bäumen des Ahnherrn Pilumnus. Die Tochter des Thaumas
brachte mit jugendlich schwellenden Lippen ihm folgende Botschaft:
»Turnus, was keiner der Götter auf Wunsch zu versprechen dir wagte,
das gewährt dir der Lauf des Tages ohne dein Zutun:
Fürst Aeneas verließ die Flotte, die Stadt, die Gefährten,
suchte am Palatin auf die Wohnstatt des Königs Euander!
Mehr noch: Er rückte voran zu den fernsten etruskischen Städten,
bis zu den Lydern, und ruft das Landvolk bereits zu den Waffen!
Wozu noch zaudern? Jetzt gilt es den Einsatz von Rossen und Wagen!
Laß dich nicht aufhalten, nein, überrumple das feindliche Lager!«
Damit erhob sie zum Himmel sich wieder mit kraftvollen Schwingen,
zog im Dahinfliegen unter den Wolken den mächtigen Bogen.
Deutlich erkannte der Held die Göttin, streckte die Hände
hoch zu den Sternen und rief hinterdrein der entschwebenden Botin:
»Iris, du Zierde des Himmels, wer schickte dich mir von den Wolken
nieder zur Erde? Woher strahlt plötzlich so heiter das Wetter?
Sehe ich aufklaffen doch in der Mitte das Himmelsgewölbe,
Sterne den Pol umkreisen. Ich folge dem hohen Befehle,
wer auch durch dich zu den Waffen mich ruft.« Er begab sich zum Wasser,
tauchte die Arme ins Naß und betete fromm zu den Göttern,
richtete innig Gelübde für guten Erfolg an den Äther.
[351] Offen ins Feld schon rückte geschlossen die Streitmacht, an Rossen
reich, an vielfarbigen Rüstungen wie auch an goldenem Zierat.
Führte Messapus die Vorhut, die Söhne des Tyrrhus den Nachtrab,
so übernahm Fürst Turnus, als Feldherr des Ganzen, die Mitte,
ragte gewappnet mit seinem Haupte hoch über die Menge.
Ebenso strömt, gespeist von den sieben Quellflüssen, ruhig
vorwärts der tiefe Ganges, genauso der Nil nach dem starken
Hochwasser, wenn er zurückgeht und wieder im Flußbett sich sammelt.
Plötzlich erspähten die Teukrer von ferne, wie Wolken aus düstrem
Staube sich ballten und weithin die Fluren in Dunkelheit hüllten.
Laut von der vorderen Schanze erhob Kaïkos die Stimme:
»Was für ein Haufen wälzt sich dort finster heran, ihr Trojaner?
Schnell zu den Waffen, zu Schwertern und Lanzen, besetzt rasch die Wälle!
He, schon im Anmarsch der Feind!« Da strömten die Teukrer durch alle
Tore zurück in die Siedlung und stiegen zum Kampf auf die Schanzen.
Hatte doch der im Kriege aufs beste bewährte Aeneas
noch vor dem Aufbruch gemahnt: Wenn inzwischen ein Streit sich entspinne,
sollten sie ja nicht das Wagnis der offenen Schlacht auf sich nehmen,
vielmehr das Lager allein und die sicheren Erdwälle schützen.
Freilich, jetzt wollten Scham und Empörung zum Nahkampf sie locken;
dennoch verrammelten sie die Tore und folgten der Weisung:
Harrten in Waffen des Angriffs, gedeckt von den Türmen der Schanzen.
Turnus, mit zwanzig erlesenen Reitern, war der nur langsam
ziehenden Hauptmacht voraus schon geeilt und erschien unvermutet
[352] vor der Befestigung, ritt auf geschecktem thrakischem Rosse,
trug auf dem Haupte zum Schutz den Goldhelm mit tiefrotem Buschen.
»Wer, Kameraden, stürzt sich, als erster mit mir, auf den Gegner?«
rief er. »Da, sehet!« In Richtung des Feindes entsandte er seinen
Speer durch die Lüfte, zum Zeichen des Angriffs, und preschte dann vorwärts.
Seine Gefährten begrüßten es jauchzend, sie folgten mit wildem
Schlachtgeschrei, staunten nur über die scheinbare Trägheit der Troer,
die vor dem Blachfeld sich scheuten, zum Kampfe nicht ausrückten, sondern
wartend im Lager sich hielten. Vom Sattel aus musterte Turnus
zornig die Schanzen ringsum und suchte durch Sperren den Zugang.
Wie wenn ein Wolf die von Schafen wimmelnden Ställe umlauert,
draußen am Hürdenzaun heult, gepeitscht von stürmischem Regen,
jenseits der Mitternacht schon, und die Lämmer in sicherer Obhut
unter dem Muttertier blöken, der Räuber, ungestüm, rasend
gegen die ferne Beute nur tobt, die schon lange gestaute
Freßgier, der trockne, nach Blut wild lechzende Rachen ihn quälen:
ebenso packte den Rutuler jetzt beim Mustern der Wälle
brennender Zorn. Zutiefst durchdrangen ihn Schmerz und Enttäuschung.
Wie noch erzwingen den Zugang? Auf welche Weise die Teukrer
jagen aus sichrer Verschanzung, sie fort in die Ebene treiben?
Seitlich des Lagers, dicht neben ihm, ankerten, gleichfalls von Wällen
wie von dem Flußlauf sicher umhegt, die troischen Schiffe.
Gegen sie stürmte jetzt Turnus, wollte, im Beifall der Seinen,
anstecken sie, griff selber, wutlodernd, zum flammenden Kienspan.
Ungestüm stürzten sie vor, sie spornte das Beispiel des Fürsten,
[353] sämtliche Männer versahen sich gleich mit schwelenden Fackeln,
rissen von Herden die Glut; das Kiefernholz brannte rotleuchtend,
wirbelte Rauch auf; den blies mit der Asche Vulcanus zum Himmel.
Was für ein Gott, ihr Musen, bewahrte die Teukrer vor solchen
schrecklichen Flammen? Wer schützte die Flotte vor solcher Vernichtung?
Sagt es! Man glaubt es seit uralter Zeit, doch hält sich die Sage.
Damals, als Vater Aeneas am phrygischen Ida die Schiffe
baute und über die offene See zu fahren gedachte,
sprach, so erzählt man, die berekynthische Mutter der Götter
zu dem erhabenen Sohn: »Erfülle doch, bitte, der teuren
Mutter den Wunsch, den an dich als den Herrn des Olympus sie richtet!
Mir gehört ein Wäldchen von Kiefern, schon lange mir teuer.
Hoch auf der Kuppe erhob sich der Hain, die Stätte des Opfers,
düster umschattet von dunklen Föhren und stämmigem Ahorn.
Gern überließ ich zum Schiffsbau die Bäume dem troischen Helden,
als er die Flotte benötigte. Heute bedrängen mich Sorgen.
Mache mich frei von der Furcht, gewähre der Mutter die Bitte:
Mag unterwegs die Flotte nie scheitern, kein Sturm sie versenken;
sei es ihr Vorteil, daß sie auf meinen Bergen einst aufwuchs!«
Antwort gab ihr der Sohn, der Lenker der Weltallsgestirne:
»Mutter, was willst du vom Schicksal? Was wünschst du zugunsten der Schiffe?
Sollen die Kiele, von Sterblichen einstmals geschaffen, unsterblich
werden? Und soll Aeneas die schweren Gefahren so leichthin
meistern? Welche Gottheit besitzt solch weite Befugnis?
Eins nur vermag ich: Erreichten die Schiffe ihr Ziel und die sichren
Häfen Ausoniens, werde ich jedem von ihnen, das glücklich
[354] über die Meere den troischen Helden bis nach Laurentum
brachte, die Sterblichkeit nehmen, will es verwandeln in eine
Göttin der See, die, vergleichbar den Töchtern des Nereus, der Doto,
der Galatea, heiter durchquert die schäumenden Wogen.«
Dieses Versprechen beschwor er beim Strome des stygischen Bruders,
der mit pechschwarzen Wirbeln zwischen den Ufern dahinbraust;
kräftig erschütterte er im Nicken den ganzen Olympus.
Nunmehr hatten die Parzen die Stunde der Einlösung dieser
Zusage anbrechen lassen: Das unrechte Handeln des Turnus
mahnte die Mutter, die heiligen Schiffe vor Flammen zu schützen.
Plötzlich erstrahlte ein Licht, wie es Augen noch niemals geblendet,
weit überzog von Osten ein Glanzstreifen mächtig den Himmel,
Reigen vom Ida mit ihm; durch die Lüfte donnerte eine
furchtbare Stimme, den Rutulern wie auch den Troern verständlich:
»Teukrer, ihr braucht nicht angstvoll die Schiffe zu schützen, auch keine
Waffen zur Hand zu nehmen: Turnus entzündet die Salzflut
eher als dieses geheiligte Kiefernholz. Löst euch vom Ufer,
Schiffe, und schwimmt als Meernymphen fort; das befiehlt euch die Mutter!«
Sämtliche Schiffe lösten sofort die Taue vom Ufer,
tauchten die Rammen ins Naß wie Delphine, hinab bis zum Grunde.
Darauf erschienen sie wieder, ein Wunder, als Mädchen, genauso
viele, wie eben noch ehern beschlagene Schiffe am Strande
festgetäut lagen, und schwammen hinaus in die Weite des Meeres.
Staunen ergriff die Rutuler. Heftig erschrak auch Messapus,
als sein Gespann vor Verwirrung sich bäumte. Laut aufrauschend stockte
zögernd der Thybris, er zog sich zurück vor den Fluten des Meeres.
[355] Nur der vermessene Turnus bewahrte die Zuversicht, suchte
kraftvoll den Mut zu beleben und schalt die Zaudernden heftig:
»Gegen die Troer richtet das Wunder sich. Jupiter selber
hat sie beraubt der gewohnten Hilfsmittel. Waffen und Flammen
seitens der Rutuler brauchen sie nicht. Sie können nicht länger
Meere befahren, auf Flucht nicht mehr bauen, sie haben die halbe
Macht jetzt verloren. Uns freilich gehört das Festland; die Völker,
Tausende, stehen in Waffen. Mich schrecken durchaus nicht Orakel,
wie die Trojaner sie prahlerisch nennen, Auskünfte der Götter.
Schicksal und Venus erreichten genug: Die Phryger betraten
nunmehr Ausoniens fruchtbare Fluren! Ich habe auchmeine
Schicksalsbestimmung, ich soll mit dem Schwert das Verbrechervolk tilgen,
das mir die Gattin entriß. Nicht allein die Atriden erlitten
solcherlei Kummer, nicht nur Mykene sollte sich wappnen.
›Aber ein Untergang reicht doch!‹ Dann hätten sie auch nur zum ersten
Mal sich versündigen sollen, sie müßten jetzt sämtliche Frauen
gründlich verabscheuen! Daß sie sich auf Verschanzungen stützen
können und hemmende Gräben – ein winziger Trennstrich vom Unheil! –,
macht sie verwegen. Doch sahen sie nicht die Mauern von Troja,
die einst Neptun errichtete, völlig in Flammen versinken?
Auf, ihr Erwählten, wer möchte mit Waffen die Schanzen vernichten,
möchte mit mir das Lager der furchtsamen Feinde erstürmen?
Waffen Vulcans und tausend Schiffskiele habe ich niemals
nötig zum Kampf mit den Troern. Und sollten sich alle Etrusker
ihnen verbünden sogleich: Die Teukrer brauchen kein Dunkel,
keine Ermordung der Burgwächter, keinen ruhmlosen Diebstahl
eines Minervabildes zu fürchten, wir schlüpfen in keinen
finsteren hölzernen Pferdebauch! Offen umstürmen mit Flammen
wir die Verschanzung. Ich werde sie lehren, daß heute nicht Griechen
[356] gegen sie kämpfen, die Hektor zehn Jahre lang siegreich zurückschlug.
Doch jetzt verflossen bereits die besten Stunden des Tages.
Widmet den Rest der Erholung, froh unsrer Erfolge, ihr Freunde,
seid überzeugt, daß der offene Kampf uns in Kürze bevorsteht!«
Sorglich verfügte Messapus zur Nacht Überwachung der Tore,
Fackellicht auch zur Beleuchtung der Wälle des feindlichen Lagers.
Ausgewählt wurden vierzehn Rutuler, die mit Begleitern
rings auf die Schanzen achtgeben sollten; jedem gehorchten
hundert Bewaffnete, glänzend von Goldschmuck, mit purpurnem Helmbusch.
Diese verteilten sich, stellten dann Posten aus, während die andern,
wachfrei, ins Gras sich streckten und zechend die Weinkrüge leerten.
Feuer verbreiteten Licht, und die Nacht durch hielt sich die Mannschaft
munter durch mancherlei Spiele.
Dies überschauten vom Wall aus die Troer und hielten die hohen
Punkte besetzt, überprüften voll Sorge das Vorfeld der Tore,
schlugen auch Brücken zu vorgeschobenen Posten und legten
Waffen bereit. Sie wurden von Mnestheus gespornt und dem tapfren
Helden Serestos. Ihnen hatte Aeneas, falls Feinde
angriffen, Oberbefehl und Entscheidungsgewalt übergeben.
Über den Wall hin bewachte man alle gefährdeten Stellen;
jeder versah, nach dem Lose, die ihm übertragenen Pflichten.
Nisos, des Hyrtakos Sohn, hielt Wache am Tore, ein kühner
Kämpfer. Ihn hatte die Mutter, die Jägerin Ida, als flinken
Pfeilschützen und als behenden Speerwerfer mit zur Begleitung
des Aeneas geschickt. Eurýalos wachte an seiner
Seite, der Schönste der troischen Helden im Heer des Aeneas;
unberührt noch, verriet sein Bartflaum das Alter der Reife.
[357] Innige Liebe verband sie, sie zogen zum Kampfe gemeinsam,
hatten auch heute zu zweit den Posten am Tor übernommen.
Da sprach Nisos: »Entfachen die Götter den Eifer der Menschen,
oder erhebt man das eigene grausame Trachten zur Gottheit?
Lange schon drängt es zum Kampfe mich oder zu einem gewagten
Handstreich, ich kann mich durchaus nicht begnügen mit friedlicher Ruhe.
Selber erkennst du das Selbstvertrauen der Rutuler: Spärlich
glimmen die Feuer, die Posten, von Schlummer und Wein überwältigt,
liegen am Boden, und Stille verbreitet sich weithin. So höre,
was ich erwäge und was als Entschluß allmählich sich festigt.
Alle, das Volk wie die Väter, verlangen des Helden Aeneas
Rückkehr, Entsendung von Boten, die sichere Nachrichten bringen.
Billigen dir sie den Lohn, den ich fordre – mir selber genügt ja
völlig der Ruhm –, so glaube ich dort, am Fuße des Hügels,
sicher den Weg zur Stadt Pallanteum finden zu können.«
Staunen empfand Eurýalos, tief berührt von dem Streben,
rühmliche Taten zu leisten, und gab dem begeisterten Freunde
Antwort: »Du möchtest mich also nicht mitnehmen in die Gefahren,
Nisos? Ich soll dich allein zu dem Wagnis ausziehen lassen?
Dazu erhob und erzog mich durchaus nicht mein Vater Opheltes,
er, der bewährte Krieger, während des griechischen Terrors,
Ilions bitterer Not, und derart versagte an deiner
Seite ich nicht als Gefolgsmann des tapfren Aeneas in seinem
furchtbaren Schicksal! Hier regt sich ein Mut, der als Daseinsverächter
gern für den hohen Ruhm, den du anstrebst, das Leben dahingibt!«
Nisos entgegnete: »Keinesfalls hegte ich solche Bedenken,
unbillig wäre es wirklich – so wahr ich den Sieg mir vom großen
[358] Jupiter wünsche, von jeglichem Gott auch, der gütig mein Handeln
anschaut! Nein, würden – was oftmals bei solchen Wagnissen eintritt –
würden ein Zufall oder ein Gott ins Unglück mich stürzen,
solltest am Leben du bleiben, dein Alter verdient es weit eher.
Möge ein Freund mich als Toten bergen vom Kampfplatze oder
auslösen mich, auch, sollte Fortuna das etwa verwehren,
mir doch ein Leergrab mit allen üblichen Ehrungen widmen!
Außerdem will ich nicht deine arme Mutter so quälen,
die doch allein von so zahlreichen Müttern, mein Lieber, dir folgte,
tapfer, die sichere Stadt des großen Akestes nicht vorzog.«
Darauf Euryalos: »Zwecklos ertüftelst du nichtige Gründe,
mein schon gefaßter Entschluß bleibt unumstößlich. Wir schreiten
schleunigst zur Tat!« Er weckte sofort die Ablösung. Diese
zog auf den Posten. Dann machte er sich an der Seite des Nisos
auf in das Lager, um vorzusprechen beim Sohn des Aeneas.
Alle Geschöpfe auf Erden erleichterten schon sich im Schlummer
still von den lastenden Sorgen, vergaßen die Not und die Mühsal.
Nur die trojanischen Fürsten und auserlesene Helden
hielten Beratung noch über das Schicksal des Reiches: Was sollte
man unternehmen und wen zu Aeneas als Boten entsenden?
Auf die hochragenden Lanzen gestützt, an den Armen die Schilde,
standen sie mitten im Lager! Da baten Nisos, an seiner
Seite Euryalos, sie um Gehör, voll Eifer: Es stehe
viel auf dem Spiele, der Aufschub lohne. Iulus gewährte
Zutritt sofort den Erregten, befahl dem Nisos zu sprechen.
Dieser begann: »Hört, bitte, Gefährten des Helden Aeneas,
wohlwollend zu und beurteilt unseren Plan nicht nach unsrem
Alter! Stumm liegen die Rutuler, Opfer des Weins und des Schlafes.
[359] Selber erspähten die Stelle wir, die uns den Durchbruch im stillen
sicher ermöglicht: Am Scheideweg hinter dem Tore, in nächster
Nähe der Küste, ist unterbrochen der Feuerring, kräuselt
düsterer Qualm nur sich hoch zu den Sternen. Dürfen den Umstand
wir für den Gang zu Aeneas, zur Stadt Pallanteum benutzen,
werdet ihr bald ihn beutebeladen nach furchtbarem Blutbad
eintreffen sehen. Auch können wir uns unterwegs nicht verirren.
Sahen wir doch auf den häufigen Jagdzügen tief aus den dunklen
Tälern den Stadtrand, konnten den ganzen Fluß auch erkennen.«
Daraufhin sprach der betagte, an Einsicht gereifte Aletes:
»Götter der Heimat, die ewig ihr über Ilion waltet,
offenbar wollt ihr doch nicht die Trojaner völlig vernichten,
wenn ihr noch junge Kämpfer von solcher Zuversicht, solchem
Mute hervorbringt!« Damit ergriff er an Schultern und Händen
beide, und über sein Antlitz rollten Tränen der Rührung.
»Welche Belohnungen könnte ich solcher ruhmreichen Leistung
wirklich für angemessen erachten, ihr Helden? Am besten
lohnen die Götter und euer Bewußtsein! Weiteres freilich
dürfte Aeneas euch pflichtbewußt geben sogleich, auch Ascanius
wird, in der Blüte der Jahre, nie eure Verdienste vergessen!«
»Niemals!« bestätigte Iulus. »Beruht doch mein Glück auf des Vaters
Rückkehr. Zu Schwurzeugen rufe ich, Nisos, die großen Penaten,
weiter den Lar des Assárakos wie auch das Heim der ergrauten
Vesta. Ich möchte mein ganzes Glück, mein ganzes Vertrauen
eurer Obhut anheimgeben. Bringt mir den Vater, vergönnt mir,
ihn zu erblicken! Nach seiner Errettung bleibt mir kein Kummer.
Je zwei Pokale aus Silber, geschmückt mit erhabener Arbeit,
die durch Erstürmung Arisbes mein Vater erbeutete, werde
ich euch verehren, zwei Dreifüße auch, zwei goldne Talente,
schließlich den uralten Mischkrug, den Dido aus Sidon mir schenkte.
Sollte ich siegreich Italien gewinnen, die Macht übernehmen
und die Verlosung der Beute bestimmen, nun, höre: Du sahest
[360] selber das Roß, die vergoldeten Waffen desgleichen, mit denen
Turnus einherzog; das Pferd, den Schild und den purpurnen Helmbusch
nehme ich aus vom Verlosen, für dich als Auszeichnung, Nisos!
Außerdem wird dir mein Vater ein Dutzend ausnehmend schöne
Sklavinnen schenken, Gefangene auch samt ihrer Bewaffnung,
dazu den Grundbesitz noch, die Güter des Königs Latinus.
Dich, du verehrungswürdiger Jüngling, dem ich an Jahren
selber recht nahe schon komme, dich will ich gewinnen von ganzem
Herzen, als Mitkämpfer dich für alle Gefahren besitzen.
Ohne dich möchte ich keinen eigenen Ruhm mir erwerben,
möchte in Frieden und Krieg mein höchstes Vertrauen beim Raten
wie auch beim Handeln dir schenken!«
Euryalos gab ihm zur Antwort:
»Möge mich niemals ein Tag als Verräter entlarven an dieser
tapferen Tat! Nur soviel erflehe ich, sende Fortuna
Glück mir oder Verderben. Um eines, vor allen Geschenken,
bitte ich dich: Noch lebt, vom Geschlechte des Priamos, meine
Mutter. Nicht Ilions Erde, auch nicht die Stadt des Akestes
konnten die arme Frau hindern, mich weiterhin treu zu begleiten.
Sie, die nichts ahnt von unsrem gefahrvollen Vorhaben, lasse
ohne Abschied ich hier. Ich rufe die Nacht wie auch deine
Rechte zu Zeugen: Die Tränen der Mutter ertrüge ich niemals!
Tröste du, bitte, die Arme, leih der Verlassenen Beistand!
Gönn mir derartige Hilfe, dann werde ich alle Gefahren
mutiger auf mich nehmen.« Tränen vergossen die Troer,
tief ergriffen, vor allen der schöne Iulus. Ihn rührte
heftig die Vorstellung seiner Liebe zum eigenen Vater.
Darauf erklärte er:
»Baue darauf, daß du alles gewinnst, was der Heldentat zukommt!
Deine Mutter sei auch die meine, der Name Krëusa
fehle ihr nur. Daß sie solchen Kämpfer geboren, erwartet
keinen geringen Dank. Wie immer das Wagnis auch ausgeht,
[361] wahrlich, ich schwöre bei meinem Haupte – wie sonst stets mein Vater –:
Was ich dir alles versprach für den Fall erfolgreicher Rückkehr,
bleibt auch verbürgt für deine Mutter und deine Familie!«
Derart schwor er, in Tränen, und zog von der Schulter das golden
prangende Schwert, das Lykaon von Knossos kunstreich geschmiedet
und in die Scheide aus Elfenbein handlich eingefügt hatte.
Mnestheus reichte dem Nisos ein Fell, die Beute von einem
schrecklichen Löwen. Den Schutzhelm tauschte der treue Aletes.
Eilig brachen sie auf, voll gerüstet. Sämtliche Fürsten
gaben Geleit bis zum Tore und wünschten, Junge wie Alte,
Glück und Erfolg. Und der schöne Iulus, für seine noch jungen
Jahre verständig und mutig, beseelt von männlichem Ernste,
gab noch Empfehlungen mit für den Vater. Freilich, die Winde
sollten das alles zerreißen, als unnütze Gabe für Wolken.
Über die Gräben gelangten im Schutze des nächtlichen Dunkels
sie in das feindliche Lager, Boten des Todes für manchen,
ehe sie selber fielen. Vom Schlaf und vom Wein Übermannte
sahen im Grase sie liegen, Karren mit aufwärts gereckten
Deichseln, und zwischen den Riemen und Rädern die Männer, daneben
Waffen verstreut und Weinreste. Da brach Nisos das Schweigen:
»Mutig zur Tat jetzt, Euryalos! Mahnt doch die günstige Stunde.
Dorthin verläuft der Weg. Übernimm die Deckung nach hinten,
falls dort ein Angreifer auftaucht, und spähe so weit wie nur möglich!
Freimachen will ich die Strecke, auf breiter Straße dich führen.«
Derart sprach er gedämpft und ging sogleich mit gezücktem
Schwerte dem stolzen Rhamnes zu Leibe. Der lag auf erhöhtem,
deckenbezogenem Polster und schnarchte behaglich im Schlafe,
selber ein König, als Wahrsager höchlich geachtet von Turnus.
Aber sein Wissen vermochte ihn nicht vor dem Tode zu retten.
Weiter durchbohrte Nisos drei Diener, die zwischen den Waffen
nahebei lagen, den Waffenträger und Fahrer des Remus
[362] auch, dem er neben den Rossen den straffen Nacken durchtrennte,
schlug dann dem Remus selber das Haupt vom Rumpf, dem der Blutstrom
sprudelnd entquoll; das warme, düstere Rinnsal durchtränkte
Polster und Erdreich. Lámyrus, Lamus, den jungen Serranus
metzelte nunmehr er nieder. Der letztere, auffallend stattlich,
hatte bis tief in die Nacht sich am Spiele beteiligt und schlief jetzt,
völlig vom Rausch überwältigt. Es wäre sein Glück wohl gewesen,
hätte er gleich das nächtliche Spiel bis zum Morgen verlängert!
Pausenlos wütete Nisos, ein hungernder Löwe im vollen
Schafstall; rasend vor Gier, zerfleischt er die friedlichen Tiere,
die vor Entsetzen verstummten, und knirscht mit bluttriefendem Rachen.
Ebenso grausam vergoß auch Euryalos Blut und durchbohrte,
brennend vor Mordlust, wahllos die Feinde, so wie er sie antraf,
Fadus, Herbesus, auch Ábaris, Mannschaften, völlig nichtsahnend.
Rhoetus nur wachte und sah, was da vorging. Gepackt von Entsetzen,
suchte er Deckung jedoch im Schutze des mächtigen Mischkrugs.
Als er zum Spähen sich hochreckte, stieß ihm der Gegner die Klinge
bis an den Griff in die Brust und entriß sie der tödlichen Wunde.
Rhoetus verhauchte im weinvermischten Blutstrom sein Leben,
während der Troer das heimliche Morden fortsetzen wollte.
Gegen die Schar des Messapus schon wandte er sich; fast erloschen
sah er den Feuerschein dort, sah ordentlich angepflockt Pferde
grasen. Da mahnte ihn Nisos mit wenigen Worten – er merkte
nämlich, daß sie von der Mordgier sich allzu sehr hinreißen ließen –:
»Hören wir auf! Schon dämmert, uns feindlich, der Morgen. Wir straften
schon zur Genüge den Feind, wir brachen uns Bahn durch das Lager.«
[363] Zahlreiche Wertstücke, reines Silber, ließen sie liegen,
Waffen, auch Krüge und kostbare Decken. Euryalos aber
raffte des Rhamnes ehern beschlagenen Gurt mit den goldnen
Buckeln noch an sich; den hatte der steinreiche Caedicus einstmals,
selber am Kommen verhindert, zum Abschluß des Bundes der Freundschaft
dem Tiburtiner Rémulus zugeschickt, der ihn dem Neffen
weitervererbte; nach dessen Tode ward er im Kriege
Rutulerbeute. Jetzt legte Euryalos ihn um die starken
Schultern und setzte den handlichen, buschigen Helm des Messapus
auf – nur als Totenschmuck! Jenseits des feindlichen Lagers gewannen
beide Trojaner das Freie.
Da nahte ein Vortrupp zu Pferde
von der latinischen Hauptstadt – die übrige Streitmacht verharrte
schlagbereit rückwärts im Felde –; er brachte Botschaft für Turnus,
dreihundert Mann stark, alle mit Schilden, befehligt von Volcens.
Nah schon dem Rutulerlager, auch nah schon den Schanzen, erspähten
fern sie die beiden Trojaner, die eben nordostwärts sich wandten.
Flimmerte doch der Helm des Messapus im nächtlichen Zwielicht
unter dem Mondschein, verriet den unvorsichtigen Träger.
Gleich reagierten die Reiter, laut dröhnte die Stimme des Volcens:
»Halt, ihr! Was streunt ihr umher? Wer seid ihr, in voller Bewaffnung?
Wohin wollt ihr?« Die beiden erwiderten nichts, sie versuchten,
schnell in den Wald zu entkommen und sich im Dunkel zu bergen.
Aber die Reiter besetzten die Kreuzungen gleich, die sie kannten,
sperrten auf allen Seiten jeden möglichen Ausweg.
Weithin erstreckte der Wald sich, von Unterholz starrend, voll düstrer
[364] Steineichen, ringsum üppig durchwuchert von dornigen Ranken.
Schwer nur erkannte man die durch das Dickicht sich schlängelnden Pfade.
Dunkelheit unter den Baumkronen und die belastende Beute
hemmten Euryalos, Furcht auch ließ ihn die Richtung verfehlen.
Nisos jedoch war, ohne auf seinen Gefährten zu achten,
längst schon entronnen dem Feind, auch dem Walde, der heute nach Alba
noch der »albanische« heißt, das Jagdrevier einst des Latinus.
Jetzt erst verharrte er still und bemerkte das Fehlen des Freundes.
»Armer Euryalos«, rief er, »wo habe ich dich bloß verloren?
Wo nur vermag ich die Spuren im täuschenden Dickicht des Waldes
wiederzufinden?« Er machte sich gleich auf den Rückweg, bekannten
Anzeichen folgend, durchstreifte gespannt er das schweigsame Buschwerk.
Aber dann hörte er Hufschläge, Klirren, Verfolgersignale,
und, nur ein wenig später, drang ihm Geschrei zu den Ohren,
und er gewahrte Euryalos. Dieser hatte im Dunkel,
jählings verwirrt durch den nächtlichen Lärm, sich verlaufen. Nun schleppte
fort ihn die feindliche Schar, trotz heftigen Sträubens. Wie sollte
Nisos jetzt handeln? Gewaltsam befreien den Freund, sich auf seine
Waffen verlassen? Zum Sterben bereit auf die Feinde sich stürzen,
ehrenvoll untergehen sogleich an blutenden Wunden?
Ohne zu zögern, straffte den Arm er, ausholend zum Speerwurf,
blickte empor zu Luna und sprach die flehenden Worte:
»Leihe jetzt, Göttin, unserem Kampfe tätigen Beistand,
Tochter der Leto, du, Zierde der Sterne, Beschützer der Haine!
Brachte mein Vater Hyrtakos jemals dir auf dem Altare
Opfer für mich und habe ich selbst sie vermehrt noch als Jäger,
hängte sie auf in der Kuppel oder am Giebel des Tempels:
[365] Lenke den Flug des Speeres und laß mich die feindliche Rotte
sprengen!« Darauf entsandte mit aller Gewalt er die Waffe.
Sausend durchschnitt im Fluge der Speer das nächtliche Dunkel,
traf in der Schar der Latiner den Helden Sulmo im Rücken,
brach dort und drang mit zersplittertem Schaft noch quer durch das Zwerchfell.
Sulmo stürzte, heiß quoll ihm das Blut vom Herzen zum Schlunde;
sterbend, erschlaffend schon, röchelte er noch, es zuckten die Glieder.
Seine Gefährten spähten umher. Um so mutiger sandte
Nisos den zweiten Speer, ließ ihn in Höhe des Kopfes entschwirren.
Aufgeregt schwankten die Feinde, da fuhr die Spitze dem Tagus
zischend von Schläfe zu Schläfe, haftete fest im Gehirne.
Rasende Wut überwältigte Volcens. Er konnte den Schützen
nirgendwo sehen, nicht kühlen an ihm die brennende Rachgier.
»Du«, so schrie er Euryalos an, »du wirst die Ermordung
beider mit heißem Blute mir sühnen!« Und zückte die Klinge
auf den Gefangenen.
Da fing Nisos, vor Angst wie von Sinnen,
gellend zu rufen an, konnte nicht länger im Dunkel sich bergen,
länger nicht tragen den bohrenden Schmerz: »Hier bin ich, der Schütze,
zielt mit den stählernen Waffen auf mich nur, ihr Rutuler! Habe
ich doch den Handstreich geplant. Er wagte ihn gar nicht, er konnte
ihn auch nicht wagen, ich rufe Himmel und Sterne zu Zeugen:
Allzusehr liebte er nur den Freund, den das Unglück verfolgte!«
Aber sein Flehen verhallte. Schon hatte die Klinge des Volcens
kraftvoll die Rippen durchstoßen, die schimmernde Brust ihm gespalten.
Sterbend wälzte Euryalos sich, die lieblichen Glieder
rötete Blut, schlaff glitt schon der Nacken über die Schultern;
ebenso sinkt die vom Pflugschar zerschnittene purpurne Blume
[366] matt auf die Erde, läßt auch der Mohn im Prasseln des Regens
von den erschlaffenden Stengeln sinken die prächtigen Blüten.
Nisos jedoch sprang mitten unter die Feinde. Auf Volcens
stürzte er los, nur dem Volcens galten sein Sinnen und Trachten.
Aber die Feinde umdrängten ihn dicht und versuchten von allen
Seiten zurück ihn zu stoßen. Er trotzte der Übermacht, blitzen
ließ er die wirbelnde Klinge, dann senkte er sie in den offnen
Mund des schreienden Rutulers, raubte dem Gegner das Leben,
warf sich, selbst tödlich durchbohrt von den Feinden, über des Freundes
Leichnam. Erst jetzt umfing ihn der friedliche Schlummer des Todes.
Glücklich ihr beide! Und sollte mein Epos nur etwas bewirken,
wird euch kein Tag dem Gedächtnis der Nachwelt entreißen, solange
noch das Geschlecht des Aeneas den kapitolinischen Felsen
sicher bewohnt und der römische Vater die Weltherrschaft ausübt!
Siegreich bemächtigten sich die Latiner der doppelten Beute,
trugen in Tränen darauf den gefallenen Volcens ins Lager.
Keine geringere Trauer erhob sich dort: Den erschlagnen
Rhamnes fand man, so viele zugleich ermordete Fürsten,
Numa dabei und Serranus. Scharenweis drängten die Leute
sich um die Toten und Halbtoten, um die vom eben vergoßnen
Blute noch dampfenden Stellen, noch schaumige tiefrote Bäche;
man erkannte die Beute, den glänzenden Helm des Messapus
und das geschmückte Wehrgehenk, die man so teuer bezahlte.
Nunmehr erhob sich Aurora vom goldgelben Bett des Tithonos,
streute das Frühlicht des neuen Tages über die Erde.
Unter der Sonne bereits, die alles den Blicken enthüllte,
wappnete Turnus sich selber und rief auch das Heer zu den Waffen,
führten die Hauptleute ihre gepanzerten Scharen zum Angriff,
schürten die Wut noch durch Nachrichten über das nächtliche Blutbad.
[367] Außerdem steckte man – kläglicher Anblick! – die Köpfe des Nisos
und des Euryalos vorne auf Lanzen, hob sie und folgte
ihnen mit wildem Geschrei.
Links auf den Schanzen stellte dem Ansturm sich die erprobte
Schar des Aeneas – die rechte Seite umspülte der Thybris –,
deckte die mächtigen Gräben und stand betrübt auf den hohen
Türmen. Noch tiefer erschütterte sie der Anblick der ihnen
allen bekannten, auf Lanzen gespießten bluttriefenden Köpfe.
In dem bestürzten trojanischen Lager eilte beflügelt
Fama umher. Auch der Mutter des Helden Euryalos kam sie
plötzlich zu Ohren. Die Arme verspürte eisige Kälte,
jählings entglitt ihr der Schützen, auflöste sich gleich das Gewebe.
Aufschreiend raufte sich dann die vom Unglück Geschlagne die Haare,
stürzte zum Zelte hinaus zu den Schanzen und drängte sich rasend
zwischen die Vorkämpfer, scheute nicht vor dem Gewimmel der Männer,
nicht vor den Feindesgeschossen und schrie lautklagend zum Himmel:
»Muß ich als Toten dich sehen, Euryalos? Du, mir die letzte
Zuflucht im Alter, du konntest so grausam im Stiche mich lassen?
Durfte ich elende Mutter dir nicht beim Aufbruch zu solchem
tödlichen Wagnis ein Wort zum Abschied noch sagen? O wehe,
fern in der Fremde liegst du, Latiums Hunden und Vögeln
kläglich zum Fraße! Ich Mutter, ich durfte dich nicht zur Bestattung
treulich geleiten, die Augen dir zudrücken, waschen die Wunden,
nicht ins Gewand dich hüllen, das ich bei Nacht und bei Tage
fleißig dir webte, ein Trost in den trüben Stunden des Alters!
Wohin folge ich? Was für ein Boden umhegt jetzt die Glieder,
die man zerriß und zerfleischte? Nur so viel bringst du, mein Junge,
wieder von dir? Deswegen durchzog ich Länder und Meere?
[368] Kennt ihr noch Mitgefühl, Rutuler, bitte, durchbohrt mich, mit allen
Spießen und Pfeilen beschießt mich, entreißt mir zu erst doch das Leben!
Oder erbarm du selber dich, mächtiger Vater der Götter,
schleudre mit deinem Blitzstrahl mein leidiges Haupt in den Hades!
Kann ich doch anders mein bitteres Dasein nicht vorzeitig enden.«
Ihre Klage erschütterte alle, ein schmerzliches Stöhnen
ließ sich vernehmen, schon drohte der Gram die Kampfkraft zu lähmen.
Da sich ihr Kummer noch steigerte, faßten Idaios und Aktor
schonend sie unter – es gaben den Rat Ilioneus und, heiße
Tränen vergießend, Iulus – und führten zurück sie zum Zelte.
Aber jetzt dröhnte, schreckenerregend, von fern die Trompete.
Gelles Geschrei erhob sich, dumpf hallte der Himmel es wider.
Unter dem Schutzdach der Schilde stürmten vorwärts die Volsker,
suchten die Gräben zu füllen, die Schanzen niederzureißen;
andere wollten auf Sturmleitern über die Wälle sich Wege
bahnen, dort wo auf den Zinnen der Kranz der Verteidiger deutlich
weniger dicht sich zeigte. Die Teukrer schleuderten jede
Art von Geschossen und stießen mit wuchtigen Stangen die Feinde
rückwärts, nach langen Jahren erfahren im Kampf von den Mauern,
wälzten gefährlich gewichtige Feldsteine auch, die Kolonnen
unter dem Schutzdach zu sprengen. Doch unerschüttert noch hielten
unter den dichten Schilden die Angreifer stand den Geschossen.
Schließlich versagten sie doch. Wo sie nämlich am stärksten sich ballten,
rollten die Teukrer einen riesigen Felsblock herunter,
der die Rutuler niederwalzte, das Schilddach zersprengte.
Länger nicht wollten die kühnen Angreifer unter den Schilden
vordringen, ohne die Gegner zu sehen, sie lieber vom Walle
jagen durch dichten Geschoßhagel.
[369] Gräßlich zu schauen, schwang an anderer Stelle Mezentius
eine etruskische Kienfackel, schleuderte qualmende Brander.
Aber Messapus, der Rossebändiger, Sprößling des Neptun,
hatte ein Wallstück zerstört schon und schrie nach Leitern zum Aufstieg.
Bitte, Kallíope, Musen ihr, leiht mir jetzt Kraft, zu besingen,
wie mit dem Schwerte Fürst Turnus wütete, wen er im Kampfe
tötete, wen die einzelnen Streiter zum Orkus entsandten,
bitte, enthüllt jetzt mit mir das grausige Antlitz des Krieges!
Fest im Gedächtnis bewahrt ihr es, Göttinnen, könnt es erzählen!
Weit überragte die Schanzen ein riesiger Turmbau mit hohen
Fallbrücken, günstig angelegt, den die Italer mit allen
Kräften erobern, gewaltsam zerstören und umstürzen wollten.
Aber die Troer verteidigten ihn mit geschleuderten Steinen,
warfen auch durch die Schießscharten ununterbrochen mit Speeren.
Turnus als erster schleuderte eine brennende Fackel,
setzte die Turmwand in Brand. Schnell ergriff vor dem Winde die Flamme
lodernd die Balken und haftete fest an den schwelenden Pfosten.
Aufregung packte und Angst die Besatzung, sie suchte vergeblich
sich vor dem Unheil zu retten, sie drängte zur feindfreien Seite
rückwärts sich eng zusammen. Da neigte sich, jäh überlastet,
vorwärts der Turm, das Krachen des Sturzes dröhnte zum Himmel.
Halbtot erreichten die Männer den Boden, doch häufte sich über
ihnen die schreckliche Masse, die eigenen Waffen durchbohrten,
wuchtige Balken durchstießen, zerquetschten sie. Knapp noch entkamen
zwei nur, Helenor und Lykos. Jenen, den Jüngeren, hatte
Sklavin Likymnia heimlich dem König der Lyder geboren,
später nach Troja geschickt, wo er freilich nicht mitkämpfen sollte,
leicht mit dem Schwert nur bewaffnet und einfachem, schmucklosem Rundschild.
Als er von Leuten des Turnus zu Tausenden eng sich umringt sah,
[370] überall Kämpfern aus Latium nur in geschlossenen Reihen,
stürzte er, jung wie er war, sich todbereit unter die Feinde,
dort, wo Schwerter und Lanzen am dichtesten starrten; genauso
bäumt sich ein Wild, das die Jäger in dichter Kette umzingeln,
gegen die Waffen, stürzt sich drauflos, des Todes nicht achtend,
um dann in weitem Sprunge hoch über die Spieße zu setzen.
Lykos, weit besser zu Fuß, versuchte durch Feinde und Waffen
quer zu entkommen, erreichte die Schanzen und streckte die Hände
schon zu den Zinnen empor, den rettenden Armen der Freunde.
Aber da hatte ihn Turnus, genauso geschwind und gewappnet,
eingeholt, schalt ihn: »Du wähntest, unserer Faust zu entkommen,
Dummkopf?«, und packte ihn, wie er vom Zinnenrand wehrlos herabhing,
riß ihn herunter, mit ihm noch ein mächtiges Stück von der Schanze;
ebenso rafft auch Jupiters Waffenträger, der Adler,
sei es den Hasen, sei es den schneeweißen Schwan mit den Krallen
aufwärts, reißt auch die Wölfin des Mars das Lamm aus der Stallung,
fort von dem blökenden Muttertier.
Kriegsgeschrei gellte von allen
Seiten, vor drangen die Angreifer, füllten die Gräben mit Erde,
schleuderten lodernde Brandsätze auch hoch über die Zinnen.
Tödlich traf Ilioneus mit einem gewaltigen Felsblock
den Lucetius, der sich mit Fackeln dem Lagertor nahte.
Liger erschlug Emathion, Asilas den Korynaios –
jener ein tüchtiger Speerwerfer, dieser ein sicherer Schütze –;
Kaineus erlegte Ortygius, Turnus den siegreichen Kaineus,
weiter den Itys, den Klónios, Prómolos wie Dioxippos,
Sagaris, schließlich den vorn auf der Turmspitze stehenden Idas.
Kapys erschoß den Privernus; den hatte der Speer des Themillas
flüchtig gestreift nur; doch leichtsinnig warf er den Schutzschild zu Boden,
griff nach der Wunde; der schwirrende Pfeil durchbohrte die Linke,
[371] heftete sie an die Hüfte, zerriß dann im Innern des Körpers
tödlich die lebenspendenden Wege des Atems, die Lungen.
Ausnehmend herrlich gerüstet stand dort der Sprößling des Arcens,
prächtig bestickt der Mantel, tiefleuchtend von spanischem Purpur,
stattlich und schön. Ihn hatte geschickt sein Vater, Held Arcens,
der ihn im Haine der Mutter aufzog, am Strome Symaithos,
bei dem Altar der Paliken, die leicht sich besänftigen lassen.
König Mezentius legte die Speere beiseite, und dreimal
ließ um sein Haupt am gestrafften Riemen die Schleuder er kreisen,
jagte sodann das im Fliegen schmelzende Bleistück dem Gegner
quer durch die Schläfen und streckte, so lang wie er war, ihn zu Boden.
Damals zuerst, so erzählt man, bewährte Iulus, der früher
flüchtiges Wild nur scheuchte mit sausenden Pfeilen, im Kampfe
auch sich als Schütze: Den tapfren Numanus streckte er nieder,
den man mit Beinamen Remulus nannte. Der hatte vor kurzem
erst mit der jüngeren Schwester des Turnus die Ehe geschlossen.
Weit vor der Schlachtreihe schreitend, lobte er lautstark die Seinen,
schmähte die Gegner, ungemein stolz infolge der neuen
Fürstenverwandtschaft, und brüstete sich mit schallenden Worten:
»Schämt ihr euch gar nicht, euch wieder belagern zu lassen, ihr zweimal
schon überwältigten Phryger, durch Schanzen dem Tod zu entgehen?
Seht nur die Helden, die Frauen von uns im Kampfe sich holen!
Keinerlei Gottheit, nein, Dummheit führte euch her nach Italien.
Keine Atriden sind hier, kein Lügenmeister Odysseus.
Wir, von Geburt aus ein hartes Geschlecht, wir tauchen die kleinen
Kinder in Flüsse gleich, härten sie ab in den eiskalten Wellen.
Nächtelang jagen die Knaben schon, streifen rastlos durch Wälder,
[372] tummeln die Rosse und schnellen den Pfeil von der Sehne im Wettkampf.
Ausdauernd in Strapazen, bescheiden auch, zähmen sie unsern
Boden mit Pflügen, lassen im Kriege auch Festungen wanken.
Eisen erprobt uns ein Leben hindurch, wir stacheln den Zugstier
schon mit dem Schafte des Speers; kein allmählich lähmendes Alter
schwächt uns die Kräfte des Geistes und raubt uns die rührige Frische.
Noch auf den Graukopf drücken den Helm wir, auch tragen wir ständig
Beute aufs neue zusammen und leben vom Raub, mit Vergnügen.
Ihr liebt bunte Gewänder, goldgelb, leuchtend von Purpur,
freut euch des Müßiggangs, pflegt mit Begeisterung Tanzen und Singen;
Röcke mit Ärmeln tragt ihr und prächtige Mützen mit Bändern –
Phrygerinnen, jawohl, nicht Phryger! – und pilgert zum hohen
Dindymos, hört dort vertrautes zweistimmiges Flötengedudel.
Handpaucken locken euch, Buchsbaumpfeifen der Mutter vom Ida.
Waffen jedoch überlaßt den Männern, verzichtet auf Eisen!«
Dies überhebliche Prahlen und dieses schreckliche Drohen
konnte Iulus nicht aushalten, wandte dem Feind sich entgegen,
legte den Pfeil auf die Sehne, spannte kraftvoll den Bogen,
ging in den Anschlag und flehte, bevor er noch schoß, um Erfüllung:
»Hilf mir, allmächtiger Jupiter, bei dem kühnen Beginnen!
Selber will ich zum Danke in deinem Heiligtum opfern,
einen hellglänzenden Stier mit vergoldeter Stirne, der seiner
Mutter an Kopfhöhe gleichkommt, hinführen vor deine Altäre,
einen, der kräftig schon stößt und den Sand mit den Hufen hoch aufwirft!«
Jupiter hörte ihn, ließ es von linksher aus heiterem Himmel
donnern, und gleichzeitig summte toddrohend der Bogen. Gefährlich
[373] schwirrend schnellte der Pfeil von der Sehne und drang mit der Spitze
tief in die Schläfe des Remulus, bohrte sich quer durch den Schädel.
»Los doch, verhöhne nur weiter die Tapferkeit! Zweimal bezwungen,
senden die Phryger den Rutulern diesen Pfeilschuß zur Antwort!«
Jauchzend begrüßten die Teukrer die wenigen Worte des Schützen,
fühlten vor Freude die Zuversicht wachsen, empor zu den Sternen.
Hoch aus dem Äther, auf Wolken thronend, blickte soeben,
lockenumwallt, Apollo herab auf die Heerschar Ausoniens
wie auf das troische Lager und sprach zu dem Sieger Iulus:
»Glück dir zur ersten Kriegstat, mein Junge! Durch Leistung erreicht man
selbst die Gestirne, du Göttersproß, künftiger Ahnherr von Göttern!
Unter dem Stamm des Assarakos hören die schicksalsbestimmten
Kriege einst auf, zu gering ist Troja für dich.« Und er schwebte
nieder vom Himmel, durchquerte die wallenden Lüfte und nahte
sich dem Ascanius, zeigte sich ihm in Gestalt des bejahrten
Butes. Der hatte vor Jahren dem Dardanerfürsten Anchises
treulich gedient als Waffenträger und Leibwächter; später
gab ihn Aeneas dem Sohn als Erzieher. Dem Greise in allem
gleichend, an Stimme, an Aussehen, silbern schimmernden Haaren,
schrecklich auch klirrend im Schmucke der Waffen, so nahte Apollo,
richtete an den vor Kampfeifer glühenden Jungen die Worte:
»Laß es genug sein, du Sproß des Aeneas, daß du Numanus
straflos erschossest. Der große Apollo vergönnt dir den ersten
Kriegsruhm, verübelt dir nicht, daß du ihn im Schießen erreichtest.
Nimm jetzt nicht weiter am Kampf teil, mein Junge!« So mahnte Apollo;
[374] dann, nach dem kurzen Gespräch, entzog er sich menschlichen Blicken,
löste in weiter Ferne sich auf zu hauchdünnem Dunste.
Freilich erkannten die Dardanerfürsten den Gott und des Gottes
Waffen und hörten die Pfeile im Köcher des Fliegenden klirren,
dämpften daher, mit dem Hinweis auf Willen und Warnung des Phöbus,
klüglich die Kampflust des Knaben. Hinein ins Getümmel des Kampfes
zogen aufs neue sie dann und setzten sich aus den Gefahren.
Schreie umgellten die Schanzen längs der gesamten Umwallung,
Pfeile entschwirrten den Bogen, von Schwungriemen sausten die Speere.
Weithin bedeckten Geschosse den Boden, dröhnten vom Aufprall
Schilde und Helme, noch lauter tobte erbittert das Ringen;
ebenso peitscht, nach dem Aufgang der unwetterbringenden Böckchen,
wild aus dem Westen der Regen die Erde, prasseln des Hagels
Schloßen hernieder ins Meer, wenn Jupiter schrecklich von Süden
triefenden Wirbelwind scheucht und die Schleusen des Himmels weit aufreißt.
Pandaros aber und Bitias, Söhne Alkanors vom Ida,
von der Nymphe Iaira im Jupiterhaine erzogen,
Jünglinge, stattlich wie ragende Tannen und Berge der Heimat,
schlossen das Tor auf, das ihnen der Feldherr zu hüten befohlen,
lockten, auf ihre Waffen vertrauend, den Feind in das Lager.
Hinter dem Eingang standen sie beiderseits selber, gleich Türmen,
stählern gerüstet und hoch auf dem Haupte den wippenden Helmbusch,
wie an den Rändern reißender Ströme, etwa am großen
Po, auch am lieblichen Ufer der Etsch, zwei mächtige Eichen
hoch in die Lüfte sich recken, die niemals geschorenen Häupter
himmelwärts heben und mit dem stolz ragenden Wipfelpaar nicken.
[375] Ungestüm drangen die Rutuler ein, als den Zugang sie offen
sahen, Quercens als erster, Aquiculus, prächtig gewappnet,
Marus, der Hitzkopf, Haemon, ein blutiger Kriegsmann, ein jeder
seinem Gefolge voran – doch sie zeigten gleich fliehend die Rücken,
oder sie mußten ihr Leben noch zwischen den Torpfeilern lassen.
Aber nur heftiger raste auf beiden Seiten die Kampfwut,
dichter noch scharten die Troer sich hinter dem Tore zusammen,
wagten zum Nahkampf sich vor und drängten sogar schon zum Ausfall.
Heerführer Turnus setzte inzwischen an anderer Stelle,
gnadenlos wütend, die Feinde in Schrecken. Ihm wurde gemeldet,
diesseits des Walles schon kämpften die Troer, bei offenen Toren.
Ungesäumt eilte er dorthin und stürmte, aufs höchste erbittert,
gegen das Dardanertor und die selbstbewußt-tollkühnen Brüder,
streckte sogleich durch Speerwurf Antíphates nieder – den eine
Nebenfrau einstmals aus Thebe dem Fürsten Sarpedon geboren –;
trat er als erster doch Turnus entgegen. Der Speer, aus dem harten
Kirschholz Italiens, durchschwirrte die Luft und bohrte die Spitze
tief durch den Schlund in die Brust des Trojaners. Aus klaffender Wunde
schäumte das Blut, heiß umwogte die Lunge das haftende Eisen.
Darauf erlegte er Merops, Erymas, Aphidnos; als fünften
Bitias, der mit glühenden Augen vor Mordeifer knirschte,
tötete nicht mit dem Spieß ihn – dem wäre er schwerlich erlegen –,
nein, ein gigantischer Wurfbalken schwirrte entsetzlich, ein Blitzstrahl,
ihm aus der Faust; den hemmte des Schildes zweifaches Stierfell,
hemmte der Panzer auch nicht mit der festen Doppelschicht goldner
Schuppen: der riesige Körper des Bitias sackte zusammen.
Unter ihm dröhnte die Erde, der mächtige Schutzschild darüber.
[376] Ebenso fällt am Euböergestade von Baiae ein Pfeiler;
zwischen Gerüsten aus wuchtigen Steinblöcken kunstvoll errichtet,
wird er versenkt in das Meer – so neigt er sich vorwärts im Sturze,
schlägt dann zur Tiefe und bleibt, gebohrt in den Meeresgrund, liegen;
aufschäumend brodelt die Flut, schwarz wirbeln die Schlickmassen aufwärts,
Prochytas Höhen erzittern vom Aufprall, Inárime gleichfalls,
über Typhoeus gewälzt, ein Steinbett, auf Jupiters Weisung.
Nunmehr verlieh der waffengewaltige Mars den Latinern
Kräfte und Mut und spornte sie an zu erbittertem Kampfe,
ließ die Trojaner zurückweichen, schlug sie mit tödlichem Schrecken.
Angreifer ballten sich überallher, vor rollte der Ansturm,
rasend vom Kriegsgott beschwingt.
Pandaros sah den Leichnam des Bruders hingestreckt liegen,
sah den Umschwung der Lage, das drohende Unglück. Da drehte
er mit gewaltiger Kraft die Torflügel zu in den Angeln,
stemmte die breiten Schultern gegen sie. Zahlreiche Teukrer
ließ er in hartem Gefecht zurück vor den Schanzen, doch viele
Gegner auch schloß er mit ein, bot Angreifern Aufnahme, töricht:
Sah er in ihrer Mitte doch nicht den Rutulerkönig
vorstürmen, sperrte sogar noch den Fürsten ins eigene Lager,
unter das mutlose Herdenvieh einen reißenden Tiger!
Furchtbar glühten sogleich die Augen des Turnus, und seine
Waffen klirrten entsetzlich, blutrot schwankte auf seinem
Haupte der Helmbusch, sein Schutzschild entsandte zuckende Blitze.
Plötzlich erkannten die Troer bestürzt das ihnen verhaßte
Antlitz, die Riesengestalt des Fürsten. Da stürmte gewaltig
Pandaros vorwärts und rief, wutflammend vom Tode des Bruders:
»Keineswegs ragt hier die bräutliche Burg der Herrin Amata,
[377] Ardea schützt nicht mit heimischen Mauern den Turnus. Vor Augen
hast du das feindliche Lager, ihm wirst du schwerlich entrinnen!«
Turnus entgegnete ihm mit verächtlichem Lächeln, gelassen:
»Mach nur den Anfang, falls Mut dich beseelt, schlag los mit der Rechten!
Hier auch entdeckte man einen Achilles, das kannst du dem König
Priamos melden.« Pandaros warf mit Anspannung aller
Kräfte den Speer mit dem rindenbedeckten, knotigen Schafte.
Doch er durchschnitt nur die Lüfte, Juno verwehrte der Waffe,
Wunden zu schlagen, die Stahlspitze blieb im Lagertor haften.
»Du entgehst nicht der Klinge in dieser kraftvollen Rechten;
andere Wunden pflege mit meinem Schwert ich zu schlagen!«
Turnus rief es und holte, sich reckend, weit aus mit der Waffe,
traf mit der Schneide den Schädel des Gegners genau in der Mitte,
hieb mit gewaltiger Wucht auseinander die bartlosen Wangen.
Unter der Last des Stürzenden dröhnte mit Zittern der Boden,
sterbend streckte der Troer die schlaffen Glieder und seine
hirnüberspritzten Waffen; beiderseits hingen dem Toten
völlig getrennt die Hälften des Schädels über die Schultern.
Voller Entsetzen stoben wild auseinander die Teukrer.
Hätte der Sieger sofort es sich einfallen lassen, die Riegel
selbst zu zerschlagen, den Kampfgefährten den Zugang zu öffnen,
würde der Tag den Krieg beendet, die Troer vernichtet
haben. Doch Kampfwut und heillose Mordgier stachelten Turnus
weiterhin gegen die Feinde.
Phaleris traf er, verwundete Gyges die Kniekehle, raffte
Lanzen vom Boden und stieß sie den beiden, die fortlaufen wollten,
tief in den Rücken. Juno verlieh ihm den Mut und die Kampfkraft.
Halys erschlug er dann, Phegeus, den an den Rundschild er spießte,
weiter Verteidiger, die an den Schanzen nichtsahnend, noch fochten,
[378] Halios und Alkandros, Prýtanis, nach ihm Noëmon.
Lynkeus wandte sich gegen ihn, rief auch Gefährten zu Hilfe.
Turnus, rechts seitlich des Walles, kam mit geschwungener Klinge
jäh ihm zuvor und hieb ihm mit einem gewaltigen Schlage
Schädel und Schutzhelm zugleich weit fort von dem Rumpfe, erlegte
Amykos dann, den erfolgreichen Jäger, der weithin am besten
Schußwaffen tränkte mit Gift und wirksam auch einsetzen konnte,
Klytios, Sprößling des Aiolos, schließlich den Kretheus, den Liebling,
Freund und Begleiter der Musen, der Singen und Lautenspiel ständig
pflegte, den Liedern mit Saitenklang taktmäßig folgte, auch immer
Rosse besang und Waffen von Helden und blutige Schlachten.
Aber zuletzt erfuhren die teukrischen Fürsten vom Blutbad
unter den Ihren und trafen sich, Mnestheus, der tapfre Serestos,
sahen die Freunde zersprengt, den Gegner inmitten des Lagers.
Laut rief Mnestheus: »Wohin noch fliehen, wohin entrinnen?
Was für Verschanzungen habt ihr noch, was für Befestigungswerke?
Einer der Feinde, ihr Troer, allseits umgeben von euren
Schanzen, durfte im Lager straflos ein solches Gemetzel
wagen, so viele der tüchtigsten Helden zum Orkus entsenden?
Feiglinge, spürt ihr nicht Scham und nicht Mitleid, wenn ihr der armen
Heimat gedenkt, der uralten Götter, des großen Aeneas?«
Dadurch entflammt und ermutigt, schlossen die Troer die Reihen.
Schrittweise zog sich Turnus zurück vor dem Ansturm, zum Flusse
wandte er sich, wo die Wellen den Rand des Lagers bespülten.
Heftiger drängten die Troer ihm nach mit gellendem Schreien,
ballten sich dichter zusammen. So drängt ein Haufen von Jägern,
waffenstarrend, den wütenden Löwen; erschrocken zwar, aber
[379] trotzig, mit grimmigen Blicken, weicht er; den Rücken zu kehren,
hindern ihn Wut und Tatkraft; zum Gegenangriff zu schreiten,
wehrt ihm, wie sehr er es wünscht, doch die Menge bewaffneter Männer.
Ebenso zog sich Turnus zurück, in innerem Zwiespalt,
ohne zu eilen; im stillen kochte er freilich vor Ärger.
Zweimal sogar noch prellte er vorwärts unter die Feinde,
scheuchte sie zweimal in kopfloser Flucht durch das Lager. Inzwischen
strömte jedoch die ganze Lagerbesatzung zusammen,
und die saturnische Juno wagte ihn gegen die Teukrer
nicht mehr zum Kampf zu ermuntern. Denn Jupiter hatte vom Himmel
Iris entsandt durch die Luft und der Schwester bittere Buße
angedroht, falls nicht Turnus das Lager der Teukrer verließe.
Deswegen konnte sich Turnus nicht länger nachdrücklich wehren,
weder mit Schutzschild noch Schwert; so prasselten rings die Geschosse
gegen ihn. Ununterbrochen umklirrte der Helm ihm die Schläfen,
Risse schon klafften im festen Erz vom Aufprall der Steine,
völlig zerfetzt hing über dem Kopfe der Buschen, den Stößen
war auch der Schildbuckel nicht mehr gewachsen, die Troer und Mnestheus
selber, ein Blitz im Getümmel, verdoppelten ihre Geschosse.
Turnus triefte von Schweiß wie von haftendem Pech, er vermochte
kaum noch zu atmen, nur Keuchen entrang sich dem hilflos erschlafften
Körper. Erst jetzt, in der vollen Rüstung, setzte mit schnellem
Sprung er ins Wasser. Der Flußgott empfing ihn in gelblichen Strudeln,
trug ihn auf freundlichen Wellen, wusch ihm das Mordblut vom Leibe,
brachte den aufatmend Heiteren sicher zurück den Gefährten.
[380]

Zehnter Gesang

Zehnter Gesang.

Aufgetan wurde indes der Palast des Olympus, wo Allmacht
waltet. Zur Ratssitzung lud der Vater der Götter und Menschen
hoch zu dem Sternenthron, wo er die Welt überschaut und zur Stunde
auch das dardanische Lager erblickte und Latiums Völker.
Nunmehr begann er im beiderseits offenen Saale zu sprechen:
»Warum, ihr mächtigen Himmelsbewohner, wurdet ihr wieder
anderen Sinnes und streitet euch derart erbittert? Ich wünschte,
daß ihr am Kriege Italiens gegen die Troer nicht teilnehmt!
Warum jetzt Zwietracht entgegen der Weisung? Welche Befürchtung
riet euch, Partei zu ergreifen und blutige Kämpfe zu schüren?
Kämpfen schon wird man zur richtigen Zeit – ihr bleibt aus dem Spiele!
Wenn einst Karthago den römischen Burgen in wütendem Grolle
tödliches Unheil bringt und über die Alpen sie angreift,
gilt es, zu streiten voll Haß und in glühendem Eifer zu kämpfen.
Heute beruhigt euch, schließt zu eurer Freude das Bündnis!«
Jupiters knapper Erklärung entgegnete wortreich die goldne Venus:
»Vater, in Ewigkeit Herrscher der Welt und des Menschengeschlechtes –
keine Gewalt sonst gäbe es, die wir noch anflehen könnten! –,
siehst du die Rutuler höhnisch sich tummeln und Turnus inmitten
seiner Gefährten auf stolzem Gespann voranpreschen, voller
Übermut durch den Erfolg? Kein Festungsbau schützt mehr die Teukrer,
sondern im Innern des Lagers sogar und zwischen den Schanzen
toben die Kämpfe, die Gräben triefen vom Blute. Aeneas
weilt in der Ferne, er ahnt nichts. Gönnst du den Troern denn niemals
Ruhe vor harter Belagerung? Wieder bedrohen schon Feinde
Mauern des künftigen Troja, ein Heer umringt sie schon wieder.
Wiederum rückt, vom ätolischen Arpi, der Held Diomedes
[381] gegen die Teukrer. Vielleicht verwundet er mich noch zum zweiten
Male, ich soll wohl, dein Kind, die Waffen von Menschen verspüren!
Zogen die Troer ohne dein Wohlwollen, gegen dein Streben
bis nach Italien, sollen sie büßen dafür, du verweigre
ihnen die Hilfe. Doch folgten sie derart vielen Orakeln
seitens der Götter und Manen – weswegen dürfte dann einer
deine Befehle jetzt umstoßen, neue Geschicke verhängen?
Soll ich die Schiffe erwähnen, die damals am Strande des Eryx
brannten? Den König der Winde, die aus Äolien gescheuchten
rasenden Stürme? Die hoch aus den Wolken entbotene Iris?
Setzt sie doch jetzt schon die Unterwelt ein – die blieb ihr als letzter
Helfer im Weltall noch übrig –, hetzte Allekto zur Erde
aufwärts und ließ sie rasend die Städte Italiens durchfliegen.
Nicht mehr von Weltherrschaft rede ich, hoffte darauf nur, solange
Glück uns noch lächelte. Siege verteile nach deinem Ermessen!
Gibt es kein Land, das deine gefühllose Gattin den Teukrern
gönnt, so beschwöre ich dich bei den rauchenden Trümmern von Troja,
Vater: Lasse Ascanius wohlbehalten den schweren
Krieg überstehen, lasse doch meinen Enkel am Leben!
Mag auch Aeneas auf fremden Meeren umhertreiben, Bahnen
folgen, die immer Fortuna ihm vorschreibt: Erlaube mir, meinen
Enkel zu schützen und ihn dem furchtbaren Krieg zu entziehen!
Mir gehören Amathus, das stolze Paphos, die hohe
Insel Kythera, Idalion auch. Hier möge mein Enkel
waffenlos, ruhmlos sein Leben verbringen. Lasse Karthago
über Ausonien gewaltsam herrschen, es droht ja von dorther
tyrischen Städten kein Widerstand. Wozu entrannen die Teukrer
feindlichen Schwertern, entgingen dem Brand, den die Griechen gestiftet,
mußten zu Wasser, zu Lande auch weithin so viele Gefahren
ausstehen auf der Suche nach Latium, einem ganz neuen
Pergamon? Sollten sie lieber nicht über der Asche der Heimat
siedeln, im alten Troja? Gib doch Simoeis und Xanthos,
[382] bitte, den Elenden wieder und laß sie den Untergang Trojas
nochmals erleben, Vater!«
Da rief die Herrscherin Juno,
rasend vor Wut: »Du zwingst mich, mein tiefes Schweigen zu brechen,
kaum erst vernarbte Wunden aufs neue bluten zu lassen!
Nötigte wirklich ein Sterblicher oder ein Gott den Aeneas,
Kriege zu führen und feindlich zu handeln an König Latinus?
›Doch nach Italien zog er auf Weisung des Schicksals‹ – natürlich,
fügsam dem Wahnsinnsgeschwätz der Kassandra! Veranlaßte etwa
ich ihn, sich ferne dem Lager den Sturmwinden anzuvertrauen?
Einen Knaben zum Feldherrn zu machen, zum Führer der Festung?
Dann die Tyrrhener zum Bündnis zu locken, den Frieden zu stören?
Jagte ein Gott ihn, gar ich, mit harter Gewalt in den Irrtum?
Was unternahmen denn Juno, was Iris, die Botin des Himmels?
Ohne Berechtigung kreisten Italer das künftige Troja
ein mit den Flammen, beträte Turnus den heimischen Boden,
er, des Pilumnus Enkel, der Göttin Venilia Sprößling;
doch die Trojaner sollen mit düsteren Fackeln Latiner
ausräuchern, fremdes Land unterwerfen und ausplündern dürfen?
Schwäger sich aussuchen, Mädchen, verlobte!, dem Manne entführen?
Heuchlerisch Frieden erflehen, doch Schiffe mit Waffen bestücken?
Du kannst deinen Aeneas den Händen der Griechen entreißen,
kannst den Bedrohten durch Nebel und leere Lüfte ersetzen,
Schiffe sogar, genau nach der Anzahl, in Nymphen verwandeln:
Helfe ich aber den Rutulern etwas, dann heißt das Verbrechen!
›Ferne Aeneas, nichtsahnend‹ – sei er nichtsahnend doch ferne!
Paphos besitzt du, Idalion und das hohe Kythera:
Laß dann doch kampfstarke Städte und trotzige Helden in Ruhe!
Suchte ich etwa die wankende Macht des Phrygers zu stürzen?
Ich? Nicht jener vielmehr, der die elenden Troer den Griechen
treulos verriet? Weswegen erhoben Europa und Asien
sich mit bewaffneter Faust und brach ein Schurke das Gastrecht?
[383] Führte ich etwa den Troer nach Sparta, die Ehe zu schänden,
lieferte Waffen und schürte den Kampf durch Einsatz Cupidos?
Hättest du dich doch damals gesorgt um die Deinen – zu Unrecht
führst du jetzt Klage, nichts richtest du aus mit deinem Gezeter!«
Derart verteidigte Juno ihr Handeln. Die Himmlischen alle
äußerten teilweise Beifall, teils Ablehnung, so wie ein Windhauch
anfangs in Bäumen sich fängt und zu rauschen beginnt, dann zu dumpfem
Grollen sich steigert, für Seeleute Anzeichen nahenden Sturmes.
Doch der allmächtige Vater, der höchste Beherrscher des Weltalls,
gab die Entscheidung bekannt – da versanken in Schweigen der hohe
Götterpalast, die erschütterte Erde, hoch droben der Äther,
legte der Zephyr sich, brachte das Meer die Wogen zur Ruhe:
»Nehmt jetzt zur Kenntnis mein Wort und prägt es euch tief ins Gedächtnis!
Da sich Ausonier und Teukrer noch nicht in friedlichem Bündnis
einigen dürfen und euer erbittertes Streiten nicht aufhört,
handle heut jeder nach seinem Schicksal und seiner Erwartung,
Troer wie Rutuler, keinerlei Unterschied lasse ich gelten,
ist nun die Festung bedrängt, weil das Schicksal Italien begünstigt,
oder weil Troja zum Unglück sich irrt und Orakel mißdeutet.
Auch für die Rutuler gilt das. Schaffe ein jeder sich Kummer
oder Erfolg auch. Jupiter herrscht gleichmäßig für alle.
Bahne das Schicksal die Wege!« Beim Strome des stygischen Bruders,
der mit pechschwarzen Wirbeln zwischen den Ufern dahinbraust,
leistete nickend den Schwur er und ließ den Olympus erzittern.
Damit schloß die Beratung. Der Vater erhob sich vom goldnen
Thron, ihn umringten die Götter und gaben Geleit ihm zum Ausgang.
Weiterhin blieben die Rutuler rings um die Tore im Angriff,
töteten Troer, umgaben die Wälle mit lodernden Flammen;
hinter den Schanzen sah sich die Schar des Aeneas umschlossen,
hoffte nicht mehr auf Entrinnen. Die Armen standen auf hohen
[384] Türmen, in dünnem Verteidigungsring auf den Wällen, doch ohne
Aussicht auf Sieg: Der Sprößling des Imbrasos, Asios; Thymoites,
Sohn Hiketaons; die beiden Assarakos; Thymbris, der Alte,
Kastor daneben, in vorderster Front; die Brüder Sarpedons,
Klaros, Thaemon, Bundesgenossen aus Lykiens Bergen.
Einen gewaltigen Felsblock, ein mächtiges Stück vom Gebirge,
schleppte aus Leibeskräften Akmon herbei aus Lyrnessos,
stark wie sein Vater Klytios und sein Bruder Menestheus.
Wurfspieße hier, dort Steine dienten den Männern zur Abwehr,
Brandsätze wurden geschleudert, man schnellte von Sehnen die Pfeile.
Mitten im Kreise der Seinen, mit Recht ein Liebling der Venus,
glänzte der Dardanerjüngling, entblößt das anmutig- edle
Haupt, wie ein Edelstein prachtvoll aus rötlicher Goldfassung funkelt,
Schmuck für den Nacken, den Kopf; wie Elfenbein leuchtet, von Buchsbaum
oder orikischem Holz der Pistazie kunstreich umschlossen.
Über den milchig schimmernden Nacken wallten die Haare,
wurden gehalten von einem Stirnreif aus biegsamem Golde.
Dich auch, Held Ismaros, sahen die mutigen Kämpfer mit Pfeilen
Gegner verwunden, Geschosse benetzen mit Gift auch, dich Sprößling
edlen Geschlechts aus Mäonien, wo man die fruchtbaren Fluren
eifrig bebaut, der Paktolos sie noch mit Gold überflutet.
Mnestheus auch kämpfte, der gestern den Turnus aus der Umwallung
drängte und deshalb in herrlichem Ruhmesglanz strahlte, und Kapys,
er, dem die Hauptstadt Kampaniens ihren Namen entlehnte.
Während die Teukrer und Rutuler gnadenlos gegeneinander
fochten, durchfurchte Aeneas um Mitternacht eilig die Wogen.
Hatte er doch, von Euander gelangt ins etruskische Lager,
dort sich dem Fürsten vorgestellt gleich mit Namen und Abkunft,
nannte sein Anliegen dann und die eigenen Mittel, im Anschluß
[385] auch des Mezentius Bundesgenossen, endlich des Turnus
Ungestüm; warnte vor mangelnder Sicherheit menschlichen Strebens,
bat um Verständnis für sich auch. So stimmte denn, ohne zu zögern,
Tarchon dem Kampfbündnis zu, dem Zusammenschluß sämtlicher Kräfte.
Frei von dem Schicksalszwang, folgsam den Göttern, so gingen die Lyder
unter dem fremden Feldherrn an Bord. Das Schiff des Aeneas
fuhr an der Spitze, am Bug zwei phrygische Löwen; darüber
ragte der Ida: die Wappen, die innigste Freude der Teukrer.
Hier saß sinnend Aeneas und grübelte über den offnen
Ausgang des Krieges. Pallas, zur Linken ihm, fragte ihn über
Sternbilder, über die Orientierung im nächtlichen Dunkel,
wollte auch wissen, was er zu Land und zu Wasser erlebte.
Öffnet, ihr Musen, den Helikon jetzt und preist im Gesange,
was für ein Heer dem Aeneas sich anschloß vom tuskischen Strande,
wimmelnd die Schiffe bemannte und mit ihm den Wogenschwall kreuzte!
Massicus fuhr als erster, an Bord des ehernen Tigers.
Ihm unterstanden tausend Gefolgsleute, Männer der Festung
Clusium und aus Cosae; sie trugen als Waffen geschultert
Pfeile und leichte Köcher, daneben die tödlichen Bogen.
Abas, der grimmige, folgte mit trefflich bewaffneter Heerschar,
prächtig erglänzte am Heck ein vergoldetes Bildnis Apollos.
Sechshundert kriegserfahrene Männer verdankte er seiner
Mutterstadt Populonia; dreihundert sandte die Insel
Ilva, berühmt durch des Chalyberstahls unerschöpfliche Lager.
Anschließend fuhr der Erklärer göttlicher Sprüche, Asilas,
der in der Tierleber las, in den Sternen des Himmelsgewölbes
wie in den Stimmen der Vögel, dem Glanz auch prophetischer Blitze.
Tausend Mann führte er, lanzenstarrend in dichter Kolonne;
[386] seinem Kommando vertraute sie Pisae, alpheischer Herkunft,
doch auf etruskischem Boden. Ihm folgte der stattliche Astur,
tüchtig zu Pferde, gerüstet mit vielfarbig leuchtenden Waffen;
dreihundert Mitkämpfer, einig in treuer Gefolgschaft, entsandten
Caere mit ihm, die Stadt am Minioufer, das alte
Pyrgi und das am Sumpf ungünstig gelegne Graviscae.
Nicht übergehe ich dich, du tapferster Lígurerfeldherr,
Cinyrus, dich auch, Cupavo, den nur ein Häuflein begleitet.
Über dein Haupt erhebt sich ein Helmbusch aus Federn des Schwanes,
Anklage einer Liebe, ein Sinnbild vom Schicksal des Vaters.
Denn als Cycnus den Tod des geliebten Phaëthon beweinte
und in dem Laubschatten der in Pappeln verwandelten Schwestern
traurig sein Klagelied sang, im Schmerz um den Freund sich zu trösten,
stieg er, rasch alternd, als Schwan in weichem, weißgrauem Gefieder,
singend vom Erdboden auf zu den Sternen; so lautet die Sage.
Aber sein Sohn, an Bord als Hauptmann von Altersgenossen,
ruderte vorwärts den Riesenzentauren; der Unhold, als Wappen
aufragend, drohte einen Felsblock ins Wasser zu schleudern,
furchte mit seinem mächtigen Kiel die Wogen des Meeres.
Ocnus auch hatte ein Heer aus heimischen Fluren entboten,
Sohn der Prophetin Manto sowie des etruskischen Stromes.
Mauern verschaffte er, Mantua, dir, auch den Namen der Mutter.
Zahlreiche Ahnen besitzt du, nicht ein Stamm nährte sie freilich,
vielmehr drei, und jeder gabelte sich in vier Völker.
Alle vereinst du in dir, doch dein Kern besteht aus Etruskern.
Fünfhundert Kämpfer führte der Haß auf Mezentius dorther.
Mincius, Sproß des Benacus, umkränzt von blaugrünem Schilfrohr,
trug sie auf kampfbereit-kraftvollen Planken dem Meere entgegen.
Wuchtig auch peitschte Aulestes zu höherem Schwunge mit hundert
Rudern die Flut, hoch schäumte die aufgewirbelte Fläche.
Triton, der Riese, trug ihn und schreckte die graublauen Fluten
[387] weit mit dem Dröhnen der Muschel; er sah wie ein Mensch aus beim Schwimmen,
vorn bis zur Hüfte zottig behaart, doch bauchwärts ein Walfisch.
Unter der Brust des Halbtiers rauschten gischtsprühend die Wellen.
Soviel erwählte Feldherren kamen den Troern zu Hilfe,
furchten mit dreißig ehern beschlagenen Schiffen die Salzflut.
Lange schon war die Sonne vom Himmel gewichen, es rollte
segensreich Phöbe auf nächtlichem Wagen hoch über die Wölbung.
Aber Aeneas, dem quälende Sorge kein Ruhen vergönnte,
lenkte als Steuermann selber das Schiff mit Ruder und Segel.
Siehe, da zog ihm beim Fahren ein Reigen von Nymphen entgegen,
seine getreuen Schiffe, die vormals gnädig Kybeles
Weisung verwandelt hatte in Meeresgöttinnen: Nunmehr
schwammen sie alle zusammen heran durch die Wogen, genauso
viele, wie einstmals mit ehernem Bug am Küstenstreif lagen.
Ferner erkannten den Fürsten sie schon und umkreisten ihn tanzend.
Kymodokeia – sie konnte am besten reden von allen –
schwamm an das Hinterschiff, hielt sich daran mit der Rechten und tauchte
halb aus dem Wasser, das sie mit der Linken lässig bewegte,
redete den Überraschten jetzt an: »Du wachst noch, Aeneas,
Göttersproß? Wache nur weiter, lockre die Taue der Segel!
Wir, die wir Fichten einst waren vom heiligen Gipfel des Ida,
deine Flotte, wir sind heut Nymphen der See. Der Verräter
Turnus gedachte uns jäh zu vernichten durch Eisen und Flammen,
aber wir sprengten, der Not gehorchend, dein haltendes Tauwerk,
suchen dich jetzt auf den Wogen. Die Mutter erbarmte sich unser,
ließ uns in dieser Gestalt als Göttinnen leben im Meere.
Höre: Dein Sohn Ascanius wird in der Festung belagert,
ringsum von Waffen bedrängt, dem erbitterten Heer der Latiner.
Schon, wie befohlen, zur Stelle, vereint mit den tapfren Etruskern,
sind die arkadischen Reiter. Turnus hat sich entschlossen,
ihnen durch eigene Reiter den Weg zum Lager zu sperren.
[388] Auf denn, beim Dämmern des Tages laß die Gefährten sich wappnen,
greife auch selbst zu dem Schild, den als Bürgen des Sieges der starke
Meister des Feuers mit kunstreich vergoldetem Rande dir schenkte!
Soll doch der morgige Tag, wenn du meine Weisung beherzigst,
mächtige Haufen von Leichen gefallener Rutuler sehen.«
Darauf versetzte sie, ehe sie fortschwamm, geschickt mit der Rechten
einen Stoß dem ragenden Heck. Gleich kreuzte der Schiffskiel
schneller die Wogen, ein Speer, ja ein Pfeil, der windgleich dahinschießt.
Schneller auch fuhren die übrigen Schiffe. Der Sohn des Anchises
staunte, verdutzt; doch er nahm's, ermutigt, als günstiges Omen,
richtete kurz die Blicke empor zum Himmel und flehte:
»Gnädige Göttermutter vom Ida, Dindymons Herrin,
Freundin umtürmter Städte, Lenkerin ziehender Löwen,
schreite zum Kampf mir voran jetzt, gewähre dem Zeichen Erfüllung,
wie es die Satzung erfordert, glückbringend nahe den Phrygern!«
Derart betete er. Inzwischen hatte der neue
Tag schon entfaltet den Glanz und verscheucht das nächtliche Dunkel.
Gleich befahl Aeneas den Seinen, auf Weisung zu achten,
mutig zur Waffe zu greifen, bereit sich zu halten zum Einsatz.
Hoch auf dem Hinterdeck stehend, konnte bereits er die Teukrer
in der Umwallung erblicken und hob mit der Linken den golden
funkelnden Schutzschild. Da brachen die Troer hinter den Schanzen
aus in ein Jubelgeschrei, das himmelwärts dröhnte, die Hoffnung
spornte den Kampfeifer, kraftvoller schleuderten sie die Geschosse.
Ebenso schreien die thrakischen Kraniche unter den düstren
Wolken, nach Norden den Äther durchschwirrend, voll herzlicher Freude.
[389] Turnus jedoch und die andern ausonischen Feldherren staunten
über den Umschwung. Dann sahen sie aber dem Strande die Schiffe
rückwärts sich nähern, das ganze Meer schon bedeckt von der Flotte.
Über dem Haupt des Aeneas glühte die Helmspitze, Flammen
sprühte der Buschen, der goldene Schildbuckel funkelte feurig.
Ebenso glühen zuweilen in klaren Nächten Kometen
blutrot, unheilverkündend, oder erhebt sich der helle
Sirius, bringt den geplagten Sterblichen Dürre und Seuchen,
zieht mit Unglückslicht düstere Schleier über den Himmel.
Doch der verwegene Turnus bewahrte die Zuversicht, wollte
gleich das Gestade besetzen, die Landung der Feinde vereiteln,
suchte den Mut zu beleben und schalt Unschlüssige heftig:
»Was ihr euch wünschtet, das dürft ihr: Offen zerschmettern die Feinde!
Männer bergen Mars selbst in den Fäusten. Denkt jetzt an eure
Frauen und Häuser, vollbringt jetzt aufs neue so glänzende Taten,
wie sie den Ruhm der Ahnen begründeten. Vorwärts, ans Ufer,
packen den Feind wir von uns aus, er zagt bei der Landung und schwankt noch!
Hilft doch Fortuna dem Furchtlosen!«
Gleichzeitig faßte er noch die Entscheidung, mit wem er den Angriff
führen und wem er die weitre Belagerung auftragen solle.
Aber Aeneas setzte vom ragenden Hinterdeck über
Laufstege seine Gefährten ans Land. Den Rücklauf des Wassers
warteten viele auch ab und wagten den Sprung in das Flache,
mancher benutzte die Ruder zum Aufstemmen. Tarchon erspähte
einen Küstenpunkt ohne schäumende Untiefe, ohne
donnernde Brandung, wo Wellen sanft steigend zum Strande nur rollten.
Dorthin wandte er plötzlich den Bug und beschwor die Gefährten:
»Los, ihr Erwählten, legt euch mit aller Gewalt in die Riemen,
hebt und beschwingt die Schiffe! Hinein in das Feindesland schneidet
[390] tief mit den Schnäbeln, es furche der Kiel sich selber den Zugang!
Schiffbruch nehme ich gerne in Kauf bei solcher Art Landung,
wenn ich den festen Boden nur packte!« So spornte Fürst Tarchon
seine Gefährten. Die stemmten sofort sich gegen die Ruder,
jagten die schaumumwirbelten Buge auf Latiums Boden,
bis sich die Schnäbel ins Trockene bohrten und sämtliche Schiffe
ohne Beschädigung festsaßen – außer dem deinigen, Tarchon.
Blieb es auf einer unebenen Sandbank doch hängen und schwankte,
hoch in der Schwebe, noch etwas länger, ein Spielball der Wogen,
brach dann in Stücke und ließ die Besatzung den Weg nur ins Wasser.
Splitternde Ruder und schwimmende Planken hemmten die Männer,
rückwärts auch zog sie die jeweils zur See hin entrollende Welle.
Turnus auch blieb nicht untätig, warf die verfügbare Mannschaft
tatkräftig gegen die Teukrer und stellte sie auf am Gestade.
Angriffssignale schmetterten. Gegen Latiums Landvolk
stürmte Aeneas und zwang es zum Weichen, ein günstiges Omen,
durch die Erlegung Therons, der, riesig sein Heer überragend,
trotzig dem Troer sich stellte. Der stieß durch die Nähte des Panzers
und den goldglänzenden Leibrock ihm seitlich das Schwert in den Brustkorb.
Darauf erschlug er den Lichas, der, einst aus dem Leibe der toten
Mutter geschnitten und dir, Apollo, geweiht, nur als Säugling
tödlichem Eisen entging. Gleich anschließend traf er den rauhen
Kisseus, den schrecklichen Gyas auch tödlich, die beide mit Keulen
feindliche Scharen zerschlugen. Die Herkuleswaffen, die starken
Fäuste beschützten sie nicht, nicht der Vater Melampus, der einstmals
treu dem Alkiden folgte, solange noch dieser auf Erden
emsig sich mühte. Dann jagte Aeneas dem prahlenden Pharus
tief in den aufgerissenen Schlund den tödlichen Wurfspieß.
Du auch, Kydon, der du dem Klytios folgtest, dem neuen
Freunde, dem blond der Bartflaum erst keimte, du wärest gefallen
[391] unter der Dardanerfaust und hättest vergessen die Liebe,
die dich zu Jungen stets hinzog, ein kläglicher Leich nam. Die sieben
Söhne des Phorkos jedoch, die zum Gegenstoß kühn sich vereinten,
schleuderten gleichzeitig ihre Geschosse gegen Aeneas.
Einige prallten wirkungslos ab vom Helm und vom Schutzschild,
einige lenkte Venus gnädig zur Seite, sie streiften
leicht nur den Helden. Da bat Aeneas den treuen Achates:
»Reich mir die Speere, die einstmals in Leibern von Griechen auf Trojas
Schlachtfeldern steckten – keinen dürfte die Rechte vergeblich
gegen die Rutuler senden.« Dann griff er und schleuderte eine
mächtige Lanze; sie fuhr durch den bronzenen Schildrand des Maion,
bohrte in einem gewaltigen Schwung sich durch Panzer und Brustkorb.
Maion stürzte. Sein Bruder Alkanor wollte ihm helfen,
stützte ihn mit der Rechten. Da schoß durch den Arm ihm ein Wurfspeer,
glitt in dem Schwunge gleich weiter und hielt, bluttriefend, die Richtung,
ließ von der Schulter baumeln den Arm, die Muskeln erschlaffen.
Numitor aber entriß dem Leichnam des Bruders die Lanze,
warf sie dann gleich auf Aeneas. Doch konnte er ihn nicht durchbohren,
streifte nur leichthin den Oberschenkel des Helden Achates.
Clausus aus Cures stürmte heran, im Vertrauen auf seine
Jugendkraft, holte weit aus und durchstieß mit der grausamen Lanze
Dryops, unter dem Kinn, mit wuchtigem Schwunge die Kehle,
raubte zugleich ihm Stimme und Leben. Jäh schmetterte Dryops
gegen den Boden die Stirn, ein Blutstrom brach aus dem Munde.
Weiter erschlug er, in wechselnder Kampfart, drei Thraker aus altem
edlen Boreasgeschlecht, auch drei Söhne des Idas; der Vater
hatte geschickt sie vom Lande des Ismaros. Gleichzeitig stürmte
[392] mit den Aurunkern Halaesus herbei, auch der Sohn des Neptunus,
glänzend auf stolzem Gespanne, Messapus. Man strengte auf beiden
Seiten sich an, den Gegner zu werfen. Das Kampfgewühl tobte
grad auf der Schwelle Ausoniens. So fechten im riesigen Äther
manchmal die Winde den Streit aus, an Mut sich und Kräften gewachsen;
keiner der Kämpfenden weicht, fest stehen das Meer und die Wolken.
Lange Zeit ringen sie ohne Entscheidung, angespannt jeder.
Ebenso kämpften zur Stunde die Heerscharen Trojas und Latiums,
stemmten gedrängt sich Fuß an Fuß und Körper an Körper.
Jenseits jedoch, wo ein reißender Bergstrom rollende Steine,
auch aus den Ufern gerissenes Buschwerk mit fortgewälzt hatte,
wurden vom rauhen Gelände bereits die arkadischen Reiter
übel gezwungen zum Absitzen, mußten jedoch, in dem Fußkampf
wenig erfahren, vor den Latinern zurückweichen. Pallas
sah es und tat, was allein er noch konnte in solcher Bedrängnis,
suchte durch Flehen, dann auch durch Schelten den Mut zu beleben:
»Wohin, ihr Freunde, flieht ihr? Bei euch, die ihr tapfer einst kämpftet,
bei des Königs Euander glanzvoll gewonnenen Kriegen,
auch bei der Hoffnung, mit der ich dem Ruhme des Vaters voll Eifer
nachstrebe: Sucht nicht das Heil in der Flucht! Es gilt mit der Waffe
quer durch den Feind sich zu schlagen. Dorthin, ins dichte Gedränge,
ruft das erhabene Vaterland euch und den Anführer Pallas.
Keinerlei Götter bedrängen uns, Sterbliche nur, wie wir selber
Sterbliche sind, an Mut und an Fäusten einander gewachsen.
Seht, wie das Meer uns umschließt mit mächtigem Wasserschwall: Festland
fehlt uns zur Flucht! Wohin jetzt – ins Wasser oder ins Lager?«
Damit stürzte er sich ins dichte Getümmel der Feinde.
[393] Lagus, gedrängt vom tödlichen Schicksal, trat ihm als erster
mutig entgegen, erraffte sich einen wuchtigen Felsblock.
Aber dabei noch durchbohrte ihn Pallas mit kraftvollem Speerwurf,
traf ihn ins Rückgrat und riß die im Wirbel haftende Waffe
mühsam heraus. Doch konnte ihn Hisbo, wider Erwarten,
nicht überrumpeln. Denn während er, über das grausige Sterben
seines Gefährten erbittert, blindlings heranstürmte, konnte
Pallas ihn auffangen, stieß ihm das Schwert in die keuchende Lunge,
tötete Sthenios dann, Anchémolos gleichfalls, des Rhoitos
Sprößling, der schamlos ein Liebesverhältnis zur Stiefmutter knüpfte.
Ihr auch, ihr Zwillingssöhne des Daucus, Larides und Thymber,
fielt auf dem Rutulerschlachtfeld. Ihr waret einander sehr ähnlich,
wurdet verwechselt sogar von den Eltern, ein köstlicher Irrtum!
Heute jedoch unterschied euch Pallas in furchtbarer Weise,
trennte dir, Thymber, das Haupt vom Rumpf mit dem Schwerte Euanders,
hieb dir, Larides, die Rechte ab – die dich, getrennt schon, noch suchte,
mit den ersterbenden Fingern noch zuckend den Schwertgriff umkrallte.
Schon durch die Mahnung entflammt, die Kühnheit des Pallas vor Augen,
stürmten zum Kampf die Arkader, von Scham und von Ärger getrieben.
Pallas durchbohrte den Rhoiteus, der zweispännig grad zu entkommen
suchte. Sein Fluchtversuch schenkte dem Ilos Aufschub vorm Tode.
Kreuzte doch Rhoiteus die Flugbahn der wuchtigen Lanze, die Pallas
fernher auf Ilos abgesandt hatte, und wurde getroffen,
fliehend, Held Teuthras, vor dir und dem Bruder Tyres. Vom Wagen
sank er, noch lebend, und schlug mit den Fersen den Rutulerboden.
[394] Wie an verschiedenen Stellen der Waldtrift ein Hirte im Sommer,
wenn, schon ersehnt, die Winde auffrischen, Feuer entzündet,
diese dann reißend schnell um sich greifen und plötzlich in einer
schrecklichen Feuerfront weithin sich wälzen, der Hirte indessen,
froh des Erfolges, vom Hochsitz die siegreichen Flammen betrachtet,
ebenso schlossen sich jetzt die wackren Arkader zusammen,
Pallas, zu deiner Freude. Der tapfere Krieger Halaesus
drängte zum Gegenstoß vorwärts, völlig gedeckt von dem Schilde,
streckte gleich Ladon, Pheretas, Demódokos nieder. Dem Strymon,
der mit der Hand nach der Kehle ihm krallte, hieb er mit blanker
Klinge die Rechte ab, traf dann den Schädel des Thoas mit einem
Steinwurf, zermalmte die Knochen, die blutig das Hirn übersprühte.
Vorsorglich hatte der Vater im Wald einst Halaesus verborgen;
als dann die Augen des Alten im Tode erloschen, belegten
gleich die Parzen den Sohn mit Beschlag: Den Waffen Euanders
weihten sie ihn. Jetzt trat ihm Pallas entgegen und flehte:
»Vater Thybris, lasse den Spieß, den ich schwinge, mit seiner
Spitze erfolgreich die Brust des rauhen Halaesus durchstoßen –
anlegen soll dann dein Eichbaum seine erbeutete Rüstung!«
Gnädig erhörte der Gott ihn. Grad deckte Halaesus Imaon;
dabei bot er, der Arme, die Brust als Ziel dem Arkader.
Keine Entmutigung über den Fall des tapferen Helden
duldete Lausus, selbst furchtlos im Kampf, bei den Seinen: Im ersten
Treffen erlegte er Abas, der standhaft ihr Vordringen hemmte.
Schwere Verluste erlitten Arkadiens Söhne, erlitten
auch die Etrusker, auch ihr, die den Griechen ihr trotztet, Trojaner.
Schlachtreihe prallte auf Schlachtreihe, gleichstark an Führern und Kampfkraft.
Vorwärts preßten die letzten, man konnte im dichten Gedränge
kaum noch die Arme, die Waffen bewegen. Hier Pallas, dort Lausus
spornten zum Kampfe, beinahe gleichaltrig beide, auch beide
glänzend in ihrer Erscheinung. Doch hatte Fortuna auch beiden
Rückkehr zur Heimat versagt. Der Herr des hohen Olympus
[395] freilich erlaubte den zweien kein Kämpfen gegeneinander.
Ihrer harrte der Tod von der Hand noch größerer Gegner.
Jetzt an die Stelle des Lausus zu treten, ermahnte die hohe
Nymphe Juturna den Bruder Turnus. Zu Wagen durcheilte
dieser das Heer und rief beim Anblick der Freunde: »Die Stunde
fordert zur Kampfpause euch. Ich allein will fechten mit Pallas,
mir nur gehört er. Wäre sein Vater als Zeuge zugegen!«
Unverzüglich räumten die Kämpfer den Platz, wie befohlen.
Während die Rutuler wichen, wunderte Pallas sich über
jenen so herrischen Ton und faßte den riesigen Turnus
staunend ins Auge, musterte trotzig die ganze Erscheinung,
gab dann dem stolzen Gebieter Bescheid mit den Worten: »Ich ernte
Ruhm durch Gewinn der herrlichsten Beute oder durch einen
glanzvollen Tod. Mein Vater würdigt das eine wie andre.
Spar dir die Drohungen!« Damit betrat er die Mitte des Platzes.
Eiskalt strömte das Blut den Arkadern zum Herzen. Fürst Turnus
sprang von dem Wagen, er wollte den Zweikampf zu Fuße bestehen.
Ganz wie ein Löwe, der fern von der Höhe hernieder im Felde
einen zum Kampfe entschlossenen Stier erspähte und grimmig
gegen ihn stürmt, so bot sich der nahende Turnus den Blicken.
Als ihn Pallas in Wurfweite wähnte, gedachte den Anfang
kühn er zu wagen; er hoffte, als Schwächerem werde ein Zufall
Hilfe ihm bringen, und flehte innig zum mächtigen Äther:
»Enkel des Alkeus, bei meines Vaters gastlichem Tische,
den du einst aufsuchtest, hilf mir, bitte, beim schweren Beginnen!
Sähe mich Turnus, noch lebend, die blutigen Waffen ihm rauben!
Müßte er, sterbenden Auges, den Anblick des Siegers ertragen!«
Herkules hörte den Jüngling, er unterdrückte die bittre
Klage im tiefsten Herzen, vermochte nur hilflos zu weinen.
Aber da sprach sein Vater zu ihm die tröstlichen Worte:
»Jeden erwartet sein Tag, die Lebensfrist dehnt sich für alle
kurz nur und unwiederholbar. Doch rühmlich zu glänzen durch Leistung,
bleibt des Tapfren Verpflichtung. Vor Trojas ragenden Mauern
[396] fielen so zahlreiche Söhne von Göttern, mit ihnen mein eigner
Sprößling sogar, Sarpedon. Den Turnus auch wird noch sein Schicksal
rufen, auch er gelangt noch zum Schluß der verliehenen Spanne.«
Damit wandte er seine Augen vom Rutulerlande.
Pallas jedoch entsandte den Speer mit Anspannung aller
Kräfte und riß dann sogleich das funkelnde Schwert aus der Scheide.
Über der Schulter ritzte die Waffe im Fluge den Panzer,
hatte zuvor schon den oberen Schildrand durchschlagen und streifte
schließlich, gehemmt schon, nur leicht den Riesenkörper des Turnus.
Seinerseits schwang jetzt dieser den Schaft mit der schneidenden Spitze
längere Zeit, dann rief er, und schleuderte los ihn auf Pallas:
»Schau jetzt, ob unsere Waffe nicht kraftvoller durchdringt zum Ziele!«
Quer durch den Schild, durch so zahlreiche Schichten von Eisen und Bronze,
auch durch so zahlreiche Lagen von Rindsfellen bohrte im starken
Schwung sich die Lanze, genau in der Mitte, durchschlug auch den Panzer,
drang in die Brust dann des jungen stattlichen Helden. Vergeblich
riß der Getroffene noch das warme Geschoß aus der Wunde:
Gleich mit der Spitze entströmten dem Körper das Blut und das Leben.
Jäh auf die Wunde stürzte der Held, ihn umklirrten die Waffen,
schlug noch, im Sterben, ins feindliche Erdreich die blutigen Zähne.
Über ihn stellte sich Turnus und rief:
»Hört, ihr Arkader, und meldet mein Wort dem König Euander:
Wie es die Sühne erheischt, so schicke zurück ich ihm Pallas.
Ehren des Grabes und Trost der Bestattung will ich gewähren.
Teuer bezahlt er die Gastfreundschaft, die er Aeneas gewährte.«
Danach setzte er seinen linken Fuß auf den Leichnam,
zog das gewichtige Wehrgehenk ab mit dem Bild des Verbrechens,
[397] der in der Brautnacht vollzognen Ermordung der eben vermählten
Jünglinge und der mit Blut besudelten Hochzeitsgemächer,
kunstreich getrieben in Gold von dem Sohn des Eurytus, Clonus.
Dieses gewann jetzt Turnus frohlockend als Beute des Sieges.
Nichts von den künftigen Schicksalen ahnen die menschlichen Herzen,
wissen im Übermaß reichlichen Glückes das Maß nicht zu wahren.
Turnus erlebt noch die Stunde, da vieles er gäbe für einen
lebenden Pallas, da er den Sieg von heute verabscheut!
Doch die Gefährten trugen, bitterlich weinend und klagend,
Pallas zurück auf dem Schilde, dicht gedrängt um den Toten.
Kummer und herrlichen Ruhm bringt deine Rückkehr dem Vater.
Ein Tag sah dich zum ersten Mal kämpfen und gleichzeitig fallen,
Haufen von toten Rutulern läßt du jedoch auf dem Kampfplatz!
Nicht ein Gerücht mehr, nein, zuverlässige Botschaft von diesem
Unglück erreichte Aeneas: Am Rande des Abgrundes stünden
seine Gefährten; sie wichen zurück schon, die Stunde verlange
Hilfe für sie. Da bahnte er sich, vor Rachedurst glühend,
gleich mit dem Schwerte, ein Schnitter, den Weg durch die feindlichen Scharen,
suchte dich, Turnus, dich stolzen Sieger. Pallas, Euander
standen vor seinen Augen, die Tische, die erstmals ihn gastlich
aufnahmen, dann der verpflichtende Handschlag. Vier Jünglinge, Söhne
Sulmos, die gleiche Anzahl noch einmal, Söhne des Ufens,
nahm er lebendig gefangen, ein Totenopfer den Schatten,
wollte auf flammenden Holzstoß ihr Blut als Sühneguß sprengen.
Fernher schon hatte er drohend die Lanze auf Magus geschleudert.
Aber der duckte geschickt sich, der schwirrende Speer überflog ihn.
Eilend umschlang dann Magus die Knie des Aeneas und flehte:
»Bei den Manen des Vaters, bei Iulus, der hoffnungsvoll aufwächst,
bitte ich, laß mir das Leben für meinen Sohn und den Vater!
Stattlich erhebt sich mein Haus. Talente getriebenen Silbers
liegen geborgen darin. Auch besitze ich Gold, teils in Barren,
[398] teils auch in Schmuckstücken, pfundweis. Den Sieg der Teukrer entscheidet
sicher nicht mein Tod, ein einzelnes Leben gibt nicht den Ausschlag.«
Auf sein Flehen gab ihm Aeneas zur Antwort: »Die Pfunde
Silbers und Goldes, die du erwähnst, die spare für deine
Nachkommen auf! Den Loskauf vom Kriegsrecht machte als erster
Turnus zunichte bereits, indem er Pallas erlegte.
Derart entscheidet mein Vater Anchises, desgleichen Iulus.«
Damit ergriff er des Flehenden Helm mit der Linken, den Nacken
bog er zurück und senkte die Klinge hinein bis zum Griffe.
Haemons Sohn stand nahe, der Priester Apolls und Dianas,
von der geheiligten Binde die Schläfen umkränzt und am ganzen
Leibe hellstrahlend im Priestergewand und mit trefflichen Waffen.
Fortlaufen wollte er, stürzte jedoch, und über ihm stehend,
weihte Aeneas der tödlichen Nacht ihn. Die prächtigen Waffen
trug auf der Schulter Serestos zu dir, Gott Mars, als Trophäe.
Caeculus, Sohn des Vulcanus, und Umbro vom Marsergebirge
brachten die wankende Front der Latiner zum Stehen. Erbittert
stürmte der Dardaner gegen sie, hieb mit der Klinge dem Anxur
wuchtig den Rundschild mitsamt dem linken Arme vom Leibe.
Hatte doch Anxur geprahlt und gewähnt, daß den eigenen Worten
mächtige Kraft innewohne, sich gar in den Himmel erhoben,
selbst sich ergrauendes Haar und ein hohes Alter versprochen.
Aber jetzt stürmte Held Tárquitus vor mit funkelnden Waffen,
den einst die Nymphe Dryópe gebar dem Waldgotte Faunus,
bot dem erbitterten Troer die Stirn. Der heftete wuchtig
ihm mit der Lanze den mächtigen Schild und den Panzer zusammen.
Tarquitus wollte noch wortreich flehen – vergeblich; Aeneas
hieb ihm den Kopf von den Schultern zu Boden, wälzte den warmen
Rumpf vor sich her und rief überdies in rasender Rachgier:
»Bleibe dort liegen, du schrecklicher Kämpfer! Die liebreiche Mutter
wird dich nicht beisetzen, nicht dich daheim mit dem Grabmal belasten.
[399] Laß dich von Raubvögeln fressen oder von strudelnden Wellen
fortspülen, wo dann gierige Fische die Wunden dir lecken!«
Gegen Antaeus und Lucas, im vorderen Treffen des Turnus,
stürmte er, gegen Numa sodann und den rotblonden Camers,
Sprößling des mutigen Volcens, der in Ausonien den reichsten
Grundbesitz hatte, Gebieter im stillen Städtchen Amyclae.
Wie einst Aigeion, dem hundert Arme und ebensoviele
Fäuste, der Sage nach, wuchsen, aus fünfzig Rachen und Lungen
Flammen auch sprühten, in gleicher Anzahl gegen die Blitze
Jupiters Schutzschilde reckte und Schwerter zückte, genauso
wütete jetzt Aeneas umher auf dem Schlachtfeld, als Sieger,
nun ihm die Klinge erhitzt war. Sogar dem Niphaeus auf seinem
von vier Rossen gezogenen Streitwagen trat er entgegen,
und bei dem Anblick des Helden, der schnaubte vor Wut und gewaltig
ausschritt, scheuten die Rosse vor Schrecken, sie bäumten sich rückwärts,
warfen den Lenker vom Stand und zerrten das Fahrzeug zur Küste.
Lucagus jagte inzwischen, begleitet von Liger, dem Bruder,
hoch auf dem Zweigespann unter die Kämpfenden. Letzterer lenkte
zügelnd die Pferde, doch Lucagus ließ verwegen die Klinge
kreisen. Aeneas duldete nicht ihr trotziges Rasen,
wandte sich gegen sie, zeigte sich, riesig, die Lanze im Anschlag.
Liger verhöhnte ihn:
»Kein Diomedesgespann, kein Fahrzeug des Helden Achilles
siehst du, kein Schlachtfeld vor Troja. Hier wirst du das Ende des Krieges,
aber das Ende des Lebens auch finden.« So sprudelte Liger
töricht die Worte hervor. Doch würdigte ihn der Trojaner
keiner Entgegnung, auf Lucagus schleuderte jäh er die Lanze.
Dieser spornte, zum Schlage vornübergeneigt, mit dem Speerschaft
eifrig die Rosse, dann setzte den linken Fuß er nach vorne,
kampfbereit schon. Da durchschlug ihm die Lanze des Troers die untre
Kante des blanken Schildes und drang ihm links in die Hüfte.
[400] Nieder vom Fahrzeug sank er und wälzte sich sterbend am Boden.
Bitter noch traf ihn der fromme Aeneas mit kränkenden Worten:
»Lucagus, keine sich kampfesscheu bäumenden Rosse entführten
dir den Wagen, noch scheuchten vom Feind her dich täuschende Schatten.
Selber verließest im Sprung du dein Fahrzeug!« Er packte am Zügel
fest das Gespann. Da rang der Bruder des Toten die Hände,
sprang entmutigt gleichfalls vom Wagen und flehte: »Du Kämpfer
Trojas, um deinetwillen, der Eltern auch, die dich als Helden
zeugten, lasse mich leben, erbarm dich des Flehenden!« Weiter
wollte er bitten noch, aber Aeneas erwiderte: »Eben
sprachst du noch anders. Stirb nur, laß nicht im Stiche den Bruder!«
Und er durchstieß ihm die Brust, die verborgene Stätte des Lebens.
Solche Verluste fügte der Dardanerkönig den Feinden
zu auf dem Schlachtfeld, ein Sturzbach, ein Wirbelsturm, grauenhaft wütend.
Nunmehr auch brachen der junge Ascanius und die Trojaner,
von den Latinern so lange vergeblich bestürmt, aus dem Lager.
Jupiter wandte indes sich unaufgefordert an Juno:
»Liebe Schwester und ebenso liebe Gemahlin, nach deiner
Meinung – in der du dich keineswegs täuschst – erweist den Trojanern
Venus jetzt Beistand. Den Männern fehlen die kampfstarken Fäuste,
fehlen der trotzige Mut und die Ausdauer in den Ge fahren.«
Juno entgegnete demütig: »Warum, du herrlichster Gatte,
quälst du mich Arme, die deine gestrengen Weisungen fürchtet?
Liebtest du mich doch so innig wie früher und wie es der Gattin
eigentlich zusteht! Dann würdest, Allmächtiger, du es mir schwerlich
abschlagen, daß ich Turnus dem Schlachtengetümmel entziehe,
Daunus, dem Vater, gesund ihn und wohlbehalten bewahre.
Mag er jetzt sterben, mit frommem Blute büßen den Troern!
Trotzdem, er führt sein edles Geschlecht zurück auf das unsre.
War doch Pilumnus sein Urahn. Auch hat er freigebig oftmals
reichliche Gaben in deinen Tempeln als Opfer gespendet.«
[401] Kurz nur erteilte ihr Antwort der König der himmlischen Höhen:
»Wenn du für einen dem Tode verfallenen Helden nur einen
Aufschub erbittest und glaubst, ich könnte den Aufschub bewirken,
führe den Turnus vom Schlachtfeld, entzieh ihn dem nahenden Schicksal!
Soweit vermag ich Nachsicht zu üben. Verbirgt sich indessen
unter der Bitte ein größerer Wunsch und wähnst du, dem Kriege
einen ganz anderen Ausgang zu geben, so hoffst du vergeblich.«
Weinend erwiderte Juno: »Gewährtest du das mit dem Herzen,
was du dem Wortlaut nach ablehnst, bliebe mein Turnus am Leben.
Nunmehr erwartet ein bitterer Tod den Schuldlosen, sollte
ich mich nicht täuschen. Narrte mich lieber doch falsche Befürchtung,
schlügest den Weg du zum Besseren ein, da allmächtig du waltest!«
Darauf ließ sie sogleich sich vom hohen Himmel hernieder,
quer durch die Lüfte, von Sturmwind umhüllt und von Wolken umflattert,
eilte zur troischen Streitmacht sowie zum laurentischen Lager,
formte aus Wolkendunst klüglich ein kraftloses Schattengebilde,
das wie Aeneas aussah, ein kunstreiches Werk zum Erstaunen,
rüstete es mit dardanischen Waffen, ähnlichem Schutzschild,
täuschendem Helmbusch auf göttlichem Haupt, verlieh ihm auch Sprache,
Laute nur, nichtig, vernunftlos, und gab ihm die typischen Schritte;
Seelen der Sterblichen sollen, verstarb der Körper, so flattern,
oder auch Träume, die der Empfindungen Schlafender spotten.
Frohlockend eilte der Schatten vor das vordere Treffen,
reizte zum Schein mit funkelnden Waffen, lauthöhnend, den Turnus.
Dieser entsandte von ferne auf ihn die schwirrende Lanze,
stürmte dann gegen ihn. Aber da wandte zur Flucht sich der andre.
Turnus wähnte, Aeneas suche tatsächlich das Weite,
schöpfte, verwirrt durch die Täuschung, eine ganz grundlose Hoffnung:
»Wohin, Aeneas? Verschmähe nicht die dir verheißene Ehe!
[402] Meine Faust verschafft dir das Land, das zu Wasser du suchtest.«
Derart prahlte er, folgte dem Fliehenden, zückte die blanke
Klinge – und sah nicht, daß Windstöße ihm sein Wunschbild entrafften.
Zufällig lag ein Schiff vor Anker am ragenden Felshang,
hatte die Leitern heruntergelassen, den Laufsteg befestigt.
Clusiums König Osinius war auf dem Fahrzeug gekommen.
Dorthin schwebte bestürzt der Schatten des fliehenden Troers,
schlüpfte hinein und verschwand. Beharrlich folgte ihm Turnus,
ließ durch kein Hemmnis sich abhalten, eilte hoch über den Laufsteg.
Kaum betrat er das Vorschiff, da kappte Juno die Leine;
forttreiben ließ sie das Schiff auf rückläufig kabbelnden Wellen.
Während Aeneas in Wirklichkeit Turnus zum Zweikampfe suchte
und die ihm zahlreich entgegentretenden Feinde erlegte,
suchte nicht länger mehr sich zu verstecken der flüchtige Schatten,
sondern entschwebte zur Höhe, zerfloß in den düsteren Wolken.
Seewärts entführten indessen wirbelnde Winde den Turnus.
Nichtsahnend, keineswegs froh der Errettung, schaute der König
rückwärts und streckte flehend die Hände empor zu den Sternen:
»Vater, Allmächtiger, hast du mich eines so schweren Verbrechens
etwa für schuldig befunden, daß du mich so grausam bestrafest?
Wohin nur soll ich? Woher? Als Flüchtling? Als was für ein Feigling?
Soll ich die Mauern Laurentums wiedersehen, das Lager?
Was unternehmen die Männer, die mir in das Schlachtgewühl folgten?
Ließ ich sie alle schmachvoll zurück zu abscheulichem Tode,
sehe sie ratlos umherirren, höre die Fallenden jammern?
Wie jetzt handeln? Wo könnte für mich ein Abgrund jetzt klaffen,
hinreichend tief? Doch lieber erbarmt euch meiner, ihr Winde!
Jagt mir das Fahrzeug an Felsen, auf Klippen – ich, Turnus, ich flehe
innig darum –, in die tückischen Untiefen wütender Syrten,
wohin die Rutuler mir und die wissende Fama nicht folgen!«
Während des Flehens schwankte er unschlüssig, fast wie von Sinnen
[403] angesichts solcher Schande: Ob er sich selbst in die Klinge
stürzen, das grausame Schwert durch den Brustkorb hindurchjagen solle
oder auch springen ins Meer und schwimmen zur buchtreichen Küste,
dort sich aufs neue ins Schlachtgewühl gegen die Teukrer begeben.
Dreimal versuchte er beides, doch hemmte die mächtige Juno
dreimal ihn auch und hielt ihn zurück aus innigem Mitleid.
Über die hohe See glitt er mit günstiger Strömung,
trieb dann ans Festland, zur uralten Hauptstadt des Daunus, des Vaters.
Aber inzwischen rückte auf Jupiters Mahnung voll Eifer
König Mezentius gegen die jubelnden Troer aufs Schlachtfeld.
Alle gedrängt von dem Haß auf den einen, stürmten geschlossen
die tyrrhenischen Reihen auf ihn mit dichtem Geschoßschwall.
Doch wie ein Felsen, der in die unendliche Weite des Meeres
vorspringt, von rasenden Stürmen umheult, von den Wellen umbrandet,
standhält den drohend geballten Kräften der Flut und des Himmels,
selbst unerschüttert, so streckte der König den Hebros zu Boden,
Sohn Dolichaons, den Látagus dann und den fliehenden Palmys.
Latagus traf er mit einem gewaltigen Block aus dem hohen
Felsengebirge auf Mund und Gesicht, durchtrennte dem Palmys
kraftvoll die Kniekehle, daß er gelähmt sich dahinwand; die Rüstung
gab er dem Lausus zur Nutzung, den Helmbusch als Hauptschmuck. Euanthes
schlug er dann nieder, den Phryger, und Mimas, den Altersgenossen,
Freund auch, des Paris. Ihn hatte Theano dem Gatten Amykos
einstmals geboren, in jener Nacht, da auch Hekabe ihre
»Fackel«, den Paris, gebar. Der ruht in der Heimatstadt, Mimas
aber erhielt als Fremdling sein Grab an der Küste Laurentums.
Wild wie der Eber, den schnappende Hunde vom hohen Gebirge
hetzten, der Riese, dem lange Jahre der fichtenbedeckte
Venulus und das laurentische Sumpfgebiet Unterschlupf boten,
[404] wo er im Röhricht sich mästete, schließlich, verstrickt in das Jagdnetz,
stehenblieb, ungestüm schnaubte, die Borsten am Vorderbug sträubte,
wie dann nicht einer der Treiber mit grimmigem Mute ihn angriff,
nein, sie aus sichrer Entfernung ihn schreiend beschossen und warfen,
er, wenn auch furchtlos, nach keiner Seite ein Vorstürmen wagte,
zähneknirschend durch Schütteln vom Rücken die Lanzen entfernte –
ebenso wagte nicht einer von denen, die völlig berechtigt
König Mezentius haßten, sich ihm zum Schwertkampf zu stellen;
fernher nur reizten sie ihn mit wildem Geschrei und Geschossen.
Aus dem uralten Kórythos war ein gebürtiger Grieche,
Akron, gekommen, kurz vor der Vermählung verbannt aus der Heimat.
Tief schon ins Heer des Mezentius war er im Angriff gedrungen,
purpurn sein Helmbusch, der Mantel auch, den die Verlobte ihm webte.
Ihn erspähte der Fürst. Wie oftmals ein hungernder Löwe,
rasend vor Gier, durch sein Jagdrevier streift, den Hochwald, und eine
flüchtige Wildziege, einen Hirsch auch mit stattlichen Stangen
sichtet, frohlockend den Rachen aufreißt, die Mähne hoch aufsträubt,
über das Opfer sich stürzt, es zerfleischt und abscheulich im Blute
badet den grausamen Schlund,
ebenso stürzte Mezentius wild in das Feindesgedränge,
streckte den elenden Akron zu Boden, der sterbend mit seinen
Hacken auf düsterem Boden trommelte und die zerbrochne
Lanze mit Blut überströmte. Grad kehrte Orodes ihm seinen
Rücken zu. Aber so wollte der Feind ihn nicht treffen, von hinten
nicht ihn erstechen. Er holte ihn ein und stellte von vorne
ihm sich entgegen, wollte durch Kampf, nicht durch Hinterlist siegen,
stieß ihn zu Boden, beugte, gestützt auf den Spieß, sich darüber:
»Nicht verächtlich, ihr Männer, erlag hier der tapfre Orodes!«
Beifällig ließen die Seinen jubelnd ein Siegeslied hören.
[405] Aber der Sterbende sprach: »Nicht lange mehr wirst du dich straflos,
wer du auch bist, des errungenen Sieges freuen. Das gleiche
Schicksal erwartet dich schon, du liegst bald genauso am Boden.«
Finster lächelnd, verärgert zugleich, gab Antwort der Sieger:
»Stirb jetzt. Mein Schicksal mag der Vater der Götter und Menschen
selber bestimmen.« Er zog den Spieß aus dem liegenden Körper.
Tiefe Erstarrung, ein eherner Schlummer, schloß des Orodes
Augen; ihr Leuchten erlosch zu ewig währendem Dunkel.
Caedicus schlug den Alkáthoos nieder, Sacrator Hydaspes,
Rapo Parthenios und den kraftvollen Orses, Messapus
Klonios und Eriketes, den Sohn des Lykaon; der letztre
kämpfte zu Fuß, der erstere war von zaumlosem Pferde
nieder zu Boden geglitten. Zu Fuß auch kämpfte der Lykier
Agis; ihn tötete Válerus, würdig des Mutes der Ahnen.
Salius traf den Thronios tödlich, doch jenen Nealkes,
weithin berühmt als Speerwerfer und als sicherer Schütze.
Gleichmäßig häufte der grausame Mars die bittren Verluste
wieder, man mordete und man stürzte, gemordet, man siegte,
wurde besiegt, und keiner der Kämpfer gedachte zu weichen.
Mitleid empfanden die Götter in Jupiters Schloß mit dem leeren
Wüten der beiden Heere, der furchtbaren Mühsal der Menschen.
Zuschauer spielten, von hier und von dort aus, Venus und Juno.
Unter den Tausenden raste Tisíphone, blaß wie ein Leichnam.
Aber Mezentius schüttelte seine gewaltige Lanze,
ungestüm tobte er über das Schlachtfeld. So schreitet Orion
riesig einher, wenn zu Fuß er die tiefsten Fluten des Nereus
zügig durchwatet, und ragt aus dem Wasser mit mächtigen Schultern,
oder er schleppt von ragenden Bergen die uralte Eiche,
stapft zwar am Boden, doch reicht mit dem Haupt hinein in die Wolken.
Gleich ihm bewegte Mezentius sich mit den furchtbaren Waffen.
[406] Ihn erspähte im Heere Aeneas von weitem und rückte
kampfbereit gegen ihn vor. Unerschrocken verharrte der Tusker,
wartete auf den mutigen Gegner, wuchtig in seiner
Kraft und bemüht, die Wurfweite spähenden Blickes zu schätzen.
»Mögen mir göttergleich beistehen jetzt mein Arm und die Lanze,
die ich hier schwinge! Ich weihe die Waffen, die ich dem toten
Räuber Aeneas entreiße, dir, Lausus – als Zeichen des Sieges
sollst du sie tragen.« So sprach er und warf die schwirrende Lanze
kraftvoll aus großer Entfernung. Doch prallte sie ab von dem Schutzschild,
bohrte dem Helden Antores sich zwischen der Brust und dem Magen
tief in den Leib, dem Freunde des Herkules; Bote aus Argos,
blieb bei Euander er einstmals und ließ in Italien sich nieder.
Längshin streckte den Armen der Speerwurf, der ihm nicht gegolten,
himmelwärts blickte der Sterbende, dachte ans liebliche Argos.
Nunmehr entsandte der fromme Aeneas den Speer. Der durchbohrte
wuchtig die dreifachen Schichten des Schildes aus Bronze und Stierfell
samt dem leinenen Überzug, blieb dann im Unterleib stecken,
freilich schon ohne durchschlagende Kraft. Schnell zückte Aeneas,
weil er voll Freude schon sah, daß der Tusker blutete, seine
Klinge hervor aus der Scheide und stürzte sich auf den verwirrten
Gegner. Der Anblick entlockte dem Lausus, aus Liebe zum teuren
Vater, ein Stöhnen, und Tränen rollten ihm über die Wangen.
Weder dein grausames Sterben noch deine vortrefflichen Taten
noch gar dich selber, denkwürdiger Jüngling, will ich verschweigen –
schenkt überhaupt man solch ruhmreicher Leistung der Vorzeit noch Glauben!
König Mezentius zog sich, nicht kampffähig wegen des Treffers,
langsam zurück, zog mit sich am Schild den Speerschaft des Feindes.
Vorwärts stürzte jetzt Lausus, warf sich zwischen die Gegner.
[407] Eben schon holte Aeneas weit aus zum Schlag mit der Rechten.
Da unterlief der Jüngling das Schwert und parierte den starken
Hieb. Die Gefährten folgten lautschreiend dem Angriff, den Rückzug
des von dem Schilde des Sohnes geschützten Vaters zu decken,
schossen und warfen von weitem und suchten den Feind zu verdrängen.
Wutentbrannt knirschte Aeneas, er mußte in Deckung sich halten.
Wie wenn die Unwetterwolken heranfliegen und sich in Schloßen
wütend entladen, die Pflüger sämtlich die Felder verlassen,
Bauern wie Wanderer einen sicheren Unterschlupf suchen,
Höhlen am Flußufer oder auch überhängende Felsen,
für die Dauer des Regens, um gleich nach der Rückkehr der Sonne
wieder dem Tagwerk zu frönen: so mußte Aeneas im dichten
Schwall der Geschosse noch aushalten, bis sich das Dröhnen des Ansturms
ausgetobt hatte. Laut schalt er den Lausus und drohte ihm wütend:
»Weswegen suchst du den Tod, wagst mehr, als die Kräfte gestatten?
Unbedacht handeln läßt dich dein Pflichtgefühl!« Aber frohlockend
hielt der Verblendete stand. Da wuchs noch des Dardanerfeldherrn
rasender Zorn, schon spannen die Parzen dem Jüngling den letzten
Faden: Aeneas jagte kraftvoll die Klinge in seines
Gegners Körper, versenkte sie bis an den Griff. Durch den kleinen
Rundschild – zu dürftigen Schutz für eine so trotzige Drohung –
drang die Waffe, durchs Hemd, das die Mutter aus Goldfäden webte.
Blut überströmte die Brust. Die Seele entwich durch die Lüfte,
traurig, zum Reiche der Manen, verließ die sterbliche Hülle.
Als jetzt der Sohn des Anchises ins Antlitz des Sterbenden blickte
und es erbleichen sah in ergreifender Weise, da stöhnte
laut er voll Mitleid und streckte die Rechte empor; auf das tiefste
rührte ihn dieses Beispiel inniger Liebe zum Vater.
»Was, du bejammernswürdiger Junge, was kann dir für deine
Ruhmestat geben der fromme Aeneas, das deines Charakters
würdig sich zeigte? Behalte die Waffen, die einst dich beglückten!
Freut es dich, schicke ich dich zum Grab und den Manen der Väter.
[408] Tröste im Unglück dich eines noch über dein grausames Sterben:
Held Aeneas erlegte dich!« Seine noch zögernden Freunde
rief er zu Hilfe und hob den Leichnam vom Boden. Des Toten
Haare, gestrählt nach etruskischer Sitte, entstellte der Blutstrom.
Aber der Vater des Toten suchte am Ufer des Tiber
seine noch blutende Wunde mit Wasser zu stillen, den matten
Körper an einen Baumstamm gelehnt. Sein eherner Helm hing
nah im Geäst, die wuchtige Rüstung ruhte im Grase.
Ausgewählte Gefährten umringten ihn. Mühsam nur atmend,
stützte den Kopf er, tief wallte der Bart auf die Brust. Stets aufs neue
fragte nach Lausus er, schickte auch Boten, zurück ihn zu rufen,
Weisung zu geben dem Sohn vom furchtbar erschütterten Vater.
Aber als Toten nur brachten Gefährten, in Tränen, auf seinem
Schilde den Jüngling, würdiges Opfer würdigen Gegners.
Unheil schon ahnend, vernahm der Vater weither das Gejammer.
Da überstreute er trauernd sein Grauhaar mit schmutzigem Staube,
reckte die Hände zum Himmel und warf sich dann über den Leichnam:
»Klammerte ich mich, mein lieber Junge, so stark an das Leben,
daß ich, dein Vater, statt meiner dich selber die Stöße des Feindes
auffangen ließ? Gerettet bin ich durch deine, des Sohnes,
Wunden? Ich lebe dank deinem Tode? Ich Elender fühle
jetzt erst die Größe des Unglücks, jetzt erst die Tiefe der Wunde.
Ich, mein Junge, befleckte durch eignes Verschulden auch deine
Ehre, mich haßte mein Volk und vertrieb mich aus Heimat und Herrschaft.
Vaterland, Abscheu der Meinen, ihr solltet zu Recht mich bestrafen:
Hätte als Schuldiger selbst ich, wie immer, gebüßt mit dem Tode!
Heute noch lebe ich, scheide noch nicht von Sonne und Menschen.
Aber ich werde jetzt scheiden!« Zum Trotz der getroffenen Hüfte
stemmte er hoch sich. Obwohl ihn die tiefe Wunde noch schmerzte,
rief er entschlossen nach seinem Streitroß. Das galt ihm als teures
Kleinod, als Trost, es hatte ihn siegreich getragen aus allen
Kämpfen. Jetzt schien es zu teilen den Kummer des Herrn, der ihm zusprach:
[409] »Rhaebus, wir lebten schon lange – wenn ›lange‹ den Sterblichen etwas
aussagt. Heute wirst du als Sieger die blutigen Waffen
und das Haupt des Aeneas zurückbringen, mit mir das bittre
Sterben des Lausus rächen – doch wenn uns die Kräfte versagen,
fallen mit mir! Denn schwerlich wirst du, mein tapfrer Gefährte,
fremden Befehlen gehorchen, den Teukrern als Herren dich fügen.«
Damit bestieg er das Pferd zu gewohntem Sitz und beschwerte
reichlich sich beide Fäuste mit schneidenden Wurfspießen, funkelnd
hoch auf dem Haupte den Helm, überragt vom Buschen aus Roßhaar,
sprengte dann mitten zwischen die Heere. Es rangen in seinem
Herzen bittere Scham und Wut und schmerzliche Trauer,
[leidenschaftliche Liebe, Bewußtsein des eigenen Wertes.]
Dreimal rief er mit schallender Stimme Aeneas, und dieser
hörte sogleich und erkannte die Stimme und betete freudig:
»Gönnten der Vater der Götter es mir und der hohe Apollo,
daß du zum Zweikampf dich stellst!«
Darauf trat er entgegen dem Feind mit erhobener Lanze.
Aber Mezentius rief: »Nachdem du den Sohn mir entrissen,
schreckst du mich nicht mehr. Du konntest nur damit vernichtend mich treffen.
Sterben erschreckt mich durchaus nicht, ich nehme nicht Rücksicht auf Götter.
Schweig nur! Ich komme, zum Tode bereit, und bringe dir vorher
diese Geschenke noch!« Damit warf er den Spieß auf den Gegner,
einen zweiten und dritten, umkreiste zu Pferde in weitem
Ring, wie im Fluge, den Feind. Doch hielt der vergoldete Schutzschild.
Dreimal umritt der Etrusker linkshin den stehenden Troer,
ununterbrochen schleudernd, und dreimal drehte Aeneas
sich mit dem Schilde, der furchtbar von haftenden Wurfspießen starrte.
[410] Länger nicht wollte er warten, so viele Geschosse aus seinem
Schilde nicht reißen; auch wurde die ungleiche Kampfart ihm lästig.
Scharf noch erwog er die Weise des Angriffs, dann stürmte er plötzlich
vorwärts und schleuderte zwischen die Schläfen des Rosses die Lanze.
Hochauf bäumte das Tier sich, schlug mit den vorderen Hufen
zuckend die Luft, warf ab den Reiter und stürzte, nach vorne
sich überschlagend, auf ihn mit verrenktem Buge und hilflos.
Himmelan flackerte wild das Geschrei der Latiner und Troer.
Vorwärts eilte Aeneas und riß das Schwert aus der Scheide:
»Wo verweilt jetzt der tapfre Mezentius, wo sein verwegnes
Ungestüm?« Aufwärts blickte der Tusker, gewahrte den Himmel,
kam zur Besinnung wieder und gab ihm zur Antwort: »Weswegen
schreist du mich an, du verbitterter Gegner, und drohst mich zu töten?
Du erschlägst mich zu Recht, ich zog in den Kampf auch mit diesem
Vorsatz, mein Lausus vereinbarte kein Gewähren von Gnade.
Eines gewähre mir, bitte, gewährt man Besiegten noch etwas:
Laß mich bestatten. Ich weiß, daß der zornige Abscheu der Meinen
rings mich bedroht. Beschütze mich gegen die Wütenden, bitte,
gönne ein Grab mir, meinem Sohne zur Seite!« So sprach er,
bot dann mit vollem Bewußtsein die Kehle dem feindlichen Schwertstoß,
ließ mit dem Blut, das die Rüstung benetzte, sein Leben verströmen.
[411]

Elfter Gesang

Elfter Gesang.

Aus dem Okeanos stieg inzwischen Aurora zur Höhe.
Mochte die Pflicht zur Bestattung der Freunde Aeneas auch drängen,
mochte er schmerzlich betrübt sein über die eignen Verluste,
wollte er doch in der Frühe zunächst die Siegesgelübde
einlösen. Eine entästete riesige Eiche, auf einem
Hügel errichtet, umkleidete er mit funkelnden Waffen,
die er dem Fürsten Mezentius siegreich entriß, dir zum Denkmal,
mächtiger Kriegsgott, hängte des Königs vom Blut übersprühten
Helmbusch dazu, die zerbrochenen Spieße, den zwölfmal durchbohrten
Panzer, band auch zur Linken daran den bronzenen Schutzschild,
hängte, in elfenbeinerner Scheide, das Schwert um den Nacken.
Darauf ermahnte er, rings zum Schutze umdrängt von den Fürsten,
seine vom Sieg beglückten Freunde mit folgenden Worten:
»Großes erreichten wir schon, Kameraden. Das Kommende brauchen
wir nicht zu fürchten. Hier, die dem Stolzen entrissene Beute,
Erstling des Sieges, ist der Mezentius, wie ich ihn formte.
König Latinus erwartet uns jetzt und die Festung Laurentum.
Macht euch gefaßt auf die weiteren Kämpfe, erwartet sie mutig:
Wenn uns die Götter ermächtigen, unter den Feldzeichen unsre
Mannschaft in Marsch zu setzen, dann sollte uns nicht Überraschung
lähmen, nicht furchtsame Stimmung am raschen Handeln uns hindern.
Laßt uns inzwischen ins Erdreich betten die toten Gefährten,
einziges Ehrenrecht, das uns die Tiefe des Acheron einräumt.
Auf denn, die Seelen der Helden ehrt mit den letzten Geschenken,
sie, die mit ihrem Blute das Vaterland neu uns erwarben!
Pallas vor allem geleitet zur trauernden Stadt des Euander;
trotz der bewiesenen Tapferkeit raffte des Unheils tiefdunkler
Tag ihn dahin und ließ ihn erlöschen in grausamem Tode.«
[412] Derart sprach er in Tränen und kehrte zurück zu dem Hause,
wo der betagte Akoites neben dem Leichnam des Pallas
treulich wachte, der Alte, der dem Parrhasier Euander
einstmals die Waffen nachtrug, dann unter weniger guten
Vorzeichen als Erzieher dem teuren Königssohn folgte.
Ringsum drängten sich sämtliche Diener, Trojaner, auch Frauen
Trojas, zum Zeichen der Trauer mit aufgelöst wallenden Haaren.
Als durch den ragenden Eingang Aeneas ins Innre des Hauses
trat, erhoben sie gellend ihr Schreien empor zu den Sternen,
schlugen die Brüste; die Burg widerhallte von schmerzlichem Stöhnen.
Schneeweiß das Antlitz des Pallas, der Kopf gestützt auf ein Kissen,
zart noch die Brust mit der Wunde, die unter ausonischem Speerwurf
aufklaffte: Dieser Anblick bewegte Aeneas zu Tränen.
»Hat dich Fortuna mißgönnt mir, du armer Junge, trotz ihres
heiteren Kommens?« so rief er. »Du solltest mein Reich nicht mehr sehen,
nicht mehr in siegreicher Rückkehr die Wohnstatt des Vaters erreichen!
Daß es dir derart erginge, das hatte beim Aufbruch ich deinem
Vater gewiß nicht verheißen, als er mit fester Umarmung
mich in den Kampf um die Herrschaft entließ und sorgenvoll mahnte:
seien doch Helden aus hartem Geschlecht im Kampf zu bezwingen.
Heute noch spricht er vielleicht, getäuscht von grundloser Hoffnung,
fromme Gelübde und häuft auf Altären reichliche Gaben,
während wir schon den Leichnam des Jungen, der keinem der Götter
etwas mehr schuldet, traurig mit fruchtlosen Ehren geleiten.
Armer, du wirst den entseelten Körper des Sohnes erblicken!
Dies ist unsere Heimkehr, unser erhoffter Triumphzug?
Dies mein gegebenes Wort? Doch keineswegs schändliche Wunden
siehst du am Sohn, Euander, du brauchst nicht den Tod dir zu wünschen,
[413] um zu entgehen der Schmach, daß der Sohn überlebte! Ach, welche
Stütze verliert Ausonien, welche auch du, mein Iulus!«
Nach der Klage ließ er den mitleiderregenden Leichnam
aufheben, gab ihm noch tausend aus allen Truppen erwählte
Männer mit auf den Weg, ein Ehrengeleit auf dem letzten
Gang und Genossen der Trauer des Vaters, für diesen ein karger
Trost im entsetzlichen Schmerz, doch Pflicht gegenüber dem Greise.
Andere flochten voll Eifer aus Erdbeerbaumzweigen und schlanken
Ruten des Eichbaums ein weiches Lager als Bahre und wölbten
sorglich darüber ein Schutzdach aus schattenspendenden Blättern.
Hoch auf das ländliche Polster bettete jetzt man den Jüngling.
Ebenso sehen, gepflückt von Mädchenhand, zarte Levkojen
oder auch langsam welkende Schwertlilien aus, die noch immer
leuchtende Buntheit der Farben und Schönheit der Form sich bewahren,
wenn auch die Mutter Erde nicht länger mit Nahrung sie kräftigt.
Nunmehr brachte Aeneas noch zwei Gewänder, die purpurn
strahlten und golden; die Königin Dido hatte sie einstmals
selber gefertigt, voll Freude am Schaffen, mit eigenen Händen
diese Gewebe durchwirkt mit feinen goldenen Fäden.
Eines von ihnen legte Aeneas dem Leichnam, als letzte
Ehrung, jetzt an, und umhüllte das Haar, das die Flammen verzehren
sollten, und häufte noch Beutegut aus dem Kampf um Laurentum,
ließ es in langer Reihe als Auszeichnung mitführen, jene
Pferde und Waffen dabei, die Pallas den Gegnern entraffte,
mit auf den Rücken gefesselten Händen die Feinde – den Schatten
wollte er darbringen sie, mit Opferblut tränken die Flammen –,
doch an der Spitze des Zuges Pfähle voll feindlicher Waffen,
daran geheftet die Namen derer, die kämpfend sie trugen.
[414] Mitgeführt ward auch der arme Akoites, geschwächt schon vom Alter,
schlug mit den Fäusten die Brust sich, zerkratzte dann wieder mit seinen
Nägeln das Antlitz, warf sich zuweilen auch lang auf die Erde.
Kampfwagen rollten im Zuge, vom Rutulerblute besudelt.
Schmucklos stapfte das Streitroß Aithon einher, in den Augen
Tränen, die ihm in großen Tropfen das Antlitz benetzten.
Lanze und Helm auch des Toten trug man, das andre gehörte
Turnus, dem Sieger. Dann folgten in Trauerkolonne vollzählig
Teukrer, Tyrrhener, Arkader, die Waffen umgekehrt tragend.
Eine beträchtliche Strecke lang rückten sie vor, bis Aeneas
anhielt und bitterlich stöhnend den Abschiedsgruß aussprach: »Die gleiche
schreckliche Kriegsnot ruft uns von hier aus zurück zur Bestattung
anderer Toter. Sei ewig gegrüßt mir, du teurer Held Pallas,
lebe auf ewig mir wohl!« Er sprach nicht weiter, er wandte
wieder den hohen Wällen sich zu und begab sich ins Lager.
Eingetroffen waren indes aus Laurentum schon Boten,
waren mit Zweigen des Ölbaums bekränzt und äußerten Bitten:
Freigeben möge die Leichen er, die als Opfer der Waffen
noch auf dem Schlachtfelde lägen, und ihre Bestattung erlauben;
kämpfe doch niemand gegen Besiegte, die nicht mehr die Sonne
sähen. Er möge die einstigen Schwäger und Gastfreunde schonen.
Freundlich erfüllte Aeneas ihnen die Bitte, die keiner
abschlagen durfte, und fügte hinzu noch folgende Worte:
»Was für ein unverdient grausames Lob hat euch, ihr Latiner,
so in den Krieg verwickelt, daß ihr uns die Freundschaft verweigert?
Frieden erfleht ihr von mir für Tote, für Opfer des Kriegsgotts?
Lebenden würde ich gern den Frieden gewähren. Nur deshalb
kam ich hierher, weil das Schicksal mir Heimat und Wohnsitz zuwies;
keineswegs führe ich Krieg mit dem Volk. Fürst Latinus zerstörte
unsere Freundschaft, gewährte den Waffen des Turnus den Vorrang.
Hätte sich Turnus doch lieber dem Tode gestellt! Wenn er wirklich
[415] nur mit Gewalt die Kämpfe beenden, die Teukrer verjagen
möchte, dann sollte mit mir er, mit diesen Waffen, sich messen!
Jener besäße sein Leben dann noch, dem göttliche Hilfe
oder die eigene Faust es verschaffte. Wohlan denn, verbrennt jetzt
euere armen Gefallenen!« Schweigend bestaunten sie seine
Worte und wechselten lange untereinander nur Blicke.
Endlich ergriff der betagte Drances das Wort, der schon immer
gegen den jungen Turnus erbitterte Vorwürfe aussprach:
»Troischer Held, schon bedeutend durch Ruhm, noch größer durch tapfre
Taten, wie kann ich mit passendem Lob dich zum Himmel erheben?
Was bewundre zuerst ich: Gerechtigkeit? Leistung im Kämpfen?
Gern überbringen wir deine Erklärung in unserer Hauptstadt,
wollen dich, weist uns das Schicksal den Weg, mit König Latinus
wieder verbünden. Suche sich Turnus andere Partner!
Mithelfen wollen wir gern bei dem Bau der verheißenen Mauern,
gern auch für Troja Steinblöcke schleppen auf unseren Schultern.«
Diesem Versprechen zollten die Boten einstimmig Beifall.
Waffenstillstand, zwölf Tage lang, wurde vereinbart. In seinem
Schutze durchstreiften Troer zugleich und Latiner gefahrlos
Wälder und Höhen. Unter den Schlägen eiserner Äxte
dröhnten hochragende Eschen. Fichten, so hoch wie der Himmel,
stürzten. Keile zerspleißten Eichen und duftende Zedern.
Ununterbrochen rollten die Wildeschen, knarrten die Karren.
Fama bereits, als geflügelte Vorbotin schrecklichen Leides,
hatte Euander erreicht und Euanders Wohnung und Hauptstadt,
meldete, Pallas hätte vor kurzem besiegt die Latiner.
Hin zu den Toren eilten sogleich die Arkader und ließen
Fackeln nach uralter Sitte auflodern. Langhin erstrahlte
flammend der Weg, warf beiderseits flackernden Glanz auf die Felder.
Jenseits erschien die Abteilung der Phryger, vereinte mit ihren
Scharen den trauernden Zug. Als die Mütter ihn anrücken sahen,
nahe den Häusern, durchraste ihr Schreien die trauernde Hauptstadt.
[416] Keine Gewalt vermochte Euander zu halten, er stürzte
unter die Menge. Aufgebahrt stand dort Pallas. Der Vater
warf auf den Toten sich, hielt ihn umklammert mit Tränen und Seufzen;
spät erst erlaubte sein Leid der Stimme den Ausdruck des Schmerzes:
»Pallas, du hattest nicht solch ein Versprechen dem Vater gegeben!
Solltest dem wütenden Mars mit größerer Vorsicht dich weihen!
Wußte ich doch ganz genau, was ein frisch erworbener Kampfruhm,
was die verlockende Ehre im ersten Treffen bedeutet!
Leidvolle erste Bewährung des Jungen! Zu furchtbarer Probe
gleich in dem Krieg mit dem Nachbarvolk! Meine heißen Gelübde,
die ihr nicht annahmt, ihr Götter! Du, meine hochheilige Gattin,
der doch ein glücklicher Tod den entsetzlichen Kummer ersparte!
Ich überbot durch mein Leben mein Schicksal, ich mußte als Vater
übrigbleiben, allein! Ach, hätten die Rutulerspeere
mich überschüttet auf seiten der Troer, tödlich durchbohrt mich:
Brächte der Trauerzug dann mich selber, nicht Pallas, nach Hause!
Keine Schuld gebe ich euch, ihr Trojaner, auch nicht dem Vertrage,
den wir durch Handschlag besiegelten. Dieser Schicksalsschlag sollte
mich noch im Alter treffen! Und raffte der Tod auch zu zeitig
fort mir den Sohn, so tröstet mich eines: Tausende Volsker
fielen noch vor ihm, als er die Teukrer nach Latium führte!
Höhere Ehren könnte ich dir nicht erweisen, mein Pallas,
als der fromme Aeneas, die phrygischen Helden, die Fürsten
auch der Tyrrhener und alle tyrrhenischen Krieger es taten.
Herrliche Beute bringen sie, die du Gefallenen abnahmst.
Du auch ragtest zur Stunde als riesiger Baumstamm, mit Waffen
völlig umkleidet, Turnus, wäre an Alter und Kräften
er dir gewachsen gewesen. Doch halte ich Armer die Teukrer
nur noch vom Kampfe zurück. Auf, ausrichten mögt ihr dem König:
Wenn nach dem Tode des Pallas ich weiter mein leidiges Leben
trage, so deshalb, weil deine Rechte dem Sohn wie dem Vater
die Erlegung des Turnus schuldet – du siehst es ja selber!
[417] Dieses nur fehlt dir an Leistung und Glück noch. Ich suche nicht schmählich
Frieden für mich – ich will sie dem Sohn in den Orkus nur bringen.«
Über die elenden Sterblichen hatte inzwischen Aurora
wieder das gütige Licht gebracht, zu Arbeit und Mühsal.
Längs des Gestades ließen schon Vater Aeneas und Tarchon
Scheiterhaufen errichten. Hierher, nach Sitte der Väter,
brachte ein jeder seine Gefallenen. Düstere Flammen
schwelten darunter und tauchten qualmend den Himmel in Dunkel.
Dreimal marschierten die Männer im Schmuck der blinkenden Waffen
rings um die brennenden Stöße, dreimal umzogen zu Pferde
traurig den Leichenbrand sie, auf den Lippen die Lieder der Klage.
Tränen benetzten die Erde, und Tränen benetzten die Waffen,
himmelwärts dröhnten die Rufe der Männer, der Schall der Trompeten.
Mancher warf jetzt die den erlegten Latinern entrißne
Beute ins Feuer, prächtige Helme und Schwerter, auch Zügel,
Räder dazu, die im Schlachtenlärm glühten; mancher auch Waffen
toter Gefährten, Schilde und Lanzen, die Unglück verfolgte.
Zahlreiche Rinder opferte man der Gottheit des Todes,
borstige Schweine, auch Schafe, vom Felde zusammengetrieben,
wurden geschlachtet, das Blut in die Flammen gegossen. Und weithin
sah man am Strande die toten Gefährten brennen, bewachte
treu die noch glimmenden Reste und wich nicht vom Platz, bis die feuchte
Nacht am Gewölbe des Himmels die leuchtenden Sterne enthüllte.
Ebenso bauten an anderer Stelle die armen Latiner
massenhaft Scheiterhaufen, betteten zahlreiche Tote
auch in das Erdreich, brachten sie teilweise auch von dem Schlachtfeld
fort in die Nachbargebiete sowie in die eigene Hauptstadt.
Aber die restlichen brannten unterschiedslos sie auf einem
riesigen Haufen zu Asche, ohne Zählung und Ehrung.
[418] Überall leuchteten Feuer, fast wetteifernd, über die Fluren.
Als dann der dritte Morgen das eiskalte Dunkel verscheuchte,
wühlten sie trauernd aus tiefer Asche hervor die Gebeine,
deckten sie zu mit wärmender Erdschicht.
Jedoch in den Häusern,
in der Hauptstadt des ausnehmend reichen Latinus, ertönte
weitaus am schrillsten die Klage, herrschte die schmerzlichste Trauer.
Hier verfluchten die Mütter, die elend verwitweten Frauen,
innig mitfühlende Schwestern und vaterlos jammernde Kinder
diesen entsetzlichen Krieg und die Heiratspläne des Turnus:
Solle er selbst doch, bewaffnet, im Kampf die Entscheidung sich holen,
wenn er die Macht in Italien und höchste Ehren erstrebe!
Grimmig verschärfte noch Drances die Forderung: Zweifellos werde
Turnus, nur Turnus herausgefordert zum Ausscheid mit Waffen.
Freilich verlautete manches durchaus auch im Sinne des Turnus;
Einfluß und Rang der Königin schützten ihn, gleichzeitig stärkte
glänzender Ruhm für ehrlich errungene Siege sein Streben.
Während der Aufregung, während der allgemeinen Verwirrung
trafen die Boten noch ein aus der Hauptstadt des Diomedes,
brachten betrübliche Auskunft: Mit all dem beträchtlichen Aufwand
hätten sie gar nichts erreicht; nicht Gold, nicht Geschenke, nicht Bitten
seien erfolgreich gewesen; andre Verbündete müsse
Latium finden oder Aeneas um Frieden ersuchen.
Selber verlor Latinus den Mut vor bitterem Kummer.
Deutlich begünstigten Götter den schicksalsgesandten Trojaner:
Göttlicher Zorn und die frischen Gräber erinnerten daran.
Daher berief er zu großer Beratung die Ersten der Seinen,
hieß sie zusammenkommen sogleich im hohen Palaste.
Die Geladenen strömten durch menschenwimmelnde Straßen
eilig zum Schloß. Inmitten der Zepterträger, als Höchster
wie auch als Ältester, thronte Latinus mit trauriger Miene.
[419] Die aus der Stadt der Ätoler zurückgekehrten Gesandten
hieß er jetzt Auskunft erteilen, Bescheid in sämtlichen Punkten
geben, der Reihe nach. Tiefes Schweigen lähmte die Zungen,
als, dem Befehle gehorchend, Vénulus anfing zu sprechen:
»Mitbürger! Die argeische Festung sowie Diomedes
selber erblickten wir nach den Wechselfällen der Reise,
drückten die Hand auch, durch die einst das Reich von Ilion stürzte.
Auf der Iápygerflur, am Berge Garganus, erbaute
er, um den Sieg zu verherrlichen, die nach der Heimat benannte
Hauptstadt Argýripa. Vorgelassen, zum Reden ermächtigt,
reichten wir dar die Geschenke und nannten Namen und Heimat,
weiter die Gegner im Krieg und den Grund, der nach Arpi uns führte.
Als er uns angehört hatte, gab er uns freundlich zur Antwort:
›Glückliche Völker, alte Ausonier, einst Reich des Saturnus,
welch ein Verhängnis vermag euch aus eurer Ruhe zu schrecken,
rät euch, Kriege mit unbekannten Völkern zu führen?
Wir, die wir einstmals das Reich von Troja mit Waffen verheerten –
ich übergehe unsre Verluste am Fuße der hohen
Mauern, die Toten am Grund des Simoeis –, wir mußten doch alle,
weltweit verschlagen, fürchterlich büßen; Priamos selber
hätte uns, wahrlich, bedauert! Das Unheilsgestirn der Minerva
weiß es, Euböas Klippengestade, der Rächer Kaphereus.
Nach dem Feldzug, auf ganz verschiedener Irrfahrt, gelangte
Fürst Menelaos, der Sproß des Atreus, bis zu des Proteus
Säulen, bekam Odysseus am Ätna Kyklopen vor Augen.
Soll Neoptólemos ich und sein Unheilsreich nennen, den Umsturz,
der Idomeneus verjagte? Die Lokrer an Libyens Küste?
Selbst der oberste Feldherr der Griechen, der Fürst von Mykene,
fiel bei der Rückkehr, gleich hinter der Schwelle, vom Mordstahl der Gattin,
er, der Asien bezwang, unterlag dem Schänder der Ehe.
Götter mißgönnten auch mir, an Altären der Heimat die teure
Frau und die liebliche Vaterstadt Kálydon wiederzusehen!
[420] Heute verfolgen mich noch die entsetzlichen Bilder des Grauens:
Meine Gefährten, verloren, entschwirrten mit Flügeln zum Äther,
streiften als Vögel an Flüssen herum – wie mußten die Meinen
fürchterlich büßen! – und heulten vor Jammer um felsige Klippen.
Solcherlei hatte ich selbst zu gewärtigen schon seit der Stunde,
da ich, ihm Wahn, bewaffnet auf Körper von Himmlischen losging,
da ich die rechte Hand der Venus verwundete! Niemals
lasse ich mich von euch zu solchen Kämpfen verleiten!
Seit der Eroberung Trojas kämpfte ich nie mehr mit Teukrern,
denke auch schwerlich mit Freude zurück an die Leiden von damals.
Hier die Geschenke, die ihr aus eurer Heimat mir brachtet,
schafft zu Aeneas! Wir fochten gegeneinander im harten
Zweikampf: Ich weiß aus Erfahrung, glaubt mir, wie hoch er mit seinem
Schutzschild sich aufreckt, wie kräftig den Speer er im Schwunge dann schleudert!
Hätte noch Troja zwei weitre so tüchtige Helden besessen,
wären die Teukrer sogar zu den griechischen Städten gekommen,
müßte, nach völliger Umkehr des Schicksals, jetzt Griechenland trauern!
Zog sich der Krieg um die Mauern von Troja so zäh in die Länge,
waren es Hektor allein und Aeneas, die kämpfend den Griechen
einen Erfolg verwehrten und volle zehn Jahre gewannen,
beide hervorragend mutig, beide auch Meister im Kämpfen,
freilich Aeneas an Pflichtgefühl größer. Vertragt euch, nach seinem
Wunsche! Doch tretet ihm ja nicht zur Waffenentscheidung entgegen!‹
Damit erhieltest du, trefflichster König, die Antwort des Fürsten,
kennst jetzt sein Urteil angesichts eines so furchtbaren Krieges.«
Derart sprach der Gesandte. Gleich brauste ein zwiespältig – dumpfes
Stimmengewirr durch den Kreis der Ausonier; stemmen sich Klippen
[421] reißender Strömung entgegen, dann dröhnen am Hemmnis die Fluten
ähnlich, laut hallen die Ufer wider vom Brausen der Brandung.
Als die Erregung sich legte, die angstvollen Rufe verstummten,
flehte der König vom ragenden Thron zu den Göttern und sagte:
»Früher schon hätten wir klar uns entscheiden sollen, Latiner –
zweifellos wäre es besser gewesen –, nicht erst zu einer
Stunde beraten, da Feinde unsere Mauern bedrohen!
Einen unseligen Krieg mit niemals besiegbaren Helden
göttlicher Abstammung führen wir. Kämpfend ermatten sie schwerlich,
selbst als Besiegte können sie nicht auf die Waffen verzichten.
Nicht zu erhoffen mehr braucht ihr ein Kampfbündnis mit den Ätolern,
bauen kann jeder auf sich nur; doch seht ihr den spärlichen Spielraum.
Wie weit unsere Mittel erschöpft, ja völlig zerschmettert
wurden, das habt ihr vor Augen, das könnt ihr mit Händen schon greifen.
Niemandem mache ich Vorwürfe deshalb. Was Tapferkeit leisten
konnte, das wurde geleistet. Wir kämpften mit Anspannung aller
Kräfte. Doch möchte ich jetzt den Entschluß, den ich mühsam mir abrang,
mitteilen, ihn – gebt Obacht! – in wenigen Worten erklären.
Nahe dem tuskischen Strom gehört mir seit alters ein Landstück
weithin nach Westen, hinaus noch über die Flur der Sikaner.
Rutuler und Aurunker säen dort, pflügen das rauhe
Bergland und nutzen die unwegsamsten Hänge als Weide.
Dieses Gebiet, die Gebirgskämme auch voll ragender Fichten,
treten in Freundschaft den Teukrern wir ab, verbünden uns ihnen,
gleichberechtigt, und laden sie ein als Bundesgenossen.
Ansiedeln mögen sie sich, wenn sie wünschen, und Städte sich gründen.
Wollen sie aber Gebiete anderer Völker gewinnen,
können zu ihrem Vorteil unseren Boden verlassen,
bauen wir zwanzig Schiffe für sie aus italischen Eichen,
[422] mehr auch, entsprechend der Kopfzahl; wir haben am Wasser genügend
Bauholz. Die Anzahl und Bauart der Schiffe bestimmen sie selber,
während wir Kupfer und Ausrüstung liefern und Arbeiter stellen.
Zum Überbringen des Angebots wie zum Entwurf des Vertrages
sollen gleich hundert Gesandte, Latiner der besten Familien,
aufbrechen, Zweige zum Zeichen des Friedens in Händen, Geschenke
mitnehmen auch: Talente an Gold und an Elfenbein, einen
Thronsessel wie auch die Staatstoga, Wahrzeichen unseres Reiches.
Nunmehr bedenkt das Gemeinwohl, helft in mißlicher Lage!«
Drances erhob sich, erbittert wie immer. Mit Stacheln des Neides
plagte der Ruhm ihn des Turnus unaufhörlich und grausam.
Reichlich begütert, ein außergewöhnlicher Redner, im Kriege
freilich ein lässiger Kämpfer, doch wertvoll im Rate, ein Schürer
schwebender Spannungen, stammte er seitens der Mutter aus hohem
Adel; von seiten des Vaters trug er den Makel nicht klarer
Herkunft. Der steigerte noch und nährte die wütende Stimmung:
»Trefflicher König, du stellst zur Beratung Bekanntes, das keines
Wortes von uns mehr bedarf. Es wissen doch alle untrüglich,
was die Lage erfordert, doch scheuen das offne Bekenntnis.
Lasse doch jener uns freimütig sprechen und zähme den Hochmut,
der durch sein Unglückskommando und seinen schlimmen Charakter –
ja, das erkläre ich, mag er mit tödlichem Schwerthieb mir drohen –
dahin uns brachte, so viele glänzende Feldherrn als Tote,
unsere Stadt von der Trauer verdüstert zu sehen – die Troer
griff er im Lager an, wähnend, sie würden entfliehen, und schreckte
waffenrasselnd den Himmel! Ergänze die Gaben, die reichlich
du den Trojanern versprichst, vortrefflichster Fürst, noch um eine:
[423] Laß dir durch keine Gewaltandrohung die Absicht durchkreuzen,
deine Tochter dem herrlichen Helden, mit Recht, zu vermählen –
du, als der Vater! – und damit auf ewig den Frieden zu sichern!
Sollte jedoch der Schrecken so stark die Entschlußkräfte lähmen,
wollen wir selbst ihn beschwören, ihn selbst um Nachsicht ersuchen:
Opfre er, bitte, sein eigenes Recht dem König, dem Volke!
Weswegen stürzt du die armen Bürger so oft in Gefahren,
rücksichtslos, du, für Latium Ursprung und Anlaß des Elends?
Gar nichts fruchtet der Krieg, wir bitten dich alle um Frieden,
Turnus, sowie um das einzige Pfand, das den Frieden auch sichert!
Ich, den als Feind du betrachtest – nun, meinetwegen –, ich komme
flehend als erster zu dir. Erbarm dich der Deinen, entsage,
bitte, dem Trotz und räume den Kampfplatz! Wir sahen, geschlagen,
Tote genug, wir ließen weite Gebiete veröden.
Oder, falls Ruhmsucht dich spornt, ein so starker Wille dich antreibt,
du so erpicht bist, die Tochter des Königs als Frau zu gewinnen:
Wage es, tritt voll Zuversicht selber dem Feinde entgegen!
Freilich, wenn Turnus nur glücklich heimführt die fürstliche Gattin,
mögen wir wertloses Volk, auch ohne Gräber und Tränen,
fallen im Felde! Doch schaue auch du, besitzt du noch Kräfte,
stärkt dich der Kampfgeist unserer Väter, dem Gegner ins Auge,
der dich herausfordert!«
Diese Erklärungen schürten die Wut des Turnus zu heller
Flamme, er stöhnte und stieß hervor die erbitterten Worte:
»Üppig, mein Drances, fließt dir der Redeschwall über die Lippen,
fordert der Krieg uns zum Dreinschlagen – zur Versammlung der Väter
bist du als erster zur Stelle. Doch füll nicht das Rathaus mit Worten,
wie sie in Sicherheit reich dir entströmen, solange die Mauern
hemmen den Feind und die Gräben nicht überfließen vom Blute!
[424] Donnere deshalb als Redner, wie üblich, und zeihe mich feiger
Furcht – denn deine Fäuste, mein Drances, streckten so viele
Teukrer erschlagen zuhauf und bedeckten mit stolzen Trophäen
weithin die Fluren! Was lebhafter, kraftvoller Mannesmut leistet,
kannst du erproben. Wir brauchen den Feind ja nicht ferne zu suchen,
schon umzingelt von allen Seiten er unsere Mauern!
Los, ihm entgegen! Was zögerst du? Soll denn der Kriegsgott auf deiner
windigen Zunge nur immer hocken sowie nur auf deinen
fluchtschnellen Füßen?
Räumen den Kampfplatz – ich? Kann jemand mit Recht mir ein ›Räumen‹
vorwerfen, Schandmaul du, sieht er den Thybris vom Blute der Troer
anschwellen, sieht er von Grund aus das ganze Geschlecht des Euander
sinken und sieht er die ihrer Waffen beraubten Arkader?
Bitias und der gewaltige Pandaros lernten mich anders
kennen, die Tausende auch, die ich siegreich zum Tartarus sandte,
abgeschnitten im Lager, von feindlichen Schanzen umgeben!
›Gar nichts fruchtet der Krieg‹ – das plärre dem troischen Fürsten
vor, du Dummkopf, und deinesgleichen! So drehe denn alles
weiterhin um vor bleichem Entsetzen, die zweimal Besiegten
streiche heraus, verkleinere aber die Macht des Latinus!
Zittern doch jetzt myrmidonische Fürsten vor phrygischen Waffen,
zittert der Sprößling des Tydeus, Achilles gar, Held von Larissa,
weicht auch der Áufidus angstvoll zurück vor den Wogen der Adria!
Tut er nun freilich, als fürchte er schrecklich, mit mir sich zu streiten,
heuchelt er schurkisch, verschärft durch erlogene Angst noch den Vorwurf.
Brauchst nichts zu fürchten: Du wirst dein elendes Leben durch meine
[425] Hand nicht verlieren, es wohne bei dir, verkrochen im Herzen!
Nunmehr zurück zu deinen gewichtigen Vorschlägen, Vater!
Hegst du für später kein Zutrauen mehr zu unseren Waffen,
sind wir schon derart verlassen, nach einem einzigen Rückschlag
völlig am Boden, und steht für Fortuna kein Rückweg mehr offen –
laßt uns um Frieden dann flehen und waffenlos heben die Hände!
Freilich, ach, wäre ein Rest noch der früheren Tapferkeit wirksam!
Glücklich im Kampf und ehrenvoll mutig erscheint mir vor allen
andern ein Mann, der solches erst gar nicht mitansehen möchte,
lieber zusammenbricht, sterbend die Zähne noch schlägt in das Erdreich,
einmal für immer! Doch haben wir Mittel noch, kampfstarke Männer,
Städte und Völker Italiens, die uns Hilfe gewähren,
haben die Troer den Ruhm auch erkauft mit hohen Verlusten –
sie auch vergossen ihr Blut, der Kriegssturm durchtobte uns alle –:
Warum ermatten wir ehrlos sofort an der Schwelle? Weswegen
fangen wir an zu zittern noch vor den Trompetensignalen?
Manches Mißliche wandten die Zeit und die wechselnden Mühen
unseres bunten Daseins zum Besseren, manchen verhöhnte
launisch Fortuna, gewährte ihm festen Boden dann wieder.
Wenn der Ätoler und Arpi uns die Unterstützung verweigern,
helfen Messapus, Tolumnius auch, der Glückliche, alle
Feldherrn, von zahlreichen Völkern entsandt; auch begleitet ein hoher
Ruhm die erlesene Mannschaft aus Latium wie aus Laurentum.
Außerdem hilft uns Camilla vom tapferen Stamme der Volsker,
kühn an der Spitze von ehern funkelnden Reiterschwadronen.
Sollten mich aber die Teukrer allein zum Zweikampfe fordern,
ihr auch es billigen, stehe ich so dem Gemeinwohl entgegen:
Bitte, nicht derart haßerfüllt meidet Victoria meine
Fäuste, daß ich zur Rettung aller der Pflicht mich entzöge!
Mutig will ich mich stellen, und mag er als großer Achilles
auftreten, Waffen wie jener auch tragen, vom Gotte Vulcanus
selber geschmiedet. Euch und dem Schwiegervater Latinus
[426] habe ich, Turnus, mein Leben geweiht, den Helden der Vorzeit
nicht unterlegen. Mich fordert Aeneas zum Zweikampf. Nun, bitte!
Soll doch kein Drances am Götterzorn sterben, falls Götterzorn waltet –
aber auch nicht, falls Ruhm für Tapferkeit winkt, ihn erringen!«
Während sie derart über die schwierigen Fragen noch stritten,
rückte Aeneas aus seinem Lager zum Angriff schon vorwärts.
Nachricht davon durchflog den Palast und verbreitete starke
Unruhe, setzte die ganze Hauptstadt auch mächtig in Schrecken:
Schlagbereit zögen die Teukrer, mit ihnen die Schar der Tyrrhener,
weither, vom Ufer des Tiber, über die Fluren. Verwirrung
packte sofort die Latiner, die Volksmassen wurden erschüttert,
der bedrohliche Angriff weckte nur wütenden Kampfgeist.
Waffen verlangte man armfuchtelnd, Waffen lautstark die Jugend.
Tränen vergossen vor Kummer die Väter und flüsterten. Allseits
gellte Geschrei in die Lüfte, erbitterter Meinungsstreit tobte,
ebenso laut wie die Schwärme der Vögel, die kreischend im Hochwald
einfallen, oder die Schwäne am fischreichen Flußarm Padusa,
die an den laut widerhallenden Tümpeln dumpf schreiend sich tummeln.
Turnus ergriff die Gelegenheit. »Ja doch, beratet nur, Bürger«,
rief er, »und preist im Stillsitzen eifrig den Frieden! Die andern
greifen, bewaffnet, inzwischen zur Macht.« Er ließ in dem Kreise
Weitres nicht hören, erhob sich und stürmte hervor aus dem Schlosse.
»Lasse, Volusus, die Scharen der Volsker sich wappnen«, befahl er,
»führ auch die Rutuler! Du, Messapus, du, Coras, mit deinem
Bruder, ihr schwärmt mit den Reitern weithin durchs Gelände. Die andern
sollen die Stadttore sichern, zugleich auch die Türme besetzen.
Angreifen werden die übrigen unter meinem Kommando.«
[427] Über die Länge der Mauer verteilten sofort sich die Bürger.
König Latinus verließ die Versammlung, verzichtete vorerst
auf die Besieglung des Friedens, verschob sie, gestört von der harten
Ungunst der Lage und machte sich Vorwürfe, nicht durch sein Machtwort
längst schon Aeneas dem Staat als Verwandten gewonnen zu haben.
Gräben zog man indes vor den Toren, Steine und Pfähle
trug man herbei. Dumpf dröhnte der Hornruf zum blutigen Streite.
Darauf besetzten Mütter und Knaben nebeneinander
ringsum die Mauer; die höchste Gefahr rief jeden zum Einsatz.
Aufwärts zum Tempel, der ragenden Höhe der Pallas, vor einem
stattlichen Zuge von Frauen, fuhr jetzt die Königin, wollte
Opfer darbringen. Neben ihr saß das Mädchen Lavinia,
Ursache allen Unglücks, gesenkt die reizenden Augen.
Wolken von Weihrauchdampf ließen die Frauen den Tempel durchwallen,
flehten inständig auf stolzer Schwelle in trauriger Stimmung:
»Herrin des Krieges, mächtig in Waffen, tritonische Jungfrau,
brich mit der Faust das Geschoß des trojanischen Räubers, ihn selber
strecke kopfüber zu Boden am Fuß der ragenden Tore!«
Eifrig rüstete Turnus zur Schlacht sich, brennend vor Kampflust,
starrte bereits, im rötlichen Panzer, von kupfernen Schuppen,
hatte die Beine sogar mit vergoldeten Schienen umkleidet,
freilich die Schläfen noch bloß, doch das Schwert um die Hüfte gegürtet.
Golden erglänzte er, als er in Eile vom Burgberg herabstieg;
ungestüm, trotzig, wähnte er sich schon im Kampf mit dem Gegner.
Ebenso sprengt ein Roß die Fesseln und flieht von der Krippe,
endlich befreit, und gewinnt die offene Wildbahn und wendet
entweder fortstürmend sich zu den Weideplätzen der Stuten,
oder es trabt, gewohnt, im vertrauten Fluß sich zu tummeln,
[428] mutwillig vorwärts und wiehert mit hoch erhobenem Nacken,
während die Mähne ihm stolz den Hals und die Flanken umflattert.
Fürstin Camilla kam, an der Spitze der Volskergeschwader,
ihm vor dem Tore entgegengeritten und sprang aus dem Sattel,
dicht vor der Schwelle. Sämtliche Reiter folgten dem Beispiel,
schwangen zur Erde sich. Folgendermaßen begann sie zu sprechen:
»Turnus, vertraut ein tapferer Mensch mit Recht auf sich selber,
will ich dir mutig versprechen, allein der Schwadron des Aeneas
kämpfend entgegenzutreten, mich tuskischen Reitern zu stellen.
Laß mich zum ersten Mal die Gefahren des Krieges bestehen.
Du mit dem Fußvolk decke die Mauern, beschütze die Hauptstadt!«
Fest auf das schreckliche Mädchen blickend, erwiderte Turnus:
»Jungfrau, du Zierde Italiens, wie könnte in Worten, in Taten
ich dir gebührend danken? Dein Mut ist freilich erhaben
über dergleichen – so teile mit mir denn die Mühsal des Kampfes!
Nach dem Gerücht wie den Meldungen unserer Kundschafter schickte
König Aeneas listig leichtbewaffnete Reiter
über die offenen Flächen voraus. Den einsamen hohen
Kamm des Gebirgs übersteigt er selber und naht sich der Hauptstadt.
Auflauern möchte ich ihm an einem bewaldeten Hohlweg,
will mit Bewaffneten beiderseits dessen Zugang besetzen.
Halte du stand im Gefecht den tyrrhenischen Reitern. Begleiten
wird dich der tapfre Messapus mitsamt den Latinerschwadronen
wie mit der Schar des Tiburtus. Du übernimm das Kommando!«
Darauf ermahnte zum Kampf er genauso Messapus und alle
andern verbündeten Feldherrn und rückte den Feinden entgegen.
Weithin erstreckt sich gewunden ein Tal, für Täuschung und Kriegslist
trefflich geeignet. Bergwände, unübersichtlich durch dichten
[429] Laubwald, engen es beiderseits ein. Dort verläuft nur ein schmaler
Fußpfad, ein dürftiger Paß mit tückisch täuschendem Zugang.
Über ihm liegt, mit weitem Ausblick auf ragendem Bergkamm,
eine verborgene Hochfläche voller sichrer Verstecke,
mag man von rechtsher oder von links den Feind überfallen
oder herab von der Höhe mächtige Steinblöcke wälzen.
Hierher begab sich auf ihm nur vertrauten Wegen Fürst Turnus,
nahm in Besitz die Stätte und barg sich im tarnenden Dickicht.
Hoch in der Wohnstatt des Himmels rief inzwischen Diana
eine der Freundinnen an aus der heiligen Schar, die geschwinde
Opis, und gab ihr mit trauriger Stimme folgenden Auftrag:
»Unbeirrt schreitet Camilla soeben aufs grausige Schlachtfeld,
Opis, und rüstet umsonst sich mit unseren Waffen, das Mädchen,
das ich vor allen hoch schätze. Diese innige Neigung
lebt nicht seit kurzem, hat mich auch keineswegs plötzlich bezaubert.
Mißgunst, jedoch auch Mißbrauch der Macht veranlaßten einstmals
Metabus, aus der alten Heimat Privernum zu fliehen.
Seine noch kleine Tochter nahm er im Toben der Kämpfe
in die Verbannung mit sich; nach der Mutter Casmilla
hatte er ihr, leicht verändert, den Namen Camilla gegeben.
Selber trug er das Kind vor der Brust und suchte die weiten
einsamen Bergwälder noch zu erreichen: Allseits umschwirrten
wild ihn Geschosse, umschwärmten ihn schwerbewaffnete Volsker.
Während der Flucht gelangte er zum Amasenus, der schäumend
zwischen den Ufern einherschoß, von mächtigem Regen geschwollen.
Willens, den Strom zu durchschwimmen, sah von der Liebe zum Kinde
er sich gehemmt, von der Furcht um die teure Last, überlegte
fieberhaft alles nur Mögliche, kam zum Entschluß dann noch eben:
An die gewaltige Lanze, die kraftvoll im Kampfe er führte,
[430] einen in Feuer gehärteten knotigen Schaft von der Eiche,
band er die Tochter mit Baststreifen, sorglich mit Rinden umwickelt,
machte sie fest in der Mitte der Waffe, noch handlich zum Schleudern,
holte dann aus mit mächtiger Faust und flehte zum Äther:
›Gnädige Tochter Latonas, Herrin der Wälder, als Vater
weihe ich, dir zum Dienste, mein Kind. Es schwingt heut zum ersten
Male, bittflehend, von Feinden gehetzt, dein Geschoß. Übernimm es,
Göttin, als dein – ich vertraue es an jetzt den schwankenden Lüften!‹
Damit zog er den Arm nach hinten und schleuderte schwungvoll
von sich die Waffe. Laut rauschten die Wellen, die arme Camilla
flog an der sausenden Lanze hoch über die reißenden Fluten.
Metabus stürzte jedoch vor den näher schon drängenden Feinden
sich in den Strom, und glücklich gerettet, zog er die Waffe
samt dem Mädchen aus grünendem Uferrand: Gabe Dianas.
Keinerlei Städte mehr nahmen ihn auf in Mauern und Häusern;
schwerlich auch hätte er, wild wie er war, sich untergeordnet,
führte sein Leben als Hirte vielmehr allein in den Bergen.
Hier, in Gestrüpp und rauhen Lagern des Wildes, ernährte
er die Tochter mit Milch von Stuten frei streifender Herden,
melkte den Saft von den Zitzen gleich zwischen die Lippen des Mädchens.
Aber sobald das Kind erst sicher zu gehen vermochte,
reichte er ihm als Waffe bereits den schneidenden Wurfspieß,
hängte der Kleinen auch Bogen und Pfeile über die Schulter.
Weder vergoldete Haarreifen trug sie noch wallende Kleider,
nein, ein Tigerfell hing ihr vom Scheitel über den Rücken.
Wurfwaffen bald, wie Knaben sie führen, begann sie als Mädchen
sicher zu handhaben, wirbelte Schleudern ums Haupt sich an dünnem
Riemen und schoß strymonische Kraniche, schneeweiße Schwäne.
Zahlreiche Mütter in Städten Tyrrheniens begehrten für ihre
Söhne zur Frau sie, vergeblich. Diana galt ihr als Vorbild,
ewige Liebe zu Waffen hegte sie nur und zu strengem
[431] Wahren des Mädchentums. Wäre sie nie doch ergriffen von solcher
Kriegslust und wagte sie nie, die Teukrer zum Kampfe zu reizen:
Teuer auch künftig bliebe sie mir als liebe Gefährtin!
Da sie nun aber vom bitteren Schicksal verfolgt wird, so fliege,
Nymphe, vom Himmel herab und begib dich zum Land der Latiner,
wo jetzt der leidige Kampf bei drohenden Vorzeichen anfängt!
Nimm hier mein Schießgerät, ziehe den Pfeil aus dem Köcher, zur Rache:
Wer auch den mir geheiligten Leib Camillas verwundet,
Troer oder Italer, entrichte mir blutige Buße
durch dies Geschoß! Den Leichnam, die Waffen der Armen, vom Feinde
niemals berührt, entführe ich hoch in den Wolken und werde
sie in der Heimat bestatten.« Opis durchrauschte im Abflug
leichthin die Lüfte, umhüllt von düster wirbelndem Sturmwind.
Nah an die Stadtmauern kamen derweil die berittnen Trojaner,
auch die etruskischen Feldherrn, kurz, alle Kämpfer zu Pferde,
streng nach Schwadronen geordnet. Über das flache Gelände
trappelten wiehernd die Rosse, sie warfen die Köpfe, sich gegen
Zügeldruck sträubend, bald hierhin, bald dorthin; von ehernen Lanzen
starrte weithin die Flur, hoch blitzten die Waffen im Felde.
Ihnen entgegen sprengten Messapus, die schnellen Latiner,
Coras mit seinem Bruder, dazu die Geschwader Camillas,
zeigten sich offen zum Kampfe, streckten die Lanzen zum Stoße
vorwärts, die Arme gewinkelt, teils schwangen zum Wurf sie die Spieße.
Näher kamen die Kämpfer sich, lauter dröhnten die Hufe.
Nunmehr in Schußweite schon, verhielten beide ein wenig,
brachen dann plötzlich hervor mit Geschrei und spornten zu wildem
Ansturm die Pferde. Gleichzeitig flogen die Speere von allen
Seiten wie stiebender Schnee, verdunkelten weithin den Himmel.
Gegeneinander brausten, gesenkt die Lanzen zum Stoße,
[432] Held Tyrrhenus sowie der tapfre Akonteus; als erste
warfen sie beide sich krachend vom Sattel, im Anprall zerschlugen
Brust an Brust sich die Rosse. Weit schnellte Akonteus von dannen,
blitzartig oder wie ein vom Geschütz gewirbelter Steinblock,
stürzte kopfüber zur Erde zum Schluß und verhauchte sein Leben.
Gleich in Verwirrung geraten, machten kurz kehrt die Latiner,
warfen die Schilde sich über die Rücken und sprengten zur Stadt hin.
Ungestüm folgten die Troer, Asilas voran dem Geschwader.
Unmittelbar vor dem Tore, erhoben jäh die Latiner
wieder ihr Feldgeschrei, rissen herum die gelenkigen Rosse.
Nunmehr flohen die Teukrer, ließen den Pferden die Zügel.
Ebenso brandet das Meer im Wechsel der strudelnden Wogen
gegen die Küste und läßt die Wellen über die Klippen
schäumen, weit ausgreifend bogenförmig den Sand noch bespülen,
gleitet dann reißend schnell rückwärts, zieht im Abschwellen Steine
mit sich und weicht mit dem sinkenden seichten Naß vom Gestade.
Zweimal jagten die Tusker die Rutuler bis an die Mauern,
zweimal schauten sie fliehend sich um, die Schilde am Rücken.
Aber beim dritten Zusammenstoß schlangen die kämpfenden Reihen
sich zum Gefecht ineinander, wählte sich jeder den Gegner.
Sterbende stöhnten, in Blutströmen schwammen die Waffen und Leiber,
zwischen den Leichen gefallener Männer wälzten sich Rosse,
halb noch am Leben. Jetzt erst begann das erbitterte Ringen.
Held Orsilochos scheute den Angriff auf Remulus selber,
warf auf sein Pferd nur die Lanze. Am Ohr blieb stecken die Spitze.
Unter dem Treffer bäumte sich jählings das Tier und vermochte
[433] nicht zu ertragen den Schmerz, hob krampfhaft die Beine. Der Reiter
flog aus dem Sattel zur Erde. Catillus erlegte Iollas,
darauf den ausnehmend mutigen, stattlichen, vielfach bewährten
Kämpfer Herminius. Unbedeckt wallten die rotblonden Locken
diesem vom Haupt, nackt waren die Schultern; ihn schreckten nicht Wunden.
Derart stellte dem Feind er sich bloß. Ihm durchbohrte die Lanze
zitternd das mächtige Schulterblatt, ließ ihn vor Qualen sich krümmen.
Überall strömte düster das Blut, man schlug sich im Kampfe
wetteifernd Wunden und suchte, getroffen, in Ehren zu sterben.
Mitten in diesem Gemetzel tummelte frei sich Camilla,
gleich Amazonen entblößt die eine Brust, auf dem Rücken
Köcher und Pfeile. Bald warf sie, dicht hintereinander, die festen
Lanzen, bald packte sie frisch mit der Rechten die wuchtige Streitaxt.
Golden erklirrten am Leib ihr der Bogen, die Waffen Dianas.
Mußte, im Kampfe bedrängt, sie den Rücken kehren den Feinden,
blickte sie rückwärts, schnellte vom Bogen treffsichere Pfeile.
Neben ihr fochten erwählte Gefährtinnen, Mädchen Italiens,
Tulla, Larina, Tarpeja, in Fäusten die bronzene Streitaxt.
Selbst sich zur Zierde, hatte die göttlich schöne Camilla
ausgesucht sie, für Frieden und Krieg als wackre Gehilfen –
wie Amazonen in Thrakien über das Eis des Thermodon
sprengen, mit bunten Waffen ins Schlachtgetümmel sich stürzen,
wenn sie sich um Hippolyte scharen, oder zu Wagen
Penthesileia, die Marstochter, heimkehrt und jauchzend die Frauen,
schwingend den halbmondförmigen Schild, um die Fürstin sich drängen.
Wen, du grausames Mädchen, strecktest du nieder als ersten,
wen als den letzten? Wie viele ließest du sterbend erschlaffen?
Erster war des Klytios Sohn, Euneos; ihm jagte
ganz durch die offene Brust sie den Speer mit dem tannenen Schafte.
[434] Blut erbrach er in Strömen und stürzte, den triefenden Boden
malmte er knirschend und wälzte sich sterbend über der Wunde.
Liris und Págasos fielen kopfüber, gleichzeitig: Jener
rutschte von seinem am Bauch verwundeten Pferde und suchte
wieder die Zügel zu greifen; der andere kam ihm zu Hilfe,
reichte die Rechte ihm, die er dabei vom Schilde entblößte.
Ihnen fügte Amastrus sie zu, den Sohn des Hippotes,
traf mit der Lanze dann wuchtig Tereus, Harpálykos, Chromis,
auch Demophóon; mit jedem Spieß, den sie schleuderte, streckte
einen Trojaner sie nieder. Fern sprengte Held Órnytos fliehend,
auf iapygischem Roß, in seltsamem Aufzug, ein Jäger.
Ihm bedeckte ein Rindsfell die breiten Schultern, von einem
Kampfstier erbeutet, den Schädel ein Wolfskopf mit gähnendem Rachen,
der die weißschimmernden Zahnreihen bleckte. Die Rechte, erhoben,
führte den Jagdspeer, den Landleute tragen. Inmitten der Heerschar
ritt er und überragte um Hauptlänge seine Gefährten.
Abfing Camilla ihn mühelos während des Rückzugs der Seinen,
bohrte die Lanze ihm durch den Körper und rief noch erbittert:
»Wähntest im Dickicht du wilde Tiere zu jagen, Tyrrhener?
Heute erschien der Tag, der mit Waffen in Frauenhand euer
Prahlen als Lügen ausweist. Doch nimmst du beachtliche Ehre
mit zu den Manen der Väter: Du fielst von der Waffe Camillas!«
Darauf erlegte sie die zwei stattlichsten Kämpfer der Troer,
Butes, Orsílochos. Ersteren traf sie von hinten mit ihrem
Wurfspieß zwischen Panzer und Helm, wo der Nacken des Reiters
ungedeckt auffiel, zur Linken der Rundschild vom Arme herabhing.
Letzteren täuschte sie, lockte ihn, scheinbar fliehend, zu weitem
Kreisritt und stürmte, in engerem Kreis jetzt, auf den Verfolger,
hieb dann die wuchtige Streitaxt zugleich ihm durch Rüstung und Knochen,
[435] höher sich reckend, verdoppelnd die Schläge, während um Schonung
flehend er bat. Heiß quoll aus der Kopfwunde Hirn ihm aufs Antlitz.
Plötzlich begegnete ihr – und erstarrte vor Schreck bei dem Anblick –
des Appenninenbewohners Aunus tapferer Sprößling,
nicht der geringste Ligurier, wenn es auf Pfiffigkeit ankam.
Als er begriff, daß er nunmehr dem Zweikampf nicht ausweichen konnte,
auch nicht die drohende Fürstin zum Rückzug zu zwingen vermochte,
suchte er sich durch List und Tücke zu retten und sagte:
»Ist es denn etwas Besondres, wenn du als Frau auf ein schnelles
Pferd dich verläßt? Verzichte auf Fliehen und stelle auf ebnem
Boden dich nahe zu mir, gerüstet zu Fuß für den Zweikampf:
Einsehen wirst du, wem nichtige Ruhmsucht Schaden verursacht!«
Gleich übergab Camilla voll Wut, gestachelt vom Ärger,
einer Gefährtin ihr Roß und erwartete furchtlos des Gegners
Absitzen, gleichstark mit blankem Schwerte und einfachem Rundschild.
Doch der Ligurier wähnte, sie schon überlistet zu haben,
wandte sogleich sich zur Flucht, riß rückwärts die Zügel und jagte
fliehend von dannen, hetzte den Renner mit ehernen Sporen.
»Windhund von einem Ligurier, umsonst überheblich im Lügen,
suchtest vergeblich mit hämischer Tücke dem Tod zu entschlüpfen,
keinerlei List bringt heil dich zurück zu Aunus, dem Gauner!«
rief das Mädchen, und jäh wie ein Blitz, auf wirbelnden Füßen,
hatte sie schon überholt das Pferd, fiel ihm in die Zügel,
packte den Flüchtigen und vollzog die blutige Strafe.
Ebenso leicht verfolgt ein Falke, der heilige Vogel,
hoch von der Felsspitze aus die in Wolken schwebende Taube,
[436] packt sie und hält sie fest und zerfleischt sie mit krallenden Fängen;
Blut und zerzauste Federn nur gleiten vom Äther hernieder.
Freilich erspähte der Vater der Menschen und Götter mit seinem
wachsamen Blick vom Thron auf dem hohen Olympus dies alles.
Tarchon, den Fürsten Tyrrheniens, spornte er nunmehr zu wildem
Kampfe und weckte mit schmerzhaftem Stachel die rasende Rachsucht.
In das Gemetzel begab sich zu Pferde der Fürst, zu den Scharen,
die sich zurückzogen, trieb auf verschiedene Weise sie vorwärts,
nannte sie einzeln bei Namen und suchte den Kampfgeist zu stärken:
»Was für ein Schrecken, Tyrrhener, ihr dickfellig- stumpfen, ihr immer
kraftlosen, was für ein feiges Erschlaffen lähmte euch derart?
Treibt doch ein Weib euch zu Paaren, verjagt so vortreffliche Truppen!
Sinnlos gebrauchen wir Eisen, tragen wir Waffen in Händen!
Rüstig jedoch zu Feiern der Venus und nächtlichen Schlachten,
oder sobald die Krummflöte aufspielt zum Reigen des Bacchus,
harrt nur des Schmauses, der Becher auf reichlich beladenen Tischen –
dort herrscht Eifer und Lust! –, bis der Priester ein günstiges Opfer
anzeigt und leckerer Braten euch lockt zum ragenden Festhain!«
Damit spornte sein Roß er ins Kampfgewühl, selber zum Sterben
mutig bereit, und stürmte auf Venulus ein. Aus dem Sattel
riß er den Gegner, umschlang ihn fest mit der Rechten und sprengte,
seinen Gefangenen vor sich, aus Leibeskräften von dannen.
Himmelwärts dröhnte das Schreien, es blickten alle Latiner
auf den Entführer. Über das Feld stob Tarchon, ein Blitzstrahl,
mit dem bewaffneten Feinde, er brach ihm vom Speerschaft die Spitze,
suchte nach einer Blöße am Körper des Gegners für einen
tödlichen Stoß. Doch Venulus leistete Widerstand, stemmte
[437] Tarchons Faust von der Kehle sich, setzte Anstrengung gegen
Anstrengung. Wie in den Lüften der bräunliche Adler die Schlange
trägt, die er hochriß, sie unlöslich festhält mit krallenden Fängen,
trotz der Verwundung sich die Gefangene ungestüm windet,
sich mit gesträubten Schuppen und giftig zischendem Maule
steil in die Höhe richtet, der Räuber jedoch mit dem krummen
Schnabel wild nach der Ringenden hackt und weiter die Lüfte
peitscht mit den Schwingen: So trug aus dem Schwarm der Tiburter Held Tarchon
jubelnd von dannen den Raub. Die Etrusker folgten dem guten
Beispiel des Feldherrn und stürmten vorwärts.
Dem Schicksal verfallen,
lauerte Arruns, die flinke Camilla umkreisend, mit größter
Vorsicht, den Speer in der Rechten, auf eine Gelegenheit schnellen
Angriffs. Wo immer das Mädchen rasend im Schlachtgewühl kämpfte,
ritt er ihr nach, überwachte, ganz unauffällig, ihr Handeln.
Wo sie nach siegreichem Kampf vom Feinde sich löste, da lenkte
er auch, geschwind und verstohlen, sein Pferd behutsam beiseite.
Alle nur möglichen Stellen zum Wurfe erprobte er, ringsum
spähend, und schwang, des Zieles sicher, voll Mordgier die Lanze.
Chloreus, zu Trojas Zeiten geweihter Priester Kybeles,
leuchtete, weithin sichtbar, im Schmuck der phrygischen Waffen,
spornte sein schäumendes Roß, dem ein Tierfell mit bronzenen Schuppen,
dicht wie Gefieder, vergoldet, den Körper bedeckte. Er selber
glänzend im rostroten Purpurgewande spanischer Herkunft,
schoß von dem Bogen aus lykischem Horn gortynische Pfeile.
Golden auch waren der Helm des Sehers, der Köcher auf seinen
Schultern; die knisternden Falten des safrangelben, aus feiner
Leinwand gewebten Mantels hatte gerafft er mit goldner
Spange; bestickt war Hose wie Rock, nach Brauch der Barbaren.
[438] Ihn verfolgte Camilla, wollte vielleicht mit den Waffen
Trojas die Tempel schmücken, vielleicht mit erbeutetem Golde
selbst auch sich brüsten – verfolgte allein ihn im Kampfesgetümmel,
scharf wie ein Jäger, blindlings, zu sorglos inmitten des Krieges,
brannte, in fraulicher Schwäche, vor Gier nach der wertvollen Beute.
Endlich ersah jetzt Arruns den günstigen Zeitpunkt zum Abwurf,
ließ aus dem Hinterhalt sausen den Speer und flehte zum Himmel:
»Hocherhabner Apollo, Beschützer des hohen Soracte,
den wir vor allen verehren, dem Scheiter aus Fichtenholz glühen,
dem wir zum Ruhme als Anbeter, fest vertrauend auf unsre
Frömmigkeit, Flammen durchschreiten und glimmende Kohlen betreten,
laß mich, allmächtiger Vater, die Schande dort tilgen durch meinen
Speerwurf! Keinerlei Beute, keine Trophäen, nein, gar nichts
will dem besiegten Mädchen ich abnehmen, andere Taten
sollen mich ehren. Erlege ich dieses entsetzliche Scheusal,
will ich als Heimkehrer deswegen keinesfalls Ruhmesglanz ernten!«
Phöbus erhörte sein Flehen und gönnte zum Teil ihm Erfüllung,
ließ es zum anderen Teile jedoch in den Lüften verwehen.
Plötzlich die blindlings erregte Camilla zu töten, gewährte
er ihm; daß aber der Berg Soracte ihn heimkehren sähe,
schlug er ihm ab, der Südsturm zerriß die Worte zu Fetzen.
Als nun der Speer aus der Faust des Arruns die Lüfte durchschwirrte,
richteten sämtliche Volsker gespannt die Blicke auf ihre
Königin. Aber sie selber bemerkte das warnende Zischen
gar nicht, auch nicht das Geschoß, das den Äther durchschnitt – bis die Lanze
unter der nackten Brust in den Körper des Mädchens sich bohrte
und, zur Tiefe gedrungen, das Blut der Kämpferin schlürfte.
[439] Ihre Gefährtinnen strömten bestürzt gleich zusammen und fingen
sorglich die Sinkende auf. Doch Arruns, am stärksten erschrocken,
wandte zur Flucht sich, von Angst gepeitscht trotz der Freude, und wagte
weder dem Speerwurf zu trauen noch gegen das Mädchen zu kämpfen.
Wie sich ein Wolf, der den Hirten tötete oder auch einen
stattlichen Jungstier zerfleischte, sofort, fern den Wegen, in hohe
Berge zurückzieht, noch ehe Geschosse von Jägern ihn treffen,
seiner verwegenen Tat wohl bewußt, und angstbebend seinen
Schwanz sich zwischen die Schenkel klemmt und im Walde verschwindet,
ebenso suchte sich Arruns den Blicken vor Furcht zu entziehen,
barg sich, allein auf Entkommen bedacht, im Gedränge der Kämpfer.
Aber Camilla zerrte sterbend am Speerschaft; fest steckte
freilich die eherne Spitze tief zwischen den Rippen. Erbleichend
taumelte sie, vom Tode gezeichnet, begannen die Augen
schon zu erstarren, schnell wich des Antlitzes einstige Röte.
Röchelnd noch, sprach sie zu einer der Altersgenossinnen, Acca,
die ihr vor allen besondere Treue erwies, der sie alle
Sorgen auch anvertraut hatte, folgendes: »Acca, geliebte
Schwester, so lange noch konnte ich atmen. Jetzt läßt mich die bittre
Wunde erschlaffen, schon hüllt sich im Umkreis alles in Dunkel.
Bringe in Eile hier meine letzte Botschaft dem Turnus:
Eingreifen soll er sofort in die Schlacht, vor den Toren die Hauptstadt
schützen! Leb wohl jetzt!« Ihren Händen entglitten die Zügel,
ohne Bewußtsein sank sie zu Boden. Allmählich erstarb sie,
Kälte ergriff den Körper, sie neigte den langsam erschlafften
Hals, das vom Tode ergriffene Haupt, ließ fallen die Waffen.
Unwillig stöhnend entwich ihr Geist hinab zu den Schatten.
Nunmehr erhob sich ein ungeheures Geschrei zu den goldnen
Sternen empor, neu entbrannte der Kampf nach dem Tode Camillas.
[440] Gleichzeitig stürmten geschlossen sämtliche Truppen der Teukrer,
die tyrrhenischen Fürsten, Euanders Arkaderschwadronen.
Aber Dianas Wächterin Opis saß auf dem hohen
Bergkamm schon lange und blickte kaltblütig auf das Gemetzel.
Als sie von ferne, im gellen Geschrei der erbitterten Kämpfer,
die schon vom bitteren Tode entstellte Camilla erspähte,
seufzte sie schwer und rief aus innerstem Herzen die Worte:
»Mädchen, ach, allzu grausam mußt du jetzt Buße entrichten,
weil du verwegen die Teukrer im Kampfe zu reizen versuchtest!
Gar nichts nützte es dir, daß du einsam im Walde Diana
ehrtest, daß unsere Pfeile auf deinen Schultern du trugest.
Aber nicht ruhmlos ließ in der letzten Stunde dich deine
Herrin verscheiden, Ehren gewinnt dir dein Tod bei den Völkern,
nachsagen soll dir niemand, es sei dir kein Rächer erstanden.
Wer dir auch immer die tödliche Wunde schlug, mit dem Tode
soll er, verdient, es büßen!«
Am Fuße des ragenden Berges
hob sich, von Eichen beschattet, das aufgeschüttete hohe
Grab des Gebieters, der einst in Latium herrschte: Dercennus.
Hierher begab sich in schnellem Fluge die strahlende Göttin.
Lauernd ging sie in Stellung und spähte vom Ausguck nach Arruns.
Als sie im Glänze der Waffen und stolz geschwellt ihn erblickte,
rief sie: »Weswegen drückst du dich abseits? Richte die Schritte
hierher, zum Tode, ernte den würdigen Lohn für Camilla!
Möchtest wohl gar von Diana selber noch hingestreckt werden?«
Aus dem vergoldeten Köcher zog die Thrakerin einen
windschnellen Pfeil, dann spannte sie zornig den hörnernen Bogen,
zog ihn kraftvoll zurück, bis sich in der Krümmung die Enden
trafen und Opis, die Hände in gleicher Höhe, mit ihrer
Linken die Pfeilspitze, rechts mit der Sehne den Busen berührte.
Arruns vernahm sogleich den pfeifenden Hauch des Geschosses,
aber da haftete ihm bereits das Eisen im Körper.
Röcheln und letztes Stöhnen verhallten, es kümmerten keine
[441] Freunde sich um ihn, man ließ ihn namenlos liegen im Staube.
Opis jedoch flog wieder empor zum hohen Olympus.
Gleich nach dem Tode Camillas flüchteten ihre Schwadronen.
Kopflos flohen die Rutuler, floh auch der tapfre Atinas.
Allseits versprengte Fürsten, sich selbst überlassene Haufen
suchten sich blindlings zu retten und eilten zurück zu den Mauern.
Keiner vermochte den stürmenden Teukrern, die Tod und Verderben
säten, zu trotzen, sich ihnen zum Kampf mit der Waffe zu stellen.
Ungespannt trugen sie auf den erschlafften Schultern die Bogen,
unter den trappelnden Hufen erdröhnte das lockere Erdreich.
Bis an den Mauerring wälzte der Staub sich in düsteren Schwaden,
hoch von den Zinnen erhoben die Mütter, zerschlagen die Brüste,
gellend ihr Jammergeschrei empor zu den Sternen des Himmels.
Auch wer als erster im Trab durch die offenen Tore noch einritt,
ward schon von Feinden bedrängt, die sich unter die Fliehenden mischten,
mied nicht den kläglichen Tod, nein, verhauchte sein Leben gerade
schon auf der Schwelle, inmitten der heimischen Mauern, in sichren
Häusern sogar, durchbohrt von Klingen. Einige wollten
schließen die Tore, kühnlich die Freunde aussperren, keinem
Flehenden Einlaß gewähren. Das traurigste Blutbad entspann sich
zwischen den Torwächtern und den Freunden, die gegen sie prallten.
Ausgesperrt, vor den Augen der weinenden Eltern, so stürzten
viele, vom wilden Gedränge mit fortgerissen, die steilen
Hänge der Gräben hinunter. Andere ließen die Zügel
schießen und donnerten blindwütig an die verriegelten Tore.
Wetteifernd schleuderten Mütter Geschosse herab von den Mauern –
Zeichen der Vaterlandsliebe, sie hatten Camilla vor Augen –,
warfen statt eiserner Waffen mit aufgeregt hastigen Händen
Eichenholzknüttel und Pfähle mit feuergehärteten Spitzen,
glühten vor Kampfwut, zum Schutze der Mauern als erste zu sterben.
[442] Jäh überrumpelte die entsetzliche Nachricht inzwischen
fern in den Wäldern den Turnus. Acca versetzte den Helden
tief in Erregung: Die Volsker vernichtet, Camilla gefallen;
drohend im Angriff der Feind, durch Kriegsglück bereits im Besitze
allen Geländes; schon brande die Furcht empor an den Mauern.
Rasend vor Wut verließ er – das forderte Jupiters strenges
Walten – die Stellung am Rande der Schlucht und das hemmende Dickicht.
Als er, dem Hinterhalt fern schon, das freie Gelände erreichte,
zog durch den nicht mehr besetzten Engpaß auch Vater Aeneas,
kreuzte den Kamm des Gebirges und trat aus dem düsteren Walde.
Derart gelangten sie beide im Eilmarsch, vollzählig die Mannschaft,
bis an die Stadtmauern, wenige Schritte getrennt voneinander.
Gleichzeitig sah Aeneas deutlich die staubüberwölkten
Fluren und das zum Kampfe bereite Heer der Latiner,
Turnus dagegen den schrecklichen Helden Aeneas in voller
Rüstung, vernahm den Marschtritt des Fußvolks, das Schnauben der Pferde.
Sicherlich wären sie gleich zum Gefecht aufeinandergestoßen,
hätte nicht Phöbus rotglühend die matten Rosse in Spaniens
Fluten gelenkt und den Tag verscheucht durch das nächtliche Dunkel.
Deswegen lagerten sie vor der Stadt und errichteten Schanzen.
[443]

Zwölfter Gesang

Zwölfter Gesang.

Turnus erkannte, daß seine Latiner gebrochen, entmutigt,
abgekämpft waren, daß ihre Blicke jetzt Einhaltung seines
Wortes verlangten. Ohnehin drängte er feurig zum Zweikampf,
fühlte noch wachsen den Mut. Wie ein Löwe im Lande der Punier,
schwer von den Jägern bereits in der Brust verwundet, zum Kampfe
nunmehr erst recht sich entschließt voll grimmiger Freude, die Mähne
schüttelt vom kraftvollen Nacken, furchtlos des listigen Schützen
haftenden Jagdspieß zerbricht und aufbrüllt aus blutrotem Rachen,
ebenso fing die Kühnheit des Turnus nur heftiger Feuer.
Ungestüm richtete er an den König folgende Worte:
»Turnus kennt kein Zögern. Kein Anlaß nötigt das feige
Volk des Aeneas zum Widerruf oder zum Bruch der Verträge.
Antreten will ich zum Zweikampf. Opfre denn, Vater, und schließe
gleich den Vertrag! Ich werde den Dardaner, Flüchtling aus Asien,
hier mit der Rechten zum Tartarus schicken – Zuschauer seien
alle Latiner! Ich tilge, allein, die Schande des Volkes,
oder er schalte als Sieger, werde Lavinias Gatte!«
Antwort erteilte, gelassen und ruhig, ihm König Latinus:
»Ausnehmend mutiger Held, je stärker du selber in kühnem
Trotze dich steigerst, desto bedächtiger muß ich zu Rate
gehen mit mir und sorglich jede Entwicklung bedenken.
Untertan ist dir das Reich des Daunus, des Vaters, noch viele
andere Städte gewannst du – Gold habe ich selber und gebe
gerne davon. Es gibt in Laurentum und Latium andre
Mädchen, auch adliger Herkunft. Mir fällt nicht leicht die Eröffnung –
lasse mich ehrlich sie aussprechen, nimm sie dir gründlich zu Herzen:
Keinem der früheren Freier durfte die Tochter ich geben,
sämtliche Götter und Menschen bestätigten diese Verpflichtung.
Aber aus Liebe zu dir, mit Rücksicht auf die Verwandtschaft
meiner Gemahlin und deren Tränen, zerriß ich die Bindung,
[444] nahm ich Aeneas die Braut und ergriff die Waffen, zu Unrecht.
Was ich an Unglück seitdem, an Kriegen erlitten, mein Turnus,
siehst du, auch was du selber vor allen an Mühsalen ausstehst.
Zweimal entscheidend geschlagen, nähren wir kaum in der Hauptstadt
Hoffnungen noch, warm fließt das Wasser des Thybris von unsrem
Blute, auf riesigen Schlachtfeldern bleichen Gebeine von Toten.
Weswegen schwanke ich so oft? Raubt den Verstand mir der Wahnsinn?
Bin ich zum Bündnis bereit nach dem Tode des Turnus, dann sollte
lieber den Kampf ich beenden, solange er aufblickt zur Sonne!
Die uns verwandten Rutuler, ganz Italien – was sagen
sie, wenn ich dich, der du meine Tochter zur Gattin erbittest,
umbringen ließe – möge das Schicksal mein Wort widerlegen!
Schau auf dein sinkendes Kriegsglück, erbarme dich deines betagten
Vaters, der ferne im heimischen Ardea kläglich sich abhärmt!«
Aber der heftige Stolz des Turnus ließ sich nicht beugen,
höher nur lohte das Flammenmeer bei dem Versuch, es zu löschen.
Antwort erteilte der Held, sobald er zu sprechen vermochte:
»Brauchst dich nicht länger so eifrig zu sorgen um mich, mein verehrter
Vater, ich bitte dich, laß mich den Ruhm mit dem Tode bezahlen!
Ich auch, mein Vater, schleudere kraftvolle Speere mit meiner
Rechten, es bluten auch Wunden, die ich dem Gegner geschlagen.
Fernbleiben wird ihm die göttliche Mutter, nicht weibisch sein Fliehen
decken mit Wolkendunst, nicht ihn verbergen in windigem Schatten!«
Aber die Fürstin, entsetzt vom Gedanken des Zweikampfes, wollte
weinend, in Todesängsten, den Eifer des Schwiegersohns hemmen:
»Turnus, bei meinen Tränen, und sollte die Ehre Amatas
innig dich rühren – du bist jetzt die einzige Hoffnung im Alter,
Stätte der Ruhe im Elend; die ruhmreiche Macht des Latinus
stützt sich auf dich, auf dir nur beruht die schon wankende Heimstatt.
[445] Eines erflehe ich: Kämpfe nicht länger gegen die Teukrer!
Jeglicher Schlag, der in diesem Kampf auf dich wartet, er wartet,
Turnus, auf mich auch. Ich scheide mit dir aus dem elenden Leben,
will als Gefangene nicht Aeneas als Schwiegersohn sehen!«
Weinend vernahm Lavinia auch die Klage der Mutter,
netzte mit Tränen die glühenden Wangen. Schamgefühl schürte
heftig die innere Glut ihr und rötete brennend das Antlitz.
Wenn man dem indischen Elfenbein blutrote Purpurglut aufzwingt,
wenn aus tiefroten Rosen weiße Lilien leuchten,
wirkt es so stark wie die Farben damals im Antlitz Lavinias.
Liebe verwirrte den Helden, er blickte gebannt auf das Mädchen.
Hitziger nur erstrebte er noch den Zweikampf und sagte
kurz zu Amata: »Mit Tränen, Mutter, und Worten so bittrer
Vorahnung darfst du mich nicht auf den Weg zum Schlachtfeld geleiten!
Turnus vermag sich nicht einen Aufschub des Todes zu wählen.
Idmon, folgende Botschaft melde dem phrygischen Herrscher,
die ihm doch schwerlich gefällt: Wenn morgen am Himmel Aurora
naht auf dem purpurnen Wagen und rötlich schimmert, dann möge
nicht er die Teukrer gegen die Rutuler führen! Die Waffen beider
sollen jetzt ruhen, wir wollen den Krieg durch Zweikampf entscheiden.
Derart wollen wir nun um die Hand Lavinias werben.«
Darauf begab er sich eilig zur Wohnung und ließ sich die Pferde
vorführen. Freude empfand er beim Anblick der wiehernden Rosse,
die Oreithyia als Prachtgeschenk einst dem Pilumnus verehrte;
Schnee übertrafen an Glanz sie, an Schnelligkeit aber die Winde.
Rührig betreuten die Lenker die Tiere, beklopften mit hohlen
Händen kräftig die Brust und striegelten eifrig die Mähnen.
Seinen von Gold und Messing funkelnden Brustpanzer legte
er sich danach um die Schultern, griff auch zur Probe nach seinem
Schwert, nach dem Schild und den Hörnern des tiefrot leuchtenden Helmbuschs.
[446] Selber hatte der Gott des Feuers die Klinge dem Vater
Daunus geschmiedet, getaucht in die Styx das glühende Eisen.
Anschließend packte er kraftvoll die wuchtige Lanze, die mitten
in dem Gemach an die riesige Säule sich lehnte – er hatte
sie vom Aurunker Aktor erbeutet –, er ließ sie im Schwingen
zittern und rief: »Du, Lanze, die niemals umsonst ich gerufen,
nunmehr naht die entscheidende Stunde! Dich führte Held Aktor,
heute die Rechte des Turnus. Laß mich den phrygischen Zwitter
werfen, mit starker Faust ihm den Panzer entreißen, in Stücke
schlagen die Rüstung, seine mit Brenneisen zierlich gelegten,
weibisch von Myrrhenöl triefenden Haare durch Staubwolken schleifen!«
Wütend rief er die Worte, es schien, als sprühe sein Antlitz
Funken, als loderten Flammen in seinen grimmigen Blicken.
Ebenso brüllt ein Stier vor Beginn des Kampfes entsetzlich,
läßt mit den Hörnern die rasende Wut durch kräftige Stöße
tobend an Baumstämmen aus, sucht stoßend die Winde zu reizen,
wirbelt, noch kurz vor dem Angriff, Sandschwaden hoch in die Lüfte.
Ebenfalls grimmig erprobte Aeneas die Waffen, die seine
Mutter ihm gab, und steigerte sich hinein in die Kampfwut,
froh der Gelegenheit, durch Vertrag den Krieg zu beenden,
tröstete auch die Gefährten und seinen bedrückten Iulus,
wies auf das Walten des Schicksals sie hin. Dem König Latinus
ließ er die Zustimmung und die Vertragsbedingungen melden.
Als dann der kommende Tag sein Licht auf die Bergkämme sprühte,
zu der Stunde, in der die Sonnenrosse aus tiefem
Meeresgrund tauchen und Flammen aus den erhobenen Nüstern
schnauben, da steckten die Rutuler schon und die Teukrer den Kampfplatz
ab vor den Mauern der Hauptstadt, errichteten dann in der Mitte
Rasenaltäre und Feuerbecken für alle von ihnen
angerufenen Götter. Feuer und Quellwasser brachten
Opferdiener im Schurz, bekränzt mit heiligen Kräutern.
Dicht geschart aus den Toren rückte das Heer der Ausonier,
[447] Wurfspieße fest in den Händen. Jedoch auf der anderen Seite
zogen Tyrrhener und Troer heran mit verschiedenen Waffen,
stählern gerüstet, als riefe sie Mars zu grausamem Kampfe.
Unter den Tausenden tummelten sich geschäftig die Fürsten,
zeichneten sich durch Waffenschmuck aus in Gold und in Purpur,
Mnestheus vom Stamm des Assarakos und der tapfre Asilas,
dort Held Messapus, der Rossebändiger, Sohn des Neptunus.
Nach dem Kommando begaben auf ihre Posten sich alle,
stießen die Lanzen ins Erdreich und lehnten die Schilde dagegen.
Nunmehr besetzten schaulustig unbewaffnete Bürger,
Mütter und kraftlose Greise die Türme und Hausdächer. Andre
hatten sich Plätze zum Ausguck gesucht an den ragenden Toren.
Hoch von dem Gipfel, den wir als Albanerberg heute bezeichnen –
namenlos war er noch damals, genoß nicht Ruhm und nicht Ehre –
richtete Juno fernher den Blick auf den Kampfplatz, auf beide
Heere, Laurenter wie Troer, sowie auf die Stadt des Latinus,
wandte sich dann an die Schwester des Turnus, die Göttin an eine
Nymphe, die Seen und rauschenden Flüssen als Herrin gebietet –
Jupiter hatte, der würdige König des Äthers, ihr diese
Stellung gewährt, zum Dank für das Mädchentum, das er ihr raubte –:
»Nymphe, du, Zierde der Ströme, mir teuer vor allen, ganz sicher
weißt du: Von jenen latinischen Frauen, die mit dem erhabnen
Jupiter schliefen, ohne ein Zeichen des Dankes zu ernten,
schätzte ich dich am höchsten, vergönnte den Platz dir im Himmel.
Hör jetzt, Juturna, das Bittre, damit du es mir nicht noch vorwirfst!
Als noch Fortuna, mit ihr auch die Parzen, Latium offen
Vorteile ließen, beschützte ich Turnus, die Stadt auch der Deinen.
Auf überlegene Schicksale sehe den Helden ich heute
stoßen, ihm naht die letzte, die feindliche Stunde der Parzen.
Niemals mitansehen kann ich den Kampf hier, auch nicht den Vertragsschluß.
Willst du für deinen Bruder noch etwas Hiflreiches wagen,
bitte, du darfst es! Das bessert vielleicht noch die Lage der Armen.«
Tränen vergoß Juturna bei diesen Worten der Göttin,
schlug mit den Händen sich dreimal und viermal die reizenden Brüste.
[448] Doch die Saturnierin mahnte: »Die Stunde gestattet kein Weinen.
Schnell jetzt, entreiße, soweit noch möglich, den Bruder dem Tode!
Oder schüre den Kampf und zerstöre den Bund, den man abschloß!
Ich unterstütze das Wagnis.« So mahnte sie, ließ dann Juturna
einsam zurück, noch schwankend, verwirrt vom bitteren Kummer.
Aber jetzt kamen die Fürsten. Die hohe Gestalt des Latinus
rollte auf einem Vierspänner vor; sechs goldene Strahlen
schmückten als Krone ihm funkelnd die Schläfen, ein Wahrzeichen seines
Großvaters Sol. Auf weißem Zweispänner folgte ihm Turnus,
schwang in der Hand zwei Lanzen mit breiter stählerner Spitze.
Vater Aeneas, der Ahnherr der Römer, nahte vom Lager,
sternenhell glänzten sein Schild und seine göttlichen Waffen.
Neben ihm schritt Ascanius, zweite Hoffnung der Weltstadt
Rom. Ein Priester in weißem Gewande brachte ein Ferkel,
Junges der borstigen Sau, und ein Lamm mit vollständigen Zähnen,
trieb zum Altare sie hin, auf dem das Feuer schon brannte.
Ostwärts, zum Licht der steigenden Sonne, blickten die Fürsten,
streuten das Salzschrot, stutzten mit Messern das Stirnhaar der Tiere,
gossen dann auf den Altar den Wein aus Schalen zur Spende.
Darauf begann mit gezogenem Schwert der fromme Aeneas:
»Zeugen meines Gebetes seien die Sonne und dieses
Land hier, um dessentwillen so vieles ich aushalten mußte,
du auch, allmächtiger Vater, und deine Gemahlin – du, Göttin,
schenk mir doch endlich, endlich Gnade! –, auch du, hochberühmter
Mars, der du sämtliche Kriege, Vater, verantwortlich leitest;
Quellen und Flüsse auch rufe ich an und die Heiligkeit dieses
machtvollen Äthers, euch Gottheiten auch des blaugrauen Meeres:
Sollte das Schicksal den Sieg dem Ausonier Turnus verleihen,
ziehen, getreu dem Vertrag, die Besiegten zur Hauptstadt Euanders,
[449] räumt auch Iulus das Feld, ergreifen niemals die Troer
aufsässig Waffen und ziehen gegen das Reich hier zu Felde.
Aber gewährt Victoria uns den glücklichen Ausgang –
wie ich es hoffe und wie auch die Götter es eher versichern –,
will ich den Teukrern niemals Italer untertan machen,
auch nicht selber die Macht erstreben; in Freiheit, mit gleichen
Rechten, so sollen sich beide Völker auf ewig verbünden.
Götter und Kulte gewähre ich. Schwiegervater Latinus
übe die Macht, wie gewohnt, in Frieden und Krieg. Die Trojaner
werden die Hauptstadt mir bauen, den Namen Lavinia ihr geben.«
Dies gelobte Aeneas, als erster. Ihm folgte Latinus,
blickte zum Himmel auf, streckte die Rechte empor zu den Sternen:
»Ich auch, Aeneas, beschwöre das. Erde und Meer und Gestirne
seien mir Zeugen, die Zwillinge Letos, Janus mit seinem
doppelten Antlitz, das Unterweltsreich des grausamen Pluton;
höre der Vater mich auch, der durch Blitzstrahl Bündnisse heiligt.
Hier die Altäre berühre ich, rufe inmitten der Heere
Feuer und Götter: Nie werden Italer den Friedensbund brechen,
was auch geschehe. Keine Gewalt soll meine Entscheidung
ändern, nicht, wenn sie mit furchtbaren Sintfluten unsere Erde
ganz überschwemmte, den Himmel sogar in den Tartarus stürzte,
niemals, so wahr dies Zepter« – er hielt den Stab in den Händen –
»schwerlich noch Laubspitzen treibt und schattiges Buschwerk hervorbringt,
wo es nun einmal, im Walde vom nährenden Baumstamm geschnitten,
wurzellos ist, durch die Schneide das Laub verlor und die Äste;
ehemals war es ein Baum, jetzt umschloß es der Künstler mit schöner
Bronze und gab es zum Zeichen des Amts den latinischen Herrschern.«
Derart beschworen, im Kreis und unter den Augen der Fürsten,
sie miteinander das Bündnis. Dann ließen, nach heiligem Brauche,
[450] Opferblut sie aus den Kehlen ins Feuer verströmen, sie nahmen
aus die noch lebenden Tiere, beluden die Schüsseln des Herdes.
Aber die Rutuler hielten den Zweikampf schon lange für ungleich.
Widerspruchsvolle Gefühle beeinflußten sie um so stärker,
als sie von nahem die unterschiedlichen Kräfte er kannten.
Ihre Befürchtungen nährte noch Turnus, der still zum Altare
trat und ihm flehend, gesenkten Blickes, Ehrfurcht bezeigte,
vollkräftig männlich die Wangen, doch blaß trotz rüstiger Stärke.
Nymphe Juturna bemerkte das Murren der Menge, das ständig
zunahm, bemerkte ihr Zweifeln und Schwanken. Da trat sie, zur Täuschung
in der Gestalt des Camers, unter die Mannschaften – Camers
stammte aus altem Adel, Ruhm folgte der Tüchtigkeit seiner
Ahnen, er selber bewährte sich als ein tatkräftiger Kämpfer –;
wohl sich bewußt der eigenen Mittel, begann sie Gerüchte
auszustreuen, verschiedener Art, in folgendem Sinne:
»Schämt ihr euch, Rutuler, gar nicht, ein einziges Leben anstelle
aller so tapferen Männer zu opfern? Sind wir an Kräften
ihnen und Zahl nicht gewachsen? Da stehen sie sämtlich, Arkader,
Troer, Etrusker dazu, ›nach dem Schicksal‹ die Feinde des Turnus.
Kämpften zur Hälfte wir nur, wir hätten nicht einmal je einen
Gegner. Den Turnus dürfte sein Ruhm zu den Göttern erhöhen,
deren Altären er tapfer sich weiht, und unsterblich ihn machen.
Aber wir leisten, der Heimat verlustig, zwangsweise, stolzen
Herren Gehorsam – und lagern jetzt ohne Handschlag im Felde!«
Derlei Gedanken ließen den Mut der Jungen entflammen,
stärker und stärker grollte das Murren von Heerschar zu Heerschar.
Umgestimmt wurden die meisten Laurenter sogar und Latiner.
Wer sich schon Ruhe vom Kampf und Gedeihen der Heimat erhoffte,
wünschte jetzt Krieg und wollte das Bündnis für nichtig erklären,
spürte auch Mitgefühl für das traurige Schicksal des Turnus.
Wirksamer griff Juturna noch ein: Vom Himmel hernieder
gab sie ein Zeichen, das stärker als jemals ein andres Verwirrung
[451] bei den Italern stiftete, sie wie durch Zauber betörte.
Flog doch am rötlichen Himmel Jupiters braungelber Adler,
scheuchte dabei die Vögel vom Ufer in rauschenden Schwärmen
flatternder Schwingen. Plötzlich stieß er herab auf die Wellen,
packte raubgierig einen stattlichen Schwan mit den Fängen.
Heftige Spannung ergriff die Italer. Sämtliche Vögel
flohen nicht länger, sie kehrten zurück – ein Anblick zum Staunen –,
schreiend, verfinsterten mit den Schwingen den Himmel, bedrängten
hoch in den Lüften, zur Wolke geballt, den Räuber, bis dieser
unter der Überzahl, unter der Last auch, nachgab, aus seinen
Krallen die Beute hinabwarf zum Fluß und im dichten Gewölke
fliehend verschwand.
Mit Triumphgeschrei grüßten die Rutuler dieses
Zeichen, sie machten sich kampfbereit. Augur Tolumnius spornte,
allen voran: »Dies ist es, was oft ich erflehte. Das Omen
nehme ich an, ich erkenne den Götterbeschluß. Zu den Waffen
greifet, ich führe euch Arme, die ruchlos der Fremdling wie schwache
Vögel gewaltsam erschreckt, dabei noch euer Gestade
grausam verheert. Bald wird er entfliehen und segelnd die hohe
See sich gewinnen. Einmütig schließt euch zusammen, verteidigt
den euch entrissenen Herrscher tapfer in offenem Kampfe!«
Vorstürmend schleuderte er die Lanze gegen die Feinde.
Sausend entschwirrte der Kirschenholzschaft und zog durch die Lüfte
sicher die Bahn. Zugleich erhob sich ein gellendes Schreien,
aufgeschreckt wurde die Menge, Erregung durchglühte die Herzen.
Grad gegenüber dem Speerschützen standen neun stattliche Brüder;
dem Arkader Gylippos hatte die treue Gemahlin,
eine Tyrrhenerin, einst sie geboren. Den einen von ihnen
traf in der Mitte des Körpers die Waffe, zwischen den Enden
seines vergoldeten Wehrgehenks, neben der haltenden Schnalle,
[452] einen hervorragend schönen, im Waffenschmuck glänzenden Jüngling,
schoß durch die Rippen und streckte ihn nieder im bräunlichen Sande.
Aber die Brüder, ein mutiger Trupp, entflammt von dem wilden
Schmerz, entrissen den Scheiden die Schwerter oder umkrallten
Spieße und stürzten blindlings vorwärts. Entgegen schon strömte
ihnen das Heer der Laurenter, dem dicht gedrängt die Trojaner,
die Agylliner und, bunt bewaffnet, Arkader sich stellten.
Alle beseelte ein Trieb nur: die Waffen entscheiden zu lassen.
Weggeschleppt ward das Gerät vom Altare, ein Schwall von Geschossen,
wie man sie packte, ergoß sich vom Himmel, ein Regen von Eisen,
jählings erraffte Krüge und flammende Becken. Latinus
floh und wollte nach Bruch des Vertrages die Bilder der Götter
schützen vor Schlägen. Man schirrte die Kampfwagen an, und die Reiter
schwangen sich flink in die Sättel und zückten die Klingen. Messapus,
willens, das Bündnis zunichtezumachen, scheuchte, zu Rosse,
einen tyrrhenischen Fürsten im vollen Ornate, Aulestes,
wild vor sich her. Beim Zurückweichen stieß der Verfolgte zum Unglück
rücklings mit Heftigkeit an den Altar und prallte beim Stürzen
heftig auf Schultern und Haupt. Ihm jagte Messapus trotz seines
innigen Flehens vom Sattel aus wuchtig die Lanze, die einem
Balken ähnelte, tief in den Leib mit den höhnischen Worten:
»Bravo, das sitzt – ein besseres Opfer für mächtige Götter!«
Diesen noch warmen Leichnam plünderten schnell die Italer.
Held Korynaios riß vom Altar ein brennendes Holzscheit,
warf es dem Ebysus, der zum Hiebe schon ausholte, vorher
noch ins Gesicht; der wallende Bart fing Feuer und qualmte
beizend. Dem Wurfgeschoß folgte sogleich Korynaios und packte
fest mit der Linken den halb schon betäubten Gegner am Haarschopf,
beugte ihn unter sein Knie und drückte ihn nieder zur Erde,
stieß ihm den harten Stahl in die Brust. Podaleirios folgte
[453] Alsus, dem Hirten, der durch den Geschoßhagel stürmte im Vorkampf,
schwang schon die Klinge über ihm. Aber schnell wandte sich jener,
spaltete seinem Verfolger Stirne und Kinn mit der Streitaxt;
weithin sprühte der Quell des Blutes über die Rüstung.
Tiefe Erstarrung, ein eherner Schlummer, schloß des Getroffnen
Augen; ihr Leuchten erlosch zu ewig währendem Dunkel.
Waffenlos aber streckte der fromme Aeneas die Rechte,
suchte, entblößten Hauptes, die Seinen zur Ordnung zu rufen:
»Wohin stürmt ihr? Was soll die Feindschaft, die plötzlich hier ausbricht?
Zügelt die Wut! Schon gilt der Vertrag, die Bedingungen alle
wurden vereinbart. Nur ich bin künftig zum Kämpfen berechtigt.
Laßt mich und fürchtet euch nicht! Ich sichre das Bündnis mit meiner
Hand, das vollzogene Opfer verspricht mir den Zweikampf mit Turnus.«
Während der Worte, noch während des Aufrufs zu ernster Besinnung,
schwirrte ein Pfeil befiedert gegen den Helden. Den Schützen
kannte man nicht, nicht den Windstoß, der zügig die Waffe herantrieb,
nicht, wer den Rutulern solchen Ruhmesglanz schenkte, der Zufall
oder ein Gott. Nicht gelöst ward jemals das Rätsel des Vorfalls,
niemand brüstete sich, Aeneas verwundet zu haben.
Turnus sah Aeneas den Kampfplatz verlassen, erkannte
auch die Verwirrung der Feldherrn. Jäh packte ihn glühende Hoffnung.
Rosse und Waffen verlangte er gleich, sprang ohne Bedenken
stolz auf den Streitwagen, griff zu den Zügeln. In rasendem Fahren
riß er zahlreiche tapfere Helden tödlich zu Boden,
ließ sie halbtot sich wälzen, zermalmte feindliche Haufen
oder erlegte Fliehende noch mit hastig errafften
Lanzen. Wie Mars am Ufer des eisigen Hebros in wildem
[454] Vorstürmen blutig gegen den Schutzschild mit Speerstößen donnert,
wütend die Rosse zur Schlacht hetzt, schneller als Notos und Zephyr
über das Blachfeld die Tiere dahinschießen, Thrakien fernhin
unter den dröhnenden Hufschlägen aufstöhnt, Dämonen, der düstre
Schrecken, der Zorn und die Tücke, des Gottes Begleiter, sich tummeln,
ebenso jagte der feurige Turnus die dampfenden Rosse
quer durch das Kampfgewühl, jammernswert über die Leichen der Feinde.
Blutige Tautropfen spritzten unter den hämmernden Hufen,
rot ineinandergestampft ward Blut und sandiger Boden.
Sthenelos, Thámyros, Pholos schon hatte erlegt er, die beiden
letzten im Nahkampf, jenen von weitem; von weitem auch beide
Imbrasossöhne, Glaukos und Lades. Imbrasos hatte
selbst sie erzogen in Lykien, gleichartig auch sie bewaffnet,
wie für den Nahkampf so auch zum Reiten, schneller als Winde.
Anderswo stürmte Eumedes zum Kampfe gegen die Feinde,
schlachtenberühmter Sprößling Dolons, des Helden der Vorzeit,
zeigte des Großvaters Namen, doch Kühnheit und Kampfkraft des Vaters,
der einst zum Lohn für den Kundschaftergang in das Lager der Griechen
selbstbewußt-stolz das Rossegespann des Peliden sich ausbat.
Held Diomedes lohnte ihm freilich die Heldentat anders,
kein Verlangen mehr trägt er nach dem Gespann des Achilles.
Weither erspähte jetzt Turnus im offenen Felde Eumedes,
traf ihn mit leichtem Wurfspeer über die große Entfernung,
hielt dann bei ihm den Zweispänner, sprang von dem Wagen und nahte
sich dem Gestürzten, der schwach noch atmete, setzte ihm seinen
Fuß auf den Nacken, entwand ihm das Schwert und senkte die blanke
Klinge ihm tief in die Kehle, verhöhnte dabei ihn noch grimmig:
»Bitte, im Liegen vermiß jetzt, Trojaner, den Boden Hesperiens,
[455] den du erobern wolltest: Solche Belohnungen erntet,
wer mich verwegen angreift; solche Mauern erbaut er!«
Diesem Erlegten gab zum Geleit er durch Speerwurf Asbytes,
Chloreus, Thersílochos, Dares und Sýbaris mit, dann Thymoites
schließlich, der über den Hals des sich bäumenden Rosses herabglitt.
Wie der edonische Sturmwind Boreas über die tiefen
Fluten des Aigeus braust und die Wogen peitscht ans Gestade,
wie vor der Wucht des Orkans das Gewölk am Himmel dahinjagt,
ebenso kehrten dem stürmenden Turnus die Feinde den Rücken,
stoben von dannen in wilder Flucht. Doch den Angreifer hetzte
vorwärts sein Schwung, im Gegenwind flatterte heftig sein Helmbusch.
Phegeus vermochte nicht länger sein mutwillig tosendes Stürmen
ruhig mitanzusehen. Er warf dem Gespann sich entgegen,
riß an dem Zaumzeug nach rechts die schäumenden, rasenden Pferde;
während die Deichsel ihn mitzog und kurz nur der Deckung beraubte,
traf ihn die Lanze des Turnus, durchbohrte den doppelt geflochtnen
Panzer und streifte den Körper flüchtig. Doch deckte sich Phegeus
gleich mit dem Schilde, wandte sich gegen Turnus und suchte
ihn mit gezücktem Schwert zu erreichen, sich selbst noch zu retten.
Aber ihn packte das Rad, der stürmisch rollende Wagen
streckte ihn seitlich zu Boden. Turnus sprang aus dem Fahrzeug
zu dem Gestürzten und hieb mit dem Schwert ihm den Schädel vom Rumpfe,
zwischen Panzer und Helm, ließ liegen den Leichnam im Sande.
Während der Rutuler siegreich das Schlachtfeld mit Leichen bedeckte,
führten Mnestheus, Ascanius und der treue Achates
den vom Blut überströmten Aeneas ins Lager. Der stützte
mühselig Schritt für Schritt auf den Schaft sich der ragenden Lanze,
[456] suchte voll Wut die Spitze des abgebrochenen Pfeiles
noch aus der Wunde zu reißen, verlangte das kräftigste Mittel:
die nicht mehr sichtbare Spitze herauszuschneiden mit breiter
Klinge, dann ihn sofort auf das Schlachtfeld ziehen zu lassen.
Iapyx, der Sohn des Iasios, war schon zur Stelle. Ihn wollte
Phöbus, der ihn vor allen anderen schätzte, aus tiefer
Liebe in seinen Künsten und Gaben sehr gern unterweisen,
Zukunftsschau, Harfenspiel, Einsatz von Bogen und Pfeil. Doch Iapyx
wünschte, um länger dem siechenden Vater das Leben zu gönnen,
lieber die Kräfte der Kräuter, den Arztberuf kennenzulernen,
still, mit Verzicht auf äußeren Ruhm, sich der Heilkunst zu widmen.
Murrend vor Ärger, stand Aeneas, gestützt auf die lange
Lanze, umdrängt von zahlreichen Männern, der traurige Iulus
unter ihnen, und ließ sich durch Tränen nicht rühren. Iapyx,
rückwärts gegürtet den Mantel nach ärztlichem Brauche, betagt schon,
setzte mit pfleglicher Hand und kräftigen Kräutern des Phöbus
eilfertig, rührig sich ein, doch erfolglos. Erfolglos auch zerrte
er an der Pfeilspitze, wollte sie fest mit der Zange auch packen.
Keinen Fortschritt vergönnte Fortuna, auch Meister Apollo
half nicht. Jedoch auf dem Schlachtfeld steigerte wild sich der Schrecken,
näher stets rückte das Unheil. Staubwolken sah man zum Himmel
wirbeln. Die feindlichen Reiter standen schon dicht vor den Wällen,
mitten ins Lager hagelten Pfeile. Zum Himmel hoch gellten
Klagen der Männer, die kämpften und grausam dem Kriegsgott erlagen.
Venus indes, von den unverdienten Qualen des Sohnes
schmerzlich getroffen, pflückte vom Ida auf Kreta das Heilkraut
Diptam, das fleischig beblätterte Stiele und purpurne Blüten
treibt. Auch die Wildziegen wissen die Heilkraft der Pflanze zu schätzen,
haften in ihrem Rücken befiederte Pfeile von Jägern.
Düster in Wolken verborgen, so brachte die Göttin das Diptam
[457] her vom Gebirge, preßte den Saft in ein schimmerndes Becken
voller Frischwasser, heimlich die Heilkraft zu fördern, und setzte
starke Ambrosia zu und köstlich duftendes Allheil.
Umschläge machte damit der greise Iapyx, noch ohne
Wissen um göttliches Eingreifen. Aber ganz plötzlich versiegte
jeglicher Schmerz, auch strömte nicht länger das Blut aus der Wunde.
Auch das Geschoß gehorchte der Hand, es glitt aus dem Einschnitt,
zwanglos; die Kräfte begannen sich frisch wie früher zu regen.
»Schnell, bringt Waffen dem Helden! Was steht ihr untätig?« Iapyx
rief es und spornte als erster den Mut zum Kampf mit dem Gegner.
»Deine Genesung, Aeneas, verdankst du nicht menschlichem Mühen,
auch nicht der ärztlichen Kunst, nicht meiner Geschicklichkeit. Vielmehr
wirkte ein Gott und befähigt dich wieder zu höherer Leistung!«
Angelegt hatte Aeneas die goldenen Beinschienen, prüfte
sorgsam den Sitz, in Eile, voll Kampflust, erprobte die Lanze.
Als auch der Schutzschild bequem die Seite, der Panzer den Brustkorb
deckte, umschlang der König den Sohn mit gebreiteten Armen,
küßte ihn durch das geschloßne Visier noch einmal und mahnte:
»Lerne, mein Junge, von mir, dich in Mühsal als Mann zu bewähren,
lerne von anderen, Glück zu genießen. Jetzt wird dich noch meine
Rechte vor Kämpfen beschützen, zu glänzendem Lohne dich führen.
Denke daran, sobald du zum Alter des Mannes gereift bist,
halte dir stets die Leistung der Deinen vor Augen, zum Handeln
mögen dich Vater Aeneas und Hektor, dein Onkel, begeistern!«
Nach der Ermahnung durchschritt er das Tor, so stattlich wie immer,
schwang in der Rechten den riesigen Speer. In dichter Kolonne
folgten Aeneas und Mnestheus, strömten hervor aus dem Lager
sämtliche Troer. Staubschwaden hüllten das Schlachtfeld in Dunkel,
[458] unter den Tritten der Kämpfer erzitterte angstvoll die Erde.
Turnus erblickte den Feind, der vom Lagerwall gegen ihn rückte,
alle Ausonier erblickten ihn. Eisige Schauer durchbebten
bis in das Mark sie, Juturna vernahm und erkannte vor allen
andern Latinern den Sturmschritt und floh vor Entsetzen. Aeneas
führte jedoch, wie im Fluge, ins Feld die drohende Heerschar.
Wie sich vom Unwetterstern ein Wirbelsturm losreißt, zum Festland
über das Meer dann dahinzieht, die armen Bauern in banger
Vorahnung schon sich entsetzen – der Sturm wird Bäume entwurzeln,
grausam die Saaten vernichten und weithin alles verwüsten –;
wie schon als Vorboten sausende Böen die Küste erreichen:
Ebenso führte der Fürst von Rhoiteion die Scharen der Seinen
gegen den Feind und ballten die Troer sich wuchtig zum Stoßkeil.
Held Thymbraios erlegte durch Schwerthieb den starken Osiris,
Mnestheus Arcetius. Achates streckte den Epulo nieder,
Gyas den Ufens. Tot stürzte zu Boden der Augur Tolumnius,
der als erster den Wurfspieß schleuderte gegen die Teukrer.
Schreie des Schreckens gellten zum Himmel, die Rutuler wandten
nunmehr sich selber zur Flucht und rannten staubwirbelnd vom Kampfplatz.
Aber Aeneas wollte keinen der Fliehenden töten,
ließ sich weder auf Nahkämpfe ein noch durch Speerwürfe reizen.
Lediglich Turnus suchte im Staubgewühl er zu erspähen,
wollte ihn selber nur fordern zum letzten entscheidenden Kampfe.
Davor gerade bangte die tapfere Nymphe Juturna.
Deswegen stieß sie den Wagenlenker des Turnus, Metiscus,
während der Fahrt vom Lenkerstand, ließ nach dem Absturz ihn seitwärts
liegen und packte statt seiner die lockeren Zügel zum Lenken,
jenem in allem gleichend, an Stimme, Gestalt und Bewaffnung.
Wie die schwärzliche Schwalbe die prächtige Landwohnung eines
reichen Gebieters durchfliegt, die geräumigen Vorhöfe mustert,
Kleinfutter sucht und Bissen für ihre zwitschernde Nestbrut,
bald durch die leeren Hallen, bald rings um die künstlichen Teiche
flattert: entsprechend durchjagte Juturna das Feindesgetümmel,
[459] streifte in rasender Fahrt, wie im Fluge, sämtliche Punkte,
zeigte bald hier und bald dort den Bruder in siegreichem Ansturm,
scheute den Zweikampf jedoch, ging diesem bewußt aus dem Wege.
Ähnlich beschrieb, auf den Spuren des Turnus, Aeneas verschiedne
Kreise und rief ihn, durch das Getümmel sich drängend, mit lauter
Stimme. Sooft er jedoch den Gegner erspähte, im Laufschritt
nachjagen wollte den wie im Fluge enteilenden Rossen,
lenkte Juturna das Fahrzeug in anderer Richtung von dannen.
Was nur, was sollte er tun? Er schwankte in schmerzhaftem Zwiespalt,
widerspruchsvolle Erwägungen riefen ihn hierhin wie dorthin.
Aber da führte Messapus behend gerade in seiner
Linken zwei biegsame Speere mit eiserner Spitze. Den einen
schleuderte er jetzt mit sicherem Wurfe gegen Aeneas.
Dieser verharrte sogleich und duckte mit federnden Knien
hinter den Schild sich. Doch riß ihm der sausende Spieß noch die Röhre
fort von der Helmspitze, fegte ihm damit den Buschen vom Haupte.
Da übermannte den Helden der Zorn. Nach dem tückischen Angriff,
auch überzeugt, das Gespann des Turnus fliehe absichtlich,
flehte er Jupiter und den Altar an als Zeugen des Rechtsbruchs,
stürzte dann endlich sich selbst auf die Feinde. Begünstigt vom Kriegsgott,
metzelte wild und unterschiedslos er die Gegner jetzt nieder,
schreckenerregend, ließ die Erbitterung zügellos wüten.
Wer besingt mir, und sei er ein Gott, das bittre Geschehen,
Morden auf beiden Seiten, das Sterben der Feldherrn, die Turnus
hier und Aeneas dort auf dem Schlachtfelde abwechselnd jagte?
Ließest du, Jupiter, wirklich zwei Völker so wild sich bekämpfen,
die doch gemeinsam leben sollten in ewigem Frieden?
Sucro, der Rutuler, brachte den Angriff der Teukrer als erster
endlich zum Halten, doch kurz nur: Aeneas bohrte ihm seine
[460] grausame Klinge zwischen den Rippen hindurch in den Brustkorb,
dort, wo die Wunde am schnellsten das Leben auslöscht. Und Turnus
warf aus dem Sattel Amykos und dessen Bruder Diores,
traf dann im Fußkampf den einen, der angriff, mit mächtiger Lanze,
doch mit dem Schwerte den andern, enthauptete beide und hängte
beide bluttriefenden Köpfe vor weiterer Fahrt an den Wagen.
Aber Aeneas erlegte in einem Vorstürmen Talus,
Tanais und den tapfren Cethegus, darauf den betrübten
Helden Onites, Enkel Echíons und Sohn Peridías;
Turnus dagegen zwei Brüder aus Lykien, dem Lande Apollos,
weiter den jungen Arkader Menoites, der nunmehr – ganz sinnlos –
Kriege verwünschte; einst trieb er am fischreichen Lerna sein Handwerk,
wohnte in ärmlicher Hütte, fremd den Palästen der Reichen;
nur auf gepachtetem Acker streute sein Vater den Samen.
Wie von zwei Seiten das Feuer, das Landleute legten, die dürre
Waldtrift erfaßt und das Buschwerk mit seinem hellprasselnden Lorbeer,
oder wie hoch von den Bergen in reißendem Absturz die Ströme
gischtsprühend rauschen, das Flachland erreichen und hinter sich eine
Bahn der Verwüstung lassen: ebenso rasten verheerend
beide, Aeneas wie Turnus, über das Schlachtfeld. Entfesselt
tobte die Kampfwut, zu springen drohten die Herzen, die niemals
nachgeben konnten; hemmungslos wurde, nach Kräften, gemordet.
Gegen Murranus, der eines uralten Geschlechtes sich rühmte,
einer nicht endenden Reihe stolzer latinischer Fürsten,
warf jetzt Aeneas ein riesiges Felsstück mit wuchtigem Schwunge,
stieß ihn kopfüber vom Wagen zur Erde; ihn rissen die Räder
unter Riemen und Joch, ihn zerstampften die Rosse, die ihren
Herrn nicht mehr kannten, wild mit den Tritten der wirbelnden Hufe.
Turnus stellte dem Ansturm des grimmig knirschenden Hyllos
sich in den Weg, durchstieß mit dem Speer ihm die goldüberdeckten
[461] Schläfen, und quer durch den Helm stak fest im Gehirn ihm die Waffe.
Kretheus, du tapferster Grieche, dich schützte vor Turnus nicht deine
Rechte – wie auch nicht die eigenen Götter Cupencus beschützten,
als ihn Aeneas angriff; die Klinge durchbohrte die Brust ihm,
keinen Nutzen vermochte der bronzene Schild ihm zu bieten.
Aiolos, dich auch sahen die Fluren der Hauptstadt Laurentum
fallen und weithin mit deinem Rücken den Boden bedecken,
dich, den die griechischen Schlachtreihen nicht überwältigen konnten,
auch nicht der Held, der das Reich des Priamos stürzte, Achilles:
Hier erwartete dich das Ende des Lebens. Am hohen
Ida erhob sich dein Haus, in Lyrnessos, dein Grab bei Laurentum.
Voll aneinandergeraten waren Latiner und Teukrer
nunmehr, Mnestheus, der kühne Serestos, Messapus, der Rosse
meisterhaft bändigte, auch der tapfre Asilas, die Heerschar
der Etrusker, dazu die arkadischen Reiter Euanders.
Jeder der Kämpfenden setzte sich rückhaltlos ein. Kein Verweilen
gab es, kein Ruhen. Man focht in entsetzlich verlustreichem Ringen.
Venus, die Herrliche, brachte den Sohn jetzt auf diesen Gedanken:
schnell mit dem Heere gegen die Mauern Laurentums zu ziehen,
plötzlich durch einen vernichtenden Schlag den Feind zu verwirren.
Während Aeneas im Toben des Kampfes Turnus verfolgte,
spähend nach allen Seiten, erblickte er nämlich die Hauptstadt;
jenseits des Schlachtfeldes lag sie, von keinem gefährdet, ganz ruhig.
Da trat gleich ihm das Bild des entscheidenden Angriffs vor Augen.
Mnestheus berief er, Sergestos, den tapfren Serestos, die Feldherrn,
trat dann auf einen Hügel. Dort strömte die troische Heerschar
gleichfalls zusammen, die Reihen geschlossen, die Schilde und Lanzen
fest in den Händen. Erhöht in der Mitte, erklärte Aeneas:
[462] »Was ich jetzt sage, verträgt kein Zögern. Jupiter hilft uns.
Keiner verhalte sich säumig, weil ich mich so plötzlich entschließe!
Heute zerstöre die Stadt ich, den Kriegsgrund, das Reich des Latinus,
wollen die Feinde den Zügel nicht tragen, des Siegers Befehle
ausführen – mach ich dem Erdboden gleich die qualmenden Bauten!
Soll ich noch warten, bis Turnus geruht, nach einer erneuten
Schlappe sich wieder, besiegt, zum Kampfe zu stellen? Laurentum
bleibt doch der Ursprung, ihr Troer, und Zielpunkt des gottlosen Haders!
Fackeln zur Hand! Erzwingt die Vertragstreue kämpfend, durch Flammen!«
Wetteifernd bildeten gleich die Trojaner einmütig einen
Schlachtkeil zum Angriff und rückten geschlossen gegen die Mauern.
Sturmleitern waren urplötzlich zur Stelle, hell loderten Fackeln.
Bis vor die Tore schon rannte man, schlug die Begegnenden nieder.
Andre verfinsterten schießend mit Speeren und Pfeilen den Himmel.
Unter den ersten reckte Aeneas die Rechte zur Mauer,
zieh mit lautschallender Stimme Latinus des Unrechts. Die Götter
rief er zu Zeugen: Zum zweiten Mal werde zum Kampf er gezwungen,
handelten feindlich Italer, würden Verträge gebrochen!
Zwietracht erhob sich unter den ängstlichen Bürgern. Die einen
wollten die Stadt übergeben, weit öffnen die Tore den Troern,
wollten Aeneas selbst in die Festung einziehen lassen.
Andere griffen zur Waffe, verteidigten weiter die Mauern.
Sollte ein Hirt in zerklüftetem Fels ein gründlich verstecktes
Bienennest aufspüren und es ausräuchern: ebenso ängstlich
wimmeln die Tiere umher dann in ihrem wächsernen Lager,
steigern noch ihre Erregung unter dröhnendem Summen;
beizender Rauch durchwirbelt die Gänge, laut hallen vom dumpfen
Brausen die Felshöhlen wider, Qualm kräuselt sich hoch in die Lüfte.
[463] Weiteres Unheil noch traf die vom Kampfe erschöpften Latiner,
das die gesamte Stadt in tiefe Bestürzung versetzte.
Sah doch die Königin vom Palast aus den Angriff der Feinde,
Sturm auf die Mauern, auch Brandsätze, die in die Dächer schon flogen,
aber zur Abwehr kein Rutulerheer, kein Häuflein des Turnus.
Da überkam der Verdacht die Arme, gefallen im Kampfe
sei schon der Held, und in jäher Aufwallung bitteren Schmerzes
gab sie lautklagend sich selber die Hauptschuld am Wüten des Unglücks,
schrie sich vom Herzen die Not, noch im Wahn der tiefen Betrübnis,
riß dann, zum Sterben entschlossen, ihr Purpurkleid selber in Fetzen,
knüpfte zum Schluß sich am Balken die Schlinge zu schimpflichem Tode.
Als die latinischen Frauen erschüttert den Selbstmord bemerkten,
raufte Lavinia sich als erste ihr Blondhaar, zerfleischte
wild sich die rosigen Wangen. Ihr folgten mit rasendem Jammern
sämtliche andern, laut hallten im Schloß die klatschenden Schläge.
Darauf verbreitete sich in der Stadt die entsetzliche Kunde.
Allen entsank der Mut. Latinus, vom Schicksal der Gattin
wie vom Verderben der Hauptstadt bestürzt, zerriß sich die Kleider,
streute, sich selbst zu entstellen, Schmutz über die silbernen Haare,
machte sich bittere Vorwürfe, nicht den Trojaner Aeneas
längst schon empfangen, dem Staat als Verwandten gewonnen zu haben.
Turnus verfolgte inzwischen, im Kampf am Rande des Schlachtfelds,
langsamer schon die Versprengten des feindlichen Heeres, und seine
Zuversicht sank, je stärker die Kraft der Rosse erlahmte.
Fernes Geschrei trug plötzlich der Windhauch ihm zu, als ein Bote
kaum erklärlichen Schreckens, und wirres Lärmen und dumpfes
Tosen, als traure die Festung, ließen ihn angespannt lauschen.
[464] »Wehe mir, was für ein Jammer verwirrt dort so schrecklich die Hauptstadt?
Was für ein Schreien gellt so laut von den Mauern herüber?«
Außer sich war er und brachte sogleich den Wagen zum Stehen.
Aber die Schwester, die immer noch in der Gestalt des Metiscus
Rosse und Zügel und Fahrzeug ihm lenkte, hielt ihm entgegen:
»Weiter noch, Turnus, wollen wir hier die Dardaner jagen,
wo uns Erfolge den Weg zum Siege am ehesten bahnen!
Andere gibt es, bereit zur Verteidigung unserer Mauern.
Auf die Italer stürzt sich Aeneas und schlägt sich mit ihnen,
während wir hier in den Reihen der Troer mörderisch wüten.
Weder an Truppenstärke noch Kampfruhm bist du im Nachteil.«
Turnus erwiderte:
»Schwester, ich habe schon längst dich erkannt, seitdem du so listig
unsern Vertragsabschluß störtest und selbst in die Kämpfe mit eingriffst.
Jetzt auch verleugnest umsonst du die Gottheit. Wer aber entsandte
dich vom Olympus und ließ dich so bittere Mühsal ertragen?
Solltest den grausamen Tod des armen Bruders du sehen?
Denn ich bemühe mich fruchtlos: Wo bietet Fortuna mir Rettung?
Sah ich mit eigenen Augen Murranus doch, der mich noch anrief –
niemanden gibt es, den höher ich schätze –, sah ihn doch fallen,
ihn, den Riesen, das Opfer auch einer riesigen Wunde.
Unglücklich fiel auch Ufens – den Anblick unserer Schande
sich zu ersparen –, die Teukrer erbeuteten Leichnam und Waffen.
Soll ich den Untergang unserer Hauptstadt erleben – nur dieses
letzte noch fehlt mir! –, nicht Drances durch siegreichen Kampf widerlegen?
Niemals erblicke mein Heimatland einen fliehenden Turnus!
Sterben bedeutet kein Unglück für mich. Seid gnädig mir, Manen,
da ja die Götter des Himmels mir ihre Gnade entzogen!
Makellos will ich und ohne Bewußtsein von Schuld mich zu euren
Stätten hinunterbegeben, der großen Vorfahren würdig.«
Während er sprach noch, sprengte, quer durch das Getümmel der Feinde,
Saces auf schäumendem Rosse heran, verwundet durch einen
[465] Pfeilschuß vorn im Gesicht. Laut rief er den König bei Namen:
»Turnus, nur du kannst Rettung noch bringen, erbarm dich der Deinen!
Blitzstrahlen schleudert gewappnet Aeneas und droht schon, er wolle
stürzen Italiens ragende Burgen, sie völlig vernichten!
Brandsätze fliegen schon in die Gebäude. Dich suchen die Blicke
aller Latiner. Unschlüssig zaudert noch König Latinus,
wen er als Schwiegersohn rufen, mit wem er sich einigen solle.
Außerdem legte die Königin, deine sicherste Stütze,
Hand an sich selber, entzog vor Bestürzung dem Licht sich des Lebens.
Nur noch Messapus leistet, mit ihm der tapfre Atinas,
Widerstand vor den Toren. Die feindlichen Heerscharen haben
dicht sie umringt, gleich eisernen Saaten starren die blanken
Klingen. Du aber durchfährst mit dem Wagen verödete Auen!«
Angesichts dieser Fülle sich häufenden Unglücks erstarrte
Turnus bestürzt, stier blickend und stumm. Ihm wühlten im Herzen
gleichzeitig bittere Scham und Wut und schmerzliche Trauer,
leidenschaftliche Liebe, Bewußtsein des eigenen Wertes.
Aber die Schatten verflogen, frisch regte sich Klarheit des Denkens.
Gleich auf die Mauern richtete er die brennenden Augen,
aufgewühlt, ungestüm, blickte vom Wagen zur Hauptstadt hinüber.
Siehe, dort lohte ein Wirbel von Flammen aufwärts zum Himmel,
leckte von Stockwerk zu Stockwerk empor an dem hölzernen Turme,
den er einst selber aus mächtigen Balken gefügt und errichtet,
unten mit Rädern versehen, mit Fallbrücken ausgelegt hatte.
»Schwester, jetzt siegt das Schicksal, jetzt siegt es. Nicht hemme mich länger!
Folgen will ich, wohin mich der Gott und die harte Fortuna
rufen. Ich soll mit Aeneas kämpfen, im Tode noch alles
Bittere auskosten. Länger nicht wirst du mich unrühmlich zögern
sehen. Doch lasse mich, bitte, vorher die Kampfwut noch stillen!«
[466] Derart sprach er und sprang von dem Wagen zur Erde. Durch Feinde,
durch den Geschoßhagel stürzte er vorwärts, verließ die betrübte
Schwester und bahnte in rasendem Lauf sich den Weg durch die Reihen.
Wie von dem Gipfel des Berges ein Felsblock, vom Sturmwind aus seinem
Lager gerissen, jäh abstürzt – mag er vom Platzregen lange
schon unterspült, vom schleichenden Alter allmählich zermürbt sein –,
wuchtig zur Tiefe, schon selbst ein gefährlicher Berg fast, hinabrast,
aufprallt und hochspringt, Bäume und Vieh und Menschen in seine
Jagd mit hineinreißt: so teilte jetzt Turnus die Kämpfer und stürmte
hitzig zur Stadtmauer hin, wo die Erde vom strömenden Blute
triefte, die Luft von fliegenden Pfeilen und Wurfspießen schwirrte,
schwenkte zum Zeichen die Hand und rief mit hallender Stimme:
»Aufhören, Rutuler – länger nicht schießen, Latiner! Wie immer
sich das Geschick auch wendet: Nur mich betrifft es! Ich selber
sühne für euch den Vertragsbruch und suche im Kampf die Entscheidung,
eine gerechtere Lösung!« So rief er, Platz machten ihm alle.
Vater Aeneas hörte den Namen des Turnus und eilte
ohne Verzug von der Mauer herab, von den ragenden Zinnen,
räumte beiseite, was hemmte, und ließ Begonnenes liegen,
jubelte auf vor Freude und rasselte schrecklich mit seinen
Waffen, gewaltig wie Athos, wie Eryx, ja wie Appenninus,
wenn er mit schwankenden Steineichen rauscht und als Vater der Berge
seiner schneeschimmernden Gipfel sich freut und sich reckt in die Lüfte.
Auf ihn wandten die Blicke voll Spannung Rutuler, Troer,
alle Italer – jene auch, die auf den Mauern die Zinnen
hielten wie jene, die unten den Mauerbrecher bedienten –,
legten die Waffen von ihren Schultern. Latinus auch staunte
über die beiden, den Helden Europas wie jenen aus Asien,
[467] die zum entscheidenden Waffengang antraten gegeneinander.
Freigemacht war schon der ebene Kampfplatz, und ohne zu säumen,
schleuderten beide von weitem im Ansturm die Lanzen, begannen
darauf den Nahkampf, dröhnend mit Schilden und ehernen Klingen.
Durchdringend stöhnte die Erde, die Schwerthiebe fielen mit ständig
steigender Wucht, und Zufall und Tüchtigkeit schmolzen zu einem.
Hoch in dem Silagebirge oder am Kamm des Taburnus
prallen so grimmig zwei Stiere zu hitzigem Kampf mit den Stirnen
gegeneinander. Angstvoll ziehen zurück sich die Hirten.
Stumm verharren die Herden aus Furcht, still bangen die Kühe,
wer im Walde die Macht übernimmt, wem künftig die Tiere
alle gehorchen. Die Kämpfer indessen schlagen sich Wunden,
bohren die Hörner sich wild in die Leiber, lassen vom Blute
Nacken und Flanken triefen. Der Wald dröhnt wider vom Brüllen:
Ebenso stießen der Troer Aeneas und Turnus, des Daunus
Sprößling, die Schilde zusammen; zum Himmel hoch hallte das Krachen.
Jupiter selber stellte zwei Waagschalen jetzt mit den Zünglein
gleichhoch und legte darauf die Lebenslose der Helden,
um zu erkunden, wessen Gewicht zum Tode im Zweikampf
ausschlage. Eben jetzt holte Turnus, den Zeitpunkt für günstig
haltend, den Körper hoch aufgereckt, aus zum Hiebe und führte
wuchtig den Schlag. Aufschrien gespannt die Latiner und Troer,
beide in höchster Erregung. Aber die Klinge versagte
treulos, zerbrach im Aufprall, verriet den feurigen Kämpfer.
Flucht nur vermochte Turnus zu retten; vor Augen den fremden
Schwertgriff, die Rechte entwaffnet, lief er, geschwinder als Oststurm,
fort. Dem Gerücht nach soll er, als er den Wagen zum ersten
Kampfe bestieg, das Schwert des Vaters vergessen und eilig
jenes des Wagenlenkers Metiscus aufgerafft haben.
Dieses versah den Dienst, solange die Teukrer sich kampflos
fliehend zerstreuten; beim Kampf mit den Waffen des Gottes Vulcanus
[468] aber zersprang beim Aufprall die Klinge, die Sterbliche schufen,
brüchig wie Eis; es glänzten die Splitter im bräunlichen Sande.
Kopflos enteilte über die Fläche des Kampfplatzes Turnus,
lief bald im Zickzack, dann wieder im Kreise, ohne bestimmte
Richtung. Umschlossen ihn doch in dichtem Kranz die Trojaner,
dann ein gewaltiger Sumpf und jenseits die ragenden Mauern.
Zäh auf den Fersen blieb ihm Aeneas, obwohl ihn der Pfeilschuß
manchmal noch schmerzte am Knie und ihm das Laufen erschwerte,
setzte dem Fliehenden zornglühend nach und in dichtestem Abstand,
wie wenn ein Jagdhund den Hirsch vor sich herhetzt, wenn diesen ein Flußlauf
hemmte oder die Furcht vor den schwankenden purpurnen Federn,
dicht an den Flüchtling sich hängt mit rasendem Bellen, doch jener,
abgeschreckt wie von dem Hochufer so von den tückischen Netzen,
tausendfach ständig die Fluchtrichtung wechselt, der feurige Umbrer
hechelnd ihm folgt, beinahe die Beute erschnappt schon, die Kiefer
aufsperrt und zuklappt, der Biß ins Leere ihn freilich verspottet!
Nunmehr erhebt sich Geschrei, und Ufer und Seen im Umkreis
hallen laut wider, das Himmelsgewölbe erdröhnt von dem Aufruhr.
Laut schalt Turnus beim Fliehen die Rutuler, nannte sie einzeln
flehend bei Namen, verlangte das eigene, allen bekannte
Schwert zu erhalten. Doch drohte Aeneas mit Tod und Verderben,
falls man dem Bittenden nahe, sogar mit Zerstörung der Hauptstadt,
schreckte die Zitternden, jagte, trotz seiner Verwundung, den Gegner
weiter. Noch fünfmal kreisten sie vorwärts und wiederum rückwärts.
Ging es doch hier nicht um Kampfpreise, wie man sie ausgibt zur Kurzweil
oder bei Spielen; es ging um das Blut, um das Leben des Turnus.
[469] Zufällig hatte ein Ölbaum mit bitterem Laub dort gestanden,
heilig dem Faunus, verehrt einst von Seeleuten; waren sie glücklich
heimgekehrt, pflegten dem Gott von Laurentum sie Gaben zu reichen,
hängten Gewänder dort auf, die Gelübde treu zu erfüllen.
Aber jetzt hatten die Teukrer gefällt den heiligen Ölbaum,
ohne Bedenken, um ausreichend Platz zum Kampfe zu haben.
Dorthin war der Speer des Aeneas geflogen und steckte
tief in den Wurzeln, zäh hielten ihn fest die umklammernden Strünke.
Kraftvoll herausreißen wollte Aeneas nunmehr die Spitze,
wollte durch Speerwurf erlegen den Feind, den im Laufen er schwerlich
einholen konnte. Da flehte Turnus, vor Furcht wie von Sinnen:
»Faunus, erbarme dich, bitte, auch du, erhabene Erde,
haltet die Speerspitze fest, wenn ich immer die Ehren euch zollte,
die jetzt der Haufe des Troers Aeneas im Kampfe entweihte!«
Damit erflehte er nicht vergebens die göttliche Hilfe;
konnte doch König Aeneas trotz langen Kampfs mit der zähen
Wurzel nicht unter stärkster Gewalt den Speer aus der Klemme
ziehen. Und während er grimmig aus Leibeskräften sich mühte,
eilte, erneut in Gestalt des Wagenlenkers Metiscus,
Nymphe Juturna herbei und reichte dem Bruder sein Schlachtschwert.
Venus, verärgert darüber, was dreist sich die Nymphe erlaubte,
trat herzu und entriß dem Geflecht der Wurzeln die Lanze.
Wieder bewaffnet und dadurch ermutigt waren jetzt beide,
traten, der eine dem Schwert vertrauend, der andre die Lanze
ungestüm hochgereckt, an, schweratmend, zur letzten Entscheidung.
Aber der Herr des Olympus, der Stätte der Allmacht, befragte
nunmehr Juno, die hoch von schimmernder Wolke dem Zweikampf
zuschaute: »Worauf läuft es hinaus? Was bleibt jetzt noch übrig?
Weißt du doch schon, nach eigenem Zeugnis: Aeneas, als Heros,
ist für den Himmel bestimmt, zu den Sternen erhebt ihn das Schicksal.
[470] Was noch bezweckst, was erhoffst du, daß du in eiskalten Wolken
still dich verbirgst? Darf etwa der Mensch verwunden die Gottheit?
Darf denn ein Turnus – Juturna vermag nichts ohne dein Zutun! –
wiederbekommen sein Schwert, ein Besiegter noch Kräfte gewinnen?
Halte doch endlich Ruhe und füge dich meinem Ersuchen!
Aufreiben soll dich nicht länger solch bitterer Schmerz, auch nicht länger
qualvoller Gram mich aus deinem lieblichen Munde betrüben.
Stehen wir jetzt doch am Ziel! Du konntest zu Land und zu Wasser
hetzen die Troer und einen entsetzlichen Kriegsbrand entfachen,
eine Familie entehren, durch Trauer die Hochzeit vergällen.
Mache jetzt Schluß, ich befehle es dir!«
Auf Jupiters Mahnung
gab, mit niedergeschlagenem Blick, die Saturnierin Antwort:
»Weil mir dein Streben bekannt ist, erhabener Jupiter, mußte,
wider Willen, ich Turnus und seine Heimat verlassen.
Andernfalls sähest du mich nicht im Himmel jetzt sitzen und alle
möglichen Kränkungen hinnehmen, nein, von Flammen umlodert,
stünde ich mitten im Schlachtgewühl, peitschte die Troer zu harten
Kämpfen! Juturna riet ich, jawohl, dem Bruder in seinen
Nöten zu helfen, und billigte, daß sie sein Leben noch stärker
schützte, nicht freilich durch Einsatz von Waffen, durch Schießen mit Pfeilen,
was ich beschwöre beim Strome der Styx, der niemals versöhnten,
die auch für Götter als einzigartige Schwurzeugin waltet!
Abtreten will ich nunmehr, verlasse voll Abscheu den Kampfplatz.
Eins noch gewähre mir, bitte – es wird nicht vom Schicksal verboten –,
so zu Latiums Gunsten wie auch zur Ehre der Deinen:
Schließen sie, meinetwegen, jetzt Frieden bei glücklicher Hochzeit,
gründen die Einheit gemäß den Bedingungen ihres Vertrages,
laß nicht die Landeskinder den uralten Namen ›Latiner‹
wechseln, sie Troer nicht werden, mit Namen gar ›Teukrer‹ noch heißen,
auch nicht die Muttersprache verlieren, die Volkstracht nicht ändern!
[471] Latium lebe, auch Albas Königtum zahllose Jahre,
unverwandt herrsche das Römergeschlecht dank italischer Tatkraft!
Troja sank, so lasse versunken es sein samt dem Namen!«
Lächelnd entgegnete ihr der Schöpfer der Welt und der Menschen:
»Jupiters wirkliche Schwester bist du, ein Kind des Saturnus:
Derart gewaltig vermagst du, ganz unversöhnlich, zu grollen!
Laß jetzt verrauchen die Wut, du hast sie nicht weiterhin nötig;
deine Wünsche erfülle ich, lasse den Sieg dir, freiwillig.
Muttersprache wie Denkart soll den Ausoniern bleiben,
bleiben der Name auch. Nur als ein Teil des latinischen Volkes
sollen die Teukrer sich ansiedeln. Bräuche und Gottesdienst werde
selber ich stiften, der Sprache nach sie zu Latinern nur machen.
Nachkommen dieser Verbindung mit echt ausonischem Blute
wirst du an Pflichtgefühl Menschen wie Götter einst weit übertreffen
sehen; kein anderes Volk wird Ehren dir zollen wie dieses!«
Zustimmend nickte Juno. Befriedigt wurde sie andern
Sinnes, verließ die Wolke, verschwand vom Himmelsgewölbe.
Anderen Plänen widmete jetzt sich der Vater der Götter,
wollte Juturna trennen von ihrem kämpfenden Bruder.
»Gräßliche« heißen zwei furchtbare Zwillingsschwestern; zusammen
mit dem Unterweltsscheusal Megaera hatte die finstre
Nacht sie geboren; sie waren genauso wie jene mit eklen
Knäueln von Schlangen umwunden und trugen auch windschnelle Flügel.
Dienstbereit warten sie stets an Jupiters Thron, in des harten
Herrschers Palast, und steigern die Angst der elenden Menschen,
falls der Beherrscher der Götter Seuchen und schreckliches Sterben
androht, auch Städte zur Strafe heimsucht mit Schrecken des Krieges.
Jupiter schickte jetzt eine der Schwestern geschwind von dem hohen
Himmel herab, der Juturna vor Augen als Botin von Unheil.
[472] Eilig entflog sie und schoß mit wirbelnden Schwingen zur Erde.
Ebenso gleitet, geschnellt von der Sehne, ein Pfeil durch die Wolken,
den ein Parther oder Kydone mit tödlichem Gifte
tränkte, bevor er ihn abschoß zum Schlagen unheilbarer Wunden;
schwirrend durchsaust er, von keinem gesehen, die flüchtigen Schatten:
derartig flog die Tochter der Nacht und erreichte die Erde.
Als sie das troische Heer und die Scharen des Turnus erblickte,
ließ sie geschwind sich zusammenschrumpfen zur Eule, dem Vogel,
der zuweilen auf Grabstätten hockt und verödeten Dächern,
dabei die nächtlichen Schatten durchgellt mit leidigen Schreien.
Turnus vor Augen, schwirrte das Scheusal bald hierhin, bald dorthin,
streifte dabei auch mit seinen flatternden Schwingen den Schutzschild.
Starres Entsetzen lähmte, wie niemals früher, den Helden,
sträubte die Haare vor Schrecken und ließ die Stimme ihm stocken.
Aber Juturna erkannte von fern schon am Schwirren der Flügel
deutlich die Gräßliche, raufte, in schmerzlichem Mitleid, die Haare,
riß mit den Nägeln ihr Antlitz sich blutig und schlug mit den Fäusten
trommelnd die Brüste. »Wie kann dir, mein Turnus, die Schwester noch helfen?
Was bleibt übrig mir noch, der Geschlagenen? Kann ich dein Leben
irgend verlängern? Kämpfen mit einem so schrecklichen Untier?
Aufgeben muß ich den Widerstand. Steigert, ihr greulichen Vögel,
nicht mein Entsetzen! Ich kenne genau das Rauschen der Schwingen,
diesen todbringenden Laut; die grausame Weisung des edlen
Jupiter höre ich. Lohnt er mir so, was ich preisgab als Mädchen?
Wozu verlieh er mir ewiges Leben? Entzog mich dem Zugriff
lindernden Todes? Ich könnte mich sonst ja vom bitteren Kummer
lösen, ins Reich der Schatten den armen Bruder begleiten!
[473] Ich – unsterblich! Vermag mir mein Leben noch Freuden zu bieten
ohne dich, Bruder? Kann nicht das Erdreich zu hilfreichem Abgrund
aufklaffen, mich, die Göttin, hinab zu den Manen entführen?«
Bitterlich weinend verhüllte die Nymphe ihr Haupt mit dem bläulich
schimmernden Schleier und tauchte hinein in die Tiefe des Stromes.
Aber Aeneas schwang schon die wuchtige, baumlange Lanze
drohend dem Feinde entgegen und rief voll wütenden Hasses:
»Warum noch zögerst du? Willst du dem Zweikampf ausweichen, Turnus?
Nicht mehr im Wettlauf, nein, tödlich mit Waffen gilt es zu streiten.
Schlüpf nur in jede Gestalt und raffe alles zusammen,
was du an Mut noch und Kniffen vermagst – wünsch Flügel dir, steige
hoch zu den Sternen oder versteck dich im Schoße des Erdreichs!«
Turnus erwiderte kopfschüttelnd: »Nicht dein hitziges Schimpfen
schreckt mich, du Rohling, nein, göttliches Walten und Jupiters Feindschaft.«
Damit verstummte er, richtete spähend die Blicke auf einen
uralten, riesigen Feldstein, der zur Markierung der Grenze
dort auf der Ackerflur lag, um die Flächen eindeutig zu scheiden.
Mühsam nur hätten zwölf ausgesucht kräftige Männer aus unsrer
Generation den Block auf den Schultern anheben können.
Turnus indessen packte ihn ungestüm, reckte sich höher,
stürmte zum Anlauf vorwärts und schleuderte ihn auf den Gegner.
Aber er kannte sich selbst nicht wieder im Gehen, im Laufen,
auch nicht im Heben und Schwingen des mächtigen Steines. Die Knie
wankten ihm, eiskalt gerann sein Blut in frostigem Schauer.
Darum durchmaß auch der Felsblock im Flug durch die Luft nicht die ganze
Strecke, gelangte zum Ziel nicht, verwundete gar nicht den Gegner.
[474] Wie wir im Traum, wenn uns einschläfernd nächtliche Ruhe die Augen
schloß, uns einbilden, eifrig, doch zwecklos längere Strecken
laufen zu wollen und trotz erhöhter Anstrengung kraftlos
niederzusinken, die Zunge uns stockt, die genau uns bekannten
Kräfte des Körpers versagen, kein Laut uns gelingt, nicht ein Wörtchen:
derart vereitelte jetzt die gräßliche Göttin dem Turnus
jegliche noch so wackre Bemühung. Seine Gedanken
kreuzten sich wirr, er blickte zur Stadt, zu den Rutulern, schwankte
furchtsam, erzitterte vor dem Drohen der Lanze, erspähte
keinerlei Fluchtweg, auch keinerlei Bahn zu kraftvollem Angriff,
sah auch den Kampfwagen nicht, nicht die Schwester, die sicher ihn lenkte.
Aber da hatte Aeneas bereits den günstigen Zielpunkt
scharf im Visier und schleuderte, unter dem Einsatz des ganzen
Körpers, den tödlichen Speer auf den zaudernden Gegner. So schwirrten
niemals die Blöcke des Mauergeschützes, zischten auch niemals
zuckende Blitze. Die Lanze, Trägerin grausamen Unheils,
flog, vergleichbar der finsteren Sturmbö, durchschlug erst den untren
Rand an dem siebenschichtigen Schutzschild, darauf den verstärkten
Saum des gepanzerten Hemdes und bohrte sich tief in den Schenkel.
Turnus, bezwungen vom wuchtigen Aufprall, sank in die Knie.
Aufschreiend fuhren die Rutuler hoch, rings dröhnten die Berge
alle, und weithin hallten vom Hochwald die Wehklagen wider.
Turnus, am Boden, demütigen Blickes, streckte die Rechte
bittend nach vorn: »Ich verdiene mein Los, erflehe nicht Gnade.
Nutze dein Glück! Und vermag dich das Schicksal meines geprüften
Vaters zu rühren, bitte – du hattest ja selber solch einen
Vater, Anchises –: Erbarm dich des alten Daunus, den Meinen
gib mich zurück jetzt oder, sofern du das vorziehst, den toten
[475] Körper. Du siegtest, mich sehen die Völker Italiens die Hände
heben als völlig Geschlagenen. Dein ist Lavinia. Treibe
aber den Haß nicht zu weit!«
Aeneas stand mit gezücktem
Schwerte, erbittert, mit rollenden Augen. Noch hemmte er seine
Rechte, er schwankte. Schon wollten die Worte zur Milde ihn stimmen.
Aber da glänzte zum Unglück, hoch auf des Geschlagenen Schulter,
prächtig das Wehrgehenk mit den goldenen Buckeln, der Schwertgurt
früher des jungen Pallas, den Turnus besiegt und erschlagen
hatte. Jetzt trug er das herrliche Schmuckstück sich selbst zum Verderben.
Starrte Aeneas doch wie gebannt auf die Beute, ein Mahnmal
wütenden Schmerzes. Dann rief er mit schrecklicher Stimme, von wilder
Rachgier entflammt: »Du willst mir entschlüpfen – und trägst noch die Beute,
die du den Meinen entrissest? Pallas erschlägt dich jetzt, Pallas
sühnt jetzt mit deinem Blut die Verbrechen, die du begingest!«
Damit stieß er, glühend vor Zorn, in die Brust ihm die Klinge.
Unter der Kälte des Todes erschlafften die Glieder des Turnus,
unwillig stöhnend entwich sein Geist hinab zu den Schatten.
[476]

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TextGrid Repository (2012). Vergil. Epos. Aeneis. Aeneis. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-73D0-D