Georg Schambach / Wilhelm Müller
Niedersächsische Sagen und Märchen
Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen herausgegeben

[3] Vorrede.

Bei dem regen Eifer, mit welchem man jetzt bei uns alles sammelt, was in Sage und Sitte von dem Denken und Leben des deutschen Volkes Zeugnis ablegt, ehe es vor der sich immer weiter verbreitenden neuern Bildung ganz zurückweicht, bedürfen diese niedersächsischen Sagen und Märchen keiner besondern Rechtfertigung vor dem wissenschaftlichen Publikum. Jeder wird gern zugeben, daß Niedersachsen bei dem allgemeinen Werke um so weniger zurückbleiben darf, da der Sammler hier, wo das Heidenthum länger bestand, als in andern deutschen Ländern, wo sich meistens noch eine verhältnismäßig wenig gemischte Bevölkerung erhalten hat, auf eine besonders ergiebige Ausbeute rechnen kann. Zwar ist Norddeutschland im allgemeinen bereits durch mehrere sehr verdienstliche Sagensammlungen, wie die von Kuhn und Schwartz, Müllenhoff und anderen, vertreten, aber sie betreffen entweder ganz oder doch zum grösten Theile andere Gegenden, als unser Werk, und die Volkssagen Niedersachsens, welche Harrys herausgegeben hat, enthalten von dem noch vorhandenen Vorrathe nur einen sehr geringen Theil. So wird denn unser Buch hoffentlich nicht unerwünscht kommen.

[3] Es war unsere Absicht und ist es auch noch, wo möglich, die Sagen Niedersachsens in einer gewissen Vollständigkeit herauszugeben. Da aber dieses Unternehmen nicht nur eine geraume Zeit, sondern auch einen Beistand erfordert, wie er uns noch nicht zu Theil geworden ist, so mag das, was wir bis jetzt zusammengebracht haben, vorläufig als ein selbständiges Werk erscheinen, und es muß von dem Erfolge unserer fortgesetzten Sammlungen abhängig gemacht werden, ob wir später noch einen zweiten und einen dritten Theil hinzufügen werden. Das Werk, so wie es vorliegt, enthält nur solche Sagen und Märchen, die wir selbst aus mündlicher Ueberlieferung geschöpft haben oder die uns nach Erzählungen des Volkes schriftlich mitgetheilt wurden. Alles, was wir nur aus gedruckten Quellen kannten, haben wir grundsätzlich ausgeschlossen. So kann denn unser Buch ein Bild von dem geben, was in einer abgegrenzten Gegend von Volksüberlieferungen noch lebt oder wenigstens durch lange fortgesetztes Sammeln und Aufmerken zu Tage kommt. Daß bei Werken dieser Art eine Vollständigkeit in jeder Hinsicht nicht erreicht werden kann, ist eine bekannte Sache.

Das Gebiet, auf dem wir gesammelt haben, umfaßt vorzugsweise die beiden Fürstenthümer Göttingen und Grubenhagen nebst den im Norden daran stoßenden braunschweigischen Aemtern, dann die am rechten Weserufer liegenden hessischen Dörfer und einen Theil des Fürstenthumes Hildesheim. Die hildesheimischen Sagen verdanken wir gröstentheils der freundlichen Mittheilung des Hrn. Dr. Seifart in Göttingen, der demnächst auch eine eigene Sammlung derselben herausgeben wird. Anfangs gedachten wir noch die Sagen des uns nahe liegenden Harzes mit aufzunehmen, standen aber von diesem Entschlusse ab, als wir hörten, [4] daß Pröhle ein besonderes Werk darüber zu veröffentlichen beabsichtige, das jetzt bereits erschienen ist. Herr Pröhle war so freundlich uns mehrere Sagen zuzusenden, die in unser Gebiet gehörten, während wir ihm dagegen einige für sein Werk passende Beiträge lieferten. Unter denen, welchen wir sonst Beiträge zu unserm Werke zu verdanken haben, nimmt ein ehemaliger Schüler Schambachs, August Beyer aus Wulften, die erste Stelle ein. Von ihm rühren, bis auf zwei oder drei, die sämmtlichen Sagen aus Wulften her. Die Sagen aus Förste verdanken wir dem Lehrer Wedemeyer in Einbeck, die aus Schwiegershausen dem Lehrer Cordes. Ihnen, so wie allen andern, die uns mit freundlicher Bereitwilligkeit bei unserm Werke unterstützt haben, statten wir hier gern unsern herzlichsten Dank ab.

Das Verdienst bei weitem die meisten der unmittelbar aus dem Munde des Volkes geschöpften Stücke gesammelt zu haben, gebührt Schambach. Er durchwanderte unermüdet besonders die beiden Fürstenthümer nach den verschiedensten Richtungen und es gelang ihm bei seiner genauen Kenntnis der Oertlichkeiten und des niedersächsischen Dialektes, von welchem er ein Wörterbuch herauszugeben beabsichtigt, manches zu erfahren, was sonst nicht an das Licht gekommen wäre, weil das Volk mit seinen Mittheilungen aus verschiedenen Gründen, namentlich aus Mistrauen und den seltsamsten Bedenklichkeiten sehr zurückhaltend zu sein pflegt. So wurde eine bejahrte Frau ohne allen Erfolg um Sagen befragt; später äußerte sie gegen andere, sie wisse allerdings recht viel, wolle sich aber wohl hüten es zu erzählen, weil sie keine Lust habe vor das Schwurgericht in Göttingen gestellt zu werden. Noch merkwürdiger ist die Besorgnis, welche eine alte Frau in Einbeck hegte. [5] Sie hatte mehrere Sagen bereitwillig mitgetheilt, empfand aber später darüber Gewissensbisse und glaubte ihre Seligkeit gefährdet; eine Krankheit, welche sie betroffen hatte, ward von ihr als die dadurch verursachte Strafe des Himmels angesehen, und jeder Versuch sie wieder zum Erzählen zu bringen war vergeblich. Während ihrem Bedenken wohl eine geheime Scheu zum Grunde lag, die alten lieben Ueberlieferungen durch Mittheilung zu entweihen, weisen andere die Erkundigungen nach Volkssagen deshalb zurück, weil sie in Folge der neuern Aufklärung mit dem Glauben auch das Interesse daran verloren haben und sie verachten. Manche fühlen sich selbst beleidigt, wenn man etwas von ihnen zu erfahren wünscht, und schneiden wohl alle weiteren Fragen mit dem Bemerken ab, daß sie ja in der Schule gewesen seien. Ein Frauenzimmer erwiderte auf die Anfragen, die über den Nachtraben an sie gerichtet wurden, höhnisch: »glaubt der Herr, daß ich aus dem dummen Lande bin?« Wo der Glaube an die Volksüberlieferungen noch einigermaßen lebendig ist, da ist die Bereitwilligkeit sie zu erzählen noch größer. Darum lieferte die Umgegend von Einbeck, besonders die Ortschaften des Sollinger Waldes, eine ergiebige Ausbeute, und das Volk war hier leichter zum Erzählen zu bringen, als in der Gegend von Göttingen. Der Zweifel an der Wahrheit der Sage greift aber immer weiter um sich, und es wird jetzt schon von den einfachsten Leuten manches für unwahr gehalten, was vor funfzig Jahren im Glauben ganz fest stand, während man dagegen anderes noch nicht als unbegründet zu verwerfen wagt. So erklärte eine Frau aus Edemissen die Sagen von den feurigen Männern für »dummes Zeug«, hielt aber das Vorhandensein des gespenstischen Hundes, der Nachts den [6] Leuten auf den Rücken springt, für ganz ausgemacht. Während man Aeußerungen, wie die, daß es jetzt keine Hexen mehr gebe, daß die meisten Gespenster von dem alten Fritz oder auch von der westphälischen Regierung »abgethan« sein, mehrfach zu hören Gelegenheit hat, haftet in unsern Gegenden der Glaube an Hackelberg noch fest in dem Gemüthe des Volkes; von ihm sprechen viele nur mit dem grösten Ernste, viele wollen ihn, wenn auch nicht gesehen, doch gehört haben. Mit dem abnehmenden Glauben an die Sagen werden diese selbst sich immer mehr verlieren. Alte Leute aus dem Volke erklärten, daß das jüngere Geschlecht wenig oder nichts mehr wisse, und daß in dreißig Jahren von Sagen nur noch wenig übrig sein werde. Namentlich sind, darauf kommen viele Nachrichten hinaus, die Märchenerzählerinnen fast ganz ausgestorben. Wer Märchen kennt, weiß in der Regel nur noch Trümmer davon, welche aufzuzeichnen kaum der Mühe werth ist.

Die Sichtung und Anordnung des gesammelten Vorrathes übernahm Müller. Es sind dabei manche Stücke, die zu unbedeutend waren, zur Seite gelegt; dagegen schien es unbedenklich, diejenigen, welche irgend Bedeutung haben, nach der uns mitgetheilten Ueberlieferung aufzunehmen, auch wenn sie schon früher gedruckt waren. Der Sagenforscher, der diese bereits aus andern Werken kennt, wird von seinem Standpunkte aus unser Verfahren vielleicht nicht billigen; er wird es aber doch gerechtfertigt finden, wenn er bedenkt, daß unser Werk zugleich einen landschaftlichen Charakter haben soll. Auch werden die Formen der Sagen, die wir gehört haben, selten oder nie ganz mit den bereits gedruckten Mittheilungen stimmen. Nur mehrere uns zugegangene, aber aus der Sammlung der Brüder Grimm sehr [7] bekannte und damit ganz übereinstimmende Märchen sind weggelassen. Einige Erzählungen sind uns mitgetheilt, die keinen echt volksmäßigen Ursprung haben. Namentlich hat die Halbgelehrsamkeit in älterer und neuerer Zeit hie und da Sagen hervorgebracht, welche auch wohl in das Volk dringen, sich aber doch in der Regel bald durch ihren Ton und ihren Inhalt von echten Ueberlieferungen unterscheiden lassen. Solche Stücke sind in unsere Sammlung gar nicht aufgenommen, oder es ist, wenn wir sie berücksichtigt haben, auf ihren apokryphen Ursprung hingewiesen. Eben so ist verfahren, wo sich moderne Zusätze und Erklärungsversuche in die echte Ueberlieferung eingeschlichen hatten. Der in dem Sagenkreise einer Landschaft heimisch gewordene Sammler weiß dergleichen Auswüchse und Entstellungen wohl zu erkennen. Uebrigens haben wir alles getreu nach der Ueberlieferung mitgetheilt, mehrfach auch durch Anführungszeichen angedeutet, daß wir die eigensten Ausdrücke des Volksmundes gebrauchen, oder den hochdeutschen Worten die niederdeutschen hinzugefügt.

Die Anordnung der Sagen folgt, wie der Leser selbst finden wird, vorzugsweise der Verwandtschaft ihres Inhaltes. Wenn diese Folge auch demjenigen, der mehr auf Unterhaltung, als auf Belehrung ausgeht, nicht den bunten Wechsel bietet, den eine geographische Anordnung gewähren würde, so wird doch dadurch die Benutzung des Werkes für die Wissenschaft sehr erleichtert und es werden Wiederholungen derselben oder ganz ähnlicher Sagen vermieden. Doch haben wir keine ängstliche Systematik erstrebt, die wieder andere Nachtheile mit sich bringt. Da insbesondere mehrere mythische Gestalten der deutschen Volkssage noch nicht hinlänglich klar sind, so würde es in vielen [8] Fällen voreilig sein, ihnen als fraglichen Göttern oder Halbgöttern eine genau bestimmte Stelle anzuweisen.

Auch die Anmerkungen und Abhandlungen sind von Müller ausgearbeitet; zu den erstern hat jedoch auch Schambach manches Material geliefert. Sie geben die nöthigen Nachweise über unsere Quellen und über abweichende Formen, die uns außerdem mitgetheilt oder in andern Werken bekannt gemacht sind; auch vergleichen sie ganz oder theilweise entsprechende Sagen aus andern Gegenden. Für die literärischen Nachweise (und dieser Theil der Arbeit fiel wieder vorzugsweise Müller zu) sind die wichtigsten neuern Sagenwerke benutzt, von denen der Anhang ein Verzeichnis gibt. Besondere Aufmerksamkeit haben wir aber der Erklärung der Sagen mit Hülfe der Geschichte und der Mythologie gewidmet, je nachdem sie mehr in das eine oder in das andere Gebiet gehören.

Der historische Gewinn, der sich aus der noch jetzt lebenden deutschen Volkssage ergibt, darf freilich an und für sich nicht hoch angeschlagen werden. Die Sage wird uns in der Regel keine Einzelheiten lehren, die wir nicht durch unsere glaubwürdigen Geschichtswerke besser wüsten. Was sich von historischen Erinnerungen in unserm Volke erhalten hat, trägt in der Regel den Charakter der Specialgeschichte und knüpft sich an einzelne Oertlichkeiten. Begebenheiten von einem weit reichenden Einflusse werden nur ganz im allgemeinen behalten und die verschiedenen Zeiten nur roh gesondert. Die letzten Kriege mit Frankreich, der siebenjährige und der dreißigjährige Krieg sind noch im Andenken des Volkes geblieben; was dazwischen liegt, ist vergessen. Aus der frühern Vergangenheit unterscheidet es noch das Mittelalter, welches als die Zeit der [9] Raubritter oder die Zeit, in welcher das Pulver noch nicht erfunden war, bezeichnet wird, und die uralte heidnische Zeit. Zwar werden auch wohl einmal die Zeiten Karls des Großen und der Bekehrung zum Christenthume erwähnt, aber hier wird man in den meisten Fällen schon einen Einfluß der Gelehrsamkeit annehmen dürfen. Länger können in der Erinnerung des Volkes ausgezeichnete Persönlichkeiten unter seinen Königen und Fürsten haften. Dann wer den sie aber gewöhnlich mit einer Oertlichkeit in Verbindung gebracht, die vielleicht nur in ihrem Namen an sie erinnert, wie z.B. nur deshalb Heinrich der Vogelsteller noch in der Sage von Vogelbeck lebt, oder es hat sich, wie die in unserer zweiten Abhandlung besprochene Sage von Heinrich dem Löwen zeigt, die Poesie und der Mythus mit der geschichtlichen Erinnerung verbunden und sie dem Gemüthe tiefer eingeprägt. An die Zeiten und die Personen, die in der Erinnerung noch fortleben, heftet nun das Volk seine speciellen Orts- und Familiengeschichten, besonders Erzählungen von Gründungen und Zerstörungen von Städten, Burgen, Kirchen und andern Bauwerken, Erwerbungen von Grundstücken, oder Geschichten, durch welche bestehende Sitten und Einrichtungen erklärt werden. Der historische Kern solcher Sagen ist in der Regel äußerst gering. Man wird höchstens nur das einfache Faktum als beglaubigt ansehen dürfen; die Zeit, in welche es versetzt wird, die Umstände, unter denen es vor sich ging, die Personen, die dabei thätig waren, werden sich häufig als nicht dahin gehörig und andern Erinnerungen entnommen, oder als ganz unhistorisch erweisen. Selbst die nackte Thatsache ist noch nicht immer als begründet anzunehmen. So heißt es z.B. häufig im Volke von einer Burg, daß sie [10] im dreißigjährigen Kriege zerstört sei, wenn es auch fest steht, daß sie gar nicht zerstört, sondern nur allmählich verfallen ist. Daß auf alle Sagen, bei welchen die Volksetymologie in irgend einer Weise thätig gewesen ist, kein Gewicht gelegt werden darf, ist bereits anerkannt. Diese zeigen gewöhnlich auch eine gewisse Dürftigkeit. Aber selbst dann, wenn die genauesten Einzelheiten lebendig und anschaulich berichtet werden, wird die Glaubwürdigkeit der Sage nicht vermehrt, im Gegentheil zeigt sich dann besonders bei näherer Betrachtung eine Einwirkung der Dichtung oder des mythischen Denkens. Auch dann kann gewöhnlich nur das einfachste Faktum als historisch betrachtet werden. So erzählt N. 43 unserer Sagen ausführlich und lebendig, wie das Amt Radolfshausen an Hannover kam. Wäre uns dieses Ereignis sonst nicht bekannt, so würden wir nach der Sage nur annehmen dürfen, daß dieses Amt in Folge eines Todesfalles von Hannover erworben wurde, und man würde höchstens nur aus den Umständen, daß der Besitzer von Radolfshausen – eine mythische Personification – als Bruder des Grafen von Plesse erscheint, noch schließen dürfen, daß Radolfshausen einst zur Herschaft Plesse gehörte. – So gering also der Gewinn ist, den die Sagen als Geschichtsquellen für einzelne Begebenheiten betrachtet abwerfen, so wenig dürfen sie doch aus andern Gründen von dem Historiker verachtet werden. Die Betrachtung der Sagenbildung und ihre Vergleichung mit der wirklichen Geschichte kann ihn lehren, wie er die Volksüberlieferung, da wo sie die einzige Quelle ist, zu benutzen hat, und kann ihn namentlich vor dem Fehler bewahren, das was der Mythologie angehört, als wirkliche Geschichte aufzufassen. Dann gibt uns die Sage darüber [11] Auskunft, wie der Geist des Volkes die Vorzeit auffaßt und behält, und das ist für die Culturgeschichte in vielen Fällen sehr wichtig. Damit dieses Verhältnis der Sage zu der wirklichen Geschichte immer deutlicher werde, hat der Sagensammler die Aufgabe, wo es möglich ist, beide mit einander zu vergleichen, wie wir es in den meisten Fällen in den Anmerkungen gethan haben.

Bedeutender ist der Gewinn, den die Mythologie aus der deutschen Sage schöpft. Ihre Wichtigkeit in dieser Hinsicht ist so anerkannt, daß wir darüber nicht ausführlich zu sprechen brauchen; doch dürfen wir einige Bemerkungen über die Art und Weise ihrer Benutzung hier nicht übergehn.

Mit der von J. Grimm begründeten und von andern noch weiter ausgedehnten Behandlung deutscher Volkssagen als Quellen der deutschen Mythologie können wir in vielen Punkten jetzt noch weniger einverstanden sein, als früher. Zunächst scheint uns die Meinung, nach welcher die noch jetzt lebenden Volkssagen mehrfach Ueberbleibsel eddischer Mythen enthalten, weder durch den bisherigen Erfolg, noch auch grundsätzlich gerechtfertigt. Bis jetzt haben wir bei aller angewandten Mühe aus der noch lebenden deutschen Sage nur zwei Götternamen kennen gelernt, die mit den nordischen stimmen, Wuotan und Frigg. Aber der Wuotan des deutschen Volkes, der als wilder Jäger durch die Luft zieht, erinnert an den eddischen Odhinn in nichts als in einigen uralten Symbolen, die dem deutschen und skandinavischen Glauben gemeinsam waren, in dem Mantel, von dem Hackelbernd den Namen hat, und vielleicht in dem Nachtraben, der ihm voran fliegt. Alle andern Versuche, die man bisher angestellt hat, deutsche Volkssagen auf eddische [12] Mythen zurückzuführen, sind entweder geradezu falsch, oder doch in einem höchsten Grade unsicher. Sie hätten nur dann gelingen können, wenn angenommen werden dürfte, daß die Edden nicht nur die nordische Mythologie vollständig enthielten, sondern auch in ihren Einzelzügen mit dem heidnischen Glauben der andern deutschen Stämme übereinstimmten, was keinesweges der Fall ist. In den Edden sind vorzugsweise solche Mythen erhalten, die von den nordischen Dichtern behandelt und individuell ausgebildet wurden; eine vollständige Darstellung des nordischen Götterglaubens geben sie eben so wenig, wie die homerischen Gedichte die ganze griechische Mythologie umfassen. Auch sehen wir schon aus Saxo Grammatikus, eine wie reiche Fülle von Sagen und Mythen der Norden besaß, die sich nicht auf den Inhalt der Edden zurückführen lassen; in einem noch höheren Maße müssen wegen der Verschiedenheit der Stämme die deutschen Mythen, von deren Reichthum wir uns nach der noch jetzt vorhandenen Menge der verschiedensten Traditionen eine Vorstellung machen können, von den Edden abgewichen sein, wenn auch einige religiöse Grundanschauungen den Skandinaviern und den Deutschen gemeinsam waren.

Nur in einem Falle ist es nach unserer Ansicht erlaubt, eddische Göttermythen mit ihren individuellen Einzelzügen in deutschen Volkssagen aufzuführen: wenn diese erweislich Nachklänge älterer deutscher Gedichte sind. So wie einzelne spätere nordische Gedichte, z.B. das dänische Lied vom Hammerraub, eddische Mythen bewahrt haben, so waren auch in älterer Zeit mehrere mythische Stoffe der skandinavischen und der deutschen Dichtung gemeinsam, wie schon durch die nordischen und deutschen Sagen von den[13] Nibelungen und dem Schmiede Wieland bewiesen wird. So haben wir in unserer zweiten Abhandlung aus mehreren ältern deutschen Gedichten, die zum Theil unserer Heldensage im engeren Sinne angehören, einen Wuotansmythus nachgewiesen, wovon spätere Volkssagen noch Nachklänge enthalten. Doch ist der Mythus, den wir dort in den verschiedensten Verzweigungen verfolgt haben, in den Edden nur kurz und dunkel angedeutet; wir lernen ihn vorzugsweise durch Saxo und durch die deutschen Quellen kennen.

Ueber den geringen Erfolg jener Vergleichung der Edden mit der deutschen Volkssage konnte man sich nur durch eine andere gleichfalls wenig begründete Annahme täuschen. Man meint, daß die deutsche Volkssage der Hauptsache nach nur aus zerstreuten und entarteten Ueberbleibseln von mythischen Vorstellungen bestehe, die früher eine reinere Form hatten und in dieser den eddischen Mythen näher standen oder mit ihnen identisch waren. Nun läugnen wir zwar nicht, daß die Ueberlieferungen unsers Volkes in einigen Punkten besonders durch die Einführung des Christenthums verändert sind, erkennen aber jene in den verschiedensten Fällen ohne weitere Begründung angenommenen Entstellungen in diesem Maße nicht an. Wir wissen ja, daß alle volksmäßigen, namentlich die mythischen Ueberlieferungen sich mit einer großen Zähigkeit erhalten, und daß die Sage, so lange sie besteht, ein organisches Leben hat, weshalb ihre Veränderungen eben so wohl bestimmten Gesetzen unterliegen, als die Umwandlungen der Sprache. So lange uns also nicht bestimmte Gesetze aufgedeckt werden, nach denen eine Sage ihre vermuthete reinere Form in die vorliegende angeblich getrübte umgewandelt hat, so [14] lange sind wir berechtigt die Annahme der Entstellung zurückzuweisen, die Ursprünglichkeit der vorliegenden Form zu vertheidigen und zu behaupten, daß sie schon in den ältesten Zeiten wesentlich in keiner andern Weise bestand, als jetzt. Ein Beispiel mag die Sache näher erläutern. Herr J.W. Wolf hat in seiner Zeitschrift für deutsche Mythologie (1, 70) in einer Tiroler Sage, nach welcher das Nachtvolk eine Kuh schlachtete und verzehrte, nachher die Knochen derselben zusammenlas und das Thier wieder lebendig machte, den bekannten Mythus von Thors Böcken zu finden geglaubt, die verspeist und von dem Gotte wieder ins Leben gerufen wurden. Wollten wir hier auch zugeben, was noch nicht einmal bewiesen werden kann, daß die Sage aus den Böcken eine Kuh machte, so müste vor allen Dingen doch gezeigt werden, warum in dieser Geschichte das Nachtvolk statt des Gottes auftritt. So lange das nicht geschieht, werden wir die angenommene ursprüngliche Identität beider Sagen zurückweisen und behaupten, daß man schon in alter Zeit, unabhängig von der nordischen Ueberlieferung, in Tirol von dem Nachtvolke eine ähnliche Geschichte erzählte, wie sie die Edden von Thorr berichten.

Es ist hier nicht der Ort, die vielen einzelnen Misgriffe, die man bei der Vergleichung deutscher Volkssagen und eddischer Mythen gemacht hat, weiter zu verfolgen; wir müssen nur noch unsere Verwunderung darüber aussprechen, daß man bei dieser Weise ganz äußerlich verfuhr. Man verglich mehrfach die heterogensten Sagen, historische und mythische, entschieden christliche und heidnische, Göttersagen und Thiermärchen, mit einander, weil sie in einzelnen Zügen, vielleicht nur in einem überein kamen, kümmerte sich aber um die Erläuterung ihres symbolischen oder [15] sonstigen Inhaltes wenig oder gar nicht. Doch kann man zwei Sagen erst dann vergleichen, und die eine aus der andern herleiten, wenn man jede für sich verstanden und gedeutet hat.

Wir sehen es dagegen als die nächste Aufgabe einer wissenschaftlichen deutschen Mythologie an, die vielen symbolischen Züge, welche unsere Volkssagen und Märchen enthalten, uns verständlich zu machen. So lange das nicht geschieht, bleibt nicht allein jede Vergleichung übereinstimmender einzelner Züge in mehreren Sagen unsicher, sondern man verkennt auch, daß erst durch die Erklärung des Symbolischen die Mythologie ihren Zweck erfüllt. Denn es ist weniger der Inhalt der mythischen Volkssagen an und für sich, der uns anzieht, als vielmehr die Form, in welcher das Volk seine Gedanken ausspricht. Bei diesem Bestreben ist auch eine Vergleichung mehrerer Sagen nöthig, zunächst solcher, die auf demselben Boden entsprossen sind, dann die Vergleichung deutscher Volkssagen mit nordischen, denen sie aus mehreren Gründen näher stehn, als den Edden. Auch die Mythen, die diese enthalten, sollen berücksichtigt werden, wie selbst die Mythen anderer Völker; aber nicht um die einen aus den andern herzuleiten, um in den deutschen Volkssagen die Spuren nordischer und selbst indischer Mythen nachzuweisen, sondern zunächst nur um die Formen, in welche der Volksgeist seine Anschauungen gekleidet hat, zu verstehn. Der Umstand, daß der Zusammenhang unsers Sagenschatzes mit dem ehemaligen deutschen Göttersysteme so gut wie ganz unbekannt ist, macht diese Aufgabe freilich zu einer besonders schwierigen, jedoch muß der Versuch gemacht werden, die Mythologie der deutschen Volkssage in dieser Weise auf ihre eigenen [16] Füße zu stellen. Die Erläuterung der Symbole unserer Sagen wird uns eine Reihe von Vorstellungen erkennen lassen, die in mancher Beziehung einfacher und roher ausgedrückt sind, als die eddischen Mythen, aber nichts desto weniger, oder vielmehr eben deshalb, wie das bereits Schwartz in seiner sinnigen und noch nicht hinlänglich gewürdigten Abhandlung (Der heutige Volksglaube und das alte Heidenthum) ausgesprochen hat, so wie sie vorliegen, in das fernste Alterthum reichen.

In diesem Sinne sind unsere Anmerkungen, so weit sie sich auf Mythisches erstrecken, abgefaßt; denselben Zweck verfolgen auch die drei hinzugefügten mythologischen Abhandlungen, von welchen die zweite auch für unsere Literaturgeschichte, namentlich die Ausdehnung und Bedeutung der deutschen Heldensage, nicht ohne Interesse sein wird. Nach dem Obigen befinden wir uns dabei mehrfach in einem Gegensatze gegen herschende Vorstellungen, hoffen aber, daß man uns dasselbe Recht widerfahren läßt, welches wir jedem gern zugestehen, der seine Ansichten wissenschaftlich begründet. An die Aussprüche incompetenter Beurtheiler werden wir uns nicht kehren. Obgleich auf dem Gebiete der Mythologie oft genug willkürliche Phantasieen zum Vorschein gekommen sind, so ist sie doch eine Wissenschaft, die ihre Methode und ihre Gesetze hat, und diese müssen hier eben sowohl erlernt werden, wie bei jeder andern. Wer nun nicht gezeigt hat, daß er diese Wissenschaft inne hat, und sich doch, wie Gervinus, ein Urtheil über mythologische Werke erlaubt, das nur ihre Resultate verwirft, ohne die Methode zu widerlegen, der wird uns nicht verdenken, daß wir auf sein Urtheil gar kein Gewicht legen.

[17] Schließlich richten wir an alle diejenigen, welche im Stande sind, uns bei der beabsichtigten Fortsetzung unsers Werkes zu unterstützen, die Bitte, uns alles, was unserm Zwecke förderlich sein kann, freundlichst zusenden zu wollen. Wir werden jeden Beitrag von Sagen, Märchen, auch Aberglauben, mag er den Zusendern selbst auch vielleicht unbedeutend erscheinen, mit dem herzlichsten Danke annehmen und gewissenhaft benutzen.


Göttingen, im August 1854.


W. Müller. [18]

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TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. Märchen und Sagen. Niedersächsische Sagen und Märchen. Vorrede. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BC1A-0