Hermann Sudermann
Heimat
Schauspiel in vier Akten

Personen

[6] Personen.

    • Schwartze, Oberstlieutenant a. D.

    • Magda
    • Marie, seine Kinder aus erster Ehe

    • Auguste, geb. von Wendlowski, seine zweite Frau

    • Franziska von Wendlowski, deren Schwester

    • Max von Wendlowski, Lieutenant, beider Neffe

    • Heffterdingk, Pfarrer zu St. Marien

    • Dr. von Keller, Regierungsrat

    • Professor Beckmann, pensionierter Oberlehrer

    • von Klebs, Generalmajor a. D.

    • Frau von Klebs

    • Frau Landgerichtsdirektor Ellrich

    • Frau Schumann

    • Therese, Dienstmädchen bei Schwartze

1. Akt

1. Szene
Erste Scene
Marie. Therese.

THERESE
geheimnisvoll zur Thür hereinrufend.
Gnädiges Fräuleinchen.
[7]
MARIE
an der Nähmaschine beschäftigt.
Was gibt's?
THERESE.
Halten die alten Herrschaften noch Mittagsruh?
MARIE.
Ist Besuch da?
THERESE.
Nein – es ist wieder – kucken Sie mal da! Trägt ein prächtiges Blumenarrangement herein.
MARIE
erschreckend.

O Gott! Thun Sie's rasch in mein Zimmer, damit Papa nichts – Aber es ist Ihnen doch gestern, als das erste kam, verboten worden, dergleichen anzunehmen?

THERESE.

Ich hab auch den Gärtnerburschen fortschicken wollen, aber ich war grad auf die Leiter geklettert von wegen die Fahne, und da hat er's hingestellt und – weg war er ... Ach, es ist doch eine gottgesegnete Pracht, und wenn ich mir eine Meinung erlauben dürfte, so hat der Herr Lieutenant –

MARIE.
Sie dürfen sich aber keine Meinung erlauben.
THERESE.
Ach so! ... Ja, was ich fragen wollte: Hängt die Fahne so gut?
MARIE
hinausschauend – nickt.
[8]
THERESE.

Und die ganze Stadt ist voll von so 'ne Fahnen und Tannenjirlanden ... Und die teuersten Teppiche hängen man so aus die Fenster ... Doller wie bei Königs Geburtstag ... Und alles wegen das dumme Musikfest ... Gnädiges Fräuleinchen, was ist das eigentlich: ein Musikfest? Ist das was anders wie ein Sängerfest?

MARIE.
Jawohl.
THERESE.
Ist es feiner?
MARIE.
Ja, es ist feiner.
THERESE
respektvoll.
So – ah! – wenn es feiner ist!

Es klopft.
MARIE.
Herein!

Max tritt ein.
THERESE.
Nu darf ich die Blumen wohl drinne lassen.

In sich hineinlachend ab.
2. Szene
Zweite Scene
Marie. Max von Wendlowski.

MARIE.
Max, Sie haben da nette Geschichten gemacht.
[9]
MAX.
Ich verstehe Sie nicht, Marie.
MARIE.
Haben Sie mir etwa diese Blumen nicht geschickt?
MAX.

Donnerwetter! Meine Mittel erlauben mir wohl, Ihnen von Zeit zu Zeit ein Veilchensträußchen à 50 Pfennig zu überreichen. Hiermit hab ich nichts zu schaffen.

MARIE
nach der Klingel gehend.
Und die von gestern?
MAX.
Ebensowenig.
MARIE
klingelt.
Therese erscheint. Werfen Sie die Blumen in die Müllgrube.
THERESE.
Ach, die schönen!
MARIE.

Sie haben Recht! Zu Max. Der Pfarrer würde in diesem Falle sagen: Wenn die Gottesgabe uns nicht freut, so müssen wir wenigstens sorgen, daß andre daran Freude haben. Würd' er das nicht sagen?

MAX.
Das kann schon sein.
[10]
MARIE.

Tragen Sie die Blumen in die Gärtnerei zurück. Es ist doch Zimmermann? Therese nickt. Man möchte sie, wenn möglich, verkaufen und das Geld dem Pfarrer Heffterdingk für die Hospitalkasse schicken.

THERESE.
Jetzt gleich?
MARIE.

Wenn Sie den Kaffee aufgebrüht haben. Servieren werd' ich ihn dann selbst. Therese ab. Welche Beleidigung! Ich brauche Ihnen nicht erst zu versichern, Max, daß ich niemandem einen Schimmer von Berechtigung gegeben habe.

MAX.
Das weiß ich, Marie.
MARIE.

Und Papa war böse ... Getobt hat er ... Weil ich heimlich gedacht habe, Sie wären's, hielt ich stille ... Wenn er den Unglücklichen zwischen die Finger bekäme, dem ging's schlecht.

MAX.
Glauben Sie, zwischen meinen Fingern ging's ihm besser?
MARIE.
Mit welchem Rechte dürften Sie?
MAX
bittend.
Marie! Faßt ihre Hand.
[11]
MARIE
sich sanft losmachend.

Max – ich bitte Sie – nichts davon! Sie kennen jede Falte meines Herzens – aber wir haben Rücksichten zu nehmen.

MAX
seufzend.
Die Rücksichten – ach!
MARIE.

Mein Gott, Sie wissen ja, in welcher Welt wir leben. Ein jeder hat hier vor dem andern Angst, weil jeder von der guten Meinung des andern abhängt ... Sind so ein paar anonyme Blumen schon imstande, mich ins Geklätsch zu bringen, wie viel mehr –

MAX
nickt nachdenklich.
MARIE
die Hand auf seine Schulter legend.
Max, Sie wollten noch einmal wegen der Kaution mit Tante Fränzchen reden.
MAX.
Geschehn.
MARIE.
Und?
MAX
achselzuckend.
Solange sie lebt, keinen Heller.
MARIE.
Es gibt nur einen, der uns helfen könnte!
MAX.
Papa?
[12]
MARIE.
Um Gottes willen. Lassen Sie ihn ja nichts merken. Er wäre imstande, Ihnen das Haus zu verbieten.
MAX.
Was thu' ich denn seinem Hause?
MARIE.

Sie wissen ja, wie er ist seit unsrem Unglück ... Er denkt immer, er habe einen Makel abzuwaschen. Und jetzt gerade, wo die ganze Stadt von Musik widerhallt, wo alles ihn an Magda erinnert –

MAX.
Ei, wenn sie nun eines Tages wiederkäme?
MARIE.
Nach zwölf Jahren. Die kommt nicht wieder. Weint.
MAX.
Marie!
MARIE.
Sie haben recht. Weg damit! Weg damit!
MAX.
Und wer könnte uns helfen?
MARIE.
Wer sonst als der Pfarrer?
MAX.
Ja, richtig, der Pfarrer.
[13]
MARIE.

Der kann ja alles. Der geht ja mit den Menschenherzen um, als ob – Und dann ist er mir immer noch wie ein Verwandter. Er sollte ja mein Schwager werden.

MAX.
Ja, aber sie wollte nicht.
MARIE.
Schelten Sie nicht, Max. Sie hat wohl büßen müssen. Es klingelt. O, vielleicht ist er das.
MAX.

Nein, nein – ich vergaß, Ihnen zu sagen. Der Regierungsrat von Keller hat mich gebeten, ihn heute bei Euch einzuführen.

MARIE.
Ei, ei, was will der?
MAX.

Er möchte sich an den Missions- – na, überhaupt an unsern Anstalten beteiligen. Ich weiß nicht – vielleicht – na, jedenfalls will er morgen der Komiteesitzung beiwohnen.

MARIE.

Ich gehe die Eltern wecken. Therese bringt eine Karte. Bitte! Therese ab. Machen Sie die Honneurs so lange. Ihm die Hand reichend. Und über den Pfarrer reden wir noch?

MAX
lächelnd.
Trotz der Rücksichten?
[14]
MARIE.
Mein Gott – ich bin zudringlich – nicht wahr?
MAX.
Marie!
MARIE.
Nein, nein – reden wir nicht – adieu. Ab.
3. Szene
Dritte Scene
Max. von Keller.

MAX
ihm entgegengehend.
Nehmen Sie für etliche Minuten mit mir vorlieb, lieber Herr von Keller.Händeschütteln.
KELLER.

Aber mit Vergnügen, mein Verehrtester.Sie setzen sich. Unser gutes Nest ist durch die Feier ganz außer Rand und Band geraten. Man könnte beinahe glauben, es läge in der Welt!

MAX
lächelnd.
Ich rate Ihnen, lassen Sie Ihre Meinung nicht laut werden.
KELLER.

Was hab ich denn gesagt? Nein, nein, so müssen Sie das nicht auffassen. Ein solches Mißverständnis, wenn man das weiter verbreitet – –

MAX.
Von mir haben Sie nichts zu befürchten!
[15]
KELLER.
O, das weiß ich ... Das Beste wäre schon, man lernte nie etwas anderes kennen.
MAX.
Wie lange waren Sie fort?
KELLER.

Fünf Jahre war ich draußen. Examen, auf Kommissorien 'rumgeschickt usw. – Na, nun sitz ich wieder hier. – Ich trinke heimisches Bier, ich lasse mir sogar bei heimischen Künstlern meine Röcke bauen, ich habe mich mit Todesverachtung durch sämtliche Rehrücken der Saison hindurchgegessen und nenne das: mich amüsieren. Ja, Jugend, Weiber und Wanderschaft sind schöne Dinge. Aber die Welt will regiert sein und braucht ernste Männer dazu. Auch Ihnen wird die Stunde schlagen, mein werter Freund. Die Jahre der Würde kommen. Ja, ja! Besonders, wenn man ins Konsistorium übergeht.

MAX.
Thun Sie das?
KELLER.

Ich habe die Absicht. – Und um Fühlung mit dem geistlichen Stande zu gewinnen – ich rede ganz offen mit Ihnen – ist es mir von Wert – kurz – ich interessiere mich für die religiösen Fragen. – Ich habe neulich schon durch meinen Vortrag – Sie wissen vielleicht! – dazu Stellung genommen, und gerade die Vereinigung, der dieses Haus angehört – lassen Sie mich Ihnen sagen, wie stolz ich bin. –

[16]
MAX
halb scherzend.
So stolz hätten Sie schon lange sein können.
KELLER.
Verzeihung, bin ich zu empfindlich? Ich lese einen Vorwurf in diesen Worten.
MAX.

Durchaus nicht ... Aber gestatten Sie mir die Bemerkung: Es hat mir bisweilen geschienen – und nicht mir allein –, als ob Sie die Häuser vermieden, in denen die Familie meines Onkels verkehrt.

KELLER.
Ah – ah! Nun, daß ich hier bin, beweist wohl das Gegenteil.
MAX.

Sehr richtig ... Und darum will ich auch ganz offen mit Ihnen reden. Sie sind der Letzte, der mei ner verschollenen Cousine Magda in der Welt draußen begegnet ist.

KELLER
verwirrt.
Wie meinen – –?
MAX.

Nun, Sie selbst haben ja, wie mir gesagt wurde, davon erzählt. Außerdem hat Sie auch mein Freund Heydebrand, der damals auf Kriegsakademie war, mit ihr zusammen getroffen.

KELLER.
So, so, allerdings – ja.
[17]
MAX.

Es war wohl ein Fehler von mir, daß ich Sie niemals offen nach ihr gefragt habe, aber Sie werden diese Scheu erklärlich finden ... Ich fühle mich mit diesem Hause solidarisch und fürchtete, Dinge zu vernehmen, die es beschämen könnten.

KELLER.

O – o – nicht doch – nein! Die Sache ist einfach die: Es war in der Zeit, als ich in Berlin das Staatsexamen machte, da sah ich eines Tages in der Leipziger Straße ein bekanntes – wenn ich so sagen darf – heimatliches Gesicht ... Sie wissen ja, wie man sich dann in der Fremde freut. – Na, wir sprachen dann miteinander – ich erfuhr, daß sie sich für die Oper ausbilde und deshalb aus dem elterlichen Hause gegangen sei.

MAX.

Ah, das stimmt wohl nicht ganz. Sie verließ das Haus, um bei einer alten Dame Gesellschafterin zu werden. Zögernd. Es gab da ein Zerwürfnis mit ihrem Vater.

KELLER.
Wohl eine Heiratsgeschichte?
MAX.

So ungefähr ... Der Alte, der auf der Seite des Bewerbers war, sagte einfach: Entweder du parierst Ordre oder du gehst aus dem Hause.

KELLER.
Und sie ging.
[18]
MAX.

Jawohl. Aber erst als sie nach einem Jahre plötzlich schrieb, sie werde zur Bühne gehn, da kam es zu einem vollständigen Bruche. – Ja, aber was wissen Sie nun weiter?

KELLER.
Das ist wohl alles.
MAX.
Das ist alles?
KELLER.
Gott – e! Dann traf ich sie noch hie und da, z.B. im Opernhause, wo sie einen Freiplatz hatte.
MAX.
Und von ihrem Leben wissen Sie rein nichts?
KELLER
zuckt die Achseln.
Sie haben auch nie etwas von ihr erfahren?
MAX.

Niemals! Jedenfalls bin ich Ihnen von Herzen dankbar und bitte Sie, gegen meinen Onkel, ohne daß er Sie direkt fragt, beileibe nichts von dieser Begegnung zu erwähnen. Er weiß zwar darum, aber der Name der verschollenen Tochter wird in diesem Hause nicht genannt.

KELLER.
O, ich hätte selbstverständlich auch ohnedies die Delikatesse gehabt!
[19]
MAX.
Und was glauben Sie, was aus ihr geworden sein kann?
KELLER.

Ja, wissen Sie, mit der Musik ist das wie mit der Lotterie. Auf zehntausend Nieten kommt ein Gewinst, auf Scharen Untergegangener eine, die Karriere macht ... Ja, wenn man eine Patti wird oder eine Sembrich oder – um bei unsrem Musikfest zu bleiben –

4. Szene
Vierte Scene
Die Vorigen. Schwartze. Dann Frau Schwartze.

SCHWARTZE
Keller die Hand schüttelnd.

Herzlich willkommen in meinem Hause, Herr von Keller.Seine eintretende Frau vorstellend. Herr Regierungsrat von Keller – meine Frau.

FRAU SCHWARTZE.
Bitte doch Platz zu nehmen.
KELLER.

Ich würde es nicht gewagt haben, gnädige Frau, um die Ehre der Einführung zu bitten, wenn nicht gleichzeitig der glühende Wunsch in mir rege gewesen wäre, mich an dem christlichen und gemeinnützigen Werke zu beteiligen, dessen Zentrum und Seele, wie die ganze Stadt weiß, dieses Haus bildet. – Der gute Zweck mag meine Kühnheit entschuldigen.

[20]
SCHWARTZE.

Gott, ich bitte Sie – Sie thun uns ja viel zuviel Ehre an. Wenn von einem Zentrum des Ganzen überhaupt die Rede ist, so kann das niemand sein als eben der Pfarrer Heffterdingk. Er bewegt alles, er regiert alles – er –

FRAU SCHWARTZE.
Sie kennen doch unsren Pfarrer, Herr von Keller?
KELLER.

Ich habe ihn mehrfach reden gehört, gnädige Frau, und bewundre sowohl die Innigkeit seiner Überzeugungen wie sein naives Menschenvertrauen. Aber den Einfluß, den er ausübt, kann ich mir nicht erklären.

FRAU SCHWARTZE.

Ach, Sie werden es lernen. Sein Wesen ist ja so einfach und schlicht. Man sieht es ihm wirklich nicht an. – Aber das ist ein Mann. Der bekehrt alle.

KELLER
höflich.
Nun bin ich es schon beinahe, gnädige Frau.
SCHWARTZE.

Und was uns hier betrifft, lieber Gott! so geh ich eben diese schwachen und nutzlosen Arme dazu her, die groben Arbeiten zu verrichten. Das ist alles. Schließlich liegt es ja auch nah, daß ein alter Soldat das bißchen Mark, das ihm der Thron übriggelassen hat, dem Altar zur Verfügung stellt. – Denn – e – das gehört doch zusammen – nicht wahr?

[21]
KELLER.
Das nenn' ich groß gedacht!
SCHWARTZE.

Bitte, bitte, bitte, aber – ich will mich doch hier nicht aufspielen! – Würde mir recht – e – ja, vor jenen zehn Jahren, als sie mir den Abschied gaben, da war ich noch ein Kerl! Hä! Max, Max – ich glaube, mein altes Bataillon zittert heute noch vor mir – Max – was?

MAX.
Zu Befehl, lieber Onkel –
SCHWARTZE.

Ja, das passiert Euch vom Zivildienst nicht, eure Kräfte vor der Zeit brach gelegt zu sehn ohne – Verschulden. – Brütend. Ohne eine Ahnung von Verschulden! – Dann kam auch noch ein kleines Schlaganfallchen! Gucken Sie mal, wie das noch zittert. Hebt die rechte Hand hoch. Und was da noch übrigblieb, – – – ja – was kann da wohl viel übrigbleiben? Da war es mein verehrter junger Freund Heffterdingk, der hat mir durch Arbeit und Gebet den Weg zu einer neuen Jugend gewiesen. Denn allein hätt' ich ihn nicht gefunden.

FRAU SCHWARTZE.

Glauben Sie ihm nicht, Herr von Keller. Wenn er sich nicht immer verkleinern wollte, er wäre ganz anders anerkannt bis in die höchsten Kreise.

[22]
KELLER.
O, meine Gnädigste! Hoch und niedrig kennt und verehrt Ihren Herrn Gemahl.
SCHWARTZE
aufleuchtend.
So? Ja? – Keine Eitelkeit! Nee, nee, pfui, keine Eitelkeit – die frißt uns ratzenkahl.
FRAU SCHWARTZE.
Ist es denn wirklich so sündhaft, ein bißchen geachtet sein zu wollen?
KELLER.
O!
SCHWARTZE.

Was ist geachtet? – Für dich zum Beispiel ist es, vom Oberpräsidenten durch den Saal geführt zu werden. Oder, wenn die Majestäten hier sind, aufs Schloß zum Thee befohlen zu sein.

FRAU SCHWARTZE.
Du weißt sehr wohl, daß mir das letztere Glück noch nie zu teil geworden ist.
SCHWARTZE.
Na, na, verzeih. Ich kenne ja deinen Schmerz. Ich hätt' ihn schonen sollen.
FRAU SCHWARTZE.

Ja, denken Sie, Herr Regierungsrat, Frau Fanny Hirschfeld, die von den Kinderheilstätten, wurde zu Ihrer Majestät befohlen – und ich wurde nicht befohlen.

[23]
KELLER
bedauernd.
Ah!
SCHWARTZE
streichelt ihr lachend den Kopf.
Wie gesagt, Mutterchen, ratzenkahl!
5. Szene
Fünfte Scene
Die Vorigen. Marie, ein Theebrett mit Kaffeetassen tragend, verneigt sich freundlich vor dem aufstehenden Keller.

SCHWARTZE.
Herr von Keller – meine Tochter – meine einzige Tochter!
KELLER.
Ich hatte bereits das Glück!
MARIE.

Ich kann Ihnen keine Hand zum Willkommen bieten, Herr von Keller. Nehmen Sie statt dessen eine Tasse Kaffee.

KELLER
sich bedienend, mit einem Rundblick.
Ich bin glücklich, daß Sie mich wie einen alten Bekannten des Hauses behandeln.
SCHWARTZE.

Und wenn's an uns läge, so soll bald ein Freund des Hauses daraus werden. – Und das ist keine schöne Redensart, denn ich kenne Sie, Herr Regierungsrat, und in diesen Zeiten, in denen alle Bande der Moral und Autorität zu zerreißen drohen, da ist es doppelt geboten, [24] daß die Männer, die für die gute, alte, sozusagen familienhafte Gesittung eintreten wollen, die nötige Fühlung miteinander bekommen.

KELLER.

Ein ernstes und wahres Wort! Dergleichen hört man nicht mehr auf dem großen Markte, wo die Ideen der Zeit in die beliebte kleine Münze umgesetzt werden.

SCHWARTZE.

Ideen der Zeit! Hähähähä. Ja, ja! Aber kommen Sie in die stillen Heimstätten, wo dem Könige wackere Soldaten erzogen werden und sittsame Bräute für sie. Da wird kein Lärm gemacht mit Vererbung und Kampf ums Dasein und Recht der Individualität – da passieren keine Skandalgeschichten – da schert man sich den Teufel um die Ideen der Zeit, und doch ruht hier die Blüte und die Kraft des Vaterlandes ... Sehn Sie dieses Heim! Da gibt's keinen Luxus – kaum einmal den sogenannten guten Geschmack – verschossene Decken – birkene Möbel – stockige Bilder – und doch – wenn Sie die Abendsonne durch die weißen Gardinen so freundlich auf all das Gerümpel scheinen sehn, sagt Ihnen da nicht ein Gefühl: Hier wohnt das Glück?

KELLER
nickt wie in Ergriffenheit.
SCHWARTZE
vor sich hinbrütend.
Hier könnt' es wohnen.
MARIE
zu ihm eilend.
Papa!
[25]
SCHWARTZE.

Jajaja! Sehn Sie, in diesem Hause herrscht ganz altmodisch noch die väterliche Autorität. – Und wird herrschen, solange ich lebe. Und bin ich denn ein Tyrann? Redet doch! – Ihr müßt's doch wissen!

MARIE.
Du bist der beste, der liebste –
FRAU SCHWARTZE.
Er ist so leicht erregbar, Herr Regierungsrat!
SCHWARTZE.

Seid ihr nicht gut aufgehoben? Halten wir nicht zusammen, wir drei? Und an so was rüttelt nun die Zeit, pflanzt Widerspenstigkeit in die Herzen der Kinder, sät Mißtrauen zwischen Mann und Weib Sich erhebend. und wird nicht eher ruhen, als bis die letzte Heimat in Trümmer sinkt und wir einsam und scheu auf den Straßen herumvagieren wie die verlaufenen Hunde. Sinkt von seiner Erregung ermattet in den Sessel zurück.

FRAU SCHWARTZE.
Du solltest dich nicht so ereifern, Papa – du weißt, das schadet dir. Geht zu ihm.
MAX
macht Keller ein Zeichen.
KELLER
leise.
Gehn?
MAX
nickt.
[26]
KELLER.

Ueber den Gegenstand ließe sich noch manches Interessante plaudern, Herr Oberstlieutenant – ich glaube ja, Sie sehn zu schwarz – aber meine Zeit ist leider –

SCHWARTZE.

Zu schwarz – hä – zu schwarz! Na, nehmen Sie's einem alten Mann nicht übel, wenn er ein bißchen in Hitze gerät.

KELLER.

Jung ist, wer sich entrüsten kann, Herr Oberstlieutenant ... Ich glaube, ich bin ein Greis gegen Sie.

SCHWARTZE.
Na, na! Drückt ihm die Hand.
KELLER.
Gnädige Frau! Gnädiges Fräulein! Ab.
MAX
verabschiedet sich gleichfalls.
SCHWARTZE.
Und grüß mir das Bataillon, mein Sohn.
MAX.
Zu Befehl, lieber Onkel. Ab.
6. Szene
[27] Sechste Scene
Schwartze. Frau Schwartze. Marie.

FRAU SCHWARTZE.
Ein liebenswürdiger Mann.
MARIE.
Zu liebenswürdig beinahe.
SCHWARTZE.
Er war noch eben unser Gast.
FRAU SCHWARTZE
macht Marie ein Zeichen, sie möge in ihren Äußerungen vorsichtig sein.
MARIE.
Befiehlst du deine Pfeife, Papa?
SCHWARTZE.
Bitte, mein Kind.
FRAU SCHWARTZE.

Nun werden ja auch die Herren von der Preferencepartie gleich da sein. Wie gut, daß wir die Rehkeule nicht schon Sonntag gegessen haben. – Man soll doch immer verwahren! Ich hab auch Rotwein holen lassen für den General. Zu 2 Mark 50. Das ist doch nicht zu teuer?

SCHWARTZE.
Wenn er gut ist. – Kommt deine Schwester Franziska heute?
[28]
FRAU SCHWARTZE.
Ich glaub' – ja.
SCHWARTZE.
Sie war wohl gestern zum Oberpräsidenten eingeladen?
FRAU SCHWARTZE
seufzend.
Ja.
SCHWARTZE.

Und wir nicht. Arme Seele! – Sie kann sich übrigens heut vor mir in acht nehmen, wenn sie prahlen will. Murmelnd. Alter Drache – der!

MARIE
die vor ihm kniet, ihm die Pfeife anzuzünden.
Sei gut, Papachen! – Es thut dir keiner was.
SCHWARTZE
sie streichelnd.

Ich bin gut, mein Herzblatt! – Ich freß euch aus der Hand vor lauter Gutsein, aber Sich reckend. das Herz ist mir schwer. Es klingelt, Marie eilt hinaus.

FRAU SCHWARTZE.
Das werden sie sein.
7. Szene
Siebente Scene
Die Vorigen. Generalmajor von Klebs. Professor Beckmann. Marie.

GENERAL.
Meinen untertänigsten Respekt den Damen. Gnädigste Frau. Küßt ihr die Hand.
[29]
FRAU SCHWARTZE.
Seien Sie willkommen, meine Herren.
GENERAL.

Na, mein lieber Oberstlieutenant, immer fidel? – Ja? – Na, liebes Fräulein Mariechen, alles klar zum Gefecht? Rücken Sie da noch ein Klötzchen unter ... So! – Dann kann ja die Geschichte losgehn! – Aber beinahe wären wir zu spät gekommen. – Wir waren nämlich mitten in den Musikfesttrubel reingeraten! – So ein Unfug! – Da hol ich also hier den Schulmeister ab – und – und – wie wir am – am Deutschen Hause vorbeikommen, da steht da ein Menschenauflauf und gafft, als ob da mindestens ein Mitglied des Königlichen Hauses abgestiegen wäre. – Und wer – we – we – weswegen? Eine Sängerin ... Das sind doch, um mich so auszudrücken, Sachen. – Wegen einer Sängerin! Wie heißt doch die Person?

PROFESSOR.
Aber, mein verehrter Herr General, Sie manschen ja heute nur so in Barbarei.
GENERAL.
Wir bekommen einen Tadel, gnädige Frau! Wir ziehn uns eine Rüge zu, gnädige Frau.

Setzen sich.
PROFESSOR.

Aber Sie werden doch die dall'Orto kennen, die große italienische Sängerin, die da draußen die großen Wagnerrollen [30] singt? Das ist ein Glück für uns, daß wir die zum Feste hergekriegt haben. Wenn die nicht wäre –

GENERAL.

So so! Na, was wär' denn, wenn die nicht wäre? Hä? Ich dächte, wenigstens unsre strenggesitteten Kreise halten sich so – nen – sone Sachen vom Halse. Aber seitdem der Oberpräsident zu Ehren dieser Damen Soireen gibt! Und – ja, das is das schönste – das setzt allem die Krone auf! Raten Sie mal, wer steht da heute mitten unter den Enthusiasten und reckt sich den Hals aus? Hä? Nee, Sie raten's doch nicht. Is zu doll. Der Pfarrer.

SCHWARTZE.
Der Pfarrer?
GENERAL.
Ja, ja, ja. Unser Pfarrer.
SCHWARTZE.
Merkwürdig.
GENERAL.

Nun frag' ich Sie, was will der da? Und was wollen die andern da? Und was hat so 'n Fest überhaupt für 'n Zweck?

PROFESSOR.
Nun, ich dächte, die idealen Güter der Nation zu pflegen, das ist eine Aufgabe –
GENERAL.
Wer die idealen Güter der Nation pflegen will, der kann ja einem Kriegerverein beitreten.
[31]
SCHWARTZE.
Nicht jeder hat das Glück, Soldat gewesen zu sein, Herr General.
GENERAL
die Karten ausbreitend.

Man ist eben Soldat gewesen, lieber Oberstlieutenant. Ich kenne keine Leute, ich wünsche keine Leute zu kennen, die nicht Soldat gewesen sind! – Sie geben! – Und diese ganze sogenannte Kunst, Sie weiser Mann Sie – was hat die eigentlich für einen Zweck?

PROFESSOR.
Die Kunst hat den Zweck, den moralischen Sinn im Volke zu erhöhen, Herr General!
GENERAL.

Da haben wir's, gnädige Frau – wir sind geschlagen. – Der Sieger von Königgrätz hat uns geschlagen ... Ich aber sage Ihnen: die Kunst ist eine Erfindung, die sich die Drückeberger zurechtgemacht haben, um im Staate zu etlicher Bedeutung zu gelangen ... Passe!

SCHWARTZE.
Passe!
PROFESSOR
eifrig.
Und wollen Sie etwa behaupten, daß die Kunst – – Ruhig. Neun Pique. Ausrufe des Erstaunens.

Es klingelt. Marie eilt hinaus. General macht eine ungeduldige Bewegung. Schwartze beruhigt ihn. Sie beginnen zu spielen.
8. Szene
[32] Achte Scene
Die Vorigen. Franziska von Wendlowski. Später der Pfarrer.

GENERAL.
Ah! Unser verehrtes Fräulein Franziska.Leise. Nu is Schluß.
SCHWARTZE.
Nee nee nee nee – die schicken wir in den Garten.
FRANZISKA
die sich in einen Stuhl geworfen hat.

Ich bin in einem Echauffement. Ich muß erst etwas Luft schöpfen. Ich bitte, sich vorläufig nicht zu stören, Herr General.

PROFESSOR.
Also – neun Pique.
GENERAL.
Hurrje, da ist ja auch der Pfarrer.
PFARRER.
Wünsche guten Tag. Man begrüßt ihn, indem einer nach dem andern ihm die Hand schüttelt.
GENERAL.
Nanu, Pfarrerchen, seit wann laufen Sie denn den Sängerinnen nach?
PFARRER.
Was thu' ich –? ach so – ja, ich laufe den Sängerinnen nach – das ist jetzt meine Beschäftigung.
[33]
SCHWARTZE.
Aber trotzdem können Sie doch 'ne Partie Preference mitspielen, hä?
PFARRER.

Leider nein ... Ich muß Sie sogar um eine dringende Unterredung bitten, lieber Herr Oberstlieutenant.

GENERAL.
Nanu? Die wird sich doch aufschieben lassen, Pfarrerchen?
FRANZISKA.
O um Gottes willen – das ist so wichtig – das muß sofort –
SCHWARTZE.
Gehört die denn auch dazu – meine Schwägerin?
FRANZISKA.
Die gehört sogar in sehr hervorragender Weise dazu.
GENERAL.
Na – dann können wir ja ruhig wieder gehn.
FRAU SCHWARTZE.
Ach – uns ist ja das furchtbar peinlich –
SCHWARTZE.
Wenn Sie's nicht wären, lieber Pfarrer, der uns da auseinandersprengt –
[34]
FRAU SCHWARTZE.
Aber vielleicht gestatten die Herren Mariechen, daß sie Sie ein wenig in den Garten führt?
GENERAL.

Das geht. Gewiß. Fein. Famos. Schulmeisterlein kleines, das machen wir. Fräulein Mariechen, haben Sie die Gnade und nehmen Sie die Tête.

PROFESSOR.
Aber – die Karten – die bleiben doch liegen? nicht wahr?
GENERAL.
Ja, Sie haben neun Pique. Kommen Sie man. – Ab.
9. Szene
Neunte Scene
Schwartze. Frau Schwartze. Pfarrer. Franziska.

SCHWARTZE.
Nun?
FRANZISKA.

Mein Gott, seht ihr denn nicht meine Aufregung? Gebt mir doch wenigstens ein Glas Wasser. Frau Schwartze bringt es.

PFARRER.

Wollen Sie mir versprechen, lieber Oberstlieutenant, was auch kommen mag, Ihre Ruhe zu bewahren? ... Denn es hängt viel davon ab, das glauben Sie mir.

[35]
SCHWARTZE.
Ja, ja – aber was soll denn –
PFARRER.
Das sagt Ihnen besser Fräulein Franziska.
FRANZISKA
nachdem sie getrunken hat.

Ja, das ist ein Tag. Heute rächt mich das Schicksal. Dieser Mann hat jahrelang meine heiligsten Empfindungen verletzt – er hat mich – aber heute kann ich feurige Kohlen auf seinem Haupte sammeln. Gerührt. Schwager, gib mir deine Hand. Schwester, gib mir deine Hand.

PFARRER.
Verzeihen Sie, liebes Fräulein Fränzchen – ich glaube – Ihre Aufgabe ist so ernst, daß ...
FRANZISKA
schmelzend.

Nicht böse sein ... Nicht böse sein. Ich bin ja so bewegt. Ich – war also gestern beim Oberpräsidenten. Es waren nur der hiesige Adel und die höchsten Beamten eingeladen. – Ihr waret wohl nicht eingeladen?

SCHWARTZE
zornig.
Nein.
FRANZISKA.

So war's doch nicht gemeint ... dieses Mißtrauen. Ich bin ja so bewegt ... Will weinen, fährt aber auf einen Blick des Pfarrers fort. Ja, ja, ja – ich hatt' also mein gelbes Seidenkleid mit den Brabantern an – – die [36] Schleppe hatt' ich mir kürzer machen lassen. – Also wie ich in den Saal trete.Weint. Wer ist da?

SCHWARTZE.
Also – wer ist da?
FRANZISKA
aufschluchzend.

Euer Kind! Magdalena! Schwartze taumelt zurück, vom Pfarrer unterstützt. Frau Schwartze schreit auf. Dann Schweigen.

SCHWARTZE
der sich zuerst faßt.
Pfarrer!
PFARRER.
Es ist wahr.
SCHWARTZE
aufstehend.
Magdalene ist nicht mehr mein Kind.
FRANZISKA.

Aber hör nur zu. – Du wirst gleich andrer Ansicht werden. Beide Arme wirst du ausstrecken nach einem solchen Kind.

SCHWARTZE.
Magdalene ist nicht mehr mein Kind.
PFARRER.
Aber schließlich – denk ich – anhören könnten Sie doch, wie sie gefunden wurde.
SCHWARTZE
verwirrt.
Ja, das kann ich.

Pfarrer winkt Franziska.
[37]
FRANZISKA.

Also – der große Festsaal war drückend voll. Fast lauter fremde Menschen. Da seh ich Excellenz durch den Saal gehn und an seinem Arm eine Dame –

FRAU SCHWARTZE.
An dem Arm von Excellenz?
FRANZISKA.

Mit brünettem Haar und stolz und hochgewachsen. Und rings um sie ein Halbkreis von Menschen wie beim Cercle um Ihre Majestät ... Und plaudert und lacht ... Und jeder, an den sie das Wort richtet, ist beglückt, genau wie bei Ihrer Majestät ... Und sie hat ein halbes Dutzend Orden auf der Schulter, und ein Orangeband mit einer Medaille hat sie um den Hals ... Ich denk' noch, was für eine Fürstlichkeit kann das wohl sein, da dreht sie sich halb um – na, und ich kenn doch Magdas Augen.

SCHWARTZE.
Märchen!
FRANZISKA.
So, da hat man's.
PFARRER.
Lieber Herr Oberstlieutenant, die Sache hat ihre Richtigkeit.
SCHWARTZE.

Wenn Sie das – Die Hände faltend. Sie ist nicht untergegangen. Vater im Himmel, du hast sie nicht untergehen lassen!

[38]
FRAU SCHWARTZE.
Und was ist sie, daß sie so hochgeehrt –?
PFARRER.

Sie ist im Auslande eine große Sängerin geworden und nennt sich mit einem italienischen Namen Maddalena dall'Orto.

FRAU SCHWARTZE.
Hör doch, Leopold, die berühmte Sängerin, von der die Zeitungen immer schreiben, das ist unser Kind.
SCHWARTZE.
Magda ist nicht mehr mein Kind ...
PFARRER.
Ist das nun Ihre innerste Meinung?
FRANZISKA.

Ja, da sieht man, was du für ein Herz hast! – Nimm dir an mir ein Beispiel. Wo sie nur konnte, hat sie mich geärgert, die Kröte, d.h. damals Kröte ... Und jetzt – sie sah mich ja nicht, aber hätte sie mich gesehn – o!

FRAU SCHWARTZE.
Leopold, Excellenz hat sie selbst am Arm geführt!
SCHWARTZE.

Ich aber sage dir – und dir – und Ihnen, Pfarrer, mir wär's lieber, sie hätte in Not und Lumpen vor mir gelegen und mich um Verzeihung angefleht, denn dann [39] hätt' ich doch gewußt, daß sie im Herzen mein Kind geblieben ist ... Warum ist sie in diese Stadt gekommen – hä –? Die Welt war ja groß genug für ihre Triumphe! Dies Provinznest brauchte sie sich nicht zu erobern. Aber ich weiß! – Ihrem armen Teufel von Vater zu zeigen, wie weit man's in dieser Welt bringen kann, wenn man die Kindespflicht mit Füßen tritt, das ist ihre Absicht. Trotz und Dünkel sprechen aus ihr – weiter nichts!

PFARRER.

Lieber Herr Oberstlieutenant, da möchte ich Sie doch fragen: – was spricht aus Ihnen? Etwa das Vaterherz? Nun, darauf werden Sie wohl selber keinen Anspruch machen, denn – – oder vielleicht das gute Recht? Ich glaube vielmehr, Ihr gutes Recht wär' es gewesen, sich ganz einfach an dem Glück Ihres Kindes zu freuen. – Oder vielleicht die gekränkte Sitte? ... Ich weiß nicht – Ihre Tochter hat so viel durch eigene Kraft erreicht, daß die gekränkte Sitte sich am Ende damit zufrieden geben könnte ... Aber mir scheint, aus Ihnen sprechen Trotz und Dünkel, weiter nichts!

SCHWARTZE
auffahrend.
Herr Pfarrer!
PFARRER
freundlich.

Ach, schreien Sie mich nicht an ... das ist ja ganz überflüssig. Wenn ich was zu sagen habe, so muß ich's doch sagen, nicht wahr? ... Und da möcht ich fast glauben, es paßt Ihnen nicht, daß sie wider Ihren Willen so hoch gestiegen ist. Ihr Stolz möchte was zu verzeihen haben, [40] und es ärgert Sie, daß es hier nichts zu verzeihen gibt. Und nun frag ich Sie: Wünschen Sie ernsthaft, daß sie lieber als eine Gefallene, eine Verworfene den Weg in ihren Heimatsort zurückgefunden hätte, und wollen Sie es wagen, diesen Wunsch vor Gottes Thron zu verantworten?Schweigen. Nein, mein lieber, alter, verehrter Freund. Sie haben oft im Scherze gesagt, ich sei Ihr gutes Gewissen, lassen Sie es mich einmal ernsthaft sein. Folgen Sie mir! – Heute noch.

FRANZISKA.
Hätt'st du das nur gesehn, wie sie –

Pfarrer nickt ihr, sie solle still sein.
SCHWARTZE.

Hat sie nur den leisesten Versuch gemacht, sich ihren alten Eltern zu nähern? Hat sie mit einem einzigen Liebeszeichen an ihr Vaterhaus gedacht? Wer bürgt mir dafür, daß meine ausgestreckte Hand nicht mit Hohn zurückgewiesen wird?

PFARRER.
Nun, dafür könnt' ich wohl bürgen.
SCHWARTZE.
Sie? Na, ich denke, Sie hätten zuallererst eine Probe von ihrem unbändigen Trotz erhalten.
PFARRER
betreten.
Daran hätten Sie mich nicht erinnern sollen.
10. Szene
[41] Zehnte Scene
Die Vorigen. Marie mit dem Blumenkorbe. Therese.

MARIE.
Papa, Papa, hör nur, was Therese – Ach, ich störe wohl?
SCHWARTZE
sich sammelnd.
Was gibt es?
MARIE.

Ich hatte heut wieder anonyme Blumen bekommen, und als ich Therese damit zur Gärtnerei zurückschickte, erfuhr sie, daß es kein Herr, sondern eine Dame gewesen ist, die sie bestellt hat ... Und da sie doch nicht mehr verkauft werden konnten, hat sie sie wieder mitgebracht.


Die andern wechseln Blicke.
PFARRER.
Nun sagen Sie mal, Therese, hat man Ihnen diese Dame beschrieben?
THERESE.

Sie ist groß gewesen – mit große, dunkle Augen – und soll sehr was Feines und Fremdländisches an sich gehabt haben.

PFARRER
führt Marie mit dem Blumenkorbe heran und legt Schwartze die Hand auf den Arm.
Sie brauchten ein Liebeszeichen!
SCHWARTZE
die Blumen anstarrend.
Von ihr!
[42]
FRAU SCHWARTZE.
Die kosten ja ein Vermögen.
MARIE.
Nun hat aber Therese noch etwas sehr Merkwürdiges erfahren.
PFARRER.
Na, nun reden Sie mal, Therese. Ganz frisch weg!
THERESE.

Wenn der Herr Pfarrer meinen! Also wie ich wieder 'raufkomme, hält mich der Portier an und erzählt, daß gestern abend um die Schummerstunde eine Ekwipage vor der Thür gehalten hat ... da ist eine Dame dringewesen. Die ist aber nicht ausgestiegen, sondern hat immerzu nach den Fenstern von unsere Wohnung 'raufgesehn, wo eben Licht angesteckt gewesen ist. Und als er gegangen ist, fragen, was sie eigentlich will, da hat sie dem Kutscher was gesagt und der ist rasch zugefahren!Bewegung.

PFARRER.
Es ist gut, Therese! Therese ab.
11. Szene
Elfte Scene
Die Vorigen ohne Therese.

PFARRER.

Verzeihen Sie, liebes Fräulein Mariechen, wenn wir Sie noch einmal als kleines Mädchen behandeln und Sie bitten, uns noch für einen Augenblick allein zu lassen.

[43]
MARIE.
Mir ist so angst bei dem allen, Herr Pfarrer.Bittend. Papa?
SCHWARTZE
verstört auffahrend.
Was, mein Kind?
MARIE.
Papa! – Papa, du weißt, wer diese Dame ist?
SCHWARTZE.
Ich? Nein – ich vermute es nur.
MARIE
aufschreiend.
Magdalena – Magda – Magda ist hier! Auf die Knie fallend. Ach, du verzeihst ihr!
SCHWARTZE.
Steh auf, mein Kind. Deine Schwester steht hoch über meinem bißchen Verzeihung.
PFARRER.
Aber – über Ihrer Liebe steht sie nicht.
MARIE.
Magda ist da! Mein Gott, Magda ist da!Weint am Halse der Mutter.
FRANZISKA.
Holt mir denn keiner ein Glas Wasser? Ich bin ja so bewegt.
[44]
PFARRER.

Haben Sie einen Entschluß gefaßt?Schwartze bleibt unbeweglich. Soll das heißen, Sie lassen sie ihrer Wege gehn, ohne sie –?

SCHWARTZE.
Es wird wohl so sein.
PFARRER.

Ei, wenn Sie in Ihrer Sterbestunde mit einemmale das Verlangen nach Ihrer verlorenen Tochter packt? Wenn Sie sich dann sagen müssen: Sie hat vor meiner Schwelle gestanden, und ich hab ihr nicht zugerufen: Komm herein!

SCHWARTZE
gequält und halb besiegt.
Was wollen Sie von mir? Soll ich mich demütigen vor meinem weggelaufenen Kinde?
PFARRER.
Nein, das sollen Sie nicht ... Ich – ich – werde – zu ihr gehn.
SCHWARTZE.
Sie? Pfarrer, Sie?
PFARRER.

Ich habe heute nachmittag vor ihrem Hotel gewartet, um mich zu überzeugen, ob sich Fräulein Franziska nicht geirrt habe. Um dreiviertel vier ist sie aus dem Tor getreten und in den Wagen gestiegen.

MARIE.
Sie haben sie gesehn?
[45]
FRAU SCHWARTZE.
Wie hat sie ausgesehn? Was hat sie angehabt?
PFARRER.

Die Aufführung hat um vier Uhr begonnen und muß nächstens zu Ende sein. Ich werde sie also im Hotel erwarten und werde ihr sagen, daß sie hier – daß sie hier offene Arme findet ... Das darf ich doch?

MARIE.
Ja, ja, nicht wahr, Papa, ja?
FRAU SCHWARTZE.
Bedenke doch, wer deine Tochter –
SCHWARTZE.

Können Sie mir schwören, daß sich kein schwächlicher und eitler Gedanke in Ihr Handeln einmischt? ... Daß Sie, was Sie thun, im Namen unseres Herrn und Heilandes thun?

PFARRER.
Das kann ich, so wahr er mir helfe.
SCHWARTZE.
Dann geschehe Gottes Wille! Marie stößt einen Freudenschrei aus.
PFARRER
streckt ihm die Hand entgegen.
SCHWARTZE
ihn festhaltend, leiser.
Der Gang wird Ihnen schwer. – Ich weiß! Ihre verlorene Jugend – Ihr Stolz –
[46]
PFARRER.

Ach, lieber Herr Oberstlieutenant, ich hab so die Idee: der Stolz ist ein recht armseliges Ding. Es lohnt wirklich nicht, ihn immerzu im Munde zu führen. Da ist ein alter Vater, dem bring ich seine Tochter – und da ist eine irrende Seele – na, der bring ich eben die Heimat. Ich denke, das ist ganz genug. – Adieu so lang. Ab.

MARIE
will sich jubelnd und weinend dem Vater an die Brust werfen.

Der Vorhang fällt.

2. Akt

1. Szene
Erste Scene
Marie. Therese.

THERESE
trägt eine brennende Lampe herein.
Gnädiges Fräuleinchen! ... Was hat sie bloß immer zu kucken? – Gnädiges Fräuleinchen?
MARIE
die am Fenster gestanden hat, auffahrend.
Was wollen Sie?
THERESE.
Soll ich zu Abendbrot decken?
MARIE.
Noch nicht.
THERESE.
Aber es ist halber acht.
MARIE.
Um halb sieben ist er gegangen. Die Aufführung muß lange aus sein ... Sie wird nicht kommen wollen.
[48]
THERESE.
Wer? Ist noch ein Abendbrotgast?
MARIE.

Nein, nein, nein! Therese will ab. Therese! – Könnten Sie vielleicht noch in den Garten, ein paar Sträuße pflücken?

THERESE.
Können könnt' ich wohl, aber was ich greifen werd, weiß ich nicht ... 's ist ja stockduster.
MARIE.
Ja, ja – Sie können gehn.
THERESE.
Soll ich nu pflücken – oder –?
MARIE.
Nein – danke, nein.
THERESE.
Was hat die bloß? Ab.
2. Szene
Zweite Scene
Marie. Frau Schwartze.

FRAU SCHWARTZE.

Du, Mariechen, ich hab mir für alle Fälle doch die andre Haube aufgesetzt. Die mit den Bändern. Sieh mal, sitzt das so?

[49]
MARIE.
Ja, Mamachen, das sitzt.
FRAU SCHWARTZE.
Ist Tante Fränzchen noch nicht oben?
MARIE.
Nein.
FRAU SCHWARTZE.

Gott, ach Gott! ich hatt' ja die beiden Herren ganz vergessen. – Und Papa hat sich eingeschlossen ... der will nichts hören und sehen. Ach Gott, wenn der General uns böse wird! Das ist ja unser vornehmster Umgang. Das wär' ja ein Unglück.

MARIE.
Wenn er erfährt, um was es sich handelt, Mamachen.
FRAU SCHWARTZE.

Ja – ja – ja. Und der Herr Pfarrer kommt auch gar nicht. Du, Mariechen, noch eins! – Wenn sie dich fragen sollte –

MARIE.
Wer?
FRAU SCHWARTZE.
Na, Magda.
MARIE.
Magda!
FRAU SCHWARTZE.
Wie das so ist zwischen uns beiden – was man so nennt: Stiefmutter – das bin ich doch nicht?
[50]
MARIE.
Ganz gewiß nicht, Mamachen.
FRAU SCHWARTZE.

Siehst du, damals ... ich konnt' mich eben nicht daran gewöhnen, gleich zwei große Töchter zu haben ... Aber das hat sich doch ausgeglichen? Marie nickt. Und wir haben uns doch lieb?

MARIE.
Ja, Mamachen, wir haben uns sehr lieb.Küßt sie.
3. Szene
Dritte Scene
Die Vorigen. Franziska.

FRANZISKA
ängstlich.
Da stört man ja wieder ein lebendes Bild.
FRAU SCHWARTZE.
Was hat der General gesagt?
FRANZISKA.

Der General? – Na, der war schön böse. Uns anderthalb Stunden sitzen zu lassen, das sind Sachen, hat er gesagt. Und in der That, ich muß sagen, das übersteigt –

FRAU SCHWARTZE
kläglich zu Marie.
Siehst du, was hab ich dir – –
[51]
FRANZISKA.

Na, ich hab ja die Sache diesmal noch wieder eingerenkt, so daß die Herren wenigstens im Guten weggegangen sind –

FRAU SCHWARTZE.
Ja? – Ich dank' dir schön, Fränzchen, tausendmal!
FRANZISKA.

Ja, dazu ist man gut genug, Gänge zu gehen und Aschenbrödel zu spielen ... Aber wenn es heißt, zur Familie gehören, eine alte, liebe Tante mit ihrem liebevollen Herzen –

MARIE.
Wer hat dich gekränkt, Tante Fränzchen?
FRANZISKA.

Ja, jetzt kommst du! Aber vorhin, als ich so bewegt war, da hat sich keiner um mich gekümmert. Ja, die Kaution zu zahlen, damit das gnädige Fräulein heiraten können, dazu ist man gut genug –

MARIE.
Tante Fränzchen!
FRANZISKA.
Aber solang ich lebe –
FRAU SCHWARTZE.
Wovon sprecht ihr denn?
[52]
FRANZISKA.
Wir wissen schon, wir beide. Und heute? Wer hat euch eure Tochter gebracht?
FRAU SCHWARTZE.
Noch ist sie ja nicht –
FRANZISKA.

Ich hab' euch eure Tochter gebracht. Und wer hat mir schon dafür gedankt? Und daß ich ihr verziehen habe, wer hat das anerkannt? Denn ich hab' ihr verziehen, ich hab ihr alles – – –

4. Szene
Vierte Scene
Die Vorigen. Therese sehr aufgeregt.

MARIE.
Was ist Ihnen, Therese?
THERESE.
Ich hab solche Bange, gnädiges Fräuleinchen.
MARIE
ängstlich.
Was ist?
THERESE.
Der Wagen.
MARIE.
Welcher Wagen?
THERESE.
Der von gestern abend.
[53]
MARIE.
Ist da? ist da? Läuft zum Fenster. Mama, Mama, komm! Sie ist da – der Wagen – –
FRAU SCHWARTZE.
Wahrhaftig, da steht ein Wagen!
MARIE
an die Thür links pochend.
Papa, Papa! Komm rasch, erbarme dich, komm rasch!

Therese auf einen Wink Franziskas ab.
5. Szene
Fünfte Scene
Franziska. Marie. Frau Schwartze. Schwartze.

SCHWARTZE.
Was gibt es?
MARIE.
Magda – der Wagen!
SCHWARTZE.
Um Gottes willen! Eilt ans Fenster.
MARIE.

Sieh – sieh – wie hoch sie sich aufrichtet! – Wie sie ins Fenster sehn will! Die Hände faltend. Papa! Papa!

SCHWARTZE.
Was willst du damit sagen?
[54]
MARIE
verschüchtert.
Ich – nichts!
SCHWARTZE.

Willst du damit vielleicht sagen, du Ding: Sie hat vor deiner Thür gestanden, und du hast ihr nicht zugerufen: Komm 'rein –? hä?

MARIE.
Ja, das will ich sagen! Das will ich sagen!
SCHWARTZE.

Hör mal, Alte, sie steht vor unsrer Thüre. Wollen wir auch mal unsern Stolz ... wie wär's – was? – holen wir sie?

FRAU SCHWARTZE.
Ach, Leopold, da sie so hochgeehrt ist, könnten wir wohl –
MARIE
aufschreiend.
Sie fährt!
SCHWARTZE.
Nein, nein, sie fährt nicht ... Komm, wir bringen sie ihr.
FRANZISKA.
Ach ja – bringt sie mir auch.

Schwartze und Frau Schwartze ab.
6. Szene
[55] Sechste Scene
Marie. Franziska.

MARIE.

Sie hat sich niedergesetzt! Möcht doch der Wagen bloß nicht! Das dauert – dauert!! – Sie müssen doch schon unten sein. Angstvoll. Da – da – Außer sich rufend. Nicht wegfahren – Magda – Magda, nicht! ...

FRANZISKA.
Schrei doch nicht so! Was ist los?
MARIE.

Sie sieht sich um! Sie hat sie gesehn! Sie läßt halten! Sie reißt den Schlag auf. Sie springt heraus! Jetzt! Jetzt! Sie liegt Vater im Arm! Verbirgt schluchzend ihr Gesicht. Tante Fränzchen! Tante Fränzchen!

FRANZISKA.

Ja, was sollte der Vater nu wohl thun? ... Von allein – na! Aber da ich ihr nu mal verziehen hatte, kann er doch nicht – kann er doch nicht –!

MARIE.

Sie geht zwischen Vater und Mutter! – Ach, wie hoch ist ihre Gestalt! ... Sie kommt, sie kommt! ... Wie werd ich schlichtes, dummes Ding vor ihr bestehn ... – Ich hab solche Angst! Solche Angst! Flieht nach der Wand links.


Pause.
Draußen die Stimmen Magdas und der Eltern.
7. Szene
[56] Siebente Scene
Die Vorigen. Magdalene. Schwartze. Frau Schwartze.

MAGDA
in glänzendem Gesellschaftskostüm, einen weiten Mantel darüber – einen spanischen Schleier über das Haar geworfen – stürzt mit einem Aufschrei auf Marie los.

Meine Mieze! Mein Kleines! Ach, wie ist mein Kleines groß geworden! – Mein Schoßkind – mein – ach! Sie stürmisch küssend. Aber was ist das? Du taumelst ja! Komm, setz dich! Nein, nein, bitte, setzen! Auf der Stelle! Ich will! Führt Marie zu einem Sessel. Die lieben Hände! Die lieben Hände! Kniet vor ihr nieder, küßt und streichelt die Hände. Und so hart! Und so zerstochen! Und blaß ist mein Liebling! Hat Ringe um die Augen!

SCHWARTZE
ihr leise die Hand auf die Schulter legend.
Magda, wir andern sind auch da.
MAGDA.

Ja so – ich bin ganz. –Aufstehend, innig. Mein lieber alter Papa! Ach Gott, wie bist du weiß geworden! Mein lieber Papa! Seine Hand erfassend. Mein lieber – Aber was hast du mit deiner Hand? Die zittert ja!

SCHWARTZE.
Nichts, mein Kind. Frag nicht danach.
MAGDA.

Hm! – Und schön geworden bist du auf deine alten Tage. Ich kann mich gar nicht satt sehn! Ich werde [57] ganz übermütig werden mit einem so schönen Papa. Auf Marie weisend. Die müßt ihr aber besser pflegen ... Sie sieht ja aus wie Milchglas ... Du, nimmst du Eisen? Was? Nein, du solltest Eisen nehmen! Oder aber – Zärtlich. na, wir reden ja noch! – Kinder, denkt euch, ich bin zu Hause! Das ist ja wie ein Märchen. Ja, das war eine herrliche Idee von dir, mich heraufzuholen ohne Aussprache – senza complimenti; denn über die Kindereien von damals sind wir doch alle lang hinausgewachsen. – Was, Papachen?

SCHWARTZE.
Hm, Kindereien?
MAGDA.

Ich wär' auch wahrhaftig von dannen gefahren. So schlecht kann man sein. – Aber das müßt ihr mir doch zugestehn: Gekratzt hab ich an der Schwelle – ganz leise – ganz bescheiden, wie unsre Lady, wenn sie sich 'rumgetrieben hatte. Ja, was macht denn Lady? – Ihr Platz ist ja leer! Wo steckt sie? Lockt.

FRAU SCHWARTZE.
Ach, die ist seit sieben Jahren tot!
MAGDA.

Ah, povera bestia ... Ja, ja, ich vergaß! Und Mama! Ja, mammina! Dich hab ich ja noch gar nicht angesehn ... Wie nett du geworden bist! Damals war noch ein bißchen verspätete Jugend an dir hängengeblieben ... die kleidete dich nicht. Aber jetzt bist du ein liebes altes Frauchen. Man bekommt Lust, den Kopf [58] ganz still in deinen Schoß zu legen. Das werd ich auch. Das wird mir sehr gut thun ... Du, damals haben wir uns manches schöne Mal gezankt. Ach, was war ich für ein widerborstiges kleines Vieh! Na, und du standst auch deinen Mann. Aber nun wollen wir eine Friedenspfeife miteinander rauchen – hä?

FRAU SCHWARTZE.
Geh, du scherzest mit mir, Magda.
MAGDA.

Soll ich nicht? Darf ich nicht? Doch, doch, doch! Es ist ja lauter Liebe, lauter Liebe! Wollen nichts als uns lieb haben. Wollen gut Freund sein – was?

FRANZISKA
die schon lange versucht hat, sich bemerkbar zu machen.
Und wir auch, nicht wahr, meine teure Magda?
MAGDA.

Tiens, tiens! Beäugelt sie prüfend durch ihre Lorgnette. Da sind wir ja auch noch ... Immer mobil? Immer noch Mittelpunkt der Familie?

FRANZISKA.
O das –
MAGDA.

Na, reichen wir uns mal flott die Hände! So! – Zwar ausstehn hab ich dich nie können. Werd's auch nicht lernen. Das liegt uns so im Blute – hä?

[59]
FRANZISKA.
Und ich hatte dir schon alles verziehn.
MAGDA.

Ah? Diese Seelengröße hätt' ich – Und gleich alles verzeihst du – in Bausch und Bogen? ... Auch daß du die Mutter gegen mich aufhetztest, noch eh' sie ins Haus getreten war? Daß du dem Vater – Sich mit der Faust auf den Mund klopfend. Meglio tacere! meglio tacere!

MARIE
die ihr ins Wort fällt.
Um Gottes willen, Magda!
MAGDA.
Nein, mein Liebling – nichts, kein Wort!
FRANZISKA.
Sie hat ein Auftreten!
MAGDA.
Und nun laß mich mal Umschau halten! Mein Gott, alles, wie es war! Kein Stäubchen hat sich gerührt!
FRAU SCHWARTZE.
Ich muß sehr bitten, Magda, du wirst kein Stäubchen finden.
MAGDA.

Das glaub ich, mammina. So war's auch nicht gemeint. Zwölf Jahre! Ohne Spur ... Ja, hab ich denn das alles inzwischen bloß geträumt?

[60]
SCHWARTZE.
Du wirst uns viel zu erzählen haben, Magda.
MAGDA
auffahrend.

Wie? Na, wollen ja sehn ... Wollen ja sehn. Jetzt möcht ich gern – ja, was möcht ich gern? ... Einen Augenblick still sitzen möcht ich ... Das ist alles so über mich gekommen ... Wenn ich bedenke ... Von jenem Fenster bis zu dieser Thür, von diesem Tisch da bis zum Kleiderwinkel oben – das war einstmals meine Welt.

SCHWARTZE.

Eine Welt, mein Kind, über die man nie hinauswächst, nie hinauswachsen darf – das hast du dir doch immer gegenwärtig gehalten?

MAGDA.

Wie meinst du das? – Und was für ein – Gesicht machst du dazu? Ja so – ja. Das war eine Frage zur rechten Zeit! War ich ein Dummkopf! Ach, war ich ein Dummkopf! Mein guter, alter Papa, das wird leider eine kurze Freude werden.

FRAU SCHWARTZE.
Warum?
MAGDA.

Ja, was denkt ihr von mir? Glaubt ihr, ich bin so frei, wie ich aussehe? Eine ganz müde, abgehetzte Magd bin ich, die nur glücklich ist, wenn ihr die Peitsche im Nacken sitzt.

[61]
SCHWARTZE.
Wessen Magd? Welche Peitsche?
MAGDA.

Das läßt sich nicht so sagen, lieber Vater. Ihr kennt meine Art zu leben nicht ... Ihr würdet sie wahrscheinlich auch nicht verstehn. Kurz, jeder Tag, jede Stunde hat ihre Bestimmung weit voraus ... Ja ... und – jetzt muß ich ins Hotel zurück.

MARIE.
Nein, Magda, nein.
MAGDA.

Ja, Mieze, ja ... da sitzen schon lange sechs, sieben Menschen und wollen Audienz. Aber weißt du was, Mi, ich pumpe dich mir aus für diese Nacht ... Nicht wahr, sie darf doch bei mir schlafen?

SCHWARTZE.
Natürlich! Oder wie meinst du – wo schlafen?
MAGDA.
Im Hotel!
SCHWARTZE.
Was? Du willst nicht bei uns wohnen? Die Schande willst du uns machen? ...
MAGDA.
Wo denkt ihr hin? Ich habe ja einen ganzen Hofstaat bei mir.
[62]
SCHWARTZE.
Für diesen Hofstaat, wie du sagst, wird in deinem Elternhause wohl auch noch Platz sein.
MAGDA.

Wer weiß? Denn er ist etwas bunt ... Da ist erstens Bobo, mein Papagei, ein süßes Vieh – der wär' nicht schlimm ... dann meine Kammerkatze Giulietta, ein kleiner Satan – kann aber gar nicht ohne sie leben ... dann mein Kurier – das ist ein Tyrann und der Schrecken aller Hotelwirte ... Na, und dann nicht zu vergessen der gestrenge Herr, mein Gesangsmeister.

FRANZISKA.
Das ist hoffentlich ein ganz alter Mann.
MAGDA.
Nein, aber ein ganz junger Mann.
SCHWARTZE
nach einem Schweigen.
Dann hast du noch eins – deine dame d'honneur – vergessen.
MAGDA.
Welche dame d'honneur?
SCHWARTZE.
Du kannst doch nicht mit einem jungen Manne von Land zu Land reisen, ohne –
MAGDA.

Ah, das beunruhigt euch? – Ich kann, seid unbesorgt, ich kann. In meiner Welt schert man sich um solche Dinge nicht.

[63]
SCHWARTZE.
Was ist das für eine Welt?
MAGDA.

Die Welt, die ich beherrsche, lieber Vater. – Eine andre kann ich nicht brauchen. Was ich tue, schickt sich dort, weil ich es tue.

SCHWARTZE.

Das ist freilich eine beneidenswerte Stellung. Aber du bist noch jung. Es wird Lagen geben, wo du eine Autorität – kurz, wessen Rate folgst du bei deinen Handlungen?

MAGDA.
Es hat niemand das Recht, mir zu raten, lieber Papa.
SCHWARTZE.

Nun, mein Kind, von heute ab nimmt dein alter Vater dies Recht wieder für sich in Anspruch! Hinausrufend. Therese! Theresens Stimme: Ja, Herr Oberstlieutenant. Gehn Sie ins Deutsche Haus und tragen Sie die Sachen des Fräulein –

MAGDA
bittend.
Verzeih, lieber Vater, du vergißt, daß dazu ja meine Befehle nötig sind.
SCHWARTZE.
Wie? ... Ja, es scheint mir, das vergaß ich ... Zieh also in Frieden, meine Tochter.
MARIE.
Magda! – ach, Magda!
[64]
MAGDA
ihren Mantel nehmend.

Hab Geduld, mein Liebling, wir reden noch unter vier Augen. Und morgen kommt ihr zu mir zum Frühstück – gelt? Da schwatzen wir noch mal und haben uns lieb.

FRAU SCHWARTZE.
Wir sollen zu dir?
MAGDA.
Es ist mir lieber, ich hab euch in meinen vier Wänden.
SCHWARTZE.
Die vier Wände eines Hotels.
MAGDA.
Ja, lieber Papa, eine andre Heimat hab ich nicht.
SCHWARTZE.
Und dieses hier?
MARIE.
Siehst du nicht, wie er gekränkt ist?
8. Szene
Achte Scene
Die Vorigen. Der Pfarrer.

PFARRER
tritt ein, stutzt und zwingt seine Bewegung herunter.
MAGDA
ihn lorgnettierend.
Auch der! Schau, schau!
[65]
FRAU SCHWARTZE.
Denken Sie! Sie will schon wieder fort.
PFARRER.
Ich weiß nicht, ob ich – dem gnädigen Fräulein noch bekannt bin.
MAGDA
höhnisch.

Sie unterschätzen sich, Herr Pfarrer. Und da ich Sie alle nun wiedergesehen habe –Hängt ihren Mantel um.

SCHWARTZE
rasch, leise.
Sie müssen sie halten.
PFARRER.
Ich? – Wenn Sie machtlos sind, wie soll –?
SCHWARTZE.
Versuchen!
PFARRER
sich bezwingend – befangen.

Verzeihen Sie, mein gnädiges Fräulein, es scheint wohl zudringlich von mir – wenn ich – wollen Sie mir eine Unterredung von wenigen Minuten schenken?

MAGDA.
Was sollten wir beide uns wohl zu sagen haben, mein verehrter Herr Pfarrer?
FRAU SCHWARTZE.
Ach ja, thu es. – Er weiß ja alles am besten.
[66]
MAGDA
ironisch.
Ah?
MARIE.
Ich werde dich vielleicht nie mehr um etwas bitten, aber dies eine thu mir zuliebe!
MAGDA
streichelt sie und blickt dann überlegend von einem zum andern.
Na, weil das Kind so schön zu bitten weiß! – Herr Pfarrer, ich stehe zu Diensten.
MARIE
dankt ihr stumm.
FRANZISKA
leise zu Frau Schwartze.
Jetzt wird er ihr ins Gewissen reden. Komm!
SCHWARTZE.

Sie waren damals der Grund, daß ich sie aus dem Hause schickte, Sie stehn mir heute dafür, daß sie bleibt.

PFARRER
macht eine Geberde des Zweifels an sich.
SCHWARTZE.
Marie!
MARIE.
Ja, Papa.

Alle ab.
9. Szene
[67] Neunte Scene
Der Pfarrer. Magda.

MAGDA
setzt sich und beäugelt ihn durch ihre Lorgnette.

Hier also ist ein Mann, der es unternimmt, durch eine Unterredung von wenigen Minuten meinen Willen kurz und klein zu brechen ... Und daß man Ihnen dergleichen zutraut, beweist mir, daß Sie ein König sind in Ihrem Reiche. Ich neige mich! – Und nun lassen Sie mal Ihre Künste spielen.

PFARRER.

Mein Fräulein, auf Künste versteh ich mich nicht. Und würde mir auch nicht erlauben – Ihnen – Wenn man mir hier einiges Vertrauen schenkt, so geschieht das, weil man weiß, daß ich nie etwas für mich selbst verlange.

MAGDA
höhnisch.
Das war wohl schon immer so?
PFARRER.

Nein, mein Fräulein. Ich habe einmal in meinem Leben einen großen und innigen Wunsch gehabt ... Der war, Sie zum Weibe zu besitzen. Ich brauche Sie nur anzusehn und dann mich, um zu wissen, daß er eine Vermessenheit war ... Seitdem hab ich mir das Wünschen abgewöhnt.

MAGDA.
Ei, ei, Herr Pfarrer, ich glaube, Sie machen mir den Hof.
[68]
PFARRER.
Mein Fräulein, wenn es nicht unhöflich wäre –
MAGDA.
O, ein Seelenhirte darf selbst unhöflich sein!
PFARRER.
Ich würde Sie alsdann wegen des Umgangs beklagen, den Sie da draußen gehabt haben.
MAGDA
in spöttischer Ueberlegenheit.
So? Was wissen Sie denn von meinem Umgang?
PFARRER.
Ich glaube, er hat Sie verlernen lassen, daß ernste Menschen ernst zu nehmen sind.
MAGDA.

Ah! Aufstehend. Nun, dann werd ich Sie ernst nehmen und Ihnen sagen, daß Sie mir immer unleidlich gewesen sind, Sie mit Ihrer gut gespielten Einfachheit, Ihrer elegischen Milde und Ihrer – ... Seitdem Sie sich aber herabließen, Ihr Auge auf mich dummes Ding zu werfen und mich mit Ihrer Werbung aus dem Hause trieben, seitdem hasse ich Sie.

PFARRER.
Mir scheint vielmehr, ich bin auf diese Weise doch der Anlaß zu Ihrer Größe geworden.
[69]
MAGDA.

Da haben Sie freilich recht. Hier wär' ich verstaubt und vertrocknet ... Nein, nein – ich hasse Sie ja auch nicht! ... Warum sollt' ich Sie viel hassen? Das liegt ja alles weit, weit hinter mir ... Ach, wenn ihr wüßtet, wie weit! ... Ihr habt hier gesessen Tag für Tag in dieser lauen Zimmerluft, die nach Lavendel, Tabak und Magentropfen riecht ... Derweilen hab ich mir den Sturm um die Nase fegen lassen! ... Wenn Sie, Herr Pfarrer, eine Ahnung hätten, was das Leben im großen Stil, Betätigung aller Kräfte, Auskosten jeder Schuld, was In- die-Höhe-Kommen und Genießen heißt, Sie würden sich selbst sehr komisch finden in dieser priesterlichen Unterredung ... Hahahaha! Ah, Pardon ... Ich glaube, seit zwölf Jahren ist solch ein Lachen nicht mehr durch dieses ehrsame Haus gegangen ... Denn hier versteht ja keiner zu lachen! Versteht hier einer zu lachen – hä?

PFARRER.
Nein. Leider nein.
MAGDA.
Leider sagen Sie ... Das klingt ganz treuherzig. Aber wollt ihr es denn nicht so?
PFARRER.
Die meisten von uns können nicht, mein Fräulein.
MAGDA.

Und die es könnten, denen ist das Lachen Sünde. Na, Sie könnten doch. Was fehlt Ihnen? Sie brauchten [70] doch nicht mit dieser Leichenbittermiene in die Welt zu sehn ... Sie haben doch sicherlich eine kleine blonde Frau daheim, die fleißig Strümpfe stopft und ein halbes Dutzend Krausköpfe drum herum. Das ist ja in den Pfarrhäusern so.

PFARRER.
Ich bin ledig geblieben, mein Fräulein.
MAGDA.
Ah! – Schweigen. Habe ich Ihnen damals so wehe gethan?
PFARRER.
Ach, lassen wir das lieber, mein Fräulein. – Das ist ja lange her.
MAGDA
den Mantel fallen lassend.
Und Ihr Beruf – bringt der nicht Freuden genug?
PFARRER.

Gott sei Dank – ja ... Aber wenn man ihn recht ernst nimmt, so lebt man kein eignes Leben dabei – wenigstens ich kann es nicht ... Man kann nicht so aufjubeln im Vollgefühl seiner Persönlichkeit – so meinen Sie es doch? ... Und dann – ich blicke in mancherlei Herzen hinein und man sieht da zu viel Wunden, die man nicht heilen kann, um jemals recht froh zu werden.

MAGDA.

Ein merkwürdiger Mensch sind Sie ... So was kenn' ich nicht ... Wenn ich nur den Verdacht los würde, daß Sie hier Pose stehn.

[71]
PFARRER.
Wollen Sie mir, ehe Sie gehn, eine Frage gestatten, mein Fräulein?
MAGDA.
Bitte!
PFARRER.

Es ist vielleicht eine Stunde her, daß Sie Ihr Heimatshaus betreten haben – nein, nicht einmal – so lange hab ich ja gar nicht auf Sie gewartet.

MAGDA.
Auf mich? Sie? Wo?
PFARRER.
Im Korridor – vor Ihren Zimmern.
MAGDA.
Was wollten Sie da?
PFARRER.
Mein Gang war unnütz, denn nun sind Sie ja hier.
MAGDA.

Wollen Sie damit sagen: Sie haben mich – holen – Sie, dem ich damals so viel –? Wenn jemand ein Interesse hatte, mich fernzuhalten, so sind Sie es doch.

PFARRER.

Ja, sind Sie denn gewohnt, alles, was man um Sie herum thut, als Ausfluß irgendeines selbstsüchtigen Interesses zu betrachten?

[72]
MAGDA.

Natürlich. Bin ja ebenso ... Von einem neuen Einfall gefaßt. Oder aber Sie – nein, zu der Annahme bin ich nicht berechtigt ... Aergerlich. Ach, das gibt's ja alles nicht! ... das sind ja Märchen ... Kindergeschichten vom edlen Manne! Nun, wie dem auch sei, Herr Pfarrer, ich will Ihnen gestehn, Sie gefallen mir jetzt viel, viel besser als damals, da Sie mir – wie sagt man doch? – einen ehrenvollen Antrag machten.

PFARRER.
Hm!
MAGDA.

Wenn Sie mir das doch wenigstens mit einem Lächeln quittieren möchten ... Dieses steinerne Gesicht – das wirkt ja unheimlich man ist ganz sconcertata ... Wie sagt man? Je ne trouve pas le mot.

PFARRER.
Verzeihung, mein Fräulein. Darf ich mir jetzt die Frage gestatten?
MAGDA.

Mein Gott, was ist dieser heilige Mann wißbegierig. Und daß ich mit Ihnen kokettiere, das sehn Sie wohl gar nicht. Denn eines Mannes Schicksal gewesen zu sein, das schmeichelt uns Frauen ... dafür muß man dankbar sein. Sie sehn, derweilen bin ich bei den Künsten angelangt. Also fragen Sie, fragen Sie!

PFARRER.
Warum – warum sind Sie heimgekommen?
[73]
MAGDA.
Aha!
PFARRER.
Das Heimweh war es nicht?
MAGDA.

Nein. Na, vielleicht ein ganz klein – Ich will Ihnen sagen: Als ich in Mailand die Einladung bekam, bei diesem Feste mitzuwirken – warum man mir die Ehre antat, weiß ich nicht –, da fing ein merkwürdiges Gefühl in mir zu bohren an – halb Neugier und halb Scheu – halb Wehmut und halb Trotz – das sagte mir: Geh heim – unerkannt – und stell dich im Dunkeln vor das Haus, in dem die väterliche Zuchtrute über dir geschwungen worden ist – siebzehn Jahre lang. Da weide dich an dir! Wenn sie dich aber doch erkennen, dann zeig ihnen, daß man auch abseits von ihrer engen Tugend was Echt's und Recht's werden kann.

PFARRER.
Also doch nur Trotz?
MAGDA.

Im Anfang – meinetwegen ... Schon auf dem Wege fühlte ich ein merkwürdiges Herzklopfen – wie einstmals, wenn ich meine Lektionen schlecht gelernt hatte ... Und ich hatte immer schlecht gelernt ... Als ich vor dem Hotel stand – dem Deutschen Hause – denken Sie nur – ach! – das Deutsche Haus, wo immer die inspizierenden Generale und die großen Sängerinnen abstiegen, da hatte ich wieder [74] den Riesenrespekt von ehemals, als wär' ich nicht würdig, den alten Kasten zu betreten ... Daß ich nun selber eine sogenannte große Sängerin geworden war, hatt' ich total vergessen ... Von da an bin ich allabendlich um dieses Haus geschlichen – aber ganz weich – ganz demütig – immer zum Weinen geneigt.

PFARRER.
Und trotzdem wollen Sie fort?
MAGDA.
Ich muß!
PFARRER.
Aber –
MAGDA.
Fragen Sie nicht. Ich muß.
PFARRER.
Hat man Ihren Stolz verletzt? Ist so ein Wort wie Verzeihung überhaupt gefallen?
MAGDA.
Das fehlte noch ... Oder ja – doch die alte Schachtel zählt nicht.
PFARRER.
Was kann es also auf der Welt geben, was Sie nach einer Stunde wieder hinaustreibt?
MAGDA.

Ich will Ihnen sagen: Ich fühl es, seit der ersten Minute, daß ich hier bin: die väterliche Autorität streckt [75] schon wieder ihr Fangnetz nach mir aus – und das Joch steht schon bereit, durch das ich kriechen soll.

PFARRER.

Aber hier ist doch kein Joch und kein Fangnetz. Sehn Sie doch nicht Gespenster ... Hier gibt es nichts wie weitgeöffnete Arme, die bloß darauf warten, die verlorene Tochter an die Brust zu ziehn.

MAGDA.

O, ich bitte sehr! davon nichts ... Ein Pendant zum verlorenen Sohne will ich nicht liefern! – Käm' ich als Tochter, als verlorene Tochter wieder, dann ständ' ich nicht so da mit erhobenem Haupte, dann müßte ich im Vollbewußtsein aller meiner Sünden hier im Staube vor euch rutschen. In wachsender Erregung. Und das will ich nicht ... das kann ich nicht ... Mit Größe. denn ich bin ich und darf mich nicht verlieren. – Schmerzvoll. Und darum hab ich keine Heimat mehr, darum muß ich wieder fort, darum – – –

10. Szene
Zehnte Scene
Die Vorigen. Frau Schwartze. Dann Marie.

PFARRER.
Still! Um Gottes willen.
FRAU SCHWARTZE.

Ach Verzeihung, Herr Pfarrer – ich wollte nur hören wegen des Abendbrots.Bittend nach Magda hin, welche [76] abgewandt, die Hände vors Gesicht geschlagen, dasitzt. Wir haben nämlich gerade heute einen warmen Braten – Sie wissen ja, Herr Pfarrer, weil die Herren von der Preferencepartie kommen sollten. – Nicht wahr, Magda, ob du nun weggehst oder nicht, einen Bissen könntest du doch in deinem Elternhause –

PFARRER.
Fragen Sie jetzt nicht, Frau Oberstlieutenant.
FRAU SCHWARTZE.
Ach, wenn ich störe ... ich dachte nur ...
PFARRER.
Später.
MARIE
in der Thür erscheinend.
Bleibt sie?
MAGDA
zuckt beim Klange der Stimme zusammen, ohne sich jedoch zu rühren.
FRAU SCHWARTZE.
Pscht! Ab.
11. Szene
Elfte Scene
Magda. Der Pfarrer.

PFARRER.

Fräulein Magda, Sie haben keine Heimat mehr? – Haben Sie gehört – die alte Frau bettelt und lockt mit dem Besten, was sie hat, wenn's auch nur ein Stück Fleisch ist? ... Haben Sie gehört, wie Mariens Stimme [77] in Thränen zitterte aus Furcht, daß es mir doch vielleicht nicht glücken würde? Die trauen mir viel zu, die glauben, ich brauche nur ein paar Worte zu sprechen. Die ahnen ja nicht, wie machtlos ich hier vor Ihnen steh. Sehn Sie – hinter jener Thür da sitzen drei Menschen, die fiebern in Angst und in Liebe ... Wenn Sie diese Schwelle überschreiten, so werden Sie damit jedem ein Stück Leben aus dem Leibe reißen ... Und Sie wollen behaupten, Sie hätten keine Heimat mehr?

MAGDA.
Wenn ich eine habe, so ist sie nicht hier.
PFARRER
betreten.

Mag sein ... Und trotzdem dürfen Sie nicht fort. Ein paar Tage nur! Bloß um ihnen den Wahn nicht zu rauben, daß Sie hierher gehören. Das sind Sie ihnen doch schuldig!

MAGDA
schmerzvoll.
Ich bin hier niemandem mehr etwas schuldig.
PFARRER.

Nein? Wirklich nicht ... Ja, da muß ich Ihnen von einer Stunde erzählen ... Das sind nun elf Jahre her ... Da wurde ich eines Tages eilig in dieses Haus gerufen, denn der Herr Oberstlieutenant wäre im Sterben. Als ich kam, da lag er ganz steif und starr – und das Gesicht blau und verzerrt – ein Auge war ihm schon gebrochen – in dem andern flackerte noch ein bißchen [78] Leben. Er wollte reden – aber seine Lippen, die klatschten bloß noch aufeinander und lallten.

MAGDA.
Gott im Himmel, was war geschehen?
PFARRER.

Ja, was geschehn war? ... Das werd ich Ihnen sagen: Er hatte eben einen Brief bekommen, in dem seine älteste Tochter sich loslöste von ihm.

MAGDA.
O, mein Gott!
PFARRER.

Es hat lange gedauert bis sein Körper sich von dem Schlaganfall erholte. Nur ein Zittern im rechten Arm, das Sie vielleicht bemerkt haben, blieb davon zurück.

MAGDA.
Also meine Schuld.
PFARRER.

Ach, wenn das alles wäre, Fräulein Magda! – Verzeihung, ich nannte Sie, wie ich Sie früher genannt habe ... Es kam mir so in den Mund.

MAGDA.
Nennen Sie mich, wie Sie wollen. Aber weiter!
PFARRER.

Die notwendige Folge blieb nicht aus. Als er den Abschied erhielt – er will den Grund nicht wahr haben[79] – reden Sie ihm ja nicht davon! – da brach er auch geistig zusammen.

MAGDA.
Ja, ja, ja. Das ist alles meine Schuld!
PFARRER.

Sehn Sie, Fräulein Magda, da begann mein Werk. Wenn ich davon rede, so müssen Sie nicht denken, daß ich vor Ihnen prahlen will ... Was würd' es mir auch nützen? Langsam hab ich ihn geheilt und seine Seele wieder empor – Mit Geste. gehoben ... Erst ließ ich ihn auf den Rosenstöcken die Raupen sammeln –

MAGDA
entsetzt.
Ah!
PFARRER.

Ja, so weit war er – dann gab ich ihm Gelder zu verwalten, und dann machte ich ihn zum Mitarbeiter an den Anstalten, deren Leitung mir anvertraut ist ... Da ist ein Hospital und Suppenanstalten und ein Siechenhaus, und es gibt da immer viel zu thun. – So wurd' er denn wieder zum Menschen ... Auch auf Ihre Stiefmutter hab ich einzuwirken versucht – nicht weil ich nach Einfluß begierig war. Das glauben Sie mir vielleicht ... Kurz, die alte Spannung zwischen ihr und Marien ist allmählich gewichen, Liebe und Vertrauen sind im Hause eingekehrt.

MAGDA
ihn anstarrend.
Und warum thaten Sie das alles?
[80]
PFARRER.

Nun, erstens ist es ja mein Beruf, dann that ich es um seinetwillen, denn ich hab den alten Mann lieb, vor allem – aber – um – Ihretwillen.

MAGDA
weist in erschrockener Frage auf sich.
PFARRER.

Ja, um Ihretwillen, mein Fräulein. Denn ich überlegte mir: Es wird der Tag kommen, daß sie heimkehren wird. Vielleicht als Siegerin – – vielleicht aber auch als Besiegte, zerbrochen, geschändet an Leib und Seele ... Verzeihen Sie mir diesen Gedanken, aber ich wußte ja nichts von Ihnen ... In einem wie im andern Fall sollten Sie die Heimat für sich bereitet finden. – Das war mein Werk, das Werk langer Jahre ... Und nun fleh ich Sie an: zerstören Sie es nicht – Thun Sie's nicht!

MAGDA
schmerzgequält.
Wenn Sie wüßten, was hinter mir liegt, Sie würden mich nicht zu halten suchen.
PFARRER.
Das liegt da draußen. Und hier ist die Heimat. Lassen Sie es. Vergessen Sie es.
MAGDA.
Wie kann ich vergessen? Wie darf ich?
PFARRER.

Warum wehren Sie sich noch, während alles jubelnd die Hände nach Ihnen ausstreckt? ... Es ist ja nichts [81] Schlimmes dabei. Haben Sie doch das bißchen Mut zur Liebe, da alles ringsum von Liebe für Sie überströmt!

MAGDA
weinend.
Sie machen mich wieder zum Kinde!

Pause.
PFARRER.
Und nicht wahr, Sie bleiben?
MAGDA
aufspringend.
Aber man soll mich nicht fragen.
PFARRER.
Was soll man nicht fragen?
MAGDA
angstvoll.
Was ich da draußen erlebt habe. Man würde es nicht verstehn. Niemand. Auch Sie nicht.
PFARRER.
Gut – also auch nicht.
MAGDA.
Und Sie versprechen es mir – für sich – und für jene da drin?
PFARRER.
Ob ich für jene – ja, ich kann's versprechen.
MAGDA
tonlos.
Rufen Sie sie.
12. Szene
[82] Zwölfte Scene
Die Vorigen. Marie. Dann Frau Schwartze, Franziska, Schwartze.

PFARRER
die Thür links öffnend.
Sie bleibt.
MARIE
stürzt aufjubelnd in Magdas Arme.
FRAU SCHWARTZE
umarmt sie gleichfalls.
SCHWARTZE.
Das war deine Schuldigkeit, mein Kind.
MAGDA.

Ja, Vater! Faßt vorsichtig mit beiden Händen seine rechte Hand und führt sie inbrünstig an ihre Lippen.

FRANZISKA.

Na, Gott sei Dank! Nun können wir auch endlich Abendbrot essen! Öffnet die Schiebethür zum Speisezimmer. Man sieht den gedeckten Abendbrottisch, von der grünumschirmten Hängelampe hell erleuchtet.

MAGDA
im Schauen versunken.
Ach, seht mal da! Noch die liebe alte Lampe!

Die Frauen gehen langsam nach hinten.
SCHWARTZE
die Hände ausstreckend.
Na, hören Sie, das war Ihr größtes Werk, Pfarrer!
PFARRER.
Ach, ich bitte Sie! Und es ist auch eine Bedingung dabei.
[83]
SCHWARTZE.
Bedingung?
PFARRER.
Wir dürfen nicht fragen, was sie erlebt hat.
SCHWARTZE
entsetzt.
Was? Was? Ich – soll – nicht –?
PFARRER.

Nein, nein – nicht fragen, nicht fragen, sonst – – – Von dem neuen Gedanken gepackt. Sie wird es – selbst gestehn!


Der Vorhang fällt.

3. Akt

1. Szene
Erste Scene
Frau Schwartze. Franziska. Später Therese.

FRAU SCHWARTZE
aufgeregt.
Gott sei Dank, daß du kommst. Das ist heute morgen ein Trara.
FRANZISKA.
So, so! Aha!
FRAU SCHWARTZE.

Denk dir, da sind zwei Menschen aus dem Hotel gekommen. Ein Herr – sieht aus wie ein Fürst – und ein Fräulein wie eine Prinzessin. Das sind ihre Bedienten.

FRANZISKA.
So ein Aufwand!
FRAU SCHWARTZE.

Und die reden und schreien im ganzen Haus – und beide können kein Deutsch – und kein Mensch versteht [85] sie – und sie reden und reden und reden ... Und die Mamsell hat kommandiert: ein warmes Bad – das war nicht warm genug – und eine kalte Douche, die war nicht kalt genug – und Spiritus, den goß sie einfach durchs Fenster – und Toilettenessig – den gibt's gar nicht.

FRANZISKA.
Solche Ansprüche! – Und wo ist denn eure berühmte Tochter?
FRAU SCHWARTZE.
Die ist nach dem Bade noch einmal ins Bett gegangen.
FRANZISKA.
Solche Liederlichkeit würd' ich nicht leiden in meinem Hause.
FRAU SCHWARTZE.
Ich muß es ihr auch sagen! Schon wegen Leopold! Therese tritt ein. Was willst du Therese?
THERESE.

Der Herr Regierungsrat von Keller – der hat seinen Diener hergeschickt und läßt fragen, ob der Herr Lieutenant schon dagewesen ist und was das gnädige Fräulein auf die Bestellung geantwortet hat.

FRAU SCHWARTZE.
Welches gnädige Fräulein?
THERESE.
Ja, das weiß ich nicht.
[86]
FRAU SCHWARTZE.
Dann sagen Sie nur, wir lassen schön grüßen, und der Herr Lieutenant wäre noch nicht dagewesen.
FRANZISKA.
Er hat bis zwölf Uhr Dienst. Hernach wird er wohl kommen.
THERESE
ab; während sie die Thür öffnet, hört man im Korridor ein Lärmen – eine Männer- und eine Frauenstimme, die in italienischen Lauten miteinander streiten.
FRAU SCHWARTZE.

Nu hör bloß. Zur Thür hinaussprechend. Warten Sie doch nur! Ihre Signora wird ja schon kommen! Wird ja schon kommen! Schließt die Thür. Ach! Zurückkehrend. Und nun das Frühstück! – Was denkst du wohl, was sie trinkt?

FRANZISKA.
Na Kaffee!
FRAU SCHWARTZE.
Nein!
FRANZISKA.
Also Thee?
FRAU SCHWARTZE.
Nein ...
FRANZISKA.
Am Ende gar Schokolade?
FRAU SCHWARTZE.
Nein – aber Kaffee und Schokolade zusammengerührt.
[87]
FRANZISKA
entsetzt.
Das ist ... Aber gut muß es schmecken.
FRAU SCHWARTZE.

Und gestern sind noch ein halbes Dutzend Koffer aus dem Hotel gekommen. Und ebensoviel sind noch dort – – Ach, was da alles drin war! Ein Koffer allein für die Hüte! Und Pudermäntel ganz von echten Spitzen – und durchbrochene Strümpfe mit Goldstickerei und – Leiser. seidene Hemden –

FRANZISKA.
Was? Seidene – –?
FRAU SCHWARTZE.
Ja!
FRANZISKA
die Hände über dem Kopf zusammenschlagend.
Das ist ja Sünde!
2. Szene
Zweite Scene
Die Vorigen. Magda.

MAGDA
in glänzender Morgentoilette – spricht hinaus, indem sie die Thür öffnet.
Ma che cosa volete voi? Perchè non aspettate, finchè vi commando? ... Hä?
FRAU SCHWARTZE.
Jetzt kriegen die ihr Teil.
[88]
MAGDA
erzürnt.

No, no – è tempo! Die Thür zuschlagend, für sich. Va – brutto! Guten Morgen, Mamachen! Küßt sie. Langschläferin bin ich – was? Ah, guten Morgen, Tante Fränzchen. Gut gelaunt – hä? – Ich auch.

FRAU SCHWARTZE.
Was wollte der fremde Herr, Magda?
MAGDA.

Ach das dumme Tier! Wissen, wann ich abreise, will das Tier. Wie kann ich das wissen?Sie streichelnd. Nicht wahr, mamma mia? ... Ach, Kinder, geschlafen hab ich – das Ohr aufs Kissen und weg – wie geköpft! – Und die Douche heut war so schön eisig. – Eine Kraft hab ich – Allons cousine – hopp! Faßt Franziska um die Taille und wirft sie in die Höhe.

FRANZISKA
wütend.
Aber was erl–?
MAGDA
hochmütig verwundert.
Hä?
FRANZISKA
katzenfreundlich.
Du bist so scherzhaft!
MAGDA.
Wer weiß? In die Hände klatschend. Frühstück!
3. Szene
[89] Dritte Scene
Die Vorigen. Marie.

MAGDA
ein Tablett mit Kaffeezeug tragend.
Guten Morgen!
FRANZISKA.
Guten Morgen, mein Kind.
MAGDA.
Ich sterbe vor Hunger – haaa! Klopft sich auf den Magen.
MARIE
küßt Franziska die Hand.
MAGDA
den Deckel abhebend, freudig.
Famos – ah! Man merkt, Giulietta hat Wirtschaft geführt.
FRANZISKA.
Wenigstens Lärm genug hat sie gemacht.
MAGDA.

Schadet nichts! Ein guter Skandal ist schon die halbe Morgensonne. Und wenn sie's zu toll treibt, werft ihr nur ruhig einen Teller oder so was an den Kopf ... das ist sie schon gewöhnt. Wo steckt Papa?

FRAU SCHWARTZE.
Er macht eine Entschuldigungsvisite bei den Herrschaften des Komitees.
MAGDA.
Besteht euer halbes Leben immer noch aus Entschuldigungen? Was ist denn das für ein Komitee?
[90]
FRAU SCHWARTZE.

Es ist der christliche Hilfsverein. Der sollte heute vormittag in unserem Hause eine Sitzung haben. Nun haben wir uns gedacht, es wäre doch unpassend, wenn wir die Herrschaften gerade heute herkommen ließen. Es sähe so aus, als wenn wir dich präsentieren wollten.

FRANZISKA.
Aber Auguste! Jetzt sieht es doch so aus, als ob euch eure Tochter wichtiger ist –
MAGDA.
Na ich hoffe, das ist sie auch.
FRAU SCHWARTZE.

Gewiß! ja! Aber – o Gott! – du weißt ja gar nicht, was das für Leute sind: Die verlangen die strengsten Rücksichten. – Da ist zum Beispiel die Frau Generalin von Klebs. Stolz. Mit denen verkehren wir.

MAGDA
mit geheucheltem Respekt.
So! Ah!
FRAU SCHWARTZE.

Nun werden sie ja wohl morgen kommen. Da wirst du neben der Frau Generalin noch einige andre vornehme und gottesfürchtige Damen kennenlernen, deren Umgang uns sehr viel Ansehn verschafft hat. Ich bin doch neugierig, wie du ihnen gefallen wirst.

MAGDA.
Wie sie mir gefallen werden, willst du sagen.
[91]
FRAU SCHWARTZE.
Ja – das heißt – – – Aber wir schwatzen und schwatzen –
MARIE
aufstehend.
Ah verzeih, Mamachen.
MAGDA.
Nein, du bleibst hier.
FRAU SCHWARTZE.
Ja, Magda, und deine Koffer im Hotel. Ich habe ewig Angst, daß da was wegkommt.
MAGDA.
Laßt sie doch holen, Kinder.
FRANZISKA
leise zu Frau Schwartze.
Du, Auguste, jetzt werd ich sie ins Gebet nehmen. Da paß mal auf.

Frau Schwartze ab.
FRANZISKA
sich setzend, wichtig.
Und nun, meine liebe Magda, wirst du deiner alten Tante mal ausführlich erzählen. –
MAGDA.
Hä? ... Ach du! Mama braucht so nötig Hilfe! – Geh, geh! Mach dich nützlich!
FRANZISKA
giftig.
Wenn du befiehlst!
[92]
MAGDA.
Ich habe nur zu bitten.
FRANZISKA
aufstehend.
Aber du bittest etwas energisch, find ich.
MAGDA
lächelnd.
Jawohl.

Franziska wütend ab.
4. Szene
Vierte Scene
Magda. Marie.

MARIE.
Aber Magda!
MAGDA.

Ja, mein Herz! So bin ich durch die Welt gekommen. – Biegen oder brechen; das heißt, ich bieg mich nicht. Mach's ebenso!

MARIE.
Ach, du mein lieber Gott!
MAGDA.

Armes Kind! Ja, ja, in diesem Hause verlernt man dergleichen. Hab ich mich doch schon gestern schändlich biegen müssen ... Du – aber unser altes Mamachen da – die ist ganz nett. Nach dem Bilde der Mutter emporweisend, in ernstem Sinnen. Und die da oben! ... Besinnst du dich auf sie?

MARIE
schüttelt den Kopf.
[93]
MAGDA
sinnend.

Starb zu früh! ... Wo bleibt Papa? Mir ist bange nach ihm! Und bange vor ihm ... Jetzt, mein Kindchen, jetzt wird gebeichtet.

MARIE.
Ich kann nicht.
MAGDA.
Zeig mir mal das Medaillon!
MARIE
entschlossen.
Da!
MAGDA
öffnend.
Ein Lieutenant. Natürlich! Bei uns ist's immer ein Tenor.
MARIE.
Ach, Magda, das ist kein Scherz. Das ist mein Schicksal.
MAGDA.
Wie nennt sich denn dieses Schicksal?
MARIE.
Vetter Max ist's.
MAGDA
pfeift.
Warum heiratest du denn den guten Jungen nicht?
MARIE.

Tante Fränzchen wünscht eine bessere Partie für ihn und gibt ihm darum die Kautionssumme nicht, die er haben muß. Solche Abscheulichkeit!

[94]
MAGDA.
Si. C'est bête, ça! Und wie lange liebt ihr einander?
MARIE.
Ach, das ist schon gar nicht mehr wahr.
MAGDA.
Und wie trefft ihr euch?
MARIE.
Hier im Hause.
MAGDA.
Ich meine – abseits – unter vier Augen.
MARIE.

Wir haben keine Heimlichkeiten miteinander. Ich glaube, diese Rücksicht ist man sich und seiner Würde schuldig.

MAGDA.

Komm mal her ... Ganz dicht ... Sag mal aufrichtig ... Ist dir nie der Gedanke gekommen, diesen ganzen Plunder von Rücksicht und Würde von dir abzuschütteln und mit dem geliebten Manne auf und davon zu gehn – irgendwohin – ganz egal – und wenn du dann still daliegst, an seine Brust geschmiegt, ein – Hohngelächter anzustimmen über die ganze Welt, die hinter dir versunken ist?

MARIE.
Nein, Magda, solche Gedanken kommen mir nicht.
[95]
MAGDA.
Aber sterben würdest du für ihn?
MARIE
aufstehend und die Arme ausbreitend.
Tausend Tode würd' ich für ihn sterben.
MAGDA.

Mein armer Liebling! Vor sich hin. Alles machen sie zunichte. Von der gewaltigsten aller Leidenschaften bleibt in ihrer Hand nichts übrig als so ein blasses, entsagendes bißchen Sterben-wollen.

MARIE.
Von wem sprichst du?
MAGDA.
Nichts, nichts! Du – wieviel macht denn diese sogenannte Kaution?
MARIE.
Sechzigtausend Mark.
MAGDA.
Wann möchtest du heiraten? Muß es jetzt gleich sein, oder hat es bis Nachmittag Zeit?
MARIE.
Treib doch keinen Spott mit meinem Kummer.
MAGDA.

Wenigstens Zeit zum Depeschieren mußt du mir doch lassen. Man kann doch so viel Geld nicht immer bei sich tragen.

[96]
MARIE
versteht langsam und sinkt dann mit dem jubelnden Aufschrei.
Magda! Zu ihren Füßen nieder.
MAGDA
nach einem Schweigen.

Werde glücklich – liebe deinen Mann! – Und wenn du dein Erstes stolz auf deinen erhobenen Armen der Welt ins Gesicht hältst – Mit zorniger Emphase die Hände ausstreckend. so ins Gesicht! – dann denke an eine, die ... Ach du glückseliges Menschenkind!Erschreckend. Man kommt! Steh auf!

5. Szene
Fünfte Scene
Die Vorigen. Der Pfarrer mit einer Mappe.

MAGDA
ihm entgegengehend.
Ah! Sie sind's. Das ist schön. Sie fehlten mir.
PFARRER.
Ich? – Wozu?
MAGDA.
Nur so ... Ich möcht mit Ihnen schwatzen, Sie heiliger Mann.
PFARRER.
Also es thut gut, Fräulein Magda, wieder in der Heimat sein?
MAGDA.
O ja – bis auf die alten Tanten, die da rumkriechen.
[97]
MARIE
die das Frühstückszeug zusammenräumt, erschrocken lachend.
Ach Gott, Magda!
PFARRER.
Guten Morgen, Fräulein Mariechen.
MARIE.
Guten Morgen, Herr Pfarrer. Mit der Tablette ab.
6. Szene
Sechste Scene
Magda. Der Pfarrer.

PFARRER.
Lieber Gott, wie sie strahlt!
MAGDA.
Hat auch Ursache dazu!
PFARRER.
Ist Ihr Herr Vater nicht da?
MAGDA.
Nein.
PFARRER.
Geht's ihm nicht gut?
MAGDA.

Ich danke. Hab ihn noch nicht gesehen. Gestern saßen wir noch lange beisammen. Was man so erzählen [98] kann, erzählt' ich. Aber ich glaube, er quält sich sehr. Seine Augen forschen immer und lauern. O, ich fürchte, Ihr Versprechen erfüllt sich schlecht.

PFARRER.
Das klingt wie ein Vorwurf für mich. – Ich hoffe, Sie bereuen nicht, daß –
MAGDA.

Nein, mein Freund, ich bereue nicht. Aber es geht merkwürdig zu in mir. Ich sitze wie in einem lauen Bade, so weich und warm ist mir. Das sogenannte deutsche Gemüt, das spukt wieder, und ich hatt's mir schon so schön abgewöhnt. Mein Herz, das sieht aus wie eine Weihnachtsnummer der Gartenlaube. – Mondschein, Verlobung, Lieutenants und was weiß ich! Aber das Schöne dabei ist: Ich weiß, ich spiele nur mit mir. Ich kann es wegwerfen, wie ein Kind seine Puppen wegwirft, und bin wieder die Alte.

PFARRER.
Das wär' nicht gut für uns.
MAGDA.

Ach, ich bitte Sie, quälen Sie mich nicht. Es ist ja alles wund und aufgewühlt in mir. Und dann hab ich eine Angst –

PFARRER.
Wovor?
MAGDA.

Ich durfte nicht ... Gar nicht herkommen durft' ich. Ich bin eine Einbrecherin. Leise, angstvoll. Es braucht [99] nur ein Gespenst von da draußen hier aufzutauchen, und dies Idyll geht in Flammen auf.

PFARRER
unterdrückt ein Zusammenzucken des Erschreckens.
MAGDA.

Und eng ist mir – eng – eng. – Ich fange an, Feigheiten zu begehn. Denn ich muß mich künstlich kleiner machen, als ich bin, je mehr ich diese Gefühle großziehe.

PFARRER.
Schämen Sie sich ihrer, Fräulein Magda? Der Kindesliebe kann man sich doch nicht schämen, denk ich.
MAGDA.

Kindesliebe? Ich möchte diesen eisgrauen Kopf am liebsten in meinen Schoß nehmen und sagen: Du altes Kind du. Und trotzdem muß ich mich ducken ... Ich mich ducken! Das bin ich nicht gewohnt. Denn in mir steckt ein Hang zum Morden – zum Niedersingen. – Ich singe so, oder ich lebe so, denn beides ist ein und dasselbe – daß jeder Mensch wollen muß wie ich. Ich zwing ihn, ich kneble ihn, daß er liebt und leidet und jauchzt und schluchzt wie ich. Und wehe dem, der sich da wehren will! Niedersingen – in Grund und Boden singen, bis er ein Sklave, ein Spielzeug wird in meiner Hand. Ich weiß, das ist dumm, aber Sie verstehn schon, was ich meine.

PFARRER.
Das Aufprägen der eigenen Persönlichkeit, das meinen Sie – nicht wahr?
[100]
MAGDA.

Si, si, si, si! Ach, Ihnen möcht' ich alles sagen. Sie thun es nicht für sich. Ja, Sie wissen vielleicht gar nicht, wie mächtig Sie sind. Und das ist schön, das ist tröstlich ... Die Männer da draußen sind Bestien, gleichviel, ob man sie liebt oder haßt. Aber Sie sind ein Mensch. Und man fühlt sich als Mensch in Ihrer Nähe. Sehn Sie, als Sie gestern hereinkamen, da schienen Sie mir so klein. – Aber es wächst etwas aus Ihnen heraus und wird immer größer, beinahe zu groß für mich.

PFARRER.
Du lieber Gott, was könnte das wohl sein?
MAGDA.

Wie soll ich's nennen – Selbsthingabe – Selbstentäußerung. Es ist etwas mit Selbst – oder vielmehr das Gegenteil davon. – Das imponiert mir. Und darum könnten Sie viel aus mir machen.

PFARRER.
Wie das seltsam ist!
MAGDA.
Was?
PFARRER.

Ich will's Ihnen gestehn ... Es ist – es ist ja Unsinn ... Aber seit ich Sie gestern abend wiedersah, [101] da ist eine Art von Neid in mir erwacht, zu sein wie Sie!

MAGDA.
Hahaha! Sie Mustermensch! Zu sein wie ich.
PFARRER.

Ja – ich – habe – vieles – abtöten müssen in mir – in meiner Seele. Mein Frieden, der ist wie der eines Leichnams. Und wie Sie gestern vor mir standen in Ihrer Ursprünglichkeit, Ihrer naiven Kraft, Ihrer – Ihrer Größe, da sagt' ich zu mir: Das ist das, was du vielleicht hättest werden können, wenn zur rechten Zeit die Freude in dein Leben getreten wäre.

MAGDA
flüsternd.

Und noch eins, mein Freund: die Schuld. Schuldig müssen wir werden, wenn wir wachsen wollen. Größer werden als unsre Sünde, das ist mehr wert als die Reinheit, die ihr predigt.

PFARRER
betroffen.
Das wäre Ihr –

Draußen Stimmen.
MAGDA
zuckt zusammen, lauscht.
Scht!
PFARRER.
Was haben Sie?
MAGDA.

Ach, es ist bloß die dumme Angst! – Nicht um meinetwillen, das glauben Sie mir – nur aus Mitleid [102] für diese da. Seine Hand umklammernd. Aber Freunde bleiben wir?

PFARRER.
Solang Sie mich brauchen können.
MAGDA.
Und wenn ich Sie nicht mehr brauche?
PFARRER.
Für mich ändert das nichts, Fräulein Magda.

Will gehen, trifft in der Thür mit Schwartze zusammen.
7. Szene
Siebente Scene
Die Vorigen. Schwartze.

SCHWARTZE.

Guten Morgen, mein lieber Pfarrer! Gehn Sie nur voraus in die Laube. Ich komme nach. Pfarrer ab. Nun, hast du gut geschlafen, mein Kind? Küßt sie auf die Stirn.

MAGDA.
Famos. In meiner alten Kammer fand sich auch mein alter Kinderschlaf.
SCHWARTZE.
Den hattest du verloren?
MAGDA.
Nun, du nicht?
[103]
SCHWARTZE.
Man sagt, ein gutes Ge – – – Komm zu mir, mein Kind.
MAGDA.

Gern, Papa. – Nein, laß mich zu deinen Füßen sitzen. Da hab ich deinen schönen weißen Bart dicht vor mir. – Wenn ich ihn seh, muß ich immer an die Weihnachtsnacht denken und an stille, eingeschneite Felder.

SCHWARTZE.

Mein Kind, du weißt deine Worte schön zu setzen ... Wenn du sprichst, glaubt man ringsum Bilder zu sehn. Hierorts ist man nicht so gewandt ... Dafür braucht man auch hier nichts zu verheimlichen.

MAGDA.
Da wären wir also ... Sprich dich ruhig aus, Papa.
SCHWARTZE.
Ja, das muß ich ... Du weißt sehr wohl, welche Bedingung du dem Pfarrer für mich aufgetragen hast.
MAGDA.
Die du halten wirst?
SCHWARTZE.

Was ich verspreche, pfleg ich zu halten. Aber siehst du, der Argwohn – ich kann machen, was ich will, aber der Argwohn, der liegt wie ein Alp – –

MAGDA.
Na, was argwöhnst du?
[104]
SCHWARTZE.

Das weiß ich nicht ... Du bist ja wunder wie herrlich vor uns erschienen ... Doch Prunk und weltliche Ehre und – Gott weiß was! – blenden das Auge des Vaters nicht. Auch das warme Herz scheinst du dir ja bewahrt zu haben. Das glaubt man wenigstens, wenn man dich sprechen hört ... Aber in deinem Auge, da ist was, was mir nicht gefällt, und um die Mundwinkel herum, da sitzt der Hohn.

MAGDA.
Du lieber, guter alter Papa!
SCHWARTZE.

Siehst du! Selbst diese Zärtlichkeit war nicht die einer Tochter gegen ihren Vater. – Auf die Art tändelt man mit einem Kinde, ob es nun jung ist oder alt ... Und bin ich auch nur ein einfacher Soldat, lahm und verabschiedet, deinen Respekt fordre ich mir heim, mein Kind.

MAGDA
aufstehend.
Ich hab' ihn dir nie verweigert.
SCHWARTZE.

Das ist gut ... Ah, das ist gut, meine Tochter ... Glaub mir, wir sind hier nicht so einfältig, wie es dir scheinen mag. – Auch wir haben Augen zu sehn und Ohren zu hören, daß der Geist des sittlichen Aufruhrs durch die Welt geht ... Die Saat, die in die Herzen fallen soll, fängt an zu faulen ... Was früher Sünde war, wird ihnen Gesetz ... Sieh, mein Kind, du gehst [105] jetzt bald weg – weg. – Wohin? – Ich weiß es nicht. – Ob du wiederkommen wirst? – Aber wenn du wiederkommst, mich findst du im Grabe.

MAGDA.
O nicht doch, Papa.
SCHWARTZE.

Nun, das steht in Gottes Hand. – Aber ich fleh dich an – komm her, mein Kind – ganz dicht – so! Er zieht sie nieder und nimmt ihren Kopf zwischen seine Hände. Ich fleh dich an – gib mir den Frieden für meine Sterbestunde. Sag mir, daß du rein geblieben bist an Leib und Seele. Und dann zieh gesegnet deines Wegs.

MAGDA.
Ich bin – mir treu geblieben, lieber Vater.
SCHWARTZE.
Worin? Im Guten oder Bösen?
MAGDA.
In dem, was – für mich – das Gute war.
SCHWARTZE
verständnislos.
In dem, was – für dich – das –?
MAGDA
aufstehend.

Und nun quäl dich doch nicht länger! Laß uns diese paar Tage still genießen ... Sie werden ja rasch genug zu Ende sein ...

[106]
SCHWARTZE
brütend.

Ich möchte ja – ich möchte dich gern – und ich hab' dich ja auch lieb mit dem ganzen Schmerz, den ich um dich ausgestanden hab – jahrelang. – Drohend aufgerichtet. Ich muß aber doch wissen, wer du bist.

MAGDA
abgewendet.
Lieber Vater –

Es klingelt.
8. Szene
Achte Scene
Die Vorigen. Frau Schwartze.

FRAU SCHWARTZE
hereinstürzend.

Denkt euch, die Damen des Komitees sind da! Sie wollen uns persönlich beglückwünschen. Was meinst du, Leopold, ob man ihnen etwas vorsetzen darf?

SCHWARTZE.
Ich geh' in den Garten, Auguste.
FRAU SCHWARTZE.
Um Gottes willen – die kommen doch gerade – du mußt doch die Gratulationen entgegennehmen.
SCHWARTZE.
Ich kann nicht. – Nein – das kann ich nicht! Ab nach links.
FRAU SCHWARTZE.
Was hat der Vater?
9. Szene
[107] Neunte Scene
Magda, Frau Schwartze. Generalin von Klebs. Frau Landgerichtsdirektor Ellrich. Frau Schumann. Franziska.

FRANZISKA
die Thür öffnend.
Belieben die Damen –
GENERALIN
Frau Schwartze die Hand reichend.

Welch ein glücklicher Tag für Sie, meine Liebe! Die ganze Stadt nimmt teil an dem freudigen Ereignis.

FRAU SCHWARTZE.

Erlauben Sie: meine Tochter – Frau Generalin von Klebs – Frau Gerichtsdirektor Ellrich – Frau Schumann.

FRAU SCHUMANN.
Ich bin nur eine einfache Kaufmannsfrau, aber –
GENERALIN.
Mein Mann wird sich die Ehre geben, später –
FRAU SCHWARTZE.
Wollen die Damen nicht Platz nehmen? Man setzt sich.
FRANZISKA
mit Aplomb.
Ach, es ist wirklich ein freudiges Ereignis für die ganze Familie.
GENERALIN
steif, doch nicht unfreundlich.

Den Genüssen des Musikfestes stehn wir leider fern, mein Fräulein. Ich muß mir daher versagen, Ihnen die [108] Bewunderung, an die Sie wohl sehr gewöhnt sind, auszusprechen.

FRAU SCHUMANN.
Hätten wir das geahnt, wir hätten uns gewiß Billets besorgt.
GENERALIN.
Gedenken Sie längere Zeit hier zu verweilen?
MAGDA.
Das weiß ich wirklich nicht, gnädige Frau – oder – Pardon! Excellenz?
GENERALIN.
Ich muß bitten – nein.
MAGDA.
O Verzeihung!
GENERALIN.
O bitte!
MAGDA.

Unsereins ist so sehr Wandervogel, gnädige Frau, daß es über die Zukunft niemals recht verfügen kann.

FRAU ELLRICH.
Aber man muß doch sein trauliches Heim haben.
MAGDA.
Wozu? Einen Beruf muß man haben. Das scheint mir genug.
FRANZISKA.
Nun, das ist wohl Ansichtssache, liebe Magda.
[109]
GENERALIN.

Mein Gott, wir stehn ja hier diesen Ideen ziemlich fern, mein liebes Fräulein. Es kommt ja von Zeit zu Zeit eine Dame Vorträge halten, aber die guten Familien machen sich damit nichts zu schaffen.

MAGDA
höflich.
O, das kann ich verstehn. Die guten Familien haben satt zu essen.

Schweigen.
FRAU ELLRICH.
Aber Sie werden doch wenigstens eine Wohnung haben?
MAGDA.

Was man so nennt: eine Schlafstelle. Ja gewiß, ich habe eine Villa am Comersee und ein Landgut bei Neapel.


Erstaunen.
FRAU SCHWARTZE.
Davon hast du uns ja gar nichts gesagt.
MAGDA.
Ich kann ja nur selten Gebrauch davon machen, Mamachen.
FRAU ELLRICH.
Die Kunst ist wohl eine sehr anstrengende Beschäftigung?
MAGDA
freundlich.
Es kommt darauf an, wie man sie betreibt, gnädige Frau.
[110]
FRAU ELLRICH.
Meine Töchter nehmen auch Gesangstunde, und das strengt sie immer sehr an.
MAGDA
höflich.
O das bedaure ich.
FRAU ELLRICH.
Natürlich treiben sie das nur zu ihrem Vergnügen.
MAGDA.

Also viel Vergnügen! Leise zu Frau Schwartze, die neben ihr sitzt. Schaff mir diese Weiber vom Halse, sonst werd ich grob.

GENERALIN.
Sind Sie eigentlich bei einem Theater engagiert, mein liebes Fräulein?
MAGDA
sehr liebenswürdig.
Zuweilen, gnädige Frau.
GENERALIN.
Dann sind Sie jetzt wohl ohne Engagement?
MAGDA
murmelnd.
Jesses, Jesses! – Laut. Ja, ich vagabundiere augenblicklich.

Die Damen sehen sich an.
GENERALIN.
Es sind wohl nicht viel Töchter aus guten Familien beim Theater?
[111]
MAGDA
freundlich.
Nein, gnädige Frau, die sind meistens zu dumm dazu.
FRAU SCHWARTZE.
Aber Magda!
10. Szene
Zehnte Scene
Die Vorigen. Max.

MAGDA.

Ei, das ist ja Max! Geht nach hinten und reicht ihm die Hand. Denken Sie sich, Max, ich hatte Ihr Gesicht total vergessen ... Oder, sagen Sie mal, haben wir uns damals nicht geduzt?

MAX
verwirrt.
Ich glaube kaum.
MAGDA.
Na, dann können wir uns ja jetzt duzen.
FRAU ELLRICH
leise.
Verstehn Sie diesen Ton?
GENERALIN
zuckt die Achseln.

Die Damen stehen auf und verabschieden sich, indem sie Frau Schwartze und Franziska die Hand reichen und sich vor Magda verbeugen.
FRAU SCHWARTZE
betreten.
Wollen die Damen schon – mein Mann wird unendlich bedauern –
[112]
MAGDA
ungezwungen.
Auf Wiedersehn, meine Damen!

Die Damen nach der Rangordnung ab.
11. Szene
Elfte Scene
Magda. Max. Frau Schwartze. Franziska.

FRAU SCHWARTZE
von der Thür zurückkehrend.
Die Generalin war gekränkt, sonst wär' sie dageblieben. Magda, du hast die Generalin gewiß gekränkt.
FRANZISKA.
Und auch die anderen Damen waren wie vor den Kopf gestoßen.
MAGDA.
Mamachen, wolltest du nicht meine Koffer besorgen?
FRAU SCHWARTZE.
Ja – ja, ich werde selbst zum Hotel gehn. O Gott, o Gott, o Gott! Ab.
FRANZISKA.
Warte nur, ich komme mit. Giftig. Ich muß mich doch nützlich machen.
MAGDA.
Ach, Tante Fränzchen, ein Wort.
FRANZISKA.
Nun?
[113]
MAGDA.
Heute wird Verlobung gefeiert.
FRANZISKA.
Was für eine Verlobung?
MAGDA.
Zwischen dem da und Marien.
MAX
mit einem freudigen Aufschrei.
Magda!
FRANZISKA.
Ich denke, da ich Mutterstelle an ihm vertrete, so ist es mein Recht – hierüber –
MAGDA.
Nein, recht hat immer bloß der Gebende, liebe Tante. Und nun versäum dich nicht.
FRANZISKA
wütend.
Das werd' ich dir – – Ab.
12. Szene
Zwölfte Scene
Max. Magda.

MAX.
Wie soll ich Ihnen danken, teuerste Cousine?
MAGDA.
Dir, mein süßer Vetter, dir, dir, dir!
[114]
MAX.
Verzeihung, es ist der große Respekt, der –
MAGDA.

Nicht so viel Respekt, mein Junge, du gefällst mir nicht! Mehr Kaliber, mehr Persönlichkeit! weißt du.

MAX.

Ach, liebe Cousine, ein kleiner Kommißlieutenant mit 25 Mark Zulage und ohne Schulden, der soll auch noch Persönlichkeit haben? Die würde mir nur hinderlich sein.

MAGDA.
Ach?
MAX.

Wenn ich meinen Zug korrekt führe, auf den Bällen des Regiments einen korrekten Contre tanze und daneben noch ein wackrer Kerl bin, so ist das ganz genug.

MAGDA.
Um eine Frau glücklich zu machen, gewiß. – Geh, such sie dir! Geh, geh!
MAX
will gehen und kehrt um.

Verzeihung, in der großen Freude hab ich ja ganz die Bestellung vergessen, die ich ... Heute früh ... nämlich du glaubst gar nicht, in welchem Tumult deinetwegen die ganze Stadt sich befindet. Also heute früh – ich lag noch im Bette – da stürzt ein Bekannter zu mir her ein, es ist auch ein alter Bekannter von dir – ganz blaß vor [115] lauter Aufregung, und fragt, ob es wahr wäre und ob er kommen dürfte, sich dir vorstellen.

MAGDA.
Na, laß ihn doch kommen.
MAX.

Er bat aber direkt, ich möchte erst bei dir anfragen – er würde dann vormittags seine Karte hereinschicken.

MAGDA.
Was die Menschen hier für Umstände machen! Wer ist es denn?
MAX.
Der Regierungsrat von Keller.
MAGDA
mühsam.
Der – ah so – der!
MAX
lachend.
Verzeih, du bist ja genauso blaß geworden wie er. Mir scheint! mir scheint –
MAGDA
ruhig.
Ich? blaß?

Therese bringt eine Karte.
MAX.
Das ist er. Doktor von Keller.
MAGDA.
Ich lasse bitten.
[116]
MAX
lächelnd.

Ich sage dir nur, liebe Cousine, er ist ein hervorragender Mann, der eine große Karriere vor sich hat und der eine Leuchte für unsere kirchlichen Bestrebungen zu werden verspricht.

MAGDA.
Ich danke dir!
13. Szene
Dreizehnte Scene
Die Vorigen. Keller mit einem Blumensträußchen. Max.

MAX
ihm entgegengehend.
Lieber Regierungsrat – hier ist meine Cousine, die sich sehr freut. – Mich entschuldigen Sie wohl! –

Mit zwei Verbeugungen ab.
14. Szene
Vierzehnte Scene
Magda. Keller.
Keller bleibt an der Thür stehn. Magda geht erregt umher. Schweigen.

MAGDA
vor sich hin.
Da hätt' ich ja mein Gespenst.

Weist auf einen Stuhl am Tische links und setzt sich gegenüber.
KELLER.

Vorerst gestatten Sie mir, Ihnen meinen wärmsten und – allerinnigsten Glückwunsch auszusprechen. Das [117] ist ja eine Ueberraschung, wie sie freudiger nicht geahnt werden kann. – Und als Zeichen meiner Teilnahme gestatten Sie mir, teuerste Freundin, Ihnen diese bescheidenen Blüten zu überreichen.

MAGDA.
O, wie sinnig! Nimmt lachend die Rosen und wirft sie auf den Tisch.
KELLER
betreten.

Ah – ich sehe mit Bedauern, daß Sie diese Annäherung meinerseits durchaus mißverstehn. – Habe ich es etwa an der nötigen Delikatesse fehlen lassen? Und außerdem wäre in diesen engen Verhältnissen ein Wiedersehn auch gar nicht zu vermeiden gewesen. Ich meine, es ist doch besser, meine teuerste Freundin, man spricht sich aus, man verabredet der Außenwelt gegenüber ein – ein –

MAGDA
aufstehend.

Sie haben recht, mein Lieber. – Ich stand nicht auf der Höhe – der Höhe meiner selbst ... Wär' das so weitergegangen in mir, ich hätte Ihnen am Ende noch das verführte und verlassene Gretchen vorgespielt ... Es scheint, die Heimatsmoral färbt ab ... Aber ich hab mich schon wieder. Geben wir uns mal brav die Hand! ... Haben Sie keine Bange, ich thu Ihnen nichts. So – ganz fest – so!

KELLER.
Sie machen mich glücklich.
[118]
MAGDA.

Ich habe mir dieses Zusammentreffen tausendfach ausgemalt und bin seit Jahren darauf präpariert. Auch ahnte mir wohl so was, als ich die Reise in die Heimat antrat ... Freilich, daß ich gerade hier das Vergnügen haben würde – ja, wie kommt es, daß Sie nach dem, was zwischen uns vorgefallen ist, die Schwelle dieses Hauses übertreten haben? – – – Mir scheint das ein wenig –

KELLER.

O, ich habe es bis vor kurzem zu vermeiden gesucht. Aber da wir denselben Kreisen angehören und da ich zudem den Anschauungen dieses Hauses nahe stehe – Entschuldigend. wenigstens im Prinzip –

MAGDA.
Hm! Ja so! Laß dich mal anschaun, mein armer Freund. Also das ist aus dir geworden!
KELLER
verlegen lächelnd.
Mir scheint, ich habe den Vorzug, in Ihren Augen so etwas wie eine komische Figur zu bilden.
MAGDA.

Nein, nein – o nein. – Das bringen die Dinge so mit sich. Die Absicht, Amtswürde zu beobachten in einer so amtswidrigen Situation – – dann etwas beengt von wegen des schlechten Gewissens. Du siehst wohl von der Höhe deines gereinigten Wandels sehr erhaben auf deine sündige Jugend herab, denn man nennt dich ja eine Leuchte, mein Freund.

[119]
KELLER
nach der Thür sehend.

Verzeihung! ich kann mich an das trauliche »Du« noch nicht wieder gewöhnen. – Und wenn man uns hörte – wär' es nicht besser –

MAGDA
schmerzlich.
So hört man uns.
KELLER
nach der Thür hin.

Um Gottes willen! – ach! Sich wieder setzend. Ja, was ich sagen wollte: Wenn Sie eine Ahnung hätten, mit welcher wahrhaften Sehnsucht ich aus diesem Nest heraus an meine genial verlebte Jugend zurückdenke ...

MAGDA
halb für sich.
Sehr genial – ja – sehr genial.
KELLER.

Auch ich fühlte mich zu höheren Dingen berufen, auch ich hatte – glaubte – – – Nun, ich will meine Stellung nicht unterschätzen ... Man ist ja schließlich Regierungsrat und das in verhältnismäßig jungen Jahren. Eine gewöhnliche Eitelkeit könnte sich darin wohl sonnen ... Aber da sitzt man und sitzt – und der wird ins Ministerium berufen – und der wird ins Ministerium berufen. Und dieses Dasein hier! Das Konventionelle und die Enge der Begriffe – alles grau in grau! Na, und die Frauen hier – – wer ein bißchen für Eleganz ist – – – Nein, ich versichere Sie, wie es in mir aufjauchzte, als ich heute früh die Nachricht las, Sie wären [120] die berühmte Sängerin, Sie, an die sich für mich so liebe Erinnerungen knüpfen, und – –

MAGDA.

Und da dachten Sie, ob man es mit Hilfe dieser lieben Erinnerungen nicht wagen könnte, wieder etwas Farbe in sein graues Dasein zu bringen?

KELLER
lächelnd.
Ah – aber ich bitte Sie!
MAGDA.
Gott – unter alten Freunden.
KELLER.
Aufrichtig – sind wir das wirklich?
MAGDA.

Wirklich! Sans rancune! – Ja, wenn ich auf dem andern Standpunkte stehen wollte, dann müßte ich jetzt das ganze Register herunterbeten: Lügner, Feigling, Verräter! – Aber wie ich die Dinge nehme, bin ich dir nichts wie Dank schuldig, mein Freund.

KELLER
erfreut und verblüfft.
Das ist eine Auffassung, die –
MAGDA.

Die sehr bequem für dich ist. Aber warum soll ich es dir nicht bequem machen? Nach der Art, wie wir uns dort begegnet waren, hattest du gar keine Verpflichtung [121] gegen mich. Mit der Heimat hatte ich gebrochen – war ein junges, unschuldiges Ding, heißblütig und aufsichtslos und lebte, wie ich die andern leben sah. Ich gab mich dir hin, weil ich dich liebte. Ich hätte vielleicht jeden andern auch geliebt, der mir in die Quere gekommen wäre ... Es scheint, das muß durchgemacht werden. Und wir waren ja auch so fidel – was?

KELLER.
Ach, wenn ich daran denke! Das Herz geht einem auf.
MAGDA.

Tja, in der alten Bude – fünf Stock hoch – in der Steinmetzstraße, da hausten wir drei Mädels so glücklich mit unserm bißchen Armut. Zwei gepumpte Klaviere und abends Brot und Zwiebelfett ... Das schmolz uns Emmy eigenhändig auf ihrem Petroleumkocher.

KELLER.
Und Käthe, mit ihren Couplets – ach Gott! – Was ist aus den beiden geworden?
MAGDA.

Chi lo sà? Vielleicht geben sie Gesangsstunden, vielleicht mimen sie. Ja, ja, wir waren schon eine feine Kompanie! Und als der Scherz ein halbes Jahr gedauert hatte, da war mein Herr Liebster eines Tages verschwunden.

KELLER.

Ein unglückseliger Zufall – ich kann's Ihnen beschwören. Mein Vater war erkrankt. Ich mußte verreisen. Ich schrieb dir ja das alles.

[122]
MAGDA.

Hm! Ich mache dir ja keinen Vorwurf ... Und nun will ich dir auch sagen, weswegen ich dir Dank schuldig bin. – Ein dummes, ahnungsloses Ding war ich, das seine Freiheit genoß wie ein losgelassener Affe ... Durch dich aber wurd' ich zum Weibe. Was ich in meiner Kunst erreicht habe, was meine Persönlichkeit vermag, alles verdank' ich dir ... Meine Seele war wie – ja, hier unten im Keller lag früher immer eine alte Windharfe, die man dort vermodern ließ, weil mein Vater sie nicht leiden konnte. So eine Windharfe im Keller, das war meine Seele ... Und durch dich wurde sie dem Sturme preisgegeben' – Und er hat darauf gespielt bis zum Zerreißen ... Die ganze Skala der Empfindungen, die uns Weiber erst zu Vollmenschen machen. – Liebe und Haß und Rachedurst und Ehrgeiz Aufspringend. und Not, Not, Not, – dreimal Not – und das Höchste, das Heißeste, das Heiligste von allem – die Mutterliebe verdank' ich dir.

KELLER.
Wa – was sagen Sie?
MAGDA.
Ja, mein Freund, nach Emmy und Käthe hast du dich erkundigt, aber nach meinem Kinde nicht.
KELLER
aufstehend und sich ängstlich umsehend.
Nach meinem Kinde?
[123]
MAGDA.

Deinem Kinde? Wer hat das gesagt? Deinem! Hahaha! Du solltest es nur wagen, Anspruch darauf zu erheben. Kaltmachen würd' ich dich mit diesen Händen! Wer bist du? Du bist ein fremder Herr, der seine Lüste spazieren führte und lächelnd weiterging ... Ich aber habe mein Kind, meine Sonne, meinen Gott, mein alles – für das ich lebte und hungerte und fror und auf der Straße herumirrte, für das ich in Tingeltangeln sang und tanzte – denn mein Kind, das schrie nach Brot! Bricht in ein konvulsivisches Lachen aus, das in Weinen übergeht, wirft sich auf einen Sitz rechts.

KELLER
nach einem Schweigen.

Sie sehn mich tief erschüttert ... Hätte ich ahnen können. Ja, hätte ich ahnen können. Ich will ja alles thun, ich bebe vor keiner Art von Genugtuung zurück. Aber jetzt flehe ich Sie an: Beruhigen Sie sich ... Man weiß, daß ich hier bin ... Wenn man uns so sähe, ich wäreSich verbessernd. – Sie wären ja verloren.

MAGDA.
Haben Sie keine Bange – ich werde Sie nicht kompromittieren.
KELLER.

O, von mir ist ja nicht die Rede. Durchaus nicht. Aber bedenken Sie nur – wenn es ruchbar würde – was würde die Stadt und Ihr Vater –

MAGDA.
Der arme, alte Mann! So oder so, sein Friede ist vernichtet.
[124]
KELLER.
Bedenken Sie doch: je glänzender Sie jetzt dastehn, desto mehr richten Sie sich zugrunde.
MAGDA
sinnlos.
Und wenn ich mich zugrunde richten will? Wenn ich –
KELLER.
Um Gottes willen – hören Sie doch. Man kommt!
MAGDA
aufspringend.

Man soll kommen! Alle sollen sie kommen! Das ist mir egal. Das ist mir ganz egal! Ins Gesicht will ich's ihnen sagen, was ich denke von dir und euch und eurer ganzen bürgerlichen Gesittung ... Warum soll ich schlechter sein als ihr, daß ich mein Dasein unter euch nur durch eine Lüge fristen kann? Warum soll dieser Goldplunder auf meinem Leibe und der Glanz, der meinen Namen umgibt, meine Schande noch vergrößern? Hab ich nicht dran gearbeitet früh und spät zehn Jahre lang? An ihrer Taille zerrend. Hab ich dieses Kleid nicht gewebt mit dem Schlaf meiner Nächte? Hab ich meine Existenz nicht aufgebaut Ton um Ton wie tausend andre meines Schlages Nadelstich um Nadelstich? Warum soll ich vor irgendwem erröten? Ich bin ich – und durch mich selbst geworden, was ich bin.

KELLER.
Gut! Sie mögen ja so stolz dastehn, aber dann nehmen Sie wenigstens Rücksicht –
[125]
MAGDA.

Auf wen? Da Keller schweigt. Auf wen? ... Die Leuchte! Hahahaha, die Leuchte hat Angst, ausgepustet zu werden. Sei zufrieden, mein Lieber, ich hege keinen Rachegedanken. Aber wenn ich dich ansehe in deiner ganzen feigen Herrlichkeit – unfähig, auch nur die kleinste Konsequenz deiner Handlungen auf dich zu nehmen, und mich dagegen, die ich zum Pariaweibe herabsank durch deine Liebe und ausgestoßen wurde aus jeder ehrlichen Gemeinschaft – – – Aech! Ich schäme mich deiner! – Pfui!

KELLER.
Da! – Um Gottes willen! Ihr Vater! Wenn er Sie in diesem Zustande sieht!
MAGDA
schmerzgequält.
Mein Vater! Flieht, das Taschentuch vors Gesicht schlagend, durch die Thür des Speisezimmers.
15. Szene
Fünfzehnte Scene
Schwartze. Keller.

SCHWARTZE
in freudiger Erregung durch die Flurthür eintretend, gerade als Magda abgeht.
Ah, lieber Herr Re– – – war das meine Tochter, die da eben verschwand?
KELLER
in großer Verwirrung.
Ja, es war –
[126]
SCHWARTZE.
Was hat denn die vor mir davonzulaufen? Hinterher rufend. Magda!
KELLER
versucht, ihm in den Weg zu treten.
Ach, wollen Sie nicht lieber –? Das gnädige Fräulein wünschte dringend etwas allein zu sein.
SCHWARTZE.
Nanu? Warum denn? Wenn man Besuch hat, wünscht man doch nicht – – – Was sind das für –
KELLER.
Ach – sie fühlte sich ein wenig – erregt.
SCHWARTZE.
Erregt?
KELLER.
Jawohl. – Nichts weiter.
SCHWARTZE.
Wer war denn sonst noch hier?
KELLER.
Niemand – wenigstens nicht, daß ich wüßte.
SCHWARTZE.
Na, was sind denn für erregende Dinge zwischen Ihnen verhandelt worden?
[127]
KELLER.
Ach, nichts von Belang – durchaus nichts – ich versichre Sie.
SCHWARTZE.
Wie sehn Sie denn aus? Sie halten sich ja kaum auf den Beinen!
KELLER.
Ich? – Ah! Sie irren sich! – effektiv – Sie irren sich.
SCHWARTZE.
Ja, Herr Regierungsrat, eine Frage. Sie sind ja wohl mit meiner Tochter – bitte, nehmen Sie Platz!
KELLER.
Meine Zeit ist leider –
SCHWARTZE
beinahe drohend.
Ich bitte Sie, Platz zu nehmen.
KELLER
der nicht zu widersprechen wagt.
Ich danke. Setzen sich.
SCHWARTZE.
Sie sind vor einer Reihe von Jahren mit meiner Tochter in Berlin zusammengetroffen?
KELLER.
Allerdings.
SCHWARTZE.

Herr Regierungsrat, ich kenne Sie als einen ebenso streng gesinnten wie diskreten Mann. – Aber es gibt [128] Fälle, wo Schweigen geradezu ein Verbrechen wird. Ich frage Sie – und Ihr jahrelanges Verhalten gegen mich macht mir diese Frage zur Pflicht, ebenso wie das rätselhafte – das, was ich eben – kurz: ich frage Sie: Wissen Sie etwas Ungünstiges über das damalige Leben meiner Tochter?

KELLER.
O – um Gottes willen – wie – wie können Sie –?
SCHWARTZE.
Wie und wovon sie lebte, wissen Sie nicht?
KELLER.
Nein! Ist mir absolut –
SCHWARTZE.
Haben Sie sie nie in ihrer Behausung aufgesucht?
KELLER
immer verwirrter.
O, nie, nie! Nein, nie!
SCHWARTZE.
Niemals?
KELLER.
Das heißt, ich habe sie einmal abgeholt, aber –
SCHWARTZE.
Ihre Beziehungen waren also freundschaftliche?
KELLER
beteuernd.
O durchaus freundschaftliche – natürlich nur freundschaftliche.

Pause.
[129]
SCHWARTZE
faßt sich an die Stirn, fixiert Keller, dann wie abwesend.

Hä? Dann freilich – wenn die Dinge vielleicht – wenn Sie – wenn – wenn – Steht auf, geht auf Keller zu und setzt sich wieder, bemüht, sich zur Ruhe zu zwingen. Herr von Keller, wir leben beide in einer Welt, in welcher Ungeheuerlichkeiten – sich nicht ereignen können. Aber ich bin alt geworden – recht alt. Und das macht, ich kann meine Gedanken nicht so – so dirigieren, wie ich – wohl möchte ... Und ich kann mich da – gegen – einen – einen Verdacht nicht wehren, der mir plötzlich – der da herumspukt ... Ich habe in diesem Augenblick eine große Freude gehabt ... die will ich mir nicht gleich durch so was vergällen lassen ... Und einem alten Mann zur Beruhigung bitt' ich Sie herzlich – geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß –

KELLER
aufstehend.
Pardon, das sieht ja fast wie – wie ein Verhör aus.
SCHWARTZE.
Wissen Sie denn überhaupt, um was – was ich Sie –?
KELLER.

Pardon! Ich weiß nichts. Ich will nichts wissen. Ich bin ganz harmlos hergekommen, Ihnen einen freundschaftlichen Besuch abzustatten ... Und Sie überfallen mich da ... Ich muß Ihnen sagen, ich lasse mich nicht überfallen. Nimmt seinen Hut.

[130]
SCHWARTZE.
Herr Doktor von Keller, haben Sie sich auch klargemacht, was diese Weigerung bedeutet?
KELLER.

Pardon! Wenn Sie etwas wissen wollen, so bitte ich Sie freundlichst, Ihr Fräulein Tochter zu befragen. – Die wird Ihnen ja dann schon sagen, was – e, was – e – – Und jetzt bitte ich, mich verabschieden zu dürfen ... Meine Wohnung ist Ihnen ja wohl bekannt, ich meine – für den Fall – daß – e – – Ich bedaure, daß das so gekommen ist, aber – e – – Herr Oberstlieutenant, ich habe die Ehre! Ab.

16. Szene
Sechzehnte Scene
Schwartze allein. Dann Marie.

SCHWARTZE
sitzt eine Weile brütend, in sich zusammengesunken da, dann jäh aufschreiend.
Magda!
MARIE
ängstlich hereinlaufend.
Um Gottes willen – was ist?
SCHWARTZE
würgend.
Magda – Magda soll herkommen.
MARIE
geht zur Thür, öffnet sie und kehrt hinausschauend um.
Sie kommt – schon – die Treppe herunter.
[131]
SCHWARTZE.
So! Richtet sich mühsam auf.
MARIE
die Hände faltend.
Thu ihr nichts!

Pause bei offener Thür. Man sieht Magda die Treppe herabkommen.
17. Szene
Siebzehnte Scene
Die Vorigen. Magda.

MAGDA
im Reisekleide, den Hut in der Hand – sehr bleich, aber mit eiserner Ruhe.
Ich hörte dich rufen, Vater.
SCHWARTZE.
Ich – habe – mit dir – zu reden.
MAGDA.
Und ich mit dir!
SCHWARTZE.
Geh voran – in mein Zimmer.
MAGDA.
Ja, Vater!

Sie geht zur Thür links. Schwartze folgt ihr. Marie, die sich verschüchtert in die Speisezimmerthür zurückgezogen hat, macht eine flehende Bewegung, welche er nicht beachtet.
Der Vorhang fällt.

4. Akt

1. Szene
Erste Scene
Frau Schwartze. Marie.

FRAU SCHWARTZE
in Hut und Mantel, an die Thür links pochend.
Leopold! – – Jesus, mein Jesus, ich wag es gar nicht, 'reinzugehn.
MARIE.
Nein, nein, thu es nicht! Wenn du ihn gesehn hättst!
FRAU SCHWARTZE.
Und seit einer halben Stunde sind sie da drin, sagst du?
MARIE.
Ja, so lang wird es sein.
FRAU SCHWARTZE.

Jetzt spricht sie! Lauscht und erschrickt. O Gott, wie er sie anschreit! Mariechen, hör zu! Lauf in den [133] Garten. – Dort sitzt der Pfarrer in der Laube – erzähl ihm alles – auch von Herrn von Keller, daß er vorher hiergewesen ist – und bitt ihn, er möchte ganz rasch 'raufkommen.

MARIE.
Ja, Mamachen! Eilt zur Flurthür.
FRAU SCHWARTZE
sie zurückrufend.
Noch eins, Mariechen! Hat Therese auch nichts gemerkt, damit es keinen Klatsch gibt?
MARIE.
Ich hab' sie gleich fortgeschickt, Mamachen.
FRAU SCHWARTZE.
O dann ist gut! Dann ist gut!

Marie ab.
FRAU SCHWARTZE
klopft wieder.
Leopold – höre doch, Leopold! Zurückweichend. O Gott, er kommt!
2. Szene
Zweite Scene
Frau Schwartze. Schwartze. Später Magda.

SCHWARTZE
kommt wankend und entstellt hereingestürzt.
FRAU SCHWARTZE.
Leopold, wie siehst du aus?
[134]
SCHWARTZE
in einen Stuhl sinkend.

Ja, ja – das ist so – wie mit den Rosen. Kommt so das Messer – und kappt die Geschichte – und man verbindet die Wunde nicht ... Was sag ich – da? – was –

FRAU SCHWARTZE.
Er verliert den Verstand!
SCHWARTZE.
Nein, nein, ich verlier nicht den Verstand ... Nein. Ich weiß ganz gut, was ... ich weiß ganz gut.
MAGDA
erscheint in der Thür links.
FRAU SCHWARTZE
ihr entgegen.
Was hast du ihm gethan?
SCHWARTZE.
Ja – was hast du – was hast du –? Das ist meine Tochter! – Was fang ich jetzt mit meiner Tochter an?
MAGDA
bescheiden, fast bittend.

Ja Vater, wär' es nicht das beste nach allem, was geschehn, du wiesest mir die Thür, du jagtest mich auf die Straße? Lossagen mußt du dich ja doch von mir – wenn dies Haus wieder rein werden soll.

SCHWARTZE.

So, so so ... Du meinst also, du brauchst bloß zu gehn – da 'rauszugehn! – und alles ist wieder beim alten? ... Und das hier? Und wir alle hier? ... Was [135] soll aus uns werden? ... Ich – ach Gott – ich – ich fahr eben in meine Grube – dann is aus – aber hier – die Mutter und deine Schwester – deine Schwester.

MAGDA.
Marie hat den Mann, den sie braucht.
SCHWARTZE.

Man heiratet kein Mädchen, das so eine Schwester hat. Voll Ekel. Nee, nee, nee. Nicht anrühren so was.

MAGDA
für sich.
Mein Gott, mein Gott!
SCHWARTZE
zu Frau Schwartze.
Siehst du – nu fängt sie an zu kapieren, was sie verbrochen hat.
FRAU SCHWARTZE.
Ja, was –
MAGDA
in zärtlichem Mitleid, doch immer noch mit einem Rest innerer Ueberlegenheit.

Mein armes, altes Väterchen – hör mich an ... Ich kann ja nicht mehr ändern, was geschehn ist ... Ich will – Marien mein halbes Vermögen überlassen – ich will alles tausendfach vergelten, was ich euch heut an Schmerz zugefügt hab ... Aber jetzt – ich bitt' euch – laßt mich meiner Wege gehn.

SCHWARTZE.
Oho!
[136]
MAGDA.

Denn was wollt ihr von mir? Was hab ich euch gethan? Gestern um diese Zeit wußtet ihr noch nicht, ob ich überhaupt auf der Welt war – und heute – Das ist doch Wahnsinn, wenn ihr von mir verlangt, ich solle wieder denken und fühlen wie ihr – aber ich habe Angst vor dir, Vater, Angst vor diesem Hause ... Ich bin nicht dieselbe mehr – ich traue mir nicht mehr ... In Qual losbrechend. Ich – kann – den Jammer nicht ertragen –

SCHWARTZE.
Hahahaha!
MAGDA.

Sieh, lieber Vater, ich will mich gern demütigen vor dir ... Ich beklage auch alles von ganzer Seele, weil es euch heute Kummer macht, denn mein Fleisch und Blut gehört ja nun einmal zu euch. – Aber ich muß doch das Leben weiterleben, das ich mir geschaffen hab! – Das bin ich mir doch schuldig – mir und meinem – Lebt wohl! ...

SCHWARTZE
ihr den Weg vertretend.
Wo willst du hin?
MAGDA.
Laß mich, Vater!
SCHWARTZE.
Eher erwürg' ich dich mit – Packt sie.
FRAU SCHWARTZE.
Leopold!
3. Szene
[137] Dritte Scene
Die Vorigen. Der Pfarrer.

PFARRER
wirft sich mit einem Ausruf des Schreckens dazwischen.
MAGDA
vom Alten freigelassen, geht langsam, die Blicke auf den Pfarrer geheftet, zurück und sinkt in den Sessel links, wo sie während des Folgenden fast regungslos bleibt.
PFARRER
nach einem Schweigen.
Um Gottes willen!
SCHWARTZE.

Ja, ja, ja, Pfarrerchen ... Das war wohl eben ein schönes Familienbild. Hä? Sehen Sie mal die da. Besudelt hat sie meinen Namen. Jeder Lump kann mir den Degen zerbrechen. Das ist meine Tochter. Das ist – meine –

PFARRER.

Lieber Herr Oberstlieutenant, es gibt hier Dinge, die ich nicht weiß und nicht wissen will ... Aber ich sage mir – es muß doch etwas zu thun sein, anstatt daß man – man –

SCHWARTZE.

Ja, zu thun – ja, ja – hier ist viel zu thun ... Ich hab' auch viel zu thun ... Ich seh' auch gar nicht ein, warum ich hier steh ... Es ist ja schlimm – is ja schlimm – er kann mir ja sagen, der Herr, du bist – ein Krüppel – mit deiner zitternden Hand ... Mit so was schlägt man sich nicht ... hat man auch tausendmal [138] die Tochter zur ... aber ich werd's ihm beweisen ... ich werd's ihm beweisen ... Wo ist mein Hut?

FRAU SCHWARTZE.
Wo willst du hin, Leopold?Magda erhebt sich.
SCHWARTZE.
Mein Hut! –
FRAU SCHWARTZE
bringt ihm Hut und Stock.
Hier, hier.
SCHWARTZE.

So! – Zu Magda. Lern du dem Herrgott danken, an den du nicht glaubst, daß er dir deinen Vater bis heute gelassen hat. Heute holt er dir deine Ehre zurück!

MAGDA
in dem Sessel niederkniend und seine Hand küssend.
Vater, thu's nicht! Das verdien' ich nicht um dich!
SCHWARTZE
neigt sich weinend auf ihren Scheitel nieder.
Mein armes, armes Kind! Zur Thür.
MAGDA
ihm nachrufend.
Vater!

Schwartze rasch ab.
4. Szene
[139] Vierte Scene
Frau Schwartze. Der Pfarrer. Magda.

FRAU SCHWARTZE.
Mein Kindchen, was auch gewesen sein mag, wir Frauen – wir müssen ja zusammenhalten.
MAGDA.
Schön Dank, Mamachen. – Der Scherz wird ja rasch genug zu Ende sein. Setzt sich.
PFARRER.

Frau Oberstlieutenant, draußen ist Mariechen voll Angst. Gehn Sie, sagen Sie dem Kinde ein gutes Wort.

FRAU SCHWARTZE.
Was soll ich dem Kinde sagen, Herr Pfarrer, wenn es sein Lebensglück verloren hat?
MAGDA
fährt schmerzvoll auf.
FRAU SCHWARTZE.
Ach, Herr Pfarrer, Herr Pfarrer! Ab.
5. Szene
Fünfte Scene
Magda. Der Pfarrer.

MAGDA
nach einem Schweigen.
Ach, ich bin müde!
PFARRER.
Fräulein Magda!
[140]
MAGDA
brütend.

Ich glaube, ich werde diese grellen, blutunterlaufenen Augen jetzt immer vor mir sehn, wo ich geh' und steh' – wo ich geh' und steh'.

PFARRER.
Fräulein Magda!
MAGDA.
Sie verachten mich wohl sehr – hä?
PFARRER.
Ach, Fräulein Magda, das Verachten hab ich mir schon lange abgewöhnt. – Wir sind alle arme Schächer.
MAGDA
mit bitterem Lachen.

Ja, wahrhaftig, das sind wir ... Ach, ich bin müde! ... Es drückt mir auf den Kopf. Mein Leben drückt mir auf den Kopf. Da geht der alte Mann nun hin und will sich totschießen lassen um meinetwillen! Hä! Wenn er all meine Sünden abbüßen wollte mit dem eigenen Leibe! – – Ach, ich bin müde.

PFARRER.

Fräulein Magda – ich ahne ja bloß – was hier vorliegt ... Aber Sie haben mir das Recht gegeben, als ein Freund mit Ihnen zu reden. Und ich fühl, ich bin mehr als das. Ich bin wie Ihr Mitschuldiger, Fräulein Magda.

MAGDA.
Mein Gott! Quält er sich auch noch!
[141]
PFARRER.
Fühlen Sie die Verpflichtung, Fräulein Magda, Ihrem Elternhause Ehre und Frieden wiederzugeben?
MAGDA
in ausbrechender Qual.
Sie haben den Jammer miterlebt und fragen noch, ob ich das fühle?
PFARRER.

Wie ich die Dinge ansehe, wird Ihr Vater von jenem Herrn die Erklärung bekommen, daß er zu jeder Art von friedlicher Genugthuung bereit ist.

MAGDA.
Hahaha! Diese edle Seele! Aber was geht mich das an?
PFARRER.
Sie dürfen – die Hand nicht ausschlagen – die er Ihnen anbieten wird.
MAGDA.

Was? Das ist doch nicht – Ich soll diesen Menschen, diesen fremden Menschen, den ich überschaue – wie – wie – den soll ich –

PFARRER.

Liebes Fräulein Magda, es gibt fast für jeden eine Stunde, wo er die Scherben seines Lebens sammelt, um sich daraus ein neues zusammenzuleimen. Ich hab das kennengelernt. Jetzt ist die Reihe an Ihnen.

MAGDA.
Ich will nicht. Ich will nicht.
[142]
PFARRER.
Sie werden müssen.
MAGDA.
Eher nehm' ich mein Kind in den Arm und geh' in den See.
PFARRER
bezwingt ein heftiges Zusammenschrecken – nach einem Schweigen, heiser.
Das ist – dann – freilich die einfachste Lösung – und Ihr Vater kann Ihnen folgen.
MAGDA.

Erbarmen Sie sich! Ich muß ja thun, was Sie wollen. Ich weiß nicht, woher Sie diese Macht über mich nehmen ... Mensch, lieber, wenn noch eine leise Erinnerung an das, was Sie einmal gefühlt haben, in Ihnen lebt, wenn Sie noch einen Funken Pietät haben für Ihre eigene Jugend, dann können Sie mich nicht hinopfern wollen.

PFARRER.
Ich opfere ja nicht Sie allein, Fräulein Magda.
MAGDA
in erwachender Ahnung.
O, mein Gott!
PFARRER.

Es gibt keinen Ausweg. Ich seh keinen. Daß der alte Mann das nicht überleben würde, nun das versteht sich von selbst. Und was für Ihre Mutter dann bleibt, und was aus Ihrer armen Schwester wird – Fräulein Magda, das ist ja, wie wenn Sie mit eigner Hand Feuer [143] an dies Haus legten und alles verbrennen ließen, was drin ist. Und dies Haus ist doch Ihre Heimat ...

MAGDA
in wachsender Angst.

Ich will nicht! Ich will nicht! ... Dies Haus ist nicht meine Heimat ... Meine Heimat ist, wo mein Kind ist, wo mein Kind ist.

PFARRER.

Ja, dies Kind! Das wird heranwachsen – vaterlos – und wird dann gefragt werden: Wo ist dein Vater? Und wird Sie fragen kommen: Wo ist mein Vater? ... Was werden Sie ihm dann erwidern können? – Und, Fräulein Magda, wer nicht Ordnung hat in seinem Herzen von Anbeginn, dessen Herz verlottert.

MAGDA.

Das ist ja alles nicht wahr ... Und wenn es wahr wäre – Hab ich nicht auch ein Herz? – Leb ich nicht auch ein Leben? ... Bin ich nicht auch um meiner selbst willen da?

PFARRER
hart.

Nein, das ist niemand. Aber thun Sie, was Sie wollen. Verderben Sie Ihre Heimat, verderben Sie Vater und Schwester und Kind, und dann versuchen Sie, ob Sie den Mut haben, um Ihrer selbst willen da zu sein.

MAGDA
verbirgt schluchzend ihr Gesicht.
PFARRER
ihr gegenübertretend, fährt über den Tisch weg mitleidig mit der Hand über ihr Haar.
Mein armes –
[144]
MAGDA
diese Hand ergreifend.

Beantworten Sie mir eine Frage. – Sie haben Ihr Lebensglück geopfert um meinetwillen. Glauben Sie noch heute – trotz allem, was Sie von mir wissen und was Sie nicht wissen – daß ich dieses Opfers wert gewesen bin?

PFARRER
gepreßt, als spräche er ein Geständnis.
Ich sagte schon, ich bin wie Ihr – Mitschuldiger, Fräulein Magda.
MAGDA
nach einer Pause.
Ich werde thun, was Sie verlangen.
PFARRER.
Ich danke Ihnen.
MAGDA.
Leben Sie wohl!
PFARRER.

Leben Sie wohl! Ab. Man sieht durch die geöffnete Thür, wie er mit Marien spricht und sie hereinschickt.

MAGDA
bleibt, das Gesicht in den Händen regungslos, bis er fort ist.
6. Szene
Sechste Scene
Magda. Marie.

MARIE.
Was darf ich, Magda?
MAGDA.
Wohin ging der Pfarrer?
[145]
MARIE.
In den Garten. Mama ist mit ihm.
MAGDA.
Du, wenn der Vater nach mir sucht, Mit dem Kopf nach links weisend. ich warte da. Will ab.
MARIE.
Und für mich – hast du kein Wort – übrig, Magda?
MAGDA.

Ach so! Sei unbesorgt. Küßt sie auf die Stirn. Es wird jetzt alles gut ... Ganz gut ... nein, nein, nein. In müder Bitterkeit. Es wird jetzt alles – ganz – gut.


Ab nach links. Marie zum Speisezimmer.
7. Szene
Siebente Scene
Schwartze, allein, holt pfeifend einen Pistolenkasten hervor, schließt ihn auf, prüft eine Pistole, spannt mühsam den Hahn, untersucht den Lauf, zielt nach einem Punkte der Wand, wobei das Zittern des Armes stark bemerkbar wird – klopft sich wütend auf den Arm – Läßt brütend die Pistole sinken. Max tritt ein.

SCHWARTZE
der sich nicht umwendet.
Wer da?
MAX.
Ich, Onkel!
[146]
SCHWARTZE.
Max – aha – kannst reinkommen!
MAX.
Onkel, Marie sagte mir – Onkel, was sollen die Pistolen?
SCHWARTZE.

Ja, das waren mal schöne Pistolen! Das waren famose Pistolen. Du, Junge, damit hab ich jedes Coeur-As 'rausgeschossen bis auf 20 – na, sagen wir 15 Schritt ... Und 15 genügt ... Du, das müssen wir doch gleich mal im Garten – – aber – Hilflos, tippt auf den zitternden Arm, das Gesicht zum Weinen verziehend. aber – das – will – nicht mehr ...

MAX
auf ihn zueilend.
Onkel! Sie halten sich einen Augenblick umschlungen.
SCHWARTZE.
Na, na, is schon gut – is schon gut!
MAX.

Onkel, daß ich statt deiner da bin, daß ich jeden, den du mir mit dem Finger bezeichnest, vor meine Pistole stelle, das versteht sich doch von selbst, das ist doch mein Recht?

SCHWARTZE.
Dein –? Nanu? Als was? – – willst du dich etwa in eine geschändete Familie reinheiraten – hä?
MAX.
Onkel!
[147]
SCHWARTZE.

Du willst also – den Rock unsres Regiments – den willst du an den Nagel hängen und in Zivil rumlappen? – Na, da können wir ja zusammen einen Spielsalon aufmachen, oder wir werfen uns aufs Güterausschlachten ... Daneben so 'n bißchen Lebensversicherung, Agent – Kommissionär – was weiß ich ... du mit deinem schönen adligen Namen treibst die Opfer zu – und ich rupfe. Hä – hä – hä ... Nein, mein Jungchen, selbst wenn du noch wolltest, ich will nicht ... Dies Haus mit allem, was drin sitzt, ist zugrunde gerichtet. Darum geh deiner Wege ... Mit der Schwartzeschen Sippschaft hast du nichts zu schaffen.

MAX.
Onkel, jetzt fordere ich von dir –
SCHWARTZE.

Stille! Sonst! Weist nach der Thür. ... Uebrigens, ich kann dich brauchen, wie man seine Freunde braucht, wenn man so 'ne Sache vorhat. Aber noch nicht. Noch nicht. Erst stell ich mir den Herrn ... War nicht zu Hause ... Er war nicht zu Hause, der Herr! ... Aber er soll nicht etwa denken, er entwischt mir! ... Ist er auch zum zweitenmal nicht zu Hause, dann, mein Sohn, beginnt dein Amt ... Bis dahin hab hübsch Geduld ... Hab hübsch Geduld!

THERESE
vom Flur hereinkommend.
Der Herr Regierungsrat von Keller!

Schwartze fährt zurück.
[148]
MAX.
Also der! Jetzt – – –
SCHWARTZE.
Ich lasse bitten! Therese ab.
MAX.
Onkel! Weist in großer Erregung auf sich.
SCHWARTZE
verneint – winkt ihm hinauszugehen.
8. Szene
Achte Scene
Schwartze. Keller.

KELLER
trifft in der Thür mit dem hinausgehenden Max zusammen, den er verbindlich grüßt und der ihn herausfordernd mißt.
KELLER.

Herr Oberstlieutenant, ich bin untröstlich, Sie verfehlt zu haben. Als ich aus dem Kasino heimkam, wo ich mittags stets zu finden bin – wie gesagt, immer zu finden – da lag Ihre Karte auf dem Tisch – und da ich annehme, daß Dinge von Wichtigkeit zwischen uns zu verhandeln sind, so beeile ich mich – wie gesagt, ich habe mich beeilt –

SCHWARTZE.

Herr Regierungsrat, ich weiß noch nicht, ob in diesem Hause ein Stuhl für Sie da ist, aber da Sie den Weg [149] hierher so rasch gefunden haben, so werden Sie müde sein. Ich bitte, setzen Sie sich.

KELLER.

Ich danke! Setzt sich neben den offen gebliebenen Pistolenkasten, sieht hinein, stutzt, sieht den Oberstlieutenant ungewiß an, überlegend. Hm!

SCHWARTZE.
Nun, sollten Sie mir nichts zu sagen haben?
KELLER.

Gestatten Sie mir zuvor eine Frage: Hat Ihr Fräulein Tochter Ihnen nach unsrem Gespräche über mich Mitteilungen gemacht?

SCHWARTZE.
Herr Regierungsrat, sollten Sie mir nichts zu sagen haben?
KELLER.

O gewiß, ich hätte Ihnen manches zu sagen. Ich würde mich zum Beispiel glücklich schätzen, Ihnen einen Wunsch, eine Bitte vortragen zu dürfen – aber ich weiß nicht recht, ob ... wollen Sie mir wenigstens das eine sagen: Hat Ihr Fräulein Tochter sich in einigermaßen günstiger Weise über mich ausgesprochen?

SCHWARTZE
auffahrend.
Ich will wissen, Herr, wie ich mit Ihnen dran bin – als was ich Sie hier zu behandeln habe?
KELLER.

Ah so, Pardon, jetzt bin ich im klaren. Zu einer Rede ausholend. Herr Oberstlieutenant, Sie sehen in mir einen [150] Mann, der es mit seinem Leben ernst nimmt ... Die Tage einer leichtlebigen Jugend – Schwartze blickt zornig auf. Pardon, ich wollte sagen, seit heute früh ist ein heiliger und – wenn ich so sagen darf – freudiger Entschluß in mir gereift. Herr Oberstlieutenant, ich bin kein Mann der vielen Worte. Ich gehe gerad auf mein Ziel los: Als Ehrenmann zum Ehrenmann oder – kurz, Herr Oberstlieutenant, ich habe die Ehre, Sie um die Hand Ihrer Fräulein Tochter zu bitten.

SCHWARTZE
sitzt still und atmet schwer, das Weinen verbeißend.
KELLER.
Pardon, Sie antworten mir nicht ... bin ich vielleicht nicht würdig –?
SCHWARTZE
nach seiner Hand hinübertastend.

Nicht, nicht, nicht – nicht doch, nicht doch! ... Ich bin ein – alter Mann ... Es war ein bißchen viel für mich in diesen letzten Stunden ... Achten Sie nicht auf mich.

KELLER.
Hm, hm!
SCHWARTZE
aufstehend und dabei den Deckel des Pistolenkastens zuklappend.

Geben Sie mir die Hand, mein junger Freund. Sie haben mir schweres Leid zugefügt – schweres Leid zugefügt! – Aber Sie haben es rasch und männlich wieder gutgemacht. Geben Sie mir auch die andre Hand – [151] so – so! Na, da wollen Sie sie wohl auch sprechen? – Man wird sich doch so manches zu sagen haben – hä?

KELLER.
Ich bitte um die Erlaubnis.
SCHWARTZE
öffnet die Flurthür und spricht hinaus, öffnet dann die Thür links.
Magda!
9. Szene
Neunte Scene
Die Vorigen. Magda.

MAGDA.
Was befiehlst du, Vater?
SCHWARTZE.

Magda, dieser Herr wünscht die Ehre zu – Da er die beiden einander gegenübersieht, übermannt ihn die Bitterkeit. Er wirft zornige Blicke von einem zum andern.

MAGDA
besorgt.
Vater!
SCHWARTZE.

Na, es ist ja jetzt alles in Ordnung! – Macht's nicht zu lang! ... Mehr zu Magda. Es ist ja schon alles in Ordnung.


Ab.
10. Szene
[152] Zehnte Scene
Keller. Magda.

KELLER.
Ja, meine teuerste Magda, wer hätte das ahnen können!
MAGDA.
Also wir werden uns heiraten.
KELLER.

Vor allen Dingen möchte ich in Ihnen den Verdacht nicht aufkommen lassen, als ob Absicht oder Ungeschicklichkeit meinerseits diese Wendung herbeigeführt hätte, die ich ja glücklich preise, die jedoch –

MAGDA.
Ich mache Ihnen ja keinen Vorwurf!
KELLER.
Nun, dazu wäre ja auch kein Grund.
MAGDA.
Durchaus nicht.
KELLER.

Lassen Sie mich Ihnen vor allen Dingen ferner sagen, daß es die ganze Zeit über mein innigster Wunsch gewesen ist, es möchte eine Fügung des Himmels uns wieder zusammenführen.

MAGDA.
Sie haben wohl auch nie aufgehört, mich zu lieben?
[153]
KELLER.

Nun, das könnte ich als ehrlicher Mann und ohne Übertreibung nicht gerade behaupten ... Aber schon seit heute früh ist ein heiliger und – und freudiger Entschluß in mir gereift –

MAGDA.

Verzeihung – eine Frage: Würde dieser heilige und freudige Entschluß ebenso in Ihnen gereift sein, wenn ich in Armut und Schande in meine Heimat zurückgekommen wäre?

KELLER.

Erlauben Sie mal, teuerste Magda: ich bin weder ein Streber noch ein Mitgiftjäger, aber ich muß doch wissen, was ich mir und meiner Stellung schuldig bin. Es wäre andernfalls eben gar keine soziale Möglichkeit gewesen, unsre dereinstigen Beziehungen zu legitimieren.

MAGDA.

Ich muß mich also glücklich preisen, zehn Jahre lang unbewußt auf dieses hohe Ziel hingearbeitet zu haben.

KELLER.

Ich weiß nicht, ob ich zu feinfühlig bin. Aber das klingt beinahe wie Ironie. Und ich glaube nicht, daß – e –

MAGDA.
Daß sich das noch für mich geziemt?
KELLER
abwehrend.
Ah!
[154]
MAGDA.

Ich muß Sie um Nachsicht bitten. Die Rolle des duldenden und geduldeten Weibes ist noch neu für mich. Reden wir also von der ZukunftSetzt sich und bietet Platz an. – – von unserer Zukunft. – Wie denken Sie sich das, was kommt?

KELLER.

Nun, Sie wissen, meine teuerste Magda, ich trage mich mit größeren Plänen. Dieses Provinznest ist nichts für meine Thatkraft ... Zumal ich nun die Pflicht habe, auch Ihnen einen Boden zu schaffen, der Ihrer gesellschaftlichen Gaben würdig wäre! Daß Sie der Bühne und dem Konzertsaal entsagen – nun, das versteht sich ja von selbst.

MAGDA.
So – versteht sich das von selbst?
KELLER.

Aber ich bitte Sie. Sie kennen die Verhältnisse nicht ... Das wäre ein Hemmschuh für mich – ah! Ebensogut könnte ich da auf der Stelle den Dienst quittieren.

MAGDA.
Und wenn Sie das thäten?
KELLER.

Das kann doch nicht Ihr Ernst sein? Ein arbeitender und strebsamer Mensch, der eine hervorragende Laufbahn [155] vor sich sieht, der soll Amt und Würde von sich werfen und als Mann seiner Frau herumvagi – als Mann seiner Frau leben? Soll ich Ihnen die Notenblätter umwenden oder vielleicht Ihre Kasse führen? Nein, meine teuerste Freundin, da unterschätzen Sie mich und die Stellung, die ich im Leben einnehme. Aber sei'n Sie ganz unbesorgt. Sie werden nichts zu bereuen haben ... Ich habe ja allen Respekt vor Ihren bisherigen Triumphen, aber – Fein. die höchsten Preise, nach denen frauenhafte Eitelkeit wohl ringen mag, werden ja doch nur im Salon verteilt.

MAGDA
für sich.
Mein Gott, was ich da thu', das ist ja alles Wahnsinn.
KELLER.
Was sagten Sie?
MAGDA
schüttelt den Kopf.
KELLER.

Und im übrigen, sehn Sie: das Weib, das ideale Weib, wie die moderne Zeit es sich ausmalt, soll ja die Gefährtin, die treue, hingebende Helferin ihres Mannes sein ... Ich denke mir zum Beispiel: Sie werden durch Ihre persönliche Hoheit, durch den Zauber Ihres Gesanges meine Feinde besiegen und meine Freunde – nun, die werden Sie eben noch enger an mich ketten. Und dann, denk ich, wir werden eine Gastlichkeit im großen Stile führen. Unser Haus soll der Mittelpunkt aller der distinguierten Elemente sein, welche gewillt sind, die strenggraziösen [156] Sitten unserer Vorfahren zu pflegen. Graziös und streng, das scheint ein gewisser Widerspruch, ist es aber nicht.

MAGDA.

Sie vergessen, mein Freund, daß das Kind, um dessentwillen diese Verbindung geschlossen wird, die Strenggesinnten von uns fernhalten wird.

KELLER.

Ja – das – – Ich gebe zu, teuerste Magda, es wird Ihnen schmerzlich sein, aber dieses Kind muß selbstverständlich zwischen uns tiefstes Geheimnis bleiben. Niemand darf ahnen –

MAGDA
entsetzt und ungläubig.
Was, was sagen Sie da?
KELLER.

Wir wären in – jeder – Beziehung vernichtet! Nein, nein, es ist absurd, auch nur daran zu denken! ... Aber – e, wir können ja jedes Jahr eine kleine Reise dorthin machen, wo wir es aufziehen lassen. – Man schreibt einen x-beliebigen Namen ins Fremdenbuch; das fällt im Auslande nicht auf, und ist Nachdenklich. wohl auch kaum strafbar ... Und wenn wir fünfzig Jahre alt sind und die andern gesetzlichen Bedingungen wären erfüllt – Lächelnd. das läßt sich ja wohl einrichten, nicht wahr? – dann könnten wir es ja unter irgend einem Vorwande adoptieren – nicht wahr?

[157]
MAGDA
bricht in ein gellendes Lachen aus, dann die Hände faltend und vor sich hinstarrend.

Mein Süßes! Mein Kleines! Mio bambino! Mio pove – ro – bam –! Dich – dich – soll ich – hahahahaha – Hinaus, hinaus! Will die Flügelthür öffnen. Hinaus!

11. Szene
Elfte Scene
Die Vorigen. Schwartze.

SCHWARTZE.
Was –?
MAGDA.
Gut, da bist du! Befreie mich von diesem Menschen. Schaff mir den Menschen vom Halse.
SCHWARTZE.
Was?
MAGDA.

Ich habe alles gethan, was ihr verlangtet. Ich habe mich geduckt und verleugnet ... Ich hab mich auf die Schlachtbank ziehn lassen wie ein Opfertier ... Aber mein Kind verlaß ich nicht ... Damit seine Karriere keinen Schaden nimmt, kann ich doch mein Kind nicht verlassen? Wirft sich in einen Sessel.

SCHWARTZE.
Herr von Keller, wollen Sie mir –
[158]
KELLER.

Sie sehn mich untröstlich, Herr Oberstlieutenant! Aber es scheint: die Bedingungen, die ich im beiderseitigen Interesse stellen mußte, finden nicht den Beifall –

SCHWARTZE.

Meine Tochter ist nicht mehr in der Lage, sich die Bedingungen auszusuchen, unter denen sie – – – Herr von Keller, ich bitte Sie um Verzeihung für den Auftritt, dem Sie soeben ausgesetzt waren ... Erwarten Sie mich in Ihrer Wohnung. Ich werde Ihnen die Einwilligung meiner Tochter selbst überbringen. Dafür verpfände ich Ihnen hier mein Ehrenwort!


Bewegung. Magda richtet sich jäh empor.
KELLER.
Haben Sie bedacht – was – e – –?
SCHWARTZE
Keller die Hand reichend.
Ich danke ihnen, Herr von Keller.
KELLER.
Bitte sehr. Ich habe nur meine Pflicht gethan.

Mit Verbeugung ab.
12. Szene
Zwölfte Scene
Magda. Schwartze.

MAGDA
sich reckend.
So! jetzt bin ich wieder die Alte.
SCHWARTZE
mißt sie eine Weile und verschließt schweigend die drei Thüren.
[159]
MAGDA.
Glaubst du, Vater, ich werde gefügiger werden, wenn du mich einsperrst?
SCHWARTZE.

So! Jetzt sind wir allein. Es sieht uns keiner wie der da! Und der soll uns sehn ... Geh nicht immer herum ... Wir haben miteinander zu reden, mein Kind.

MAGDA
setzt sich.
Gut! – Es wird jetzt wohl klar werden zwischen der Heimat und mir.
SCHWARTZE.
Das wirst du mir doch zugeben, daß ich jetzt ganz ruhig bin?
MAGDA.
Gewiß.
SCHWARTZE.

Ganz ruhig, nicht wahr? – Es zittert nicht einmal der Arm. Was geschehn ist, das ist geschehn. Aber ich habe soeben deinem Verlobten –

MAGDA.
Meinem Verlobten? – Lieber Vater!
SCHWARTZE.

Ja, ich habe deinem Verlobten mein Ehrenwort gegeben. Und so was muß gehalten werden, das siehst du doch ein?

[160]
MAGDA.
Ja, wenn das nun aber nicht in deiner Macht steht, lieber Vater?
SCHWARTZE.

Dann muß ich dran sterben ... dann muß ich eben – dran sterben ... Man kann doch nicht länger leben, wenn man ... Du bist doch Offizierstochter. Das ist dir doch klar?

MAGDA
mitleidig.
Lieber Gott!
SCHWARTZE.

Aber vor dem Tode muß ich doch mein Haus bestellen, nicht wahr? Sag mal, meine Tochter, etwas Heiliges hat doch jeder. Was ist dir wohl so recht im Innersten heilig auf der Welt?

MAGDA.
Meine Kunst!
SCHWARTZE.
Nein, das ist nicht genug. Es muß heiliger sein.
MAGDA.
Mein Kind.
SCHWARTZE.

Gut. Dein Kind ... Dein Kind ... das hast du doch lieb? Magda nickt. Und das würdest du gern wiedersehn? Magda nickt. Und – e, ja – wenn du einen Schwur ablegtest beim – auf seinem Haupte Macht eine Bewegung, als lege er die Hand auf ein Kindeshaupt. dann würdest du nicht falsch schwören?

[161]
MAGDA
verneint lächelnd.
SCHWARTZE.

Na, das ist gut! Aufstehend. Entweder du schwörst mir jetzt bei seinem Haupte, daß du die ehrbare Frau seines Vaters werden willst, oder – keiner von uns beiden geht lebendig aus diesem Zimmer. Sinkt in den Sessel zurück.

MAGDA
nach kurzem Schweigen.

Mein armer alter Papa! Was quälst du dich? Und glaubst du, daß ich mich bei verschlossenen Thüren gutwillig werde von dir niedermachen lassen? ... Das kannst du nicht verlangen.

SCHWARTZE.
Du wirst ja sehn.
MAGDA
in wachsender Erregung.

Ja, was wollt ihr eigentlich von mir? Warum klammert ihr euch an mich? ... Ich hätte fast gesagt: Was geht ihr mich an?

SCHWARTZE.
Das wirst du ja sehn!
MAGDA.

Ihr werft mir vor, daß ich mich verschenkte nach meiner Art, ohne euch und die ganze Familie um Erlaubnis zu fragen. Und warum denn nicht? War ich nicht familienlos? Hattest du mich nicht in die Fremde geschickt, mir mein Brot zu verdienen, und mich noch verstoßen [162] hinterher, weil die Art, wie ich's verdiente, nicht nach deinem Geschmacke war? ... Wen belog ich? An wem sündigte ich? ... Ja, wär' ich eine Haustochter geblieben wie Marie, die nichts ist und nichts kann ohne das Schutzdach irgendeiner Heimat, die aus den Händen des Vaters schlankweg in die des Mannes übergeht – die von der Familie alles empfängt: Brot, Ideen, Charakter und was weiß ich? ... Ja, dann hättest du recht. In der verdirbt durch den kleinsten Fehltritt alles – Gewissen, Ehrgefühl, Selbstachtung ... Aber ich? ... Sieh mich doch an. Ich war eine freie Katze ... Ich gehörte längst zu jener Kategorie von Geschöpfen, die sich schutzlos wie nur ein Mann und auf ihrer Hände Arbeit angewiesen in der Welt herumstoßen ... Wenn ihr uns aber das Recht aufs Hungern gebt – und ich habe gehungert –, warum versagt ihr uns das Recht auf Liebe, wie wir sie haben können, und das Recht auf Glück, wie wir es verstehn?

SCHWARTZE.

Du glaubst wohl, mein Kind, weil du unabhängig und eine große Künstlerin bist, dich hinwegsetzen zu dürfen über –

MAGDA.

Die Künstlerin laß aus dem Spiel! Ich will nichts mehr sein als irgendeine Nähterin oder Dienstmagd, die sich ihr bißchen Brot und ihr bißchen Liebe notdürftig bei fremden Leuten zusammensucht. – O, man weiß ja, was die Familie mit ihrer Moral von uns verlangt ... Im Stich gelassen hat sie uns, Schutz und Freuden gibt sie uns keine, und trotzdem sollen wir in unserer Einsamkeit [163] nach den Gesetzen leben, die nur für sie Sinn haben ... Wir sollen still in den Winkeln hocken und da hübsch sittsam warten, bis irgend ein braver Freiersmann daherkommt ... Ja, bis! Und derweilen verzehrt uns der Kampf ums Dasein Seele und Leib. – Vor uns liegt nichts wie Verwelken und Verbittern, und wir sollen nicht einmal wagen dürfen, das, was wir noch haben an Jugend und überquellender Kraft, dem Manne hinzugeben, nach dem unser Wesen schreit? – – – Knebelt uns meinetwegen, verdummt uns, sperrt uns in Harems und in Nonnenklöster – und das wäre vielleicht noch das beste! – Aber wenn ihr uns die Freiheit gebt, so wundert euch nicht, wenn wir uns ihrer bedienen.

SCHWARTZE.

Ah, das ist er! Das ist der Geist der Empörung, der jetzt durch die Welt geht! Mein Kind – mein liebes Kind, sag mir, daß das nicht dein Ernst war – daß du, daß du – erbarm dich – wenn – Nach dem Pistolenkasten schielend. Ich weiß nicht, was sonst geschieht ... Kind! Erbarm dich meiner!

MAGDA.
Vater, Vater, sei still, das ertrag' ich nicht.
SCHWARTZE.
Ich thu's auch nicht ... Nach dem Pistolenkasten hin. Thu das weg! thu das weg!
MAGDA.
Was, Vater?
[164]
SCHWARTZE.
Nichts, nichts, nichts. – Ich frag' dich zum letzten Male –
MAGDA.
Also du bestehst darauf!
SCHWARTZE.
Mein Kind, ich warn' dich! Du weißt, daß ich nicht anders kann.
MAGDA.

Ja, Vater, du läßt mir keine Wahl. Gut denn ... Und weißt du, ob du mich jenem Manne noch auf den Hals laden darfst? ... Schwartze horcht auf. Ob ich nach eurer Auffassung seiner überhaupt noch würdig bin? Zögernd, in die Weite starrend. Ich meine, ob er in meinem Leben der einzige war?

SCHWARTZE
tastet nach dem Kasten und zieht eine Pistole hervor.

Du Dirne! Er macht etliche Schritte auf sie zu, indem er versucht, die Waffe gegen sie zu erheben. In demselben Augenblicke noch fällt er jäh in den Sessel zurück, wo er regungslos mit starrem Auge sitzenbleibt, die Pistole in der herabhängenden Hand haltend.

MAGDA
schreit gellend auf.

Vater! Und flieht gegen den Ofen, um sich vor der Waffe zu schützen, dann geht sie, die Hände vors Gesicht schlagend, etliche Schritte weit auf und nieder. Vater!Und sinkt mit dem Knie auf einen Sessel, das Gesicht an der Lehne verbergend.


Draußen Rufe und Poltern. Die Thür wird erbrochen.
13. Szene
[165] Dreizehnte Scene
Die Vorigen. Der Pfarrer. Max. Frau Schwartze. Marie.

FRAU SCHWARTZE.
Leopold, was hast du? – Leopold? Zum Pfarrer. Jesus, er ist wie damals!
MARIE.
Lieber Papa, sprich ein Wort! Wirft sich rechts von ihm nieder.
PFARRER.
Laufen Sie zum Arzte, Max.
MAX.
Ist es ein Anfall?
PFARRER.
Es scheint! –

Max ab.
PFARRER
leiser zu Magda.

Kommen Sie zu ihm!Da sie zögert. Kommen Sie. Es scheint zu Ende.Führt sie, die schmerzvoll aufzuckt, zum Stuhle Schwartzes.

FRAU SCHWARTZE
die versucht hat, die Pistole zu lösen.

Laß los, Leopoldchen! Was willst du damit? – Sehn Sie nur, da hält er die Pistole und läßt sie nicht los.

[166]
PFARRER
leise.

Es ist wohl der Krampf. Er kann nicht ... Mein lieber alter Freund, verstehn Sie, was ich zu Ihnen spreche?

SCHWARTZE
neigt ein wenig den Kopf.
MAGDA
sinkt zu seiner linken Seite nieder.
PFARRER.

Gott, der Allbarmherzige, hat Ihnen von oben zugerufen: du sollst nicht richten ... Haben Sie kein Zeichen der Vergebung für sie?

SCHWARTZE
schüttelt langsam den Kopf.
MARIE
neben Magda niedersinkend.
Papa, gib ihr deinen Segen, lieber Papa!
SCHWARTZES
Gesicht überzieht ein verklärendes Lächeln.

Die Pistole entfällt seinen Fingern. Er erhebt mühsam die Hand, sie auf Mariens Haupt zu legen. Mitten in dieser Bewegung geht durch seinen Körper ein Ruck ... Sein Arm fällt zurück. Sein Kopf sinkt nach vorne über.

FRAU SCHWARTZE
aufschreiend.
Leopold!
PFARRER
ihre Hand erfassend.

Er ist heimgegangen ... Er faltet die Hände. Stilles Gebet, unterbrochen von dem Schluchzen der Frauen.

MAGDA
aufspringend und in Verzweiflung die Hände emporstreckend.
Ach, wär' ich nie gekommen!
[167]
PFARRER
macht eine abwehrende Bewegung, die ihr Stille gebietet.
MAGDA
diese Bewegung mißverstehend.

Ihr jagt mich wohl schon hinaus? ... Ich hab ihn in den Tod getrieben – ich werd' ihn doch wohl auch begraben dürfen?

PFARRER
einfach und friedlich.
Es wird Ihnen niemand verwehren, an seinem Sarge zu beten!

Der Vorhang fällt langsam.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Sudermann, Hermann. Dramen. Heimat. Heimat. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-396E-1