Hermann Sudermann
Frau Sorge
Roman

[Widmung]

[3] Meinen Eltern

zum 16. November 1886


Frau Sorge, die graue, verschleierte Frau,
Herzliebe Eltern, Ihr kennt sie genau;
Sie ist ja heute vor dreißig Jahren
Mit Euch in die Fremde hinausgefahren,
Da der triefende Novembertag
Schweratmend auf nebliger Heide lag
Und der Wind in den Weidenzweigen
Euch pfiff den Hochzeitsreigen.
Als Ihr nach langen, bangen Stunden
Im Litauerwalde ein Nest gefunden
Und zagend standet an öder Schwelle,
Da war auch Frau Sorge schon wieder zur Stelle
Und breitete segnend die Arme aus
Und segnete Euch und Euer Haus
Und segnete die, so in den Tiefen
Annoch den Schlaf des Nichtseins schliefen.
Es rann die Zeit. – Die morsche Wiege,
Die jetzt im Dunkel unter der Stiege
Sich freut der langverdienten Rast,
Sah viermal einen neuen Gast.
Dann, wenn die Abendglut verblichen,
Kam aus dem Winkel ein Schatten geschlichen
Und wuchs empor und wankte stumm
Erhobenen Arms um die Wiege herum.
Was Euch Frau Sorge da versprach,
Das Leben hat es allgemach
In Seufzen und Weinen, in Not und Plage,
Im Mühsal trüber Werkeltage,
Im Jammer manch durchwachter Nacht
Ach! so getreulich wahr gemacht.
[3]
Ihr wurdet derweilen alt und grau,
Und immer noch schleicht die verschleierte Frau
Mit starrem Aug' und segnenden Händen
Zwischen des Hauses armen vier Wänden,
Vom dürftigen Tisch zum leeren Schrein,
Von Schwelle zu Schwelle aus und ein,
Und kauert am Herde und bläst in die Flammen
Und schmiedet den Tag mit dem Tage zusammen.
Herzliebe Eltern, drum nicht verzagt!
Und habt Ihr Euch redlich gemüht und geplagt
Ein langes, schweres Leben lang,
So wird auch Euch bei der Tage Neigen
Ein Feierabend vom Himmel steigen.
Wir Jungens sind jung – wir haben Kraft,
Uns ist der Mut noch nicht erschlafft,
Wir wissen zu ringen mit Not und Mühn,
Wir wissen, wo blaue Glücksblumen blühn;
Bald kehren wir lachend heim nach Haus
Und jagen Frau Sorge zur Tür hinaus.

[4] 1

Gerade als das Gut Meyhöfers sich unter dem Hammer befand, wurde Paul, sein dritter Sohn, geboren.

Das war freilich eine schwere Zeit!

Frau Elsbeth mit ihrem vergrämten Gesicht und ihrem wehmütigen Lächeln lag in dem großen Himmelbette, neben sich die Wiege des Neugeborenen, ließ die Augen unruhig umherschweifen und horchte auf jegliches Geräusch, das vom Hofe und aus den Wohnzimmern in ihre traurige Wochenstube drang. – Bei jedem verdächtigen Laut fuhr sie empor, und jedesmal, wenn eine fremde Männerstimme sich hören ließ oder ein Wagen mit dumpfem Rollen dahergefahren kam, fragte sie, in heller Angst die Pfosten des Bettes umklammernd: »Ist's so weit? Ist's so weit?«

Niemand gab ihr Antwort. Der Arzt hatte streng befohlen, jede Aufregung von ihr fern zu halten, aber er hatte nicht bedacht, der gute Mann, daß dieses ewige Hangen und Bangen sie tausendmal härter quälen mußte als die schrecklichste Gewißheit.

Eines Vormittags – am fünften Tage nach der Geburt – hörte sie ihren Mann, den sie in dieser bösen Zeit kaum einmal zu Gesicht bekommen, mit schwerem Fluchen und Seufzen im Nebenzimmer auf und nieder gehen. – Auch ein Wort konnte sie verstehen, ein einziges Wort, das er immer aufs neue wiederholte, das Wort: »Heimatlos!«

Da wußte sie: Es war so weit.

Sie legte die matte Hand auf das Köpfchen des Neugeborenen, der mit einem ernsthaften Gesicht still vor sich hindröselte, und weinte in die Kissen hinein.

Nach einer Weile sagte sie zu der Dienstmagd, die den Kleinen wartete: »Bestell dem Herrn, ich möchte ihn sprechen.«

Und er kam. – Mit seinen dröhnenden Schritten trat er vor das Bett der Wöchnerin und sah sie an mit einem Gesicht, das in seiner erzwungenen Unbefangenheit doppelt verzerrt und verzweifelt dreinschaute.

[5] »Max,« sagte sie schüchtern, denn sie hatte immer Angst vor ihm, »Max, verheimliche mir nichts – ich bin ja ohnehin auf das Schlimmste gefaßt.«

»Bist du?« fragte er mißtrauisch, denn er erinnerte sich an die Warnung des Arztes.

»Wann müssen wir hinaus?«

Als er sah, daß sie so ruhig dem Unglück ins Auge schaute, glaubte er fürder nicht nötig zu haben, ein Blatt vor den Mund zu nehmen, und wetternd brach er los: »Heute – morgen – ganz wie es dem neuen Herrn gefällt! – Nur durch seine Barmherzigkeit sind wir noch hier, – und wenn es ihm so paßt, können wir diese Nacht auf der Straße logieren.«

»So schlimm wird es nicht sein, Max,« sagte sie, mühsam ihre Fassung bewahrend, »wenn er erfährt, daß erst vor ein paar Tagen ein Kleines eingekehrt ist – –«

»So – ich soll wohl betteln gehen bei ihm – was?«

»Oh, nicht doch. Er tut's von selbst. Wer ist es denn?«

»Douglas heißt er – stammt aus dem Insterburgischen – trat sehr breitspurig auf, der Herr, sehr breitspurig – hätt' ihn am liebsten vom Hofe gejagt.«

»Ist uns was übrig geblieben?« Sie fragte es leise und zögernd und sah dabei auf den Neugeborenen nieder, hing doch von der Antwort vielleicht sein junges, schwaches Leben ab.

Er brach in ein hartes Lachen aus. »Ja, ein Trinkgeld – volle zweitausend Taler.«

Sie seufzte erleichtert auf, denn ihr war zumute gewesen, als hörte sie schon das fürchterliche »Nichts« von seinen Lippen schwirren.

»Was sollen uns zwei Tausend Taler,« fuhr er fort, »nachdem ihrer fünfzig in den Sumpf geschmissen sind? Soll ich etwa in der Stadt eine Gastwirtschaft aufmachen oder mit Knöpfen und Bändern handeln? Du hilfst vielleicht noch mit, indem du in vornehmen Häusern nähen gehst, und die Kinder verkaufen Streichhölzchen auf den Straßen – hahaha!«

Er wühlte sich in den schon graumelierten, buschigen [6] Haaren und stieß dabei mit dem Fuß gegen die Wiege, daß sie heftig hin und her schwankte.

»Wozu ist das Wurm nun geboren?« murmelte er düster, dann kniete er neben der Wiege nieder, begrub die winzigen Fäustchen in den Höhlungen seiner großen roten Hände und redete zu seinem Kinde: »Wenn du gewußt hättest, Junge, wie schlecht und niederträchtig diese Welt ist, wie die Unverschämtheit darin siegt und die Rechtlichkeit zugrunde geht, du wärst wahrhaftig geblieben, wo du warst. – Was wirst du für ein Schicksal haben? – Dein Vater ist ein Stück Vagabund, ein Abgewirtschafteter, der sich mit Weib und drei Kindern auf der Straße herumtreibt, bis er einen Ort gefunden hat, wo er sich und die Seinen vollends zugrunde richtet – –«

»Max, sprich nicht so – du brichst mir das Herz,« rief Frau Elsbeth weinend und streckte die Hand aus, um sie auf den Nacken des Mannes zu legen, aber diese Hand sank kraftlos hernieder, ehe sie ihr Ziel erreichte.

Er sprang empor. – »Du hast Recht – genug mit dem Jammern! – Freilich, wenn ich jetzt allein wäre, ein Junggeselle wie in den früheren Tagen, dann ging' ich nach Amerika oder in die russischen Steppen, dort wird man reich, – ja, dort wird man reich, – oder ich spekulierte an der Börse, – heute Hausse, morgen Baisse, – hei, da ließe sich Geld verdienen, aber so – gebunden, wie man ist« – – – er warf einen kläglichen Blick auf Weib und Kind, dann wies er mit der Hand zum Hofe hinaus, von wo die lachenden Stimmen der zwei Älteren hereintönten.

»Ja, ich weiß wohl, daß wir dir jetzt eine Last sein müssen,« sagte die Frau demütig.

»Rede mir nicht von Last!« erwiderte er polternd. »Was ich sagte, war nicht bös gemeint. Ich hab' euch lieb – und damit basta! Es fragt sich jetzt nur, wohin? Wäre wenigstens dieses Neugeborene nicht, so ließen sich die Wechselfälle eines ungewissen Daseins eine Zeitlang ertragen. Aber nun – du krank – das Kind der Pflege bedürftig – zu guter Letzt bleibt uns nichts übrig, als irgendein Bauerngut zu kaufen und die zweitausend Taler als [7] Anzahlung zu geben. Heißa, das kann ein Leben werden – ich mit dem Bettelsack, du mit dem Ranzen – ich mit dem Spaten, du mit dem Milcheimer.«

»Das wäre noch nicht das Schlimmste,« sagte die Frau leise.

»Nein?« Er lachte bitter – »Na, dir kann geholfen werden. Da ist zum Beispiel Mussainen zu verkaufen, das klägliche Moorgrundstück draußen auf der Heide.«

»O warum gerade das?« sagte sie zusammenschauernd.

Er verliebte sich sofort in seinen Gedanken.

»Ja, das hieße den Kelch bis auf die Hefe leeren. Im Angesichte stets die verflossene Herrlichkeit – denn du mußt wissen, das Herrenhaus vom Helenental glänzt dort gerageswegs in die Fenster – ringsum Moor und Brachland an die zweihundert Morgen – vielleicht ließe sich manches urbar machen – Pionier der Kultur könnte man werden. Und was würden die Leute dazu sagen? Der Meyhöfer ist ein ganzer Kerl – würden sie sagen. Er schämt sich seines Unglücks nicht, ja er betrachtete es gewissermaßen mit Ironie. Pah, wahrhaftig! Ironisieren soll man sein Unglück – das ist die einzig erhabene Weltbetrachtung – pfeifen darauf soll man!« – Und er stieß einen gellenden Pfiff aus, so daß die kranke Frau im Bette emporfuhr.

»Verzeih, mein Liebchen,« bat er, ihre Hand streichelnd, plötzlich in der rosigsten Stimmung, »aber hab' ich nicht recht? – Pfeifen soll man darauf. Solange man nur das Bewußtsein hat, ein redlicher Mann zu sein, kann man jedes Ungemach mit einer gewissen Wollust ertragen. Wollust ist das richtige Wort. – Das Grundstück ist jeden Tag zu verkaufen, denn der Besitzer hat sich vor kurzem in eine reiche Wirtschaft hineingeheiratet und läßt das alte Gerümpel nun vollends brach liegen.«

»Überleg's dir erst, Max,« bat die Frau in heller Angst.

»Was soll das Zaudern helfen?« erwiderte er heftig. »Diesem Herrn Douglas dürfen wir nicht zur Last liegen, etwas Besseres können wir mit unseren lumpigen Zweitausend nicht beanspruchen – also frisch zugegriffen –«

[8] Und ohne daß er sich die Zeit nahm, der kranken Frau lebewohl zu sagen, eilte er von dannen.

Wenige Minuten später hörte sie seinen Einspänner zum Hoftor hinausrollen.

Am Nachmittag desselben Tages wurde ihr ein fremder Besuch gemeldet. – Eine schöne, vornehme Dame sei in einer glänzenden Equipage auf den Hof gefahren und begehre der kranken Herrin eine Wochenvisite abzustatten.

Wer es denn sei? – Sie habe ihren Namen nicht nennen wollen.

»Wie seltsam!« dachte Frau Elsbeth, aber da sie in ihrem Kummer ein wenig an himmlische Sendungen zu glauben begann, so sagte sie nicht nein.

Die Tür öffnete sich. Eine schlanke, zartgebaute Gestalt mit feinen, weichen Gesichtszügen trat behutsamen Schrittes an das Bett der Wöchnerin. Sie ergriff ohne weiteres eine ihrer Hände und sagte mit einer sanften, leise verschleierten Stimme: »Ich habe meinen Namen verschwiegen, liebe Frau Meyhöfer, denn ich fürchtete, nicht angenommen zu werden, wenn ich ihn vorher nannte. Und am liebsten möchte ich auch jetzt ungekannt bleiben. Ich muß leider annehmen, daß Sie mich nicht mehr mit Wohlwollen be trachten werden, wenn Sie wissen, wer ich bin.«

»Ich hasse keinen Menschen auf der Welt,« erwiderte Frau Elsbeth, »geschweige denn einen Namen.«

»Ich heiße Helene Douglas,« sagte die Dame leise und drückte die Hand der Kranken fester.

Frau Elsbeth fing sofort an zu weinen, die Besucherin aber, als ob sie eine alte Freundin gewesen wäre, schlang den Arm um ihren Hals, küßte sie auf die Stirn und sagte mit ihrer leisen, tröstlichen Stimme: »Seien Sie mir nicht gram. Das Schicksal hat es gewollt, daß ich Sie in diesem Hause verdränge, aber schuld habe ich nicht daran. Mein Mann hat mir eine Überraschung bereiten wollen, denn der Name dieses Gutes stimmt mit meinem Vornamen überein. Meine Freude war sofort verschwunden, als ich hörte, unter welchen Verhältnissen [9] er es erworben hatte und wie gerade Sie, liebe Frau Meyhöfer, in dieser doppelt schweren Zeit haben leiden müssen. Da zwang es mich denn, mein Herz zu erleichtern, indem ich Sie persönlich um Verzeihung bäte für den Kummer, den ich Ihnen bereitet habe und noch bereiten werde, denn Ihre Leidenszeit ist ja noch nicht vorüber.«

Frau Elsbeth hatte, als ob dies so sein müßte, den Kopf an der Fremden Schulter gelegt und weinte still vor sich hin.

»Und vielleicht kann ich Ihnen auch ein wenig nützen,« fuhr diese fort, »mindestens dadurch, daß ich einen Teil Bitterkeit von Ihrer Seele nehme. Wir Frauen pflegen uns besser zu verstehen als die harten, heftigen Männer einander. Die gemeinsamen Leiden, die auf uns lasten, führen uns näher. Und vor allen Dingen eins: Ich habe mit meinem Manne gesprochen und bitte Sie in meinem und in seinem Namen, dieses Haus so lange als Eigentum zu betrachten, als es Ihnen irgend beliebt. Wir bringen den Winter meistens in der Stadt zu und haben zudem noch ein zweites Gut, das wir durch einen Verwalter bewirtschaften lassen wollen. Sie sehen also, daß Sie uns in keiner Weise stören und höchstens einen Gefallen erweisen, wenn Sie noch ein halbes Jahr und darüber hier schalten und walten wie bisher.«

Frau Elsbeth dankte nicht, aber der tränenfeuchte Blick, den sie zu der Fremden erhob, war Dank genug.

»Jetzt seien Sie wieder heiter, liebste Frau,« fuhr diese fort, »und wenn Sie für die Zukunft Rat und Hilfe brauchen, bedenken Sie, daß hier jemand ist, der viel an Ihnen gut zu machen hat. – Und welch ein prächtiges Kind!« – sie wandte sich nach der Wiege hin – »ein Junge oder ein Mädel?«

»Ein Junge,« sagte Frau Elsbeth mit einem schwachen Lächeln.

»Findet er schon Geschwister in dieser Welt? – Aber was frag' ich! Die beiden strammen kleinen Kerle draußen, die mich am Wagen empfingen – darf ich sie näher kennen lernen? – Nein, hier nicht,« wehrte sie hastig ab – »es [10] könnte Sie noch mehr erregen. Später! Später! – Vorerst interessiert uns dieser kleine Weltbürger.«

Sie beugte sich über die Wiege und nestelte das Wickelzeug zurecht.

»Er macht schon eine ganz altkluge Miene,« sagte sie scherzend.

»Die Sorge hat an seiner Wiege gestanden,« erwiderte Frau Elsbeth leise und schwermütig, »daher hat er das alte Gesicht.«

»Oh, nicht abergläubisch sein, meine Beste,« erwiderte die Besucherin. »Ich habe mir sagen lassen, daß Neugeborene in ihren Zügen oft etwas Greisenhaftes tragen. Das verliert sich bald.«

»Gewiß haben auch Sie Kinder?« fragte Frau Elsbeth.

»Ach, ich bin ja eine so junge Frau!« – erwiderte die Besucherin und errötete dabei, »kaum sechs Monate verheiratet. – Aber –« und sie errötete noch tiefer.

»Gott stehe Ihnen bei in Ihrer schweren Stunde,« sagte Frau Elsbeth, »ich werde für Sie beten.«

Das Auge der Fremden wurde feucht. »Dank, tausend Dank,« sagte sie. »Und lassen Sie uns Freundinnen sein! Ich bitte Sie recht herzlich! – Wissen Sie was? Nehmen Sie mich zur Patin für diesen Ihren Jüngsten und erweisen Sie mir den gleichen Liebesdienst, wenn der Himmel mich segnet. – –«

Die beiden Frauen drückten sich stumm die Hände. Ihr Freundschaftsbund war geschlossen. – – –

Als die Besucherin sie verlassen hatte, sah Frau Elsbeth mit einem scheuen, traurigen Blick in die Runde. »Es war noch eben so hell, so sonnig hier,« murmelte sie, »und ist jetzt wieder so dunkel geworden.«

Nach einer kleinen Weile kamen die beiden Ältesten trotz der Abwehr der Wärterin mit hellem Jubel in das Krankenzimmer gestürzt. Ein jeder hielt eine Zuckertüte in der Faust.

»Das hat uns die fremde Dame geschenkt,« jauchzten sie.

Frau Elsbeth lächelte. »Pst, Kinder,« sagte sie, »ein Engel ist bei uns gewesen.«

Die beiden kleinen Burschen machten ängstliche Augen und fragten: »Mama, ein Engel?«

[11] 2

So wurde Frau Douglas Pauls Taufpatin. Wohl war Meyhöfer nicht wenig ungehalten über die neue Freundschaft, denn »das Mitleid der Glücklichen brauche ich nicht« pflegte er zu sagen, aber als die milde, freundliche Frau zum zweitenmal auf dem Hofe erschien und ihm gut zuredete, wagte er nicht länger nein zu sagen.

Auch in den ferneren Verbleib auf der alten Heimstätte willigt er – freilich mit Widerstreben – ein. Die Wirtschaft Mussainen, die er in der Tat noch an demselben Tage käuflich erstanden hatte, war in so jämmerlichem Zustande, daß ein Verweilen darin während der kalten Herbsttage für Weib und Kind gefährlich schien. Vor allem mußten die notwendigsten Reparaturen besorgt und Zimmermann, Maurer und Töpfer herbeigeholt werden, ehe an einen Umzug zu denken war.

Nichtsdestoweniger sah sich Frau Elsbeth durch den Eigensinn ihres Mannes gezwungen, lange bevor die Herrichtung der neuen Wohnung vollendet war, dorthin überzusiedeln. Als nämlich eines Tages ein Inspektor des neuen Herrn mit einer Anzahl Arbeiter auf dem Hofe erschien und in seinem Auftrage bescheiden um Unterkunft bat, erklärte er dessen Handlungsweise für eine ihm geflissentlich angetane Schmach und war entschlossen, keinen Tag länger auf dem Boden zu verweilen, den er einst sein Eigentum genannt hatte. – – – –

Es war ein kalter, trüber Novembertag, als Frau Elsbeth mit ihren Kindern dem alten, lieben Hause Valet sagte. – Ein feiner Sprühregen rieselte, alles durchnässend, vom Himmel. In grauen Nebel eingehüllt, öde und trostlos lag die Heide vor ihren Blicken.

Das Jüngste an der Brust, die beiden älteren Kinder weinend um sich her, so bestieg sie den Wagen, der sie dem neuen und ach! so düsteren Schicksal entgegenführte.

Als sie zum Hoftor hinausrollten und der kalte Heidewind ihnen mit eisigen Ruten ins Gesicht peitschte, da fing auch das Kleine, das so lange still und friedlich dagelegen [12] hatte, kläglich zu weinen an. Sie hüllte es fester in ihren Mantel und beugte sich tief auf das kleine, zitternde Körperchen nieder, um die Tränen nicht zu zeigen, die ihr unaufhaltsam über die Wangen rollten.

Nach einer halben Stunde Fahrt auf den lehmigen, regendurchweichten Wegen erreichte der Wagen sein Ziel. Fast hätte sie laut aufgeschrieen, als sie das neue Heimwesen in seiner Trostlosigkeit und seinem Verfalle vor ihren Blicken liegen sah.

Langgestreckte, aus Lehm und Heidekraut aufgeführte Wirtschaftsgebäude – ein sumpfiger Hof – ein niedriges, mit Schindeln gedecktes Wohnhaus, von dessen Wänden der Kalk stellenweise abgebröckelt war und die nackte Mauer bloßlegte, – ein verwilderter Garten, in dem die letzten traurigen Reste des Sommers, Astern und Sonnenblumen, neben halbverwesten Küchenkräutern wucherten, ringsum ein grell angestrichener Zaun, dem man vor seinem Ende noch eine letzte Ölung gegeben zu haben schien – das war der Ort, an dem die Familie des abgewirtschafteten Gutsbesitzers fortan zu hausen hatte.

Das war der Ort, an dem der kleine Paul heranwuchs, dem die Liebe seiner Kindheit, die Sorge seines halben Lebens galt. – – – –

Er war in seinen ersten Jahren ein gar zartes, siechendes Geschöpf, und in mancher Nacht zitterte die Mutter, daß das matte Lämpchen seines Lebens verlöschen werde, ehe der Morgen graute. Dann saß sie in dem düsteren, niederen Schlafzimmer, die Ellbogen auf die Kante des Bettchens gestützt, und starrte mit brennenden Augen auf das magere Körperchen nieder, das ein Krampf schmerzhaft zusammenzerrte.

Aber er überstand alle die Krisen der ersten Kindheit, und mit fünf Jahren war er, wenn auch schwächlich an Gliedern und blaß, fast welk im Gesichte – die alten Züge hatte er richtig beibehalten –, ein gesunder Knabe, auf dessen Emporkommen man Hoffnung setzen konnte.

In dieselbe Zeit fallen seine frühesten Erinnerungen.

[13] Die erste, die er sich in späteren Jahren vielfach zurückrief, war folgende:

Das Zimmer ist halbdunkel. An den Fenstern blühen die Eisblumen, und rötlich dringt der Schein des Abendrots durch die Gardinen. Die älteren Brüder sind Schlittschuhlaufen gegangen, er aber liegt in seinem Bette, denn er muß frühe schlafen gehen, und neben ihm sitzt die Mutter, die eine Hand um seinen Hals gelegt, die andere auf der Kante der Wiege, in der die beiden kleinen Schwesterchen schlafen, die der Storch vor einem Jahr gebracht hatte, beide an ein und demselben Tage.

»Mama, erzähl mir ein Märchen,« bittet er.

Und die Mutter erzählte. Was? daran erinnerte er sich nur dunkel, aber es war darin von einer grauen Frau die Rede, die in allen trüben Stunden die Mutter besucht hatte, eine Frau mit bleichem, hagerem Gesicht und dunkeln, verweinten Augen. Sie war wie ein Schatten gekommen und wie ein Schatten gegangen, hatte die Hände über der Mutter Haupt gebreitet, ungewiß, ob zum Segen oder zum Fluche, und allerhand Worte gesprochen, die auch auf ihn, den kleinen Paul, Bezug hatten. Es war darin von einem Opfer und einer Erlösung die Rede gewesen, aber die Worte vergaß er wieder, wahrscheinlich, weil er noch zu dumm war, sie zu verstehen. Aber einer Sache erinnerte er sich ganz genau: Während er, schier atemlos vor Grauen und Erwartung, den Worten der Mutter lauschte, sah er plötzlich die graue Gestalt, von der sie sprach, leibhaftig an der Tür stehen – ganz dieselbe mit ihren erhobenen Armen und ihrem blassen, traurigen Gesicht. Er verbarg den Kopf im Arm der Mutter – sein Herz pochte, der Atem fing an, ihm zu fehlen, und in Todesangst mußte er aufschreien: »Mama, da ist sie, da ist sie!«

»Wer? die Frau Sorge?« fragte die Mutter.

Er antwortete nicht und fing zu weinen an.

»Wo denn?« fragte die Mutter weiter.

»Dort in der Tür,« erwiderte er, sich aufrichtend und ihren Hals umklammernd, denn er hatte große Angst.

[14] »O du kleiner Dummrian!« sagte die Mutter. »Das ist ja Papas langer Reisemantel.« Und sie holte den Mantel her und hieß ihn Futter und Oberzeug betasten, damit er's ganz genau wüßte, und er gab sich darein, aber innerlich war er nur um so fester überzeugt, daß er die graue Frau von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte. Und nun wußte er auch, wie sie hieß.

»Frau Sorge« hieß sie.

Aber die Mutter war nachdenklich geworden und ließ sich nicht bewegen, das Märchen zu Ende zu erzählen. Auch in späteren Zeiten nicht. Mochte er sie noch so flehentlich bitten.

Von dem Vater hatte er aus jenen Jahren nur eine dunkle Erinnerung bewahrt. Ein Mann mit großen Wasserstiefeln, der die Mutter schalt und die Brüder prügelte und ihn selbst zu übersehen pflegte. Nur bisweilen fing er einen scheelen Blick auf, der ihm nichts Gutes zu bedeuten schien. Manchmal, besonders wenn er in der Stadt gewesen war, hatte sein Gesicht eine dunkelrote Farbe wie ein überheizter Kessel, und sein Gang lief kreuz und quer von einer Diele auf die andere. Dann spielte sich immer dieselbe Geschichte ab: Zuerst liebkoste er die beiden Zwillinge, die er ganz besonders in sein Herz geschlossen hatte, und schaukelte sie auf seinen Armen, während die Mutter dicht dabei stand und mit angstvollen Blicken alle seine Bewegungen verfolgte; dann setzte er sich zum Essen, stöckerte ein wenig in den Schüsseln herum und schob sie dann beiseite, indem er den »Fraß« power und unschmackhaft nannte, riß auch wohl Max und Gottfried eins mit der Gerte über den Nacken, war auf die Mutter böse und ging schließlich hinaus, um mit den Knechten Händel anzufangen. Weithin hallte dann seine wetternde Stimme über den Hofraum, so daß selbst der Karo an seiner Kette den Schwanz zwischen die Beine kniff und sich in den hintersten Winkel seiner Bude zurückzog. – Kehrte er nach einer Weile in das Zimmer zurück, so war seine Stimmung meistens von Zorn in Verzweiflung umgeschlagen. Er rang die Hände, [15] klagte über das Elend, in dem er hier hausen müsse, und sprach zu sich selber von allerhand großen Dingen, die er unternommen haben würde, wenn nicht dies oder das ihn verhindert hätte, und wenn Himmel und Erde nicht miteinander verschworen wären, ihn zugrunde zu richten. Dann trat er wohl ans Fenster und schüttelte die Faust nach dem »weißen Hause« hin, das aus der Ferne so freundlich herüberblickte.

Ja, dieses »weiße Haus«!

Der Vater schalt darauf, er runzelte die Brauen, wenn nur sein Blick nach jener Richtung hinschweifte, und er selbst, er hatte es so lieb, als wenn ein Stück seiner Seele dort weilte. Warum? Er wußte es selbst nicht. Vielleicht nur, weil die Mutter es liebte. Auch sie stand ja gar oft am Fenster und schaute darauf hin, aber sie runzelte nicht die Brauen, o nein! – ihr Gesicht wurde weich und wehmütig, und aus ihren Augen strahlte eine Sehnsucht, so inbrünstig, daß ihm, der still daneben stand, gar oft ein Schauer heiß über den Nacken lief.

War doch sein kleines Herz von ganz derselben Sehnsucht erfüllt! Erschien ihm doch, so lange er den ken konnte, jenes Haus als der Inbegriff alles Schönen und Herrlichen! Stand es doch, wenn er die Lider zudrückte, allezeit vor seinen Augen, schlich es sich doch selbst in seine Träume hinein!

»Bist du schon einmal in dem ›weißen Hause‹ gewesen?« fragte er eines Tages die Mutter, als er seine Wißbegier nicht länger zügeln konnte.

»O ja, mein Sohn,« erwiderte sie, und ihre Stimme klang traurig und unsicher.

»Oft, Mama?«

»Sehr oft, mein Junge. Deine Eltern haben einmal dort gewohnt, und du bist dort zur Welt gekommen.«

Seitdem war ihm das »weiße Haus« dasselbe, was dem Menschengeschlechte das verlorene Paradies. – – –

»Wer wohnt denn jetzt in dem ›weißen Hause‹?« fragte er ein andermal.

»Eine schöne, freundliche Frau, die alle Menschen lieb hat und dich ganz besonders, denn du bist ja ihr Patenkind.«

[16] Ihm war zumute, als ergösse sich eine unendliche Fülle von Glück über sein Haupt. Er war so aufgeregt, daß er zitterte.

»Warum fahren wir denn nicht zu der schönen, freundlichen Frau?« fragte er nach einer Weile.

»Papa will's nicht haben,« erwiderte sie, und ihre Stimme hatte einen eigentümlich scharfen Klang, der ihm auffiel.

Er fragte nicht weiter, denn des Vaters Wille galt als ein Gesetz, dessen Gründen niemand nachzuforschen hatte, aber an diesem Tage knüpfte das Geheimnis des »weißen Hauses« ein neues Band zwischen Mutter und Sohn. – Öffentlich durfte nicht von ihm gesprochen werden. Der Vater wurde wütend, sobald man seine Existenz nur andeutete, und auch die Brüder mochten mit ihm, dem Jüngsten, nicht gern darüber reden; wahrscheinlich fürchteten sie, daß er's in seiner Dummheit wiedersage. Aber die Mutter, die Mutter vertraute ihm!

Wenn sie miteinander allein waren – und sie waren während der Schulzeit fast immer allein – dann öffnete sich ihr Mund und mit dem Munde das Herz, und das »weiße Haus« stieg aus ihren Erzählungen immer höher und leuchtender vor seinen Augen empor. Bald kannte er jedes Zimmer, jede Laube im Garten, den grünumbuschten Weiher mit der spiegelnden Glaskugel davor und die Sonnenuhr auf der Terrasse; man denke, eine Uhr, auf welcher die liebe Sonne selbst die Stunden anzeigen mußte. Welch ein Wunder!

Er hätte mit geschlossenen Augen auf Helenental umhergehen können und sich dennoch nicht verirrt.

Und wenn er mit Klötzchen spielte, dann baute er sich ein weißes Haus mit Terrassen und Sonnenuhren – zwei Dutzend auf einmal! – grub Teiche in den Sand und befestigte Murmelsteine auf kleinen Pfählen, um die Glaskugeln anzudeuten. Aber freilich, spiegeln taten sie nicht.

[17] 3

Zu derselben Zeit faßte er den Plan, dem »weißen Hause« einen Besuch abzustatten. Ganz auf eigene Faust. Er verschob es auf den Frühling, als aber der Frühling kam, fand er nicht den Mut dazu. Er verschob es auf den Sommer, aber auch dann kamen allerhand Hindernisse dazwischen. Einmal hatte er einen großen Hund allein auf der Wiese umherstreichen sehen – wer konnte wissen, ob es nicht ein toller war? – und ein andermal war ihm der Bulle mit gesenkten Hörnern auf den Leib gerückt.

»Ja, wenn ich groß sein werde, wie die Brüder,« so tröstete er sich, »und in die Schule gehe, dann werde ich mir einen Stock nehmen und den tollen Hund totschlagen, und den Bullen werd' ich bei den Hörnern fassen, daß er mir nichts tun kann.«

Und er verschob es auf das nächste Jahr; denn dann sollte er beginnen, in die Schule zu gehen, ganz wie die großen Brüder.

Die großen Brüder waren Gegenstand seiner Anbetung. Zu werden wie sie, erschien ihm das letzte Ziel menschlicher Wünsche. Auf Pferden reiten – auf großen wirklichen, nicht bloß auf hölzernen – Schlittschuh laufen, schwimmen ganz ohne Binsen und Schweinsblasen und Vorhemdchen tragen, weiße, gestärkte, die mit Bändern um den Leib befestigt werden, ach, wer das könnte!

Aber dazu muß man erst groß sein, tröstete er sich. Diese Gedanken behielt er ganz für sich, der Mutter mochte er sie nicht sagen, und den Brüdern selbst, – o die machten sich sehr wenig mit ihm zu schaffen. Er war ein solcher Knirps in ihren Augen, und wenn die Mutter bestimmte, daß sie ihn irgendwohin mitnähmen, waren sie unwillig, denn dann mußten sie auf ihn achtgeben und um seiner Dummheit willen die schönsten Streiche aufgeben. Paul fühlte das wohl, und um ihren bösen Gesichtern und noch böseren Püffen auszuweichen, sagte er meistens, er wolle lieber zu Hause bleiben, mochte ihm auch noch so weh ums Herze sein. Dann setzte er sich auf den Pumpenschwengel, [18] und während er sich leise hin und her schaukelte, träumte er von den Zeiten, da er's den Brüdern gleichtun wollte.

Auch im Lernen. – Und das war keine Kleinigkeit, denn beide, Max sowohl wie Gottfried, saßen die Ersten in ihrer Schule und brachten zu den Feiertagen stets sehr schöne Zeugnisse mit nach Hause. Wie schön die waren, ersieht man daraus, daß sie ihnen von dem Vater je einen Silbergroschen, von der Mutter eine Honigstulle eintrugen.

An einem solchen Freudentage hörte er den Vater sagen: »Ja, wenn ich die beiden Ältesten in eine gute Schule geben könnte, da würde was aus ihnen werden, denn sie haben ganz meinen aufgeweckten Kopf, aber Bettler, wie wir sind, werden wir sie wohl auch zu Bettlern erziehen müssen.«

Paul dachte viel darüber nach, denn er wußte bereits, daß Max zum Feldmarschall und Gottfried zum Feldzeugmeister geboren sei. Es hatte sich nämlich einmal ein Ruppiner Bilderbogen mit Abbildungen der österreichischen Armee in das Heidehaus verirrt, und an diesem Tage waren die Brüder einig geworden, die beiden höchsten Würden der Generalität unter sich zu verteilen, während ihm, dem Jüngeren, eine Unterleutnantsstelle zufallen sollte. Seitdem war allerdings eine Periode gekommen, in der der eine den Beruf zum Trapper, der andere zum Indianerhäuptling in sich fühlte, aber Pauls Gedanken blieben an jenen goldgestickten Uniformen haften, mit denen die hölzernen Speere und die aus Lumpen zusammengeflickten Sandalen, wie sie die Brüder beim Spielen trugen – die letzteren nannten sie »Mokassins« – keinen Vergleich aushalten konnten. Auch warum sie später wieder Naturforscher und Superintendenten werden wollten, blieb ihm unverständlich – die Neu-Ruppiner Bilder waren doch das beste.

Zu derselben Zeit begannen die Zwillinge gehen zu lernen. Käthe, die ältere – sie war um dreiviertel Stunden früher zur Welt gekommen – machte den Anfang, und Grete folgte ihr drei Tage später nach.

[19] Das war ein bedeutungsvolles Ereignis in Pauls Leben. Plötzlich stand er gebannt in einem Kreis von Pflichten, der ihn so bald nicht wieder freilassen sollte.

Niemand hatte ihm aufgetragen, die ersten Schritte der kleinen Schwestern zu bewachen; aber so selbstverständlich es stets gewesen war, daß er seine Schuhe schon am Abend putzte und die der Brüder dazu, daß er sein Röckchen viereckig zusammengefaltet zu Kopfenden des Bettes niederlegte und die beiden Strümpfe kreuzweise darüber, daß er nie einen Flecken ins Tischtuch machte, und daß er vom Vater einen Denkzettel erhielt, wenn das Unglück einem der Brüder passierte, so selbstverständlich war es auch, daß er sich fortan der kleinen Schwestern annahm und mit altkluger Sorge über ihren tollkühnen Steh- und Gehkunststücken wachte.

Er kam sich so wichtig in diesem neuen Amte vor, daß selbst die Sehnsucht nach der Schule geringer wurde, und hätte er allenfalls noch – pfeifen können, das Maß seiner Wünsche wäre voll gewesen.

Ja, pfeifen können, wie Jons, der Knecht, oder auch nur wie die älteren Brüder, das war nun das Ziel seiner Träume, der Gegenstand unaufhörlicher Studien. Aber er mochte noch so viel den Mund spitzen und noch so viel die Lippen anfeuchten, um sie geschmeidig zu machen, kein Ton kam zum Vorschein. Ja, wenn er die Luft einzog, dann ging es allenfalls – einmal war es ihm sogar gelungen, die ersten vier Töne von »Ist ein Jud' ins Wasser gefallen« hervorzubringen, aber jeder zünftige Pfeifer weiß, daß die Luft zum Munde hinausgestoßen werden muß, und das gerade war es, was er nicht lernen konnte.

Auch hierin tröstete er sich mit dem Gedanken: »Wenn ich erst groß sein werde.«

Die Weihnachten dieses Jahres brachten eine Freudenbotschaft. Von der »guten Tante« aus der Stadt, einer Schwester seiner Mutter, traf eine Kiste ein mit allerhand schönen und nützlichen Sachen, Bücher und Hemdenzeug für die Brüder, Kleidchen für die Schwestern und für ihn ein Samtrock, ein wirklicher Samtrock, mit Husarenschnüren [20] und großen blanken Knöpfen. – Das war eine Freude! – Aber die allerschönste Bescherung stand erst in dem Briefe, den die Mutter mit Tränen der Rührung und der Freude vorlas. Die gute Tante schrieb, daß sie aus dem letzten Briefe »Elsbeths« ersehen habe, wie es ihres Mannes höchster Wunsch sei, den beiden ältesten Knaben eine bessere Schulbildung zu geben, und daß sie sich infolgedessen entschlossen habe, sie zu sich ins Haus zu nehmen und sie das Gymnasium auf eigene Kosten durchmachen zu lassen. Die Brüder jauchzten, die Mutter weinte, der Vater rannte in der Stube umher, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und murmelte aufgeregte Worte.

Er saß derweilen ganz still am Bettchen der Schwestern und freute sich innerlich.

Da kam die Mutter zu ihm heran, barg das Antlitz in seinen Haaren und sagte: »Wirst du es auch einmal so gut haben, mein Junge?«

»Ach der!« sagte der Vater, »der kapiert ja nichts.«

»Er ist noch so jung!« erwiderte die Mutter, seine Wangen streichelnd, und dann zog sie ihm den schönen Samtrock an; den durfte er, weil's Feiertag war, bis zum Abend anbehalten. Und auch die Brüder kamen und herzten ihn, teils weil ihnen das Herz so voll von Freude war, teils des schönen Samtrockes wegen. So gut waren sie niemals zu ihm gewesen.

Ja, das waren Weihnachten!

Und als der Frühling sich näherte, ging's an ein großes Nähen und Sticken für die Aussteuer. Paul durfte beim Zuschneiden behilflich sein, die Elle halten und die Schere zureichen, und die Zwillinge lagen auf der Erde und wühlten in der weißen Leinwand.

Die Brüder wurden ausgestattet wie zwei Prinzen. Nichts wurde vergessen. Selbst Schlipse bekamen sie, die hatte die Mutter aus einer alten Taftmantille zurechtgeschneidert.

Die Brüder waren in dieser Zeit ungeheuer stolz. Sie spielten bereits die Herren, jeder auf seine Weise. Max [21] drehte sich Zigaretten, indem er Knaster aus des Vaters Tabakskasten in kleine Papiertüten schüttete, die er dann an dem breiten Ende in Brand steckte, und Gottfried setzte sich eine Brille auf, die er in der Schule für sechs Hosenknöpfe erstanden hatte.

»Gefall' ich dir so?« fragte er, vor Paul hin und her stolzierend, und da dieser »ja« sagte, wurde er abgeküßt; hätte er »nein« gesagt, würde er einen Katzenkopf bekommen haben.

Gleich nach Ostern fuhren die beiden Brüder ab. Das gab viel Tränen im Hause. Als aber der Wagen zum Hoftor hinausgerollt war, da preßte die Mutter ihr tränenüberströmtes Gesicht gegen Pauls Wange und flüsterte: »Du bist lange vernachlässigt worden, mein armes Kind; jetzt sind wir wieder zu zweien wie vordem.«

»Mama, au Tuß!« schrie die kleine Käthe, die Ärmchen ausreckend, und ihre Schwester tat desgleichen.

»Ja, ihr seid ja auch noch da!« rief die Mutter, und heller Sonnenschein leuchtete über ihr blasses Gesicht.

Und dann nahm sie jede auf einen Arm, trat mit ihnen ans Fenster und schaute lange nach dem »weißen Hause« hinüber.

Paul steckte den Kopf zwischen den Falten ihres Kleides hervor und tat desgleichen.

Die Mutter senkte den Blick zu ihm herab, und als er seinem altklugen Kinderauge begegnete, errötete sie ein wenig und lächelte. Aber keines sprach ein Wort.

Als der Vater aus der Stadt zurückkam, verlangte er, daß Paul anfangen sollte, in die Schule zu gehen. –

Die Mutter wurde sehr traurig und bat, ihn doch noch ein halbes Jahr daheimzulassen, damit sie sich nicht allzusehr nach den beiden Ältesten bange, sie wolle ihn selber unterrichten und weiter bringen, als der Lehrer es vermöchte. Aber der Vater wollte nichts davon wissen und schalt sie eine Tränenliese.

Paul bekam einen Schreck. – Die Sehnsucht nach der Schule, die ihn früher stets erfüllt hatte, war ganz verschwunden; freilich, jetzt waren ja auch die Brüder nicht mehr da, denen er nachzueifern hatte.

[22] Am nächsten Tage nahm der Vater ihn bei der Hand und führte ihn ins Dorf hinüber, dessen erste Häuser etwa zweitausend Schritt von dem Meyhöferschen Grundstück entfernt lagen.

Immerhin ein tüchtiges Stück Weges für einen so kleinen Burschen.

Aber Paul hielt sich wacker. Er hatte so große Furcht, vom Vater Schläge zu bekommen, daß er bis an das Weltende marschiert wäre.

Die Schule war ein niedriges, strohbedecktes Gebäude, nicht viel anders wie ein Bauernhaus, aber da neben standen allerhand hohe Stangen mit Leitern und Gerüsten.

»Daran werden die faulen Kinder aufgehängt,« erklärte der Vater.

Pauls Angst erhöhte sich noch; als aber der Lehrer, ein freundlicher, alter Mann mit weißen Bartstoppeln und einer fettigen Weste, ihn zu sich aufs Knie nahm und ihm ein schönes, buntes Bilderbuch zeigte, da wurde er wieder ruhig, nur die vielen fremden Gesichter, die von den Bänken her nach ihm hinstarrten, schienen ihm nichts Gutes zu bedeuten.

Er erhielt den letzten Platz und mußte zwei Stunden lang Grundstriche auf die Schiefertafel malen.

In der Zwischenpause kamen die großen Jungen an ihn heran und fragten nach seinem Frühstücksbrote, und als sie sahen, daß es mit Schlackwurst belegt war, nahmen sie es ihm fort. Er ließ sich das ruhig gefallen, denn er glaubte, es müsse so sein. Beim Nachhausegehen prügelten sie ihn, und einer stopfte ihm Nesseln in den Halskragen. Er glaubte, auch das müsse so sein, denn er war ja der Kleinste; aber als er die Häuser des Dorfes hinter sich hatte und einsam auf der sonnbeglänzten Heide daherging, da fing er zu weinen an. Er warf sich unter einem Wacholderbusch nieder und starrte zum blauen Himmel in die Höhe, wo die Schwalben hin und her schossen.

»Ach, wenn du doch auch so fliegen könntest!« dachte er, – da fiel das »weiße Haus« ihm ein.

Er richtete sich auf und suchte es mit den Augen. Wie [23] das verzauberte Schloß, von welchem die Mutter in ihren Märchen zu erzählen wußte, strahlte es zu ihm herüber. Die Fenster glitzerten wie Karfunkelsteine, und die grünen Büsche wölbten sich ringsum wie eine hundertjährige Dornenhecke.

In seinen Schmerz mischte sich ein Gefühl des Stolzes und des Selbstbewußtseins. »Du bist nun groß,« sagte er sich, »denn du gehst ja in die Schule. Und wenn du jetzt die Wanderschaft antreten wolltest, kann niemand etwas dagegen haben.« Und dann kam wieder die Angst über ihn. Der böse Bulle und die tollen Hunde – man kann ja nicht wissen. Er beschloß, sich die Sache bis zum nächsten Sonntage zu überlegen.

Aber das »weiße Haus« ließ ihm fortan keine Ruhe. Jedesmal, wenn er über die Heide ging, fragte er sich, was denn eigentlich an jenem Wege Schlimmeres wäre als an dem nach der Schule. Freilich, die Fahrstraße – die lief durch einen dunklen Fichtenwald, und in solchen Wäldern hausen allerhand Zwerge und Hexen, auch Wölfe kommen nicht selten darin vor, wie die Geschichte vom Rotkäppchen zeigt, aber wenn er quer über die Wiese ging, dann behielt er das Heimathaus stets in den Augen und konnte des Rückweges sicher sein.

Der Gang erschien ihm wie eine Ehrenpflicht, die er jetzt, da er »groß« sei, zu erfüllen habe, und wenn die Angst aufs neue in ihm erwachte, schalt er sich einen Feigling. Dies Wort galt in der Schule als eine große Beschimpfung.

Als der Sonntag kam, war er entschlossen, die Fahrt zu wagen. Er schlich sich um den Zaun herum und lief, so rasch er laufen konnte, über die väterlichen Wiesen in der Richtung nach dem »weißen Hause« zu.

Dann kam ein Zaun, der mit leichter Mühe zu überklettern war, und dann ein Stück fremden Heidelandes, auf dem er noch nie gewesen war. Aber auch hier gab es nichts Gefährliches. Das Heidekraut glänzte im Sonnenschein, die welken Katzenpfötchen knisterten zu seinen Füßen, ein warmer Wind strich ihm entgegen. Er versuchte [24] zu pfeifen, aber er mußte noch immer die Luft einziehen, um einen Ton zu erzeugen. Darüber schämte er sich, und ein kleinmütiges Gefühl bemächtigte sich seiner.

Dann kam ein sumpfiges Moor, das wiederum seinem Vater gehörte. Der sprach oft davon. Er ging mit dem Gedanken um, Torf darin zu stechen, aber er wollte die Sache nur im Großen beginnen, und dazu fehlten ihm die nötigen Gelder.

Paul sank bis an die Knöchel im Sumpfe ein, und jetzt erst kam er auf den Gedanken, daß er die neuen Stiefel vielleicht beschmutzen würde. Er erschrak, denn er erinnerte sich der Worte der Mutter: »Schone sie sehr, mein Junge, ich habe sie von meinem Milchgelde abgespart.« Auch den schönen Samtrock trug er, weil es eben Sonntag war. Er besah die glänzenden Seidenschnüre und war einen Moment unschlüssig, ob er nicht lieber umkehren sollte, nicht des Samtrockes wegen, nein, nur um die Mutter nicht zu betrüben.

»Aber vielleicht komme ich doch heil hindurch,« so tröstete er sich und begann weiter zu laufen. Der Boden wogte unter seinen Füßen, und bei jedem Schritte ertönte ein quatschender Laut, wie wenn man den Schlegel aus dem Butterfasse zieht.

Dann kam er an ein schwarzes Brachwasser, an dessen Rande weißhaarige Küchenschellen blühten und auf dem, wie Grünspan glitzernd, eine Lösung von Eisen herumschwamm. Er ging ihm vorsichtig aus dem Wege, geriet zwar vollends in den Morast, kam aber schließlich doch wieder ins Trockene. Die Stiefel waren zwar zuschanden, aber vielleicht ließen sie sich an der Pumpe heimlich abwaschen.

Er schritt weiter. Die Lust zum Pfeifen war ihm vergangen, und je größer das »weiße Haus« aus den Gebüschen in die Höhe stieg, desto beklommener wurde ihm zumute. Schon konnte er eine Art von Wall unterscheiden, der die Bäume umgab, und durch eine Lücke im Laubwerk sah er ein langes, niedriges Gebäude, das er aus der Ferne nie bemerkt hatte. Dahinter noch eins, und in [25] einer schwarzen Höhle eine hohe Flamme, die hin und her züngelte. Das mußte eine Schmiede sein – aber sollte die selbst am Sonntage arbeiten?

Eine unerklärliche Lust zu weinen ergriff ihn, und während er blindlings weiterlief, stürzten ihm die Tränen aus den Augen.

Plötzlich sah er einen breiten Graben vor sich, bis zum Rande mit Wasser gefüllt. Er wußte wohl, daß er nicht hinüberkommen würde, aber der Trotz zwang ihn, zum Sprunge auszuholen, und im nächsten Augenblick schlug das dicke, schmutzige Wasser über ihn zusammen.

Bis auf die Knochen durchnäßt, mit einer Schicht von Morast und Algen umgeben, kam er wieder ans Land zurück.

Er versuchte die Kleider trocknen zu lassen, setzte sich auf den Rasen und schaute nach dem »weißen Hause« hinüber. Er war ganz mutlos geworden, und als ihn gar sehr zu frieren begann, ging er traurig und langsam nach Hause zurück.

[26] 4

Der Sommer, der nun folgte, brachte dem Hause Meyhöfers eitel Kummer und Not. – Der frühere Besitzer hatte seine Hypothek gekündigt, und es war keine Aussicht vorhanden, daß irgend jemand die nötige Summe leihen würde.

Meyhöfer fuhr wöchentlich wohl drei-, viermal in die Stadt und kam am späten Abend betrunken nach Hause. Manchmal blieb er auch die Nacht über fort.

Frau Elsbeth saß derweilen aufrecht in ihrem Bette und starrte in die Dunkelheit. Paul erwachte oft, wenn er ihr leises Schluchzen hörte. Dann lag er eine Weile mäuschenstill, denn er mochte es nicht merken lassen, daß er wach war, aber schließlich fing auch er zu weinen an.

Dann wurde wieder die Mutter still, und wenn er gar nicht aufhören wollte, stand sie auf, küßte ihn und streichelte seine Wange, oder sie sagte: »Komm zu mir, mein Junge.«

Alsdann sprang er auf, schlüpfte in ihr Bett, und an ihrem Halse schlief er wieder ein.

Der Vater prügelte ihn oft. Er wußte selten, warum? aber er nahm die Schläge hin, als etwas, das sich von selbst verstand.

Eines Tages hörte er, wie der Vater die Mutter schalt.

»Weine nicht, du Tränensack,« sagte er, »du bist bloß dazu da, um mir mein Elend noch größer zu machen.«

»Aber Max,« antwortete sie leise, »willst du den Deinen verwehren, dein Unglück mit dir zu tragen? Müssen wir nicht um so enger zusammenhalten, wenn es uns schlecht geht?«

Da wurde er weich, nannte sie sein braves Weib und belegte sich selber mit bösen Schimpfnamen.

Frau Elsbeth suchte ihn zu beruhigen, bat ihn, Vertrauen zu ihr zu haben und tapfer zu sein.

»Ja, tapfer sein – tapfer sein!« schrie er, aufs neue in Ärger geratend, »ihr Weiber habt klug reden, ihr sitzt zu Hause und breitet demütig die Schürze aus, damit euch [27] Glück oder Unglück in den Schoß falle, wie's der liebe Himmel beschert; wir Männer aber müssen hinaus ins feindliche Leben, müssen kämpfen und streben und uns mit allerhand Gesindel herumschlagen. – Geht mir mit euren Mahnungen! Tapfer sein, ja, ja – tapfer sein!«

Darauf schritt er dröhnenden Schrittes zum Zimmer hinaus und ließ den Wagen anspannen, um seine gewöhnliche Wanderfahrt anzutreten.

Als er wiedergekommen war und seinen Rausch ausgeschlafen hatte, sagte er: »So – jetzt ist auch die letzte Hoffnung dahin. Der verfl ... Jude, der mir das Geld zu fünfundzwanzig Prozent vorschießen wollte, erklärt, er wolle nichts mehr mit mir zu tun haben. – Na, dann läßt er's bleiben ... Ich hust' auf ihn ... Und zu Michaelis können wir richtig betteln gehn, denn diesmal bleibt uns nicht so viel wie das Schwarze unterm Nagel. Aber das sag' ich dir – diesmal überleb' ich den Schlag nicht – ein Kerl von Ehre muß auf sich halten, und wenn ihr mich eines schönen Morgens oben am Sparren baumeln seht, dann wundert euch nicht.«

Die Mutter stieß einen entsetzlichen Schrei aus und klammerte die Arme um seinen Hals.

»Na, na, na,« beruhigte er sie, »es war so schlimm nicht gemeint. Ihr Weiber seid doch allzu klägliche Geschöpfe ... Ein bloßes Wort schmeißt euch um!«

Scheu trat die Mutter von ihm zurück, aber als er hinausgegangen war, setzte sie sich ans Fenster und schaute ihm angstvoll nach, als ob er sich schon jetzt ein Leids antun könnte.

Von Zeit zu Zeit lief ein Schauern durch ihren Körper, als friere sie ...

In der Nacht, die diesem Tage folgte, bemerkte Paul erwachend, wie sie aus ihrem Bette aufstand, einen Unterrock überwarf und an das Fenster trat, von dem aus man das »weiße Haus« sehen konnte. Es war heller Mondenschein – vielleicht schaute sie wirklich hinüber. – Wohl zwei Stunden lang saß sie da – unverwandt hinausstarrend. – Paul rührte sich nicht, und als sie mit Beginn [28] der Morgendämmerung vom Fenster zurückkam und an die Betten ihrer Kinder trat, drückte er die Augen fest zu, um sich schlafend zu stellen. Sie küßte zuerst die Zwillinge, die umschlungen nebeneinander ruhten, dann kam sie zu ihm, und wie sie sich zu ihm herabbeugte, hörte er sie flüstern: »Gott, gib mir Kraft! Es muß ja sein.« Da ahnte er, daß etwas Außergewöhnliches sich vorbereitete.

Als er am andern Nachmittag aus der Schule heimkehrte, sah er die Mutter in Hut und Mantille, ihrem Sonntagsstaat, in der Laube sitzen. Ihre Wangen waren noch bleicher als sonst, die Hände, die in dem Schoße lagen, zitterten.

Sie schien auf ihn gewartet zu haben, denn als sie ihn nahen sah, atmete sie erleichtert auf.

»Willst du fortgehen, Mama?« fragte er verwundert.

»Ja, mein Junge,« erwiderte sie, »und du sollst mit mir kommen.«

»Ins Dorf, Mama?«

»Nein, mein Junge – –« ihre Stimme bebte – »ins Dorf nicht – du mußt dir die Sonntagskleider anziehen – der Samtrock freilich ist verdorben – aber aus der grauen Jacke hab' ich die Flecken ausgemacht – die geht noch – und die Stiefel mußt du dir wichsen – aber rasch.«

»Wohin werden wir denn gehen, Mama?«

Da schloß sie ihn in die Arme und sagte leise: »Ins ›weiße Haus‹!«

Er fühlte, wie ein heißer Schreck ihn überrieselte; der Jubel, der aus dem Herzen emporquellen wollte, erstickte ihn fast, er sprang auf den Schoß der Mutter und küßte sie stürmisch.

»Aber du mußt niemandem etwas davon sagen,« flüsterte sie, »niemandem – verstehst du?«

Er nickte wichtig. Er war ja ein so kluger Mann. Er wußte, um was es sich handelte.

»Und nun zieh dich um – rasch!«

Paul flog die Treppe zur Kleiderkammer empor – und plötzlich! – auf welcher Stufe es war, ist ihm niemals [29] klar geworden – ein langgezogener, schriller Ton quoll aus seinem Munde; da war kein Zweifel mehr – er konnte pfeifen – er probierte es zum zweiten-, zum drittenmal – es ging vorzüglich!

Als er im vollsten Staate zur Mutter zurückkehrte, rief er ihr jubelnd entgegen: »Mama, ich kann pfeifen« und wunderte sich, daß sie so wenig Verständnis für seine Kunst an den Tag legte. Sie nestelte nur ein wenig seinen Kragen zurecht und sagte dabei: »Ihr glücklichen Kinder!«

Dann nahm sie ihn bei der Hand, und die Wanderschaft begann. Als sie den dunklen Fichtenwald erreichten, in dem die Wölfe und die Kobolde hausten, war er soeben mit den Studien zu »Kommt ein Vogel geflogen« fertig geworden, und als sie wieder aufs freie Feld kamen, konnte er sicher sein, daß »Heil dir im Siegerkranz« nichts mehr zu wünschen übrig ließ.

Die Mutter schaute mit trübem Lächeln auf ihn nieder, jeder schrille Ton ließ sie zusammenfahren, sie sagte aber nichts.

Das »weiße Haus« stand nun ganz nah vor ihnen. Er dachte nicht mehr an die neue Kunst. Das Schauen nahm ihn gänzlich gefangen.

Zuerst kam eine hohe, rote Ziegelmauer mit einem Torweg darin, auf dessen Pfosten zwei steinerne Knöpfe saßen, dann ein weiter, grasbewachsener Hofraum, auf dem ganze Reihen von Wagen standen und den in einem ungeheuern Viereck langgestreckte, graue Wirtschaftsgebäude umgaben. – In der Mitte lag eine Art Sumpf, der von einer niedrigen Weißdornhecke umgeben war und in dem eine Schar von schnatternden Enten sich herumsielte.

»Und wo ist das ›weiße Haus‹, Mama?« fragte Paul, dem das alles gar nicht gefiel.

»Hinter dem Garten,« erwiderte die Mutter. Ihre Stimme hatte einen eigentümlich heiseren Klang, und ihre Hand umklammerte die seine so fest, daß er beinahe aufgeschrien hätte.

Jetzt bogen sie um die Ecke des Gartenzauns, und vor [30] Pauls Blicken lag ein schlichtes, zweistöckiges Haus, das von Lindenbäumen dicht umschattet war und das wenig oder gar nichts Merkwürdiges an sich hatte. Auch lange nicht so weiß erschien es wie aus der Ferne.

»Ist es das?« fragte Paul gedehnt.

»Ja, das ist es!« erwiderte die Mutter.

»Und wo sind die Glaskugeln? und die Sonnenuhr?« fragte er. Ihn wandelte plötzlich eine Lust zum Weinen an. Er hatte sich alles tausendmal schöner vorgestellt; wenn man ihn auch um die Glaskugeln und die Sonnenuhr betrogen hätte – es wäre kein Wunder gewesen.

In diesem Augenblick kamen zwei kohlschwarze Neufundländer mit dumpfem Bellen auf sie zugestürzt. Er flüchtete sich hinter das Kleid der Mutter und fing zu schreien an.

»Dino! Nero!« rief eine feine Kinderstimme von der Haustür her, und die beiden Unholde jagten, ein freudiges Geheul ausstoßend, sofort auf die Richtung der Stimme los.

Ein kleines Mädchen, kleiner noch als Paul, in einem rosageblümten Röckchen, um das eine Art schottischer Schärpe geschlungen war, erschien auf dem Vorplatz. Sie hatte lange, goldgelbe Locken, die mit einem halbkreisförmigen Kamme aus der Stirn zurückgestrichen waren, und ein feines, schmales Näschen, das sie etwas hoch trug.

»Wünschen Sie Mama zu sprechen?« fragte sie mit einer zarten, weichen Stimme und lächelte dazu.

»Heißt du Elsbeth, mein Kind?« fragte die Mutter zurück.

»Ja, ich heiße Elsbeth.«

Die Mutter machte eine Bewegung, wie um das fremde Kind in ihre Arme zu schließen, aber sie bezwang sich und sagte: »Willst du uns zu deiner Mutter führen?«

»Mama ist im Garten – sie trinkt eben Kaffee –,« sagte die Kleine wichtig – »ich möchte Sie um den Giebel herumführen, denn wenn wir auf der Sonnenseite die Stubentür aufmachen, kommen gleich so viel Fliegen herein.«

[31] Die Mutter lächelte. Paul wunderte sich, daß ihm das zu Hause noch niemals eingefallen war.

»Sie ist viel klüger als du,« dachte er.

Nun traten sie in den Garten. Er war weit schöner und größer als der auf Mussainen, aber von der Sonnenuhr war nirgends etwas zu entdecken. Paul hatte eine unbestimmte Vorstellung davon, wie von einem großen goldenen Turme, auf dem eine runde, funkelnde Sonnenscheibe das Zifferblatt bildete.

»Wo ist denn die Sonnenuhr, Mama?« fragte er.

»Die werd' ich dir hernach zeigen,« sagte das kleine Mädchen eifrig.

Aus der Laube trat eine hohe, schlanke Dame mit einem blassen kränklichen Gesicht, auf dem der Schimmer eines unsagbar milden Lächelns ruhte.

Die Mutter stieß einen Schrei aus und warf sich laut aufweinend an ihre Brust.

»Gott sei Dank, daß ich Sie einmal bei mir habe,« sagte die fremde Dame und küßte die Mutter auf Stirn und Wangen. »Glauben Sie, jetzt wird alles gut werden, Sie werden mir sagen, was Sie drückt, und es müßte seltsam zugehen, wenn ich nicht Rat wüßte.«

Die Mutter wischte sich die Augen und lächelte.

»O, es ist ja nur die Freude,« sagte sie, »ich fühle mich schon so frei, so leicht, da ich in Ihrer Nähe bin – ich habe mich so sehr nach Ihnen gebangt.«

»Und Sie konnten wirklich nicht kommen?«

Die Mutter schüttelte traurig den Kopf.

»Arme Frau!« sagte die Dame, und beide sahen sich mit einem langen Blick in die Augen.

»Und dies ist am Ende gar mein Patenkind?« rief die Dame, auf Paul hinweisend, der sich an das Kleid der Mutter klammerte und dabei an seinem Daumen sog.

»Pfui, nimm den Finger aus dem Munde,« sagte die Mutter, und die schöne, freundliche Frau hob ihn auf ihren Schoß, gab ihm einen Teelöffel voll Honig – »als Vorschmack,« sagte sie – und fragte ihn nach den kleinen Geschwistern, nach der Schule und allerhand sonstigen Sachen, [32] auf die zu antworten gar nicht schwer war, so daß er sich schließlich auf ihrem Schoße beinahe behaglich fühlte.

»Und was kannst du denn schon alles, du kleiner Mann?« fragte sie zu guter Letzt.

»Ich kann pfeifen!« erwiderte er stolz.

Die freundliche Frau lachte ganz laut und sagte: »Nun, dann pfeif uns einmal eins!«

Er spitzte die Lippen und versuchte zu pfeifen, aber es ging nicht – er hatte es wieder verlernt.

Da lachten sie alle, die freundliche Frau, das kleine Mädchen und selbst die Mutter; ihm aber stiegen vor Scham die Tränen in die Augen, er schlug mit Händen und Füßen um sich, so daß die Dame ihn von ihrem Schoß gleiten ließ, und die Mutter sagte verweisend: »Du bist ungezogen, Paul!«

Er aber ging hinter die Laube und weinte, bis das kleine Mädchen an ihn herantrat und zu ihm sagte: »Ach geh, das mußt du nicht tun. – Unartige Kinder mag der liebe Gott nicht leiden.« Da schämte er sich wieder und rieb sich die Augen mit den Händen trocken.

»Und jetzt will ich dir auch die Sonnenuhr zeigen,« fuhr das Kind fort.

»Ach ja, und die Glaskugeln,« sagte er.

»Die sind schon lange zerbrochen,« erwiderte sie, »in die eine ist mir im vorigen Frühling ein Stein hineingeflogen, und die andere hat der Sturm 'runtergeschmissen.« Und dann zeigte sie ihm die Plätze, auf denen sie gestanden hatten.

»Und dies ist die Sonnenuhr,« fuhr sie fort.

»Wo?« fragte er, sich erstaunt umsehend. Sie standen vor einem grauen, unscheinbaren Pfahl, auf dem eine Art von Holztafel angebracht war. Das Kind lachte und sagte, das wäre sie ja.

»Ach, pfui doch!« erwiderte er unwillig, »du machst mich zum Narren.«

»Warum soll ich dich zum Narren machen?« fragte sie, »du hast mir ja nichts zuleide getan.« Und dann behauptete sie noch einmal, das wäre die Sonnenuhr und [33] nichts anderes; und sie wies ihm auch den Zeiger, ein armseliges, verrostetes Stück Blech, das aus der Mitte der Tafel hervorragte und seinen Schatten gerade auf die Zahl sechs warf, die mit anderen zusammen darauf angebracht war.

»Ach, das ist zu dumm,« sagte er und wandte sich ab.

Die Sonnenuhr im Garten des »weißen Hauses« war die erste große Enttäuschung seines Lebens. – – –

Als er mit seiner neuen Freundin zur Laube zurückkehrte, traf er dort noch einen großen, breitschultrigen Herrn mit zwei mächtigen Bartzipfeln, der einen graugrünen Jägerrock trug und aus dessen Augen Funken zu sprühen schienen.

»Wer ist das?« fragte Paul, sich furchtsam hinter seiner Freundin verbergend.

Sie lachte und sagte: »Das ist mein Papa; du, vor dem brauchst du keine Angst zu haben.«

Und sie sprang hell aufjubelnd dem fremden Manne auf den Schoß.

Da dachte er bei sich, ob er wohl jemals wagen würde, seinem Papa auf den Schoß zu springen, und schloß daraus, daß nicht alle Väter sich glichen. Der Mann im Jägerrock aber streichelte sein Kind, küßte es auf beide Wangen und ließ es auf seinen Knien reiten.

»Sieh – Elsbeth hat einen Gespielen bekommen,« sagte die fremde, freundliche Dame, und wies nach Paul hinüber, der, im Laubwerk verborgen, scheu in die Laube hineinschielte.

»Immer 'ran, mein Junge!« rief der Mann fröhlich und schnalzte mit den Fingern.

»Komm – hier auf dem anderen ist noch Platz für dich,« rief das Kind, und als er mit einem fragenden Blick nach der Mutter sich furchtsam näher schlich, ergriff ihn der fremde Mann, setzte ihn auf das andere Knie, und dann gab's ein keckes Wettreiten.

Er hatte nun alle Furcht verloren, und als frischgebackene Plinsen auf den Tisch gesetzt wurden, hieb er wacker ein.

[34] Die Mutter streichelte sein Haar und hieß ihn sich nicht den Magen verderben. Sie sprach sehr leise und sah immer vor sich nieder auf die Erde. Und dann durften die beiden Kinder in die Sträucher gehen und sich Stachelbeeren pflücken.

»Heißt du wirklich Elsbeth?« fragte er seine Freundin, und als diese bejahte, sprach er seine Verwunderung aus, daß sie denselben Namen habe wie seine Mutter.

»Ich bin doch nach ihr getauft,« sagte das Kind, »sie ist ja meine Patin.«

»Warum hat sie dich denn nicht geküßt?« fragte er.

»Ich weiß nicht,« sagte Elsbeth traurig, »vielleicht mag sie mich nicht.«

Aber, daß sie den Mut nicht gehabt hatte, daran dachte keines von beiden. – – –

Es fing schon an, dunkel zu werden, als die Kinder zurückgerufen wurden.

»Wir müssen nach Hause,« sagte die Mutter.

Er wurde sehr betrübt, denn jetzt fing es ihm gerade zu gefallen an.

Die Mutter rückte ihm den Kragen zurecht und sagte: »So, nun küß die Hand und bedank dich.«

Er tat, wie ihm befohlen, die freundliche Frau küßte ihn auf die Stirne, und der Mann im Jägerrock hob ihn hoch in die Luft, so daß er glaubte, er könne fliegen.

Und nun nahm die Mutter Elsbeth in den Arm, küßte sie mehrere Male auf Mund und Wangen und sagte: »Möge der Himmel einst an dir vergelten, mein Kind, was deine Eltern an deiner Patin getan haben.«

Eine schwere Last schien von ihrer Seele abgewälzt; sie atmete freier, und ihr Auge leuchtete.

Elsbeth und ihre Eltern begleiteten sie beide bis an das Hoftor; als die Mutter dort noch einmal Abschied nahm und dabei allerhand von Vergeltung und himmlischem Segen stammelte, fiel ihr der Mann lachend ins Wort und sagte, die Geschichte wäre nicht der Rede wert, und es lohnte sich nicht der Mühe des Dankes.

Und die freundliche Frau küßte sie herzlich und bat [35] sie, recht bald wiederzukommen oder wenigstens die Kinder zu schicken.

Die Mutter lächelte wehmütig und schwieg.

Elsbeth durfte noch ein paar Schritt weiter mitkommen, dann verabschiedete sie sich mit einem Knickse.

Paul wurde es schwer ums Herz, er fühlte, daß er ihr noch etwas zu sagen habe, daher lief er ihr nach, und als er sie eingeholt hatte, raunte er ihr ins Ohr: »Du – und ich kann doch pfeifen.« – – –

Als Mutter und Sohn den Wald betraten, brach die Nacht gerade herein. Es war pechrabenschwarz ringsum, aber er fürchtete sich nicht im mindesten. Wäre jetzt ein Wolf des Weges gekommen, er würde ihm schon gezeigt haben, was 'ne Harke ist.

Die Mutter sprach kein Wort; die Hand, die die seine umklammert hielt, brannte, und der Atem kam laut, wie ein Seufzer, aus ihrer Brust.

Und als sie beide auf die Heide hinaustraten, stieg der Mond bleich und groß am Horizont empor. Ein bläulicher Schleier lag über der Ferne. Thymian und Wacholder dufteten. Hie und da zirpte ein Vögelchen am Boden.

Die Mutter setzte sich auf den Grabenrand und schaute nach dem traurigen Heimwesen hinüber, dem all ihre Sorge galt. Dunkel ragten die Umrisse der Gebäude in den Nachthimmel empor. Aus der Küche schimmerte einsam ein Licht.

Plötzlich breitete sie die Arme aus und rief in die stille Heide hinein: »Ach, ich bin glücklich!«

Paul schmiegte sich fast ängstlich an ihre Seite, denn nimmer noch hatte er einen ähnlichen Ruf von ihr vernommen. Er war so sehr an ihre Tränen und ihren Kummer gewöhnt, daß ihm dieser Jubel ganz unheimlich erschien.

Und dabei fiel ihm ein: Was wird der Vater sagen, wenn er von diesem Gang erfährt? Wird er die Mutter nicht schelten und böse mit ihr sein, mehr noch als sonst? Ein dumpfer Trotz bemächtigte sich seiner, er biß die Zähne zusammen, dann streichelte er tröstend der Mutter Hände und küßte sie und murmelte: »Er darf dir nichts tun!«

[36] »Wer?« fragte sie zusammenschauernd.

»Der Vater,« sagte er leise und zögernd.

Sie seufzte tief auf, erwiderte aber nichts, und schweigend und kummervoll gingen sie weiter.

Die graue Frau war über ihren Weg gehuscht und hatte den Augenblick der Freude verdorben. Und es war der einzige, den das Schicksal Frau Elsbeth noch schenkte ...

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Am andern Tage gab es eine böse Stunde zwischen ihr und ihrem Gatten. Er schalt sie ehr- und pflichtvergessen. Sie hätte durch ihr Betteln zur Armut auch noch die Schande gefügt.

Aber das Geld nahm er.

[37] 5

Die Jahre vergingen. Paul wurde ein stiller, anspruchsloser Knabe mit schüchternem Blick und schwerfälligem Gebaren.

Er war meistens allein für sich, und dieweil er auf die Zwillinge acht gab, konnte er stundenlang mit irgendeiner Holzschnitzerei beschäftigt dasitzen, ohne einen Laut von sich zu geben. Er war, was man in seiner Heimat »kniwlig« nennt, ein für das Kleine beanlagter, peinlich sorgsamer, still in sich hineingrübelnder Geist.

Mit keinem seiner Altersgenossen hatte er Umgang, selbst in der Schule nicht. Nicht, daß er sie absichtlich gemieden hätte, im Gegenteil, er half ihnen gern, und mehr wie einer pflegte morgens vor dem Gebete die Rechnungen oder den deutschen Aufsatz von ihm abzuschreiben, aber ihre Interessen waren nicht die seinen, und darum konnte er sich nicht mit ihnen befreunden.

Auch Prügel erntete er in Fülle. Da waren insbesondere die Brüder Erdmann, zwei kecke, wildäugige Burschen, als die Stärksten und Mutigsten geliebt und gefürchtet, von denen er viel zu leiden hatte. Sie waren unerschöpflich im Ersinnen neuer Streiche, die ihm das Leben verbitterten. Sie warfen seine Schulhefte auf den Ofen, stopften ihm Sand in den Tornister und ließen seine Mütze mit einem als Mast hineingesteckten Stocke wie eine Barke den Fluß hinabschwimmen. Die meiste Unbill ertrug er geduldig, nur ein- oder zweimal überfiel ihn eine blinde Wut. Da biß und kratzte er um sich wie ein Toller, so daß selbst seine weit stärkeren Genossen sich wohlweislich aus dem Staube machten. Das erstemal hatte einer der Jungen seinen Vater einen »Saufaus« genannt, und das anderemal wollte man ihn zusammen mit einem kleinen Mädchen in einen dunklen Kuhstall sperren.

Hinterher schämte er sich und kam aus freien Stücken abbitten. Da lachte man ihn erst recht aus, und der kaum errungene Respekt war aufs neue verloren.

Das Lernen ging ihm sehr schwer von statten. Das[38] Pensum, zu welchem die Kameraden kaum fünfzehn Minuten gebrauchten, brachte er erst in ein bis zwei Stunden fertig. Dafür war seine Handschrift auch wie gestochen, und in seinen Rechnungen fand sich nie und nimmer ein Fehler.

Dennoch war keine Arbeit ihm gut genug, und gar oft überraschte ihn seine Mutter, wie er nachts heimlich aufstand, weil er fürchtete, das Auswendiggelernte wäre seinem Gedächtnis entfallen.

Daß er gleich den Brüdern eine höhere Schule besuchen würde, daran war nicht zu denken. Die Mutter hegte wohl eine Zeitlang den Plan, ihn den Älteren folgen zu lassen, sobald diese ihre Abiturientenexamen gemacht haben würden, denn es tat ihrem Mutterherzen weh, daß dieser eine den anderen nachstehen sollte, aber schließlich fügte sie sich. Und es war wohl auch am besten so. – Paul selber hatte es nie anders erwartet. Er hielt sich für ein durchaus untergeordnetes Wesen den Brüdern gegenüber und hatte es schon längst aufgegeben, ihnen jemals zu gleichen. Wenn sie zu den Ferien heimkamen, Samtmützen auf den wallenden Haaren, bunte Bänder quer über die Brust gespannt – denn sie gehörten einer verbotenen Schülerverbindung an – so schaute er zu ihnen empor wie zu Wesen aus höheren Welten. Begierig lauschte er, wenn sie untereinander über Sallust und Cicero und die Dramen des Äschylus zu sprechen begannen – und sie sprachen gern davon, schon allein, um ihm zu imponieren. Der Gegenstand seiner allerhöchsten Bewunderung aber war das dicke Buch, auf dessen vorderster Seite das Wort »Logarithmentafel« geschrieben stand und das von der ersten bis zur letzten Seite nichts enthielt als Zahlen. Zahlen in langen, dichten Reihen, bei deren Anschauen ihm schon schwindlig wurde. Wie gelehrt muß der sein, der das alles im Kopfe hat? sagte er zu sich, den Deckel des Buches streichelnd, denn er dachte nicht anders, als daß man alle diese Zahlen auswendig lernte.

Die Brüder waren ungemein freundlich und herablassend zu ihm; wenn sie in der Wirtschaft irgendwelche [39] Wünsche hatten, wenn sie ein gesatteltes Pferd oder ein extra starkes Glas Grog begehrten, so wandten sie sich vertrauensvoll an ihn, und er fühlte sich hochgeehrt, ihnen Hilfe leisten zu dürfen.

In der Wirtschaft wußte er ja Bescheid, wie wenn er der Hausherr selber gewesen wäre; an ihr hing all sein Streben und Bangen.

Was war es gewesen, das ihn so frühzeitig hatte reifen lassen? Ob die Hilfsbedürftigkeit der einsamen Mutter, die ihn so bald in all ihre Kümmernisse eingeweiht hatte? Ob der grübelnde, strebende, in die Zukunft hinausschauende Geist, der ihm eigen war?

Gar oft, wenn er sinnend dasaß, die Ellbogen auf den Tisch gestützt – auch in seinen Gebärden war er wie ein Erwachsener – strich die Mutter ihm mit ihrer harten, ausgearbeiteten Hand über Stirn und Wangen und sagte: »Mach ein freundliches Gesicht, mein Junge – sei froh, daß du noch keine Sorgen hast!«

O, er hatte deren genug! Die Sorgen gehörten zu ihm wie sein Fleisch und Blut! – Ob das Huhn, das heute abhanden gekommen, sich morgen wiederfinden, wie dem Falben die Spatsalbe bekommen werde, die der Vater gestern aus der Stadt mitgebracht hatte? Ob das Heu auch schon trocken genug gewesen sei, ehe es umgewendet wurde, und wie die Stare unter dem Dachfirst ihre Jungen großziehen würden, ohne daß die Katze dazu käme?

Über alles machte er sich Gedanken. Das Sorgen war ihm angeboren, nur für sich selber sorgte er nie.

Je älter und verständiger er wurde, desto tiefer wurde auch sein Einblick in die Mißwirtschaft, die sein Vater hatte einreißen lassen, und wiederum rang sich gar oft der Seufzer aus seiner Brust: »O, wär' ich erst groß!« Die Furcht vor des Vaters Zornausbrüchen ließ, wie natürlich, seine Bedenken nicht laut werden, und wenn er jemals wagte, sie der Mutter gegenüber auszusprechen, so schaute sie sich mit verängstigten Augen im Zimmer um und rief beklommen: »Schweig still!«

[40] Und dennoch merkte der Vater gar wohl, wohin der Sinn seines Sohnes gerichtet war. Er hatte ihm den Spitznamen »Topfgucker« gegeben und foppte ihn damit, sobald er ihn zu Gesicht bekam. In seinen guten Stunden, wie sich von selber versteht: in seinen bösen – prügelte er ihn, mit der Elle, mit dem Peitschenstiel, mit dem Geschirrriemen – was er gerade in die Hand bekam. Am meisten Furcht aber hatte Paul vor dieser Hand selber, deren Schläge weher taten als alle Stöcke der Welt. Der Vater hatte eine eigentümliche Manier zu ohrfeigen. Er schlenkerte die Hand ins Gesicht mit den Knebeln nach außen, so daß Nägel und Gelenke blutunterlaufene Male auf den Wangen zurückließen. Diese Art Ohrfeigen nannte er seine »Backentröster,« und wenn er die Absicht hatte, Paul zu prügeln, so rief er ihm in freundlichstem Tone entgegen: »Komm her, mein Sohn, ich will dich trösten.«

Hatte dieser seine Schläge empfangen, so pflegte er zitternd vor Scham und Schmerz auf die Heide hinaus zu laufen, und während er, um die Tränen zu verbeißen, Gesichter schnitt und mit den Fäusten trommelte, pfiff er sich eins.

Im Pfeifen tat er, wie all seine Sehnsucht, sein kindliches Träumen, auch seinen Zorn, seine Entrüstung kund. Die Empfindungen, für die sein ungelenker Geist keinen Ausdruck fand, für die ihm Worte, selbst Gedanken fehlten, die ließ er im Pfeifen kühn und unaufhaltsam in die Einsamkeit hinausströmen. So wußte seine gedrückte, schüchterne Seele sich Luft zu machen. Ganze Symphonien führte er auf – schrill und schreiend zum Beginn, sanfter und sanfter werdend und endlich dahinschmelzend in Wehmut und Entsagung.

Niemand ahnte, welche Kunst er einsam pflegte und wieviel Trost und Erhebung er ihr zu danken hatte, selbst die Mutter nicht. Seit er sie einmal an einem Winterabend, als er, ohne ihrer zu achten, leise vor sich hinpfiff, hatte in Tränen ausbrechen sehen, seitdem unterließ er es, sobald sie in der Nähe war. Er glaubte, es täte ihr wehe; welche [41] Macht ihm in diesen Tönen gegeben war, davon ahnte er nichts.

Nur stolz war er bisweilen, wenn er nach dem »weißen Hause« hinüberschaute, daß er das Pfeifen doch noch gelernt habe, und wenn ihm irgendeine Phantasie insbesondere gelungen schien, so dachte er bei sich: »Wer weiß, ob ihr mich auslachtet, wenn ihr das hören würdet!«

Aber nie wieder war er einem von ihnen begegnet.

[42] 6

Seit einiger Zeit trug sich Herr Meyhöfer mit großen Plänen. Er hatte entdeckt, daß das Torfmoor, welches das Heidegehöft in weitem Bogen umspannte, einen sicheren Verdienst zu geben imstande war. Schon zwei- oder dreimal, wenn ihm das Messer an der Kehle gesessen, hatte er als äußersten Notbehelf Torf stechen lassen und je fünf einspännige Fuhren nach der Stadt geschickt. Heimlich, ganz heimlich – denn er war zu stolz, um für einen »ganz gewöhnlichen Torfbauern« gehalten zu werden. Seine Leute hatten dann jedesmal zwanzig bis fünfundzwanzig Mark Barerlös heimgebracht und erzählt, daß noch weit mehr auf diese Art zu gewinnen wäre, weil schwarzer, fester Torf auf dem Markte ein sehr begehrter Artikel sei.

Doch Meyhöfer war nicht zu bewegen, das Moor in dieser Weise auszunutzen. »Ich hab' mich nie mit Kleinigkeiten abgegeben,« sagte er, »ich will lieber im Großen zu Grunde gehen als im Kleinen gewinnen« – und dabei warf er sich in die Brust wie ein Held.

Aber das Moor ließ ihm keine Ruhe. – Es war im September nach einer ausnahmsweise günstigen Ernte, als Löb Levy, der gefällige Freund aller verschuldeten Gutsbesitzer, wöchentlich zwei-, dreimal auf dem Hofe erschien und viel mit dem Herrn zu unterhandeln hatte. Frau Elsbeth zitterte vor Angst, sobald der Jude in seinem schmierigen Kaftan vor dem Hoftor auftauchte; sie setzte sich ans Fenster und folgte unablässig allen Bewegungen der Unterhandelnden. Wenn sie ihren Mann ein nachdenkliches Gesicht machen sah, lief es ihr eiskalt den Nacken hinunter, und erst, wenn er wieder lächelte, wagte auch sie erleichtert aufzuatmen.

Ihr ahnte nichts Gutes, doch traute sie sich nicht, ihren Gatten nach der Art von Geschäften zu fragen, die er mit dem Halsabschneider abzuwickeln hatte.

Sie sollte alsbald im klaren sein. Eines Nachmittags bemerkte Paul, wie auf dem Wege von der Stadt ein seltsames Gefährt dahergehumpelt kam, das in der Ferne [43] aussah wie ein ungeheurer schwarzer Waschkessel auf Rädern. Etwas, das ein Schornstein schien, ragte darüber hinaus und neigte sich, wie ein höflich grüßender Mann, nach rechts und nach links, wenn die Räder auf dem ungleichen Boden schwankten.

Er starrte das Wunder eine Weile an und lief dann zur Mutter, die er eiligst am Rockschoß vor die Türe zog.

Sie legte die Hand über die Augen und spähte auf den Weg hinaus.

»Das ist eine Lokomobile,« sagte sie dann.

Paul war nun so klug wie zuvor. »Was ist das – Lokomobile?« fragte er.

»Das ist eine Dampfmaschine, die überall hingefahren werden kann und die die großen Gutsbesitzer brauchen, um ihre Dreschmaschinen zu treiben – auch eggen und pflügen kann man damit, denn so ein Ding hat mehr Kraft als zehn Pferde.«

»Aber warum läßt es sich dann von Pferden ziehen?« fragte er.

»Weil es sich selber nirgends hinbewegen kann,« war die Antwort.

Das verstand er nicht; »jedenfalls aber,« dachte er, »muß es ein großes Glück sein, solch ein Ding mit dem fremden Namen zu besitzen – und wenn wir einmal reich sein werden –«

In diesem Augenblick kam der Vater in großer Aufregung aus dem Hause gestürzt; er trug auf dem einen Fuß einen Schlafschuh, auf dem andern einen Stiefel und hatte die Halsbinde im Nacken sitzen.

»Sie kommen, sie kommen!« rief er, die Hände zusammenschlagend, und dann umfaßte er die Mutter und tanzte mit ihr mitten auf der Landstraße herum.

Sie sah ihn mit einem großen, verängstigten Blick an, als wollte sie sagen: »Welch neue Torheit hast du angerichtet?« Er aber wollte sie nicht loslassen, und erst als die Zwillinge in ihren rosa Waschkleidchen und dunklen Zwickelzöpfchen aus dem Garten daher gesprungen kamen, machte er sich an diese, nahm sie auf seine Arme, ließ sie auf seinen [44] Schultern tanzen und wollte sie über den Graben werfen, so daß die Mutter seinem tollen Treiben nur mit flehentlichen Bitten Einhalt tun konnte.

»So, ihr Gesindel,« rief er, »jetzt jubelt und tanzt, jetzt hat alle Not ein Ende – nächsten Frühling messen wir das Geld mit Dreischeffelsäcken.«

Die Mutter sah ihn von der Seite an, sagte aber nichts.

Das Ungetüm kam näher und näher. Paul stand regungslos da, in Schauen versunken. Dann guckte er zur Mutter empor, die ein gar sorgenschweres Gesicht machte, und eine ungewisse Furcht wandelte ihn an, als ob jetzt der Teufel ins Haus gezogen käme, aber dann erinnerte er sich, wie nun sein Wunsch von vorhin in Erfüllung ginge, und er beschloß, dem schwarzen Gaste mit Vertrauen entgegenzukommen.

Inzwischen waren auch die Knechte und die Mägde aus dem Stalle und der Küche herzugeeilt. Die ganze Bewohnerschaft des Heidegehöfts stand längs dem Zaune aufgereiht und schaute dem nahenden Wunder entgegen.

»Aber sag, was willst du damit?« fragte Frau Elsbeth endlich ihren Gatten.

Dieser maß sie mit einem mitleidigen Blick, dann lachte er kurz auf und rief: »Spazierenfahren.«

Frau Elsbeth fragte nicht weiter. Zu dem Großknechte gewandt, legte ihr Mann nun seine Pläne dar; er werde das Torfstechen jetzt im großen beginnen, auch eine Schneide- und Preßmaschine seien schon unterwegs, und morgen in der Frühe könne die Arbeit losgehen. Dann gab er ihm den Auftrag, sich nach dem Dorfe zu begeben und die nötigen Arbeitskräfte anzuwerben. Zehn Mann würden für den Anfang genügen, aber er hoffte, es alsbald auf zwanzig und dreißig zu bringen.

Frau Elsbeth schüttelte stumm den Kopf und ging ins Haus – gerade, als die Lokomobile vor dem Hoftor ankam. – Paul konnte nicht satt werden, zu schauen und zu bewundern. Hinter den gelben Schrauben und Kurbeln schien eine Welt von Geheimnissen zu liegen, die Feuerung mit dem Rost und dem Aschenkasten darunter schien wie [45] der Eingang zu jenen feurigen Ofen, in dem die bekannten drei Männer einst ihren Lobgesang angestimmt hatten – und nun der Schornstein erst, drohend emporgerichtet, mit seinem Kranze von Kienruß und dem Schlunde, der ins Schwarze, Bodenlose hinabzuführen schien – –!

Paul achtete nicht auf das kleine Korbwägelchen, das hinter dem Ungetüm daherrollte und in dem Löb Levy saß mit seinem rotblonden Zottelbart und seinen lustig zwinkernden Äuglein – er achtete nicht auf das Schreien der Fuhrleute und den Jubel der beiden kleinen Schwestern, die wie besessen rings um die Räder tanzten. Starr vor Staunen stand er da, als begriffe er noch immer nicht, was um ihn vorging.

Als er später ins große Zimmer trat, fand er die Mutter in eine Sofaecke gedrückt – weinend.

Er schlang die Arme um ihren Hals; sie aber wehrte ihn sanft von sich ab und sagte: »Geh nach den Kleinen sehen, daß sie nicht unter die Räder kommen.«

»Aber warum weinst du, Mama?«

»Du wirst schon sehen, mein Junge,« sagte sie, sein Haar streichelnd, »Löb Levy ist dabei – du wirst schon sehen.«

Da ward er ganz ärgerlich auf seine Mutter; wo alle sich freuten, warum mußte sie da im Winkel sitzen und weinen? Aber nun war auch ihm die Freude abhanden gekommen, und als er Löb Levy in seinem langen schwarzen Hackenwärmer über den Hof schlenkern sah, hätte er am liebsten dem Karo einen Wink nach seinen Waden hin zukommen lassen.

Die Zwillinge waren ganz von Sinnen vor Freude. Sie nahmen eine Leine und tollten mit Hott und Hü durch den Garten. Die eine war die Lokomobile und die andere das Pferd, aber jede wollte Lokomobile sein, denn dann bekam sie Vaters schwarzen Hut aufgesetzt – als Schornstein.

Vor dem Schlafengehen hatten sie dem neuen Untier auch schon einen Namen gegeben.

Sie behaupteten, es gliche der dicken Dienstmagd mit [46] dem langen Halse, die vor kurzem wegen ihrer Unsauberkeit entlassen worden war, und nannten es nach ihr »die schwarze Suse«.

Diesen Namen behielt die Lokomobile im Meyhöferschen Hause für alle Zeiten.

Am andern Morgen ging das Hallo von neuem los. Die zehn angeworbenen Arbeiter standen auf dem Hofe und wußten nicht, was sie tun sollten. Meyhöfer wollte die Maschine heizen lassen, aber Löb Levy, der in der Scheune übernachtet hatte, um morgens sogleich zur Hand zu sein, erklärte, er wünsche vorerst den Kaufpreis in Empfang zu nehmen, wie es im Kontrakte abgemacht wäre, denn das Getreide müsse mittags bereits in der Stadt abgeliefert werden.

»Welches Getreide?« fragte die Mutter erbleichend.

Ja, es ließ sich nicht mehr verleugnen. Meyhöfer hatte fast die ganze Ernte, das gedroschene Korn wie das noch auszudreschende, dem Juden für die alte, abgebrauchte Dampfmaschine verkauft. Triumphierend fuhr dieser mit den schönen prallen Säcken von dannen. Und dies galt nur als Abschlagzahlung, gegen Weihnachten wollte er den Rest abholen kommen.

Für einen Moment mochte selbst den leichtsinnigen Meyhöfer eine Regung der Mutlosigkeit anwandeln, als er die hoch aufgetürmten Fuhren hinter dem Walde verschwinden sah, aber im nächsten steckte er trotzig die Hände in die Hosentaschen und befahl, die Maschine ohne Verzug in Bereitschaft zu setzen.

Mit dem Ungetüm zu gleicher Zeit war ein Mann in blauer Bluse und mit einer Schnapsnase auf den Hof gekommen, der sich »Heizer« nannte und der sich dadurch auszeichnete, daß er unaufhörlich Zwiebeln aß. Das sei gut für den Magen, sagte er. Dieser Mann erschien sich als der Held des Tages. Er stand breitbeinig neben der Maschine, nannte sie sein Pflegekind und streichelte mit seiner grauschwarzen, knotigen Hand die rostigen Eisenwände. Das klang, als ob zwei Reibeisen übereinander fahren. Jeden, der herzukam, erklärte er mit einem großen [47] Aufwande von Fremdwörtern die innere Einrichtung der »Luckmanbile,« wie er sein Pflegekind nannte, nur mußte man ihm zu trinken geben, sonst schimpfte er. Erhielt er jedoch den Branntwein, den er sich wünschte, so wurde er gerührt und behauptete, er ließe sich lieber Hände und Füße abhacken, als daß er sich jemals von seinem Pflegekinde trennte. Er habe es liebgewonnen wie sein eigen Fleisch und Blut und halte es tausendmal höher als alle Menschen auf der Welt.

Meyhöfer ging stolz um ihn herum, denn auch diese Perle war ja nun sein Eigentum, und er erklärte einmal über das andere, hier sähe man, was deutsche Treue bedeute.

Als es aber ans Heizen gehen sollte, war der vielgetreue Mann nirgends zu finden. Endlich entdeckte man ihn auf dem Heuschober – schlafend. Als man ihn weckte, nannte er dies Verfahren eine Menschenschinderei und ließ sich nur mit Mühe bewegen, aus seinem Winkel hervorzukommen.

Das Anheizen der Maschine war ein neues Fest. Paul stand vor der Feuerung und starrte träumenden Auges in den glühenden Schlund, der sich gähnend aufsperrte, als wollte er alles Lebendige verschlingen. Er gedachte des alten heidnischen Götzen Moloch, von dem er aus der biblischen Geschichte wußte, und glaubte jeden Augenblick ein paar rotglühende Arme sich ausstrecken zu sehen. – Und dann erhob sich in dem Innern des Ungetüms ein geheimnisvolles Singen, bald dumpf wie fernes Waldesbrausen, bald fein und hoch wie leise Engelsstimmen. In den Ventilen begann es zu zischen – Dampfstrahlen fuhren empor – die eiserne Schaufel klirrte, und rasselnd sanken neue Kohlenhaufen in die Glut. Es war ein Lärm ringsum, daß man sein eigen Wort nicht verstehen konnte. Der Heizer mit der roten Nase stand da wie ein König, trank aus einer schmalbauchigen Flasche und hantierte von Zeit zu Zeit an den Ventilen herum, ein lautes, befehlshaberisches Geschrei ausstoßend wie ein Tierbändiger. Und dann begann sich das große Rad zu drehen – surr, surr, surr – immer rascher, immer rascher. Einem wurde [48] schwindlig vom bloßen Hinsehen – und dann gab es einen Knack – ein Klirren, ein Pfauchen – das große Rad stand still – für immer.

Anfangs freilich tat der Heizer sehr groß und meinte, in einer halben Stunde werde der Schaden vollkommen repariert sein, als Meyhöfer aber nach zweitägiger Arbeit in ihn drang, endlich einmal mit dem Ausbessern ein Ende zu machen, da wurde er grob und erklärte, an diesem alten Gerümpel sei überhaupt nichts auszubessern, das wäre gerade gut genug, an den Trödler als Alteisen verkauft zu werden.

»Pflegekind?« Er bedankte sich für solch ein Pflegekind. Er sei denn doch zu gut dazu, solch einen Rosthaufen zu pflegen. Und dabei kam es heraus: – Löb Levy hatte ihn vor drei Tagen in einer Spelunke aufgelesen und ihn gefragt, ob er für eine Woche wie der Herrgott in Frankreich leben wolle; länger werde der Scherz wohl nicht dauern. Und nur auf diese Zusicherung hin sei er mitgegangen, denn länger wie acht Tage an einem Platze sitzen, das widerstreite seinen Prinzipien.

Darauf wurde er vom Hofe gejagt.

Am andern Tage ließ Meyhöfer den Schlosser aus dem Dorfe holen, damit er sich den Schaden besehe. Dieser arbeitete abermals ein paar Tage an der Maschine herum, aß und trank für dreie und erklärte schließlich, wenn sie jetzt nicht gehen wolle, hätte der Teufel die Hand im Spiel. – Das Anheizen wurde wiederholt, aber die »schwarze Suse« war nicht mehr zum Leben zu erwecken.

Als gegen Weihnachten Löb Levy auf dem Hof erschien, um den Rest des Getreides abzuholen, prügelte ihn Meyhöfer mit seinem eigenen Peitschenstiel durch. Der Jude schrie Gewalt und fuhr schleunigst wieder von dannen. Aber alsbald erschien ein Gerichtsbote mit einem großen, rotversiegelten Briefe.

Meyhöfer fluchte und trank mehr denn je, und das Ende vom Liede war, daß er zur Zahlung sämtlicher Kosten und eines Schmerzensgeldes verurteilt wurde. Nur mit knapper Not glitt er an einer Gefängnisstrafe vorbei.

[49] Seit diesem Tage wollte er die »schwarze Suse« nicht mehr vor Augen sehen. Sie wurde in den hintersten Schuppen gebracht und stand dort in Verborgenheit manches Jahr hindurch, ohne daß eines Menschen Blick auf sie fiel.

Nur Paul nahm von Zeit zu Zeit heimlich den Schlüssel des Schuppens und schlich zu dem schwarzen Ungetüm hinein, das ihm lieber und lieber wurde und ihm schließlich wie eine stumme, arg verkannte Freundin erschien. Dann betastete er die Schrauben und die Ventile, kletterte längs dem Schornstein in die Höhe und setzte sich rittlings auf den Kessel – oder er hängte sich an das große Triebrad und versuchte es durch seiner Arme Kraft in Schwung zu setzen. Aber schlaff wie ein Leichnam bewegte er sich nur so weit, als es geschoben wurde, dann stand es wieder still.

Und wenn er sich müde gearbeitet hatte, faltete er die Hände, und traurig zu dem toten Rade emporblickend murmelte er: »Wer wird dich wieder lebendig machen?«

[50] 7

Als Paul vierzehn Jahre alt war, beschloß sein Vater, ihm zum Konfirmandenunterricht zu schicken.

»Etwas Rechtschaffenes wird er in der Schule doch nicht lernen,« sagte er, »Zeit und Geld sind bei ihm weggeworfen. Daher soll er rasch eingesegnet werden, damit er sich in der Wirtschaft nützlich machen kann. Was Besseres als ein Bauer wird sowieso nicht aus ihm werden.«

Paul war's zufrieden, denn ihn verlangte danach, einen Teil der Sorgen, die die Mutter drückten, auf seine Schultern zu nehmen. Er gedachte eine Art von Inspektor aus sich zu machen, der den fehlenden Herrn zu jeder Zeit ersetzte und selber Hand anlegte, wo die Knechte ein gutes Beispiel brauchten. Er versprach sich von seiner Tätigkeit den Beginn einer neuen, segensreichen Zeit, und wenn er nachts im Bette lag, träumte er von wogenden Weizenfeldern und blitzblanken, massiven Scheuern. Immer mehr festigte sich in ihm der Entschluß, all seine Kraft daran zu wenden, um den verlotterten Heidehof zu Ehren zu bringen. Die Brüder sollten einst von ihm sagen können: »Er ist doch zu etwas nütze gewesen, wenn er uns auch auf unseren glänzenden Bahnen nicht hat folgen können.«

Ja, die Brüder! Wie groß und wie vornehm waren die inzwischen geworden! Der eine studierte Philologie, und der andere war als Lehrling in ein angesehenes Bankgeschäft eingetreten. Trotz der guten Tante brauchten beide Geld, viel Geld, weit, weit mehr, als der Vater ihnen schicken konnte. Auch für sie versprach sich Paul mit seinem Übertritt in die Wirtschaft den Beginn einer sorgenfreien Zeit. Alles überschüssige Geld sollte ihnen geschickt werden, und er, o, er würde schon sparen und sorgen, auf daß sie frei von Not und Bedrängnis weiterschreiten könnten nach ihren erhabenen Zielen.

Mit diesen frommen Gedanken trat Paul den Weg zur ersten Religionsstunde an. – Es war an einem sonnigen Frühlingsmorgen zu Anfang des Monats April.

[51] Das junge Gras auf der Heide leuchtete in grünlichen Lichtern, Wacholder und Erika trieben neue, weiche Spitzen, am Waldesrand blühten Anemonen und Ranunkeln. – Ein warmer Wind zog über die Heide ihm entgegen, er hätte laut aufjauchzen mögen, und das Herz ward ihm schwer vor lauter Lust.

»Es muß ein Trauriges im Werke sein,« sagte er sich, »denn so froh darf man sich auf Erden nicht fühlen.«

Vor dem Pfarrgarten stand eine Reihe von Fuhrwerken, die er nur zum geringsten Teil kannte. Auch vornehme Karossen waren darunter. – Mit stolzem Lächeln saßen die Kutscher mit ihren blanken Röcken auf dem Bocke und warfen geringschätzige Blicke um sich herum.

In dem Garten war eine große Kinderschar versammelt. Die Knaben gesondert und die Mädchen auch. Unter den Knaben befanden sich die beiden Brüder, von denen er früher so viel hatte leiden müssen und die seit einem Jahr die Schule nicht mehr besuchten. Sie kamen sehr freundlich auf ihn zu, und während der eine ihm die Hand zum Gruße reichte, stellte ihm der andere von hinten ein Bein.

Von den Mädchen gingen einige Arm in Arm in den Gängen spazieren. Sie hatten sich um die Taille gefaßt und kicherten miteinander. Die meisten waren ihm fremd, einige schienen besonders vornehm, sie trugen feine graue Regenmäntel und hatten Federhüte auf dem Kopfe. Ihnen mußten die Karossen draußen gehören.

Er sah auf seine Jacke herunter, um sich zu vergewissern, daß er sich nicht zu schämen brauchte. Sie war von feinem schwarzen Tuche, aus einem alten Fracke des Studenten gefertigt, und schien so gut wie neu, nur daß die Nähte ein wenig glänzten. Alles in allem: er brauchte sich nicht zu schämen.

Die Glocke ertönte. Die Konfirmanden wurden in die Kirche gerufen. – Paul fühlte sich frei und fromm, als ihn die feierliche Dämmerung des Gotteshauses umfing. – Er dachte nicht mehr an seine Jacke, die Gestalten der Knaben ringsum wurden wie Schatten.

Zu beiden Seiten des Altars waren Bänke aufgestellt. [52] Rechts sollten die Knaben, links die Mädchen ihre Plätze erhalten.

Paul wurde in die hinterste Reihe gedrängt, wo die Kleinen und die Armen saßen. Zwischen zwei barfüßigen Häuslerkindern, die grobe, durchlöcherte Jacken trugen, nahm er Platz. An den Schultern seiner Vordermänner vorbei sah er drüben die Mädchen sich ordnen, die Vornehmsten zuerst, dann die ärmlich Gekleideten.

Er dachte darüber nach, ob im Himmel die Reihenfolge wohl eine ähnliche sein werde, und der Spruch fiel ein: »Wer sich erniedrigt, der soll erhöhet werden.«

Der Pfarrer kam.

Es war ein behäbiger Mann mit einem Doppelkinn und einem blonden Backenbärtchen. Seine Oberlippe schimmerte blank von dem häufigen Rasieren. Er trug nicht seinen Talar, sondern einen einfachen schwarzen Rock, sah aber doch sehr würdig und feierlich aus.

Er sprach zuerst ein langes Gebet über den Text: »Lasset die Kindlein zu mir kommen« und knüpfte daran die Ermahnung, das kommende Jahr als eine Zeit der Weihe zu betrachten, nicht zu tollen und nicht zu tanzen, denn das widerspräche der Würde eines Religionsschülers.

»Ich habe nie getollt und getanzt,« dachte Paul und war in diesem Augenblick ganz von Stolz erfüllt über seinen gottseligen Wandel. »Aber schade war's doch« – dachte er hinterher.

Dann pries der Pfarrer die vornehmste der christlichen Tugenden: die Demut. Niemand in dieser Kinderschar sollte sich über den anderen erhaben fühlen, weil seine Eltern vielleicht reicher und vornehmer wären als die seiner Mitbrüder und Mitschwestern. Denn vor Gottes Throne wären alle gleich.

»Aha, da habt ihr's!« dachte Paul und faßte liebevoll den Arm seines zerlumpten Nachbarn. Der dachte, er wolle ihn kneifen, und sagte: »Au, nicht doch!«

Drauf zog der Pfarrer ein Blatt Papier aus der Tasche und sagte: »Jetzt will ich die Rangordnung verlesen, in der ihr fortan sitzen sollt.«

[53] »Warum denn eine Rangordnung,« dachte Paul, »wenn vor Gottes Throne alle gleich sind?«

Der Pfarrer sagte: »Zuerst kommen die Mädchen und dann die Knaben,« und begann zu lesen.

Schon der erste Name machte Paul stutzig, denn er hieß – Elsbeth Douglas. Er sah ein hochaufgeschossenes, blasses Mädchen mit einem frommen Gesicht und schlicht zurückgestrichenen blonden Haaren sich erheben und nach dem ersten Platze hinschreiten.

»Also das bist du!« dachte Paul, »und wir sollen zusammen eingesegnet werden.« Das Herz klopfte ihm vor Freude und auch vor Angst, denn er fürchtete zugleich, daß er ihr zu gering erscheinen werde. – »Vielleicht besinnt sie sich gar nicht mehr auf dich,« dachte er weiter.

Er beobachtete sie, wie sie mit niedergeschlagenen Augen sich auf ihren Platz setzte und freundlich vor sich hinlächelte.

»Nein, die ist nicht stolz,« sagte er leise vor sich hin, aber zur Sicherheit besah er seine Jacke.

Dann wurden die Knaben aufgerufen. Zuerst kamen die beiden Brüder Erdmann. Die hatten sich schon ohnehin auf den ersten Plätzen breitgemacht, und dann wurde sein eigener Name gerufen. – In diesem Augenblick machte Elsbeth Douglas es genauso, wie er vorhin getan. Sie hob rasch den Kopf und spähte zu den Reihen der Knaben hinüber.

Als er sich auf seinen Platz gesetzt hatte, schaute auch er vor sich auf die Erde nieder, denn er wollte es ihr an Demut gleichtun, und wie er dann aufblickte, sah er ihr Auge voll Neugier auf sich ruhen. Er wurde rot und tupfte ein Federchen von dem Ärmel seiner Jacke.

Und dann begann der Unterricht. Der Pfarrer erklärte Bibelsprüche und fragte Gesangbuchlieder ab. Elsbeth kam zuerst an die Reihe. Sie hob ein wenig den Kopf und sagte ruhig und unbefangen ihre Verse her.

»Donnerja, die Margell hat Courage,« murmelte der jüngere Erdmann, der zu seiner linken Seite saß.

Paul fühlte sich von plötzlichen Ingrimm gepackt. Er hätte ihn mitten in der Kirche prügeln mögen. »Sagt [54] er noch einmal ›Margell‹ auf sie, so hau' ich hernach auf ihn los.« Das versprach er sich feierlich. Aber der jüngere Erdmann dachte nicht mehr an sie, er beschäftigte sich damit, seinen Hintermännern Stecknadeln in die Waden zu stechen.

Als die Stunde beendet war, verließen zuerst die Mädchen paarweise die Kirche. Erst als die letzten draußen waren, durften die Knaben ihnen folgen. Auf dem Vorplatze begegnete er Elsbeth, die nach ihrem Wagen schritt. Beide sahen sich ein wenig von der Seite an und gingen aneinander vorüber.

An ihrem Wagen stand eine alte Dame mit grauen Ringellocken und einem persischen Umschlagetuch, die im Pfarrhause auf sie gewartet haben mußte. Sie küßte Elsbeth auf die Stirn, und beide bestiegen die Rücksitze. Der Wagen war der schönste in der ganzen Reihe, der Kutscher trug eine schwarze Pelzmütze mit einer roten Troddel daran, auch hatte er blanke Tressen am Kragen und an den Aufschlägen der Ärmel.

Gerade als der Wagen fortgefahren war, wurde Paul von den beiden Erdmanns angefallen, die ihn ein wenig prügelten.

»Pfui, schämt euch, zwei gegen einen,« sagte er, da ließen sie ihn laufen.

Er ging vergnügt dem Heimathause zu. Die Mittagssonne glitzerte auf der weiten Heide, und in nebelnder Ferne fuhr der Wagen vor ihm her, wurde kleiner und kleiner und verschwand endlich als ein schwarzer Punkt in dem Fichtenwalde.

Als er zu Hause ankam, küßte ihn die Mutter auf beide Wangen und fragte: »Nun, wie war's?«

»Ganz nett,« erwiderte er, »und, Mama, die Elsbeth aus dem ›weißen Hause‹ war auch da.«

Da wurde sie ganz rot vor Freude und fragte nach allerlei, wie sie aussähe, ob sie hübsch geworden sei und was sie mit ihm gesprochen habe.

»Gar nichts,« erwiderte er beschämt, und als die Mutter ihn daraufhin erstaunt ansah, fügte er eifrig hinzu: »Du, aber stolz ist sie nicht.« ...

[55] Am nächsten Montag fand er sie bereits an ihrem Platze sitzen, als er die Kirche betrat. Sie hatte die Bibel auf den Knien liegen und lernte die aufgegebenen Sprüche.

Es waren noch nicht viele Kinder anwesend, und als er sich ihr gegenüber niedersetzte, machte sie eine halbe Bewegung, als wolle sie aufstehen und zu ihm herüberkommen, aber sie ließ sich wieder nieder und lernte weiter.

Die Mutter hatte ihm vor dem Weggehen anempfohlen, Elsbeth einfach anzureden. Sie hatte ihm viele Grüße an ihre Mutter aufgetragen, auch sollte er sich erkundigen, wie es ihr selber erginge. Er hatte sich während des Weges eine lange Rede einstudiert – nur war er sich noch darüber uneins, ob er »du« oder »Sie« zu ihr sagen solle. – »Du« wäre das einfachste gewesen. Die Mutter schien es sogar für selbstverständlich zu halten, aber »Sie« klang entschieden feiner – so hübsch erwachsen klang es. Und da er zu keinem Entschlusse kommen konnte, so unterließ er die Anrede ganz. – Auch er nahm nun seine Bibel vor, und beide stützten die Ellbogen auf die Knie und lernten um die Wette.

Ihm nützte es nicht viel, denn als hernach in der Stunde der Pfarrer an ihn die Frage richtete, hatte er keine Ahnung mehr. –

Ein peinliches Schweigen entstand, die Erdmänner lachten schadenfroh, und er, glutrot vor Scham, mußte sich wieder auf seinen Platz niedersetzen. Er wagte nun nicht mehr aufzuschauen, und als er beim Verlassen der Kirche Elsbeth vor der Türe stehen sah, als wartete sie auf etwas, schlug er die Augen nieder und wollte rasch an ihr vorüber. – Sie aber trat einen Schritt auf ihn zu und redete ihn an: »Meine Mama hat mir aufgetragen, ich soll dich fragen – wie's deiner Mutter ginge.«

Er erwiderte, es ginge ihr gut.

»Und sie läßt sie auch vielmals grüßen,« fuhr Elsbeth fort.

»Und meine Mutter läßt deine Mutter auch vielmals grüßen,« erwiderte er, Bibel und Gesangbuch zwischen den Fingern drehend, »und ich soll dich auch fragen, wie's ihr ginge.«

[56] »Mama läßt sagen,« entgegnete sie, wie wenn man Auswendiggelerntes hersagt, »sie sei viel kränklich und müßte sehr oft das Zimmer hüten, aber jetzt im Frühling ging's ihr besser – und ob du nicht mit unserem Wagen mitfahren möchtest bis zu deinem Hause. Ich soll's dir anbieten, hat sie gesagt.«

»Kiek, der Meyhöfer raspelt Süßholz,« rief der ältere Erdmann, der sich hinter der Kirchentür verborgen hatte, um seine Kameraden durch den Ritz hindurch mit einem Röhrchen zu kitzeln.

Elsbeth und Paul sahen erstaunt einander an, denn sie kannten den Sinn der Redensart nicht, aber da sie fühlten, daß sie etwas sehr Schlimmes bedeuten mußte, wurden sie rot und trennten sich.

Paul schaute ihr nach, wie sie auf ihren Wagen stieg und davonfuhr. Diesmal wartete die alte Dame nicht auf sie. Es war ihre Gouvernante, wie er gehört hatte. Ja, so vornehm war sie, daß sie sogar eine eigene Gouvernante besaß!

»Die Erdmänner kriegen doch noch ihre Prügel,« damit schloß er seine Überlegungen. – – –

Die nächsten Wochen vergingen, ohne daß er mit Elsbeth wieder geredet hätte. Wenn er in die Kirche trat, saß sie meistens schon an ihrem Platze. Dann nickte sie ihm freundlich zu, aber das war auch alles.

Und dann kam ein Montag, an dem ihr Wagen nicht auf sie wartete. Er bemerkte es sofort, als er auf den Kirchenplatz zuschritt, und atmete erleichtert auf, denn der stolze Kutscher mit der Pelzmütze, die er selbst mitten im Sommer trug, verursachte ihm stets ein beklemmendes Gefühl. Er brauchte nur an den Kutscher zu denken, wenn er ihr gegenübersaß, und sie erschien ihm wie ein Wesen aus einer anderen Welt.

Heute wagte er fast vertraulich zu ihr hinüber zu grüßen, und es erschien ihm, als wenn auch sie seinen Gruß freundlicher denn sonst erwiderte.

Und als die Stunde beendet war, trat sie aus freien Stücken auf ihn zu und sagte: »Ich muß heute zu Fuß[57] nach Hause, denn unsere Fuhrwerke sind alle auf dem Felde. Mama hat gemeint, du könntest wohl ein Stück mit mir zusammengehen, da wir doch denselben Weg haben.«

Er fühlte sich sehr beglückt, wagte aber nicht an ihre Seite zu treten, solange sie sich innerhalb des Dorfes befanden. Auch schaute er sich von Zeit zu Zeit ängstlich um, ob nicht die beiden Erdmänner irgendwo mit ihren Stachelreden auf ihn lauerten.

Doch als sie draußen auf freiem Felde dahingingen, fand es sich von selbst, daß sie nebeneinander schritten.

Es war ein sonniger Junivormittag. Der weiße Sand des Weges flimmerte ... Ringsherum blühten goldgelbe Katzenpfötchen, und das Wiesenfrauenhaar wehte in dem warmen Winde ... vom Dorfe her tönte die Mittagsglocke ... Kein Mensch war weit und breit zu sehen ... Die Heide schien wie ausgestorben.

Elsbeth trug einen breiten Strohhut auf dem Kopfe, zum Schutze gegen die Sonnenstrahlen. Den nahm sie jetzt ab und schlenkerte ihn am Gummibande hin und her.

»Es wird dir zu heiß werden,« sagte er, aber da sie ihn ein wenig auslachte, riß er auch seine Mütze vom Kopfe und warf sie hoch in die Luft.

»Du bist ja ein ganz lustiger Bursche,« sagte sie beifällig nickend.

Er schüttelte den Kopf, und seine Stirne zog sich wieder in die ernsten Falten, die ihn stets alt erscheinen ließen.

»Ach nein,« sagte er, »lustig bin ich nicht.«

»Warum nicht?« fragte sie.

»Ich habe immer an so vielerlei zu denken,« erwiderte er, »und wenn ich einmal recht froh sein will, kommt mir sicher etwas in die Quere.«

»Woran hast du denn immer zu denken?« fragte sie.

Er sann eine Weile nach, aber es fiel ihm gerade nichts ein. »Ach, es ist ja alles dumm' Zeug,« sagte er, »kluge Gedanken kommen mir überhaupt nicht.«

Und dann erzählte er ihr von den Brüdern, von dicken Büchern, die ganz mit Zahlen vollgeschrieben ständen – [58] den Namen habe er vergessen – und die sie schon auswendig gekonnt hätten, als sie so alt gewesen wären wie er selber.

»Warum lernst du das nicht auch, wenn es dir Vergnügen macht?« fragte sie.

»Es macht mir aber kein Vergnügen,« erwiderte er, »ich habe einen so schweren Kopf.«

»Aber irgend etwas wirst du doch können?« fragte sie weiter.

»Ich kann rein gar nichts,« erwiderte er traurig, »ich sei so dumm, sagt der Vater.«

»Du – darauf mußt du nichts geben,« tröstete sie ihn, »mein Fräulein Rathmaier hat auch immer allerhand an mir auszusetzen. Aber ich – pah, ich –« Sie schwieg und riß eine Sauerampferstaude aus, an der sie kaute.

»Hat dein Vater noch immer so blitzende Augen?« fragte er.

Sie nickte, und ihr Antlitz verklärte sich.

»Du hast ihn wohl sehr lieb – deinen Vater?«

Sie sah ihn erstaunt an, als ob sie seine Frage nicht verstünde, dann meinte sie, o ja – sie hätte ihn sehr lieb.

»Und er dich auch?«

»Ob!«

Er pflückte sich nun gleichfalls einen Sauerampferstengel und seufzte dabei.

»Warum seufzt du denn?« fragte sie.

Es käme ihm zufällig was in den Sinn, meinte er, und dann fragte er lachend, ob ihr Vater sie wohl noch manchmal auf den Schoß nähme wie damals, als er im »weißen Hause« gewesen war.

Sie lachte mit und meinte, sie sei ja schon ein großes Mädchen, und er solle nicht so dumm fragen, aber hinterher kam's heraus, daß sie doch noch auf des Vaters Schoß sitze, »freilich nicht mehr rittlings,« fügte sie lachend hinzu.

»Ja, das war ein schöner Tag,« sagte er, »und ich saß auf seinem andern Knie. Wie klein müssen wir damals gewesen sein!«

[59] »Und dumm waren wir, daß Gott erbarm!« erwiderte sie, »wenn ich noch daran denke, wie du pfeifen wolltest und nicht konntest.«

»Hast du das behalten?« fragte er, und sein Auge leuchtete auf im Bewußtsein seiner jetzigen Kunst.

»Natürlich,« sagte sie, »und als du fortgingst, kamst du noch einmal zurückgelaufen und – weißt du noch?«

Er wußte es genau.

»Heute wirst du wohl pfeifen können,« lachte sie, »in unserem Alter ist das keine Heldentat mehr – kann ich es doch sogar!« – und sie spitzte die Lippen in sehr drolliger Weise.

Ihm tat es weh, daß sie von seiner Kunst so geringschätzig sprach, und er dachte darüber nach, ob er das Pfeifen fortan nicht lieber ganz unterlassen sollte.

»Warum bist du so schweigsam?« fragte sie, »bist du auch müde?«

»Ach nein, aber du – was?«

Ja – der Fußweg in Sand und Mittagshitze habe sie angestrengt.

»So komm zu uns ins Haus und ruhe dich aus,« rief er leuchtenden Auges, denn er gedachte der Freude, die die Mutter bei ihrem Anblick empfinden würde.

Aber sie dankte. »Dein Vater ist nicht gut zu sprechen auf uns, hat Mama gesagt, und darum dürft ihr auch nicht nach Helenental zum Besuche kommen. Dein Vater würde mich vielleicht vom Hofe weisen.«

Er erwiderte hochrot: »Das würde der Vater wohl nicht« – und er schämte sich sehr.

Sie warf einen Blick nach dem Heidehof hinüber, der kaum dreihundert Schritt abseits vom Wege gelegen war. Der rote Zaun leuchtete im Sonnenglanze, und selbst die grauen, verfallenen Scheunen schauten freundlicher darein als sonst.

»Es ist ganz hübsch bei euch,« sagte sie, die linke Hand wie einen Schirm über die Augen legend.

»O ja,« erwiderte er, das Herz von Stolz geschwellt, »und an dem einen Scheunentor ist eine Eule angenagelt. [60] – – – Aber es soll noch viel, viel hübscher bei uns werden,« fügte er nach einer kleinen Weile ernsthaft hinzu. »Laß mich nur erst ans Regiment kommen.« Und dann begann er ihr seine Zukunftspläne auseinanderzusetzen. Sie hörte ihm aufmerksam zu, aber als er geendet hatte, sagte sie noch einmal: »Ich bin müde – muß mich ausruhen.« Und sie machte Miene, sich auf dem Grabenrande niederzusetzen.

»Nicht hier in der Sonnenhitze,« warnte er, »komm, wir suchen uns den ersten, besten Wacholderstrauch.«

Sie reichte ihm die Hand und ließ sich müde von ihm über den Heiderasen ziehen, der von Maulwurfshügeln geschwellt war wie ein wellenschlagender See, und der gegen den Waldesrand hin vereinzelte Wacholderbüsche trug, die wie eine Schar schwarzer Gnomen von der ebenen Fläche emporragten.

Unter dem ersten dieser Gebüsche hockte sie nieder, so daß dessen Schatten ihre zarte, schmale Gestalt fast ganz umhüllte.

»Hier ist gerade noch Platz für deinen Kopf,« sagte sie, auf einen Maulwurfshügel weisend, der sich noch im Bereiche des Schattens befand.

Er streckte sich der Länge nach auf dem Rasen hin, den Kopf auf dem Maulwurfshügel gebettet, die Stirn vom Saume ihres Kleides bedeckt.

Sie lehnte sich müde in das Dickicht des Busches zurück, um in dessen Geästel eine Stütze zu finden.

»Die Nadeln stechen gar nicht,« sagte sie dann, »sie meinen's gut mit uns; ich glaube, wir könnten auch durch Dornröschens Hecke gehen.«

»Du – nicht ich,« erwiderte er, die Augen im Liegen zu ihr aufschlagend, »mich hat noch jeder Dorn gestochen – ich bin kein Märchenprinz, nicht einmal ein lumpiger Hans-im-Glücke bin ich.«

»Wird alles noch kommen,« tröstete sie; »du mußt nicht immer so traurige Gedanken haben.«

Er wollte ihr etwas erwidern, aber die richtigen Worte fehlten ihm, und wie er nachsinnend emporschaute, flog [61] droben am blauen Himmel eine Schwalbe vorüber. Da stieß er unwillkürlich einen Pfiff aus, als ob er sie heranlocken wollte, und als sie nicht kam, pfiff er noch einmal und zum zweiten- und zum drittenmal.

Elsbeth lachte, er aber pfiff weiter – erst ohne zu wissen, wie? und ohne nachzudenken, warum? aber als ein Ton nach dem andern seinen Lippen entquoll, ward ihm zu Sinn, als sei er plötzlich sehr beredsam geworden, und als ob er auf diese Weise alles sagen könnte, was ihm das Herz bedrückte und wozu er in Worten nimmer den Mut gefunden haben würde ... All das, was ihn traurig machte und um was er sich sorgte, kam zum Vorschein. Er schloß die Augen und hörte gleichsam zu, wie die Töne für ihn sprachen. Er glaubte, der liebe Gott im Himmel hätte statt seiner das Wort genommen und erzählte alles, was ihn anging, sogar das, worüber er selbst nie klar geworden war.

Als er die Augen aufschlug, wußte er nicht, wie lange er so dagelegen und gepfiffen hatte, aber er sah, daß Elsbeth weinte.

»Warum weinst du?« fragte er.

Sie gab ihm keine Antwort, wischte sich mit dem Taschentuch die Augen und erhob sich.

Schweigend schritten sie eine Weile miteinander hin. – Als sie den Wald erreichten, der dicht und dunkel vor ihnen lag, blieb sie stehen und fragte: »Wer hat dich das gelehrt?«

»Keiner,« sagte er, »das ist mir so von selber gekommen.«

»Kannst du auch Flöte spielen?« fragte sie weiter.

Nein, er konnte es nicht, er hatte es auch nie gehört, er wußte nur, daß es des alten Fritzen Lieblingsvergnügen gewesen war.

»Das mußt du lernen!« sagte sie.

Er meinte, es würde ihm wohl zu schwer sein.

»Du solltest es doch versuchen,« riet sie, »du mußt ein Künstler werden – ein großer Künstler.«

Er erschrak, als sie das sagte. Er getraute sich kaum, ihren Gedanken weiter zu denken.

[62] Als sie den jenseitigen Waldrand erreicht hatten, trennten sie sich. – Sie schritt weiter dem »weißen Hause« zu – und er kehrte um. Wie er den Wacholderbusch wiedersah, unter dem sie beide gesessen hatten, kam ihm alles wie ein Traum vor, und so blieb es auch fortan. – – –

Zwei, drei Tage vergingen, ehe er der Mutter etwas von seinem Abenteuer zu sagen wagte, aber dann hielt er es nicht länger aus und gestand ihr alles.

Die Mutter sah ihn lange an und ging hinaus, aber von jetzt ab lauschte sie heimlich, ob sie nicht einen Ton von seinem Pfeifen erhaschen könnte.

Die beiden Kinder gingen noch oftmals mitsammen heim, aber eine solche Stunde, wie die unter dem Wacholderbusch, kam ihnen nie mehr wieder.

Wenn sie an ihm vorüberschritten, sahen sie einander an und lächelten, aber keines wagte den Vorschlag zu machen, noch einmal unter ihm niederzusitzen.

Auch des Flötenspiels geschah nicht mehr Erwähnung zwischen ihnen, Paul jedoch dachte heimlich oft genug daran. Es erschien ihm wie etwas Himmlisches, Unerhörtes, gleich der Wissenschaft, die die Logarithmentafeln lehrten. Ja, wenn er klug und begabt gewesen wäre wie die beiden Brüder! – aber er war ja nur ein dummer, einfältiger Junge, der froh sein konnte, wenn man ihn für die andern sorgen ließ.

Gar oft fragte er sich, wie wohl solch ein Flötenspiel klingen möchte und wie diejenigen beschaffen wären, die es verstanden. Er hatte eine sehr große Meinung von ihnen und glaubte, daß sie stets so hohe und heilige Gedanken hegen mußten, wie sie ihm selber nur in sehr wenigen Momenten aufstiegen, wenn er sich recht in sein Pfeifen vertiefte.

Und dann kam der Tag, an dem er einen Flötenspieler von Angesicht zu Angesicht erschauen sollte.

Es war an einem trüben, stürmischen Nachmittag im Monat November. Es fing schon an, dunkel zu werden, als er die Schule verließ und langsam die Dorfstraße entlang wanderte, um heimzukehren. Da drangen aus einer [63] Branntweinschenke, in der das Gesindel der Gegend zu verkehren pflegte, gar seltsame Töne an sein Ohr. Er hatte sie nie gehört, aber er wußte sofort: das muß ein Flötenspieler sein. Horchend blieb er vor der Tür der Schenke stehen. Sein Herz klopfte ganz laut, seine Glieder zitterten. Die Töne waren ähnlich wie sein Pfeifen, aber weit voller und weicher. »So müssen die Engel an Gottes Thron musizieren,« dachte er sich.

Nur eines war ihm unerklärlich, wie dieses Flötenspiel, das so klagend und sehnsüchtig klang, an einen so verrufenen Ort geraten konnte. Das Schreien und Johlen und Gläserklirren, das zwischendurch erscholl, tat seiner Seele weh, ein plötzlicher Grimm packte ihn; wenn er groß und stark gewesen wäre, er würde hineingesprungen sein und würde die Lärmenden und Trunkenen samt und sonders auf die Straße hinausgeworfen haben, damit die heiligen Töne nicht entweiht würden.

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen, ein trunkener Arbeiter taumelte an ihm vorüber – übelriechender Qualm drang ihm entgegen ... Lauter noch wurde das Lärmen ... Kaum war das Flötenspiel imstande, es zu übertönen.

Da faßte er sich ein Herz, und ehe noch die Tür geschlossen wurde, drängte er sich durch den schmalen Spalt in das Innere der Schenke ... Hinter ein leeres Branntweinfaß gedrückt, stand er da ... Niemand achtete auf ihn.

In den ersten Augenblicken unterschied er nichts ... Dunst und Lärm hatten seine Sinne ganz benommen, und die Töne der Flöte wurden schrill und mißtönig, so daß sie seinem Ohre wehtaten.

Inmitten der Schreienden und Stampfenden saß auf einem umgestülpten Fasse ein zerlumpter Kerl mit einem aufgequollenen, finnigen Gesicht, einer Schnapsnase und schwarzen, fettigen Haaren – eine Gestalt, deren Anblick Paul einen Schauder über den Leib jagte ... Der war es, welcher die Flöte blies.

Wie versteinert vor Entsetzen starrte er ihn an. Ihm war zumute, als sänke der Himmel ein, als ginge [64] die Welt zugrunde. – Nun setzte der Spieler seine Flöte ab, stieß mit rauher, heiserer Stimme ein paar schmutzige Worte hervor, goß gierig den Branntwein hinunter, der ihm von den Umstehenden gereicht wurde, und begann, mit den Füßen den Takt schlagend, einen Gassenhauer zu spielen, den die Zuhörer mit Brüllen begleiteten.

Da floh Paul zur Schenke hinaus und lief und lief, daß ihm Hören und Sehen verging, als hätte er Angst, zur Besinnung zu kommen. –

Als er allein auf der Heide war, über welche die Stürme dahinsausten, und von deren Rande ein schwefelgelber Streifen abendlichen Lichtes ihm entgegenleuchtete, da hielt er inne, schlug die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. – –

In dem Winter, der nun folgte, stellte Paul sein Pfeifen gänzlich ein, und noch mehr war ihm das Flötenspiel verleidet. Wenn er daran dachte, stand das Bild jenes Verworfenen vor seinen Augen, der ihm seine Sehnsucht entheiligt hatte.

Elsbeth sah er fortan nicht mehr. Mit Beginn der kalten Jahreszeit war die Religionsstunde aus der Kirche in das Pfarrhaus verlegt worden, und da sich in ihm kein Raum vorfand, der sämtliche Konfirmanden hätte fassen können, so wurden Knaben und Mädchen gesondert unterrichtet. Bisweilen zwar sah er Elsbeths Wagen an sich vorüberfahren, aber sie selbst war so sehr in Pelze und Tücher vermummt, daß von ihrem Gesicht nichts zu erkennen war. Er wußte nicht einmal, ob sie ihn bemerkt hatte.

Zu derselben Zeit hatte er vielen Ärger mit den Brüdern Erdmann, die ihn bis aufs Blut zu quälen wußten. Er war vollständig wehrlos ihnen gegenüber, denn jeder einzelne hatte doppelt soviel Kraft als er; auch griffen sie ihn immer zu zweien an, und während der eine ihn festhielt, zwackte ihn der andere. Nicht, daß die beiden von Grund aus boshafte Geschöpfe gewesen wären, im Gegenteil, gegen die anderen wußten sie Wohlwollen und Großmut zu üben, aber gerade seine stille, in sich versunkene [65] Natur war ihnen in tiefster Seele verhaßt. Sie schalten ihn einen Mucker, einen Kopfhänger, und wenn sie ihn geprügelt hatten, sagten sie: »So, nun zeig uns an, das würde prächtig zu dir passen.«

Sein Groll gegen die Widersacher schwoll höher und höher. Oft machte er sich Vorwürfe, daß er sich feige und ehrlos betrage, und beschuldigte sich niedriger, knechtischer Gesinnung. Eines Tages, als er auf dem beschneiten Hofe hin und her lief, redete er sich so sehr in Zorn hinein, daß er beschloß, sich jener bösen Brüder zu entledigen, und wenn es sein eigen Leben kostete. – Er lief in den Stall, wo der Schleifstein stand, taute das in der Bütte gefrorene Wasser auf und schärfte sein Taschenmesser, bis es einen Streifen dünnsten Seidenpapiers durchschnitt. Als er aber am nächsten Montag aufs neue durchgeprügelt wurde, fand er nicht den Mut, es aus der Tasche zu ziehen, und mußte sich aufs neue ob seiner Feigheit Vorwürfe machen. Er verschob es auf das nächste Mal – aber dabei blieb es.

Auch von dem Vater hatte er vieles zu erdulden. Der trug sich neuerdings wieder mit großen Plänen, und wenn er das tat, fühlte er sich stets sehr erhaben und war auf Paul, den er um seines kleinlichen Sinnes willen verachtete, besonders schlecht zu sprechen.

»Warum ist auf den Jungen nicht der leiseste Funken meines Genies übergegangen?« sagte er. »Wie schön könnte ich ihn dann zum Handlanger für meine Pläne erziehen! Aber er ist zu stupide – Hopfen und Malz sind an ihm verloren.«

Er hatte jetzt die Absicht, zur Ausbeutung seines Moores eine Aktiengesellschaft zu gründen, große Kapitalien aufzubringen und sich selbst zum Direktor mit soundsoviel tausend Talern Gehalt ernennen zu lassen. Er fuhr allwöchentlich zwei- bis dreimal zur Stadt und war oft am zweiten Tage noch nicht zu Hause.

»Es hält schwer,« sagte er dann, wenn er seinen Rausch ausgeschlafen hatte, »aber ich werde die Filze schon 'rankriegen. Auch der Douglas, der Protz, muß mir bluten. [66] Wenn ich nur wüßte, wie ich ihn mir einmal greifen könnt'? Helenental betrete ich nie wieder, schon um nicht zu sehen, wie der Kerl es hat verwahrlosen lassen – denn das hat er jedenfalls – und in der Stadt bekomme ich ihn nie zu sehen. Aber bluten – bluten muß er. Wenn er nicht einen Scheffel Aktien zeichnet, soll ihn der Teufel holen.«

Frau Elsbeth hörte das alles traurig an, ohne ein Wort zu sagen, Paul aber pflegte hinterher heimlich den Schlüssel des Schuppens vom Brette zu nehmen, um mit der »schwarzen Suse« stumme Zwiesprach zu halten. Er hatte nun einmal den Glauben, daß von ihr die Rettung käme.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Als die Osterfeiertage vorüber waren, wurde der Religionsunterricht aufs neue in die Kirche verlegt. Knaben und Mädchen kamen nach halbjähriger Trennung wieder zusammen.

Elsbeth hatte sich während des Winters sehr verändert. Sie sah nun beinahe aus wie eine erwachsene Dame. Sie trug ein halblanges Kleid und hatte das Haar über der Stirn in Löckchen aufgelöst.

Paul grüßte sie sehr beklommen; ihm war zumute, als paßte er nicht mehr zu ihr – aber sie stand von ihrem Sitze auf, ging ihm drei Schritte entgegen und drückte ihm vor aller Augen herzlich die Hand.

In der darauffolgenden Stunde wurde unter den Knaben ein Blatt herumgereicht, das viel Heiterkeit erregte. Es trug die von allerhand Schnörkeln umgebenen Worte:


»Als Verlobte empfehlen sich:


Paul Meyhöfer,

Elsbeth Douglas.«


Die Schrift war die des jüngeren Erdmann. Pauls Hand suchte nach seinem Messer; für einen Moment war ihm zumute, als könnte er es hier mitten in der Kirche gegen seinen Nachbarn zücken; er zerrte ihm das Blatt aus der Hand und riß es in Fetzen.

[67] Elsbeth sah verwundert zu ihm herüber, und der Pfarrer rief ihn zur Ruhe. Nun erschrak er über seine eigene Kühnheit. Die Erdmänner mußten ihm wohl angemerkt haben, daß er in diesem Punkt nicht mit sich scherzen lasse, und machten keinen ferneren Versuch, ihn mit Elsbeth aufzuziehen ...

Am letzten Sonntag vor Pfingsten war die Einsegnung. Paul hatte die Nacht über nicht schlafen können, vor Sonnenaufgang stand er leise auf, zog die neuen schwarzen Tuchkleider an, die die gute Tante ihm zu diesem Feste geschenkt hatte, und machte einen Rundgang über den stillen Hof und die tauigen Felder, bis zu dem Moore hin, das mit seinem Blumengewande gar feiertäglich vor ihm lag. Im Angesicht der aufgehenden Sonne faltete er seine Hände und sprach ein inbrünstiges Gebet. Mit diesem Tage wollte er ein neues, besseres Leben beginnen, alle Unbill vergeben und seine Feinde lieben, wie es Jesus Christus befohlen ... Da fiel ihm das Messer ein, das er einst für die Erdmänner geschliffen, er riß es aus der Tasche und schleuderte es mitten in das Moor hinein, wo es mit einem gurgelnden Laute im Brachwasser versank. – Heiße Tränen stürzten aus seinen Augen. Schlecht und verworfen erschien er sich und gänzlich unwürdig, vor Gottes Altar zu treten ... Kaum wagte er auf den Hof zurückzukehren, erst als die Zwillinge in ihren nagelneuen Mullkleidchen jubelnd auf ihn zustürzten, ward ihm freier und leichter ... Er umarmte die Schwestern und gelobte sich im stillen, ihnen ein treuer Helfer und Freund zu werden.

Dann kam die Mutter, mit einem verschossenen Seidenkleide angetan, küßte ihn auf Stirn und Wangen und hielt sein Gesicht lange zwischen ihren beiden Händen, indem sie ihm unverwandt in die Augen schaute. – Sie wollte etwas sagen, aber sie brachte nichts weiter zum Vorschein als: »Mein Junge, mein lieber Junge.«

Selbst der Vater war heute in rosigster Laune. Er faßte seine beiden Hände und hielt ihm eine lange Rede, wie er lernen müsse, auf das Große im Menschenleben [68] seinen Blick zu heften und ihm, dem Vater, nachzueifern, der zwar stets vom Unglück verfolgt und von der Schlechtigkeit der Menschen ausgeplündert worden sei, der sich aber nie habe entmutigen lassen, zu den Sternen emporzustreben, selbst aus diesem elenden Loche heraus, in dem ein feindliches Schicksal ihn habe versinken lassen. Und er runzelte seine Brauen und wühlte sich in seinen Haaren, Zoll um Zoll Erhabenheit und Geistesgröße.

Paul küßte seine beiden Hände und versprach alles.

Um acht Uhr sah er auf dem Fahrweg, der über die Heide führte, eine Karosse vorbeirollen, deren silberner Zierat im Morgensonnenstrahle glitzerte.

Lange blickte er dem Wagen nach. Ihm war alles wie ein Traum ... Er fühlte sich so unendlich wohl, daß ihm ganz beklommen wurde vor lauter Glück. »Womit hab' ich das verdient?« fragte er sich, und darauf fing er an nachzugrübeln, wie wohl der erste Kummer beschaffen sein werde, der ihn dieser Seligkeit entreißen würde. – Als die Zwillinge ihm ankündigten, daß der Wagen zur Kirchenfahrt bereitstände, fühlte er sich traurig und gedrückt.

In dem Pfarrgarten, in dem Jasmin und Flieder blühten und auf dessen Rasen die Sonnenstrahlen glitzerten, standen zwei Menschenhäuflein, ein schwarzes und ein weißes, gesondert voneinander. Das erste waren die Knaben, das zweite die Mädchen.

Elsbeth in ihrem schneeigen Mullkleidchen, mit einem Spitzentüchlein über dem Busen, sah weiß und duftig aus wie eine Schlehdornblüte.

Ihre Wangen waren sehr blaß, sie hielt die Augen fortwährend gesenkt und spielte bald mit dem Gesangbuch, bald mit dem Fliederbüschel, welches beides sie in der Hand hielt.

Paul schaute lange zu ihr hinüber, aber sie sah ihn nicht. Sie mochte sich wohl in ihrer Andacht durch keinen weltlichen Gedanken stören lassen.

Und dann kam der Pfarrer. Die Glocken läuteten – und die Orgel rauschte – und langsam schritt der Zug, paarweise geordnet, nach dem Altar.

[69] Paul ging dicht hinter den beiden Erdmännern, die in ihren schwarzen langen Tuchröcken gar ernst und ehrbar dreinschauten. Plötzlich kam das Bewußtsein seiner Schuld mit erneuter Gewalt über ihn. Er beugte sich ein wenig vor, stieß sie leise in den Nacken und flüsterte mit nassen Augen: »Vergebt mir! Ich habe euch viel Übles getan!«

Sie bohrten sich gegenseitig die Ellbogen in die Hüften und schmunzelten spitzbübisch. Einer drehte sich mit halber Wendung um und flüsterte mit einem Leidensgesichte, das ganz erfüllt war von verkannter und gekränkter Unschuld: »Mein Sohn, wir vergeben dir.«

Paul fühlte wohl, daß sie sich über ihn lustig machten, aber sein Herz war so voll von Andacht und Liebe, daß ihm kein Hohn der Welt etwas anhaben konnte.

Zu beiden Seiten des Altars ordneten sich die Kinderscharen.

Paul warf einen schüchternen Blick in das Kirchenschiff hinunter, das gedrängt voll von Menschen war, aber er vermochte niemanden zu erkennen.

Die Stunde der Predigt verging. Er starrte vor sich nieder. Alles war ihm wie ein Traum.

Eine Weile später fühlte er seine Knie auf einem weichen Polster ruhen und die Hand des Pfarrers auf seinem Haupte ... Was er zu ihm sprach, vernahm er nicht. Er sah Elsbeth drüben still in ihr Taschentuch weinen und dachte: »Weine nur, weine nur, wirst bald wieder lachen.«

Und dann fragte er sich, warum die Menschen wohl alle so viel lachten, während es doch im ganzen so wenig Lächerliches auf Erden gäbe.

Die Orgel stimmte das Lied: »Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren« an – hellauf jauchzte der Chor der Gemeinde – da wanderte sein Blick zur Sonne empor, die in regenbogenfarbenen Lichtern durch die bemalten Kirchenfenster brach.

Und wie er in das Farbenspiel hineinstarrte, erschrak er plötzlich. Gerade jenseits des Kreuzes, das den Altar [70] krönte, stand in ungeheurer Größe eine düstere, in Grau gekleidete Frau und blickte aus großen, hohlen Augen auf ihn nieder ... Die Büßerin Magdalena war's.

Er fühlte, wie es ihn kalt durchschauerte.

»Frau Sorge,« murmelte er und beugte das Haupt, als wollte er in Demut empfangen, was sie ihm fürs Leben bescherte.

Und als er das Auge wieder erhob, strahlte die Sonne noch herrlicher denn zuvor.

Glührot und smaragden gleißten und glimmten die Flammen und woben eine Strahlenglorie um das Haupt der grauen Frau.

Die aber stand traurig inmitten der farbenfrohen Pracht und starrte aus großen, hohlen Augen auf ihn nieder. – – –

Da setzte mit einem rauschenden Akkorde die Orgel zum Nachspiel ein ... ein freudiges Beben ging durch die Gemeinde ... die Schar der Kinder eilte, sich in die Arme der Ihren zu werfen, – – und aus Elsbeths tränennassen Augen traf ihn ein freundlich grüßender Blick.

[71] 8

Paul trat nun in die Wirtschaft. Den Schwur, den er am Morgen seines Einsegnungstages getan hatte, hielt er getreulich. – Er arbeitete wie der letzte seiner Knechte, und wenn die Mutter ihn bat, sich zu schonen, dann küßte er ihr die Hand und sagte: »Du weißt, wir haben viel gutzumachen.«

Abends, wenn das Gesinde zur Ruhe gegangen war und die Zwillinge sich in Schlaf getollt hatten, dann saßen Mutter und Sohn oft stundenlang beisammen und planten und rechneten, aber war ein Entschluß in ihnen zur Reife gekommen und lächelte ein Schimmer von Hoffnung aus ihren Augen, dann geschah es oft, daß sie plötzlich zusammenschraken und mit einem Seufzer die Köpfe hängen ließen – aber keiner sprach es aus, was ihm das Herz belastete ...

Zu dieser Zeit fing Frau Elsbeth stark zu altern an. Lange, schmale Furchen zogen sich über ihre Wangen, das Kinn trat stark hervor, und das Haar erhielt einen Silberschimmer. Nur aus den dunklen Tiefen ihrer vergrämten Augen konnte man noch herauslesen, wie schön sie einst gewesen war.

»Ja, siehst du, jetzt bin ich eine alte Frau,« sagte sie eines Morgens zu ihrem Sohne, als sie sich vor dem Spiegel die Haare kämmte, »und das Glück ist noch immer nicht gekommen.«

»Sei still, Mutter, wofür hin ich denn da?« erwiderte er, obwohl ihm gar nicht so hoffnungsfreudig zumute war.

Da lächelte sie traurig, streichelte ihm Wangen und Stirn und sagte: »Ja, du siehst mir ganz so aus, als hättest du das Glück an den Flügeln gefangen; ... aber ich will nicht so reden,« fuhr sie fort, »was fing' ich wohl an, wenn ich dich nicht hätte?« – – –

Solch ein Augenblick überströmender Liebe mußte für lange vorhalten, denn oft vergingen Monate, ohne daß Mutter und Sohn vor lauter Beklommenheit der Herzen sich etwas Zärtliches zu sagen wagten. –

[72] Die Zwillinge wuchsen derweilen zu zwei tollen, pausbäckigen Wildlingen heran, denen kein Baum zu hoch, kein Graben zu tief war. Das krause Braunhaar hing ihnen in tausend widerspenstigen Ringeln über die Schläfen herab, und darunter hervor guckten zwei Augenpaare, so voll von Schelmerei, so blitzend in Scheu und Keckheit zugleich, als lachten verirrte Sonnenstrahlen aus tiefer Waldesnacht heraus.

Das Gelächter der beiden hallte frühmorgens und spätabends durch das einsame Heidehaus, und um so drückender war die Stille darin, wenn sie in der Schule weilten oder sich draußen auf dem weiten Plane umhertrieben.

Den Zwillingen war alles egal. Ob Sonnenschein, ob Sturm im Hause, sie hatten den Kopf stets voller Streiche, und wenn das Toben des Vaters einmal so arg wurde, daß sie es für geraten hielten, sich hinter dem Ofen zu verkriechen, so entschädigten sie sich dort, indem sie sich heimlich in die Beine kniffen.

Für Paul hegten sie eine grenzenlose Liebe, was sie jedoch nicht abhielt, die besten Bissen von seinem Teller, die weißesten Papierschnitzel aus seiner Mappe und die schönsten Knöpfe von seinen Hosen einfach als ihr Eigentum zu reklamieren, denn sie stahlen wie die Elstern.

Er hatte große Sorge um sie, denn er fürchtete, sie würden immer mehr verwildern, insbesondere, da die Mutter immer müder und mutloser wurde und die Dinge gehen ließ, wie sie gingen. Aber er fing seine Erziehungsversuche am unrechten Ende an. Seine Mahnungen fruchteten nichts, und einmal, als er mitten in einer schönen Strafpredigt war, geschah es, daß die eine plötzlich auf seinen Schoß sprang, ihn an der Nase ergriff und der Schwester zurief: »Du – er kriegt 'nen Bart.«

Drauf kletterte diese ihr nach, und beiden wollten um die Wette an seinen Lippen zupfen. – Als er nun aber ernstlich böse wurde, fingen sie an zu bocken und meinten: »Pfui – wir reden nicht mehr mit dir.«

Elsbeth hatte er seit seinem Einsegnungstage nicht[73] wieder gesehen, wiewohl inzwischen ein ganzes Jahr vergangen war.

Es hieß, sie sei nach der Stadt geschickt worden, um dort »gesellschaftliche Bildung« zu lernen. – Dies Wort hatte ihm einen Stich durchs Herz gegeben, er wußte kaum, was es bedeutete, aber er fühlte dunkel, daß sie sich nun weiter und weiter von ihm entfernte.

Da geschah es eines Tages um die Osterzeit, daß er ein Stück Ackerland bearbeiten ging, das, versprengt von dem anderen Besitztum fernab am Waldesrande lag. – Er selbst säte, und ein Knecht mit zwei Pferden ging nacheggend hintendrein.

Er hatte ein großes weißes Sälaken um die Schultern geschlungen und beobachtete mit stillem Vergnügen, wie die Samenkörner im Sinken gleich einem goldenen Springquell niederfunkelten. Da war es ihm, als sähe er zwischen den dunklen Stämmen des Waldes etwas Hellschimmerndes auf- und niederschaukeln – wie eine Wiege, die in der Luft schwebte. Doch nahm er sich kaum Zeit, darauf zu achten, denn das Säen ist eine Arbeit, die Aufmerken verlangt.

So kam die Frühstückspause heran. Der Knecht setzte sich auf den Kornsack, er selbst aber, da ihm heiß geworden war, ging nach dem Walde, um Schatten zu haben.

Er warf einen flüchtigen Blick nach der schwebenden Wiege und dachte: »Das muß wohl eine Hängematte sein,« aber um den, der darinnen lag, kümmerte er sich nicht.

Da war es ihm plötzlich, als hörte er seinen Namen rufen.

»Paul, Paul!« Es klang ganz lieb und vertraut und mit einer hellen, weichen Stimme, die ihm wohlbekannt schien.

Erschrocken schaute er auf.

»Paul, komm doch her!« rief die Stimme noch einmal. Es lief ihm heiß und kalt über den Rücken herab, denn er wußte nun, wer es war.

Er ließ einen verschämten Blick über seine Arbeitskleider gleiten und machte sich daran, den Knoten des [74] Lakens loszulösen, aber der hatte sich in den Nacken zurückgeschoben, so daß er ihn nicht erreichen konnte.

»Komm doch so, wie du bist,« rief die Stimme, und nun sah er auch, wie ihr Oberkörper sich in der Matte emporrichtete, während ein Buch mit rot und goldenem Einband ihren Händen entglitt und zur Erde fiel.

Zögernd kam er näher, indem er heimlich versuchte, die Stiefel, an denen der Schmutz des feuchten Ackers klebte, in dem Moose abzuwischen.

Sie ihrerseits hatte noch im letzten Augenblicke bemerkt, daß ihre Füße mitsamt den weißen Strümpfen unter dem Kleide hervorguckten, und machte sich eilig daran, sie mit dem Tuche, das sie um die Schultern geschlungen hatte, zu verdecken. Aber sie vermochte nicht, es unter ihren Armen hervorzuzerren, und da sie keinen anderen Rat wußte, so kauerte sie sich schnell zusammen, so daß sie dasaß wie ein brütendes Hühnchen, während die Hängematte heftig hin und her schwankte.

Vielleicht hatte sie die Absicht gehabt, ihm durch ihre Sicherheit und ihre frisch erlernte gesellschaftliche Bildung ein wenig zu imponieren, aber das Schicksal fügte es nun, daß sie ihn nicht minder rot und verlegen anstarren mußte als er sie.

Er seinerseits bemerkte nichts von ihrer Gemütsverfassung, er fand nur, daß sie sehr schön geworden war, daß ihr Haar sich zu einem vornehmen Knoten schürzte und daß ihre Busenschleife auf einer wogenden Rundung leise zitterte. Letzteres machte ihm vollends klar, daß sie inzwischen eine Dame geworden war.

Es verging eine ganze Weile, ehe eines von beiden ein Wort hervorbrachte.

»Guten Tag – du,« sagte sie dann mit einem leisen Auflachen und streckte ihm ihre Rechte entgegen, denn sie merkte, daß sie die Oberhand hatte.

Er schwieg und lächelte sie an.

»Hilf mir ein bißchen mein Tuch hervorziehen,« fuhr sie fort.

Er tat es. – »So, nun kehr dich um.« Auch damit[75] war er einverstanden. »Nun ist's gut.« Sie hatte sich wieder hingelegt, das Tuch rasch über die Füße geworfen und guckte nun zwischen den Maschen der Hängematte hindurch schelmisch zu ihm empor.

»Es ist wirklich 'ne Freude, daß ich wieder bei dir bin,« sagte sie, »du bist doch der Beste von allen. Hast du dich auch nach mir gebangt?«

»Nein,« erwiderte er wahrheitsgetreu.

»Ach geh – du,« erwiderte sie und versuchte, sich schmollend nach der anderen Seite zu drehen, aber da die Hängematte wieder in ein heftiges Schwanken geriet, so blieb sie liegen und lachte.

Er wunderte sich innerlich, daß sie so lustig war. Er hatte außer den Zwillingen noch niemanden so lachen gesehen. Und das waren Kinder.

Aber dieses Lachen gab ihm die Unbefangenheit wieder, denn er fühlte instinktiv, um wieviel älter er inzwischen geworden war als sie.

»Es ist dir wohl sehr gut gegangen – die ganze Zeit über?« fragte er.

»Gott sei Dank – ja,« erwiderte sie. »Mama kränkelt ein bißchen, aber das ist auch alles.« – Ein Schatten flog über ihr Angesicht, war aber im nächsten Augenblick wieder verschwunden, und dann fuhr sie plaudernd fort: »Ich bin in der Stadt gewesen – ach, du – was ich da alles durchgemacht hab' – das muß ich dir bei Gelegenheit einmal erzählen. Tanzstunden hab' ich genommen. Auch Verehrer hab' ich gehabt – du kannst mir's glauben. Fensterpromenaden haben sie mir gemacht, anonyme Blumensträuße haben sie mir geschickt, auch Verse, selbstgemachte Verse. Ein Student war darunter, mit einem weißen Schnurrock und einer grün-weiß-roten Mütze – o, der verstand's! Was der einem nicht alles zu sagen wußte – hinterher hat er sich mit der Betty Schirrmacher verlobt, einer Freundin von mir, das heißt ganz heimlich, außer mir weiß es keiner.«

Paul atmete erleichert auf, denn der Student hatte schon begonnen, ihm den Kopf warm zu machen.

[76] »Und hast du dich nicht geärgert?« fragte er.

»Weshalb?«

»Daß er dir untreu wurde.«

»Nein, darüber sind wir erhaben,« erwiderte sie und zuckte die Achseln. »O, du – das sind ja alles grüne Jungen im Vergleich mit dir!« Ein heißer Schreck überlief ihn bei dem Gedanken, daß man einen Studenten einen grünen Jungen nennen konnte und noch dazu mit ihm selber verglichen.

»Mein Bruder ist kein grüner Junge,« erwiderte er.

»Ich kenne deinen Bruder nicht,« meinte sie mit philosophischer Ruhe, »der mag vielleicht keiner sein. – – Ja, ich bin viel, viel älter geworden,« fuhr sie fort. »Literaturstunden hab' ich genommen – da hab' ich viel Schönes gelernt.«

Ein quälender Neid erwachte in ihm.

»Heb mal das Buch auf!« – Er tat's. – »Kennst du das?«

Er las auf dem roten Deckel in goldener Pressung die Worte: »Heines Buch der Lieder« und schüttelte traurig den Kopf.

»Ach, dann kennst du nichts. – Was da alles drinsteht! Du, das Buch muß ich dir leihen! Das lies – da lernt man was draus! Und wenn man eine Weile drin gelesen hat – dann kommt einem meistens das Weinen an.«

»Ist es denn so traurig?« fragte er und besah den roten Deckel mit beklommener Neugier.

»Ja, sehr traurig, so schön und so traurig wie – wie – bloß von Liebe ist die Rede, von weiter gar nichts, und man fühlt, wie die Sehnsucht einen übermannt, wie man fliegen möchte nach dem Ganges, wo die Lotosblumen blühen und wo –«

Sie stockte, dann lachte sie hell auf und meinte: »Ach, das ist zu dumm – nicht?«

»Was?«

»Was ich da schwatze.«

»Nein – ich möcht' dich mein Lebtag so reden hören.«

[77] »Ja – möchtest du? – Ach, du – hier ist es mollig! Ich komm' mir so geborgen vor, wenn du dabei bist.« – Und sie streckte sich in dem Netzwerk aus, als wollte sie mit dem Kopf nach seiner Schulter hin.

Ein seltsames Gefühl von Glück und Frieden überkam ihn, wie er es lange nicht gekannt hatte.

»Warum schaust du fort?« fragte sie.

»Ich schaue nicht fort.«

»Doch ... du mußt mich anschauen ... Das hab' ich gern ... du hast so ernste, treue Augen – du, jetzt weiß ich auch, womit ich die Lieder da vergleichen soll!«

»Nun, womit?«

»Mit deinem Pfeifen. Das ist auch so – so – – na, du weißt schon ... Pfeifst du denn auch noch manchmal?«

»Selten!«

»Und die Flöte hast du wohl auch nicht spielen gelernt?«

»Nein.«

»O pfui! – Wenn du mich liebhast, dann tust du's ... Ich werde dir auch das nächste Mal eine schöne Flöte schenken!«

»Ich habe nichts, dir wieder zu schenken!«

»Doch – du schenkst mir all' die Lieder, die du spielst. Und wenn dir recht wehe ums Herz ist ... na, lies nur in dem Buche – da steht alles.«

Paul besah es von allen Seiten. »Was muß das für ein seltsames Buch sein?« dachte er.

»Und nun erzähl mir von dir!« sagte sie. »Was tust du? Was treibst du? Was macht deine liebe Mama?«

Paul sah sie dankbar an. Er fühlte, daß er heute würde reden können, ganz wie ihm ums Herz war – da fuhr's ihm plötzlich durch den Sinn, daß die Frühstückspause längst vorüber und daß der Knecht mit den Pferden auf ihn wartete. Bis Mittag mußte er fertig sein, denn nach dem Essen sollte das Fuhrwerk mit einer Fuhre Torf, die er heimlich hatte stechen lassen, in die Stadt.

»Ich muß an die Arbeit,« stammelte er.

[78] »Ach, wie schade! Und wann bist du fertig?«

»Um Mittag.«

»So lange kann ich nicht warten, sonst ängstigt sich Mama. Aber in den nächsten Tagen komm doch wieder einmal ausschauen – vielleicht findest du mich. Jetzt will ich noch eine Stunde hier liegen und dir zugucken. Es sieht prächtig aus, wenn du mit deinem schneeweißen Tuche auf und nieder schreitest und die Körner um dich her sprühen.«

Er reichte ihr stumm die Hand und ging.

»Das Buch werd' ich hier liegen lassen,« rief sie ihm nach, »hol's dir, wenn du fertig bist ...«

Der Knecht lächelte verschmitzt, als er ihn kommen sah, und Paul wagte kaum die Augen zu ihm aufzuschlagen.

Jedesmal, wenn er in seiner Arbeit an der Stelle vorüberging, an der sie drüben im Walde ruhte, richtete sie sich halb auf und winkte ihm mit dem Taschentuche. Gegen zwölf Uhr wickelte sie ihre Hängematte zusammen, trat an den Waldesrand und rief durch die hohle Hand ihr Lebewohl ...

Er nahm zum Dank die Mütze ab, der Knecht aber schaute nach der anderen Seite und pfiff sich eins, als wollte er nichts bemerkt haben ...

Während der heutigen Mittagsmahlzeit wandte die Mutter keinen Blick von ihrem Sohne, und als sie mit ihm allein war, trat sie auf ihn zu, nahm seinen Kopf in ihre beiden Hände und sagte: »Was ist dir passiert, mein Junge?«

»Weshalb?« fragte er verwirrt.

»Dein Auge leuchtet so verfänglich.«

Er lachte laut auf und lief von dannen; als sie ihn aber beim Abendbrot noch immer anschaute – fragend und traurig zugleich –, da tat es ihm weh, daß er ihr kein Vertrauen geschenkt hatte, er ging ihr nach und gestand ihr, was ihm widerfahren war.

Da flog es wie Sonnenschein über ihr vergrämtes Gesicht, und als er mit glühenden Backen verschämt von [79] dannen schlich, schaute sie ihm feuchten Auges nach und faltete die Hände, wie um zu beten.

Er saß bis gegen Mitternacht in seiner Kammer, den Kopf in die Hände gestützt. Das geheimnisvolle Buch lag auf seinen Knien, aber darin lesen konnte er nicht, denn der Vater hatte ihm verboten, abends Licht zu brennen. Er mußte warten bis zum Sonntag.

Er dachte darüber nach, wie anders sie geworden war. – Hätte sie nur nicht so oft gelacht. Ihr Frohsinn entfremdete sie ihm, und das volle, blühende Leben, von dem sie sich tragen ließ, rückte sie weit, weit fort in jenes ferne Land, wo die Glücklichen wohnen. Und schien sie an Lieb' und Güte auch die alte, sie mußte ihn ja verachten lernen, er war ja bloß ein Bauernjunge und dumm und linkisch und trübselig dazu.

In seinem Kopfe wogte ein wirres Durcheinander von Glück und Scham und Selbstvorwürfen, denn er fand, daß er sich weit würdiger und weit vornehmer hätte benehmen können. – Hierin mischte sich eine rätselhafte Angst, die ihm fast die Kehle zuschnürte – wiewohl er vergebens in seiner Seele nachforschte, wem sie wohl gelten mochte.

Am nächsten Vormittag sah er vom Hofe aus, auf dem er Pfähle eingrub, etwas Weißes am Waldrande sich hin und her bewegen. – Er biß die Zähne zusammen in Weh und Ingrimm, aber er brachte es nicht übers Herz, seine Arbeit zu verlassen.

Noch zwei Tage lang fand das Weiße sich ein – dann blieb es verschwunden.

Am Sonntagvormittag holte er sich das Liederbuch aus seinem Kasten und wanderte damit nach dem Walde – zur Mahlzeit blieb er aus –, und am Abend fanden ihn die Zwillinge, die auf der Heide Haschen spielten, pfeifend unter einem Wacholderbusch liegen, während ihm die Tränen über die Wagen liefen.

So übersetzte er sich das »Buch der Lieder« in seine Sprache.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

[80] Kurze Zeit darauf hörte er, daß Frau Douglas von den Ärzten ein dauernder Aufenthalt im Süden angeordnet sei und daß Elsbeth sie begleiten werde.

»Es ist ganz gut so,« sagte er sich, »dann wird sie mir nicht mehr so viel im Kopfe herumspuken.« Lange war er unschlüssig, ob er ihr das entliehene Buch wiederschicken sollte oder nicht; er hätte es gern behalten, aber sein Gewissen ließ das nicht zu. Er wartete auf eine günstige Gelegenheit – bis er erfuhr, daß sie abgereist sei. Da gab er sich zufrieden.

[81] 9

Fünf Jahre vergingen – fünf Jahre voll Sorgen und Mühen. Paul ließ sich das Leben gar sauer werden, er schaffte von morgens früh bis in die Nacht hinein, seine fleißige Hand lag auf jeglichem Werke, und was er anfaßte, gedieh. Aber er merkte es kaum, denn allstündlich ging sein Geist sorgend in die Zukunft.

Seine Stirn trug zu allen Stunden die gleichen Falten, sein Auge schaute mit dem gleichen gedankenschweren, grüblerischen Ausdruck vor sich nieder, gleichsam ins Innere hinein, und oft vergingen Tage, ohne daß er bei Tisch und bei der Arbeit ein einzig Wort gesprochen hätte.

Er trug die Überzeugung, daß im Grunde sein Schaffen ein hoffnungsloses war. Auf des Vaters Dank hatte er niemals rechnen können, und er lernte leicht, ihn verschmerzen, aber was er schwerer lernte, war, sich geduldig fügen, wenn des Vaters Laune in einer Stunde zerstörte, was er mühsam durch Wochen hin aufgebaut hatte.

Wenn der Vater von seinen Reisen heimkam, so geschah es nicht selten, daß er ihn vor den Ohren der Knechte einen Pinsel, einen Dummkopf schalt und sich bitter beklagte, die Wirtschaft in so unfähigen Händen zurücklassen zu müssen, wenn die Pflicht – niemand wußte, welche Pflicht dies war – ihn in die Ferne rief.

Paul schwieg alsdann, denn tief in seinem Herzen ruhte das Gebot: »Du sollst Vater und Mutter ehren. – Den Vater um der Mutter willen,« so hatte er es umgemodelt – aber sein Auge glitt mit einem düster spähenden Blicke von einem der Knechte zum andern, und wen er lächeln oder in heimlicher Schadenfreude des Nachbarn Ellbogen streifen sah, den entließ er am folgenden Morgen.

Einen unter den Knechten gab es, der fast die ganze Zeit über auf dem Heidehof gearbeitet hatte. Er hieß Michel Raudszus und war litauischer Herkunft. Er bewohnte auf der Heide, unweit von Helenental, eine armselige, verfallene Kate, deren Wände mit Torf belegt waren, damit sie der Sturm nicht umfegte. Er hatte ein [82] verwahrlostes Weib, das schon zweimal im Gefängnis gesessen hatte und die Kinder zum Betteln anhielt.

Er war ein schweigsamer, finsterer Gesell, der seine Arbeit musterhaft verrichtete und ohne ein Wort des Murrens von dannen ging, wenn man ihn nicht mehr brauchte, aber pünktlich zur Stelle war, wenn es von neuem Arbeit gab.

Paul hatte ihn anfangs nicht leiden mögen, denn sein wortkarges, einsames Wesen und seine scheuen, düsteren Mienen hatten auf ihn einen unheimlichen Eindruck gemacht, aber dann war's ihm plötzlich eingefallen, daß er selber sich nicht viel anders betrüge, und seit dieser Stunde hatte er ihn in sein Herz geschlossen.

Der Vater seinerseits schien einen gewissen Respekt vor ihm zu haben, denn obwohl er, wenn er betrunken war, die Knechte durchzuprügeln pflegte, hatte er ihn noch niemals angerührt. – Es war, als ob der Blick, den der Mensch unter seinen buschigen Brauen hervor ihm zuwarf, ihn im Zaume hielte.

Dieser Knecht war Pauls treuester Gehilfe. Ihm konnte er selbst den Marktverkauf des Getreides anvertrauen, und stets wußte er die höchsten Preise zu erhandeln. – – –

Auf dem stillen Heidehof hatte sich in diesen fünf Jahren langsam und unmerklich eine große Veränderung vollzogen. Mehr und mehr verloren sich die Spuren der Armut, seltener und seltener kehrte die Not bei Tische ein. – Im Garten zeigten sich zierliche Blumenrabatten, in langen Reihen standen die Schoten-und die Spargelstauden, und der brüchige Bretterzaun war längst durch einen neuen ersetzt worden. – Die Herde wuchs alljährlich um zwei oder drei wertvolle Kühe, und der Milchwagen, der allmorgendlich nach der Stadt fuhr, brachte am Ersten manchen schönen Groschen heim.

Daß trotzdem von einem beginnenden Wohlstand keine Rede sein konnte, daran war nur der Vater schuld, der den größten Teil der Einkünfte verspekulierte, wenn er sie nicht durch die Gurgel jagte.

[83] Hinter seinem Rücken hatte Paul es möglich gemacht, daß wenigstens für die Geschwister allmonatlich ein paar Taler erübrigt wurden.

Die Brüder brauchten mehr Geld denn je. Max hatte das Staatsexamen gemacht und absolvierte nun unentgeltlich sein Probejahr bei einem Gymnasium; und Gottfried, der Kontorist, war alljährlich etliche Monate außer Stellung. Die beiden schrieben Bittbriefe in allen möglichen Tonarten, von der jovialen Forderung: »Pump mir mal sofort dreißig Taler,« bis zum herzzerreißenden Flehen: »Wenn Du nicht willst, daß ich zugrunde gehen soll, so habe Erbarmen« und so weiter.

Paul verbrachte manche schlaflose Nacht über dem Sinnen, wie ihnen zu helfen, und nicht selten geschah es, daß er sich das Geld an seinem eigenen Leibe absparte.

Einmal hatte ihm Gottfried geschrieben, daß er gänzlich abgeledert sei und notwendig einen Sommeranzug brauche. Paul wollte sich gerade einen Sonntagsrock machen lassen, denn sein alter war ihm ausgewachsen; seufzend packte er das Geld, das er dafür bestimmt hatte, in ein Kuvert und schickte es dem Bruder, ließ aber in dem Begleitbriefe etwas davon einfließen, daß es mit seiner eigenen Garderobe nicht minder übel bestellt sei. Der Bruder zeigte sich großmütig, er schickte ihm vierzehn Tage später ein Paket mit Kleidern und einen Brief, in dem es hieß: »Ich schicke Dir anbei einen abgelegten Anzug von mir. Du in Deiner anspruchslosen Stellung wirst ihn wohl noch verwerten können.«

Auch den Zwillingen hatte Paul eine glänzendere Zukunft ermöglicht, als die gedrückten Verhältnisse des Hauses es erwarten ließen. Er hatte dahin gewirkt, daß die Pfarrerin, eine ehemalige Gouvernante, sie in die Privatschule aufnahm, die sie für die Töchter wohlhabender Besitzersfamilien aus der Umgegend errichtet hatte.

Das Schulgeld war nicht das schlimmste dabei – auch die Bücher und Hefte ließen sich wohl auftreiben – aber schwer, sehr schwer war es, die nötige Garderobe instand zu halten, denn sein Stolz litt es nicht, daß die [84] Schwestern hinter ihren Freundinnen zurückblieben und etwa als Bettlerkinder von ihnen betrachtet würden. Er selbst hatte das Gefühl, über die Achsel angesehen zu werden, allzu sehr an sich kennen gelernt, um es den Schwestern zu gönnen.

An der Mutter fand er selbst für diese weiblich gearteten Sorgen keinen Rückhalt mehr. Sie war nun durch die steten Scheltreden ihres Mannes so sehr verängstigt, daß sie nicht mehr den Mut fand, einen Fetzen Band auf eigene Verantwortung einzukaufen.

»Was du tust, mein Sohn, wird gut sein,« sagte sie; und Paul fuhr zur Stadt und ließ sich von dem Manufakturisten und der Schneiderin betrügen.

Die Zwillinge blühten empor, sorglos und übermütig, ohne eine Ahnung davon, welch ein Trauerspiel sich in ihrer nächsten Nähe abspielte.

In ihrem zehnten Jahre prügelten sie sich mit den Jungen des Dorfes herum, im zwölften gingen sie mit ihnen auf den Birnendiebstahl, und im fünfzehnten ließen sie sich von ihnen Veilchensträuße schenken ...

Sie galten nun weit und breit als die schönsten Mädchen der Gegend. Paul wußte das wohl und war nicht wenig stolz darauf, aber was er nicht wußte, war, daß sie sich hinter dem Gartenzaune Stelldichein gaben und daß die Hälfte ihrer Konfirmationsbrüder sich rühmen durfte, ihre süßen, roten Lippen geküßt zu haben. –

[85] 10

Es war im Monat Juni an einem sonnigen Sonntagnachmittag.

Aus dem Walde herüber erscholl leise Trompetenmusik. Dort wurde heut ein großes Fest gefeiert. Eine städtische Musikkapelle hatte sich anwerben lassen, ein Konzert zu geben. Von weit und breit waren die Landbewohner herbeigeströmt, selbst die Rittergutsbesitzer hatten nicht verschmäht, ihre Teilnahme zuzusagen, denn dergleichen ereignete sich nicht häufig in dem stillen Hinterwald.

Von Mittag an waren lange Wagenreihen an dem Heidehof vorübergezogen, und der alte Meyhöfer, der nicht gern zu Hause saß, wenn irgendwo was los war, hatte plötzlich einen Anfall von Güte bekommen und den Weibern zugerufen, sich schleunigst bereit zu machen, er wolle sich opfern und sie zum Feste führen.

Die Zwillinge, die schon lange mit begierig glänzenden Augen zum Fenster hinausgestarrt hatten, brachen in lauten Jubel aus, Frau Elsbeth lächelte still zu ihnen hinüber und wandte sich dann zu Paul, der in einer Ecke saß und ruhig an seinen Blumenstöcken weiterschnitzelte, als ob ihn das alles nichts anginge.

»Willst du nicht mit?« fragte sie.

»Paul kann kutschieren,« rief Meyhöfer nachlässig.

Er dankte und meinte, sein Rock sei zu schäbig, auch wolle er die Tagelöhner kontrollieren, die sich mit Sonnenuntergang einzufinden hatten. Morgen sollte die Heuernte beginnen.

Die Zwillinge sahen ihn an, steckten die Köpfe zusammen und kicherten dann, als er zur Tür hinausschritt, hängten sie sich an ihn, und Käthe zischelte: »Du, wir wissen was!«

»Na, was wißt ihr denn?«

»Was Schönes!« meinte Grete geheimnisvoll.

»'raus damit!«

»Elsbeth Douglas ist wieder zu Hause.«

Und in ein helles Gelächter ausbrechend, jagten sie von dannen.

[86] Paul empfand zuerst einen großen Zorn, daß sie ihn zu verspotten wagten, dann seufzte und lächelte er und wunderte sich, daß sein Herz plötzlich so laut zu pochen begann.

Eine halbe Stunde später fuhren die Seinen ab.

»Komm bald nach!« rief ihm die Mutter vom Wagen zu, und Käthe raunte ihn beim Aufsteigen ins Ohr: »Ich glaub', sie werden auch da sein.«

Nun stand er allein auf dem verödeten Hof ... Die Mägde waren zum Melken auf die Weide gegangen, – keine lebendige Seele weit und breit.

Die Enten in ihrem Tümpel hatten die Köpfe unter die Flügel gesteckt, der Kettenhund schnappte schläfrig nach Fliegen.

Paul setzte sich auf den Gartenzaun und starrte nach dem Walde hinüber, an dessen Rande der Schein von hellen Kleidern hin und her flirrte, während hie und da ein helles Leuchten aufblitzte, wenn die Sonnenstrahlen sich in dem Geschirr der harrenden Fuhrwerke widerspiegelten.

Der Abend kam. Noch war er unschlüssig, ob er es wagen dürfte, den Seinen nachzufolgen.

Tausend Gründe fielen ihm ein, die sein Zuhausebleiben dringend notwendig machten, und als es ihm vollständig klargeworden war, daß er ins Haus gehöre und nirgends anders hin, zog er sich seinen Sonntagsrock an und ging zum Feste.

Es fing an zu dunkeln, als er über die duftende Heide dahinschritt. Das Herz schnürte sich ihm zu in tiefgeheimer Angst. – Er wagte nicht nach den Gründen zu forschen, doch als er an dem Wacholderbusche vorbeischritt, unter dem er einst Elsbeth sein schönstes Lied gepfiffen, da zuckte ein Schmerz durch seine Brust, als hätte ein Stich ihn getroffen.

Er hielt an und überlegte, ob er nicht lieber umkehren sollte. – – »Mein Rock ist viel zu schlecht,« sagte er sich, »ich kann mich in anständiger Gesellschaft nicht sehen lassen.« Er zog ihn aus und musterte ihn von allen [87] Seiten. Die Nähte des Rückens zeichneten sich als graue Streifen ab, auf den Ellbogen saß ein mattsilberner Glanz, und die Kanten der Brustaufschläge wiesen sogar kleine Fransen auf.

»Es geht beim besten Willen nicht,« sagte er, und dann setzte er sich unter den Wacholderbusch und träumte davon, wie flott und elegant er aussehen würde, wenn er es erst bis zu einem neuen Rocke gebracht hätte. »Aber das wird wohl noch lange dauern,« fuhr er fort, »erst müssen Max und Gottfried fest in ihren Stellungen sitzen, und Grete und Käthe müssen die Ballkleider haben, die sie sich wünschen, und Mutters Lehnstuhl muß neu gepolstert sein,« – – und je mehr er nachdachte, desto mehr Sachen fielen ihm ein, die den Vorrang hatten.

Hierauf sah er sich wieder mit einem funkelnagelneuen schwarzen Anzug angetan, Lackstiefel an den Füßen, eine modische Krawatte um den Hals geschlungen, wie er mit stolz emporgehobenem Haupte in nachlässig vornehmer Haltung den Ballsaal betrat, während Elsbeth ihm hochachtungsvoll entgegenlächelte.

Plötzlich fuhr er aus seinen Träumen hoch. – »Pfui, ich bin ein rechter Geck geworden,« schalt er, »was hab' ich mit Lackstiefeln und modefarbenen Krawatten zu tun? Und jetzt geh' ich grade in meinem alten Rock zum Walde. – – Zudem ist es ja auch schon fast dunkel geworden,« fügte er vorsichtig hinzu.

Heller schallten die Trompeten. Jubel und Gelächter drangen durch die Fichtenzweige an sein Ohr.

Eine runde Waldwiese war zum Festplatz umgewandelt worden. In der Mitte erhob sich ein Podium für die Musikanten, rechts davon stand die Bude des Schankwirts aus dem Dorfe, der saures Bier und süßen Kuchen verkaufte, und auf der linken Seite war ein Tanzplatz eingezäunt, dessen Betreten zehn Pfennig extra kostete, wie man auf einer großen weißen Tafel lesen konnte.

In weitem Bogen ringsum waren Tische und Bänke aufgeschlagen, wo die Familien sich an dem mitgebrachten Abendbrot gütlich taten, und mittendurch drängte sich eine [88] jubelnde, kichernde, gaffende Menge, die nach Liebe oder Prügeln lüstern war.

Das Konzert war bereits zu Ende, der Tanz hatte begonnen; auf dem festgestampften Moose drehten die Pärchen sich keuchend und stolpernd in die Runde.

Der Schein des verglühenden Abends lag auf der Lichtung, während das rings daran grenzende Waldesterrain schon im Dunkel vergraben war. Hier hausten die Knechte und die Mägde aus den umliegenden Ortschaften, selbst die Kutscher hatten ihre Fuhrwerke verlassen, da sie's nicht übers Herz brachten, dem Liebesspiel von ferne zuzusehen. Jeder Busch des Unterholzes schien lebendig, und aus dem Schoße der Nacht drang leises, verliebtes Gekicher.

Scheu wie ein Verbrecher schlich Paul sich rings um den Festplatz. Ein Bangen vor fremden Menschen war ihm schon immer eigen gewesen, aber noch nie hatte sein Herz sich so angstvoll zusammengekrampft wie in diesem Augenblicke.

»Ob Elsbeth da ist?« – Nirgends im Getümmel war von den Bewohnern des »weißen Hauses« eine Spur, aber auch die Seinen schienen spurlos verschwunden. Einmal war es ihm, als höre er das girrende Gelächter der Zwillinge an sein Ohr schlagen, aber im nächsten Augenblick hatte der Lärm es verschlungen.

Zweimal war er schon in die Runde gegangen, da plötzlich – das Herz drohte ihm stille zu stehen in Schreck und Wonne – sah er ganz nah vor sich Vater und Mutter mit der Familie Douglas in friedlichstem Beieinander an einem Tische sitzen.

Der Vater hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und redete hochrot vor Eifer auf Herrn Douglas ein. Der breitschultrige Riese mit dem buschigen Graubart hörte ihm schweigend zu, nickte bisweilen und lächelte vor sich hin. Die hagere, kränkliche Gestalt mit den hohlen Wangen und den blauen Ringen rings um die Augen, die das Haupt müde gegen einen Baumstamm gelehnt hatte und mit den mageren, weißen Fingern die Hand der Mutter [89] umschlungen hielt, das war seine Pate, die ihm stets wie eine Botin aus dem Jenseits erschienen war. Aber neben ihr – neben ihr die Dame in dem schmucklosen, grauen Kleide, mit dem schlicht zurückgestrichenen Blondhaar – –

»Elsbeth, Elsbeth,« jubelte eine Stimme in ihm, und dann plötzlich sank es wie eine Wolkenwand zwischen ihm und ihr hernieder und legte sich frostig um seine Seele und umflorte sein Auge mit feuchten Schleiern.

Ihr gegenüber saß ein Herr mit keckem, blondem Bärtchen und noch keckeren, blauen Augen, der sich vertraulich zu ihr hinüberneigte, während ein Lächeln über ihr stilles Antlitz glitt.

»Den wird sie heiraten,« sagte er sich mit einer Bestimmtheit, die mehr als eine eifersüchtige Ahnung war. Mit dem Hellsehertum der Liebe hatte er erkannt, daß diese beiden Naturen sich ergänzten und einander suchen mußten. – Und vielleicht, vielleicht hatten sie sich schon gefunden, dieweil er selber seine Tage in nichtigen Träumen vergeudete.

Wie erstarrt blieb er stehen und musterte den Mann, der ihm plötzlich klar machte, was er verloren – verloren freilich, ohne es je besessen zu haben.

Wie hätte er sich auch jemals mit diesem messen können! So – auf ein Haar so – war ja das Mannesideal beschaffen, von dem er stets geträumt hatte.

Kühn, energisch, siegesbewußt – so wollte auch er einst werden – genauso wie der fremde junge Mann, der mit leichtsinnigem Lächeln zu Elsbeth hinüber schaute. – Auch trug er Lackstiefel und einen modefarbenen Schlips, und sein Anzug war vom feinsten, schwarzen Glanztuch.

Wohl eine Stunde lang stand Paul da, ohne daß er wagte, sich vom Platze zu rühren, Elsbeth und ihr Gegenüber mit den Augen verschlingend.

Es wurde Nacht, er merkte es kaum.

Lange Reihen von Lampions wurden angezündet und entsendeten einen ungewissen Dämmerschein auf das bunte Menschengewühl.

»Wie schön bin ich geborgen!« dachte Paul und freute [90] sich des Dunkels, in dem er sich verkrochen hatte. Er achtete nicht darauf, daß zwei Männer auf ihn zuschritten und sich in seiner Nähe am Boden zu schaffen machten. – Da plötzlich flammte, kaum drei Schritte von ihm entfernt, ein purpurrotes bengalisches Feuer auf, das alles ringsum in ein Meer blendenden Lichtes tauchte.

Rasch wollte er sich in den Schatten eines Baumstammes flüchten, aber es war zu spät.

»Steht da nicht Paul?« rief die Mutter.

»Wo?« fragte Elsbeth, sich neugierig umwendend.

»Junge, was lungerst du im Finstern 'rum?« schrie der Vater.

Da mußte er wohl oder übel hervortreten, und hochrot vor Scham, die Mütze in der Hand, stand er vor Elsbeth, die den Kopf in die Hand gestützt hatte und lächelnd zu ihm aufsah.

»Ja – so ist es immer – der richtige Schleicher,« sagte der Vater, ihm einen Schlag auf die Schulter gebend, und der fremde junge Herr strich sich das Haar aus der Stirn und lächelte halb gutmütig, halb ironisch.

Da stand der alte Douglas auf, trat auf ihn zu und ergriff seine beiden Hände. »Kopf hoch, junger Freund, und Brust 'raus!« rief er mit seiner Löwenstimme. »Sie haben keine Ursache, die Augen niederzuschlagen – Sie am wenigstens auf der ganzen Welt. Wer mit zwanzig Jahren das leistet, was Sie leisten, der ist ein ganzer Kerl und braucht sich nicht verkriechen. Ich will Sie nicht eitel machen, aber fragen Sie mal, wer Ihnen das nachtäte! Etwa du, Leo?« wandte er sich an den jungen Stutzer, der mit lustigem Auflachen erwiderte: »Muß eben verbraucht werden, wie ich bin, Onkelchen.«

»Wenn nur etwas an dir zu verbrauchen wäre, du Taugenichts,« erwiderte Douglas. – »Dies ist nämlich mein Neffe, Leo Heller, ein Fritz Triddelfitz in neuer Auflage – – –«

»Onkel, ich seng' dir auf!«

»Ruhig, du Schlingel.«

[91] »Onkel – zwanzig Glas – wer zuerst unterm Tisch liegt –«

»Das nennt der Respekt.«

»Onkel – du kneifst.«

»Ruhig – sieh dir mal hier diesen jungen Landwirt an – zwanzig Jahr alt und hält die ganze Wirtschaft am Schnürchen.«

»Na, Herr Douglas, ich bin ja auch noch da,« rief Meyhöfer mit etwas langem Gesicht.

»Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen,« erwiderte dieser, »aber Sie haben ja so viel mit Ihrer Aktiengesellschaft zu tun – Sie können sich um solche Lappalien natürlich nicht bekümmern.«

Meyhöfer verbeugte sich geschmeichelt, und Paul schämte sich für ihn, denn er verstand die Ironie dieser Worte gar wohl.

Frau Douglas winkte ihn lächelnd zu sich heran, ergriff seine Hand und streichelte sie. »Groß und hübsch sind Sie geworden,« sagte sie mit ihrer matten, freundlichen Stimme, »und einen schönen Bart haben Sie bekommen –«

»Aber nennen Sie ihn doch du,« fiel die Mutter ein, die heute weit freier schien als sonst. »Paul, bitte deine Patin – – –«

»Ja, ich – bitte darum,« sagte Paul stammelnd, indem er aufs neue errötete.

»Gott wird dich segnen, mein Sohn,« sagte Frau Douglas. »Du hast es dir verdient« – und dann sank ihr Kopf aufs neue gegen den Baumstamm.

Paul stand nun hinter der Bank und wußte nicht, was beginnen. Es geschah zum erstenmal, seitdem er erwachsen war, daß er sich in fremder Gesellschaft befand. Sein Blick fiel auf Elsbeth, die, den Kopf auf die Ellbogen gestützt, sich nach ihm umschaute.

»Mir willst du wohl gar nicht guten Tag sagen?« fragte sie mit leiser Schelmerei.

Das vertrauliche »Du« machte ihm Mut. Er streckte ihr die Hand entgegen und fragte, wie es ihr ergangen sei die ganze lange Zeit.

[92] Ein trüber Schein flog über ihr Gesicht. »Nicht gut,« sagte sie leise, »aber davon später, wenn wir allein sind.«

Sie rückte ein wenig zur Seite und sagte: »Komm!« Und als er sich neben sie setzte, streifte sein Ellbogen ihren Nacken. Da ging ein Schaudern durch seinen Leib, wie er es nie im Leben gefühlt hatte.

Leo Heller reichte ihm über den Tisch weg die Hand und sagte lachend: »Auf gute Freundschaft, Sie Musterknabe, Sie!«

»Ich bin leider nicht wert, daß man mich zum Muster nähme,« erwiderte er in seiner Unschuld.

»Dann seien Sie glücklich – ich auch nicht. – Nichts ist mir ekelhafter, als so ein Musterknabe – –«

»Warum nannten Sie mich denn so?«

Leo sah ihn verblüfft an. »Ach, Sie scheinen alles für Ernst zu nehmen,« sagte er dann.

»Verzeihen Sie – ich bin so wenig an Scherz gewöhnt,« erwiderte er, und die Schamröte stieg ihm ins Gesicht. Wie er sich hierbei nach Elsbeth wandte, bemerkte er, daß sie ihm mit eigentümlich tiefem, ernstem Blicke in die Augen schaute. Da stieg ein jähes Glücksgefühl in seiner Seele auf. Er ahnte, daß hier jemand war, der ihn nicht für dumm und lächerlich hielt, der seine Natur verstand und die Gesetze, nach denen sie wirkte.

Während die dreie stillschwiegen, fuhr der Vater am anderen Ende des Tisches fort, Herrn Douglas den Plan seiner Aktiengesellschaft auseinanderzusetzen.

»Und wenn Sie Vertrauen zu mir haben, Herr! – aber nein! das brauchen Sie nicht einmal – ich will sagen, wenn Sie Ihr eigen Glücke nicht leichtsinnig verscherzen wollen – man soll seinem Glücke nicht im Wege stehen, Herr! – wenn Sie nur ein Quentchen Unternehmungsgeist in sich verspüren – o dann, ja dann –! Sie wissen, Hunderttausende sind hier zu verdienen, das Moor ist unerschöpflich – wozu wollen Sie andere an Ihrer Stelle reich werden lassen, Herr? Vorwärts – durch Nacht zum Licht, heißt meine Devise – ich will streben und kämpfen bis zum letzten Atemzug – nicht [93] mein eigenes Interesse ist es, was hier auf dem Spiele steht, mir erscheint es als eine Frage der ganzen Menschheit! Es gilt, diese wüsten Ländereien der Kultur zu gewinnen, es gilt, diesem ganzen Distrikte neues Lebensblut zuzuführen, es gilt, die Armut dieser Strecken in Wohlstand umzuwandeln – Wohltäter der Menschheit gilt es zu werden, Herr!«

Und in diesem Tone schwadronierte er weiter.

Dann plötzlich rückte er Douglas ganz nah auf den Leib, und als wollte er ihm die Pistole auf die Brust setzen, schrie er: »Werden Sie also partizipieren, Herr?«

Douglas fing einen Blick seiner Frau auf, die heimlich nach Frau Elsbeth hinwies und ihm dabei bittend zublinzelte, dann sagte er, halb belustigt, halb ärgerlich: »Meinetwegen.«

Paul schämte sich wieder, denn er las auf dem Gesichte von Douglas, daß es sich für ihn um weiter nichts handelte als den Scherz, ein paar hundert Taler zum Fenster hinauszuwerfen. Er wußte selbst nur allzu gut, daß kein vernünftiger Mensch die Pläne seines Vaters ernsthaft nehmen konnte.

»Hast du unsere Mädchen nicht gesehen, Paul?« fragte die Mutter, die nun nicht minder beklommenen Mutes schien als er.

Nein, er hatte sie nirgends gesehen.

»So geh – schau dich nach ihnen um – sie sind zum Tanzplatz gegangen – sag ihnen, sie möchten nicht zu sehr jagen – sie erkälten sich sonst.«

Paul erhob sich.

»Ich werde dich begleiten,« sagte Elsbeth.

»Darf ich nicht auch mitkommen, Cousinchen?« fragte Vetter Leo.

»Bleib du nur hier,« erwiderte sie leichthin, worauf er erklärte, sich vor Gram den Tod geben zu müssen.

»Ein lustiger Vogel,« sagte Paul mit einem Seufzer des Neides, als er neben ihr durch das Gedränge schritt.

»Ja aber mehr auch nicht,« erwiderte sie.

»Hast du ihn gern?«

[94] »Gewiß – sehr.«

Sie wird ihn doch heiraten, dachte Paul.

Ringsum schrie und johlte die Menge. Ein Lampion war in Flammen aufgegangen, und eine Schar junger Burschen bemühte sich, es von der Schnur herunterzureißen. Flammende Papierfetzen flogen in die Luft, und der flüssige Stearin spritzte in die Runde.

Elsbeth legte ihren Arm in den seinen und schmiegte den Kopf an seine Schulter. Wiederum durchrieselte ihn jener wonnige Schauer, den er sich nicht zu erklären vermochte.

»So – jetzt bin ich geborgen,« sagte sie flüsternd. »Komm hernach in den Wald, Paul, ich habe dir so viel zu erzählen – dort sind wir ungestört.«

Und wie sie das sagte, wurde ihm ganz angst vor lauter Freude.

Nun waren sie am Tanzplatz angelangt. Die Trompeten lärmten, und die Tänzer wirbelten in die Runde.

»Wollen wir auch tanzen?« fragte sie lächelnd.

»Ich kann ja nicht,« erwiderte er.

»Schadet nichts,« sagte sie, »in solchen Fällen ist ja Leo da.«

Die törichten Träume fielen ihm ein, die er heute unter dem Wacholderbusch geträumt hatte. – »So geht's mit allem, was ich mir ausmale,« dachte er.

»Ich hab' noch ein Buch von dir, Elsbeth,« sagte er dann.

»Ich weiß, ich weiß,« erwiderte sie, indem sie lächelnd zu ihm aufschaute.

»Verzeih, daß ich –«

»Was bist du für ein Kleinkrämer!« scherzte sie. »Leo hat mir inzwischen meine ganze Bibliothek zunichte gemacht und verlangt nun, ich soll sie ihm ersetzen – er habe nichts mehr zu lesen.«

Leo – und immer wieder Leo! –

»Hast du viel Schönes herausgelesen?« fragte sie dann.

»Ich konnte einmal alles auswendig.«

[95] »Und jetzt?«

»Jetzt, ach, du lieber Gott! – ich habe an so viel Alltägliches zu denken – es paßt nicht mehr in meinen Kopf.«

»In meinen auch nicht, Paul! – Das macht, wir haben zu viel vom Leben erfahren – die Poesie ist uns verloren gegangen.«

»Dir auch?«

Sie seufzte. »Die arme Mutter!« sagte sie dann.

»Was ist's?«

»Sieh, seit fünf Jahren bin ich nun Krankenpflegerin,« sagte sie, »da gibt es manche trübe Stunde, und wenn die Nachtlampe brennt und die Augen einem schmerzen vom vielen Wachen und draußen der Sturm an den Läden rüttelt – da kommen einem mancherlei Gedanken über Leben und Sterben, über Liebe und Verlassenheit – na, kurz und gut – da macht man sich im Kopf sein eigen Liederbuch zurecht und liest nicht mehr in fremden. – Aber komm heraus aus dem Lärm – ich möcht' dich so viel fragen – und man versteht hier ja kaum sein eigen Wort.«

»Sogleich,« sagte er, »ich will nur erst – –«

Seine Augen glitten spähend über den Platz, da hörte er hinter sich eine lachende Männerstimme sagen: »Du – sieh mal dort die beiden mannstollen kleinen Kröten.«

Unwillkürlich wandte er sich um und bemerkte die Gebrüder Erdmann, die er seit Jahren nicht zu Gesicht bekommen hatte. Sie waren inzwischen auf der Ackerbauschule gewesen und große Herren geworden.

»Mit denen wollen wir ulken,« sagte der andre. Darauf schlüpften sie lachend in den Kreis der Tanzenden.

Gleich darauf bemerkte Paul auch seine Schwestern. Der braune Lockenwald hing ihnen wirr ins Gesicht, ihre Wangen flammten, ihr Busen wogte, und ihre Augen blickten verliebt und verwildert.

»Wie glücklich sie aussehen – die holden Geschöpfe,« sagte Elsbeth.

[96] Paul hielt ihnen eine kleine Strafpredigt – sie achteten seiner kaum, sondern guckten mit einem girrenden Kichern an seinen Schultern vorüber. Und als er sich umwandte, gewahrte er die beiden Erdmänner, die sich hinter dem Podium der Musikanten verborgen hatten und von dort aus verstohlene Zeichen machten.

Die Zwillinge waren ihm unterdessen entschlüpft, und auch die Erdmänner verschwanden.

»Komm hier fort,« sagte Elsbeth.

Er bejahte, blieb war wie angewurzelt stehen.

»Was hast du?« fragte sie.

Er wischte sich mit der Hand über die Stirn – das böse Wort, das er gehört, wollte ihm nicht aus dem Kopfe gehen.

Die Schwestern waren jung – übermütig – unerfahren – niemand bewachte sie – wie, wenn sie sich etwas vergäben? – wenn sie – –? eiskalt rieselte es ihm über den Leib.

Und er – der sich geschworen hatte, ihnen ein treuer Wächter zu sein, er ging hier seinen Freuden nach, er –

»Komm zum Walde,« bat Elsbeth noch einmal.

»Ich kann nicht,« stieß er hervor ...

Verwundert sah sie ihn an ...

»Ich muß – – die Schwestern – niemand ist bei ihnen – sei nicht böse.«

»Führ mich zum Tisch zurück,« sagte sie.

Er tat es. Beide sprachen kein Wort mehr.

Fünf Minuten später überraschte er die Schwestern, wie sie Arm in Arm mit den Erdmännern nach dem Walde entschlüpfen wollten.

»Wohin?« fragte er, zwischen sie tretend.

Sie schlugen verlegen die Augen nieder, und Käthe stammelte: »Wir – wollten ein bißchen spazieren gehen ...«

Die Gebrüder Erdmann stimmten einen Biedermannston an, schüttelten ihm herzhaft die Hand und wünschten dringend die Freundschaft der Jugendjahre zu erneuern. – Hinterher zeigten sie ihm die Fäuste.

[97] »Ihr geht jetzt zur Mutter,« sagte er zu den Zwillingen, und als sie zu schmälen begannen, zog er sie an den Armen mit sich fort ...

Der Tisch war zur Hälfte leer ... Die Familie Douglas hatte das Fest verlassen.

Da ging er in den Wald und dachte darüber nach, was er Elsbeth wohl alles hätte sagen können. – Aber es sollte ja nicht sein – – es kam immer was dazwischen.

[98] 11

Es war Johannisnacht. Der Holunder duftete. – In silbernen Schleiern hing der Mondenglanz über der Erde.

Im Dorfe gab's großen Jubel. – Teertonnen wurden angezündet, und auf dem Anger tanzten Knechte und Mägde. Weithin lohten die Flammen über die Heide, und die quäkenden Töne der Fiedel zogen melancholisch durch die Nacht.

Paul stand am Gartenzaun und schaute in die Weite. Die Knechte waren zum Johannisfeuer gegangen, und auch die Schwestern waren noch nicht daheim. Sie hatten sich Erlaubnis ausgebeten, Pfarrers Hedwig, ihre Gespielin, zu besuchen, ein schlichtes, stilles Mädchen, dessen Gesellschaft er sie gern anvertraute.

Nun wollte er warten, bis alle heimgekehrt waren.

Der Mondschein zog ihn auf die Heide hinaus. – In mitternächtlichem Schweigen lag sie da; nur in den Erikabüschen zirpte bisweilen eine Grasmücke wie aus dem Schlafe heraus. – Die Lichtnelken neigten ihre rötlichen Häupter – und die Königskerze leuchtete, als wollte sie dem Mondenglanz den Rang ablaufen.

Langsam, mit schlürfenden Schritten schritt er weiter, bisweilen über einen Maulwurfshügel stolpernd oder sich im Blättergewinde verwickelnd. In leuchtenden Fünkchen sprühte der Tau vor ihm her. – So kam er in die Region der Wacholderbüsche, die noch gnomenhafter dreinschauten als sonst.

Gleich einer schwarzen Mauer ragte der Wald vor ihm empor, und der Mondenglanz ruhte darauf wie frischgefallener Schnee. Er fand den Platz, an dem vor Jahren die Hängematte gehangen – in gespenstischem Dämmerschein schimmerte die Lichtung durch das schwarze Gezweig. – Weiter und weiter zog's ihn. – Wie ein Palast aus flimmerndem Marmor stieg das »weiße Haus« mit seinem Erker und seinen Giebeln vor seinem Blick empor. – Tiefes Schweigen lag auf dem Gutshof, nur hin und wieder schlug ein Hund an, um sofort zu verstummen.

[99] Er stand vor dem Gittertor, ohne zu wissen, wie er hingekommen war. – Er faßte die Stäbe mit beiden Händen und guckte ins Innere. In Mondenglanz gebadet, lag der weite Hofplatz vor ihm da – in schwarzen Konturen hoben sich die Wirtschaftswagen ab, die in Reih und Glied vor den Ställen standen – eine weiße Katze schlich am Gartenzaun vorbei – sonst lag alles im Schlafe.

Längs dem Zaune ging er weiter. In dem Aschenhaufen hinter der Schmiede lag ein Häuflein glimmender Kohlen, die wie brennende Augen aus dem Dunkel guckten. Jetzt begann der Garten. Hochstämmige Linden neigten ihre Zweige über ihn, und ein Duft von Goldregen und frühen Rosen wogte durch die Gitterstäbe betäubend über ihn her. Durch das Gezweig hindurch erglänzten wie silberne Bänder die kiesbestreuten Pfade, und die Sonnenuhr, die der Traum seiner Kindheit gewesen, ragte düster dahinter empor.

Das »weiße Haus« kam näher und näher. Jetzt konnte er fast in die Fenster gucken. Auch hier schien alles zu schlafen.

Er hatte hie und da – auch in dem »Liederbuch« davon gelesen, daß der Geliebte in Mondscheinnächten seiner Herzensdame eine Serenade zu bringen pflegt – mit Gitarren- und Mandolinenbegleitung, wenn's angeht. So war's in den schönen Ritterzeiten gewesen und in Spanien oder in Italien vielleicht noch heute. Das fiel ihm ein, und er malte sich aus, wie es sich wohl machen würde, wenn er, Paul, der Dumme, hier als irrender Ritter die Leute zu schlagen begänne, sehnsuchtsvolle Liebeslieder dazu krähend.

Er mußte laut auflachen bei dem Gedanken, und dann kam ihm zu Sinn, daß er ja sein Musikinstrument zu allen Zeiten bei sich trüge. Er setzte sich auf den Grabenrand, lehnte den Rücken gegen einen Zaunpfahl und fing zu pfeifen an – erst scheu und leise, dann immer kühner und lauter, und wie immer, wenn er seinen Empfindungen ganz überlassen war, vergaß er zu guter Letzt alles um sich her.

[100] Wie aus tiefen Träumen wachte er auf, als er jenseits des Zaunes die Zweige rauschen und knacken hörte. – Erschrocken wandte er sich um.

Drüben stand Elsbeth in weißem Nachtanzuge – einen dunklen Regenmantel flüchtig darüber geworfen.

Im ersten Augenblicke war ihm zumute, als müsse er auf und davon laufen, aber die Glieder waren ihm wie gelähmt.

»Elsbeth – was machst du hier?« stammelte er.

»Ja, was machst du hier?« fragte sie lächelnd zurück.

»Ich – ich – pfiff ein bißchen.«

»Und dazu bist du hierher gekommen?«

»Warum soll ich nicht?«

»Da hast du Recht – ich werd's dir nicht verbieten.«

Sie hatte die Stirn gegen die Gitterstäbe gepreßt und schaute ihn an. Beide schwiegen.

»Willst du nicht näher treten?« fragte sie dann – wahrscheinlich im unklaren über das, was sie sagte.

»Soll ich über den Zaun klettern?« fragte er ganz unschuldig zurück.

Sie lächelte. »Nein,« sagte sie dann kopfschüttelnd, »man könnte uns vom Fenster aus sehen, und das wäre nicht gut. – Aber sprechen muß ich dich – warte – ich komm' zu dir hinaus und begleite dich ein Stück.«

Sie schob eine lockere Stakete zur Seite und schlüpfte ins Freie, dann reichte sie ihm die Hand und sagte: »Es ist recht von dir, daß du gekommen bist, es hat mich oft verlangt, mit dir zu reden, aber dann warst du niemals da.« Und sie seufzte tief auf, als übermannte sie die Erinnerung an schwere Stunden.

Er zitterte am ganzen Leibe. Der Anblick der jungfräulichen Gestalt, die in ihrem Nachtgewande so keusch und unbefangen vor ihm stand, raubte ihm fast den Atem. In seinen Schläfen hämmerte es – seine Blicke suchten den Boden.

»Warum sprichst du nichts zu mir?« fragte sie.

Ein irres Lächeln flog über sein Gesicht.

»Sei nicht böse,« preßte er hervor.

[101] »Warum sollt' ich böse sein?« fragte sie, »ich freue mich ja, daß ich dich einmal ganz für mich hab'. Aber seltsam ist's – ganz wie in einem Märchen. Ich steh' am Fenster und guck' in den Mond – Mama ist eben eingeschlafen, und ich denk' bei mir, ob ich's wohl wagen soll, auch zu Bette zu gehen – aber mein Kopf ist mir so unruhig und meine Stirn brennt – so friedlos ist mir zumute. Da mit einem Male hör' ich vom Garten her jemanden pfeifen, so schön, so klagend, wie ich's nur ein einzig Mal in meinem Leben vernommen hab', und das ist lange her. ›Das kann nur Paul sein‹, sag' ich mir, und je länger ich höre, desto klarer wird's mir. ›Aber wie kommt der hierher?‹ frag' ich mich, und da ich mir durchaus Gewißheit verschaffen will, nehm' ich meinen Mantel um und schleich' mich hinunter – so – da bin ich nun – und jetzt komm – wir wollen zum Walde gehen – dort kann uns keiner sehen.«

Sie legte ihren Arm in den seinen. Schweigend schritten sie über die mondhellen Wiesen.

Und dann plötzlich schlug sie beide Hände vors Gesicht und fing bitterlich zu weinen an.

»Elsbeth, was ist dir?« rief er erschrocken.

Sie wankte, ihre weiche Gestalt erbebte in lautlosem Schluchzen.

»Elsbeth, kann ich dir nicht helfen?« bat er.

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Laß nur,« preßte sie hervor, »es ist gleich vorüber.«

Sie versuchte weiterzuschreiten, aber die Kräfte versagten ihr. Aufseufzend ließ sie sich an einem Grabenrain ins feuchte Gras niedersinken.

Er blieb vor ihr stehen und schaute auf sie nieder. »Ausweinen lassen,« das war die Regel, die er schon oft im Leben erprobt hatte. – All sein Bangen war von ihm gewichen. Hier gab es etwas zu trösten, und im Trösten war er Meister.

Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, setzte er sich neben sie und sagte leise: »Willst du nicht dein Herz ausschütten, Elsbeth?«

[102] »Ja, das will ich,« rief sie, »hab' ich doch drauf gewartet volle drei Jahre lang. So lang' hab' ich's mit mir herumgetragen, Paul, und bin fast erstickt unter der Last und hab' keinen Christenmenschen gefunden, dem ich's hätt' anvertrauen können. Unten in Italien, auf dem schönen Capri, wo alles lacht und jubelt, da bin ich oftmals mitten in der Nacht ans Meer 'runtergeschlichen und hab' aufgeschrien in meiner Qual, und bin morgens wieder zurückgekehrt und hab' gelacht, mehr noch wie die andern, denn die Mutter – o Mutter – Mutter!« rief sie, aufs neue laut aufschluchzend.

»Sei ruhig, du hast ja jetzt mich, dem du's sagen kannst,« flüsterte er ihr zu.

»Ja, dich hab' ich – dich hab' ich,« preßte sie hervor und lehnte das Antlitz gegen seine Schulter. »Sieh, das hab' ich immer gewußt; aber was half's mir? – Du warst ja weit weg – und oftmals war ich auch nahe daran, dir zu schreiben, aber ich fürchtete, du seiest mir fremd geworden und würdest es übel auslegen ... Und seitdem wir wieder zurück sind, hab' ich nur einen Gedanken: ›Ihm mußt du dich anvertrauen, er ist der einzige, der den Kummer kennt – er wird dich verstehn.‹«

»Sag, was ist's, Elsbeth?« bat er.

»Sie muß sterben!« stieß sie laut aufschreiend hervor.

»Deine Mutter?«

»Ja!«

»Wer hat dir das gesagt?«

»Der Professor in Wien, von dem sie sich untersuchen ließ. Ihr hat er ein vergnügtes Gesicht gemacht und gesagt: ›Wenn Sie sich schonen, können Sie hundert Jahre alt werden‹, aber hinterher hat er mich holen lassen und hat mich gefragt: ›Sind Sie stark, mein Fräulein, können Sie die Wahrheit vertragen?‹ – ›Ich bitte Sie darum‹, hab' ich geantwortet. ›Ihnen muß ich's anvertrauen‹, sagte er da, ›denn Sie sind die einzige, die hier über sie wacht.‹ Und darauf hat er mir mitgeteilt, daß sie jeden Tag wegsterben könne –, wenn nicht – und dann hat er mir eine Menge Maßregeln an die Hand gegeben, die sie alle beobachten[103] muß, mit Essen und Trinken und Klima und Gemütsaufregung und mehr noch. Sieh, seit diesem Tage zitterte ich um sie von früh bis spät und sorge und wache und finde keine Ruh. Manchmal kommt's dann über mich, daß ich mir sage: ›Du bist jung und willst leben‹, und dann versuch' ich zu jubeln und zu singen, aber der Ton erstickt mir in der Kehle, und ich sinke wieder zusammen. Freilich, der Mutter muß ich ein fröhlich Gesicht zeigen und dem Vater auch.«

»Aber warum hast du dich ihm nicht anvertraut?« fiel er ihr ins Wort.

»Soll auch sein Leben vergiftet werden?« erwiderte sie. »Nein, lieber trag' ich's für mich allein, als daß ich auch ihn leiden sehen sollte. Er ist fröhlichen Gemütes und hängt an ihr mit seiner ganzen Seele – sonst ist er wohl manchmal heftig und aufbrausend, nur ihr hat er noch kein böses Wort gesagt – laß ihn hoffen, solange er's vermag – ich verrat's ihm nicht.«

Sie stützte den Kopf in beide Hände und starrte vor sich hin.

Ihm fiel das Märchen seiner Mutter ein. »Frau Sorge, Frau Sorge,« murmelte er vor sich hin.

»Was sagst du da?« fragte sie und sah ihn mit großen, trostverlangenden Augen an.

»Ach nichts,« erwiderte er mit einem traurigen Lächeln, »ich wollte, ich könnte dir helfen.«

»Wer könnte das wohl?«

»Und doch kann ich's vielleicht,« sagte er, »es hat dir nur einer gefehlt, mit dem du dich aussprichst. Du bist gar nicht so übel dran, wie du denkst – zwar dich hat die Frau Sorge auch gesegnet ...«

»Was heißt das?« fragte sie.

Und darauf erzählte er ihr den Anfang jenes Märchens, so gut er's im Gedächtnis behalten hatte.

»Und wie erlöst man sich von diesem Segen?« fragte sie dann.

»Ich weiß es nicht,« erwiderte er, »die Mutter hat mir das Ende des Märchens niemals erzählen wollen. Ich [104] glaube auch nicht, daß es eine Erlösung gibt. Solche Menschen wie wir, die müssen gutwillig auf das Glück verzichten, und wenn es ihnen noch so nahe ist, sie sehen es nicht – es kommt ihnen immer was Trübes dazwischen. Das einzige, was sie können, ist, über das Glück der andern zu wachen und zu sorgen, daß es ihnen so gut wie möglich gehe.«

»Ich möchte aber auch ein bißchen glücklich sein,« sagte sie, die Augen treuherzig zu ihm aufschlagend.

»Ich wünschte, ich wäre so glücklich wie du,« erwiderte er.

»Hätt' ich nur nicht immer Angst,« klagte sie.

»Die Angst – mit der mußt du dich schon befreunden – die hab' ich mein Lebtag gehabt, und wenn ich nicht wußte, warum, so hab' ich mir rasch 'nen Grund zurechtgemacht. Es ist auch gar nicht so schlimm damit – wenn man die Angst nicht hätt', man würd' ja nicht wissen, warum man lebt. – Aber denk' nur einmal nach, wie zufrieden du sein kannst: Du siehst lauter fröhliche Gesichter um dich, die Mutter fühlt sich glücklich, trotz allem Leiden – das tut sie doch?«

»Ja, Gott sei Dank,« sagte sie, »sie ahnt gar nicht, wie schlimm es mit ihr steht.«

»Na, siehst du! – Und der Vater ahnt es ebensowenig; keine Sorge drückt sie, sie lieben sich und lieben dich auch, kein böses Wort fällt zwischen euch – und wenn die Mutter einmal die Augen zumacht, so wird sie's vielleicht im Lächeln tun und wird sagen können: ich bin doch immer recht glücklich gewesen! – Sag mal – kannst du mehr verlangen?«

»Aber sie soll nicht sterben!« rief Elsbeth.

»Warum nicht?« fragte er, »ist der Tod denn so schlimm?«

»Für sie nicht – aber für mich.«

»Auf einen selber kann es da nie ankommen,« erwiderte er, die Lippen hart zusammenpressend, »man muß eben sehen wie man mit sich fertig wird. – – Der Tod ist nur dann schlimm, wenn man sein Lebtag auf das Glück [105] gewartet hat, und es ist nicht gekommen. Da muß einem zumute sein, wie wenn man hungrig von einem reichbesetzten Tische aufsteht, und das möcht' ich jedem Menschen ersparen, den ich liebhabe. – Sieh mal, ich hab' auch eine Mutter – die hat auch mal glücklich sein wollen und möcht' es jetzt noch gar zu gerne – ich bin der einzige, der ihr die Sorge vom Halse schaffen könnte, und ich bin nicht imstande dazu. Was meinst du, wie mir da zumute sein muß? Ich seh', wie sie alt wird in Gram und Not ... ich kann die Runzeln zählen auf ihrer Stirn und ihren Backen ... ihr Mund fällt ein, und ihr Kinn wird lang ... sie spricht schon lange kein lautes Wort mehr, stiller wird sie von Tag zu Tag ... und so still wird sie eines Tages wegsterben ... und ich werd' dastehen und werd' sagen: du bist schuld daran, du hast ihr nicht einen einzigen Tag des Glückes bereiten können.«

»Armer Mensch du,« flüsterte sie, »kann ich dir gar nicht helfen?«

»Niemand kann mir helfen – solange der Vater –« er hielt inne, erschrocken über den Lauf seiner eigenen Gedanken.

Beide schwiegen. – Lange saßen sie regungslos da, die zwanzigjährigen Häupter sorgenvoll in die Hände gestützt. Der Mondenglanz lag silbern auf ihren Haaren, die der weiche Heidewind leis tändelnd bewegte.

Dann fuhr ein Wolkenschatten über sie hin.

Sie erbebten beide.

Ihnen war zumute, als breitete jene traurige Fee, die sie »Frau Sorge« nannten, den düsteren Fittich über sie.

»Ich will nach Hause,« sagte Elsbeth sich erhebend.

»Geh mit Gott,« antwortete er feierlich.

Sie ergriff seine beiden Hände. »Hab Dank,« sagte sie leise, »du hast mir sehr, sehr wohlgetan.«

»Und wenn du mich wieder brauchst –«

»So komm' ich zu dir zu pfeifen,« erwiderte sie lächelnd.

Und dann schieden sie.

Wie im Traume schritt Paul durch den finsteren Wald.

[106] Die Fichten rauschten leise ... auf dem grauen Moose tanzten die Mondenstrahlen.

»Es ist doch seltsam,« dachte er, »daß sie mir alle ihr Leid klagen,« und er folgerte daraus, daß er von allen der Glücklichste wäre.

»Oder der Unglücklichste,« fügte er nachdenklich hinzu, doch dann lachte er geheimnisvoll und warf die Mütze in die Luft.

Als er auf die helle Heide hinaustrat, bemerkte er, wie zwei Schatten vor ihm herhuschten und in der nebligen Ferne verschwanden. Gleich darauf hörte er es hinter sich in den Wacholderbüschen knacken.

Rasch wandte er sich um und sah ein zweites Schattenpaar, das hinter einem Busche in die Erde sank.

»Die ganze Heide scheint lebendig heute,« murmelte er, und lächelnd fügte er hinzu: »Freilich, es ist ja Johannisnacht!«

Bald nach ihm kamen mit wirren Haaren und erhitzten Gesichtern die Zwillinge nach Hause. Sie erklärten, der Pfarrer habe ihnen bis Mitternacht Karten gelegt. Sie würden demnächst einen Mann bekommen.

Kichernd schlüpften sie in ihre Schlafzimmer.

[107] 12

Der alte Meyhöfer schwamm in lauter Glück. Die Zusage des reichen Douglas, sich an seinem Unternehmen zu beteiligen, hatte seine Aussichten plötzlich zu schwindelnder Höhe steigen lassen. Die Ohren, die sich ihm bis dahin verschlossen hatten, begannen begierig seinen Auseinandersetzungen zu lauschen, und in den Gasthäusern, in denen er bis dahin mit halb spöttischem, halb mitleidigem Lächeln empfangen worden war, galt er nun als großer Mann.

»Mit seinem halben Vermögen will er hineinspringen,« so erzählte er; »wir sind bereits mit Borsig in Berlin in Verbindung getreten, der uns die nötigen Maschinen liefern will; aus Oldenburg haben wir uns einen technischen Direktor verschrieben, und tagtäglich kommen Anfragen an uns, zu welchem Preise wir die Million Torfziegel abgeben wollen.«

Die Folge davon war, daß man ihn drängte, mit der Emission der Aktien zu beginnen. Und wenn man sich um ihn scharte und ihn bat, soundsoviel Stück für jeden zu reservieren, warf er sich hochmütig in die Brust und meinte, sie würden wahrscheinlich in festen Händen bleiben.

Zu Hause beschäftigte er sich damit, die Embleme für die Briefbogen der künftigen Firma zu entwerfen, und in allen seinen Taschen klimperte das geborgte Geld.

Vier Wochen waren seit jener Johannisnacht verflossen, da wurden aus Helenental zwei Einladungskarten abgegeben, eine für Herrn Meyhöfer junior und die andre für die jungen Damen.

»Zum Gartenfest,« hieß es darin.

»Aha, man buhlt schon um unsere Gunst,« rief der Alte, »die Ratten riechen den Speck.«

Paul ging mit seiner Karte, die Elsbeths Handschrift trug, hinter den Heuschober und studierte die Buchstaben in aller Einsamkeit wohl eine Stunde lange.

Dann stieg er in seine Giebelstube empor und stellte sich vor den Spiegel.

Er fand, daß sein Bart an Umfang zugenommen hatte [108] und nur an den Backen noch spärliche Stellen aufwies.

»Es wird sich machen,« sagte er in einem Anfall von Eitelkeit, doch als er sich nun lächeln sah, wunderte er sich über die tiefen, traurigen Falten, die sich von den Augen an der Nase vorbei bis zu den Mundwinkeln herabzogen.

»Falten machen interessant,« tröstete er sich.

Von dieser Stunde an war er ausschließlich mit dem Gedanken beschäftigt, welche Rolle er auf dem Feste wohl spielen würde. – Er übte sich vor dem Spiegel einen schulgerechten Bückling ein, besah allmorgendlich seine Sonntagskleider und suchte die Schäbigkeit des Rockes durch ein Überbürsten mit schwarzer Farbe zu vermindern.

Die Einladung hatte eine ganze Revolution in seinem Geiste hervorgerufen. Sie war ihm ein Gruß aus dem gelobten Lande der Lust, das er wie Moses sonst nur von ferne gesehen. Und nicht umsonst war er zwanzig Jahre alt.

Der Tag des Festes kam heran.

Die Schwestern hatten ihre weißen Mullkleider angezogen und dunkle Rosen ins Haar gesteckt. Sie tänzelten vor dem Spiegel auf und nieder und fragten einander: »Bin ich schön?« – Und obwohl sie die Frage gern bejahten, so ahnten sie doch kaum, wie schön sie waren. – Die Mutter saß in einem Winkel, sah ihnen zu und lächelte.

Paul rannte beklommen hin und her – innerlich verwundert, daß ein so frohes Ereignis einem so große Angst bereiten könne. – Er hatte sich in letzter Stunde allerhand schöne Reden einstudiert, die er auf dem Feste zu halten beabsichtigte. Über Menschenwohl, über Torfkultur und über Heines »Buch der Lieder«. Man sollte schon sehn, daß er imstande war, sich mit Damen liebenswürdig zu unterhalten.

Die offene Chaise, ein Überbleibsel aus der verflossenen Herrlichkeit, führte die Geschwister zum Feste. Den Rückweg wollten sie zu Fuße machen. – –

Bei der Auffahrt bemerkte Paul über den Gartenzaun hinweg hellfarbige Kleider durch die Gebüsche flirren und [109] hörte ein Kichern von lustigen Mädchenstimmen. Seine unbehagliche Stimmung wuchs dadurch um ein bedeutendes.

In der Veranda empfing sie Herr Douglas mit einem fröhlichen Lachen. Er kniff den Schwestern in die Wangen, klopfte ihn selber auf die Schulter und sagte: »Nun, junger Rittersmann, heut werden wir uns die Sporen verdienen.«

Paul drehte seine Mütze in der Hand und brach in ein einfältiges Lachen aus, über das er sich selber ärgerte.

»Nun allons zu den Damen!« rief Herr Douglas, nahm die Schwestern unter die Arme, und er selber mußte hinterdrein trotten.

Das Kichern kam näher und näher – auch lustige Männerstimmen schallten darein –, ihm war zumute, als sollte er geköpft werden. Und dann legte es sich wie ein Flor vor seine Augen – undeutlich gewahrte er eine Fülle fremder Gesichter, die aus Wolken heraus ihn anstarrten. – Seine Rede über die Torfkultur fiel ihm ein, aber damit war in diesem Augenblicke nichts zu machen.

Dann sah er Elsbeths Antlitz in dem Nebel auftauchen. Sie trug Brosche mit blauen Edelsteinen und lächelte ihn freundlich an. Trotz des Lächeln war sie ihm nie so fremd erschienen wie in diesem Augenblicke.

»Herr Paul Meyhöfer, mein Jugendfreund,« sagte sie, ihn bei der Hand nehmend, und führte ihn herum. Er verbeugte sich nach allen Seiten und hatte ein unbestimmtes Gefühl, als ob er sich lächerlich mache.

»He – da ist auch mein Musterknabe,« rief des Vetters lustige Stimme, und alle Damen kicherten.

Darauf hieß man ihn sich niedersetzen und bot ihm eine Tasse Kaffee.

»Mama hat sich ein wenig niedergelegt,« flüsterte Elsbeth ihm zu, »Sie ist nicht wohl heute.«

»So,« sagte er und lächelt albern dazu.

Vetter Leo hatte einen Kreis von jungen Damen um sich versammelt und erzählte ihnen die Geschichte von einem jungen Referendar, der so gern Süßes gegessen habe, [110] daß er beim Anblick einer Tüte Pralinés, die er nicht haben durfte, zum Zuckerhut erstarrt sei. Darüber wollten sie sich vor Lachen ausschütten.

»O könntest du doch auch solche Geschichten erzählen!« dachte Paul, und da ihm nichts Besseres einfiel, aß er ein Stück Kuchen nach dem andern.

Die Schwestern waren sofort von ein paar fremden jungen Herren in Beschlag genommen worden, denen sie dreist in die Augen lachten, während die schlagfertigsten Antworten ihnen aus dem Munde sprudelten.

Die Schwestern erschienen ihm plötzlich wie Wesen aus höheren Welten.

»Wir wollen jetzt ein schönes Spiel spielen, meine Damen,« sagte Vetter Leo, indem er die Knie übereinanderschlug und sich nachlässig in den Sessel zurücklehnte. »Das Spiel heißt ›Körbe kriegen!‹. Die Damen gehen einzeln spazieren und die Herren auch. Der Herr fragt die ihm begegnende Dame: ›Est-ce que vous m'aimez?‹ und die Dame antwortet entweder:›Je vous adore‹, dann wird sie seine Frau, oder sie gibt ihm stillschweigend einen Korb. – Wer die meisten Körbe bekommt, erhält eine Zipfelmütze, die er den Abend über tragen muß.«

Die Damen fanden das Spiel sehr lustig, und alle erhoben sich, um es sofort ins Werk zu setzen. Auch Paul stand auf, obwohl er am liebsten in seinem dunkeln Winkel sitzen geblieben wäre.

»Wie mag das fremde Wort wohl heißen?« fragte er sich; er hätte sich gern bei einem der Herrn erkundigt, aber er schämte sich, seine Unwissenheit zu verraten und so seinen Schwestern Schande zu machen. Elsbeth war mit den andern Mädchen auf und davon gegangen, ihr hätte er sich am liebsten anvertraut.

So schlich er trübselig den anderen nach, doch als er die erste der Damen sich entgegenkommen sah, war die Angst in ihm so groß, daß er rasch vom Pfade abbog und sich im dicksten Gebüsche verbarg.

Dort war ein Stücklein Wildnis, wie im tiefen Walde. [111] Nesseln und Farnkraut erhoben ihre schlanken Stauden, und die unheimliche Wolfsmilch stritt mit breitblättrigen Kletten um die Oberherrschaft. In diesem Blättergewirr kauerte er nieder, stützte die Ellbogen auf die Knie und dachte nach.

Also das nannten die Menschen sich amüsieren? Es war gut, daß er's einmal kennengelernt, aber gefallen wollt's ihm nicht. Zu Hause war's jedenfalls hübscher – und zudem, wer konnte wissen, ob die Mägde zur rechten Zeit mit dem Jäten fertig geworden? ... Ob der Torf nicht allzu feucht in Haufen gebracht worden war? ... Es gab so viel daheim zu tun, und er trieb sich herum und ließ sich auf törichte Spiele ein wie ein Hansnarr ... Wenn nicht Elsbeth gewesen wäre ... aber freilich, was hatte er von ihr? ... Wie sie ihn anlächelte, so lächelte sie jeden an, und wenn gar Vetter Leo seine Scherze begann ... wie keck er tat, wie er ihnen allen schmeichelte! Oh, die Welt ist schlecht, und falsch sind sie alle, alle!

Er hörte von den Pfaden her seinen Namen rufen, aber er schmiegte sich nur um so enger in sein Versteck hinein. Hier war er wenigstens vor jedem Hohn geborgen. – Eine beklemmende Schwüle lastete in der Luft – schläfrig summende Hummeln schlichen am Erdboden dahin – ein Gewitter schien am Himmel zu stehen.

»Mir kann's recht sein,« dachte Paul, »ich hab' nichts zu verlieren, und – der Winterroggen ist drinnen.«

Draußen war es stille geworden – aus der Ferne tönte das Klirren von Glastellern und Teelöffeln, und von Zeit zu Zeit mischte sich ein gedämpftes Lachen darein.

Paul hielt den Atem an. Je länger er in seinem Schlupfwinkel verharrte, desto beklommener wurde ihm zumute – schließlich kam er sich vor wie ein Schulbube, der sich vor der Züchtigung seines Lehrers verkriecht. Der Geruch der wuchernden Pflanzen wurde schärfer und quälender, ein übelduftender Dunst stieg von der feuchten Erde empor wie ein fahler Nebel legte es sich vor seine Augen. – Stahlblaue Wolken wälzten sich am Himmel in die Höhe, fernab begann der Donner zu grollen.

[112] »Das nennt sich nun Vergnügen,« dachte Paul.

In den Zweigen erhob sich ein Rauschen. Schwere Tropfen klatschten auf die Blätter nieder, da kroch Paul, scheu wie ein Verbrecher, aus seinem Versteck hervor.

Jubelndes Gelächter empfing ihn von der Veranda her.

»Dort kommt Aujust,« rief einer der Herren leise. Der war in Berlin gewesen und hatte den Zirkus gesehen; und die andern stimmten ein.

»Meine geehrten Herrschaften,« schrie Leo, auf einen Stuhl kletternd, »dieser Musterknabe, genannt Paul Meyhöfer, hat sich in unverantwortlicher Weise dem Richterspruche der Gesellschaft entzogen. Da er in seines Nichts durchbohrendem Gefühle voraussah, daß er die meisten der Körbe auf seinem unwürdigen Haupte vereinigen würde, so hat er sich in höchst verwerflicher Feigheit –«

»Ich weiß nicht, warum Sie mich so schlecht machen,« sagte Paul gekränkt, der das alles für Ernst hielt.

Ein neues, ungeheures Gelächter antwortete ihm.

»Ich stelle also den Antrag, ihm zur Strafe für sein Verbrechen die Zipfelmütze zuzuerkennen und zu diesem Behufe einen Gerichtshof bilden zu wollen.«

»Bitte – ich nehme die Mütze auch so,« antwortete Paul gereizt. – Er brauchte jetzt nur den Mund zu öffnen, um neue Heiterkeit zu entfesseln.

Feierlich ward er mit der Schlafmütze gekrönt ... »Ich muß doch recht drollig aussehen,« dachte er, denn alle wälzten sich vor Lachen. Nur die Schwestern lachten nicht, hochrot vor Scham blickten sie ihn ihren Schoß, und Elsbeth schaute ihn verlegen an, als wollte sie ihm Abbitte leisten.

»Aujust,« ertönte es wieder leise aus dem Kreise der Herren.

Gleich darauf brach das Gewitter los. – In hellen Scharen flüchteten sich alle ins Haus. – Die jungen Damen verfärbten sich, die meisten hatten Angst vor dem Donner, und eine fiel sogar in Ohnmacht.

Leo schlug vor, man solle einen Kreis bilden, und jeder solle dann eine Geschichte zum besten geben ... wem nichts einfalle, der müsse ein Pfand geben.

[113] Man war's zufrieden. Das Los bestimmte die Reihenfolge, und einer der Herren machte den Anfang mit einer sehr lustigen Studentengeschichte, die er selbst erlebt haben wollte. Dann kamen ein paar der jungen Mädchen, die lieber Pfänder geben wollten, und dann wurde er selber aufgerufen.

Die Herren räusperten sich spöttisch, und die Mädchen stießen sich mit den Ellbogen an und kicherten. Da übermannte ihn sein Groll, und, die Stirn in Falten ziehend, begann er aufs Geratewohl: »Es war einmal einer, der so lächerlich war, daß man ihn bloß anzusehen brauchte, wenn man sich satt lachen wollte. Er selbst aber wußte nicht, wie das zuging, denn er hatte noch nie in seinem Leben gelacht ...«

Es wurde ganz still in der Runde. Das Lächeln erstarrte auf den Gesichtern, und einer und der andere schauten zur Erde nieder.

»Weiter!« rief Elsbeth, ihm leise zunickend.

Ihn aber überkam die Scham, daß er es wagte, sein Innerstes vor diesen fremden Menschen bloßzulegen.

»Ich weiß nicht weiter,« sagte er und stand auf.

Diesmal lachte niemand, für eine Weile herrschte beklommenes Schweigen, dann kam das Mädchen, das zur Schatzmeisterin gewählt war, zu ihm heran und sagte mit einem artigen Knicks: »So müssen Sie ein Pfand geben.«

»Gerne,« erwiderte er und löste seine Uhr von der Kette.

»Ein ungemütlicher Mensch,« hörte er einen der jungen Herren leise zu seinem Nachbarn sagen. Es war der, welcher zuerst den Tölpelnamen gerufen hatte.

Hierauf kam Leo an die Reihe, der eine sehr übermütige Anekdote zum besten gab, aber die Freude wollte nicht wieder in Fluß kommen.

Dumpf klatschte der Regen gegen die Fenster ... schwarze Wolkenschatten füllten das Zimmer ... Es war, als ob die graue Frau durch die Luft hinglitte und mit ihrem düstern Fittich die jungen, lachenden Gesichter streife, daß sie ernst und alt erschienen ...

[114] Erst als Elsbeth das Klavier öffnete und einen lustigen Tanz anstimmte, wurde der erstarrte Jubel wieder wach.

Paul stand in einem Winkel und sah sich das Treiben an. Man ließ ihn ganz in Ruhe, nur hin und wieder streifte ihn ein scheuer Blick.

Die Zwillinge rasten über den Tanzboden – ihre Locken flatterten, und in ihren Augen erglomm ein wildes Leuchten.

»Laß sie nur rasen,« dachte Paul, »sie müssen zeitig genug in den Jammer zurück.« Aber daß es für sie keinen Jammer gab, daran dachte er nicht.

Als Elsbeth abgelöst wurde, trat sie zu ihm heran und sagte: »Du langweilst dich wohl sehr?«

»Nicht doch,« sagte er. »Es ist ja alles neu für mich.«

»Sei fröhlich,« bat sie, »wir leben ja nur einmal!«

Und in diesem Augenblicke kam Leo auf sie zugestürzt, faßte sie um die Taille und jagte mit ihr davon.

»Sie ist dir doch fremd,« dachte Paul.

Als sie wieder an ihm vorüberstreifte, raunte sie ihm zu: »Geh ins Nebenzimmer, ich will dir was sagen.«

»Was kann sie dir zu sagen haben?« dachte er, aber er tat, wie sie ihm geheißen.

Hinter der Gardine halb verborgen, wartete er, doch sie kam nicht. Von Minute zu Minute schwoll die Bitterkeit in seiner Seele höher empor. Seine schönen Reden über den Torfbau und Heines »Buch der Lieder« fielen ihm ein, und er zuckte höhnisch die Achseln über die eigene Dummheit. Ihm war zumute, als sei er im Laufe dieses Nachmittags um Jahre reifer geworden.

Und dann plötzlich kam ihm die Frage zu Sinn: Was hast du hier zu suchen? Was gehen dich die fröhlichen Menschen an, die lachen und einander gefallen wollen und gedankenlos in den Tag hineinleben? Ein Narr, ein Elender warst du, als du glaubtest, auch du hättest ein Recht, froh zu sein; auch du könntest werden wie sie.

Der Boden brannte ihm unter den Füßen. Ihm war zumute, als versündige er sich, wenn er noch ein einzige Minute an diesem Platz verweilte.

[115] Er schlich sich in den Hausflur, wo seine Mütze hing.

»Sagen Sie meinen Schwestern,« bat er das Dienstmädchen, das wartete, »ich ginge heim, um einen Wagen für sie zu besorgen.«

Wie erlöst atmete er auf, als die Haustür hinter ihm ins Schloß fiel.

Das Unwetter hatte sich gelegt – ein leiser Nachregen sprühte vom Himmel, kühlend sauste der Sturm über die Heide, und am Rande des Horizontes, wo eben das letzte Abendrot verglomm, zuckte aus glühroten Wolken das Leuchten des abziehenden Gewitters.

Als wäre die wilde Jagd hinter ihm her, so jagte er auf den regendurchweichten Wegen zum Walde, der sich mit friedbringendem Rauschen über seinem Haupte schloß. – Das feuchte Moos duftete, und von den Fichtennadeln sickerten leuchtende Tröpfchen hernieder.

Als er die Heide betrat und das väterliche Heimwesen in düsteren Umrissen vor seinen Blicken liegen sah, da breitete er die Arme aus und rief in den Sturm hinein: »Hier ist mein Platz – hier gehör' ich her – und ein Schuft will ich sein, wenn ich mir noch einmal in der Fremde meine Freude suche. Hiermit schwör' ich es, daß ich alle Eitelkeit abtun will und allem törichten Streben entsage. Jetzt weiß ich, was ich bin, und was nicht zu mir paßt, das soll mir verloren sein. Amen!«

So nahm er Abschied von seiner Jugend und von seinem Jugendtraum.

[116] 13

Als er am andern Morgen erwachte, fand er die Mutter neben seinem Bette sitzen.

»Du schon auf?« fragte er verwundert.

»Ich hab' nicht schlafen können,« sagte sie mit ihrer leisen Stimme, die immer klang, als bäte sie um Entschuldigung für das, was sie sagte.

»Warum nicht?« fragte er.

Sie antwortete nicht, aber sie streichelte sein Haar und lächelte ihn traurig an, da wußte er, daß die Zwillinge geschwatzt hatten, daß der Gram um ihn es war, der sie nicht ruhen ließ.

»Es war nicht so schlimm, Mutter,« sagte er tröstend, »sie haben sich ein bißchen über mich lustig gemacht, weiter nichts –«

»Die Elsbeth auch?« fragte sie mit großen ängstlichen Augen.

»Nein, die nicht,« erwiderte er, »aber« – er schwieg und drehte sich nach der Wand.

»Aber?« fragte die Mutter.

»Ich weiß nicht,« erwiderte er, »aber es ist ein ›aber‹ dabei.«

»Du tust ihr vielleicht Unrecht,« sagte die Mutter, »und sieh, dies hat sie dir durch die Mädchen geschickt.« Sie zog einen länglichen Gegenstand aus der Tasche, der sorgsam in Seidenpapier gehüllt war.

Darin lag eine Flöte, aus schwarzem Ebenholz gedreht, mit glänzend silbernen Klappen versehen.

Paul wurde rot vor Scham und Freude, aber die Freude verflog, und als er das Instrument eine Weile angesehen hatte, sagte er leise: »Was fang' ich nun damit an?«

»Du wirst darauf spielen lernen,« sagte die Mutter mit einem Anflug von Stolz.

»Es ist zu spät,« erwiderte er mit traurigem Kopfschütteln, »ich hab' jetzt anderes vor.« – Ihm war, als ob er genötigt würde, etwas Verstorbenes wieder aus dem Grabe hervorzuzerren. – –

[117] »Na, du scheinst dich gestern schön blamiert zu haben,« sagte der Vater, als er mit ihm am Kaffeetisch zusammentraf.

Er lächelte still in sich hinein, und der Vater brummte etwas von Mangel an Ehrgefühl.

Die Zwillinge hatten große, verträumte Augen, und wenn sie einander ansahen, flog ein seliges Leuchten über ihr Gesicht. Die wenigstens waren glücklich. – –

Die Wochen vergingen. – Die Ernte kam unversehrt in die Scheuern – dank Pauls unermüdlicher Fürsorge. Es war ein gesegnetes Jahr, wie es seit langem nicht gewesen. Der Vater aber rechnete bereits, wie er den Ertrag am besten für seine Torfspekulation verwenden könnte.

Er schwadronierte in der alten Weise weiter, und je weniger Herr Douglas nun von sich hören ließ, desto mehr prahlte er in den Kneipen von dem Segen seiner Teilnehmerschaft.

Da er sich einmal aufs Schwindeln eingelassen hatte, so mußte er jede Lüge durch eine neue überbieten. – Mochte Herr Douglas noch so langmütig sein, der Unfug, der mit seinem Namen getrieben wurde, mußte ihm schließlich zu arg werden.

Es war an einem Vormittag in den letzten Tagen des August, als Paul, der mit Michel Raudszus zusammen auf dem Hofe arbeitete, die hohe Gestalt des Nachbarn über die Felder direkt auf den Heidehof zukommen sah.

Er erschrak, – das konnte unmöglich etwas Gutes bedeuten.

Herr Douglas reichte ihm freundlich die Hand, aber unter seinen eisgrauen, buschigen Brauen blitzte es unheilverheißend.

»Ist der Vater zu Hause?« fragte er, und seine Stimme klang gereizt und grollend.

»Er ist im Wohnzimmer,« erwiderte Paul beklommen, »wenn Sie erlauben, begleit' ich Sie zu ihm.«

Der Vater sprang beim Anblick des unerwarteten Gastes ein wenig verlegen von seinem Stuhle auf; aber er faßte sich sogleich, und in seinem bramarbasierenden [118] Tone begann er: »Ah, gut, daß Sie hier sind, Herr –, ich habe dringend mit Ihnen zu reden.«

»Ich mit Ihnen nicht minder!« erwiderte Herr Douglas, sich mit seiner massigen Gestalt dicht vor ihm aufpflanzend. »Wie kommen Sie dazu, lieber Freund, meinen Namen zu mißbrauchen?«

»Ich – Ihren Namen – Herr – was erlauben – Paul, geh hinaus!«

»Mag er nur drin bleiben,« erwiderte Douglas, sich nach Paul umwendend.

»Er soll aber hinaus, Herr!« schrie der Alte, »ich bin doch wohl noch Herr in meinem Hause, Herr?«

Paul verließ das Zimmer.

In dem dunkeln Hausflur fand er die Mutter, die die Hände gefaltet hatte und mit stieren Blicken nach der Tür sah. Bei seinem Anblick brach sie in Tränen aus und rang die Hände. –

»Er wird uns noch den einzigen Freund verscherzen, den wir auf Erden haben,« schluchzte sie, und dann sank sie in seinen Armen zusammen, krampfhaft aufzuckend, wenn die scheltenden Stimmen der Männer lauter an ihr Ohr drangen.

»Komm fort, Mutter,« bat er, »es regt dich zu sehr auf, und helfen können wir doch nicht.«

Willenlos ließ sie sich von ihm in ihr Schlafzimmer ziehen.

»Gib mir ein bißchen Essig,« bat sie, »sonst fall' ich um.«

Er tat, wie sie ihn geheißen, und während er ihr die Schläfe einrieb, sprach er mit überlauter Stimme auf sie ein, damit sie das Schreien der Männer nicht höre.

Plötzlich wurden Türen geworfen – – für eine Weile wurde es still – unheimlich still – dann ertönte das Klirren einer Kette und der wutheisere Ruf des Vaters: »Sultan – pack an!«

»Um Gottes willen, er hetzt den Hund auf ihn!« schrie er und stürzte auf den Hof hinaus.

Er kam gerade noch zur Zeit, um zu sehen, wie Sultan, [119] eine große, bissige Rüde, Douglas an den Nacken sprang, während der Vater mit einer hochgeschwungenen Peitsche hinterdrein rannte.

Michel Raudszus hatte die Hände in die Hosen gepflanzt und sah zu.

»Vater, was tust du?« schrie er, riß ihm die Peitsche aus der Hand und wollte dem Hunde nach, aber ehe er die Gruppe der Ringenden erreichen konnte, lag die Bestie, von der mächtigen Faust des Riesen erstickt, am Boden und streckte die Viere von sich.

Douglas rann das Blut an den Armen und am Rücken herunter. Sein Zorn schien ganz und gar verraucht. Er blieb stehen, wischte sich mit dem Taschentuche die Hände ab und sagte mit gutmütigem Lächeln: »Das arme Vieh hat daran glauben müssen.«

»Sie sind verwundet, Herr Douglas,« rief Paul, die Hände faltend.

»Er hat mein Genick für 'ne Kalbskeule angesehn,« sagte er. »Kommen Sie ein Endchen mit und helfen Sie mir, mich abwaschen, damit meine Weiber sich nicht zu sehr erschrecken.«

»Vergeben Sie ihm,« flehte Paul, »er wußte nicht, was er tat.« –

»Wirst du zurück, du Bengel,« schrie die Stimme des Vaters vom Hofe her, »willst wohl mit dem wortbrüchigen Kerl gemeinsame Sache machen?«

In den Fäusten des Nachbarn zuckte es, aber er bezwang sich, und mit einem gewaltsamen Lächeln sagte er:

»Gehen Sie zurück – der Sohn soll bei dem Vater bleiben.«

»Ich will aber gutmachen ...,« stammelte Paul.

»Der Schwindler, der Halunke!« tönte es aus dem Hintergrunde.

»Gehen Sie zurück,« sagte Douglas mit zusammengebissenen Zähnen, »schaffen Sie Ruh' – sonst geht's ihm an den Leib!«

Dann fing er mit vollen Backen an, einen Marsch zu pfeifen, damit er das Schimpfen nicht höre, und schritt breitbeinig von dannen ...

[120] Der Alte tobte wie ein Wahnsinniger auf dem Hofe herum, warf Steine vor sich her, schwang einen Wagenschwengel in der Luft und stieß mit den Füßen nach rechts und nach links.

Als er Paul begegnete, wollte er ihn bei der Kehle fassen, aber in diesem Augenblicke stürzte mit gellendem Schrei die Mutter aus der Tür und warf sich dazwischen. Sie umklammerte Paul mit beiden Armen, sie wollte auch etwas sagen, aber die Angst vor ihrem Manne lähmte ihre Zunge. Nur ansehen konnte sie ihn.

»Weibsgesindel,« rief dieser, verächtlich die Achsel zuckend, und wandte sich ab, aber da er seine Wut an irgend jemandem auslassen mußte, so schritt er auf Michel Raudszus zu, der sich eben gemütlich zur Arbeit wandte.

»Du Hund, was gaffst du hier?« schrie er ihn an.

»Ich arbeit', Herr,« erwiderte dieser und sah ihn unter den schwarzen Brauen hervor mit stechendem Blicke an.

»Was hält mich ab, du Hund, daß ich dich zu Brei zermalme?« schrie der Alte, ihm die Fäuste vor die Nase haltend.

Der Knecht duckte sich, und in diesem Augenblicke fuhren ihm beide Fäuste seines Herrn ins Gesicht. Er taumelte zurück – aus seinem finsteren Gesicht war jeder Blutstropfen gewichen, – ohne einen Laut von sich zu geben, griff er nach einer Axt. – – – –

Aber in diesem Augenblicke fiel ihm Paul, der mit steigender Angst der Szene zugeschaut hatte, von hinten in den Arm, rang ihm die Waffe aus der Hand und warf sie in den Brunnen.

Der Vater wollte dem Knecht aufs neue an die Brust, aber rasch entschlossen packte ihn Paul um den Leib, und obwohl der alte Mann mit Händen und Füßen um sich schlug, trug er ihn, alle Kräfte zusammennehmend, auf seinen Armen in das Wohnzimmer, dessen Tür er von außen hinter ihm verschloß.

»Was hast du dem Vater getan?« wimmerte die[121] Mutter, die dieser Gewalttat, starr vor Entsetzen, zugeschaut hatte, denn daß der Sohn sich an dem Vater vergreifen könne, war ihr vollkommen unfaßbar. Ihr Blick glitt scheu an ihm empor, und klagend wiederholte sie: »Was hast du mit dem Vater getan?«

Paul beugte sich zu ihr nieder, küßte ihr die Hand und sagte: »Sei still, Mutter, ich mußt' ihm ja das Leben retten.«

»Und jetzt hast du ihn eingesperrt? Paul – Paul!«

»Bis Michel fort ist, muß er drinbleiben,« erwiderte er, »mach ihm nicht auf – es geschieht sonst ein Unglück.«

Dann schritt er auf den Hof hinaus. Der Knecht lehnte, seinen schwarzen Bart kauend, an der Stalltür und schielte tückisch nach ihm hin.

»Michel Raudszus!« rief er ihm zu.

Der Knecht kam näher. Die Adern auf seiner Stirn waren zu blauen Strähnen angeschwollen. Er wagte nicht, ihn anzusehen.

»Dein überschüssiger Lohn beträgt fünf Mark vierzig Pfennig. Hier hast du sie. – In fünf Minuten mußt du den Hof verlassen haben.«

Der Knecht warf ihm einen Blick zu, so unheimlich finster, daß Paul erschrak bei dem Gedanken, diesen Menschen so lange ahnungslos neben sich geduldet zu haben. Er hielt ihn fest im Auge, denn er glaubte jeden Augenblick von ihm angefallen zu werden.

Aber schweigend wandte der Knecht sich ab, ging nach dem Stalle, wo er sein Bündel schnürte, und zwei Minuten später schritt er zum Hoftore hinaus. – Er hatte während der ganzen fürchterlichen Szene nicht einen Laut von sich gegeben.

»So – jetzt zum Vater,« sagte Paul, fest entschlossen, alle Schläge und Schimpfreden ruhig über sich ergehen zu lassen.

Er schloß die Tür auf und erwartete, den Vater auf sich losstürzen zu sehen.

Der saß in einer Sofaecke, ganz in sich zusammengefallen, [122] und starrte vor sich nieder. Er rührte sich auch nicht, als Paul auf ihn zutrat und abbittend sagte: »Ich tat's nicht gern, Vater, aber es mußte sein.«

Nur einen scheuen Seitenblick warf er ihm zu, dann sagte er bitter: »Du kannst ja tun, was du willst ... ich bin ein alter Mann, und du bist der Stärkere.«

Dann sank er wieder in sich zusammen.

Seit diesem Tage war Paul der Herr im Hause.

[123] 14

Drei Wochen waren seither verflossen. Paul arbeitete, als stände er im Frondienst. Trotzdem hatte eine seltsame Unruhe sich seiner bemächtigt. Wenn er sich für einen Moment Erholung gönnen durfte, litt es ihn nicht mehr daheim. Ihm war zumute, als sollten die Mauern über ihm zusammenstürzen. Dann streifte er auf der Heide oder im Walde umher, oder er lungerte rings um Helenental herum. Was er dort wollte, wagte er sich selber nicht einzugestehen. »Wenn ich Elsbeth träfe, ich glaube, ich müßte vor Scham in die Erde sinken,« so sagte er sich, und dennoch spähte er allerwegen nach ihr aus und zitterte vor Bangen und vor Freude, wenn er eine weibliche Gestalt von ferne daherkommen sah.

Auch die Nachtruhe begann er zu vernachlässigen. Sobald man im Hause eingeschlafen war, schlich er von dannen und kam oft erst am hellen Morgen wieder zurück, um mit wüstem Kopf und zerschlagenen Gliedern an die Arbeit zu gehen.

»Ich will gutmachen – gutmachen,« murmelte er oft vor sich hin, und wenn er die Sense durch das Korn zischen ließ, sagte er sich im Takte dazu: »Gutmachen – gutmachen!« Doch über das Wie war er sich gänzlich im unklaren; er wußte nicht einmal, ob Douglas durch die Bisse des Hundes Schaden genommen hatte.

Einmal, als er in der Dämmerung jenseits des Waldes herumstrich, sah er Michel Raudszus von Helenental daherkommen. Er trug einen Spaten geschultert, woran ein Bündel hing. – Paul schaute ihm festen Blickes entgegen – er erwartete, von ihm angegriffen zu werden, aber der Knecht sah ihn scheu von der Seite an und ging in weitem Bogen um ihn herum.

»Der Kerl sieht aus, als ob er Böses im Schilde führte,« sagte er, indem er ihm nachschaute.

Douglas hatte den Weggejagten in seine Dienste genommen, wie einer der Tagelöhner zu erzählen wußte, und als der Vater davon erfuhr, lachte er auf und sagte: [124] »Das sieht dem Schleicher ähnlich, der wird was Schönes gegen mich zusammenbrauen.«

Er war fest überzeugt, das Douglas die Sache dem Staatsanwalt übergeben habe, ja er fand eine gewisse Wollust in dem Gedanken, verurteilt zu werden – »ungerecht,« wie selbstverständlich –, und da die Anklage von einem Tage zum anderen auf sich warten ließ, meinte er höhnisch: »Der gnädige Herr lieben die Galgenfristen.« –

Aber Douglas schien Willens, die ihm angetane Schmach gänzlich zu ignorieren, nicht einmal die Kündigung des entliehenen Kapitals traf ein. –

Pauls Seele war übervoll von Dankbarkeit, und je weniger er ein Mittel fand, sie kund zu tun, desto heißer wühlte in ihm die Scham, desto wilder trieb ihn die Unruhe umher.

So stand er eines Nachts wiederum vor dem Gartenzaun von Helenental.

Frühherbstnebel lagen über der Erde, und das welkende Gras schauerte leise. – Das »weiße Haus« verschwand in den Schatten der Nacht, nur aus einem der Fenster schimmerte ein trübes, dunkelrotes Licht.

»Hier wacht sie bei der kranken Mutter,« dachte Paul. Und da er kein anderes Mittel fand, sie zu rufen, so fing er zu pfeifen an. – – Zwei-, dreimal hielt er inne, um zu lauschen. – Niemand kam, und in seiner Seele stieg die Angst. – –

Mit tastender Hand suchte er nach der lockeren Stakete, die Elsbeth ihm damals gezeigt hatte, und als er sie gefunden, drang er in das Innere. – Das Geästel zerzauste seine Kleider, wie in einer Wildnis kroch er am Fußboden dahin, einen Pfad zu finden. Endlich kam er ins Freie. Der weiße Kies verbreitete einen ungewissen Dämmerschein, heller leuchtete das Lämpchen aus dem Krankenzimmer.

Er setzte sich auf eine Bank und starrte dorthin. Ihm war, als ob ein Schatten hinter der Gardine sich bewegte.

Dann mit einem Male wurde es heller rings um ihn herum ... Die Rosenstöcke traten aus der Nacht her vor ... [125] Der Kies glänzte, und der Giebel des Wohnhauses, der noch eben in schwarzen Massen sich erhoben, strahlte in dunkelrötlichem Lichte, als sei der Strahl des Morgenrots darauf gefallen.

Verwundert wandte er sich um – das Blut erstarrte in seinen Adern –, hoch an dem mächtigen Himmel erhob sich ein blutiger Feuerschein. Die schwarzen Wolken umsäumten sich mit flammenden Rändern, weißliche Lohe wirbelte dazwischen empor, und hochauf schossen feurige Strahlen, als stände ein Nordlicht am Himmel.

»Dein Vaterhaus brennt!« – – – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Schwer fiel sein Kopf gegen das Geländer der Bank – im nächsten Augenblicke raffte er sich empor – seine Knie wankten, das Blut siedete in seinen Schläfen – »Vorwärts, rette, was zu retten ist,« so schrie es in ihm – und in wildem Jagen drang er durch das Gebüsch, erkletterte den Gartenzaun und sank jenseits desselben im Graben nieder.

Wie die aufgehende Sonne überstrahlte das brennende Gehöft die weite Heide. Die Stoppeln leuchteten, und der schwarze Wald tauchte sich in rötliche Glut. –

Noch stand das Wohnhaus unversehrt – seine Mauern schimmerten wie Marmor, seine Fenster blitzten wie Karfunkelstein. – Taghell lag der Hof. – Die Scheune war es, die da brannte, die Scheune, vollgepfropft bis zum First von Erntesegen. Seine Arbeit, sein Glück, sein Hoffen, so ging es in Rauch und Flammen auf. – –

Wieder raffte er sich auf – – – in wilder Hast ging's über die Heide. – Als er am Walde vorübereilte, war es ihm, als sähe er einen Schatten an sich vorüberhuschen, der bei seinem Nahen platt auf die Erde sank. Er achtete kaum darauf.

Weiter – rette, was zu retten ist! –

Vom Hofe her drang wirres Geschrei ihm entgegen. – Die Knechte liefen wild durcheinander, die Mägde rangen die Hände – die Schwestern liefen umher und schrien seinen Namen. –

[126] Das Dorf war eben erwacht ... Die Landstraße füllte sich mit Menschen ... Wasserkiewen wurden herangeschleppt, auch eine morsche Spritze kam dahergewackelt. –

»Wo ist der Herr?« schrie er den Knechten entgegen.

»Wird eben 'reingetragen – hat'n Bein gebrochen,« lautete die Antwort. –

Unglück über Unglück!

»Laßt die Scheune brennen! –« schrie er anderen zu, die gänzlich kopflos ein paar winzige Eimer Wasser in die Glut hineingossen.

»Rettet das Vieh – gebt acht, daß sie nicht in die Flammen rennen!«

Drei, vier Mann eilten in den Stall.

»Ihr andern ans Wohnhaus – tragt nichts heraus.«

»Nichts heraustragen!« wiederholte er, ein paar Fremden die Sachen aus der Hand reißend, die sie eben aus dem Innern schleppten.

»Aber wir wollen retten.«

»Rettet das Haus!« – – –

Er eilte die Treppe hinan. Im Vorübereilen sah er die Mutter stumm und tränenlos neben dem Vater sitzen, der wimmernd auf dem Sofa lag.

Durch eine Luke sprang er auf das Dach.

»Den Schlauch her!«

Auf eine Heugabel gespießt, reichte man ihm die metallene Spitze. Zischend glitt der Wasserstrahl über die erhitzten Ziegel.

Er ritt auf dem Dachfirst, seine Kleider erhitzten sich, in sein Haar setzten sich glimmende Körner, die von der Scheune herübersprühten, auf Antlitz und Händen fanden sich kleine kohlende Wunden. Er fühlte nichts, was seinem Leibe geschah, doch sah und hörte er alles rings um sich her – seine Sinne schienen vervielfältigt. – –

Er sah die Garben in feuriger Lohe hoch auf zum Himmel spritzen und in prächtiger Wölbung herniedersinken – er sah die Pferde und Kühe auf die Weide hinausjagen, wo sie zwischen den Zäunen sicher geborgen waren – er sah den Hund, halb versengt von der Glut, heulend an der Kette zerren. –

[127] »Macht den Hund los!« schrie er hinunter. –

Er sah kleine zierliche Flämmchen in bläulichem Flimmerschein von dem Giebel der Scheune zum benachbarten Schuppen hinübertänzeln. – –

»Der Schuppen brennt,« schrie er hinunter. »Rettet, was darin ist.« –

Ein paar Leute eilten fort, die Wagen ins Freie zu ziehen. –

Und inzwischen sauste und zischte der Wasserstrahl übers Dach und bohrte sich in die Sparren und tastete unter den Ziegeln. – Kleine weiße Wölkchen stiegen vor ihm auf und verschwanden, um an anderer Stelle wieder zu erscheinen.

Da plötzlich fiel ihm die »schwarze Suse« ein, die im hintersten Winkel des Schuppens zwischen altem Gerümpel vergraben stand. – Ein Stich fuhr ihm durch die Brust. – Soll nun auch sie zugrunde gehen, auf die sein Herz von jeher hoffte? –

»Rettet die Lokomobile!« schrie er hinunter.

Aber niemand verstand ihn.

Die Begier, der »schwarzen Suse« Hilfe zu bringen, packte ihn so mächtig, daß ihm einen Augenblick zumute war, als müßte er selbst das Wohnhaus darangeben.

»Ablösung 'rauf!« schrie er in die Menschenmasse hinunter, die zum größeren Teile untätig gaffend dastand.

Ein stämmiger Maurer aus dem Dorfe kam emporgeklettert, deckte die Dachpfannen ab und bahnte sich so einen Pfad bis zum Firste empor. Ihm reichte Paul den Schlauch und glitt hinunter – innerlich verwundert, daß er sich nicht Arm und Bein gebrochen hatte.

Dann drang er in den Schuppen, aus dem schon erstickender Rauch ihm entgegenwirbelte.

»Wer kommt mit?« schrie er.

Zwei Tagelöhner aus dem Dorfe meldeten sich.

»Vorwärts!«

Hinein in Qualm und Flammen ging's.

»Hier ist die Deichsel – angefaßt – rasch hinaus.«

Krachend und polternd schwankte die Lokomobile auf [128] den Hof hinaus. Hinter ihr und ihren Rettern brach das Dach des Schuppens zusammen. – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Der Morgen graute. Der bläuliche Dämmerschein vermischte sich mit dem Rauch der Trümmer, aus denen die Flammen hie und da emporzuckten, um sofort müde zusammenzusinken.

Die Menge hatte sich verlaufen. Unheimliche Stille lastete auf dem Hofe, nur von dem Brandplatz her kam ein leises Knirschen und Fauchen, als ob die Flammen vor dem Verlöschen noch einmal murmelnde Zwiesprache hielten.

»So,« sagte Paul, »jetzt wären wir so weit!«

Wohnhaus und Stall samt allem Lebendigen waren gerettet. Scheune und Schuppen lagen in Asche.

»Jetzt sind wir genauso arm, wie wir vor zwanzig Jahren waren,« meditierte er, indem er seine Wunden streichelte, »und hätt' ich mich nicht 'rumgetrieben, es wäre vielleicht alles ungeschehen geblieben.«

Als er die Laube betrat, die die Haustür umrahmte, fand er die Mutter mit gefalteten Händen in einer Ecke zusammengekauert. – Über ihre Wangen zogen sich tiefe Rinnen, und ihre Augen starrten ins Leere, als sähe sie noch immer die Flammen züngeln.

»Mutter,« rief er angstvoll, denn er fürchtete, daß sie nicht fern von Wahnsinn wäre.

Da nickte sie ein paarmal und meinte: »Ja, ja, so geht's!«

»Es wird auch wieder bessergehen, Mutter,« rief er.

Sie sah ihn an und lächelte. Es schnitt ihm ins Herz, dieses Lächeln.

»Der Vater hat mich eben hinausgejagt,« sagte sie, »ich bitte dich herzlich, jag du mich nicht auch hinaus.«

»Mutter, um Jesu willen, red nicht so!«

»Sieh mal, Paul, ich bin wirklich nicht schuld daran,« sagte sie und sah mit flehendem Ausdruck zu ihm empor, »ich gehe nie mit Licht in die Scheune.«

»Aber wer sagt denn das?«

[129] »Der Vater sagt, ich sei an allem schuld, ich soll mich zum Teufel scheren. – – Aber tu ihm nichts, Paul,« bat sie voll Angst, als sie ihn auffahren sah, »pack ihn nicht wieder an, er hat so große Schmerzen.«

»Der Doktor kommt in einer Stunde, ich hab' schon nach ihm geschickt.«

»Geh zum Vater, Paul, und tröst ihn ... ich möchte ja selber gern, aber mich hat er hinausgejagt,« und sich wieder zusammenkauernd, murmelte sie vor sich hin: »'rausgejagt hat er mich – 'rausgejagt.«

[130] 15

Unsagbares Elend war über den Heidehof hereingebrochen. In dem Wohnzimmer lag der Vater auf seinem Schmerzenslager und wimmerte und schalt und verfluchte die Stunde seiner Geburt. In weicheren Stunden ergriff er die Hand seines Weibes, bat sie tränenden Auges um Verzeihung, daß er ihr Schicksal an sein verdorbenes Leben gekettet, und versprach, sie in Zukunft reich und glücklich zu machen. Reich vor allem – reich!

Es war zu spät. Seine milden Worte machten keinen Eindruck mehr auf sie, ihr angstgequältes Herz hörte aus ihnen heraus schon die Scheltreden grollen, die ihnen, wie immer, folgen mußten. Mit welken Wangen und erloschenen Augen schlich sie einher, ohne je einen Laut der Klage von sich zu geben, doppelt erbarmenswert in ihrem Schweigen.

Aber mit ihr hatte niemand Erbarmen, selbst Gott und das ewige Schicksal nicht. Sie wurde müder von Tag zu Tag, auf ihrer bleichen, blaugeäderten Stirn schien bereits der Stempel des Todes zu brennen, und das Glück, das lebenslang ersehnte, war ferner denn je.

Der einzige, der imstande gewesen wäre, ihr beizustehen, war Paul, allein der stahl sich wie ein Verbrecher um sie herum, er wagte kaum, ihr zum Morgengruß die Hand zu reichen, und wenn sie ihn ansah, schlug er das Auge nieder. Wäre sie minder stumpf und grambeladen gewesen, so hätte sie aus seinem absonderlichen Gebaren irgendeinen Verdacht schöpfen müssen, aber alles, was sie in ihrem Jammer empfand, war nur, daß sein Trost ihr fehlte.

Einmal in der Dämmerung, als er, wie gewöhnlich zur Feierstunde, in dem Schutt der Brandstelle herumwühlte, ging sie ihm nach, setzte sich neben ihn auf das zerbröckelnde Fundament und versuchte ein Gespräch mit ihm zu beginnen, aber er wich ihr aus, wie er auch sonst getan.

[131] »Paul, sei nicht so hart zu mir,« bat sie da, und ihre Augen füllten sich mit Wasser.

»Ich tu' dir ja nichts, Mutter,« sagte er und biß die Zähne zusammen.

»Paul, du hast etwas gegen mich!«

»Nein, Mutter!«

»Glaubst du, ich sei schuld am Brande?«

Da schrie er laut auf, umklammerte ihre Knie und weinte wie ein Kind, doch als sie sein Haar streicheln wollte, die einzige Liebkosung, die sonst zwischen ihnen gang und gäbe gewesen, da sprang er auf, stieß sie zurück und rief: »Rühr mich nicht an, Mutter – ich bin's nicht wert!«

Darauf wandte er ihr den Rücken und schritt auf die Heide hinaus.

Seit dem Augenblick, da er nach dem Brande zum erstenmal erwacht war, hatte sich eine fixe Idee seiner bemächtigt, die ihn nicht mehr aus ihrem Banne ließ, die fixe Idee: daß er, er allein, an allem die Schuld trüge.

»Hätt' ich mich nicht 'rumgetrieben,« so sagte er sich, »hätt' ich das Haus bewacht, wie's meine Pflicht war, das Unglück hätte nie und nimmer geschehen können.«

All sein geheimes Sehnen erschien ihm nun wie ein Verbrechen, das er am Vaterhause begangen hatte.

Wie Jesus auf Gethsemane, so rang er mit seinem Herzen, Sühne sind Vergebung zu finden. – Aber nirgends ließ die Angst ihm Ruhe. Zu allen Stunden tanzten die Flammen vor seinen Augen, und wenn er sich abends zu Bette legte und beklommen in das Dunkel starrte, dann war's ihm, als sähe er aus allen Ritzen feurige Zungen sich ausstrecken, als hüllten statt der Schatten der Nacht Wolken schwarzen Qualms ihn ein.

Über den Urheber des Brandes hatte er sich noch keine Gedanken machen können; die Sorgen, die aufs neue über ihn hereinbrachen, waren zu groß, als daß er der Rache hätte Raum gönnen dürfen. – Es fehlte am Nötigsten, kaum das Geld für den Apotheker ließ sich noch auftreiben. Er sann und rechnete tags und nachts und entwarf große Feldzugspläne, die notwendigste Barschaft [132] herbeizuschaffen. Auch an die Brüder schrieb er, ob sie ihm vielleicht durch ihren Einfluß gegen mäßige Zinsen ein paar hundert Taler besorgen könnten. Sie antworteten tieftraurig, daß sie selbst so mit Schulden beladen wären, daß sie unmöglich noch auf Kredit rechnen dürften. Gottfried, der Lehrer, hatte sich zwar vor kurzem mit einer wohlhabenden jungen Dame verlobt, und Paul war überzeugt, daß es ihm nicht schwerfallen könnte, ihre Familie zur Darleihung einer mäßigen Summe zu bewegen, aber er hielt dafür, daß die Würde seiner Stellung durch eine solche Bitte leiden würde; er müsse fürchten, meinte er, sich bei seinem Schwiegervater zu kompromittieren, wenn er ihm seine wahren Verhältnisse vorzeitig enthüllte.

Ein Segen war es bei alledem, daß die Rapsernte bereits verkauft und abgeliefert war und daß die Kartoffeln zum größten Teile noch in der Erde steckten. – So ließen sich kleine Barschaften erzielen, die zur Deckung der dringendsten Aufgaben hinreichten. Freilich, wie an einen Wiederaufbau der Scheune zu denken war? –

Inmitten der traurigen Trümmer, von verkohlten Balken und zerfallenden Mauern umgeben, stand hochaufgerichtet mit ihrem rußigen Leibe und ihrem schlanken Halse die »schwarze Suse«, das einzige Stück, das – von ein paar elenden Arbeitswagen abgesehen – aus dem Untergang gerettet worden war.

Die Zwillinge, die in dieser trüben Zeit viel von ihrer Munterkeit verloren hatten und nur in heimlichen Winkeln kosten und kicherten, gingen scheu um sie herum, und als der Vater sich zum erstenmal von seinem Lager aufrichtete und das schwarze Ungetüm durch das Fenster glotzen sah, ballte er die Fäuste und schrie: »Warum hat man das Biest nicht verbrennen lassen?«

Paul aber schloß sie noch inniger in sein Herz. »Jetzt wär's an der Zeit, daß du wieder lebendig würdest,« sagte er, zerrte an dem Rade und guckte in den Kessel hinein; er begann abends aus Lindenholz kleine Modelle zu schnitzeln, und eines Tages schrieb er an Gottfried: »Schicke [133] mir aus Eurer Schulbibliothek ein paar Bücher über die Einrichtung von Dampfmaschinen. Mir ist zumute, als ob für unser Vaterhaus viel davon abhinge.« – Gottfried ließ sich vergeblich bitten; erstens widerstreite es seinen Prinzipien, der Bibliothek Bücher zu entnehmen, die er nicht selber gebrauchte, und zweitens würden sie Paul doch nichts nützen, da er in der theoretischen Physik nicht bewandert sei. – Dann wandte er sich an Max. Der sandte ihm umgehend ein Zehnpfundpaket mit funkelnagelneuen Bänden, denen eine Rechnung von fünfzig Mark beilag. Er beschloß, die Bücher zu behalten und die fünfzig Mark allgemach zusammenzusparen. »Für die ›schwarze Suse‹ ist nichts zu teuer,« meinte er.

Aber neue Unruhe sollte über ihn hereinbrechen.

Eines Vormittags kam ein Wagen auf den Hof gefahren, in dem neben einem Gendarmen zwei fremde Herren saßen, von denen der eine, ein behäbiger Vierziger mit goldener Brille auf der Nase, sich als Untersuchungsrichter vorstellte.

Paul erschrak, denn er fühlte wohl, daß er mancherlei zu verheimlichen hatte.

Der Untersuchungsrichter besah zuerst die Brandstelle, nahm eine Zeichnung des Fundamentes auf und fragte, wo Tore und Fenster sich befunden hatten, dann ließ er die Dienstboten zusammenrufen, die er aufs genaueste befragte, was sie am Tage vorher und bis zu dem Augenblicke des Brandes getrieben hätten.

Paul stand bleich und zitternd daneben, und als der Richter das Gesinde entließ, um ihn selber zu vernehmen, war ihm zumute, als sei der Weltuntergang herangekommen.

»Sind Sie an dem Tage vor dem Brande in der Scheune gewesen?« fragte der Richter.

»Ja.«

»Rauchen Sie?«

»Nein.«

»Besinnen Sie sich, daß Sie in irgendeiner Weise mit Feuer, Streichhölzchen und dergleichen hantierten?«

[134] »O nein – ich bin viel zu vorsichtig dazu.«

»Wann waren Sie zuletzt in der Scheune?«

»Um acht Uhr abends.«

»Was taten Sie dort?«

»Ich hielt meinen allabendlichen Rundgang, bevor ich die Tore verschließe.«

»Verschließen Sie die Tore eigenhändig?«

»Ja – stets.«

»Bemerkten Sie etwas an dem betreffenden Abend?«

»Nein.«

»Haben Sie niemanden in der Umgegend herumschleichen sehen?«

Wie ein Blitzstrahl fuhr es auf ihn nieder. In diesem Augenblick erst entsann er sich des Schattens, den er beim Beginne des Brandes im Walde hatte untertauchen sehen. Aber das war ja nicht in der Umgegend. Und tief aufatmend erwiderte er: »Nein.«

»So, jetzt kommt's!« dachte er – die nächste Frage schon mußte seine nächtliche Wanderung ans Tageslicht ziehen, mußte das Geheimnis verraten, das er bisher im tiefsten Innern verschlossen gehalten hatte.

Aber nein. Der Untersuchungsrichter brach plötzlich ab und sagte nach einer kleinen Pause: »Bis vor kurzem war ein Knecht namens Raudszus in Ihren Diensten?«

»Ja,« erwiderte er und starrte den Richter mit großen Augen an. Also Raudszus war's, auf den der Verdacht sich lenkte.

»Weshalb haben Sie ihn entlassen?«

Er erzählte ausführlich jenen schrecklichen Vorgang, gab aber wohl darauf acht, daß die Szene mit Douglas, die ihm vorangegangen, so viel als möglich im dunkeln blieb. Nun die erste Gefahr abgeschlagen war, hatte er seine Ruhe wiedergefunden.

Der Protokollführer machte sich eifrig Notizen, und der Untersuchungsrichter zog die Brauen in die Höhe, als wär' er bereits völlig im klaren. Als Paul geendet hatte, gab er dem Gendarmen einen Wink, der schweigend kehrtmachte und auf dem Wege nach Helenental von dannen ging.

[135] »Jetzt zu Ihrem Herrn Vater!« sagte der Richter. »Ist er in einem Zustande, um vernommen zu werden?«

»Lassen Sie mich nachsehen,« erwiderte Paul und ging in die Krankenstube.

Er fand den Vater hochaufgerichtet im Bette sitzen, sein Auge blitzte, und auf seinen Zügen lag der Schimmer mühsam unterdrückter Wut.

»Laß sie nur kommen!« rief er Paul entgegen, »es ist zwar alles Firlefanz – an den Wahren wagen sie sich ja doch nicht aber laß sie nur kommen!«

Auch er erzählte dem Untersuchungsrichter die Szene des Kampfes, aber das gerade, was Paul schamhaft verschwiegen hatte, den Streit mit Douglas und das Hetzen des Hundes, das kramte er mit großsprecherischer Geschwätzigkeit vor den Fremden aus. Der Richter kratzte sich bedenklich den Kopf, und sein Schreiber notierte eifrig.

Als Meyhöfer bis zu dem Momente kam, in dem er das Eingreifen seines Sohnes hätte schildern müssen, schwieg er stille. Aus seinem Auge schoß auf ihn ein Strahl, in dem, jäh hervorbrechend, ein Feuer von Trotz und Ingrimm loderte.

»Und was weiter?« fragte der Richter.

»Ich bin ein alter Mann,« murmelte er zwischen den Zähnen, »zwingen Sie mich nicht, meine eigene Schande zu gestehen.«

Der Richter war's zufrieden. Als er den Alten fragte, ob sein Verdacht sich nicht schon vorher auf Michel Raudszus gelenkt hätte, da lachte er gar geheimnisvoll in sich hinein und raunte: »Die Hand, die elende Hand mag er wohl hergegeben haben, aber« – er stockte –

»Aber?«

»Schade, Herr Richter, daß die Gerechtigkeit eine Binde vor den Augen trägt,« antwortete er mit höhnischem Lachen – »ich habe nichts weiter zu sagen.« –

Richter und Protokollführer sahen sich kopfschüttelnd an, dann wurde das Verhör geschlossen.

»Wird Michel Raudszus verhaftet werden?« fragte Paul die Herren, ehe sie den Wagen bestiegen.

[136] »Er ist es hoffentlich bereits,« antwortete der Richter. »Er hat im Rausche allerhand verdächtige Äußerungen getan, und was wir von Ihnen erfahren haben, ist mehr als ausreichend, die Untersuchung gegen ihn einzuleiten. Freilich wird sich noch manches aufzuklären haben.«

Damit fuhren sie von dannen.

Lange starrte Paul dem Wagen nach.

Die letzten Worte des Richters hatten die Angst aufs neue in ihm erweckt, und während die Wochen verflossen und die Voruntersuchung ihre Wege ging, saß er bangend und zitternd daheim, nicht viel anders, als wenn der Richterspruch ihn und ihn allein zerschmettern würde.

Paul samt der Mutter und den Schwestern erhielten eine Vorladung zum Schwurgerichte, nur dem Vater war es freigestellt, daheim zum letztenmal verhört und vereidigt zu werden. Aber er erklärte, daß er lieber im Gerichtssaal tot zusammensinken wolle, als daß er zu Hause säße, während man den Vernichter seiner Habe frei auslaufen ließe. Wen er mit diesen Redensarten meinte, ließ er im unklaren, nur daß es der angeklagte Knecht nicht war, gab er deutlich genug zu erkennen. – – –

Der Tag der Verhandlung kam heran. Paul hatte für den Vater einen Tragestuhl gezimmert, der ihm jeglichen Schritt ersparte. In ihm wurde er auf den Wagen gehoben und weich in dem Heulager gebettet.

Es war eine gar elende Klapperfuhre, die die Familie Meyhöfer nach der Stadt hinführte, denn die besseren Wagen waren samt und sonders verbrannt. Die Leitern hatte Paul fortnehmen lassen und statt ihrer einen hölzernen Kasten hineingebaut; über die Strohbündel, die als Sitze dienten, hatte er alte Pferdedecken gebreitet, die die Jahre zerfetzt und entfärbt hatten. Inmitten dieser Dürftigkeit lag der Herr ächzend und schimpfend am Boden; sein Weib thronte obenauf, bleich und elend und vergrämt, als wäre sie der Genius dieses Verfalles; die ewig blühende Jugend, die selbst auf dem Schutte gedeiht, sie lachte aus zwei schelmischen Augenpaaren zwischendrein, und vornauf, als der Lenker dieses traurigen Vehikels, [137] saß Paul und schaute bekümmert vor sich nieder, denn er schämte sich, daß er den Seinen, die er zum erstenmal all' insgesamt in die Weite hinauskutschierte, keine stolzere Karosse bieten konnte.

Auf der falben Heide lagen die müden Strahlen der Novembersonne, struppig reckten sich die Erikabüschel zwischen gelben, dünnen Gräsern, hie und da schimmerten Lachen von Regenwasser, und von den Krüppelweiden des Weges hingen wie tote Sommervögel vereinzelte Blättlein.

»Weißt du noch, wie wir vor einundzwanzig Jahren denselben Weg fuhren?« sagte Frau Elsbeth zu ihrem Manne und warf einen Blick auf Paul, den sie damals an der Brust gehalten hatte.

Meyhöfer murrte etwas in sich hinein, denn er war kein Freund von Erinnerungen, von solchen Erinnerungen. Frau Elsbeth aber faltete die Hände und dachte allerhand; es mußte nichts Trauriges sein, denn sie lächelte dabei.

Je mehr der Wagen sich dem Ziele näherte, desto beklommener ward es Paul zumute. Er reckte sich auf seinem Sitze, und durch seine Glieder jagte ein Frösteln nach dem andern.

Mit unheimlicher Klarheit stand die wilde Brandnacht vor seinen Augen, und inmitten jener Angst, vor fremden Menschen zu stehen und zu sprechen, überkam es ihn wie ein Gefühl des Glücks, wenn er dessen gedachte, wie er in Qualm und Flammen hoch auf dem steilen Dache aus gehandelt und geherrscht hatte als der einzige, dem alle gehorchten, der einzige, der inmitten der Wirrnis bei klarem Kopfe geblieben war. »Vielleicht kann ich doch meinen Mann stehen, wenn's darauf ankommt!« sagte er sich tröstend, aber um so tiefer versank er darauf im Anschauen seiner trübseligen, gedrückten, kraft- und saftlosen Existenz. – »Es wird nie anders – es kann nur schlimmer werden von Jahr zu Jahr« – sagte er sich, da hörte er hinter sich die Mutter seufzen, und was er soeben gedacht hatte, erschien ihm als schnöde, herzlose Selbstsucht.

[138] »Auf mich kommt's nicht an,« murmelte er – da fuhr der Wagen durch das Stadttor.

Vor dem roten Gerichtsgebäude mit den hohen Steintreppen und den gewölbten Fenstern hielt der Wagen. Nicht fern davon stand eine wohlbekannte Chaise, und der Kutscher auf dem Bock trug an seiner Mütze noch dieselbe Troddel, die Paul einstmals, da er Konfirmand war, so sehr imponiert hatte.

Als der Vater aufgerichtet wurde, fiel sie auch ihm in die Augen. »Na, der Lump ist ja auch da,« rief er, »will doch sehen, ob er meinen Blick wird ertragen können!«

Darauf trug ihn Paul mit Hilfe eines Gerichtsdieners die Stufen hinan bis in das Zeugenzimmer. Die Mutter und die Schwestern gingen hintendrein, und die Leute blieben stehen und besahen sich die trübselige Prozession.

Das Wartezimmer der Zeugen war voll von Menschen, meistens Angehörige von Helenental. In einem Winkel stand ein Häuflein Bettelvolk, ein Weib mit einem aufgedunsenen Gesicht, um den Leib ein rotbuntes Laken gebunden, in dem ein Säugling schlief. An den Falten ihres Rockes hing eine kleine Schar zerlumpter Kinder, die sich die Köpfe kratzten und einander heimliche Rippenstöße gaben. Das war die Familie des Angeklagten, die aussagen wollte, daß der Vater in jener Nacht daheim gewesen sei.

Meyhöfer dehnte und streckte sich in seinem Stuhle und warf herausfordernde Blicke um sich. Er erschien sich heute mehr denn je als ein großer Mann, ein Held und ein Märtyrer zugleich.

Die Tür öffnete sich, und Douglas samt Elsbeth erschienen auf der Schwelle.

Meyhöfer warf ihm einen giftigen Blick zu und lachte dann höhnisch in sich hinein. Douglas achtete nicht auf ihn, sondern setzte sich in die entgegengesetzte Ecke, Elsbeth mit sich ziehend. Sie sah bleich und angegriffen aus und hatte ein schüchternes, ängstliches Wesen, das von der fremden, unbehaglichen Umgebung herrühren mochte.

Sie nickte mit einem flüchtigen Lächeln nach der[139] Mutter und den Schwestern herüber und sah Paul mit einem sinnenden Blicke an, der etwas zu fragen schien.

Er schlug die Augen nieder, denn er konnte den Blick nicht ertragen. – Die Mutter machte eine Bewegung, zu ihr hinüber zu gehen, aber Meyhöfer ergriff sie beim Rocke und sagte, lauter, als es wohl nötig gewesen wäre: »Daß du dich unterstehst!«

Paul war wie gelähmt. Seine Knie bebten, auf seiner Stirn lastete ein dumpfer Druck, der ihm jeglichen Gedanken benahm.

»Du wirst ihr Schande bringen,« murmelte er immerfort vor sich hin, aber ohne zu wissen, was er sagte.

Drinnen im Schwurgerichtssaale begann das Zeugenverhör. Einer nach dem andern wurde aufgerufen.

Zuerst kamen die Tagelöhner an die Reihe, dann der Wirt, in dessen Schenke Raudszus die Äußerungen getan, dann das zerlumpte Häuflein aus dem Winkel. – Das Zimmer fing an, sich zu leeren. – Hierauf wurde der Name des Herrn Douglas genannt. Er murmelte seiner Tochter ein paar Worte ins Ohr, die auf die Meyhöfers Bezug haben mußten, und ging mit seinen breiten Schritten von dannen.

Die Hände auf dem Schoße gefaltet, saß sie nun einsam an der Wand. Eine tiefe Röte der Erregung entflammte ihren Wangen. Gar lieblich und beklommen schaute sie drein, und ihr schlichtes, wahrhaftes Wesen malte sich in jedem ihrer Züge.

Die Mutter ließ keinen Blick von ihr, und bisweilen sah sie zu Paul hinüber und lächelte dabei wie im Traume.

Eine Viertelstunde verrann, dann wurde auch Elsbeths Name gerufen. Sie warf noch einen freundlichen Blick zur Mutter hin, dann verschwand sie in der Tür. Ihr Verhör währte nicht lange. – »Herr Meyhöfer senior,« rief der Diener vom Saale her und sprang herzu, um Paul beim Tragen des Stuhles behilflich zu sein.

Der Alte prustete und blies die Backen, dann wieder lehnte er sich mit mannhaft leisem Ächzen nach hintenüber, innerlich hocherfreut, eine so effektvolle Rolle spielen zu dürfen.

[140] Der weite Schwurgerichtssaal verschwamm vor Pauls Augen in einem rötlichen Nebel, undeutlich sah er dichtgedrängte Gesichter auf sich oder den Vater niederstarren, dann mußte er den Saal aufs neue verlassen.

Die Schwestern, die bis dahin neugierig um sich geschaut hatten, fingen an, sich zu fürchten. Um die Angst zu betäuben, aßen sie die mitgebrachten Butterbrote. Paul sprach ihnen Mut zu und lehnte die Wurst ab, die sie ihm großmütig boten.

Die Mutter hatte sich in einen Winkel zurückgezogen, zitterte leise und meinte von Zeit zu Zeit: »Was mögen sie aber von mir wollen?«

»Herr Meyhöfer junior,« hallte es von der Tür.

Im nächsten Augenblicke stand er in dem hohen, menschengefüllten Raume vor einem erhöhten Tische, an dem etliche Männer mit strengen und ernsten Gesichtern saßen; nur einer, der ein wenig abseits Platz genommen hatte, lächelte immer. Das war der Staatsanwalt, vor dem alle Welt sich fürchtete. Auf der rechten Seite des Saales saß gleichfalls auf erhöhten Plätzen ein Häuflein würdiger Bürger, die sehr gelangweilt dreinschauten und sich mit Federmessern, Papierschnitzel usw. die Zeit zu vertreiben suchten. Das waren die Geschworenen. Auf der linken Seite saß in einer verschlossenen Bank der Angeklagte. Er äugelte mit dem Zuschauerraum und machte ein Gesicht, als ob die Sache jeden andern anginge, nur nicht ihn. So freundlich hatte Paul den finstern Kerl noch nie gesehen.

»Sie heißen Paul Meyhöfer, sind geboren dann und dann, evangelisch,« und so weiter, fragte der mittelste der Richter, ein Mann mit einem ganz kurzgeschorenen Kopfe und einer scharfkantigen Nase, indem er die Daten aus einem großen Hefte ablas. Er tat das in einem gemütlichen Murmeltone, aber plötzlich wurde seine Stimme scharf und schneidig wie ein Messer, und seine Augen schossen Blitze auf Paul hernieder.

»Vor Ihrer Vernehmung, Herr Paul Meyhöfer, mache ich Sie darauf aufmerksam, daß Sie Ihre Aussage hernach mit einem Eide beschwören müssen.«

[141] Paul erschauerte. Wie ein Stich war das Wort »Eid« durch seine Seele gefahren. Ihm war zumute, als müßte er niederstürzen und sein Angesicht vor all den Späheraugen verbergen, die auf ihn niederstarrten.

Und dann fühlte er allgemach eine merkwürdige Veränderung in sich vorgehen. Die glotzenden Augen verschwanden – der Saal tauchte sich in Nebel, und je länger des Richters klare, scharfe Stimme auf ihn einsprach, je eindringlicher er sich mit himmlischen und irdischen Strafen bedrohen hörte, desto mehr war ihm zumute, als sei er ganz allein mit jenem Manne in dem weiten Saale, und all sein Sinnen richtete sich darauf, ihm so zu antworten, daß Elsbeth aus dem Spiele blieb. »Jetzt gilt's – jetzt zeig dich als Mann,« rief es in ihm. Es war ein ähnliches Gefühl wie damals, als er oben auf dem Dache gesessen hatte; sein Geist verschärfte sich, und der dumpfe Druck, der allezeit auf ihm lastete, sank von ihm ab, als löste man Ketten, mit denen er gefesselt gewesen.

Er erzählte mit ruhigen, klaren Worten, was er von dem Angeklagten wußte, und schilderte sein Wesen; auch, daß er sich ihm innerlich verwandt gefühlt hatte, gab er an.

Als er das sagte, ging ein Murmeln durch den Saal, die Geschworenen ließen die Papierschnitzel sinken, und zwei oder drei Federmesser klappten geräuschvoll zu.

»Was geschah, als Herr Douglas mit Ihrem Vater zusammengeraten war?« fragte der Präsident.

»Das kann ich nicht sagen,« erwiderte er mit fester Stimme.

»Weshalb nicht?«

»Ich müßte Übles von meinem Vater sprechen!« antwortete er.

»Was heißt das ›Übles‹?« fragte der Präsident. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie fürchten, Ihren Vater einer strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen?«

»Ja,« erwiderte er leise.

Wiederum ging das Murmeln durch den Saal, und hinter seinem Rücken hörte er knirschend die Stimme seines [142] Vaters: »Der ungeratene Schlingel!« Doch ließ er sich dadurch nicht irre machen.

»Das Gesetz gestattet Ihnen, in solchem Falle die Aussage zu verweigern,« fuhr der Präsident fort. »Wie aber geschah es, daß Ihr Vater sich gegen Raudszus wandte?«

Ohne Stocken erzählte er den Vorgang, nur als er beichten mußte, wie er seinen Vater ins Haus getragen, bebte seine Stimme, und er wandte sich um, als wollte er ihn um Verzeihung anflehen.

Der Alte hatte die Fäuste geballt, und seine Zähne schlugen aufeinander. Er mußte erleben, daß sein eigener Sohn die Glorie des Helden von seinem Haupte riß.

»Und nachdem Sie den Knecht entlassen, sahen und hörten Sie nichts mehr von ihm?« fragte der Präsident.

»Nein ...«

»Als sie in jener Brandnacht erwachten, was sahen Sie da zuerst?«

Langes Schweigen. Paul griff mit beiden Händen nach der Stirn und taumelte zwei Schritte zurück.

Eine Bewegung des Mitleids ging durch den Saal. Man glaubte nicht anders, als daß die Erinnerung an den fürchterlichen Augenblick ihn übermannte.

Das Schweigen dauerte fort.

»So antworten Sie doch.«

»Ich – schlief – nicht.«

»Sie waren also noch wach? ... Befanden Sie sich in Ihrem Schlafzimmer, als Sie den ersten Feuerschein gewahrten?«

»Nein!«

»Wo waren Sie?«

Lange Pause. Man hätte ein Blatt zur Erde fallen hören, so still war es im Saale.

»Sie waren nicht in Ihrem Heimathause?«

»Nein.«

»Also wo?«

»Im – Garten – von – Helenental.«

Ein dumpfes Geräusch erhob sich, das sich zum Tumulte [143] steigerte, als der alte Douglas, der von seinem Sitz aufgesprungen war, mit dröhnender Stimme in den Saal hineinrief: »Was hatten Sie da zu suchen?« Der alte Meyhöfer stieß einen Fluch aus, Elsbeth entfärbte sich und sank mit dem Kopfe schwer gegen die Lehne der Bank.

Der Präsident ergriff die Klingel.

»Ich ersuche den Zeugen um Ruhe,« sprach er, »ich selbst stelle die Fragen. Bei nochmaliger Störung lasse ich Sie aus dem Saale entfernen. – Also, Herr Paul Meyhöfer, was wollten Sie im Garten von Helenental?«

In demselben Augenblick erhob sich im Hintergrunde ein neues Gemurmel, und im Zeugenraume bildete sich eine Gruppe um Elsbeth.

»Was gibt's da?« fragte der Präsident.

Der Staatsanwalt, dessen Auge kein Stäubchen im ganzen Saal entgangen war, neigte sich zu ihm herüber und flüsterte mit vielsagendem Lächeln: »Die Zeugin ist in Ohnmacht gefallen.«

Da lächelte auch der Präsident, und das ganze Richterkollegium lächelte.

Elsbeth verließ, von ihrem Vater unterstützt, den Saal ...

Nun erhob sich ein kleiner Mann mit einem scharfgeschnittenen Gesicht, der vor dem Angeklagten saß und während der ganzen Zeit mit einem Schlüsselbunde gespielt hatte, und sagte: »Ich ersuche den Herrn Präsidenten, die Verhandlung auf fünf Minuten zu vertagen, da die Gegenwart der mitbeteiligten Zeugin von Wichtigkeit ist.«

Paul warf diesem Manne einen scheuen Blick zu. Die Verhandlung wurde vertagt.

Die fünf Minuten waren eine Ewigkeit. Paul durfte sich auf die Zeugenbank niedersetzen. Der Vater sah ihn unverwandt mit wütenden Augen an, aber er gab ihm kein Zeichen, daß er ihn sprechen wolle.

Elsbeth wurde in den Saal geführt, blaß wie eine Leiche, und Paul trat aufs neue vor die Schranken.

»Ich ermahne Sie nochmals«, begann der Präsident, [144] »sich in allen Stücken genau an die Wahrheit zu halten, denn Sie wissen, daß jedes Wort Ihrer Aussage unter den Zeugeneid fällt.«

»Ich weiß es,« sagte Paul.

»Jedoch haben Sie, wie Sie wissen, das Recht, die Aussage zu verweigern, wenn Sie glauben befürchten zu müssen, daß sie Ihnen oder einem Angehörigen eine Strafe zuziehen dürfte. Wollen und können Sie, wie vorhin, auch jetzt von diesem Rechte Gebrauch machen?«

»Nein.«

Er sprach es mit fester, klarer Stimme, denn in ihm war die Gewißheit aufgegangen, daß Elsbeths Ehre rettungslos verfallen war, wenn er jetzt schwieg.

»Aber wenn mein Eid ein Meineid wird?« hallte es hinterher aus seinem Gewissen nach. Es war zu spät.

»Also – was wollten Sie in dem Garten?« fragte der Präsident.

»Ich wollte – gutmachen, was in meinem Vaterhaus an Douglas verschuldet war.«

Ein Murmeln der Enttäuschung und des Unglaubens ging durch den Saal.

»Und dazu schlichen Sie in dem fremden Garten umher?«

»Ich hatte das Verlangen, irgend jemanden zu treffen, dem ich Abbitte hätte leisten können.«

»Und hierzu suchten Sie sich die Nachtzeit aus?«

»Ich konnte nicht schlafen.«

»Und Sie wurden von Ihrer Unruhe dorthin getrieben?«

»Ja.«

»Trafen Sie jemanden in dem Garten?«

»Nein.«

»Waren Sie schon früher einmal zu derselben Stunde dort gewesen?«

Lange Pause; dann ging ein abermaliges »Nein,« doch diesmal leise und zögernd, gleichsam dem Gewissen abgerungen, aus seinem Munde ...

Die Spannung, die auf den Gemütern lastete, begann [145] sich zu lösen, der Präsident blätterte in seinen Akten, und Elsbeth starrte mit großen, glanzlosen Augen zu ihm herüber.

»Wo befanden Sie sich, als Sie den Feuerschein zuerst bemerkten?«

»Etwa zwanzig Schritt von dem Helenentaler Wohnhaus entfernt!«

»Und was taten Sie alsdann?«

»Ich war sehr erschrocken und eilte sofort nach dem Heimathof zurück.«

»Auf welchem Wege verließen Sie den Garten?«

»Über den Gartenzaun.«

»Sie öffneten also nicht die Tür, welche vom Garten nach dem Hofe führt?«

»Nein.«

»Und schritten nicht an dem Giebel vorbei?«

»Nein.«

Eine neue Unruhe machte sich im Saale bemerkbar. Der kleine Mann mit dem Schlüsselbunde erhob sich und sagte: »Ich bitte den Herrn Präsidenten, Fräulein Douglas noch einmal über das zu verhören, was sie in jener Nacht gehört haben will.«

»Fräulein Douglas, ich bitte,« sagte der Präsident.

Mit einem langen Blick auf Paul trat sie vor. Dicht nebeneinander standen sie nun in dem weiten, menschengefüllten Saale, als ob sie zusammengehörten.

»Wohin verliefen sich die Schritte, die Sie hörten, als der Feuerschein Sie weckte?«

»Nach dem Hofe zu,« erwiderte sie leise, kaum vernehmbar.

»Und hörten Sie deutlich die Klinke der Gartentür klappen?«

»Ja.«

»Bedenken Sie wohl, ob Sie sich nicht getäuscht haben können?«

»Ich habe mich nicht getäuscht,« erwiderte sie leise, doch bestimmt.

»Ich danke. Sie können sich setzen.«

[146] Mit unsicheren Schritten ging sie auf ihren Platz zurück. Seit jenem verhängnisvollen »Nein« hing ihr Blick an Paul wie festgebannt. Sie schien alles andere darüber vergessen zu haben.

»Als Sie den Gartenzaun überschritten hatten, welchen Weg schlugen Sie dann ein?« fragte der Präsident weiter, zu Paul gewandt.

»Über die Heide!«

»Berührten Sie den Wald?«

»Nein – ich lief etwa zwei- bis dreihundert Schritt weit davon vorüber.«

»Begegneten Sie auf Ihrem Wege jemandem?«

»Ich sah einen Schatten, der sich dem Walde zu bewegte und bei meinem Kommen plötzlich verschwunden war.«

Eine lang anhaltende Bewegung ging durch den Raum, der Angeklagte verfärbte sich, und sein Auge nahm einen starren, glotzenden Ausdruck an. – Der Staatsanwalt ließ keinen Blick von ihm.

Noch ein paar Nebenfragen, dann durfte Paul sich setzen.

Die Mutter und die Schwestern wurden gerufen, aber was sie auszusagen hatten, war ohne Belang. Die Schwestern schauten neugierig, beinahe keck in die Runde. Die Mutter weinte, als sie den Augenblick des Erwachens erzählen mußte.

Paul fühlte sich stolz und glücklich darüber, daß Elsbeth nicht durch ihn verraten worden. Er schaute lächelnd vor sich nieder und freute sich seines Mutes. Doch als die Zeugen zur Vereidigung vorgerufen wurden und er die Hand erheben sollte, da war es ihm, als hinge eine Zentnerlast daran, als riefe eine leise, traurige Stimme ihm ins Ohr: »Schwöre nicht.«

Und er schwor.

Als er sich auf den Platz gesetzt hatte, sagte die Stimme aufs neue: »Hast du vielleicht gar einen Meineid geschworen?« – Unwillkürlich erhob er das Haupt. Da war's ihm, als huschte ein grauer Schatten an ihm vorüber und streifte mit leisem Hauche seine Stirn.

Trotzig runzelte er die Brauen. »Und wenn ich selbst [147] falsch geschworen, geschah es nicht für sie?« Für einen Augenblick erfüllte eine wilde Freude seine Seele bei diesem Gedanken, aber schon im nächsten legte es sich mit dumpfem Drucke auf seine Brust und preßte ihm die Kehle zu und schnürte ihm Hände und Füße, so daß ihm zumute ward, als könnte er sich fürder nicht mehr bewegen.

Er hörte die eintönige Stimme der Redner, die ihre Plaidoyers begannen, aber er achtete nicht darauf. – Einmal nur fuhr er empor, als der Verteidiger mit seinem Schlüsselbund auf ihn wies und mit seiner dünnen, keifenden Stimme durch den Saal rief: »Und dieser Zeuge da, meine Herren Geschworenen, der sich nachts in höchst geheimnisvoller Weise in fremden Gärten umhertreibt und allerhand psychologisch gekünstelte Ausflüchte sucht, um die zarten Motive seines nächtlichen Abenteuers zu bemänteln, dürfen Sie ihm Glauben schenken, wenn er angibt, er habe plötzlich Schatten auftauchen und verschwinden sehen, – Schatten, die, glimpflich gesprochen, nur seinem überhitzten Hirne entstammen können? – Was wollte er in dem Garten, meine Herren Geschworenen? Ich überlasse es Ihrem Scharfsinn und Ihrer Lebenskenntnis, sich diese Fragen selber zu beantworten, und was den Zeugen anbelangt, so ist es seine Sache, seinen Eid und sein Gewissen zu befreunden.«

Da sank er vollends zusammen ...

Die Geschworenen sprachen ihr »schuldig,« Michel Raudszus wurde zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt.

In demselben Augenblicke, in dem der Präsident den Spruch des Gerichtshofes verkündete, hallte ein höhnisches Gelächter durch den Saal. – Es kam aus dem Munde Meyhöfers. Er hatte sich in seinem Stuhle aufgerichtet und streckte die gekrümmten Hände nach Douglas aus, als wollte er ihm an den Hals.

Als er hinausgetragen wurde, rief er in einem fort: »Die kleinen Brandstifter hängt man, die großen läßt man laufen.«

Unheimlich dröhnte das Gelächter des hilflosen Mannes durch die weiten Korridore. – – –

[148] 16

Der Winter kam und verging ... Die Heide schneite ein und grünte wieder ... Die Ranunkeln hoben ihre goldigen Häupter ... der Wacholder trieb seine zarten Sprossen, und vom blauen Himmel herab tönte Lerchengewirbel.

Nur in dem düsteren Heidehaus wollte es noch immer nicht Frühling werden. Wohl hatte Paul es möglich gemacht, das Korn zur Aussaat zu beschaffen, auch erhob sich bereits ein hölzerner Bau auf der Trümmerstätte, aber die Hoffnung auf bessere Zeiten war immer noch nicht eingekehrt. Dumpf und freudlos tat er seine Pflicht, und tiefer und tiefer gruben sich die Furchen in seine Stirn. Mehr denn je grübelte er in sich hinein, und die Sorge, einen Meineid geleistet zu haben, lastete schwer auf ihm.

Wohl Monate vergingen, ehe er sich klar wurde, daß sein Grämen nichts weiter war als müßige Tüftelei, die seinem verängstigten wortklauberischen Sinne entsprungen war. Er überlegte sich genau die Frage, die der Präsident an ihn gerichtet hatte, und fand, daß er nicht anders hätte antworten können. Es war ja in der Tat das erstemal gewesen, daß er in den fremden Garten gedrungen war. Was einst in einer wonnigen Mondnacht diesseits des Zaunes geschehen, was ging das die Herren vom Gerichte an?

»Nein, ein Meineidiger bin ich nicht,« sprach er zu sich, »ich bin nur ein Feigling, ein Pinsel, der vor dem bloßen Schatten einer Tat zurückschreckt. Hätte ich nicht stolz und freudig den falschen Eid schwören müssen um Elsbeths willen? Dann wäre ich doch etwas, dann hätte ich doch irgendwas getan, während ich nun stumpf und mutlos dahinlebe, ein Knecht und weiter nichts.«

Und in dem Hirne dieses Musterknaben stieg der glühende Wunsch auf, ein großer Verbrecher zu sein, nur weil es ihn drängte, sein »Ich« zu bestätigen. Die beiden Stunden, da er auf dem Dach und vor den Schranken gestanden, galten ihm jetzt als der Inbegriff irdischer Glückseligkeit, [149] und je mehr er arbeitete und schuf, desto träger und nutzloser erschien er sich nun.

Der Vater war noch immer an seinen Tragestuhl gefesselt, den er allem Anschein nach nicht mehr verlassen sollte, denn das gebrochene Bein war schlecht geheilt. Mürrisch und müßig saß er in seinem Winkel, blätterte stumpfsinnig in einem alten Kalender und schalt auf jeden, der ihm in den Weg kam. Nur vor Paul hegte er eine Art widerwilligen Respektes, er grollte in sich hinein, sobald er ihn sah, wagte aber nicht mehr, ihm offen zu widersprechen.

Und die Mutter!

Ein wenig müder war sie geworden, ein wenig stiller noch, sonst war wenig Veränderung an ihr wahrzunehmen, wer aber schärfer hinhörte, der vernahm in den Lüften ein Rauschen, als flöge ein Geier über dem Heidehause hin und her und zöge enger und enger seine Kreise, um sich eines Tages auf seinen Raub herabzustürzen.

Sie selbst hörte das Rauschen wohl, sie wußte auch, was es bedeutete, aber sie schwieg, wie sie ihr Lebtag geschwiegen hatte.

Und das Glück war noch immer nicht gekommen ...

Zu Anfang April legte sie sich nieder. »Allgemeine Schwäche« konstatierte der Arzt und empfahl ihr den Besuch eines Stahlbades. Sie lächelte und bat ihn, zu niemandem von dem Stahlbade zu reden, denn sie wußte, daß Paul sich zuschanden arbeiten würde, um ihr die Kur zu ermöglichen.

Die Kur, die doch nichts half! Sie wußte wohl, was ihr fehlte: der Sonnenschein! Zu dicht hatte Frau Sorge den düsteren Schleier um sie gebreitet, als daß ein Strahl noch in ihre Seele hätte dringen können.

Den Zwillingen oblag nun die Sorge um die Wirtschaft. Und flink ging ihnen die Arbeit vonstatten, das mußte selbst Paul gestehen. Wenn sie etwas zerschlagen hatten, lachten sie, und wenn ihnen ein Spaziergang verwehrt wurde, weinten sie, aber das Weinen schlug bald wieder in Lachen um, und der Tisch war nie so prompt bestellt, das Milchgeräte nie so blitzend blank gewesen.

[150] Die Mutter sah das wohl von ihrem Fenster aus und sagte: »Es ist gut, daß ich von dannen gehe – ich war auch zu nichts mehr nütze auf der Welt.«

Um die Pfingstzeit begann ihr der Schlaf zu fehlen, auch Fieber stellte sich ein ...

»Ach, wie ist das Chinin so teuer!« seufzte Paul, wenn der Knecht in die Apotheke ritt, und schaute hilfesuchend auf die »schwarze Suse«, aber die rührte sich nicht. Oft mußten die Ackerarbeiten eingestellt werden, damit durch den Torfstich ein paar Groschen in die Wirtschaft kämen.

Die Mutter fing an, an Beängstigungen zu leiden, und wünschte dringend, daß jemand nächtlich bei ihr wache. Die Zwillinge aber, die sich tagsüber müde gearbeitet hatten, schliefen abends an der Seite der Kranken ein und sanken wohl quer über ihrem Bette, so daß die alte, schwache Frau oft noch die blühende Last der jungen Leiber zu tragen hatte.

Paul schickte die Schwestern zur Ruhe und übernahm selber das Wachamt.

»Geh schlafen, mein Sohn,« sagte die Mutter, »du brauchst von uns allen die Rast am nötigsten.«

Aber er blieb – und in den Maiennächten, wenn draußen im Garten die Blüten flüsterten und der Fliederduft durch die Ritzen quoll, saßen die beiden oft stundenlang Hand in Hand und sahen sich an, als ob sie sich wunder was zu sagen hätten. So war es schon immer zwischen Mutter und Sohn gewesen. Die Fülle ihrer Liebe suchte nach Worten, aber die Sorge hatte ihnen die Sprache geraubt.

Morgens, wenn die Sonne aufgegangen war, tauchte er den Kopf in eiskaltes Wasser und ging an die Arbeit. –

Seine Gegenwart gab der Mutter soweit den Frieden, daß sie dann und wann zu schlafen vermochte. Alsdann schlich er sich auf Zehenspitzen in seine Kammer und holte die physikalischen Bücher herunter, in denen so gelehrt und unverständlich die Konstruktion der Dampfmaschinen beschrieben war. Sein Kopf, müde vom vielen Wachen und jeder Geistesarbeit entwöhnt, erfaßte nur [151] schwer den Sinn der dunklen Worte – aber – er hatte ja Zeit, und unentwegt arbeitete er fort, Seite um Seite, wie wenn ein Ackersmann ein steiniges Brachfeld pflügt.

Schlug die Mutter die Augen auf, so fragte sie: »Wie weit bist du, mein Sohn?«

Und dann mußte er ihr erzählen, und sie tat so, als verstände sie etwas davon.

Fragte sie aber: »Und wozu tust du das?,« dann machte er ein schlaues Gesicht und sagte: »Ich lerne Goldmachen.«

»Mein armer Junge,« erwiderte sie und streichelte seine Hand.

Eine Nacht war's – gleich nach den Pfingstfeiertagen – da konnte sie wieder nicht einschlafen.

»Lies mir aus den gelehrten Büchern vor,« sagte sie, »die sind so hübsch langweilig. Vielleicht fallen mir dabei die Augen zu.«

Und er tat, wie sie geheißen, aber als er wohl eine Stunde gelesen hatte, bemerkte er, daß sie ihn mit großen fieberglänzenden Augen anstarrte und dem Einschlafen ferner war als je.

»Also daraus willst du Gold machen?« fragte sie.

»Ja, Mutter,« erwiderte er betreten, denn die Wiederkehr des Fiebers ängstigte ihn.

»Wie willst du das anfangen?«

»Du wirst schon sehen,« sagte er wie gewöhnlich.

Aber diesmal ließ sie sich nicht abtrösten. »Sag's mir lieber, mein Junge,« bat sie, »sag's mir gleich ... Wer weiß, was geschieht? ... Ich möchte wenigstens 'ne Kleinigkeit für mich zum Trösten haben, bevor ich einschlafe.«

»Mutter,« rief er erschrocken.

»Sei ruhig, mein Junge,« sagte sie, »was liegt daran? Aber erzähl' mir – erzähl!« Sie bat, wie in aufsteigender Angst, als könnte es in der nächsten Minute zu spät sein.

Mit stockendem Atem und wirren Worten sprach er von dem, was ihm vorschwebte, wie er die »schwarze Suse« zum Leben erwecken wollte, so daß das Moor ausgeschöpft [152] werden könnte bis in seine tiefsten Tiefen – aber mitten im Reden überwältigte ihn die Angst, er stürzte schluchzend vor dem Bette auf die Knie und verbarg das Gesicht an ihrer Brust.

Sie hieß ihn sich aufrichten und sagte: »Es ist nicht recht von mir, daß ich dich bange gemacht habe. So Gott will, kann ja noch alles anders kommen. – Was du mir da sagst, hat mir große Freude bereitet. – Ich weiß, wenn du was in die Hand nimmst, läßt du's so bald nicht fallen. Ich wünschte nur, ich könnt's noch erleben.«

So sprach sie ihm leise und unbemerklich wieder Mut ein, da sie für sich selber nichts mehr zu hoffen hatte.

In einer anderen Nacht, als er übermüdet auf dem Stuhle eingeschlafen war, rief sie seinen Namen.

»Was wünschst du, Mutter?« fragte er auffahrend.

»Nichts,« sagte sie. »Verzeih mir, ich hätte dich sollen ruhen lassen. – Aber, wer weiß, wieviel wir miteinander noch reden werden – ich möchte die Zeit gerne ausnutzen.«

Er war dieses Mal allzu schlaftrunken, um den Sinn ihrer Worte zu verstehen. Er setzte sich dichter neben sie und faßte ihre Hand, aber die Augen fielen ihm sogleich wieder zu.

Sie glaubte ihn wachend und fing an zu reden: »Ich bin einmal ein sehr lustiges junges Ding gewesen, nicht viel anders wie deine Schwestern ... Das Herz hat mir vor Jubel fast zerspringen wollen, und meine Augen haben immer in die Ferne geschaut, als müßte von dort irgend etwas ungeheuer Schönes dahergefahren kommen – ein Prinz oder sonstwas derart. Einmal hab' ich auch zu lieben angefangen – mit der anderen Liebe, der großen, der himmlischen, die wie das Schicksal über einen kommt. Aber er hat mich nicht haben wollen – er war schlank und blond und hatte eine Warze auf dem Kinn. Die Warze hab' ich immer küssen mögen, aber ich bin nie dazu gekommen. – – Er sah meine Liebe wohl, und eines Tages, als er besonders übermütig war, hat er mich in den Arm genommen und hat mich geherzt und dann wieder [153] laufen lassen. – – Ich war aber fröhlich und freute mich, daß er mich doch einmal im Arm gehalten.«

Sie hielt inne. Ihr Auge leuchtete, ihre Wangen überfloß ein rosiger, fast mädchenhafter Schimmer – sie hatte sich wunderbar verjüngt. Da sah sie, daß er eingeschlafen war, und traurig schwieg sie stille.

Als er erwachte, sagte er: »Mir war so, Mutter, als ob du mir was erzähltest.«

»Du hast wohl nur geträumt,« sagte sie und lächelte, aber ihre Gedanken waren inzwischen weiter und weiter gewandert durch ihr ganzes Leben hin und hatten aus allen Winkeln die Restchen der Freude hervorgekehrt, die sich allda verkrochen.

»Ich weiß eigentlich nicht,« sagte sie, »warum ich mein Lebtag so traurig gewesen bin. Wenn ich zurückdenke, ein großes Unglück ist mir eigentlich niemals passiert. Zwar schön war es nicht, als wir von Helenental heruntermußten, und als ich die Stube von der brennenden Scheune blutrot beleuchtet sah, war mir der Schreck schlimm genug in die Glieder gefahren, aber im großen ganzen hab' ich's doch immer recht gut gehabt. – Ich hab' euch Kinder alle großgezogen und kein einziges durch den Tod verloren – zu essen und zu trinken haben wir auch immer gehabt. – Der Vater hat zwar manchmal gebrummt, aber das ist nicht anders in der Ehe, das wirst du selbst einmal erleben. – – Ihr Kinder habt mich alle liebgehabt. – Ihr Jungen seid tüchtige Männer geworden, und die Mädchen werden tüchtige Frauen werden, so Gott will und du sie nicht aus den Augen läßt. Was will ich denn nun eigentlich?«

Und so quälte dieses arme, allmählich zu Tode gemarterte Weib sich ab, um zu erfahren, wodurch es zu Tode gemartert worden. Langsam lüftete Frau Sorge den Schleier von ihrem Haupte, damit der Tod ihr ins Antlitz hauchen könne.

Und eines Abends starb sie ... Die Augen fielen ihr zu, sie wußte selbst nicht wie. Der Arzt, der noch gerufen wurde, sprach von Entkräftung, Anämie; nur die [154] Empfindsamen sagen in solchen Fällen: »Sie starb an gebrochenem Herzen.«

Bitterlich weinend knieten die Zwillinge an ihrem Bette, der Vater, der in seinem Stuhl hereingetragen worden, schluchzte laut und wollte sie mit Gewalt ins Leben zurückrufen ... Paul stand zu Kopfenden des Bettes und biß sich auf die Lippen.

»Ich hab' doch recht behalten,« dachte er, »sie ist gestorben, eh' das Glück gekommen ist. Hungrig hat sie von der Mahlzeit des Lebens aufstehen müssen, ganz wie ich es sagte.«

Er wunderte sich, daß er keinen so großen Schmerz empfand, wie er es sich vorgestellt hatte. Nur die wirren Gedanken an allerhand dummes Zeug, die ihm fortwährend durch den Kopf schossen, wie Fledermäuse durch die Dämmerung, zeigten ihm, wie es mit seinen Sinnen bestellt war.

Es schlug Mitternacht, da sagte der Vater: »Wir wollen zur Ruh' gehn, Kinder ... Wer schlafen kann, der schlafe ... Schwere Tage stehen uns bevor.«

Er umarmte die Zwillinge, schüttelte Paul die Hand und ließ sich in sein Zimmer tragen.

»Wie gut der Vater heut ist!« dachte Paul, »er ist zu ihren Lebzeiten nie so gewesen.« Die Schwestern klammerten sich schluchzend an seinen Hals und verlangten, daß er bei ihnen wache. Sie hätten solche Furcht.

Paul redete ihnen tröstend zu, geleitete sie in ihre Kammer und versprach, in einer Stunde nach ihnen sehen zu kommen.

Als er nach dieser Frist mit einem Lichte in der Hand leise an ihr Bette trat, fand er sie fest eingeschlafen. Sie hatten sich eng umschlungen, und auf ihren roten Wangen standen noch die Tränen.

Dann ging er an die Tür von Vaters Zimmer, um zu horchen, und als er auch hier keinen Laut vernahm, schlich er sich auf den Zehenspitzen in das Gemach, in dem die Tote ruhte. Er wollte zum letztenmal an ihrer Seite Wache halten.

[155] Die Schwestern hatten beim Schlafengehen ein weißes Tuch über ihr Antlitz gebreitet, das nahm er hinweg, faltete die Hände und sah zu, wie der flackernde Schein des Lichtes auf ihren wächsernen Zügen spielte. Sie hatten sich wenig verändert, nur das blaue Adergeäst in den Schläfen trat stärker hervor, und die Augenwimpern warfen tiefere Schatten auf die abgezehrten Wangen.

Er zündete die Nachtlampe an, die während ihrer Krankheit allnächtlich an ihrem Lager gebrannt hatte, setzte sich auf den Stuhl, auf dem er sonst gesessen, und gedachte eine stille Totenandacht zu halten.

Aber plötzlich fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, nach dem Tischler zu schicken, damit er zeitig käme, Maß zu nehmen. – Ein schlichter Tannensarg sollte es sein – schwarz angestrichen – und ringsum eine Girlande von Erikazweigen, denn sie hatte das stille, zarte Pflanzenwesen vor allen andern geliebt.

»Was wird der Sarg wohl kosten?« dachte er weiter, und plötzlich erschrak er in tiefster Seele, denn er hatte nichts, wovon er die Tote begraben konnte. Er fing an zu zählen und zu rechnen, aber er konnte zu keinem Abschlusse kommen.

»Es ist das erstemal, daß sie für ihre Person etwas braucht,« sagte er leise vor sich hin und gedachte des verschossenen Kleides, das sie jahraus, jahrein getragen hatte.

Er rechnete alles zusammen, was er an Außenständen in Eile wohl eintreiben konnte, aber die Summe war klein und bei weitem nicht genügend, die Begräbniskosten zu bestreiten. Auch die drei Fuder Torf, die er morgen und übermorgen allenfalls nach der Stadt schicken konnte, vermochten daran nichts zu ändern.

Darauf nahm er ein Blatt Papier vor und fing an, die Kosten zusammenzuzählen:


Ein Sarg15 Taler
Der Platz auf dem Kirchhof10 Taler
Dem Küster 5 Taler
Das Linnen zum Totenhemde 2 Taler

[156] Dann die Kosten des Begräbnisses, das der Vater wahrscheinlich so großartig wie möglich hergerichtet wissen wollte:


10 Flaschen Portwein 10 Taler
1 Kiste Zigarren 2 Taler
2 Achtel Bier 2 Taler

Zutaten für den Kuchen ... das Weizenmehl war zwar im Hause, aber Zucker, Rosinen, Mandel, Rosenwasser usw. mußten neu beschafft werden. Wieviel würde das wohl ausmachen? Er rechnete eifrig, aber die Taxe wollte nicht stimmen. »Die Mutter wird's schon wissen,« dachte er, und eben wollte er sie um Rat fragen, da – sah er, daß sie tot war.

Er erschrak heftig. Erst jetzt, da seine Phantasie sie wieder lebendig gemacht hatte, begriff er, daß er sie verloren. – Er wollte laut aufschreien, aber er bezwang sich, denn er mußte weiterrechnen.

»Verzeih mir, Mütterchen,« sagte er, mit der Rechten ihre kalten Wangen streichelnd, »ich kann noch nicht um dich trauern, ich muß dich erst unter die Erde bringen.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Drei Tage später sollte das Begräbnis stattfinden.

Wie Paul vorausgesehen, hatte der Vater es sich nicht nehmen lassen, eine große Festivität zu veranstalten. An alle seine Freunde in der Stadt hatte er Einladungen gesandt, auf schönem Glanzpapier mit fingerbreitem Trauerrande. – Seinem Schmerze hatte er darin in schönen, wohlgewählten Worten Ausdruck gegeben, auch nirgends versäumt, seinen Namenszug mit einem weitausgreifenden Schnörkel zu versehen.

Am Wachtabend, als die Leiche eben aufgebahrt worden, trafen die beiden Brüder ein. Sie waren seit vielen Jahren nicht daheim gewesen, und Paul hätte sie beinahe nicht wiedererkannt. Gottfried, der Gymnasiallehrer, ein würdiger Mann mit strengem Gesichtsausdruck und dem Ansatz zu einem Bäuchlein, führte eine junge, schwarzbeflorte Dame am Arm, seine Braut, die mit verwundertem Blicke die niedrigen, ärmlichen Räume [157] maß und sich bemühte, eine ebenso freundliche wie schmerzbewegte Miene zu zeigen, da ihre Lage beides von ihr verlangte ... Max, der Kaufmann, kam hintendrein. Er sah ein wenig locker aus, sein kecker Schnurrbart wollte sich vergebens in die Gemütsverfassung eines frischverwaisten Sohnes hineinzwängen, und seine Trauer äußerte sich weniger in Schmerz als in Unbehagen.

Beide Brüder umarmten den Vater feierlich, und die fremde junge Dame neigte sich hernieder und küßte ihm erst die Hand und dann die Stirne. – Alsdann begrüßten sie die Zwillinge, die in ihren Trauerkleidern frischer und lieblicher dreinschauten denn je. – Paul, der an der Türe stand und verlegen seine Mütze drehte, hatten sie übersehen.

Endlich fragte Gottfried: »Wo ist unser Bruder?« Da trat er schüchtern vor und reichte ihm die Hand ...

Drei Augenpaare maßen ihn prüfend ...

»Wär' ich doch erst draußen!« dachte er, und sobald es anging, machte er sich in dem Stalle zu schaffen.

Gottfried folgte ihm dorthin. Paul erschrak, als er ihn kommen sah, denn er wußte nicht, was er mit dem vornehmen Mann reden sollte.

»Lieber Bruder,« sagte jener, »ich habe eine Bitte an dich. Kannst du meiner Braut nicht ein freundlicheres Logis verschaffen? Sie fühlt sich ein wenig beengt in der Kammer der Mädchen.«

»Ich werde ihr mein Giebelzimmer einräumen,« sagte Paul.

»Du würdest mich zu Dank verpflichten, wenn du es tätest.«

Dann richtete er noch etliche Fragen an ihn über die Leiden der Mutter, über den Viehstand und über die Hypotheken, die auf dem Grundstück lasteten.

»Ihr Armen,« sagte er, »habt wohl manche Sorgen gehabt. Aber hast du es dir auch angelegen sein lassen, die letzten Tage unserer seligen Mutter so viel als möglich zu erleichtern?«

Paul versicherte, er hätte getan, was in seinen Kräften gestanden.

[158] »Das freut mich,« erwiderte der Bruder in strengem Tone, »es wäre eine schwere Pflichtversäumnis gewesen, wenn du es unterlassen hättest. – Und nun komm, laß uns gemeinsam vor die Leiche der Verklärten treten, damit sie vom Himmel herab die Ihren all beieinander schaue.«

Er bot Paul die Hand und zog ihn in das Zimmer, in dem die Mutter friedlich zwischen Blumen und Lichtern ruhte und wo die andern schon versammelt waren.

Paul blieb beklommen in der Tür stehn. Er hätte viel darum gegeben, hätte er für einen Augenblick mit der Toten allein sein können, da es aber nicht anging, schlich er sich leise hinaus und schaute von draußen durch das Fenster, wo die fremden Gaffer aus dem Dorfe standen, als wäre er einer von ihnen ...

Eine Weile später kam Max zu ihm und führte ihn vertraulich beiseite.

»Ich habe eine Bitte an dich, lieber Junge,« sagte er, »die Kehle ist mir ganz ausgetrocknet vom Wegstaub und vom Weinen. Kannst du mir nicht einen Schluck Bier verschaffen?«

Paul erwiderte, es wären wohl zwei volle Achtel da, die sollten aber erst morgen zur Begräbnisfeier angesteckt werden.

»Gib mir nur immer den Kran,« antwortete Max, »ich verstehe mich darauf. Das Bier im Achtel wird morgen so frisch sein wie heute.«

Und als Paul ihm seinen Willen getan, drehte er ihm den Rücken und ging von dannen.

Um elf Uhr wurden die Kerzen am Sarge ausgelöscht man begab sich zur Ruhe.

Paul fand, daß kein Bett mehr für ihn übrig war, und kletterte auf den Heuboden, wo er die Nacht über grübelnd aufrecht saß ...

Um zehn Uhr morgens fanden sich die ersten Gäste ein, und zwar solche, die weder zugesagt hatten noch überhaupt erwartet wurden. Als Paul sie kommen sah, war [159] sein erster Gedanke: »Hab' ich auch genug Essen und Trinken besorgt?« und je mehr Wagen auf den Hof gerollt kamen, je mehr wildfremde Männer den Seinen die schwarzbehandschuhten Hände entgegenstreckten, desto höher schwoll seine Angst, desto lauter klangen die Worte ihm ins Ohr: »Es wird nicht reichen!«

Der Vater hatte heute wieder einmal seinen großen Tag. Er saß in seinem Tragesessel wie auf einem Throne – seine beiden ältesten Söhne wie Vasallen um sich her – und ließ sich in seinem Schmerze bewundern.

Wenn ein neuer Gast auf ihn zutrat, preßte er die dargebotene Rechte mit seinen beiden Händen, als ob er derjenige wäre, welcher zu kondolieren hätte, neigte gramvoll das Haupt und sprach mit schmerzerstickter Stimme abgebrochene Worte, wie: »Ja, sie ist dahin! – Hin ist hin! – – Es gibt keinen Balsam für die Wunden des Herzens! – Möge der Himmel an ihr gutmachen, was die Erde verschuldete,« und dergleichen mehr.

Dazwischen rief er zu Paul: »Mein Sohn, du sorgst nicht für Wein! – Mein Sohn, Herr Wegmann wünscht eine Zigarre! – Mein Sohn, denke daran, daß unsere Gäste sich erlaben.«

Paul lief von einem zum andern, gleich einem Kellner, zählte voll Angst die Flaschen, die sich mit rapider Hast verringerten, und beneidete die Schwestern, die sich in ihren schönen, schwarzen Kleidern ruhig in eine Ecke setzen und von Herzen ausweinen durften, während die fremde Schwägerin sie tröstete. – An die Trauerkleider hatte er in seiner Berechnung gar nicht gedacht, und es war ein Glück, daß der Kaufmann sie ihm gutschrieb, sonst hätten die Schwestern sich nicht sehen lassen dürfen.

Er selbst sah in seinem unscheinbaren grauen Anzug gar nicht wie ein Leidtragender aus, und die meisten der Gäste, die ihn nicht kannten, gingen ruhig an ihm vorüber und nahmen nur Notiz von seiner Existenz, wenn er ihnen Wein und Zigarren anbot.

Auf dem Hofe hatte sich eine Anzahl fremder Frauen eingefunden, die die Mutter ihres stillen, schlichten [160] Wesens halber lieb gehabt hatten und sich dem Zuge anschließen wollten, ohne daß sie zur Trauergesellschaft gehörten.

Der Feldherrnblick des Vaters hatte sie alsbald entdeckt.

»Paul, mein Sohn,« rief er, »geh hinaus und nötige die Damen ins Trauerhaus.«

Zögernd folgte Paul dem Befehle, denn er wußte nicht, wie er die Einladung in Worte kleiden sollte. Als er auf die Schwelle trat, fiel sein erster Blick auf Elsbeth, die in einfachem Trauerkleide unter den Frauen des Dorfes stand und einen Kranz von weißen Rosen trug. Und als sie ihn sah, füllten sich ihre Augen mit Tränen.

Für einen Augenblick war ihm zumute, als sollte er den Kopf in die Falten ihres Kleides pressen, um sich dort auszuweinen, aber daneben standen die andern und starrten ihn an. Er machte eine linkische Verbeugung und sagte: »Der Vater läßt bitten – ob Sie die Tote nicht sehen möchten.«

Die Frauen schoben sich langsam in das Innere, nur Elsbeth zögerte noch.

»Kommst du nicht auch herein?« fragte er.

»Mein armer, lieber Paul,« sagte sie und ergriff seine Hand.

Er schloß die Augen und taumelte zwei Schritte zurück.

»Komm doch,« sagte er, sich wieder fassend, »sieh sie dir an, sie hat dich ja immer so lieb gehabt.«

»Paul, mein Sohn, wo bist du?« hallte die Stimme des Vaters aus dem Innern.

»Paul,« sagte sie stockend unter quellenden Tränen, »du sollst nicht verzagen, es gibt noch andre, die dich – lieb haben.«

»O ja,« sagte er, »ich weiß wohl – aber komm – ich muß Wein einschenken.«

Sie seufzte tief auf, dann ging sie schüchtern hinter ihm drein und mischte sich wieder unter die fremden Frauen.

»Paul, komm her!« winkte der Vater, der sich heute [161] in seine alte Macht zurückzuträumen schien, und als Paul den Kopf zu ihm niederbeugte, flüsterte er ihm ins Ohr: »Ich höre, der Wein ist alle? Was heißt das? Willst du uns blamieren?«

»Ich glaub', es sind noch ein paar Flaschen da,« antwortete Paul.

»Sorg, daß sie reichen, bis der Pfarrer kommt; den Frauen mußt du aber auch ein Glas geben, hörst du?«

»O, käme doch der Pfarrer bald!« seufzte Paul und mühte sich ab, die Gläser nur halb voll zu schenken.

Und endlich war der Pfarrer da. Die Gesellschaft drängte sich ihm nach in das Zimmer, in dem die Tote aufgebahrt lag. – Der ganze Raum war gebadet in Sonnenglanz, und durchbrochene Lichter, die ihren Weg durch das leise sich neigende Lindengeästel genommen hatten, spielten lustig auf dem marmorbleichen Angesicht.

Paul half den Stuhl des Vaters an das Kopfende des Sarges tragen, dann zog er sich in einen stillen Winkel zurück, wo er die Trauergesellschaft im Rücken hatte und sich ein wenig ausruhen konnte, denn er war müde vom vielen Herumlaufen.

Aber man ließ ihn nicht zu sich selber kommen. »Wo ist der jüngste Sohn?« fragte der Pfarrer, der die ganze Familie um sich versammelt haben wollte.

»Paul, mein Kind, wo bist du?« rief der Vater.

Da mußte er hervortreten und erhielt seinen Platz dicht hinter dem Sargende, neben dem Stuhle des Vaters.

Durch die Trauergesellschaft ging ein Murmeln, und einige sahen sich bedenklich an, als wollten sie sagen: »Also, das ist auch ein Sohn? – Dann haben wir ja einen Verstoß gemacht.«

Auch dem Pfarrer war das Spiel der Sonnenlichter aufgefallen, und er nahm es zum Thema seiner Rede. Wohl glänze unsere Erdensonne hell und freudenhaft, aber das sei noch gar nichts – das sei die pure Finsternis, verglichen mit dem himmlischen Sonnenschein. Alsdann pries er die Tote und pries auch die Hinterbliebenen, vornehmlich den treuen Gatten und die beiden ältesten Söhne als [162] die stolzen Grundpfeiler des Hauses; nicht minder fiel für Paul ein Brocken ab als den Kämmerer, den sein Herr getreu gefunden bis zum Tode.

Schade nur, daß er von dem honigsüßen Lobe nichts vernahm! Ganz gedankenlos starrte er vor sich hin. Sein Blick heftete sich auf die seidene Schleife, die von der Haube der Mutter emporragte und die sich leise bewegte, wenn der Windzug, der durch die fuchtelnden Arme des Pfarrers entstand, darüber hinstrich. – So glich sie einem weißen Schmetterlinge, der die Fittiche regt, um sich in die Lüfte zu erheben.

Dann wurde ein Choral gesungen und der Deckel auf den Sarg gehoben. – In diesem Augenblick ertönte aus den hinteren Reihen ein markerschütternder Schrei: »Mutter, Mutter!«

Erschrocken und verwundert wandten sich alle um. Elsbeth Douglas war es, die ihn ausgestoßen. Nun lag sie ohnmächtig in den Armen ihrer Nachbarin.

Paul verstand sie wohl. Sie hatte des Augenblicks gedacht, da man der eigenen Mutter den schwarzen Deckel über das tote Antlitz legen würde. Und er schwor sich zu, ihr alsdann treu und tröstend zur Seite zu stehen. Auch der Vater schaute auf, und in seinen Zügen malte sich deutlich die Frage: »Ist die auch hier?«

Elsbeth wurde in ein Nebenzimmer gebracht, und zwei der Frauen blieben bei ihr, bis sie sich erholt haben würde. Der Sarg aber schwankte, hoch empor gehoben, durch die Tür hinaus, bis er auf dem Leichenwagen Ruhe fand.

Paul griff nach seiner Mütze. Da drängte sich Gottfried an seine Seite und steckte ihm etwas Schwarzes, Weiches in die Hand.

»Binde dir wenigstens diesen Flor um den Arm,« flüsterte er ihm zu.

»Weshalb?«

»Man könnte glauben, daß du keine Trauer tragenwolltest.«

Paul erschrak bei diesem Gedanken und tat, wie ihm geheißen. Hinterher grämte er sich, daß er sich von seinem [163] Bruder hatte beschämen lassen müssen, und erst viel später wurde ihm klar, wer von ihnen beiden die größere Trauer getragen.

Der Friedhof lag einsam mitten auf der Heide. Drei einzeln stehende Fichtenbäume verkündeten ihn weit hinaus, und am Rande des Walles, der ihn umgab, blühten dichte Dornenhecken.

Dorthin ging der traurige Zug. Die Söhne folgten gleich hinter dem Sarg, der Vater mit den Zwillingen weiter hinten in einem Wägelchen.

Paul starrte vor sich nieder; dachte an den Sand, in dem er watete ... an den Wein ... an Elsbeth ... an Vaters Tragestuhl ... und an den Erikakranz, der sich halb vom Sarge gelöst hatte und hinterdreinhing. Er nahm sich vor, wohl aufzupassen, daß er nicht mit in die Gruft hinabgesenkt würde.

Am Grabe fühlte er nichts wie ein heftiges Brennen in den Schläfen, und während der Pfarrer den Segen sprach, fiel ihm plötzlich ein, daß er statt des Weines ganz ruhig hätte Bier verschenken können. Alsdann mußte er auf die Zwillinge achtgeben, die in ihrem Schmerze Dummheiten machten und dem Sarge nachspringen wollten. Er nahm sie in seine Arme, küßte sie und hieß sie den Kopf an seine Schultern legen. Sie taten es, schlossen die Augen und atmeten wie im Schlafe.

Als die ersten Erdschollen auf den Sarg niederkollerten, hatte er ein widriges Gefühl, als rolle man in seinem Kopfe Kegelkugeln in die Runde, und als der Hügel in fahler Nacktheit sich zu erheben begann, dachte er: »Hier muß morgen schon grüner Rasen drum herum ...«

Die Menge verlief sich, der Vater wurde zu seinem Wagen zurückgetragen, und die drei Söhne machten sich zu Fuß auf den Heimweg. Max und Gottfried sprachen in leisem, feierlichem Tone von ihren frühesten Erinnerungen an die Verblichene, Paul aber schwieg stille und dachte: »Gott sei Dank, daß ich sie unter der Erde hab'!«

Noch immer raste die krankhafte Geschäftigkeit in seinem Hirn, noch immer hatte er nicht begriffen, nicht begreifen [164] wollen – – – doch als er nun den Hof betrat, der mit seinem schindelgedeckten Stalle und seinen Brandspuren grau und trostlos vor ihm lag, da kam es plötzlich mit der Gewalt eines Blitzstrahls wie eine funkelnagelneue Erkenntnis über ihn: »Die Mutter ist fort!«

Er drehte sich um, griff mit den Händen in die Luft, und, wie vom Blitze getroffen, sank er zu Boden ...

[165] 17

Der Sommer verging, mit seinen Nebelgewändern kam der Herbst über die Heide geschlichen. – Rote Sonnenstrahlen wanderten müde am Waldesrande vorbei, und die Erika senkte ihr purpurfarbenes Haupt. – Um diese Zeit begann auf dem Heidehof, der stiller dagelegen als je bisher, ein seltsames Tönen. Wie Hammerschlag und Glockenklang zugleich hallte es weit über die Heide in streng abgemessenen Takten, bald schriller, bald dumpfer, aber nie ohne melodischen Nachklang, der langsam in den Lüften verzitterte.

Die Bewohner des Dorfes blieben verwundert auf der Straße stehen. Einer fragte: »Was mag bei Meyhöfers los sein?«

Und der andre sagte: »Es klingt fast, als hätt' er sich eine Schmiede gebaut.«

»Sein Glück wird er nicht schmieden,« sagte ein dritter, und lachend gingen sie auseinander.

Der Vater, der wie gewöhnlich gähnend und mürrisch in seinem Winkel saß, war beim ersten Klange hoch emporgefahren und hatte die Zwillinge gerufen, daß sie ihm Rede ständen. Allein die wußten auch nichts weiter, als daß heute in der Frühe ein Handwerker mit Feilen und Hämmern und Lötzeug aus der Stadt gekommen sei, mit dem Paul, allerhand Pläne und Zeichnungen in der Hand, eine lange Unterredung gehabt habe. Sie liefen schleunigst nachzusehen, und was sie fanden – – –: Hinter dem Schuppen stand die »schwarze Suse«, mit einem Holzgerüst umkleidet, wie eine Dame in ihrer Krinoline, und auf dem Gerüst kletterten Paul und der Handwerker eifrig umher, klopften, guckten und schroben an den Nieten.

Verwundert schauten die Zwillinge einander an, denn sie ahnten, daß hier etwas Großes sich vorbereite, doch dem Vater Kunde zu bringen, hielten sie nicht für nötig; sie erinnerten sich, daß zwei kleine Briefchen, die sie geschrieben hatten, durch das Dienstmädchen eilig [166] und geheimnisvoll zum Postamte befördert werden mußten.

Paul aber stand hoch oben auf dem rundlichen Leibe der »schwarzen Suse«, an den schlanken Schlot gelehnt, und schaute sehnsuchtsvoll nach dem Moore hin, wie ein Kolumbus, der eine neue Welt entdecken will.

Der erste Schritt des kühnen Weges war getan. – In den langen, schlaflosen Nächten, die dem Tode der Mutter folgten, wenn der Schmerz mit ehernen Pranken seine Seele umklammerte, dann hatte er vor dem klagenden Bilde der Verblichenen sich in seine Bücher hineingeflüchtet. Wie ein Maulwurf grub er sich seine Wege durch die dunkeln Theorien, und wenn der Kopf ihm sauste, wenn der Leib ihm erschlaffen wollte von der aufreibenden Geistesarbeit, dann rief er sich zu: »Ihre letzte Hoffnung soll nicht zuschanden werden.« – Dann streckten sich seine Glieder, den Kopf durchfuhren Blitze der Energie, und weiter und weiter ging's in rastlosem Schaffen, bis der Wirrwarr des eisernen Rätsels sich in ein Spiel von Harmonie verwandelte, bis jeder Hebel ein Muskel, jede Röhre ein Äderchen ward, ersonnen nach weisestem Plane, wie der Menschenleib von dem Geiste des ewigen Schöpfers.

Wochen und Monde gingen darüber hin. So ganz vertiefte sich sein Sinn in Erkenntnisdurst und Schaffensdrang, daß alles, was ihn sonst bewegte, schattenhaft in die Ferne schwand. Das Bild der Mutter wurde stiller und friedlicher und begann zu lächeln; wie von unsichtbaren Geistern getragen, häufte die Ernte sich in der Scheuer, und als eines Tages das letzte Bündlein Hafer vor dem Schober abgeladen wurde, da schlug er sich mit der Hand vor den Kopf wie ein Träumender und sagte: »Mir ist's, als hätt' ich gestern nur die erste Ähre gesehen.«

Je mehr aber seine Erkenntnis sich ründete und reifte, desto höher schwoll in seiner Seele die Angst um das Gelingen. Als er nach einem Schlosser schrieb, hatte er ein Herzklopfen wie ein Kandidat vor dem Examen. Sein Tun scheute das Licht, als wär's ein Frevel, denn er fürchtete [167] das Ausgelachtwerden. Erst das Klopfen des tastenden Hammers rief die Kunde in die Welt.

Der fremde Meister mußte mit am Herrentische niedersitzen, und der Vater gab ihm seine Mißbilligung dadurch zu erkennen, daß er ihm den Gruß verweigerte und allerhand von Narren und Schmarotzern in den Teller hineinmurmelte.

Aber niemand kehrte sich daran, und die Arbeit nahm ruhig ihren Fortgang.

Nach Pauls Weisungen wurde die Maschine auseinandergenommen und bis in ihre kleinsten Teile hinein geprüft. Die Fehler, die ein Techniker vom Fach auf den ersten Blick erkannt haben würde, mußten diese beiden Männer erst mühsam suchen und einander klar machen. Oft gab es stundenlange Dispute zwischen ihnen wie in einer Ratsversammlung.

Einmal fragte der Meister ungeduldig: »Warum zum Teufel haben Sie das Ding in keine Reparaturwerkstatt geschickt?«

Paul erschrak. Freilich, das war ein Gedanke! Heute schien er ihm nagelneu, und doch war er ihm früher schon oft zu Sinn gekommen. Aber er hatte ihm niemals Raum geben mögen, er schien ihm zu keck, zu lächerlich – auch hatte er zu große Angst, daß man ihm die »schwarze Suse« als unverbesserlich zurückschicken werde. Es ging ihm wie jenem Weib aus dem Volke, das ihren Mann lieber selbst zu Tode kurieren wollte, als daß es sich von einem Arzte sagen ließe: »Er ist unrettbar.«

Wenn es dunkel geworden war und der Meister samt den Knechten Feierabend gemacht hatte, pflegte er noch ein Stündchen auf der Werkstätte herumzustöbern, ohne Zweck und Ziel eigentlich, nur weil er die »schwarze Suse« nicht verlassen wollte. Am liebsten hätte er bis zum Morgen als Nachtwächter neben ihr gestanden. Gerne mochte er hierbei eine Zeichnung oder ein paar seiner Bücher unter den Arm nehmen, ebenfalls ohne Zweck, denn es war ja finster – er wollte nur alles hübsch beieinander haben. Das geschah in der größten Heimlichkeit, denn niemand hatte eine festere [168] Überzeugung davon, daß Paul ein vollkommener Narr war, als Paul selber.

Eines Abends, als er im Dunkeln nach einem Buche kramte, das er mit hinunternehmen könnte, fiel ihn in dem hintersten Winkel seiner Schublade etwas Längliches, Rundes in die Hand, das fein in Seidenpapier gehüllt war.

Er fühlte in der Finsternis, wie er errötete. Es war Elsbeths Flöte. Wie war es nur möglich, daß er ihrer und der Geberin so selten gedacht hatte? Das Schattenreich seines Schmerzes hatte die lichte Gestalt verschlungen, die ihm an jenem dunkelsten der Tage zum letztenmal erschienen, nun war sie ihm über allem Sorgen und Mühen selber zum Schatten geworden. Im ersten Momente vermochte er kaum, sich ihre Züge vor die Seele zu rufen, erst allgemach erstand ihr Bild aufs neue in seinem Innern.

Er nahm die Flöte statt des Buches unter den Arm, schlich sich hinter den Schuppen und setzte sich auf den Dampfkessel. – Neugierig tastete er an den Klappen herum, er setzte auch das Mundstück an die Lippen, aber er wagte nicht einen Ton hervorzubringen, denn er wollte niemanden aus dem Schlafe stören.

»Es wäre wohl schön,« sagte er vor sich hin, »wenn ich allerhand liebliche Melodien blasen und dabei an Elsbeth denken könnte. Ich würde mich dann wieder einmal mit ihr aussprechen können und wissen, daß ich auch für mich selber auf der Welt bin! Aber bin ich denn für mich selber auf der Welt?« fragte er, indem er sinnend eine Kurbel erfaßte. »Wie diese Kurbel sich dreht und dreht, ohne zu wissen, warum? und für sich selber nichts ist wie ein totes Stück Eisen, so muß ich mich auch drehen und drehen und nicht fragen: warum? – – Es soll ja Menschen auf der Welt geben, die das Recht haben, für sich selber zu leben und die Welt nach ihren Wünschen zu bilden, aber die sind anders geartet wie ich, die sind schön und stolz und kühn, und um sie herum scheint immer die Sonne. Die dürfen sich auch die Freude erlauben, ein Herz zu haben und nach diesem Herzen zu handeln. Aber ich – ach, du lieber Gott!« Er hielt inne und besah in [169] trübseligem Sinnen die Flöte, deren Klappen in mattem Lichte durch die Dämmerung schimmerten.

»Wenn ich so einer wäre,« fuhr er nach einer Weile fort, »dann würde ich ein berühmter Musiker geworden sein – ich weiß wohl, da drinnen sind viele Melodien, die noch kein anderer gepfiffen hat – und wenn ich mein Ziel erreicht hätte, dann würde ich Elsbeth geheiratet haben – und Vater würde reich und Mutter glücklich geworden sein. Nun aber ist die Mutter gestorben – der Vater ein armer Krüppel – Elsbeth wird einen anderen nehmn – und ich seh' mir die Flöte an und kann sie nicht blasen.«

Er lachte laut auf, und dann rutschte er nach dem Vordergrunde hin, so daß er den Schornstein erreichen konnte. Er streichelte ihn und sagte: »Aber diese Flöte, die will ich spielen lernen, daß es 'ne Freude ist.«

Wie er so da saß, war's ihm, als hörte er vom Garten her halbunterdrücktes Kichern und Geflüster. Er lauschte. Kein Zweifel. Dort koste ein Liebespärchen oder gar mehr als eines, denn es tönten die verschiedensten Stimmen durcheinander wie aus einem Spatzenhäuflein.

»Die Mägde halten sich Liebhaber, wie mir scheint,« sagte er, »denen will ich den Weg weisen.«

Er holte sich eine Peitsche, die an der Stalltür hing, und kletterte leise über den hinteren Gartenzaun, um den fremden Katern den Weg zu verlegen.

Da plötzlich blieb er wie versteinert stehn, seine Augen quollen hervor, und der Peitschenstiel zitterte in seinen Händen. Er hatte die Stimmen der Schwestern erkannt.

Er lehnte sich an einen Baumstamm und lauschte.

»Läßt er euch jetzt in Ruh'?« fragte eben einer der Liebhaber im Flüsterton.

»Er hat jetzt zuviel mit seiner Maschine zu tun,« erwiderte die Stimme Gretens, »selbst seine ungesalzenen Predigten erspart er uns ...«

»Ihr habt euch doch nie viel daraus gemacht?«

Grete kicherte. »Er ist ja trotz seiner Würde doch bloß ein dummer Junge. Und von Liebe versteht er gar nichts. [170] Solange ich denken kann, schleicht er um die Elsbeth Douglas herum, aber glaubst du, daß er schon je gewagt hat, ein Auge zu ihr aufzuschlagen? Die wird sich natürlich schön bedanken, so 'nen Schmachtlappen zu nehmen – da ist ihr Vetter, der Leo, schon ein ganz andrer Kerl.«

Das Herz drohte ihm stille zu stehen, doch er lauschte weiter.

»Ich begreif' nicht, warum ihr ihm überhaupt pariert,« sagte die Stimme des Liebhabers, »wir haben ihn stets durchgehauen und dann laufen lassen, und zum Dank dafür hat er uns um Verzeihung gebeten. So 'nem Hans Hasenfuß muß man einfach die Zähne zeigen.«

»Na warte, du Aufhetzer!« dachte Paul, der nun wußte, wen er vor sich hatte.

Grete aber erwiderte eifrig: »Pfui du, das hat er nicht um uns verdient. Er liebt uns so sehr, daß wir uns eigentlich schämen müßten, ihn zu betrügen; was er uns an den Augen absehen kann, schenkt er uns, und ich möchte darauf schwören, daß er nur aus lauter Liebe immer so traurig ist. Da läßt man sich hin und wieder eine Moralpredigt schon gefallen, besonders, wenn man sich hinterher doch nicht daran kehrt.«

»Gut, daß ich das weiß,« dachte Paul und schlich sich im Halbkreise um sie herum, bis er zu der Laube kam, in der das andere Pärchen hauste.

Dort ging es bedeutend stiller zu, nur von Zeit zu Zeit tönte ein Kuß oder ein Kichern aus dem Blätterdunkel. Dann hörte er Käthens Stimme: »Und warum hast du jüngsten Sonntag soviel mit Mathilden getanzt?«

»Das ist eine scheußliche Verleumdung,« erwiderte der andre der Brüder. »Welches Lästermaul hat dir das zugetragen?«

»Pfarrers Hedwig hat's mir erzählt!«

»Das ist mir auch die Rechte – neidisch ist sie auf dich, das ist die ganze Geschichte. Wie sie mich letzten Sonntag angeschaut hat – ich glaubte, mein Haar müßt' ansengen.«

[171] »Ah, die Falsche!«

»Na, gräm dich nicht drum! Falsch seid ihr alle! Meine kleine, süße Lerche, mein Sonnenschein, mein Strudelkopf – leg den Kopf auf meinen Schoß, – ich will dich zausen.«

»So?«

»Nein, du liegst auf meiner Uhrkette! So ist's recht! – Sing mir was!«

»Wovon soll ich singen?«

»Von Liebe!«

»Erst verdien's dir – du Strolch!«

Darauf wurde es für eine Weile still, dann begann Käthe leise zu trällern:


»Im Flieder sang die Nachtigall

Bis morgens um halb drei,

Da sprang mit einem leisen Schall

Mein Fensterlein entzwei. – –


Ich lief, das Unglück zu besehn,

Des Morgens um halb drei,

Da fand ich eine Leiter stehn

Und einen Mann dabei – lalala!«


»Sing doch weiter!«

»Ach nein! Eigentlich ist es unanständig.«

»Warum fingst es denn an?«

Sie kicherte und schwieg.

»Sing was Andres!«

»Bevor ich singe, gib mir 'nen Kuß!«

Ein kurzes Ringen, dann seine Stimme: »Was, erst willst du und dann sträubst du dich, du Katze?«

»Hier bin ich!«

»Laß los! – Donner – du kratzt!«

»Nimmst du 'ne andere, kratz' ich dir die Augen aus!«

»Weiter nichts?«

»Nein, ich leg' mich untern Wacholderbusch und hungere mich tot. Zu meinem Begräbnis mußt du auch kommen. Hu! das wird schön werden! – Paß mal aber auf, ich kenn 'nen schönen Vers:


[172]

Weißt du, wie lieb ich dich hab'? – –

Es steht auf der Heide ein einsames Grab,

Drin schläft ein toter Sängersmann,

Dem hat's die Liebe angetan.


Er schläft und schläft im dunkeln Haus

Und schläft seine Liebe doch nimmer aus.

Beim Heidegrab um Mitternacht

Da warte, bis er aufgewacht.


Der kennt das Singen, der kennt das Küssen,

Der wird es wissen. – – –


Ist das nicht hübsch?«

»Sehr hübsch! Von wem hast du das, Katze?«

»Ich fand's einmal in einem Arienbuch, das der Mutter gehörte! Ich glaub' gar, sie hat's selber gemacht.«

Paul hatte während dieses ganzen Gesprächs in qualvoller Betäubung dagestanden, doch als er den Namen der Mutter vernahm, da übermannte ihn der Zorn, und er schlug mit seiner Peitsche über die Köpfe des Pärchens dahin, daß die welkenden Blätter der Laube laut raschelnd umherstoben.

Mit lautem Aufschrei fuhren sie alle empor. – Kaum hatten die Brüder ihn erkannt, als sie Miene machten, auf und davon zu gehen, aber die Mädchen klammerten sich wimmernd an sie an. Sie suchten Schutz vor dem eigenen Bruder.

»Hierher!« rief er ihnen zu. – Da ließen sie von ihren Geliebten ab und flohen zueinander, um sich gegenseitig zu decken.

Die beiden Erdmanns wichen immer weiter zurück.

»Ihr bleibt hier!« schrie er.

»Was willst du von uns?« sagte der Ältere, der seine Frechheit zuerst wiedergewann.

»Rede sollt ihr mir stehen.«

»Du weißt ja, wo wir zu finden sind,« sagte der Jüngere und zupfte seinen Bruder am Rockschoß, daß er mit ihm Reißaus nähme. Aber in diesem Augenblick hatte ihn Paul an der Brust gepackt ...

[173] »Laß los!« rief er.

»Ihr kommt mit ins Haus.«

»O nein, lieber nicht,« sagte der Ältere.

»Ich weiß gar nicht, was du von uns willst,« sagte der Jüngere, dem unter dem eisernen Griff von Pauls Fäusten nicht wenig bange ward. »Wir lieben deine Schwestern – mit dir haben wir nichts zu tun.«

»Und wenn ihr sie liebt, wißt ihr denn nicht, wo die Tür ist, durch die ihr kommen konntet, um sie zu werben? Ihr Räuber, die ihr seid!«

In diesem Augenblick hatte Ulrich den Bruder aus Pauls Fäusten gerissen, und ehe er zur Besinnung kommen konnte, flohen sie beide in wilder Hetze durch den Garten, sprangen über den Zaun und verschwanden in dem Dunkel der Heide.

Ganz betäubt wandte er sich um und sah die Schwestern hinter einem Baumstamm kauern.

»Kommt!« sagte er, nach dem Hause hinweisend, und schluchzend folgten sie ihm.

Als sie in ihre Kammer schlüpfen wollten, sagte er, die Tür des Wohnzimmers öffnend: »Hier hinein!« Zitternd duckten sie sich in einen Winkel, denn sie wußten nicht, welche Strafe er ihnen zudiktieren würde.

Er zündete selbst ein Licht an, ergriff das Familienalbum und nahm ein Bild heraus.

»Jetzt kommt in die Kammer.« – Zwei reuige Schäfchen, schlichen sie hinter ihm drein.

»Wer ist das?« fragte er in seinem strengsten Tone, auf das Bild hinweisend. Es war ein Jugendporträt der Mutter, fast ganz verlöscht von der Länge der Jahre. Aber sie erkannten es wohl, fielen händeringend vor dem Bette auf die Knie und schluchzten gottsjämmerlich in die Kissen hinein ...

Und dann gestanden sie ihm alles. Es war schlimmer, als er je geahnt hätte. – – – – – –

Ein fürchterliches Schweigen entstand. Paul trat ans Fenster und sah in die Nacht hinaus.

»Gott sei Dank, daß du tot bist, Mutter,« sagte er, die Hände faltend.

[174] Da weinten sie laut auf, rutschten auf den Knien zu ihm hin und wollten ihm die Hände küssen. – Er streichelte ihre Haare. Er liebte sie viel zu sehr.

»Kinder, Kinder!« sagte er und sank auf einem Stuhle zusammen, nicht minder hilflos als sie. – –

»Schilt uns, Paul,« schluchzte Käthe.

»Nein, schlag uns lieber,« bat Grete, »wir haben es verdient.«

Er rieb sich die Stirn. Ihm war noch alles wie ein böser Traum. – –

»Wie hat das nur geschehen können?« murmelte er. »Hab' ich so schlecht auf euch aufgepaßt?«

»Sie haben – gesagt, sie – wollten uns – heiraten!« preßte Käthe hervor.

»Wenn's Trauerjahr – vorüber ist, soll Hochzeit sein,« fügte Grete hinzu.

»Und haben sie das gesagt, so werden sie's auch!« rief er, sich selber Trost zuredend. – »Kniet nicht, Kinder, kniet vor dem lieben Gott, ihr habt's nötig. – Dies Bild wird von heute ab allnächtlich auf eurem Nachttisch stehen. – Ob ihr dann noch den Mut haben werdet, auf dem Wege der Schande zu gehen? Gute Nacht.«

Sie stürzten ihm nach und flehten ihn an, er möchte bei ihnen bleiben, sie hätten solche Furcht; aber er machte sich leise von ihnen los und schritt in seine Giebelstube empor, wo er im Dunklen vor sich hin brütete. Er schämte sich so sehr, daß er glaubte, das Tageslicht nicht wieder ertragen zu können ...

Am andern Morgen ließ er den Meister rufen und lohnte ihn aus.

Der wackere Mann sah ihm ganz erschrocken ins Gesicht. »Aber jetzt, Herr Meyhöfer, da alles im besten Zuge ist?« sagte er.

»Ja, im besten Zuge,« murmelte er nachdenklich vor sich hin. Zum Unglück die Schande – der Meister hatte Recht.

»Es ist etwas in die Quere gekommen,« sagte er dann, »was mir die Lust am Arbeiten verleidet. – Lassen wir's [175] vorläufig, und wenn es Zeit ist, werd' ich Sie wieder abholen.«

Der Vater beklagte sich bitter über die nächtliche Störung. »Was hattest du denn im Garten 'rumzutoben?« fragte er, »ich hörte deine Stimme!«

»Es waren Apfeldiebe da,« erwiderte Paul.

Die Zwillinge hatten verweinte Augen und wagten nicht, die Blicke vom Boden zu erheben.

»So also sehen zwei Gefallene aus,« dachte Paul und gab sich das Versprechen, streng wie ein Gefangenenwärter zu ihnen zu sein. Aber als er sie zum erstenmal anherrschte und sie ihm von unten herauf mit schmerzlich demütigen Blicken so recht magdalenenhaft in die Augen schauten, da wandelte ihn ein großes Mitleid an, so daß er sie weinend in seine Arme schloß und sagte: »Seid stille, Kinder, 's wird alles gut werden.«

Er hegte die Überzeugung, daß die beiden Erdmanns den Tag nicht vorübergehen lassen würden, ohne auf dem Heidehof vorzusprechen. »Ihr Gewissen wird sie treiben,« sagte er sich. So fest baute er darauf, daß er nach dem Mittagessen den Vater, der in seiner Trägheit ein rechter Schmierfink geworden war, dringend aufforderte, sich einen neuen Rock anzuziehen, da wichtiger Besuch zu erwarten sei. Der Vater fügte sich mürrisch und war hernach doppelt ungehalten, als er fand, daß die große Arbeit umsonst gewesen war.

»Sie werden morgen kommen,« sagte sich Paul beim Schlafengehen, »sie haben heute die Courage nicht gehabt.«

Aber auch der folgende Tag verging, ohne daß jemand sich gemeldet hätte, und so verging die ganze Woche.

Paul rannte wie verstört im Haus umher. Alle zehn Minuten sah man ihn am Hoftor stehen und auf die Heide hinausschauen, so daß die Knechte einander heimlich in die Hüften stießen und Allotria begannen ...

»Es ist schade,« sagte er sich, »daß ich noch so unschuldig bin und in Liebessachen nicht die mindeste Erfahrung habe, sonst würde ich schon wissen, was mir obliegt.« [176] Eine qualvolle Angst begann seiner Herr zu werden, und schlaflos wälzte er sich auf seinem Lager.

»Ich muß ihnen die Sache erleichtern,« sagte er eines Morgens, ließ das gelbe Korbwägelchen anspannen, das er unlängst auf einer Auktion erstanden, und fuhr nach Lotkeim, dem Gut der Erdmanns, hinüber, das sie seit dem Tode ihrer Eltern gemeinsam bewirtschafteten.

Das Herz krampfte sich ihm zusammen in Scham und Ingrimm, als er nun gleich wie ein Bittender das Heimwesen derer betrat, die ihm im Leben schon so viel Böses bereitet hatten. Viel fehlte nicht, so wäre er hinter dem Tor noch einmal umgedreht, aber seine Faust griff fester in die Zügel, und seine Lippen murmelten: »Auf dich kommt es nicht an.«

Er fuhr über den grünbewachsenen Hof, auf dem stellenweise hohes Dornengesträuch wucherte und der von weitläufigen, aber stark verwilderten Wirtschaftsgebäuden umgeben war, und hielt vor dem Wohnhaus, dessen Fensterläden schwarzweiße Ringe trugen, wahrscheinlich, weil sie zeitweise als Schießscheiben benutzt wurden.

»Eine Ehre ist es nicht, seine Schwestern hierher zu verheiraten, aber viel Ehre können sie auch nicht mehr verlangen,« dachte er, indem er das Pferd an das Treppengeländer band, denn keine Menschenseele war zu sehen, die ihm den Zügel hätte abnehmen können, nur aus einer fernen Scheune klang der Viertakt der Dreschflegel.

In demselben Augenblick, da er den Hausflur betrat, war es ihm, als hörte er ein leises Stimmengewirr und das Auf- und Zuschlagen der Hintertüren. Dann ward es plötzlich still.

Er betrat ein Wohnzimmer, in dem die Reste eines Frühstücks auf dem Tische standen und das noch von Zigarrenqualm erfüllt war. Eine Weile stand er wartend. Dann schob sich eine alte, dürre Frauensperson mit verlegenem Grinsen durch die Tür des Nebenzimmers.

»Die Herrens sind nicht zu Hause,« sagte sie, ohne seine Frage abzuwarten, »sie sind frühmorgens weg gefahren und werden so bald nicht wiederkommen.«

[177] »Tut nichts, ich werde warten!«

Die Alte erhob ein großes Geschwätz, das Warten sei vollkommen unnütz, ihre Heimkunft ließe sich nie im voraus bestimmen, sie blieben oft die ganze Nacht auswärts und dergleichen mehr. Währenddessen glaubte er zu vernehmen, daß ein Wagen im raschesten Tempo vom Hof herunterrasselte. Erschrocken sprang er auf und trat ans Fenster, denn er glaubte, sein Pferd sei durchgegangen; als er es aber ruhig an der Stelle fand, an der er es gelassen, stieg ein Verdacht in ihm auf, ein Verdacht, den er noch eine Minute vorher entrüstet zurückgewiesen hätte.

Die alte Haushälterin wagte nicht, ihm die Tür zu weisen, und unbehelligt, freilich auch ohne Speis' und Trank, saß er wartend auf seinem Platz bis zum Abend. – Als es finster geworden war, trat er mutlos und gedemütigt den Rückweg an.

Am andern Morgen kam er wieder – auch jetzt vergebens. Am dritten Tage fand er das Hoftor fest verriegelt. Ein nagelneues Schloß hing in den Haspen. Es schien eigens für ihn angeschafft.

Da konnte er keinen Zweifel mehr hegen, daß die Brüder ihm absichtlich aus dem Wege gingen. »Sie scheuen sich, mir ins Auge zu sehen,« sagte er sich, »ich will ihnen schreiben.«

Aber als er die Feder ansetzte, um ihr freundliche, versöhnliche Worte abzupressen, da überkam ihn ein solcher Ekel über sein würdeloses Tun, daß er sie auf der Tischplatte zerstampfte und stöhnend im Zimmer umherlief.

»Ich muß erst Kraft schöpfen gehen,« sagte er und schlich lautlos zu der Kammer der Mädchen. Die saßen am Fenster, sprachen kein Wort und starrten mit blassen Gesichtern in die Weite – dann ließ die eine das Köpfchen gegen die Schulter der anderen sinken und sagte leise und traurig: »Sie werden nicht mehr kommen!«

»Sie haben Angst vor ihm,« seufzte die Schwester.

Und darauf sanken sie wieder in ihr Brüten zurück.

»So,« sagte er, tiefaufatmend, dieweil er in sein Zimmer zurückschlich, »ich wußte ja, daß dies helfen würde.« [178] Darauf nahm er einen neuen Bogen und schrieb einen schönen Brief, worin er den Brüdern auseinandersetzte, daß er ihnen nicht mehr zürne, daß er ihnen alles verzeihen wolle, wenn sie den Schwestern die verlorene Ehre wiedergäben.

»Morgen werden sie da sein,« sagte er mit einem Seufzer der Erleichterung, als er das Schreiben in den Briefkasten warf. – Den Rest des Tages irrte er auf der Heide umher, denn er wagte keinem Menschen ins Angesicht zu sehen, so schämte er sich. –

Aber die Erdmänner kamen nicht. – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Es war am Weihnachtsabend kurz vor dem Dunkelwerden. Tief eingeschneit lag die Heide, und von dem grauen Himmel rieselten neue Flockenmassen, da sah Paul, wie die Schwestern heimlich Hut und Mantel nahmen und zur Hintertür entwischen wollten.

Er eilte ihnen nach und fragte: »Wohin?«

Da fingen sie zu weinen an, und Käthe sagte: »Bitte, bitte, frag uns nicht.« Er aber fühlte eine unheimliche Angst in sich erwachen, und sie an den Armen ergreifend, sagte er: »Ich bleibe hinter euch, wenn ihr mir nicht gesteht.«

Da preßte Grete schluchzend hervor: »Wir gehen zu Mutters Grab.«

Ein Grauen überlief ihn, daß sie – so die heilige Stätte betreten sollten, aber er hütete sich wohl, es ihnen zu zeigen. »Nein, Kinder,« sagte er, ihre Wangen streichelnd, »das duld' ich nicht, es würde euch zu sehr erregen, auch liegt der Schnee sehr tief auf der Heide, und es wird gleich dunkel werden.«

»Aber einer muß doch draußen gewesen sein,« sagte Käthe schüchtern, »heute zum Weihnachtsabend.«

»Du hast Recht, Schwester,« erwiderte er, »ich werde selber gehen. Bleibt ihr beim Vater und zündet ihm ein paar Lichter an. So Gott will, bring' ich euch Trost mit heim.«

Sie ließen sich zureden und gingen ins Haus zu rück. [179] – Er aber zog sich einen warmen Rock an, setzte sich die Mütze auf und schritt in die Dämmerung hinaus.

»Schließt ihr heute die Tore zu,« sagte er, bevor er den Hof verließ, denn er hatte eine dumpfe Ahnung, daß er erst spät in der Nacht heimkehren würde. Und wenn er sich im Schneegestöber umhertriebe – –

Lautlos lag die weiße Heide ... Tief im Schoße des Schnees ruhten die welken Blumen, und wo sonst ein Wacholderbusch gestanden, erhob sich nun ein weißes Häuflein, anzuschauen wie ein Maulwurfshügel. Selbst die Stämme der Krüppelweiden trugen eine weiße Decke, doch nur an der Seite, von welcher her der Wind sie angeweht hatte.

Mühsam schritt er auf der eingeschneiten Heide dahin, bei jedem Tritte bis über die Knöchel versinkend. In den Lüften zog hie und da mit dumpfem Flügelschlage eine Krähe, schwer gegen das Schneegestöber ankämpfend.

Kein Weg, kein Steg war zu sehen ... Die einsamen drei Fichten, die in der Ferne wie schwarze Phantome gen Himmel ragten, waren das einzige Zeichen, nach dem sein Fuß sich richten konnte.

Der goldgelbe Streif, der für wenige Momente am Rande des Horizonts aufgeflammt war, erlosch; tiefer sanken die Schatten, und als Paul den Wall des Kirchhofs erreicht hatte, der wie eine gespenstische Mauer sich vor ihm auftürmte, war es vollends dunkel geworden, doch verbreitete der frisch gefallene Schnee einen ungewissen Dämmerschein, so daß er das Grab der Mutter alsbald zu finden hoffte. –

Die Pforte war verschneit, verweht; nirgends ein Eingang zu entdecken.

So tastete er denn mühsam an der Hecke entlang, von der hie und da ein schwärzliches Ästlein seine dornigen Spitzen aus der weißen Hülle hervorstreckte, bis sein Arm tiefer in den Schnee hineinsank, ohne Widerstand zu finden.

Dort wühlte er sich einen Weg in das Innere hinein.

Mit dumpfem Rauschen grüßten die Fichten zu ihm hernieder, und ein Rabe, der im Schnee gehockt hatte, flog [180] schwirrend auf und umkreiste ruhelos die Kronen, wie eine arme Seele, die keinen Frieden findet.

Als er die eingeschneite Fläche in ihrem bleichen Einerlei vor seinen Blicken liegen sah, durchfuhr ihn ein Schreck, denn er sah kein Zeichen, an dem er das Grab der Mutter entdecken konnte. Ein Kreuz stand nicht an dem Hügel, denn er hatte noch kein Geld gehabt, eines anzuschaffen, der Hügel selbst aber lag tief in dem alles ebnenden Schneegefilde.

Eine quälende Angst erfaßte ihn. Ihm war zumute, als hätte er nun auch das letzte verloren, was er auf der Welt besaß.

Und mit zitternden Händen begann er den Schnee aufzuwühlen, von einem Hügel zum andern – ein langer Pfad, aus dem hie und da die Ecke eines Grabes, ein Kranz oder ein Lebensbäumchen in der Dämmerung zum Vorschein kam.

»Hier schläft,« dieser, »hier schläft« jener – er wußte fast von jedem Grab, wer darunter die Ruhestatt gefunden hatte.

Und endlich ritzte sich seine wühlende Hand an einem Glasscherben, der aus der Tiefe emportauchte ... Er hielt inne und tastete vorsichtig in der Runde ... Der Scherben war wohl der, den Grete im Frühherbst hinausgetragen hatte, um Astern darein zu setzen; ein grüner Flaschenscherben mit scharfen, spitzen Kanten – ja, er war's. Noch staken die welken Stengel darin. Und daneben der Kranz, der Erikakranz, der steifgefroren wie ein steinerner Ring zum Vorschein kam, den hatte er selbst hierher gelegt, als er zum letztenmal draußen gewesen war.

Wie er nun das Häuflein Schnee, das sein Teuerstes barg, so weiß und ruhig daliegen sah, fiel er auf die Knie und drückte sein glühendes Gesicht in den kühlen, weichen Flockenschaum.

»Ich bin an allem schuld, Mutter,« klagte er, »ich hab' nicht auf sie acht gegeben, ich hab' sie verwildern lassen. Richte sie nicht, Mutter, sie wußten nicht, was sie taten! ... Aber ich flehe zu dir, Mutter, laß du mich [181] wissen, wie ich handeln soll! ... Sende mir ein einziges Wort übers Grab zurück, ... sieh, ich knie hier und weiß nicht ein noch aus.«

Und dann war's ihm plötzlich, als hätte auch er nicht das Recht, an dieser Stätte zu liegen, als wäre auf ihn die Schande abgewälzt, die die Schwestern betroffen hatte. Er schalt sich feige, selbstsüchtig und faul, daß er so lange untätig geblieben war, ohne ein Äußerstes zu wagen.

»Ich will's tun, Mutter, noch diese Nacht,« rief er aufspringend. »Auf mich soll's nicht ankommen, mein letztes Restchen Stolz will ich daran geben, wenn nur die Schwestern gerettet werden.« – Er schwor es mit erhobenen Armen, und dann eilte er auf die Heide hinaus – – – – – –

Wohl drei Stunden lang jagte er auf den eingeschneiten Wegen dahin. Acht Uhr mochte es sein, als er müde und atemlos vor dem Hoftor von Lotkeim halt machte.

»Heute sollen sie nicht entwischen,« sagte er, und da er das Tor wiederum verschlossen fand, so kroch er auf dem Bauche unter den Staketen hindurch – wie er es sonst bei Hunden gesehen hatte.

Die Fenster des Herrenhauses waren hell erleuchtet, aber hinter den herabgelassenen Vorhängen ließ sich von dem Innern nichts erkennen; nur abgerissener Gesang und kurzes Gelächter drangen ins Freie.

Die Haustür stand offen. In dem dunklen Flur hielt er für einen Augenblick inne, um sein Herzpochen zu beschwichtigen, dann klopfte er.

Ulrichs Stimme rief: »Herein!«

Da lagen die beiden Brüder ausgestreckt auf dem langen Sofa, die Füße des einen neben dem Kopf des andern, ein Bild vollkommenster Gewissensruhe und Seelenheiterkeit. Jeder von ihnen balancierte ein großes Grogglas in der hohlen Hand, und vor ihnen auf dem Tisch stand eine dampfende Punschterrine.

Bei seinem Anblick waren sie so erschrocken, daß sie das Aufstehen vergaßen. Ganz versteinert blieben sie liegen und starrten ihn an.

[182] »Nanu!« rief Ulrich, der zuerst die Sprache wiederbekam, und Fritz ließ sein Glas klirrend zu Boden fallen. Darauf bückte er sich und sammelte mit großem Eifer die Scherben.

»Ihr könnt euch wohl denken, warum ich komme,« sagte Paul, in seinen beschneiten Kleidern langsam vor den Tisch hintretend.

»Nein,« sagte Ulrich, der sich langsam aufrichtete.

»Keine Ahnung,« bestätigte Fritz, der sich wohlweislich hinter den Rücken des Bruders zurückzog.

»Ihr habt meinen Brief doch wohl erhalten?« fragte Paul.

»Wir wissen von keinem Brief,« erwiderte der Ältere, ihm frech ins Auge schauend.

»Er wird wohl auf der Post verlorengegangen sein,« fügte der Jüngere eilends hinzu.

»Besinnt euch nur. Es war am 16. November,« sagte Paul.

Da erinnerten sie sich dunkel, daß ein Brief an sie abgeliefert worden war.

»Aber wir konnten aus ihm nicht klug werden und haben ihn ins Feuer geworfen,« sagte Ulrich.

»Laßt die Winkelzüge,« erwiderte Paul. »Ihr wißt ganz gut, was ihr zu tun habt.«

Sie zuckten die Achseln und sahen sich an, als ob er spanisch redete.

»Ich bin nicht gekommen, mit euch Komödie zu spielen,« fuhr Paul fort, »ihr habt meinen Schwestern die Ehre genommen und müßt sie ihnen wiedergeben.«

Ulrich kratzte sich den Kopf und sagte: »Lieber Meyhöfer, das ist 'ne böse Geschichte – und so mir nichts, dir nichts läßt sich die nicht behandeln. – Setz dich mal hin und trink ein Glas Punsch mit uns – dabei werden wir rascher zum Ziele kommen.«

»Ja, rasch und gemütlich,« fügte Fritz hinzu, indem er aufstand, zwei neue Gläser herbeizuholen.

»Ich danke,« sagte Paul, »ich habe keinen Durst.« In ihm bohrte ein dumpfes Gefühl, als ob die Brüder[183] ihn, wie sein Leben lang, auch jetzt mit Hohn überschütteten.

Um seine Glieder legte es sich wie eiserne Klammem. Ganz schlaff, ganz wehrlos erschien er sich nun.

»Ja, wenn du uns so kommst,« erwiderte Ulrich, scheinbar gekränkt, »dann reden wir gar nicht mit dir. Ich habe keine Lust, mir den Weihnachtsabend zu verderben.«

»Und den Punsch kalt werden zu lassen,« fügte Fritz hinzu.

Paul maß mit starrem Blick bald den einen, bald den andern. Wie war es möglich, daß die, welche schwere Schuld auf sich geladen hatten, stolz und übermütig vor ihm standen, während er, der nur sein gutes Recht begehrte, zitterte und bebte wie ein Verbrecher?

»Und wenn du ohne Trost heimkehrst?« schrie eine angstvolle Stimme in ihm. – »Erzürne sie nicht – denk daran, was du der Mutter geschworen hast! Auf dich selbst darf es nicht ankommen.«

»Na – trinkst du nun oder trinkst du nicht?« rief Ulrich ärgerlich.

»Auf dich selbst darf es nicht ankommen!« rief die Stimme wieder, da senkte er den Kopf und sagte mit heiserer Stimme: »Also – bitt' schön.«

Die beiden Brüder warfen einander einen lächelnden Blick zu, und Fritz hob das Glas und sagte: »Prost Fest!«

»Prost Fest!« stammelte er und würgte das heiße Getränk hinunter, wiewohl der Ekel ihm bis zur Kehle schwoll.

Nun saß er wie ein guter Kumpan mit den beiden Brüdern an einem Tische, er, der als Rächer hätte kommen müssen.

»Also, um die Geschichte zu beendigen, lieber Meyhöfer,« begann Ulrich aufs neue. »Was geschehen ist, ist geschehen und läßt sich nicht mehr ändern. Ich will hier nicht mehr untersuchen, wer den andern mehr nachgelaufen ist, wir deinen Schwestern oder deine Schwestern uns, jedenfalls haben sie ebensoviel Schuld wie wir! Wir [184] lieben sie von ganzem Herzen, sie sind die niedlichsten Mädchen in der ganzen Gegend, und es tut uns aufrichtig leid, wenn wir denken, daß wir sie verloren haben, aber – – daß wir sie nun heiraten sollen, das wirst du doch nicht verlangen.«

Paul warf ihm einen scheuen Blick zu und sagte kleinlaut: »Das ist das mindeste, was ...,« weiter kam er nicht, ihm war, als stockte das Blut in seinen Adern.

»Sei nicht komisch,« meinte Fritz, und Ulrich fuhr fort: »Sieh mal, wir würden es ja auch tun, wir halten große Stücke von ihnen, obwohl sie sich viel vergeben haben« – in Pauls Hirn zuckte es, aber er bezwang sich –, »wir würden dir auf der Stelle zu Willen sein, aber zuerst sag uns mal, was gibst du ihnen mit?«

»Ich habe – nichts,« stammelte Paul.

»Siehst du wohl,« erwiderte Fritz.

»Und wir brauchen Geld – viel Geld,« fuhr Ulrich fort. »Ich bin der Ältere, und wenn ich das Gut für mich allein übernehme, muß ich dem Fritz so viel auszahlen, daß er sich ein eigenes kaufen kann.«

»Ich – will – arbeiten,« preßte Paul hervor und schaute in demütiger Bitte zu den Brüdern hinüber.

»Du hast schon zehn Jahre gearbeitet und hast nichts hinter dich gebracht.«

»Der Brand ist dazwischen gekommen,« stammelte Paul, als ob er um Entschuldigung bäte für das Unglück, das ihn betroffen hatte.

»Und nächstes Jahr kommt was Andres dazwischen. Nein, lieber Freund, darauf können wir uns nicht einlassen.«

Die Angst, daß er ohne Trost zu den Schwestern würde heimkehren müssen, schwoll höher und höher in seiner Seele. So sehr übermannte sie ihn, daß seine Zunge sich löste, und er rief: »Aber mein Gott, so nehmt doch Vernunft an! ... Ich kann doch nicht mehr wie arbeiten ... Arbeiten will ich wie ein Stück Vieh ... arbeiten Tag und Nacht ... ich will sparen und will hungern, und alles, was ich erwerbe, soll euch gehören ... Seht mal ... [185] ich habe wirklich schöne Aussichten ... die Lokomobile wird bald in Ordnung sein ... und das Moor ist sehr einträglich ... fünfzehn Fuß geht's in die Tiefe ... wirklich, ihr könnt messen! ... Das Fuder Torf bringt zehn Mark ... und eure Mitgift soll euch jährlich in Teilzahlungen auf Heller und Pfennig zugeschickt werden.«

Er sah ihnen mit aufgerissenen Augen ins Gesicht, denn er erwartete, daß sie jetzt sofort zugreifen würden. Und als sie schwiegen, strich er sich ganz fassungslos mit der Hand über die Stirn, von der der kalte Schweiß herniederlief, und murmelte: »Ja – was kann ich denn noch? ... Richtig – noch mehr will ich tun: ... Ich will mir den Hof vom Vater übergeben lassen und ihn dann euch zuschreiben, so daß wenn der Vater – stirbt, einer von euch Herr darauf wird ... Ich will ausziehen und nicht mehr wie Schwarz unterm Nagel mit mir tragen. – Ist euch das nun genug?«

Aber sie schwiegen.

Da ward ihm zumute, als ginge alles unter, woran sein Glaube sich sonst festgehalten, als wiche der Boden unter seinen Füßen, als würde er selbst ins Leere hinausgeschleudert. Er faltete die Hände – seine Zähen klapperten – und wie entgeistert starrte er sie an. – »Ist es denn möglich? Ihr wollt nicht? Wollt wirklich nicht? – Faßt ihr denn gar nicht, daß es eure Pflicht und Schuldigkeit ist gutzumachen, was ihr gesündigt habt? ... Sagt euch euer Ehrgefühl nicht, daß ihr andere nicht ehrlos machen dürft? ... Läßt euch euer Gewissen denn schlafen? ...«

»Höre auf,« sagte Ulrich, dem ein Gefühl des Unbehagens fröstelnd über den Nacken lief.

»Nein, ich höre nicht auf! Ich kann nicht so nach Hause gehen ... Wirklich, ich kann nicht! ... Habt ihr denn gar keine Ahnung, was ihr angerichtet habt ..., welch ein Elend bei mir zu Hause herrscht?« Und er schauderte zusammen in der Erinnerung an das, was er zurückgelassen hatte. – »Wenn ihr das wüßtet, ihr würdet so hart nicht sein! ... Seht, Fritz und Ulrich ... ich kenn' [186] euch nun schon lange Zeit ... wir haben schon zusammen auf der Schulbank gesessen ... und sind zusammen ... vor den Altar getreten ... Ihr habt mir schon immer übel gewollt, und ich hab' viel von euch zu erdulden gehabt, aber ... ich will alles vergessen, wenn ihr nur das eine gut macht. Ihr seid leichtsinnig, aber schlecht seid ihr nicht ... ihr könnt es ja nicht sein ... ihr habt ja auch eine Mutter gehabt ... ich hab' sie gesehen ... sie hat bei der Einsegnung am dritten Pfeiler links gestanden und hat ... geweint, wie meine Mutter weinte. – Und meine Mutter – pfui doch,« unterbrach er sich, denn ihn überwältigte die Scham, daß er den Namen der Verklärten vor diesen Verführern in den Mund genommen hatte, aber seine Angst, ohne Trost heimkehren zu müssen, steigerte sich bis zum Wahnwitz, er schluckte auch das hinunter, und von neuem fing er an, während seine Gedanken schon irr durcheinander schossen: »Denkt euch mal, ihr geht jetzt 'raus zum Kirchhof ... und habt Schwestern ... die sind verführt ... und ihr, habt nicht gut achtgegeben auf die Schwestern ... und ihr wagt nicht, den Schnee zu berühren, der auf dem Grabe liegt ... und ich bin der Verführer ... was ... was würdet ihr tun?«

»Totschlagen würden wir dich,« sagte Ulrich, ihm einen verächtlichen Blick zuwerfend.

Er stieß einen gellenden Schrei aus, denn jetzt kam das Bewußtsein, wie tief er sich erniedrigt, wie er seinen Stolz, seine Ehre im Kot gewälzt hatte, mit ganzer Gewalt über ihn ... Mit geballten Fäusten stürzte er auf Ulrich los. Der aber verschanzte sich hinter dem Tisch, und Fritz lief nach dem Nebenzimmer, um das Gesinde herbeizurufen.

Da taumelte er hinaus.

Das Hoftor war geschlossen wie vorhin. – Er wagte nicht zurückzukehren, um es öffnen zu lassen, und auf dem Bauche kroch er hinaus – wie ein Hund. – –

Wie ein Hund! – – – – – – – – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

[187] 18

»Der junge Herr führt ja mit einem Male ein lustiges Leben,« sagten die Knechte, und da nun doch alles drunter und drüber ging, stahlen sie einen Scheffel Korn nach dem andern.

Paul aber trieb sich auf allen Lustbarkeiten und Tanzfesten umher, die in der Gegend stattfanden. – Wer ihn mit seinen finsteren Stirnfalten und dem scheuen, spähenden Blick in dem fröhlichen Gewühl auftauchen sah, der fragte sich wohl: »Was will der hier?« Und mancher ging im Bogen um ihn herum, als sei ein Schatten auf seine Freude gefallen.

Paul war sich wohl im klaren über den Weg, den er wandelte. – Er hatte gehört, daß die Erdmänner kein Fest vorübergehen ließen, ohne mitzufeiern – so toll, wie's eben anging. – »Ich werde sie zu treffen wissen,« sagte er, »die Nacht ist dunkel und die Heide einsam. Unter Gottes freiem Himmel sollen sie mir und dem Tode ins Antlitz sehen.«

Drei Tage nach seinem letzten Besuche auf Lotkeim war er in die Stadt gefahren und hatte sich einen Revolver gekauft, einen schönen sechsläufigen mit langem, schlankem Laufe. Wie ein wildes Tier lauerte er nun nachts in den Büschen und Hohlwegen der Heide, wenn er glaubte, daß sie vorüberkämen.

Aber sie kamen nicht. Sie schienen mißtrauisch geworden und hielten sich deshalb im Haus, oder, was wahrscheinlicher, das Geld war ihnen ausgegangen. – »Ich kann warten,« sagte er und setzte sein Treiben fort.

Und wenn er eines Abends zu Hause blieb und mit den Schwestern gemeinsam am Abendbrottisch saß – ein schweigendes, trauriges Mahl – dann erschrak er jedesmal, sobald er aufschaute und die Züge der Mutter in zwei bleichen, abgehärmten Gesichtchen wiederfand. – Dann jagte es ihn stets aufs neue hinaus. – –

Am Fastnachtabend war's, da wurde in dem Saale[188] des Bürgervereins von den Landwirten der Umgegend ein großer Ball gefeiert.

»Dort werd' ich sie fassen,« sagte er sich, denn er hatte gehört, daß die beiden Brüder zum Vorstand des Festes gehörten.

Als die Dämmerung herannahte, ließ er den Schlitten anspannen, verbarg den Revolver im Gesäßkasten und machte sich auf den Weg zur Stadt.

Tagüber hatte die Sonne geschienen, nun lohte der Himmel in den Flammen des Abendrots. In bläuliche Schleier eingehüllt lag die Heide, und durch die klare Winterluft sprühten leuchtende Eiskristalle.

Als er an Helenental vorüberfuhr, sah er zwei Schlitten mit Tannenzweigen beladen, die in den Gutsweg einbogen.

»Mir scheint, dort soll ein Fest gefeiert werden,« murmelte er, den Schlitten nachblickend, und mit einem düsteren Lächeln setzte er hinzu: »Ich brauch' nicht neidisch zu sein, ich feiere ja auch mein Fest heute!«

Um sechs Uhr kam er in der Stadt an, verschaffte sich eine Eintrittskarte und hockte bis zur neunten Stunde in dem Winkel einer Schenke, finster vor sich hinbrütend.

Als er den Festsaal betreten hatte, in dem ein sinnbetäubender Wirrwarr leuchtend durcheinanderrauschte, verbarg er sich scheu in dem Schatten einer Säule, denn ihm war zumute, als stände lesbar für jedermann auf seiner Stirn der Mordgedanke geschrieben, der ihm die Seele erfüllte.

Und plötzlich fuhr es wie ein Messerstich durch seine Brust. – Er hatte die Brüder gefunden. – In der Mitte des Saales standen sie stolz und strahlend, seidene Schleifen auf den Achseln, Maiglöckchen im Knopfloch, und spähten mit siegesgewissem Lächeln die Reihe der weißgekleideten Mädchen entlang, die die Wände schmückten.

»So, – jetzt sind sie mir verfallen,« murmelte er mit einem tiefen Aufseufzen. Er fühlte, daß es kein Zurück mehr für ihn gab. Und dann verkroch er sich in eine verschwiegene Ecke, von der aus er seine Opfer im Auge behalten [189] konnte. Der Lichterglanz strahlte sonnenhaft auf ihn hernieder, aber er sah ihn nicht, die Musik rauschte in wohligen Akkorden um sein Ohr, aber er hörte sie nicht, alle seine Sinne waren untergegangen in wildem, blutigem Gelüste.

Wie er so in das Gewühl hineinstarrte, vernahm er dicht hinter sich ein Gespräch von zwei behäbigen Männerstimmen: »Willst du auch morgen zum Begräbnis hinaus?«

»Ja, es soll eine große Feier werden. Dabei darf man nicht fehlen.«

»Ist sie lange krank gewesen?«

»O sehr lange. Unser alter Doktor hatte sie schon vor Jahren aufgegeben. Dann war sie mit ihrer Tochter im Süden und hat sich nach ihrer Rückkehr – ich weiß nicht, wie lange noch – gehalten.«

Er horchte. – Ein dumpfe Ahnung dämmerte in ihm auf. Die Tannenzweige! Die Tannenzweige!

Und die eine Stimme fuhr fort: »Sag mal: die Tochter muß doch in sehr heiratsfähigem Alter sein – hat sie sich noch immer nicht verlobt?«

»Sie ist ja bekannt wegen der Körbe, die sie austeilt,« erwiderte die andre Stimme, »die einen sagen, sie tat's, um die kranke Mutter nicht zu verlassen, die andern, weil sie eine geheime Liebschaft mit ihrem Vetter hat, dem Leo Heller, du kennst ihn ja.«

»O der Windhund,« sagte die erste Stimme wieder, »vorige Woche hat er im Tempeln achthundert Mark verloren, bei den Wucherern sitzt er bis an die Kehle drin, und ein Liebchen hält er sich auch aus. Aber ein forscher, lustiger Kerl ist's, ganz dazu angetan, sich Goldfische zu kapern.« Und die beiden Stimmen entfernten sich lachend.

Paul hatte ein dumpfes Gefühl, als müßte er sich zu Boden werfen und das Antlitz in den Staub pressen, – aus seiner Kehle schwoll es empor, – rote Schleier wogten vor seinen Augen auf und nieder ... Also sie hatte ausgelitten, die bleiche, freundliche Frau, die wie ein guter Engel über dem Heidehof gewartet hatte, an der sein eigen Herz gehangen, solange er lebte!

[190] Nun, da sie tot, war ja die Bahn frei für Niedergang und Verbrechen.

Und Elsbeth? Wie hatte sie gezittert vor dieser fürchterlichen Stunde, wie hatte er geschworen, ihr alsdann nahe zu sein! Und statt dessen lauerte er hier wie ein reißendes Tier, blutige Gedanken in der Seele, er, der einzige, dem ihre reine Seele sich einst anvertraut hatte ...

Ein Frösteln überlief ihn. »Aber was tut's? Tröster hat sie ja genug – da ist der lustige Leo, mit dem sie ja eine ›geheime Liebschaft‹ haben soll – mag der nun seine Künste entfalten.« Er lachte laut und höhnisch auf, und nachdem er sich klargemacht, daß die Erdmanns ihm nicht entgehen konnten, wenn er am Wege auf sie wartete, verließ er den Saal.

Als er in das Schweigen der mondhellen Winternacht hinausfuhr, wurde es auch in seiner Seele stiller und stiller, und als über der silbernen Heide das »weiße Haus« wie ein marmornes Grabdenkmal langsam emporstieg, da fing er bitterlich zu weinen an.

»Plärre nur, plärre, altes Weib, du,« murmelte er und peitschte das Pferd an, daß die Glocken heller klangen. Die tönten ihm ins Ohr wie das Grabgeläute alles Guten.

In dem Walde, hinter dem der Seitenweg nach Lotkeim sich abzweigte, machte er halt, band das Pferd an einen fern abgelegenen Baumstamm und schnallte die Glocken ab, damit ihr Klingen ihn nicht vor der Zeit verriet. Dann holte er den Revolver aus dem Gesäßkasten und prüfte die Patronen. – Sechs Schuß – für jeden zwei – doppelt reißt nicht.

Es war bitterkalt und seine Füße erklammten. Er kauerte sich auf dem Boden des Schlittens nieder, so daß die Pelzdecke ihn ganz umhüllte. Darunter war es warm und wohlig, und allgemach fühlte er eine große Ermattung seiner Herr werden, als ob er einschlafen könnte. Aber dann raffte er sich wieder empor.

»Es ist dir ja gar nicht ernst,« murmelte er, »daß du sie töten willst. Sonst müßte dir anders zumute sein ...«

Da sprang er empor und rief in die Nacht hinein:[191] »Ich will, ich schwör's dir, Mutter ... ich will.« – Und zur Bekräftigung schoß er eine Kugel in die Lüfte, so daß das Echo schauerlich durch die Stille hinrollte und die Raben krächzend von ihren Sitzen emporfuhren ...

Je mehr die Stunde sich näherte, in der die Brüder heimkehren mußten, desto mehr wuchs seine Angst; aber diese Angst galt nicht der blutigen Tat. – Er bebte davor, daß im letzten Moment seine Hand erschlaffen, sein Mut verfliegen würde, denn man hatte ihn ja stets einen »Feigling« genannt.

Es mochte gegen vier Uhr morgens sein, und der Mond war schon im Untergehen, da ließ ein Glockengeläut in der Ferne sich hören, leise und immer lauter und lauter. Er sprang in den Hohlweg, den der wehende Schnee aufgeschüttet hatte, und warf sich platt auf den Boden. Der Schlitten nahte dem Waldesrand, zwei in Pelze gehüllte Personen saßen darauf – sie waren's. – Aber wie lange das dauerte!

Der Schlitten fuhr langsamer von Schritt zu Schritt. Die Glocken klirrten träge, und die Zügel hingen schlaff über den Bug des Pferdes herab. Die Brüder schnarchten ... wehrlos waren sie ihm preisgegeben.

Rasch sprang er vor, fiel dem Pferd in die Zügel und löste die Stränge der Deichsel. Der Schlitten stand – und seine Herren schliefen weiter.

Er stellte sich vor sie hin und starrte auf sie nieder. Die Hand, die die Pistole hielt, zitterte heftig.

»Was tu' ich nun mit ihnen?« murmelte er; »im Schlaf kann ich sie doch nicht niedermachen? – Betrunken werden sie auch sein, sonst wären sie schon längst aufgewacht! – Das beste ist, ich lasse sie ziehen und warte auf das nächste Mal.«

Eben wollte er das Pferd wieder in die Stränge legen, da schoß es ihm durch den Kopf, daß er ja der Mutter geschworen habe, sie umzubringen.

»Ich wußt's ja, daß ich ein elender Feigling bin,« dachte er bei sich, »und nimmermehr die Courage dazu haben würde. – Nicht einmal zum Morden bin ich gut genug.«

[192] »Aber jetzt tu' ich's doch!« murmelte er, trat zwei Schritt zurück und zielte scharf auf Ulrichs Brust, aber den Hahn spannte er nicht, denn innerlich fürchtete er, er könnte den Schlafenden verletzen.

»Ob ich's doch wohl tun werde?« dachte er, als er eine Weile in dieser Stellung gestanden hatte. Und darauf begann er sich auszumalen, was geschehen würde, wenn er's getan hätte und die beiden da tot vor ihm lägen. »Entweder ich erschieße mich dann selber und lasse den Vater und die Schwestern im Elend zurück, oder ich erschieße mich nicht, sondern liefere mich morgen den Gerichten aus, dann ist das Elend zu Hause ebenso groß. – Wahnsinn ist es auf alle Fälle,« so schloß er seine Überlegungen, – »aber ich tu's doch.«

Und plötzlich gewahrte er unter dem Pelze Ulrichs, der sich über der Brust ein wenig zurückgeschlagen hatte, einen funkelnden Panzer von Ordenssternen, wie sie beim Kotillontanz die Damen den Herren anzuheften pflegen.

»Also von andern lassen sie sich mit Orden zieren,« dachte er, »und die Schwestern sitzen derweilen im Elend!«

Da fing es in ihm an zu kochen, und er begann zu fühlen, daß er's doch am Ende tun würde.

»Aber erst will ich ein Wort Deutsch mit ihnen reden,« murmelte er, packte Ulrich, der an seiner Seite saß, bei der Schulter und schüttelte ihn heftig, so daß sein Kopf hin und her flog.

Ulrich fuhr sofort aus dem Schlaf empor, und als er die dunkle Gestalt Pauls mit dem Revolver in der Hand dicht vor sich stehen sah, fing er laut und jämmerlich zu schreien an. Auch der andere erwachte nun, und beide streckten ihm in kläglicher Abwehr die Arme entgegen.

»Was willst du tun?« schrie der eine.

»Morde uns nicht!« schrie der andre.

»Steck den Revolver fort. Erbarm dich unser, – erbarm dich!«

Sie falteten die Hände und wären auf die Knie gefallen, wenn die Pelzdecken sie nicht gehindert hätten.

Paul maß sie voll Verwunderung. Er hatte sie sein[193] Leben lang nur keck und kampflustig gesehen, so daß sie ihm jetzt in ihrem Jammern wie wildfremde Leute erschienen. Im Innern wünschte er, daß sie die Messer gegen ihn ziehen möchten, damit er in ehrlichem Kampfe von seinem Revolver Gebrauch machen könnte. Und dann plötzlich kam ihm der Gedanke: »Hättest du sie als Junge ein einzig Mal so behandelt wie heute, dir wäre manche schwere Kränkung erspart geblieben – und den Schwestern vor allem.«

Ulrich suchte inzwischen seine Knie zu umklammern, und Fritz schrie in einem fort: »Erbarm dich unser – erbarm dich!«

»Ihr wißt sehr gut, was ich von euch will,« erwiderte Paul, der sich nun von allem Schwanken erlöst fühlte und mit kalter Entschlossenheit sein Ziel verfolgte.

»Was willst du, sag, was willst du? Wir tun alles, was du willst,« rief Ulrich, und Fritz, der sich hinter dem Bruder zu verstecken suchte, schien plötzlich ganz der Sprache beraubt.

»Ihr sollt euer Wort halten, wie ich das meine halten werde,« sagte Paul. »Ich wollte, ihr fändet den Mut, euch zu wehren, damit wir endlich einmal miteinander ins reine kämen ... Aber vielleicht ist es besser so ... und jetzt sprecht mir nach, was ich euch vorsprechen werde: ›Wir schwören bei Gott und dem Andenken unserer Mutter, daß wir binnen drei Tagen das Versprechen einlösen werden, das wir deinen Schwestern gegeben haben.‹«

Zitternd und lallend sprachen sie ihm die Worte nach.

»Und ich schwöre euch bei Gott und dem Andenken meiner Mutter,« erwiderte er, »daß ich euch niederschießen werde, wie und wo ich euch treffe, falls ihr euren Eid nicht heilighalten wolltet. So, jetzt könnt ihr fahren – bleibt sitzen! Ich werde das Pferd selbst ansträngen ... Sitzen bleiben!« – wiederholte er, als sie ihm trotzdem hilfreiche Hand leisten wollten.

Sie rührten sich nicht mehr, so gehorsam waren sie nun. Und als er fertig geworden war, sagten sie ihm[194] mit großer Höflichkeit »Guten Abend!« und fuhren von dannen.

»Also so wird's gemacht!« murmelte er, indem er die Pistole in den Schnee warf und dem Schlitten mit gefalteten Händen nachschaute. »Baust du auf Recht und Ehrgefühl und willst im Guten alles zum Guten wenden, so nennt man dich feige, und du wirst behandelt wie ein Hund. – Behandelst du aber die andern wie Hunde, gleich von vornherein, ohne zu bedenken, ob du im Recht bist oder nicht, so nennt man dich mutig, und alles gelingt dir, und du wirst ein Held. Also so wird's gemacht – – so wird's gemacht!«

Und er schüttelte sich, und ein Ekel erfaßte ihn vor sich und der ganzen Welt. So schmutzig erschien er sich, als ob nichts auf Erden ihn wieder reinwaschen könnte.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Am nächsten Vormittag stand er hinter dem Schuppen im Schnee und sah nach Helenental hinüber, wo ein dunkler Leichenzug zum traurigen Gang sich rüstete. – Zweimal war er in den Stall gegangen, den Knechten zu sagen, daß sie den Schlitten anspannen möchten, und beide Male war ihm das Wort in der Kehle stecken geblieben.

Nun stand er da, hielt die Hände gefaltet und sah zu, wie auf der weißschillernden Heide eine lange schwarze Schlangenlinie dahinkroch, die kleiner und kleiner wurde und schließlich hinter dem Walde verschwand, denn der Kirchhof von Helenental lag weitab auf dem Weg zur Stadt hin.

»Wie schön wär's,« dachte er, »wenn sie sich auch unter den drei Fichten begraben möchten! – Dann würde die Mutter gute Nachbarschaft haben und – –«

Er schrak zusammen, denn blitzschnell hatte sein Hirn sich ausgemalt, wie er dann an einem schönen Frühlingsabend alldort mit Elsbeth hätte zusammentreffen können, die da käme, an dem Grab zu sitzen, das ihr gehörte, wie er zu dem seinen.

»Aber es ist gut so, wie es ist,« sprach er vor sich hin, »wie könnte ich je den Mut finden, ihr wieder ins Auge [195] zu sehen? – – ich, der ich des Nachts am Wege lagere, um meinen liederlichen Schwestern Männer zu besorgen!«

Da plötzlich kamen die Zwillinge atemlos dahergelaufen – sie zitterten am ganzen Leibe und rangen nach Worten.

»Was habt ihr, Kinder?«

Grete verbarg den Kopf an seiner Schulter, und Käthe zog die Luft durch die Nase aus und ein wie ein Kind, welches das Weinen verbeißt.

»Sie sind da,« stammelte sie, und dann fingen beide zu schluchzen an.

»'s ist gut,« erwiderte Paul und küßte sie.

»Kommst du nicht ins Haus?« fragte Käthe, an ihrer Schürze saugend.

»Wo habt ihr sie denn gelassen?«

»Sie reden mit dem Vater.«

»Aha – das hört sich schon anders an. – Lauft in eure Kammer – ich komme gleich.«

»Und das um welchen Preis!« murmelte er, indem er ihnen nachschaute, dann warf er noch einen Blick nach Helenental hinüber und schritt in den Schuppen, wo die »schwarze Suse« stand. – »Es ist Zeit, daß du lebendig wirst,« sagte er, ihren schwarzen Leib streichelnd, »wir werden wacker schuften müssen, du und ich, wenn wir den Margellen die Mitgift schaffen wollen.«

Als er das Haus betrat, hörte er die lautschallende Stimme des Vaters sich entgegendringen.

»Bin doch neugierig, wie sie sich benehmen,« sagte er und lauschte.

»Ja, ein Pinsel ist er und ein Pinsel bleibt er, meine Herren! Was ich im großen ausgedacht habe, vollführt er nun in seiner kleinlichen, krämerhaften Manier. Mir hat sich das Herz im Leibe umkehren wollen, wenn ich ihn an der Maschine herumbasteln sah, als wär' es eine Weidenpfeife. Und dabei geht die Wirtschaft immer weiter rückwärts. – Oh, meine Herren, Sie sehen mich hier als Krüppel, als elenden, zugrunde gerichteten Krüppel, aber wenn ich noch das Szepter führte, meine Herren, Tausende [196] wollt' ich aus der Erde stampfen, nicht minder wie Vanderbilt, der Amerikaner, dessen Lebenslauf in diesem Kalender so lehrreich beschrieben steht.«

»Können Sie die Leitung der Geschäfte nicht von ihrem Stuhl aus besorgen?« fragte die Stimme Ulrichs.

»Oh, meine Herren, sehen Sie meine Tränen! – ich vergieße sie über das undankbarste, ungeratenste Kind, welches die Erde trägt. In diesem Kalender ist die Geschichte eines Sohnes geschrieben, der seinen in der Wüste verschmachtenden Eltern mit Gefahr seines Lebens einen Trunk Wasser aus Räuberhänden holt ... aber was tut er? Wie ich hier sitze, meine Herren, bin ich nicht imstande, Ihnen auch nur ein Schnäpschen anzubieten, ein Kümmel- und Ingwerschnäpschen, wie ich es so gerne trinke.«

»Wir werden es Ihnen künftig mitbringen,« versicherte Fritz.

»Oh, warum hat Gott mir nicht zwei solche Söhne geschenkt, wie Sie es sind? Und denken Sie, nie fragt er mich, die Küche verschließt er vor mir – es wundert mich, daß ich nicht schon Hungers gestorben bin. – Nun, Sie kennen ihn ja von Kindesbeinen an – war er nicht immer ein roher, tückischer Patron?«

»O ja, er hatte stets etwas Gewalttätiges an sich,« meinte Ulrich.

»Und mit Pistolen und Peitschen hantierte er besonders hinterrücks,« fügte Fritz hinzu.

»Besonders hinterrücks – – hahaha, das trifft ihn, das ist seine Art. Oh, meine Herren, ›geheime Tücke führt nimmer zum Glücke‹, so heißt ein Sprüchlein in diesem Kalender, und wenn der Himmel mich noch einmal gesund werden läßt, dann sollen Sie sehen, wie ich Rache nehme, zuerst an dem Schurken, dem Brandstifter, dem gemeinen Kerl, dem ich mein ganzes Elend verdanke, und dann auch an dem Herrn Sohn, der seinen Vater so schlecht behandelt. Enterben tu' ich ihn! Vom Hof jag' ich ihn! – hab' ich Recht, wenn ich das tue, meine Herren?«

»Ganz Recht,« erklärten beide.

»Guten Tag auch!« sagte Paul hervortretend. – – –

[197] Die drei schraken zusammen. Der Vater duckte sich scheu in seinem Sessel, wie ein Hund, der Schläge fürchtet, die Brüder streckten ihm sehr verlegen und sehr demütig die Hände entgegen und baten, er möchte alles vergessen sein lassen.

»Warum nicht?« erwiderte er, seinen Widerwillen bezwingend, »ihr wißt ja nun den richtigen Weg.«

Als die beiden ihre Werbung vorbrachten, erwachte in dem Alten die Großmannssucht stärker denn je. »Meine Herren,« sagte er, die Stimme in der Kehle quetschend, damit sie würdiger klinge, »Ihr Antrag ehrt mich selbstverständlich, aber ich bin nicht in der Lage, ihn mit ja zu beantworten. Erst bitte ich um vollgültige Bürgschaft, damit ich weiß, welches die Zukunft meiner Töchter ist, welche durch Schönheit und Liebenswürdigkeit wie auch durch fleckenlose Tugend für ein glänzendes Schicksal geschaffen sind. Ich habe sie so sorgfältig erzogen und so liebevoll über sie gewacht, daß mein väterliches Herz sich nicht entschließen kann, sie ohne weiteres fortzugeben.«

In diesem Tone schwadronierte er weiter, bis Paul ruhig sagte: »Laß nur, Vater, die Sache ist bereits abgemacht.« – Da schwieg er, innerlich hochbefriedigt, eine so glänzende Rede an den Mann gebracht zu haben. – – –

Nachmittags ging Paul in die Kammer der Schwestern und sagte: »Kinder, betet ein Vaterunser, – Frau Douglas wurde heute begraben.«

Sie sahen ihn mit großen, freudeglänzenden Augen an, und um ihre Lippen glitt ein verträumtes Lächeln.

»Habt ihr mich nicht verstanden?«

»Ja,« sagten sie leise und erschrocken und drückten sich aneinander, als fürchteten sie die Rute. – Er ließ sie allein in ihrem Glück und schritt in den klaren, kalten Wintertag hinaus. »Wie kommt es nur,« dachte er, »daß jetzt ein jeder Angst vor mir hat und keiner versteht, wie ich's meine?«

An demselben Tage jagte er die Knechte davon und schrieb an den Meister, er möge morgen kommen, die Arbeit wieder aufzunehmen. – – – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

[198] Noch in derselben Woche trat Tauwetter ein, rasch ward nun das Werk gefördert, und eines Freitagabends, zu Anfang März, stand die »schwarze Suse« blitzblank in ihrem neugeflickten Gewande da. – Am nächsten Morgen sollte der Kessel probiert werden, und Holz und Kohlen lagen bereits aufgeschichtet an den Wänden des Schuppens.

Schlaflos wälzte sich Paul in seinem Bette. Träge schlichen die Stunden dahin – eine Ewigkeit qualvollster Erwartung lag zwischen Mitternacht und Morgen grauen ...

»Wird sie lebendig werden? Wird sie ...?«

Die Uhr schlug eins – da hielt er sich nicht länger, kleidete sich an und schlich, die flackernde Laterne in der Hand, in die naßkalte Märznacht hinaus. Der Wind fing sich in seinen Kleidern, und der eisige Sprühregen schlug ihm seine Geißeln ins Gesicht.

Aus dem dunkeln Schuppen glotzte die »schwarze Suse« ihm mürrisch entgegen, als wolle sie nicht dulden, daß man ihre letzte Nachtruhe störe ... Die Laterne warf einen gespensterhaften Schein über den unwirtlichen Raum, und die Schatten der Maschine tanzten bei jeglichem Flackern in grotesken Sprüngen auf der gelben Bretterwand.

»Ob ich den Meister wecke?« dachte Paul. »Nein, mag er schlafen, ich will den Schmerz oder die erste Freude für mich allein haben.«

Prasselnd flogen die Kohlenhaufen in den schwarzen Schlund ... Ein blaues Flämmchen zuckte auf, züngelte ringsumher, und bald erfüllte rötliche Glut den finsteren Raum ... Trübe blinzelte die Laterne von der Wand hernieder, als sei sie neidisch auf den warmen, frohen Feuerschein.

Paul setzte sich auf einen Kohlenhaufen und schaute dem Spiel der Flammen zu ... Die Tür der Feuerung begann sich rötlich zu färben, und durch den Rost sanken, funkensprühend, halb ausgeglühte Schlacken.

Paul hörte sein Herz klopfen, und wie er seine Hand beruhigend daraufpreßte, fühlte er in der Brusttasche Elsbeths Flöte. Er hatte sie an dem Tage, da die Arbeit wieder aufgenommen wurde, auf der Lokomobile liegen gefunden und seitdem bei sich getragen.

[199] »Ob ich auch das wohl noch lernen werde?« fragte er in banger Freudigkeit über das bisher Errungene. – Er setzte die Flöte an den Mund und versuchte zu blasen – die Minuten schlichen langsam, er mußte sich die Zeit vertreiben. – Aber die Töne, die er hervorrief, klangen hohl und gequetscht – eine Melodie ließ sich noch weniger zusammensetzen.

»Ich lern's doch nicht mehr,« dachte er. »Was ich für mich selber tue, mißlingt – das ist nun einmal Gesetz in meinem Leben. Für andere muß ich säen, wenn ich ernten will.«

Aber trotzdem setzte er die Flöte wiederum an die Lippen. »Es wäre schön,« dachte er, »wenn ich ein Künstler geworden wäre, wie Elsbeth es mir prophezeite, anstatt daß ich hier Maschinen anheize.« – Ein Schauer der Erregung durchrieselte ihn.

»Wird sie lebendig werden? Wird sie?« ...

Ein neuer quäkender Ton entrang sich der Flöte. »Brr,« sagte er, »das geht durch Mark und Bein. Lieben und Flötespielen werd' ich wohl andern überlassen müssen.«

Und in diesem Augenblick erhob sich im Innern der schwarzen Suse jenes geheimnisvolle Singen, das ihm all die Jahre hindurch treu in der Erinnerung geblieben war. Es klang, als sängen die Schicksalsschwestern unter dem Eschenbaum.

»Hei, das ist 'ne schönre Musik!« rief er aufspringend und schleuderte die Flöte von sich ... Die eiserne Tür klirrte ... Neue Kohlenhaufen verschlang der glühende Rachen ... Die Schaufel flog rasselnd auf den Boden.

»Sie werden im Haus erwachen,« dachte er, für einen Augenblick erschrocken, »aber mögen sie, mögen sie!« fuhr er fort, »es gilt ja ihr Glück, ihre Zukunft.«

Lauter und lauter wurde das Singen, da faßte ihn plötzlich der Übermut, daß er hell zu pfeifen begann.–»Wie gut das klingt! Ja, wir verstehen uns auf das Musikemachen – wir sind stramme Musikanten, Suse – was?«

Der Schlot gab mächtige Wolken schwarzen Qualmes [200] von sich, die wie ein Baldachin sich unter der Decke verbreiteten, wogend und schwellend, als führe ein Sturmwind durch die Falten ... Das eine der Ventile ließ einen leisen, zischenden Ton vernehmen, und ein weißes Dampfwölkchen spritzte empor, das sich rasch mit dem schwarzen Rauch vermischte ... Lauter und lauter wurde das Zischen, weiter und weiter rückte der Zeiger im Manometer ...

»Jetzt ist's Zeit!« ...

Mit zitternden Händen tastete er nach dem Hebel ... ein Ruck ... ein Schwung ... und wirbelnd, wie von Geisterhänden gejagt, kreiste das Rad in die Runde.

»Viktoria – sie lebt – sie lebt!«

Nun mögen sie hören, mögen kommen! Seine Hand zerrt an der Klappe der Dampfpfeife, und gellend ruft ihr Schrei in die Nacht hinaus: »Ich leb', ich lebe!«

Da faltete er die Hände und murmelte leise: »O Mutter, das hätt'st du noch erleben müssen.« Und wie er das sagte, kam es plötzlich über ihn, als wäre auch dieses vergebens, als säße auch ihm der Tod im Nacken und schrie' ihm ins Ohr: »Du stirbst, du stirbst – ohne gelebt zu haben.«

»Noch hab' ich zu schaffen,« sagte er mit feuchtem Auge, »erst will ich die Schwestern glücklich wissen – denn bleiben sie arm, so werden sie roh behandelt – erst will ich den Hof in Pracht erstehen sehen, dann mag er kommen.«

Und wie die schwarzen Wolken ringsum, so türmten sich aufs neue Jahre der Knechtschaft, Jahre des Ringens, des Sorgens vor seinem Blick empor.

Mit verschlafenen Gesichtern tauchte die Hausgenossenschaft im Tore des Schuppens auf, auch die Schwestern fanden sich ein und standen in dem Qualm und dem Feuerschein ängstlich aneinandergeschmiegt, in ihren weißen Nachtkleidchen anzuschauen wie zwei blasse Rosen an demselben Stengel.

»Hier wird eure Zukunft bereitet, ihr armen Dinger,« murmelte er, indem er ihnen zunickte.

Als der Meister zur Stelle war, ging Paul in das[201] Schlafzimmer des Vaters, der ihm aus dem Bette verstört entgegenstarrte.

»Vater,« sagte er bescheiden, wiewohl sein Herz vor Stolz sich schwellte, »die Lokomobile ist instand gesetzt; sobald der Grund aufgetaut ist, können die Arbeiten auf dem Moor beginnen.«

Der Alte sagte: »Laß mich in Ruh'!« und drehte den Kopf nach der Wand.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Als am andern Morgen die Lokomobile ins Freie gezogen wurde, ertönte auf der Schwelle des Schuppens ein eigentümlich prasselnder, quetschender Laut.

»Es ist etwas unter die Räder gekommen,« sagte der Meister.

Paul sah nach. Da lag als ein Häuflein Trümmer, mitten durchgebrochen und plattgedrückt – Elsbeths Flöte.

Ein bitteres Lächeln zog über sein Gesicht, als wollte er sagen: »Nun hab' ich dir auch mein Letztes geopfert, nun kannst du doch zufrieden sein, Frau Sorge?«

Seit diesem Tage war ihm zumute, als sei das letzte Band zwischen ihm und Elsbeth zerrissen. Er hatte sie verloren wie sein Träumen, sein Hoffen, seine Würde, sein Selbst ...

Mit Hallo wanderte die »schwarze Suse« ins Moor hinaus. –

[202] 19

Die Jahre gingen dahin. Lange schon lebten die Schwestern als glückliche Hausfrauen, die Mitgift war herausbezahlt, und die Schwäger fingen bereits an, bei Paul einen Pump aufzunehmen.

Wie schweigsam war es nun erst auf dem stillen Heidehof! Der Vater humpelte jetzt wohl an einer Krücke in Haus und Garten umher, aber er war viel zu träge geworden, um das Szepter noch einmal zu ergreifen. Paul wußte nichts für ihn zu tun, als daß er ihm seine Lieblingsgerichte kochen ließ, seine Rationen Kümmel mit Ingwer nicht allzu kläglich abmaß und ihm zu jedem Weihnachten einen neuen Kalender schenkte. Damit hätte der Alte wohl zufrieden sein können, denn er brauchte in der Tat nicht mehr – selbst in die Stadt zu fahren war er zu schwerfällig geworden, aber je prächtiger sein Leib gedieh, desto bitterer und verbissener wurde sein Gemüt. Stundenlang konnte er in sich hineinbrüten, und schrecklich war es anzusehen, wie er dabei mit den Zähnen knirschte und die geballten Fäuste schüttelte. Eine seiner fixen Ideen war, daß sein Sohn ihn absichtlich unterdrücke, damit er den Ruhm der großen Ideen, die er selber ausgeheckt, für sich in Anspruch nehmen könne, und je besser das Moor sich rentierte, desto wütiger rechnete er aus, wieviel seine Aktiengesellschaft eingetragen haben würde. Er kargte nicht mit den Millionen, er hatte es ja nicht nötig. –

Aber noch andres wuchs in dem dunkelsten Grunde seiner Seele, ein Racheplan gegen Douglas, den er heimlich pflegte und großzog als sein eigenstes Geheimnis. Selbst die Schwiegersöhne, denen er sonst gern sein Herz ausschüttete, erfuhren nichts davon. Ulrich äußerte einmal zu Paul: »Nimm dich in acht, der Alte führt was gegen Douglas im Schilde.«

»Was sollte das wohl sein?« erwiderte er, scheinbar unbesorgt, wiewohl er sich schon manchmal darüber Gedanken gemacht hatte.

Dumpf und stumpf lebte Paul seine Tage dahin. –[203] Sein ganzes Innenleben war der platten Sorge um Gut und Geld verfallen, doch ohne daß er je an dem Erworbenen Freude gefunden hätte. Er besaß niemanden mehr, den er glücklich zu machen hatte, und arbeitete, ohne zu wissen, warum? – wie der Ackergaul an seinen Strängen zieht, unwissend, was der Pflug tut, den er durch die Dornen schleppt. – Monate vergingen manchmal, ohne daß er einen Blick in seine Seele warf. Auch pfeifen tat er nicht mehr. Er fürchtete die Qualen, die die überströmende Empfindung ins Leben rief, aber auf die Zeiten, da er noch in Tönen mit sich zu sprechen vermocht hatte, sah er wie auf ein verlorenes Paradies zurück.

Manchmal überkam ihn eine tiefe Bitterkeit, wenn er den Zweck seiner Arbeit, seiner Sorge, seiner durchwachten Nächte mit dem verglich, was er dafür hingeopfert. – Es schien ihm etwas ungeheuer Stolzes, Reiches, Glückbringendes gewesen, nur wußte er ihm keinen rechten Namen zu geben.

Von diesem Grübeln befreite er sich am besten, indem er sich kopfüber in neue Arbeit stürzte, und lange Zeit verging, bis ihn die Krankheit wieder packte.

Der Heidehof gedieh inzwischen prächtiger von Jahr zu Jahr: die Schuld an Douglas war getilgt, die Felder florierten, und auf den Wiesen weidete edles Rassevieh. Der ganze Hof sollte ein neues Gewand erhalten. Wohnhaus, Stall und Scheune, alles sollte von Grund auf erneuert werden. – Und eines Frühlings begann es im Hof zu wimmeln von Arbeitsleuten aller Art. Das Wohnhaus wurde niedergerissen, und während Paul für sich eine hölzerne Baracke zum Wohnsitz wählte, ließ der Vater sich leicht bereden, zu einem der Schwiegersöhne überzusiedeln.

»Ich werde nicht mehr wiederkommen,« sagte er beim Abschiede, »ich bin nicht mehr imstande, dein verrücktes Treiben anzusehen.« Der erste aber, der sich im Herbst wieder einfand, war der Alte. Er setzte sich behaglich in seinen Lehnsessel und zog fortan auch die Schwiegersöhne in sein Schimpfregister hin ein. – Die mochten ihn freilich nicht mit Handschuhen angefaßt haben.

[204] »Nun hab' ich keinen Platz mehr auf Erden, wo ich mein graues Haupt zur Ruhe legen könnte,« murrte er, während er sich faul in den Polstern streckte.

Im nächsten Frühjahr kamen die Wirtschaftsgebäude an die Reihe, besonders die Scheune sollte sich zu einem Schaustück ländlicher Pracht gestalten, als Denkmal jener fürchterlichen Nacht, die der Mutter den Todesstoß gegeben hatte.

Der Landmann, der nun über die Heide fuhr, machte wohl halt, um die blanken Gebäude, die mit ihren roten Ziegeldächern ihm schon aus der Ferne entgegengeleuchtet hatten, bewundernd von nah zu sehen, und mancher schüttelte bedenklich den Kopf und murmelte das alte Sprüchlein:


Bauen und Borgen

Ein Sack voll Sorgen!


Auf dem Moore draußen spie die »schwarze Suse« ihre schwarzen Wolken, die Messer der Schneidemaschine bohrten sich tief in den zähen Grund, und die Presse arbeitete langsam und schweigend wie ein gutwilliges Haustier. Ein neuerbauter Schuppen glänzte mit weißen Wänden im Sonnenlicht, und ringsherum erhoben sich die langen schwarzen Mauern des gepreßten Torfes. Die Ziegel waren hart und schwer, mit wenig Fasern und viel Kohle. Sie schlugen ohne Mühe die Konkurrenz aus dem Felde und gewannen einen guten Ruf bis nach Königsberg hin.

Paul, der auf seinen Geschäftsreisen viel unter fremde Leute kam, genoß nun auch das Glück, als ein angesehener Mann begrüßt und von würdigen Gutsherren als ihresgleichen behandelt zu werden. Aber er hatte keine Freude mehr daran.

Wenn man ihm freundschaftlich die Hand schüttelte, ihm Glück zu seinen Erfolgen wünschte oder sich seinen Besuch erbat, so fragte er sich im stillen: »Will der mich höhnen?« Und obgleich er wohl sah, daß es den Herren ernst war, so fühlte er sich doch stets wie von einem Alp befreit, wenn man ihn gehen ließ.

[205] »Warum sind sie nicht früher gekommen, die Freundlichen?« sagte er zu sich, »damals, als es mir nottat, als ich noch Nutzen aus jedem guten Wort ziehen konnte. Jetzt bin ich abgestorben, wie ein Stock – jetzt ist's zu spät.«

Doch weiter und weiter ging sein Ehrgeiz. –

Und als wollte der Himmel selbst das Weihfest geben, ließ er in diesem Jahr, dem siebenten seit der Mutter Tod, die Halme in solcher Fülle gedeihn und spendete so verschwenderisch Regen und Sonne, jedes zu seiner Zeit, daß es den Leuten schier unheimlich wurde vor all dem Segen und sie einander angstvoll fragten: »Kann das zum Guten sein?«

»Es wird wohl noch was dazwischenkommen, ein Hagelschlag oder dergleichen,« sagte Paul, der stets auf das Schlimmste gefaßt war. Aber nein! Hochgetürmt schwankte ein Erntewagen nach dem andern in die Scheuern, und der goldgelbe Ährensegen sank, Körner um sich streuend, in dem Fachwerk nieder, bis alles vollgepfropft war bis zum First hinauf.

Paul hatte auch hieran keine Freude. – Je reichlicher er Hab' und Gut sich häufen sah, je stolzer die Früchte von seiner Hände Arbeit ihm entgegengrüßten, desto ängstlicher wurde sein Sorgen. Wer ihn mit tiefgefurchter Stirn und gesenktem Haupt langsam über den Hof herwandeln sah, der hätte ihn für einen Schuldenmacher halten mögen, dem das Messer schon an der Kehle sitzt.

Um dieselbe Zeit las er in der Zeitung, daß Elsbeth sich verlobt habe. Die Namen Elsbeth Douglas und Leo Heller standen in schöngeschweiften Lettern dicht untereinander. Er fühlte keinen stechenden Schmerz, er erschrak nicht einmal, nur ein Lächeln voll wehmütiger Genugtuung umspielte seinen Mund, als er vor sich hinmurmelte: »Ich hab's ja gleich gesagt.«

Und dann erinnerte er sich des Schriftstücks, das der jüngere Erdmann einst in der Kirche herumgeschickt hatte, um ihn zu ärgern, und das ganz ähnlich gelautet, nur daß sein eigener Name an Stelle des fremden gestanden hatte. Und das war immerhin ein Unterschied.

[206] Er hatte sie nun seit Jahren nicht gesehen. So dicht ihre Grundstücke nebeneinander lagen, es gab kein Begegnen zwischen ihnen. Das »weiße Haus« leuchtete noch ebenso hell über die Heide in sein Fenster hinein wie damals, als die Sehnsucht, zu ihm zu pilgern, in seiner Kinderseele erwachte, aber der magische Schimmer, der es damals, der es noch fünfzehn Jahre später umfloß, war verschwunden, verlöscht vor den sinkenden Schatten der Alltäglichkeit.

»Mag sie glücklich werden!« sagte er und glaubte sich mit diesem Wunsche genugsam getröstet. –

Am nächsten Sonntag wurde in der Kirche das Erntefest gefeiert. Paul saß in seinem Winkel, hörte die Orgel rauschen und den Pfarrer Lob und Dank zum Himmel rufen. Die Sonne leuchtete in tausend frohen Farben durch die gemalten Scheiben – just wie an seinem und Elsbeths Einsegnungstage, – aber auch düster und traurig in ihren aschfarbenen Gewändern stand noch immer die graue Frau und starrte aus großen, hohlen Augen auf ihn nieder. – – –

»Auch ich feire heute ein Erntefest, das Erntefest meiner Jugend,« dachte er, »aber allzu freudig ist es nicht.« ...

Der Gottesdienst ging zu Ende. Mit einem Triumphgesang entließ die Orgel die frohbewegten Beter, die sich auf dem eichenbeschatteten Vorplatz zusammendrängten, um einander glückwünschend die Hände zu reichen.

Als Paul die Stufen hinabschritt, erblickte er etwa fünf Schritte vor sich Elsbeth am Arm ihres Verlobten.

Sie schien gealtert und sah blaß und kränklich aus. – Als ihr Blick den seinen traf, wurde sie noch um einen Schatten blässer.

Er zitterte am ganzen Leib, doch sein Auge wich nicht von ihrem Angesicht. Befangen griff er nach der Mütze, und an derselben Stelle, wo sie vor fünfzehn Jahren das erste Wort miteinander gesprochen, gingen die beiden schweigend und fremd aneinander vorüber.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

[207] 20

»Was mag der Vater da haben?« sagte Frau Käthe Erdmann zu Frau Grete Erdmann, die beide des Wegs dahergefahren kamen, um die Heimat zu besuchen und bei dieser Gelegenheit dem Bruder das Herz auszuschütten.

Der Alte stand geduckt in einem Winkel hinter der Scheune und machte sich in den Strohhaufen zu schaffen, die dort aufgeschichtet lagen. Als er den Wagen rasseln hörte, hielt er erschrocken inne und rieb sich die Hände wie einer, der sich Mühe gibt, unbefangen zu erscheinen.

Die beiden Schwestern sahen sich an, und Grete meinte: »Man müßte Paul einen Wink zukommen lassen.«

Oh, sie waren sehr vernünftig geworden, die beiden Wildlinge, innen nicht minder als außen; ihre wirren, braunen Locken drückten sich glatt gekämmt an den Ohren vorbei, und die glühenden Augen trugen einen müden Schimmer, als wüßten sie nun, wie's tut, wenn man in stiller Kammer sich satt weint. Frau Käthe hatte freilich auch drei stramme Jungen, bei Frau Grete zeigten sich gar schon Hoffnungen auf etwas viertes, und jeder weiß: Mutterschaft macht müde!

Paul arbeitete draußen im Moor, aber der Vater kam mit verschmitztem Lachen daher, und seine Krücke schwenkend, rief er: »Lauf' ich nicht wieder wie 'n Junger?«

Frau Käthe sprach ihre Bewunderung aus, und Frau Grete stimmte ihr bei.

»Es geht wie geschmiert,« lachte er, »vorgestern hab' ich sogar einen Spaziergang nach Helenental gemacht.«

Erstaunt, fast erschrocken sahen sie ihn an, denn er war seit seinem Auszuge nicht mehr dort gewesen.

»Wie hat man dich empfangen?« fragte Frau Grete.

»Wer? Wie? – Ach, ihr dachtet wohl, ich hab' 'ne Nachbarsvisite gemacht? Ihr seid mir die Rechten! Eher ging' ich bei eurem Hofhund zu Gaste und fräß' ihm die Hammelknochen weg!«

»Aber was tatst du denn dort?«

[208] »Durchs Hoftor hab' ich geguckt und hab' nach der Uhr gesehen und bin dann wieder heimgegangen. Wie lange, glaubt ihr wohl, daß ich brauche, um hinzukommen –? Ratet einmal!«

Sie hatten keine Ahnung.

»Anderthalb Stunden, akkurat wie ein Schnelläufer ... Freilich,« – er schaute sinnend vor sich hin –, »wenn man noch was trägt, kann's an die zweie dauern.«

»Und bloß, um das auszurechnen, bist du ...?«

»Bloß deshalb, mein Schatz, bloß deshalb!« Und seine Augen funkelten unheimlich.

Alsdann setzte man sich in die Veranda, die Paul nach dem Muster des »weißen Hauses« vor der Tür hatte errichten lassen. Die alte Haushälterin, die früher den Erdmanns die Wirtschaft geführt hatte und nach der Heirat von dort zum Heidehof übergesiedelt war, mußte in die Küche wandern, um Kaffee zu kochen und Waffeln zu backen, und da der Vater mit seinen Töchtern nichts Besseres zu reden wußte, so schimpfte er auf Paul und die Schwiegersöhne. Er tat es heute weniger aus Liebe zur Sache, wie aus alter Gewohnheit, seine Gedanken schienen ganz woanders zu weilen, und während er sprach, rückte er mit unheimlicher Geschäftigkeit auf seinem Stuhl hin und her.

»Laß uns hineingehen!« sagte Käthe, »wir müssen uns ein wenig in der Wirtschaft umsehen, auch fliegen wir hier beinahe auf, so weht uns der Wind unter die Röcke.«

»Es wird Sturm geben zur Nacht,« meinte Grete. Und dann plötzlich wandten beide sich erschrocken um, denn das Lachen, das der Alte hören ließ, hatte so gar seltsam geklungen.

»Laß es nur Sturm geben,« meinte er, ein wenig verlegen, »das schadet rein gar nichts. Gibt's bei euch in der Ehe nicht auch manchmal Sturm?«

In Käthes Antlitz blitzte es auf wie von alter Schelmerei, aber Grete zog die Mundwinkel herunter, als wollte sie weinen. Bei ihr schien der letzte noch nicht ganz verwunden.

[209] »Ja, es wird früh Herbst dieses Jahr,« meinte sie mit einem Anfall von Melancholie.

Der Alte blies: »Wenn die Schwalben heimwärts ziehn,« und Käthe meinte: »Laß es Herbst werden, die Scheunen sind ja voll.«

»Gott sei Dank,« kicherte der Alte, »sie sind voll.«

Die Schwestern hatten sich umschlungen und schauten, die Stirnen gegen die Scheiben gelehnt, auf den sonnbeglänzten Hof hinaus, auf dem die Sandwolken in hohen Tromben zum Himmel wirbelten ...

Mit Dunkelwerden kam Paul nach Hause, schwarz wie ein Mohr, denn der Torfstaub, der vom Winde umhergetrieben wurde, hatte sich ihm in Bart und Antlitz festgesetzt.

Er reichte den Schwestern stumm die Hand, blickte ihnen scharf in die Augen und sagte: »Hernach werdet ihr mir klagen.«

Grete sah Käthe an, und Käthe sah Grete an, dann lachten sie plötzlich hell auf, ergriffen ihn bei beiden Schultern und tanzten mit ihm in der Stube herum.

»Ihr werdet euch schwarz machen, Kinder,« sagte er.

»Mein Liebster ist ein Schornsteinfeger,« trällerte Grete, und Käthe sang den zweiten Vers: »Mein Liebster ist aus Mohrenland.«

Darauf küßten sie ihn und liefen vor den Spiegel, um zu sehen, ob der Kuß abgefärbt hatte.

Als er hinausgegangen war, sich zu säubern, meinte Grete: »Drollig, er braucht einen bloß anzusehen, und alles ist wieder gut.«

Und Käthe fügte hinzu: »Aber er selber ist heute schweigsamer als je.«

»Paul, sei gut!« schmeichelten sie, als sie alle zusammen beim Abendbrottisch saßen, »wir dürfen nur alle Jubeljahr einmal hierher ...! Mach uns ein freundlich Gesicht.«

»Habt ihr vergessen, welch ein Tag heute ist?« erwiderte er, indem er ihre Haare streichelte.

Sie erschraken, denn sie dachten zuerst an den Todestag der Mutter, aber erleichtert atmeten sie auf – der fiel ja in die Johanniszeit.

[210] »Nun?« fragten sie.

»Heute vor acht Jahren brannte unsere Scheune!«

Alle schwiegen – nur der Vater grollte und lachte in sich hinein. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Es fing an, finster zu werden, über die Heide her glomm noch ein glühroter Streif, der einen Feuerschein über den weißgedeckten Tisch hinwarf ... An den Fensterläden rüttelte der Sturm.

Gut, daß die Haushälterin jetzt ins Zimmer trat. Eine geschwätzige Alte, die stets mit Neuigkeiten aufzuwarten wußte.

»Na, Frau Jankus, was gibt's Gutes?« rief Käthe ihr entgegen, froh, den Alp der Erinnerung los zu werden.

»Oh, Madamchen,« rief die alte Person, »wissen Se's denn noch nicht? – In der Kirche geht's heute hoch her. Das ganze Dorf windet Kränze – über dem Altar haben se 'ne Jirlande angebracht von lauter Remontantenrosen, und zu beiden Seiten stehn die scheensten Olejanderbeime.«

»Was ist denn los?«

»Hochzeit ist los! Das Fräulein Douglas macht morgen Hochzeit!«

Die beiden Schwestern schraken zusammen, warfen sich einen raschen Blick zu und schauten dann auf Paul. – Der aber drehte eine Brotkrume zwischen den Fingern und tat, als ob ihn die Geschichte nicht im mindesten anginge.

Die Schwestern warfen sich einen neuen Blick zu und nickten verständnissinnig. Dann ergriffen sie in gleichem Impulse seine beiden Hände.

»Kinder, ihr zerreißt mich ja!« sagte er mit einem schwachen Lächeln.

»So, dann gibt's ja heute Polterabend drüben?« fragte der Vater, der plötzlich sehr lebendig geworden war.

»Wahrscheinlich, wahrscheinlich!« antwortete die Wirtschafterin. »Vorhin sah ich 'nen Haufen von Kindern vorübergehn, die waren ganz beladen mit alten Töpfen und sonstigem Gekrassel.«

»Bei unserer Hochzeit haben sie's glimpflich gemacht,« [211] meinte Grete, und beide Schwestern sahen sich an und lächelten träumerisch.

»Das trifft sich ja prächtig,« raunte der Alte und rieb sich die Hände.

»Warum prächtig?« fragte Paul.

»Ach, ich meine nur so ... Zufall – derselbe Tag, wo sie unsere Scheune niederbrannten. Sag mal – du, Paul, du warst ja wach – was war wohl die Uhr, als du die Flamme aufsteigen sahst?«

»Eins kann es gewesen sein.«

»Na, du mußt's ja wissen. Was du in Helenental eigentlich zu suchen hatt'st, ist mir zwar noch heute unklar, aber es ist gut – ganz gut so –, ich weiß nun ganz genau, um wieviel Uhr es war!«

»Dann weißt du was Recht's,« sagte Grete lachend.

»Weiß ich auch!« erwiderte er trotzig. »Wirst schon sehen, mein Töchterchen, wirst schon sehen!«

Käthe wollte der Schwester zu Hilfe kommen, aber Paul winkte ihnen heimlich zu, daß sie den Alten in Ruhe ließen.

Bald darauf nahmen die Schwestern Abschied.

»Du wolltest Paul ja sagen, daß der Vater hinter der Scheune Heimlichkeiten hat,« sagte Käthe, als sie beide auf dem Wagen saßen.

»Ja, richtig!« erwiderte diese, ließ den Kutscher halten und winkte Paul zu sich heran. Aber der Alte, der in seinem Mißtrauen überall hinzuhorchen pflegte, drängte sich dazwischen, und so mußte es unterbleiben.

Als Paul bei seinem allabendlichen Rundgang in die Küche kam, gewahrte er, wie der Vater mit der Wirtschafterin um einen irdenen Topf unterhandelte.

»Wozu brauchen Sie den Topf, Herr Meyhöfer?« fragte die Alte.

»Ich will auch Polterabend feiern gehen, Frau Jankus!« erwiderte er mit einem hohlen Gelächter. »Vielleicht schenken sie mir dort was vom Hochzeitskuchen.«

Die Alte wollte sich schier zuschanden lachen, und der Vater humpelte mit seinem Topf in das Schlafzimmer, dessen Tür er sorgfältig hinter sich verschloß ...

[212] Das Haus war zur Ruhe gegangen, nur Paul trieb sich noch auf dem dunkeln Hofe umher.

»Also morgen macht sie Hochzeit,« sagte er, die Hände faltend. »Wenn ich ein guter Christ wäre, müßte ich nun für ihr Glück ein Vaterunser beten ... Aber so ein schlapper Geselle bin ich doch noch lange nicht ... Ich glaub', ich hab' sie mal sehr liebgehabt, mehr lieb, wie ich selber wußte ... Wie mag es nur ge kommen sein, daß ich ihr so fremd geworden bin?« Er sann und sann, konnte aber zu keinem rechten Schlusse kommen.

Der Mond ging über der Heide auf – eine große, blutrote Scheibe, die einen ungewissen Glanz über den Hof hinbreitete ... Der Sturm schien sich verstärkt zu haben ... Er pfiff in den Ecken und brauste durch die Wipfel ...

»Wenn heute eine Feuersbrunst ausbräche, so würde sie mit der Scheune wohl nicht zufrieden sein,« dachte Paul, und dabei fiel ihm ein, daß er dem Agenten ein Monitum schicken müßte, damit er die Versicherung beschleunige. »Denn man kann nicht wissen, was über Nacht geschieht ... Ich will schlafen gehn,« schloß er seine Überlegungen, »morgen ist auch ein Tag und – ein Hochzeitstag dazu.«

Auf Zehenspitzen schlich er sich in sein Schlafzimmer, das er sich neben dem des Vaters eingerichtet hatte, um hilfreich beispringen zu können, wenn dem alten Mann irgend etwas passierte. Er zündete kein Licht an, denn der höhersteigende Vollmond schien bereits hell in das Gemach.

»Ob du wohl heute noch einschlafen wirst?« dachte er eine Stunde später. – Die Schatten der sturmbewegten Blätter tanzten auf der Bettdecke einen wilden Reigen, und zwischendurch tanzten die Mondlichter wie weiße Flämmchen.

»In jener Johannisnacht schien der Mond ebenso hell,« dachte er, und dabei fiel ihm ein, wie weiß das Nachtkleid Elsbeths unter dem dunkeln Mantel hervorgeleuchtet hatte.

»Das war doch die schönste Nacht in meinem Leben,« [213] murmelte er mit einem Seufzer, und darauf beschloß er, einzuschlafen, und zog sich zur Bekräftigung die Bettdecke über die Ohren ...

Eine Weile darauf war es ihm, als hörte er im Nebenzimmer den Vater leise aufstehen und zur Tür hinaushumpeln ... Deutlich hörte er, wie die Krücke auf den Steinfliesen des Hausflurs klapperte.

»Er wird wohl gleich wiederkommen,« dachte er, denn es geschah öfters, daß der Vater in der Nacht noch einmal aufstand.

Hierauf überfiel ihn ein unruhiger Halbschlaf, in dem allerhand schreckhafte Träume einander jagten. Als er vollends wieder erwachte, stand der Mond schon hoch am Himmel, kaum daß noch ein Strahl ins Zimmer fiel. Doch Garten und Hof lagen gebadet in seinem Lichte.

»Seltsam – mir ist doch, als hab' ich den Vater nicht wiederkommen hören,« sagte er vor sich hin. Er richtete sich auf und sah nach der Taschenuhr, die über seinem Bette hing.

Acht Minuten bis eins! ... Zwei Stunden waren inzwischen verflossen.

»Ich werde wohl fest geschlafen haben,« dachte er und wollte sich wieder aufs Ohr legen, da schlug, vom Sturm geschüttelt, die Haustür klirrend ins Schloß, so daß das ganze Haus in seinen Fugen erbebte.

Erschrocken fuhr er empor ... »Was ist das? ... die Haustür offen ... der Vater noch nicht zurück?« Im nächsten Augenblick hatte er Rock und Beinkleid übergeworfen, und barfuß, barhäuptig stürzte er hinaus ...

Die Tür, die von des Vaters Schlafzimmer nach dem Hausflur führte, stand weit geöffnet. – Bleich vor Angst trat er an das Bett ... Es lag unberührt, nur zu Fußenden war in der bauschigen Bettdecke eine Lücke eingedrückt. – Da also hatte der Vater gesessen, ohne ein Glied zu rühren, länger als anderthalb Stunden – augenscheinlich, um zu warten, bis er selber im Schlafe liege.

Was um des Himmels willen bedeutet das alles? –

Suchend irrte sein Blick im Zimmer umher ... Dort[214] im Winkel lagen umhergeworfen die wollenen Schuhe, in denen der Vater sonst den ganzen Tag über umherschlürfte, aber die Stiefel, die seit Monaten ungebraucht dort standen – die waren fort ...

Wie – wollte der lahme Vater zur Nachtzeit auf die Wanderschaft? Sein Herz drohte stille zu stehen ... Er stürzte auf den Hof hinaus.

Taghell lag er vor seinen Blicken, nur so weit der Schatten der Scheune reichte, herrschte Nacht ...

Der Sturm brauste in den Bäumen – der Sand wirbelte leuchtend empor, sonst alles still, alles leer ...

Er durcheilte den Garten – keine Spur – hinter dem Stall – keine Spur ... Was ist das? Das Haustor offen? – Wo ist er hin? ...

An seiner Seite winselte der Hund ihm entgegen – rasch befreite er ihn. –

»Such den Herrn, Turk, den Herrn!«

Der Hund schnüffelte am Boden entlang und rannte nach dem Giebelende der Scheune, dorthin, wo die Strohhaufen lagen, die sich wie fahle Sandberge rings um die Mauern auftürmten ... Blendend lag das Mondenlicht auf der weißen Tünche der Wand und schillerte auf dem hellgelben Boden ... Man hätte eine Stecknadel finden können ... Nichts war zu bemerken, nur an einer Stelle schien das Stroh zerwühlt ...

Aber halt! – Wie kommt die Leiter hierher, die an der Wand lehnt? Die Leiter, die noch vor zwei Stunden an der Innenseite des Zaunes platt auf dem Boden gelegen?

Wer hat sie von ihrem Platz genommen?

Und – beim Himmel, was ist das? – – – – – Wer hat die Luke des Giebels geöffnet? Die Luke, die er selbst von innen verriegelt hat, ehe die Garben das Fachwerk füllten? – – –

Unten am Fuße der Leiter schimmerte der Boden feucht, als habe man eine Flüssigkeit verschüttet ... Ein Dunst von Petroleum stieg aus der Lache empor.

Mit zitternden Händen griff er in die Halme hinein, [215] die den Boden bedeckten. Ja, sie waren naß, und der üble Geruch teilte sich den Fingern mit, die sie berührt hatten.

Er fühlte seine Knie wanken, eine dumpfe, fürchterliche Ahnung umnebelte seine Sinne – mit Mühe raffte er sich auf und stieg die Leiter hinan, bis er die Luke erreicht hatte.

Unten winselte der Hund ...

»Such den Herrn, Turk, den Herrn!«

Das Tier brach in freudiges Heulen aus und rannte schnüffelnd im Kreise umher, bis es die Fährte gefunden zu haben schien.

Paul starrte ihm nach. Sein Leib zitterte fiebrisch in qualvoller Erwartung.

Zum Hoftor ging des Tieres Weg. – Also wirklich! Der Vater war's gewesen, der es geöffnet hatte!

Aber dann – dann! Wohin wird er sich wenden?

»Such den Herrn, Turk, den Herrn!«

Der Hund heulte noch einmal kurz auf und rannte dann spornstreichs auf dem Weg nach – Helenental von dannen.

Nach Helenental – was will der Vater in Helenental? Ja, hat er nicht jüngst davon gesprochen, er sei nachmittags dort gewesen, »probeweise,« wie er sagte. – Probeweise! – Und wie seltsam, wie unheimlich er dazu gelacht.

Und heute noch – wie rätselhaft war sein Gebaren! Und als vom Scheunenbrande die Rede war, was wollten da seine Worte, daß es sich prächtig träfe heute? – warum gerade heute?

Nun gilt's des Rätsels Lösung zu finden, eh's zu spät ist!

Hilfesuchend starrte er um sich.

Seine Hand tastete unwillkürlich in das Dunkel der Lukenöffnung hinein und ergriff – den Henkel einer Blechkanne, die dort versteckt unter den Garben stand ... Es war der Petroleumbehälter, den er gestern frisch hatte füllen lassen. Und auf wessen Rat? Wer war gekommen und hatte gesagt – – –?

[216] »Vater, Vater, um Jesu willen, was willst du in Helenental?«

Und jetzt – wieviel ist noch drinnen? Kaum halb voll ist sie, kaum halb voll!

Und wie er sinnlos um sich weiter tastete, fand er Pakete mit Streichhölzern, die rings um die Kanne verstreut lagen ...

Da sank die Binde von seinen Augen! Ein qualvoller Schrei – »Er ist dabei, Helenental anzuzünden.«

Alles rings um ihn wirbelte und wogte, seine Hände umklammerten krampfhaft das Randbrett, sonst wär' er rücklings herniedergestürzt.

Nun lag alles klar ... des Vaters wirres Reden, sein Lachen, sein Drohen!

Aber noch war es Zeit. – Der Alte kroch ja nur an seiner Krücke. – Wenn er selber sich zu Pferde warf – ihm nachgaloppierte ...

»Ein Pferd aus dem Stall!« schrie er in den Sturm hinein und sprang an der Leiter hinab ... Da plötzlich zuckte es durch sein Hirn: »Warum fragte der Vater so genau nach der Zeit, da vor jenen Jahren – –? Soll etwa zu derselben Minute das Rachewerk sich vollziehen? Jesus, dann ist alles verloren. Eins war die Stunde, die ich ihm nannte, – und die Uhr ist eins ...«

Eine wahnsinnige Angst packte ihn – wiederum flog er die Leiter hinan.

Im nächsten Augenblick mußte die Flamme drüben emporsteigen.

Flammt es da nicht schon? Nein, nur der Mond ist's, der in den Fenstern des »weißen Hauses« glitzert ... Vater im Himmel, gibt es keine Rettung, kein Erbarmen? Wenn ein Gebet, wenn ein Fluch die Kraft besäße, daß die erhobene Hand erstarre! ... Wer warnt ihn, wer gibt ihm ein Zeichen, daß er umkehre auf seinem Wege? ...

Aber da flammt's! – Nein ... Noch eine Sekunde vielleicht, dann wird der Feuergleisch am Himmel stehen ...

»Elsbeth, wach auf!« ...

Ebenso wird es flammen wie damals vor acht Jahren, [217] als ihm, der im Helenentaler Garten lauerte, der blutige Schein die Glieder lähmte! – Wenn heute wie damals über der Heide ein Gleisch aufstiege! Damit des Vaters Hand erstarre, mitten im verbrecherischen Werke!

Gott im Himmel, laß ein Wunder geschehen! – Laß einen Gleisch aufsteigen über der Heide, wie damals – wie damals!

Flammen müßt' es – hier müßt' es flammen! Ein Blitz müßte niederfahren, damit die Lohe zum Vater hinüberschriee: »Halt ein, halt ein!« – Und liegt denn alles klar und sternenhell? steigt keine Gewitterwolke über der Heide auf? – Vielleicht reckt er sich jetzt schon zum Strohdach empor! Vielleicht reibt er jetzt schon an den Hölzern! Im nächsten Augenblick kommt jede Warnung zu spät.

Flammen müßt' es – hier müßt' es flammen!

Und ist keine Fackel da, die ich schwingen könnte, ihn zu warnen?

Flammen müßt' es – hier müßt' es flammen!

Und wie er mit stieren, vorgequollenen Augen, ringend nach Rettung, um sich starrte, da loderte es plötzlich hell wie jene Flamme, die ersehnte, durch sein irres Hirn.

Er jauchzte laut auf. –

»Ja, das ist's! Der Schreck wird ihn erstarren machen.«

Rettung! Rettung um jeden Preis!

Mit beiden Händen ergriff er die Kanne, und in weitem Schwunge goß er den Inhalt über die aufgestapelten Garben ...

Ein Griff nach den Streichhölzern – ein leises Zischen – der Sturm braust hohl in die Öffnung – und – hochauf spritzt die Flamme und faucht ihm ins Gesicht ...

Ein wilder, gellender Schrei ... Ihm wird es dunkel vor den Augen ... er sucht einen Halt und greift blindlings in das Feuer hinein ... doch was er erfaßt, gibt nach, und – in dem nächsten Augenblick stürzt er, eine flammende Gabe krampfthaft umklammernd, in weitem Bogen mitsamt der Leiter rücklings in das Stroh ...

Schon lodert sein Lager hellauf – noch hat er so viel [218] Kraft, sich seitwärts hinabzukollern – im nächsten Augenblick schon steht alles ringsum in Flammen ...

Und der Sturm bläst hinein, da erhebt sich ein Pfeifen, ein Zischen, ein Singen hoch in den Lüften ..., schon leckt es feurig am Firste hinan.

Er stürzt auf den Hof zurück, der noch schweigend vor ihm liegt.

»Feuer – Feuer – Feuer!« geht gellend sein Ruf, die Schlafenden zu wecken ...

In den Ställen, wo die Knechte liegen, wird es lebendig, aus den Kammern tönt ein Kreischen ...

Schon ist das Dach in einen feurigen Mantel gehüllt. Die Dachpfannen beginnen zu platzen und stürzen prasselnd zur Erde. Wo eine Lücke entsteht, spritzt sofort eine Flammengarbe gen Himmel.

Bis dahin hatte er mutterseelenallein auf dem Hof gestanden und mit gefalteten Händen dem grausenvollen Werk zugeschaut, nun wurden die Türen aufgerissen, Knechte und Mägde stürzten schreiend auf den Hof.

Da seufzte er tief und erleichtert auf, wie nach vollbrachtem Tagewerk, und schritt langsam nach dem Garten, ehe daß einer ihm begegnete ... »Hab' lange genug gearbeitet,« murmelte er, die Tür des Zaunes hinter sich ins Schloß werfend, »heut will ich ausruhen.«

Mit schleppenden Schritten ging er den Kiespfad hinab wie ein Todmüder, und unaufhörlich sprach er vor sich hin: »Ausruhen – Ausruhen.«

Sein Blick glitt matt in die Runde ... Von Mondenglanz und Flammenschein in ein Meer des Lichts getaucht, lag rings um ihn der Garten da, und die Schatten der sturmgepeitschten Blätter liefen gespenstisch vor ihm her. Hie und da fiel ein Funke, wie ein Leuchtkäferchen anzuschauen, auf seinen Weg. Er suchte sich die dunkelste Laube aus und verkroch sich in ihrem hintersten Winkel. Dort setzte er sich auf die Rasenbank und schlug die Hände vors Gesicht. Er wollte nichts mehr sehen und hören ...

Aber ein stumpfes Gefühl der Neugierde hieß ihn nach einer Weile wieder aufschauen. Und wie er die Augen erhob, [219] sah er die Lohe wie einen purpurnen, weißumsäumten Baldachin sich über dem Wohnhause wölben, denn dorthin stand der Sturm.

Da wußte er, daß alles dahin war.

Er faltete die Hände. Ihm war, als müsse er beten.

»Mutter, Mutter!« rief er, Tränen in den Augen, und reckte die Arme zum Himmel. –

Und plötzlich ging eine merkwürdige Veränderung in ihm vor. Ihm wurde ganz frei und leicht zu Sinn, der dumpfe Druck, der all' die Jahre lang in seinem Kopf gelastet hatte, schwand, und hochaufatmend strich er sich über Schultern und Arme, als wollte er sinkende Ketten abstreifen ...

»So,« sagte er, wie einer, dem eine Last vom Herzen fällt, »jetzt hab' ich nichts mehr, jetzt brauch' ich auch nicht mehr zu sorgen! Frei bin ich, frei wie der Vogel in der Luft!«

Er schlug sich mit den Fäusten vor die Stirn, er weinte, er lachte. Ihm war zumute, als sei ein unverdientes, unerhörtes Glück plötzlich vom Himmel auf ihn herabgefallen. –

»Mutter! Mutter!« rief er in wildem Jubel. »Jetzt weiß ich, wie dein Märchen endet. – Erlöst bin ich – erlöst bin ich!«

In diesem Augenblick drang angstvolles Tiergebrüll an sein Ohr und brachte ihn wieder zur Besinnung – »Nein, ihr armen Viecher sollt nicht umkommen um meinetwillen!« rief er aufspringend, »eher will ich selbst dran glauben ...«

Er eilte zurück nach der Hintertür des Hauses, wo Knechte und Mägde eifrig Möbel ins Freie schleppten.

»Seht den Herrn!« riefen sie weinend und wiesen einer dem andern seine nackten Füße ...

»Laßt liegen!« schrie er, »rettet das Vieh!«

Eine Axt liegt am Wege. Mit ihr sprengt er die Hintertüren des Stalles, die nach den Feldern führen, denn der Hof ist schon ein Flammenmeer.

Wie im Traum sieht er Garten und Wiese mit Menschen [220] sich füllen. Die Dorfspritze rasselt heran, auch auf dem Wege von Helenental wird es lebendig.

Drei-, viermal geht's in die Flammen hinein, die Knechte hinter ihm drein, dann sinkt er, von Schmerzen ohnmächtig, mitten in dem brennenden Stalle zusammen ...

Ein Schrei, ein markerschütternder, aus Weibermunde, ließ ihn noch einmal die Augen öffnen.

Da schien's ihm, als sähe er Elsbeths Angesicht, wie in Nebeln verschwindend, über seinem Haupte, dann ward es wieder Nacht um ihn. – – – – – – – –

[221] 21

Beim ersten Morgengrauen fuhr ein gar trauriger Zug auf dem Weg nach Helenental über die herbstliche Heide. Zwei schmächtige Leiterwagen, die langsam hintereinander herschlichen. Auf ihnen fand alles Platz, was von dem Heidehof noch übrig geblieben war.

In dem ersten lag, in Stroh gepackt, von Decken umgeben, sein Herr – mit Wunden bedeckt, bewußtlos ... Das blasse, zitternde Weib, das sich angstvoll über ihn neigte, war die Gespielin seiner Jugend.

So holte sie ihn sich heim ...

»Wir wollen ihn zu einer der Schwestern schaffen,« hatte Herr Douglas gesagt, aber sie hatte die Hände auf Pauls Brust gelegt, von der die versengten Kleiderfetzen niederhingen, als wollte sie für immer Besitz von ihm nehmen, und hatte erwidert: »Nein, Vater, er kommt zu uns!«

»Aber deine Hochzeit, Kind – die Gäste!«

»Was geht mich die Hochzeit an!« hatte sie gesagt, und der lustige Bräutigam hatte verblüfft daneben gestanden.

In dem zweiten Wagen lagen die wenigen Möbel, die gerettet waren, eine alte Kommode, ein paar Schubladen mit Wäsche und Büchern und Bändern, irdene Schüsseln, ein Milcheimer und die lange Pfeife des Vaters. –

Wo aber war der hingekommen?

Der einzige, der vielleicht Auskunft geben konnte, lag hier besinnungslos, am Ende schon gar mit dem Tode ringend.

War er geflohen? War er in den Flammen zugrunde gegangen? Die Mägde hatten sein Schlafzimmer leer gefunden, von ihm selber keine Spur.

»Mir ahnt nichts Gutes,« sagte der alte Douglas, »Anlage zur Verrücktheit besaß er schon immer, und wenn wir morgen seine Knochen im Schutt finden, so bin ich mir klar darüber, daß er selber die Scheune in Brand gesteckt und sich dann in die Flammen gestürzt hat.«

[222] Als sie aber eben durch das Helenentaler Hoftor fahren wollten, hörten sie seitwärts von der Scheune her ein klägliches Hundegeheul und sahen einen fremden Köter, der die Vorderpfoten auf eine dunkel daliegende Masse gestemmt hatte und von Zeit zu Zeit an etwas zerrte, das wie der Zipfel eines Gewandes aussah.

Erschrocken ließ Douglas halt machen und schritt dorthin. Da fand er den Gesuchten als Leiche liegen. Seine Züge waren schrecklich verzerrt und die Arme noch halb erhoben, als sei er plötzlich zu Stein erstarrt. Neben ihm lag ein zerbrochener Topf, und eine Streichholzbüchse schwamm in einer Lache von Petroleum, das in den lehmigen Wagenspuren wie in Rinnen weitergeflossen war.

Da faltete der graue Riese seine Hände und murmelte ein Gebet. Als er zum Wagen zurückkehrte, zitterte er am ganzen Leibe, und seine Augen standen voll Wasser.

»Elsbeth, sieh dorthin,« sagte er, »dort liegt die Leiche des alten Meyhöfer. Er hat unser Gut anzünden wollen, und Gott hat ihn erschlagen.«

»Gott steckt keine Scheunen in Brand!« sagte Elsbeth und blickte nach dem brennenden Hof zurück, von dem ein dunkelblauer Qualm in den trüben Morgen emporstieg.

»Aber ist es nicht Gottes Fügung, daß wir gerettet wurden?«

»Hat uns einer gerettet, so tat es dieser!« sagte Elsbeth.

»Was? Er soll alles geopfert haben, er soll ein Brandstifter geworden sein – bloß um –?«

»Frag ihn!« sagte sie tonlos, und in aufsteigender Herzensangst schlug sie die Hände vor die Brust und wimmerte laut.

»Geb' Gott, daß er noch einmal antworten vermöchte,« murmelte Douglas. Dann erteilte er ein paar Knechten den Befehl, daß sie die Leiche des Alten in das Wohnhaus brächten. Nach einem Arzt war bereits gesandt worden, er selbst wollte zu den Schwestern fahren, um sie zu benachrichtigen.

Mit verstörten Gesichtern kamen die Gäste dem Wagen [223] entgegengestürzt, der vor der blumengeschmückten Veranda hielt.

»Geht fort,« sagte sie und wehrte die tätschelnden Hände mit einer Gebärde des Grauens von sich ab.

Auch der lustige Bräutigam, der während dieser Nacht eine gar klägliche Rolle gespielt hatte, kam herbei und versuchte ihr zuzureden, daß sie sich von dem hilflosen Leibe entferne. Sie aber schaute ihn mit irrem Blick von oben bis unten an, als erinnere sie sich nicht, ihn jemals gesehen zu haben. – Ein Gefühl seiner Wertlosigkeit mochte in ihm aufsteigen. – Beklommen und verschüchtert ließ er von ihr ab.

Die Tanten eilten händeringend zu dem alten Douglas, der, auf ein Fuhrwerk wartend, vor den Ställen auf und ab schritt. Seine mächtige Brust atmete schwer, seine weißen, buschigen Brauen preßten sich zusammen, und seine Augen schossen Blitze. – Ein Sturm schien durch seine Seele zu gehen.

»Erbarm dich!« riefen die Weiber, »schaff Elsbeth zur Ruhe, – sie muß sich erholen, – es scheint, als will sie wahnsinnig werden.«

»Wenn es so ist, wie sie sagt,« murmelte er vor sich hin, »wenn er sein Hab und Gut geopfert hat! – Donnerwetter, laßt mich in Ruh'!« schrie er die Weiber an, die ihn umringten.

»Aber denk an Elsbeth,« riefen sie – »um zwölf Uhr kommt der Pfarrer – wie wird sie aussehen?« – –

»Das ist ihre Sache!« schrie er, »laßt sie nur machen! Sie weiß genau, was sie tut!«

In dem Augenblicke, in dem Paul vom Wagen gehoben wurde, kam von dem Tore ein Häuflein Knechte daher, welche die Leiche seines Vaters trugen. – – –

Dicht hintereinander wurden die beiden Körper in das »weiße Haus« getragen, und der Hund ging winselnd und schnuppernd hintendrein. Es war eine traurige Prozession. – – –

[224] Elsbeth ließ Paul in ihr Schlafzimmer schaffen, schloß die Tür und setzte sich neben das Bett.

Vergeblich flehten die Tanten um Einlaß.

Um elf Uhr kam der Arzt und erklärte, bis zum nächsten Morgen bei dem Kranken bleiben zu wollen. Er hatte sich wohl darauf eingerichtet, denn er war ein alter Freund des Hauses und gehörte zu den Hochzeitsgästen. Inzwischen sollte nach einer Wärterin telegraphiert werden.

»Darf ich nicht bei ihm bleiben?« fragte Elsbeth.

»Wenn Sie können!« antwortete er verwundert.

»Ich kann!« erwiderte sie mit einem rätselhaften Lächeln.

Die Tanten pochten aufs neue. »Erbarm dich, Kind!« riefen sie durch den Türspalt, »du mußt dich anziehen, du mußt zum Standesamt. Der Pfarrer ist gekommen.«

»Er kann wieder gehn!« antwortete sie.

Draußen ließ sich ein Murmeln vernehmen, auch der Bräutigam half ratschlagen.

»Was wollen Sie tun, mein Kind?« sagte der greise Arzt und sah ihr forschend ins Auge. Da sank sie weinend vor dem Bette auf die Knie, ergriff Pauls schlaff herabhängende Hand und drückte sie gegen Augen und Mund.

»Das ist Ihr fester Wille?« fragte der alte Mann.

Sie nickte.

»Und wenn er stirbt?«

»Er stirbt nicht,« sagte sie, »er darf nicht sterben.«

Der Arzt lächelte traurig. »Es ist gut,« sagte er dann, »bleiben Sie eine Weile bei ihm allein und erneuern Sie alle zwei Minuten den Umschlag. Ich werde inzwischen Ruhe schaffen.«

Alsbald hörte man draußen Wagen vorfahren und den Hof verlassen. Eine Stunde später trat der Arzt wieder in das Krankenzimmer. »Das Haus ist bald leer,« sagte er, »die Feier ist aufgeschoben.«

»Aufgeschoben?« fragte sie angstvoll. – – –

Der alte Mann sah sie an und schüttelte den Kopf. Das Menschenherz zeigte sich ihm jeden Tag in neuen Rätseln. – – – – – – – – – – – – – – –

[225] Wochenlang schwebte der Kranke zwischen Leben und Tod.

Elsbeth wich kaum von seinem Bette, sie aß nicht, sie schlief nicht, ihr ganzes Leben war aufgegangen in der Sorge um den Geliebten.

Der Alte ließ sie gewähren. »Sie muß ihn gesund machen,« sagte er, »damit ich ihn fragen kann.«

Der lustige Vetter fing an zu ahnen, daß seine Lage keine beneidenswerte war, und nachdem er sich von dem Oheim seine sämtlichen Schulden hatte bezahlen lassen, verließ er Helenental.

Die Leiche des alten Meyhöfer ward schon am Tage nach dem Brande von den beiden Zwillingen abgeholt worden. Sein rätselhafter Tod erregte großes Aufsehen, die Zeitungen der Hauptstadt berichteten davon, und was er sein ganzes Leben nicht erreicht hatte, sich als Held gefeiert zu sehen, ward ihm nun im Tode.

Im Hintergrunde aber lauerten die Gerichte auf Pauls Genesung.

[226] 22

Der Verteidiger hatte geendet. – Ein Murmeln ging durch den weiten Schwurgerichtssaal, dessen Galerie von dichtgedrängten Köpfen starrte.

Wenn der Angeklagte die Wirkung des glänzenden Plaidoyers durch ein unbedachtes Wort nicht wieder verdarb, so war er gerettet.

Die Replik des Staatsanwalts verhallte ungehört.

Und nun klirrten die Lorgnetten und Operngucker. Aller Augen wandten sich nach dem blassen, schlicht gekleideten Mann, der auf demselben Armensünderbänkchen saß, auf welchem vor acht Jahren der tückische Knecht gesessen hatte.

Der Präsident hatte gefragt, ob der Angeklagte noch etwas zur Erhärtung seiner Unschuld beizubringen habe.

»Schweigen, Schweigen!« ging es murmelnd durch den Saal.

Aber Paul erhob sich und sprach, erst leise und stockend, doch sicherer von Augenblick zu Augenblick: »Es tut mir von Herzen leid, daß die Mühe, welche sich der Herr Rechtsanwalt gegeben hat, mich zu erretten, umsonst gewesen sein soll. Aber ich bin nicht so unschuldig an der Tat, wie er mich darstellt.«

Die Richter sahen ihn an. »Was ist das? – Er will gegen sich selber sprechen.«

»Er hat gesagt, ich wäre durch die Angst so gut wie besinnungslos gewesen. Ich hätte gehandelt in einer Art von Wahnsinn, die mich in jenem Augenblicke unzurechnungsfähig gemacht hätte. – Das ist aber nicht so.«

»Er bricht sich den Hals,« hieß es im Zuschauerraum.

»Ich habe mein ganzes Leben lang ein scheues, gedrücktes Dasein geführt und habe gemeint, ich könnte keinem Menschen ins Auge sehen, obwohl ich doch nichts zu verbergen hatte; wenn ich mich aber diesmal feige betrage, so glaub' ich, ich werd's noch weniger können als je, und diesmal werd' ich auch Grund genug dazu haben. – Der Herr Rechtsanwalt hat auch mein Vorleben als ein [227] Muster aller Tugenden dargestellt. – Dem war aber nicht so. – Mir fehlte die Würde und das Selbstbewußtsein – ich vergab mir zu viel gegenüber den Menschen und mir selber. – Und das hat mich stets gewurmt, obwohl ich nie recht darüber ins klare kommen konnte. – Es hat zu viel auf mir gelastet, als daß ich jemals hätte frei aufatmen können, wie der Mensch es muß, wenn er nicht stumpf werden und verkümmern soll.

Diese Tat aber hat mich frei gemacht und mir das geschenkt, was mir so lange fehlte, – sie ist mir ein großes Glück gewesen; und ich soll so undankbar sein, daß ich sie heute verleugne? – Nein, das tu' ich nicht. – Sie mögen mich immerhin einsperren, solange Sie wollen, ich werde die Zeit schon überdauern und ein neues Leben anfangen. – Und so muß ich denn sagen: Ich hab' mein Hab und Gut in vollem Bewußtsein angesteckt, ich war nie mehr bei Sinnen wie damals, als ich die Petroleumkanne über mein Getreide ausschüttete, und wenn ich heute in dieselbe Lage käme, weiß Gott, ich tät' es wieder. – – – Warum sollt' ich auch nicht? – Was ich zerstörte, war meiner Hände Werk – ich hatte es in langen Jahren durch harte Arbeit geschaffen und konnte damit machen, was ich wollte. Ich weiß wohl, das Gericht ist anderer Ansicht, und dafür werd' ich meine Zeit auch ruhig absitzen. Aber wer litt denn auch Schaden außer mir? – Meine Geschwister waren alle gut versorgt, und mein Vater« – – Er hielt einen Augenblick inne, und seine Stimme zitterte, als er fortfuhr: »Ja, wär's nicht besser, mein alter Vater hätte seine letzten Lebensjahre in Ruh und Frieden bei einer seiner Töchter verbracht als da, wo ich jetzt hingehe?

Das Schicksal hat es nicht so gewollt. Der Schlag hat ihn gerührt, und meine Brüder sagen, ich sei sein Mörder gewesen. – Aber meine Brüder haben gar nicht das Recht, darüber zu urteilen, die kennen weder mich noch den Vater. Die haben sich ihr Lebtag nur um sich selber gekümmert und mich allein sorgen lassen für Vater und Mutter und Schwestern und Haus und Hof, und ich bin ihnen nur gut genug gewesen, wenn sie was von mir [228] haben wollten. – Sie wenden sich heute von mir, aber sie können mir in Zukunft gar nicht fremder werden, als sie mir gewesen sind.«

»Meine Schwestern,« – er wandte sich nach der Zeugenbank, wo Grete und Käthe mit verhüllten Gesichtern weinend saßen, und seine Stimme wurde weich wie von verhaltenen Tränen – »meine Schwestern wollen auch nichts mehr von mir wissen – aber denen verzeih' ich's gern, die sind Frauen und aus zarterem Ton geknetet – auch stehen hinter ihnen zwei fremde Männer, die es sehr leicht haben, über meine ungeheuerliche Tat entrüstet zu sein. Sie sind nun alle von mir abgefallen – nein, nicht alle«, – über sein Gesicht flog ein Leuchten, »doch das gehört nicht hierher. Eins aber will ich noch sagen, und mag ich selbst als Mörder gelten: Ich bereue es nicht, daß der Vater durch meine Tat gestorben ist. Ich hab' ihn lieber gehabt, da ich ihn tötete, als wenn ich ihn hätte leben lassen. Er war alt und schwach, und was seiner wartete, war Schmach und Schande – er lebte ein so ruhiges Leben und hätte so elend hinsiechen müssen. Da ist's besser, der Tod kam auf ihn herab wie der Blitz, der den Menschen mitten in seinem Glück erschlägt. Das ist meine Meinung, ich hab' mich mit meinem Gewissen abgefunden und brauche niemandem Rechenschaft abzulegen wie Gott und mir selber. Und nun mögen Sie mich verurteilen.«

»Bravo!« rief eine drohende Stimme von der Zeugenbank in den Saal hinein.

Douglas war's.

Die greise Hünengestalt stand hochaufgerichtet, die Augen blitzten unter den buschigen Brauen, und wie der Präsident ihn zur Ruhe rief, setzte er sich trotzig nieder und sagte zu seinem Nachbar: »Auf den kann ich stolz sein, was?«

[229] 23

Zwei Jahre später war's an einem heitern Junimorgen, da öffnete sich die rotgestrichene Pforte der Gefängnismauer und ließ einen Gefangenen heraus, der mit lachendem Gesicht in die Sonne hineinblinzelte, als wollte er lernen, ihren Glanz aufs neue ertragen. – – Er schwenkte das Bündel, das er trug, in die Runde und schaute lässig nach rechts und nach links, wie einer, der sich über die Richtung seines Weges noch nicht im klaren ist, dem's aber im Grunde gleichgültig scheint, wohin er sich verirrt. –

Als er den Giebel des Gerichtsgebäudes streifte, sah er eine Karosse stehn, die ihm bekannt sein mußte, denn er stutzte und schien mit sich zu Rate zu gehn. Alsdann wandte er sich an den Kutscher, der mit seiner quastengeschmückten Pelzmütze hochmütig vom Bock herniedernickte. –

»Ist jemand aus Helenental hier?« fragte er.

»Ja, der Herr und das Fräulein. Sie sind gekommen, Herrn Meyhöfer abzuholen.«

Und gleich darauf ertönte es von der Freitreppe her: »He, hallo, da ist er ja schon – Elsbeth, sieh, da ist er ja schon!«

Paul sprang die Stufen hinan, und die beiden Männer lagen sich in den Armen.

Da öffnete sich leise und schüchtern die schwere Flügeltür und ließ eine schlanke, in Schwarz gekleidete Frauengestalt ins Freie, die sich mit wehmütigem Lächeln gegen die Mauer lehnte und ruhig wartete, bis die Männer einander freigeben würden.

»Da hast du ihn, Elsbeth!« rief der Alte.

Hand in Hand standen sie nun einander gegenüber und sahen sich ins Auge, dann lehnte sie den Kopf an seine Brust und flüsterte: »Gott sei Dank, daß ich wieder bei dir bin.«

»Und damit ihr euch ganz für euch allein habt, Kinder,« sagte der Alte, »Fahrt ihr hübsch zu zweien nach Hause, und ich will derweilen eine Flasche Rotspon auf meines Nachfolgers Wohl ausstechen. Ich hab's ja gut, ich setz' mich heute zur Ruhe.«

»Herr Douglas!« rief Paul erschrocken.

[230] »Vater heiß' ich, verstanden! Gegen Abend laß mich holen! Du bist ja jetzt der Herr daheim! Adjes.«

Damit polterte er die Stufen hinab. – – – –

»Komm,« sagte Paul leise, mit niedergeschlagenen Augen.

Elsbeth ging mit schüchternem Lächeln hinter ihm drein, denn da sie nun allein waren, wagte keiner sich dem andern zu nähern.

Und dann fuhren sie schweigend in die sonnige, blumige Heide hinaus. – – – Lichtnelken, Glockenblumen und Gundermann woben sich zu einem farbenreichen Teppich, und das weiße Wiesenfrauenhaar hob seine wehenden Bündel, als wären Schneeflocken über die Blumen hingestreut. Die Blätter der Silberweiden rauschten leise, und wie ein Netz von leuchtenden Bändern zogen sich die Triftgräben unter ihren Zweigen dahin. – Die warme Luft zitterte, und gelbe Falter flatterten paarweise auf und nieder.

Paul hatte sich tief in die Polster zurückgelehnt und schaute aus halbgeschlossenen Augen auf die Fülle lieblicher Wunder herab.

»Bist du glücklich?« fragte Elsbeth, sich zu ihm hinüberneigend.

»Ich weiß nicht,« erwiderte er, »es will mir das Herz abdrücken.«

Sie lächelte, sie verstand ihn wohl.

»Sieh dort, unsere Heimat!« sagte sie, auf das »weiße Haus« hinweisend, das sich schimmernd in der Ferne erhob. – Er preßte ihre Hand, doch die Stimme versagte ihm.

Am Waldesrand mußte der Wagen halten. – Beide stiegen aus und gingen zu Fuß weiter. Da sah er, daß sie ein weißes Päckchen unter dem Arm trug, das er vorher nicht bemerkt hatte.

»Was ist das?« fragte er.

»Du wirst schon sehen,« erwiderte sie, und ein ernstes Lächeln glitt über ihr Gesicht.

»Eine Überraschung?«

»Ein Andenken!«

Als sie den Wald betraten, bemerkte er zwischen den [231] rötlich glänzenden Stämmen etwas Schwarzes, das mit Kränzen behangen war.

»Was bedeutet das?« fragte er, die Hand ausstreckend.

»Erkennst du deine Freundin nicht mehr?« erwiderte sie. »Sie hat die erste sein wollen, die dich begrüßt.«

»Die ›schwarze Suse‹,« jubelte er und fing zu laufen an.

»Nimm mich mit,« lachte sie keuchend, »du vergißt, daß wir fortab zu zweien sind.«

Er nahm sie bei der Hand, und so traten sie vor das getreue Ungetüm, das am Weg Wache hielt.

»Altes Tier,« sagte er und streichelte den rußigen Kessel. Und als sie weitergingen, schaute er sich alle drei Schritt nach ihr um, als könne er sich nicht von ihr trennen.

»Ich habe sie gut bewacht,« sagte Elsbeth, »sie steht sonst dicht unter meinem Fenster, denn wir haben sie mit deines Vaters Erbschaft zusammen erstanden, damit sie dir nicht verloren ginge.«

Als sie sich dem jenseitigen Waldesrand näherten, sagte er, auf zwei der Stämme zeigend, die zwanzig Schritte abseits vom Weg standen: »Hier ist der Platz, wo ich dich in der Hängematte liegen fand.«

»Ja,« sagte sie, »da war's auch, wo ich zum erstenmal merkte, daß ich nie würde von dir lassen können.«

»Und hier ist der Wacholderstrauch,« fuhr er fort, als sie ins Freie hinaustreten, »wo wir« – und dann plötzlich schrie er laut auf und streckte beide Hände ins Leere.

»Was ist dir?« rief sie, angstvoll zu ihm aufschauend. Er war totenblaß geworden, seine Lippen zitterten.

»Er ist fort,« stammelte er.

»Wer?«

»Der – der – mein – mein Eignes.«

Wo sich einst die Gebäude des Heidehofes erhoben hatten, breitete sich nun eine flache Ebene aus, nur einzelne Bäume streckten kümmerliches Geästel in die Lüfte.

Er konnte sich an den Anblick nicht gewöhnen und verdeckte das Gesicht mit den Händen, während ein Schüttelfrost durch seinen Körper ging.

»Sei nicht traurig,« bat sie. »Papa hat ihn nicht[232] wieder aufbauen lassen wollen, ehe du nicht deine Anordnungen getroffen hättest ...«

»Komm hin,« sagte er.

»Bitte, bitte, nein,« erwiderte sie, »es ist dort nichts zu sehen – außer ein paar Schutthäufchen – ein andermal, wenn du nicht so erregt bist ...«

»Aber wo werd' ich schlafen?«

»In demselben Zimmer, in dem du geboren bist ... Ich hab's für dich herrichten lassen und die Möbel deiner Mutter hineingestellt. Kannst du nun noch sagen, daß du die Heimat verloren hast?«

Er drückte ihr dankbar die Hand, sie aber wies auf den Wacholderstrauch, der ihm vorhin aufgefallen war.

»Komm lieber dorthin,« sagte sie, »leg den Kopf auf den Maulwurfshügel und pfeif mir eins. Weißt du noch?«

»Ob ich weiß!«

»Wie lange ist's her?«

»Siebzehn Jahre!«

»Ach du lieber Gott, und so lang' lieb' ich dich schon und bin darüber eine alte Jungfer geworden ... Und gewartet hab' ich auf dich Jahr um Jahr! Aber du hast nichts davon sehen wollen. Endlich muß er doch kommen, dacht' ich mir, aber du kamst nicht ... Und da bin ich mutlos geworden und habe gedacht: Aufdrängen kannst du dich ihm doch nicht, schließlich will er dich gar nicht ... Du mußt ins klare kommen mit dir ... Und um allem Sehnen ein Ende zu machen, hab' ich dem Vetter das Jawort gegeben, der schon an die zehn Jahre um mich herumschwänzelte. Er hatte mich so oft zum Lachen gebracht, und da glaubt' ich, er würde – aber still davon«–und sie schauerte zu sammen. »Komm, leg dich hin – pfeife!«

Er schüttelte den Kopf und wies mit der Hand schweigend über die Heide hin, wo am Horizont drei einsame Fichten ihre rauhen Arme gen Himmel streckten.

»Dorthin!« sagte er. »Ich hab' keine Ruh', eh' ich dort gewesen bin.«

»Du hast Recht,« sagte sie, und Hand in Hand schritten [233] sie durch das blühende Heidekraut, das wilde Bienen mit schläfrigem Summen umschwärmten.

Als sie den Kirchhof betraten, läutete vom weißen Haus her die Mittagsglocke. Zwölfmal schlug sie an mit kurzen scharfen Schlägen, ein leiser Nachhall verzitterte in den Lüften, und dann ward's wieder still, nur das leise Summen und Singen dauerte fort. –

Das Grab der Mutter war dicht bewachsen mit Efeu und wilder Myrte, und zu Häupten erhob eine Königskerze ihre strahlende Blütenkrone. – Zwischen den Blättchen krochen rostfarbene Ameisen, und eine Eidechse raschelte in die grüne Tiefe hinunter.

Schweigend standen sie beide da, und Paul zitterte. Keiner wagte die heilige Stille zu brechen.

»Wo haben sie den Vater begraben?« fragte Paul endlich.

»Deine Schwestern haben die Leiche nach Lotkeim hinübergeführt,« antwortete Elsbeth.

»Es ist gut so,« erwiderte er, »sie ist ihr Lebtag einsam gewesen, mag sie's auch im Tod sein. Doch morgen wollen wir auch zu ihm hinüber.«

»Willst du bei den Schwestern einkehren?«

Er schüttelte traurig den Kopf. – Darauf versanken sie wieder in Schweigen. Er stützte den Kopf in beide Hände und weinte.

»Weine nicht,« sagte sie, »es hat ja jetzt ein jeder von euch seine Heimat.« Und darauf nahm sie das Päckchen, das sie unter dem Arm hielt, löste das weiße Papier der Umhüllung, und was sie zum Vorschein brachte, war ein altes Schreibheft mit zerzaustem Deckel und vergilbten Blättern.

»Sieh, das schickt sie dir,« sagte sie, »und läßt dich grüßen.«

»Wo hast du das her?« fragte er erschrocken, denn er hatte die Handschrift der Mutter erkannt.

»Es lag in der alten Kommode, die beim Brande gerettet wurde, zwischen Lade und Hinterwand geklemmt. Dort scheint es seit ihrem Tode gelegen zu haben.«

Darauf setzten sie sich nebeneinander auf das Grab, legten das Buch zwischen sich auf ihre Knie und fingen an zu studieren. Jetzt besann er sich wohl, daß Käthe damals, [234] als er sie mit ihrem Geliebten überraschte, von einem Arienbuch gesprochen hatte, das der Mutter gehört haben sollte, aber er hatte es nie übers Herz gebracht, sie danach zu fragen, weil er die böse Erinnerung an jene Stunde nicht wieder lebendig machen wollte.

Allerhand Lieder standen darin, die waren fließend abgeschrieben, daneben andre halb durchstrichen und mit Verbesserungen versehen. Diese letzteren schien sie aus dem Gedächtnis wiedergegeben oder vielleicht selbst gemacht zu haben. – Da war auch jenes von dem Sängersmann, das Käthe damals hergesagt hatte.

Und dann kam eines, das lautete so:


Schlaf ein, lieb Kind; lieb Kind, schlaf ein!

Es wacht am Bett die Mutter dein,

Bis du in Traum gesungen.

Schlaf ein!

Das Glöcklein, das vom stillen Wald

So sanft, so süß herüberhallt,

Ist auch wohl bald verklungen.

Schlaf ein!

Schlaf ein, lieb Kind; lieb Kind, schlaf ein!

Es glänzt im Hof der Mondenschein,

Erzählt ein Märchen der Linde –

Schlaf ein!

Vom Hirtensohn auf der Heide draus

Und der Prinzeß im weißen Haus; –

Da seufzen die Blätter im Winde.

Schlaf ein!

Schlaf ein, lieb Kind; lieb Kind, schlaf ein!

Dein Rosenstock am Treppenstein,

Der träumt von Hain und Hügel.

Schlaf ein!

Dein Vögelchen vom Fensterbrett

Piept leise her nach deinem Bett,

Schlägt müde die kleinen Flügel –

Schlaf ein!

Schlaf ein, lieb Kind; lieb Kind, schlaf ein!

Es wacht am Bett die Mutter dein

Und harret und harret beklommen;

Schlaf ein!

[235]

Wohl rinnt die Zeit, die Mutter wacht;

Es naht, es naht die Mitternacht,

Vielleicht wird auch Vater dann kommen.

Schlaf ein!


Und dann kam ein andres Gedicht:

Wußt' ich einst eine herzensallerliebste Maid,

Die wohnt verlassen auf der grünen, grünen Heid'

Und verlangt nach Liebe;

Sie guckt bei Tag und Nacht zum Fensterlein hinaus,

Sie guckt die schönen Blauäugelein sich aus,

Denn sie verlangt nach Liebe – – –


Da kam ein blanker, junger, kecker Reitersmann,

Der fragt': »Was schaust du mich so wunderseltsam an?«

»Mich verlangt nach Liebe!«

Da lacht er: »Mädel, dummes, komm in meinen Arm,

Schau da liegst du mollig und da liegst du warm,

Und da gibt es Liebe.« – –


»O Lieber, wüßtest du, wie ich verlassen bin!

So nimm mich armes, armes Mädel, nimm mich hin,

Aber gib mir Liebe!«

Als er sich satt geruht an ihrer weißen Brust,

Da sprach er: »Hast du Schelm es wirklich nicht gewußt?

So ist die Liebe!« ...


»Und ist dir meine Liebe, Lieber, noch nicht leid,

So will ich bei dir bleiben bis in Ewigkeit;

Mich bangt nach deiner Liebe.«

Da lacht der blanke, junge, kecke Reitersmann

Und zäumt' sein Roß und sang ein Lied und ritt von dann',

Ließ sie in Jammer und Liebe!


Und als die Frist, die böse Frist verstrichen war,

Sieh, da geschah's, daß sie ein Knäblein gebar,

Ein Kind der Liebe.

Sie trug's wohl auf die grüne Heid' in Nacht und Wind.

»Im Kuß erstick' ich dich, du armes Jungfernkind,

Ersticke dich in Liebe!«


»Herr Richter, tut mit mir, was Euer Herz begehrt,

Verlassen bin ich Ärmste auf der weiten Erd',

Bin ohne Liebe!«

Im weißen Brautgewande stieg sie zum Schafott,

Sie sprach: »Nun nimm mich hin, du lieber, lieber Gott.

Denn mich verlangt nach Liebe!«


[236] Da mußte er der beiden Schwestern gedenken, und ihm war zumute, als hätte die Mutter alles vorausgewußt und alles im voraus vergeben.

Und gleich darauf stand in großen Buchstaben überschrieben:


Das Märchen von der Frau Sorge.


Es war einmal eine Mutter, der hatte der liebe Gott einen Sohn geschenkt, aber sie war so arm und so einsam, daß sie niemanden hatte, der bei ihm Pate stehen konnte. Und sie seufzte und dachte: »Wo krieg' ich wohl eine Gevatterin her?« – Da kam eines Abends mit der sinkenden Dämmerung eine Frau zu ihr ins Haus, die hatte graue Kleider an und ein graues Tuch um den Kopf geschlungen; die sagte: »Ich will bei deinem Sohn Pate stehen, und ich werde dafür sorgen, daß er ein guter Mensch wird und dich nicht Hungers sterben läßt. Aber du mußt mir seine Seele schenken.«

Da zitterte die Mutter und sagte: »Wer bist du?«

»Ich bin die Frau Sorge,« erwiderte die graue Frau.

Und die Mutter weinte; aber da sie so großen Hunger litt, so gab sie der Frau ihres Sohnes Seele, und diese stand Pate bei ihm.

Und ihr Sohn wuchs heran und arbeitete schwer, um ihr Brot zu schaffen. Aber da er keine Seele hatte, so hatte er auch keine Freude und keine Jugend, und oftmals sah er die Mutter mit vorwurfsvollen Augen an, als wollte er fragen: »Mutter, wo ist meine Seele geblieben?«

Da wurde die Mutter traurig und ging aus, ihm eine Seele zu suchen.

Sie fragte die Sterne am Himmel: »Wollt ihr ihm eine Seele schenken?« Die aber sagten: »Dafür ist er zu niedrig.«

Und sie fragte die Blumen auf der Heide; die sagten: »Dafür ist er zu häßlich.«

Und sie fragte die Vögel auf den Bäumen, die sagte: »Dafür ist er zu traurig.«

Und sie fragte die hohen Bäume; die sagten: »Dafür ist er zu demütig.«

[237] Und sie fragte die klugen Schlangen; die sagten: »Dafür ist er zu dumm.«

Da ging sie weinend ihres Weges. Und im Walde begegnete ihr eine junge, schöne Prinzessin, die war von einem großen Hofstaat umgeben.

Und weil sie die Mutter weinend sah, stieg sie von ihrem Roß und nahm sie mit sich auf ihr Schloß, das ganz von Gold und Edelstein gebaut war.

Dort fragte sie: »Sage, warum weinst du?« Und die Mutter klagte der Prinzessin ihr Leid, daß sie ihrem Sohn keine Seele schaffen könnte und keine Freude und keine Jugend.

Da sagte die Prinzeß: »Ich kann keinen Menschen weinen sehen! Weißt du was? – Ich werd' ihm meine Seele schenken.«

Da fiel die Mutter vor ihr nieder und küßte ihr die Hände.

»Aber,« sagte die Prinzeß, »aus freien Stücken tu' ich's nicht, er muß mich darum fragen.«–Da ging die Mutter mit ihr zu ihrem Sohn, aber die Frau Sorge hatte ihm ihren grauen Schleier um sein Haupt gelegt, daß er blind war und die Prinzeß nicht sehen konnte.

Und die Mutter bat: »Liebe Frau Sorge, laß ihn doch frei.«

Aber die Sorge lächelte – und wer sie lächeln sah, der mußte weinen – und sie sagte: »Er muß sich selbst befreien.«

»Wie kann er das?« fragte die Mutter.

»Er muß mir alles opfern, was er lieb hat,« sagte Frau Sorge. – Da grämte sich die Mutter sehr und legte sich hin und starb. – Die Prinzeß aber wartet noch heute auf ihren Freiersmann. – – –


* * *


»Mutter, Mutter!« schrie er auf und sank an dem Grabe nieder.

»Komm,« sagte Elsbeth, mit Tränen kämpfend, indem sie die Hand auf seine Schulter legte. »Laß die Mutter, sie hat ihren Frieden, und uns soll sie nichts mehr tun, deine böse Frau Sorge.«

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TextGrid Repository (2012). Sudermann, Hermann. Roman. Frau Sorge. Frau Sorge. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-3963-8