46. Der Gottesacker im Vorfrühling

Blätter treibt des Kirchhofs Flieder,
Neigt auf Grüfte junges Laub;
Kirschenblüte gaukelt nieder
Auf der Abgeschiednen Staub.
Bleicher Primeln Keime lüpfen
Sanft das Moos, das sie umgab;
Und des Dorfes Kinder hüpfen
Achtlos auf der Mütter Grab.
Junges Sinngrün drängt sich dichter
An des Jünglings flachen Stein,
Öffnet blauer Blumen Trichter,
Saugt zerfloßnen Reifen ein.
Schlaff gedrückte Halme richten
Sich vom Winterschlaf empor,
Und in naher Waldung Fichten
Flötet laut ein Drosselchor.
Drosseln, singt in leisen Chören!
Amsel, flöt im Trauerhain!
Nur wir Hinterbliebnen hören
Eure Frühlingsmelode'n.
[309]
Ach! ihr mahnt an die Genossen,
Die ein früher Tod verklärt;
An die Lenze, die verflossen,
An die Zeit, die nimmer kehrt!
Flötet nur gelaßne Klage,
Hemmt der Trauertöne Lauf;
Denn sie nahm von dunkler Tage
Letzter Stuf' ihr Engel auf.
Kies und dunkle Schollen warfen
Wir auf den versenkten Sarg,
Als, begrüßt von Himmelsharfen,
Sich ihr Geist in Licht uns barg.
In des Geisterreiches Stille
Tobt kein Sturm der Leidenschaft,
Und des Guten reiner Wille
Lohnt sich durch erhöhte Kraft;
Seelen, fremd im öden Thale
Der umschränkten Wirklichkeit,
Fanden froh die Ideale
Seliger Vollkommenheit.
Ihre Schwächen sind vergessen,
Groll und Zwietracht sind versöhnt,
Wo die Reue mit Cypressen
Der Gekrönten Stätte krönt.
Aus des niedern Neides Schranke
Zu des Friedens Höh' entrückt,
Ritzt sie nie der Bosheit Ranke,
Die des Edeln Pfad umstrickt.
Kühler Rasen überschleiert
Sorgsam der Verwesung Spur;
Auf des Moders Halle feiert
Frühlingsfeste die Natur;
Und die Thräne der Empfindung,
Wenn ihr Grabgeläut' verklingt,
Schmückt die Kette der Verbindung,
Die ins Geisterreich sich schlingt.
[310]
Auf den Gräbern unsrer Väter
Sprießt des Erdrauchs Purpurstrauß,
Ein entwölkter lautrer Äther
Überwölkt ihr enges Haus;
Auf vermorschter Särge Reste,
Auf zerbröckeltes Gebein,
Wallt durch weiße Blütenäste
Goldner Frühlingsmorgenschein.
Selbst wo rasenlos und mürbe
Sich ein neuer Hügel hebt,
Wo man den, der heute stürbe,
An die Reihe hin begräbt,
Wird der Grund sich bald behalmen;
Wo jetzt Wermutstengel stehn,
Hebt die Hoffnung Siegespalmen
Für das große Wiedersehn.
Drückt euch dicht, ihr Epheuzweige,
An der Dulder stilles Grab!
Schlaffe Trauerweide, neige
Dein Gelocke tief herab!
Flattert drüber, Hängebirken,
Dämpft den Tag umher durch Laub,
Und, Natur, mit leisem Wirken
Wandl' in Blumen ihren Staub!

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Salis-Seewis, Johann Gaudenz von. Gedichte. Gedichte. 46. Der Gottesacker im Vorfrühling. 46. Der Gottesacker im Vorfrühling. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-B3E7-6