Gustav Sack
Ein verbummelter Student

[25] Der Lichtenhagen

In einem flachen Kessel am Niederrhein liegt zwischen waldigen und heidigen Höhen ein Dorf, dessen Signum ein kurzer klobiger Backsteinkirchturm ist und dessen Hauptstraße kurz und gut die Mittelstraße heißt, und die wird zu beiden Seiten begleitet von der Kaffeestraße und Kirchstraße und ist mit ihnen verbunden durch mehrere Sträßlein, deren offizielle Namen man nur in dem heimatkundlichen Unterricht der Schule hört; später vergißt man sie und bezeichnet die Sträßlein nach irgendeinem irgendwie hervorstechenden Anwohner.

Die Bewohner aber neigen ein wenig zum Kretinismus und haben insbesondere vor ihren Nachbarn einen eigentümlichen hämischen und bissigen Witz voraus – sonst leben sie wie diese in den Tag und wissen nichts von der transzendenten Idealität der Zeit, der Verneinung des Willens, dem Pathos der Distanz und wären so [25] glücklich wie ihr Vieh, wenn sie eben nicht den hämischen Witz hätten und so eingefleischte Ebenbilder ihres Gottes wären.

In diesem Dorfe ging gerade der Küster zur Kirche, um das Abendläuten zu besorgen, als ihm Erich Schmidt begegnete, der seinen Abendspaziergang begann. »Erich Schmidt«, das hieß für seine Mitbürger soviel wie ein älterer Student, der sich nach seiner, höchst wahrscheinlich doch lustigen, Studienzeit bei seinen Eltern aufhielt, wie er sagte, um sich für sein Examen vorzubereiten, – es war aber schwer, an ihn heranzukommen, und deshalb war er ihnen nur ein dankbares Objekt für ihren schiefmäuligen Witz.

Sein Gang war hastig und unruhig, besonders wenn es seinen Abendspaziergang galt: denn der begann erst draußen mit dem »Tiefen Weg«, und er mußte zusehen, schnell aus dem Drückenden, Engen, Warmen, Hämischen, Vorwurfsvollen und Ungefälligen – daß er aus alle dem herauskam.

Der Tiefe Weg nimmt seinen Anfang gegenüber der letzten Wirtschaft des Dorfes, führt mit einer flechten-und moosgeschmückten Steinbrücke über den Mühlenbach, geht dann unter alten Roßkastanien, die vor einiger Zeit ihre [26] weißen gelb und purpurn gefleckten Blütenblätter zur Erde gekrümelt haben, den Teich entlang und verliert sich durch Gärten und Felder im Wald.

Es war den Tag über drückend warm gewesen: die Schulen hatten geschlossen und die badenden Jungen zertraten das hohe Gras, die Frauen setzten für die Feldarbeit ihre ungefügen weißen Hauben auf und die Imker hatten volle Arbeit mit dem Einfangen der Schwärme, da ein Hochzeitsflug den anderen drängte – und jetzt hing es blauschwarz im Osten. Doch Erich zählte eine geraume Zeit, ehe der Donner bei ihm war, oft blieb er noch aus, und es kam als einziger Bote der rasche bleiche Blitz.

Das Gewitter ist noch weit; und wenn auch, mag's mich übereilen – denn weswegen soll der Blitz, wenn er einmal einen Baum treffen muß, gerade den treffen, unter dem ich mich befinde? Und wenn auch – was geht's mich an.

So ging er seinen Weg; am Teich entlang, wo er bemerkte, daß die Kaulquappen am ganzen Ufer eine bestimmte Tiefe bevorzugten und sich derart wie ein zitterndes schwarzes Band dahinschlängelten, an den Gärten vorbei, wo wieder Dornhecken zerstört und ersetzt waren durch [27] starrende Drahtzäune, zwischen den süßlich duftenden Kornfeldern hindurch und kam dann in den Lichtenhagen.

Dieses Wort begreift den ganzen Buschkomplex, der sich nordwärts von dem Gärten- und Felderring eine Wegstunde breit bis zum Königlichen Wald hinzieht. Es liegt dort leichter Boden, Sand über Lehm, und außer Streu und Lehm und Brennholz ist wenig zu holen; so holt man dies und läßt das Andere liegen und wachsen wie es will.

Hier hatten einmal Jungen einen kleinen Waldbrand entfacht – man kümmerte sich nicht um den Nachwuchs und ließ die Birken und Heidelbeeren sprießen; hier war vor Zeiten Lehm gegraben – nun wucherten in den ausgewühlten Löchern die Rohrkolben und quakten die Grünröcke und nebenan, umrahmt von Ginster und Brombeergestrüpp lag ein Acker mit kärglichem Hafer; auf der anderen Seite, verborgen hinter Haseln und Adlerfarn schlief eine Wiese und neben ihr kämpfte eine andere um ihr Leben gegen Binsen und Glockenheiden; hier in der flachen Mulde eines Heidestücks, deren Rand düstere Wacholder und Stechpalmen bestanden, lebten Wollgräser und halbmeterdicke [28] Polytrichumpolster und in den trügerischen schwarzen Lachen trieb der Wasserschlauch und hob seine bleichgelben Blüten in die Sonne; und dann wieder weitausladende Kiefern und weiße Birken, Buchen und blitzgetroffene wipfeldürre Eichen – und das Alles wuchs, wie's ihm gefiel; wurde ein Buschstück gefällt oder eine Wiese nicht mehr gepflegt, so konnte dieNatur dort selber bauen. Und der Hauptweg war sandig, bald lehmig oder torfig, bei schlechtem Wetter kaum zu gehen.

Da lag zu linker Hand ein junger Eichenbusch abgeholzt am Boden, armdick die Stämme und die jungen Blätter zerknittert und grau; aber zwischen ihnen wucherte der gelbe Wachtelweizen so üppig wie nie in den vorigen Jahren.

Euch, die ihr wachsen wolltet wie für eine kleine Ewigkeit, fällt unsere Unvernunft wie ein Schlag – aber unter euch das schmarotzende Kräutervolk kommt und kommt wieder und wird nicht schwinden trotz Streuhacke und Spaten. Aber weswegen umhüllt das Wort Schmarotzer ein peinliches Gefühl? Ist es begründet in dem Ahnen oder gar in dem absoluten Wissen von einer Ordnung der Dinge nach Gut und Böse, oder in unserem rücksichtslosen Selbsterhaltungstrieb? –

[29] Er steckte die Pflanzen, die er mit dem Stock ausgegraben und die mit einigen Gräsern verwachsen waren, zu sich, bückte sich zu einer Blume nieder und schaute ihr in die Augen und ging mit ärgerlichen Schritten wieder fort.

Ob nicht bald der blaue Enzian blühen wird? Dort im feuchten Grase unter der Eiche ist sein Ort, die Jägereiche nennt man sie. – Wie eine Blume und ein Baum so seinen Namen hat – und diese Namen sind unsere Welt. Wirklich diese Namen? Oder die Dinge, die uns diese Namen aufzwingen? –

Da prallte ihm plötzlich ein süßer Duft entgegen: ein wildes Gaisblatt hatte einen Haselstrauch überwuchert und sandte in den schwülen Abend seinen lockenden Duft; Käfer und Nachtfalter umschwärmten seine fahlen Blüten. – Da schlug dem Einsamen eine heiße Blutwelle ins Gesicht, und eilends drang er vom Wege ab in den tieferen Wald.

Der hohe Farn streifte seine Brust, die Peitschenzweige des gleißend gelben Ginsters schlugen ihm ins Gesicht, ein Kuckuck stieß seltsam laut und sich überstürzend seinen Ruf aus und zwischen den Salweiden und Dornen rief eine Drossel ihr lärmendes Warnsignal, ein Häher trug es [30] kreischend weiter – fort ging es durch Birken und Krüppelkiefern, Sumpflachen und Heidekraut, bis er sich erschöpft auf einen modrigen Baumstumpf warf, und blitzschnelle Vorstellungen, schimmernd aufsteigende Erinnerungen breiteten ihren charakteristischen aufregenden Duft um ihn – –.

Aber die Ruhe des Ortes, die weite Schonung, die sich vor ihm bis zum Hochwald ausdehnte und einen kühlen Luftzug aufkommen ließ, das spielende Betrachten rotköpfiger Becherflechten, die dem Baumstumpf entwuchsen, all das begann löschend und begütigend auf ihn zu wirken – aber da fuhr ein Rauschen durch den Wald, blendete ihn ein Blitz und brach krachend neben ihm ein Donner ein –:

Oh! nun fliegt wieder des Sturmes lose Braut dahin! In Fetzen stiebt ihr Schleier und wird zu wüsten, nachsausenden Gestalten, zu feurigen Schimmeln, die leuchten in den Blitzen wie Silber und Gold – nun flattere ich in ihren Haaren – es reißt mich hin – fort – fort! Eingewiegt im Sturmwind – weit – weit und hoch!


Es war Morgen, als Erich in sein Dorf zurückkehrte. Arbeiter, Bauernsöhne und Handwerker, [31] die ihr kleines Gut vertrunken und verspielt hatten und jetzt in den Gruben des naheliegenden Industriebezirks ihr Brot verdienten, begegneten ihm auf ihrem Weg zum Bahnhof, sahen ihm nach und machten ihre Glossen über ihn, wie er beschmutzt und durchnäßt daherging. – Der will die Nacht über im Wald gewesen sein? Betrunken hat er im Graben gelegen, kopfüber ist er beim Fenstersteigen in den Mist gefallen!

Aber er ging auf sein Zimmer, kleidete sich um und lehnte sich in das Fenster, blaue Tabakwolken in den Morgen blasend.

Erich führte seit einiger Zeit über seine Stimmungen und mancherlei ihn quälende Fragen eine Art von Tagebuch – wie er sich vor sich selber entschuldigte, nur zu dem Zwecke, diese an sich vagen Zustände und Gefühle unter dem Zwange, sie in feste Worte, Sätze und Verbindungen zu pressen, einfacher, begreiflicher und eindringlicher zu machen. Nun war ihm nach den Erregungen der Nacht und mit dem erfrischend kühlen Morgen ein Besinnen auf sich selbst gekommen, das, so leicht und froh wie es zuerst war, nur sein Verhältnis zu den Dingen betrachtend und dieses rätselhafte-interessante [32] genießend, bei der bald eintretenden Ermüdung und der Unbehaglichkeit der durchnäßten und beschmutzten Kleidung immer persönlicher, kritischer und mißmutiger wurde. –

Da fühle ich wieder den Draht, der mich mitspielen heißt in diesem Marionettentanz des Lebens; soeben in reiner Anschauung über den Dingen schwebend, von mir und dem drängenden Willen befreit – und jetzt ein armer Teufel, rettungslos in die Zwickmühle geklemmt von Leben-Müssen und Nicht-mehr-leben-Mögen, von Lust am Wissen und dem Wissen von dem Nicht-wissen-Können, von – haha! von Examensangst und Philosophasterdünkel –! –

Und als er, nur für eine kurze Dauer erfrischt durch den Tabaksgenuß und das Bild des erwachenden Tages, schnell wieder verstimmt durch den beginnenden Tageslärm, das hungrige Brüllen der Kühe, das patzige Krähen der Hähne, das Rasseln der Wagen und vermaledeite Knallen der Peitschen – vom Fenster zurücktrat, überfiel es ihn wieder mit aller Macht: Da setzte er sich vor den Tisch, wo auf einer kleinen zierlich gestickten Decke Petrefakten lagen und ein Stein drüben aus der Heide über und [33] über geschmückt mit hervorgeschossenen Kieselkristallen, – und schrieb:

Sie nennen mich, ich weiß es wohl, den verbummelten Studenten, und blicken mit mühsam verhehlter Schadenfreude auf mich und meinen Vater. Daß ich sie wegen dieser spezifischen Primateneigenschaft niedriger schätze als meine verstorbene Katze, ist meine Quittung hierauf. Aber mit ihrem verbummelten Studenten haben sie insofern recht, als mein studere, meine Willenskraft – zwar nicht durch ein überlustiges Leben, wie sie sich zu glauben zwingen – verbummelt, zersplittert, gehemmt und unselig gestört ist; als ich unfähig bin zu akademisch nüchterner, schematischer und absichtlich begrenzter, einseitiger Bearbeitung meiner Wissenschaften; Analogien, Beziehungen, Verbindungen und Zweifel zeigen sich mir überall und reißen mich über die Schranken des Schemas fort.

Zwar macht es mir wenig Sorge, wenn mich ein Leitfossil aus der Geographie hinüberzieht zur Zoologie, zu Entwicklungstheorien und damit zu denen unserer Begriffe, und wieder ein Bodenbakterium zur Chemie und weiter zur eigentlichen Physik – und damit wieder zur Philosophie: mir ist es eben Ernst mit meiner – Wissenschaft.

[34] Aber das ist schon trauriger, wenn die jahrelang mir aufgezwungene Betrachtungweise – oder was sonst? – bewirkt hat, daß es mir nicht möglich ist, diese Tatsachen, die mir zwar ihre Verbindungen und Beziehungen unaufhörlich aufdrängen, als einen gemeinsamen Erfahrungskomplex zusammenzufassen und einer philosophischen Ansicht unterzuordnen: denn darauf läuft doch alle Wissenschaft hinaus! – daß so meine Feierabendstunden, in denen ich das philosophische Resultat einer wochen- und monatelangen Arbeit ziehen wollte und deren anspornende Wirkung ich mir so freudig ausgemalt hatte, zu Qual-und Nötestunden wurden; – daß ich schließlich verzweifelt alles über den Haufen warf, bis in mir eine klägliche Leere war und ich mein Leben hypochondrisch ausfüllte mit Journalelesen und Rauchen, Schlaf und Trank und tagelangem trüben in die Wolken Sehen. Dadurch ist mir die Freude zur steten Arbeit genommen; ohne einen mich befriedigenden Abschluß zu erreichen, werden meine Kräfte lahmer und widerspenstiger von Tag zu Tag. Dadurch – und das ist das Böseste – konnten jene Gedanken zu mir kommen und haben sich bei mir eingenistet: alles Wissen sei kein Wissen, sei nur ein zu wissen Glauben.

[35] Lerne ich, um am Ende zu bekennen, all mein Wissen ist nur Glaube, ist nur ein auf geglaubten Grundgesetzen, der absoluten Wahrheit unserer Denkformen, aufgetürmter Begriffebau? Der in absoluter Hinsicht keinen Pfifferling Wert hat? Um mir gegen mein Wissen Brot, Bier und eine Gans zu kaufen – erklettere ich deswegen diesen gläsernen Bau? Arbeite ich, um mit Hilfe jenes Glaubens, jener Lüge mein Leben fristen zu können – das Leben, das ich doch habe, ohne es gewollt zu haben?

Und doch sagt mir eine drängende Stimme, daß es irgendwie und irgendwo ein abschließendes Wissen, eine adäquate Wahrheit gibt –: so war eben der Weg, den ich einschlug, sie zu erreichen, für mich der falsche, und darum suche ich mir einen neuen Weg, darum will ich von heute an diese wissenschaftliche Bummelbahn, dieses Springen von einem zum andern, weitergehen, ausgesprochener und unbekümmerter als der krasseste Fuchs – mein Geist drängt darnach, er wird schon wissen weshalb. Darum will ich ihn ohne Aufsicht meines wurmstichigen Willens irrlichtern und tauchen lassen wohin und wie seicht oder tief er mag; darum will ich ihn von jenem für andere [36] vielleicht lobenswert praktischen, aber für mich unangenehm spanischen Stiefel befreien und ihn schauen und walten lassen wie er will. Nur die eine Regel soll er nicht ganz aus dem Auge verlieren, alles was er zu sich zieht, mit Ernst zu umfassen, nicht dem mystifizierenden Kirchen- oder Katheder- oder gar dem kuhäugigen Philisterernst, sondern dem stets wachen Gefühl, daß auch das Geringste ein Ausfluß des Urdings, Urgrunds ist, aus dem auch er geflossen, daß das anscheinend Einfachste und Alltäglichste das Würdigste und Bedeutendste ist, da es die Lösung des Rätsels in sich verborgen hält.

Aber nun möchte ich wissen: wie kommt es, daß ich zu dieser paradoxen Selbsthilfe greifen und meinen Intellekt, den ich vergeblich bemüht war durch meinen Willen zu lenken, nun ganz von ihm befreien muß, damit er wieder kräftig und seiner froh wird? Mein Wille ist zu schwach, gewiß; aber wann, wie ist er schwach geworden?

Ist er, ehe er vollkräftig war, geknickt? Daß ich den Kränkling nun zu ewigem Feiertag frei lassen muß?

Ich habe nicht mehr oder weniger als jeder meines Alters und Standes dem Trunk und [37] den Straßenfreuden der Liebe gehuldigt: und die Andern schreiten fort und erwerben sich Amt und Stand, während ich am Wege liege und träume; waren sie stark und robust und habe ich da, empfindsamer als sie, den Knacks bekommen?

Empfindsamer? So ist er als schwaches, morbides Kind geboren, während sein Bruder gesund und leicht ins Leben flatterte? Neige ich, weil es mir angeboren ist, dazu, die Dinge zu betrachten nicht nach dem, was sie mir nützen, sondern nach dem, was sie sind?

Aber es führt zu nichts, einen Fehler als ererbt zu erkennen und ihn bei der Voraussetzung der Unveränderlichkeit des Charakters auf sich beruhen zu lassen.

So gilt es, den Punkt zu suchen, wo und wie und wann ich den Knacks bekommen habe, auf daß ich nicht wie die angeschossene Wildente untertauche und im Schlamm mich fest beiße, um im Dunklen zu sterben, sondern meine Wunde am hellen Tageslicht betrachte und auf Heilung sinne.

Und zu diesem allen trage ich noch ein seltsames Instrumentenmöbel durch mein Leben huckepack, ein Wort, mit der ganzen es umgebenden [38] Hülle des Gefühls, eine immer wache melodische Selbsttäuschung über meine kurze überstürzte Arbeitswut und mein langes, leeres und lässiges Nichts, ein immer bereites fades Objekt für sentimentale Reimereien –: Sehnsucht nennt sich dieses Möbel. Wonach? Wozu! Sehnsucht! Arme Ausbreiten und in die Wolken Träumen!

Doch nun frage ich: wo habe ich sie mir aufgeladen und warum? – Vielleicht damals, als ich den Knacks bekam, habe ich sie mir da als Rezept verschrieben, um nur noch leben, nur noch vegetieren zu können? Mir gar von Poetastern und Schwätzern aufhalsen lassen? das Rezept: Du bist berufen, eine hohe blaue Sehnsucht zu tragen, eine Sehnsucht, die aber ach! nicht erfüllt werden wird, die nicht erfüllt werden kann!

Oder habe ich auch die als Zugabe auf den Lebensweg bekommen? – –

Aber sollte nicht gerade mein leidiger Wille, da doch sein Bruder ungerührt und uninteressiert über den Dingen flattert, in diesem flatternden Drängen und Sehnen verborgen sein? Sollte er nicht so, einmal nicht geschaffen, der Welt als Räuber gegenüberzustehen, mich [39] treiben, die Dinge nach ihrem Sein und Leiden zu betrachten? Auf daß ich mich in Allem wiederfinde? Auf daß ich ihn durch Verneinung von der ewigen Leidenskette zum Nirwana erlöse, der Ruhe, dem Nichts, wo die Winde stille sind –? Sollte dies die blaue Sehnsucht sein?

Haha! Der verbummelte Student als buddhistischer Philosoph! Nur schade, daß er nicht glaubt, was er schwadroniert und – leben möchte!

Ich will baden gehen.

[40] Die Lippe

Den Weg zur Lippe, die von hier aus noch einige Stunden sich durch sandige Ufer windet, bis sie sich in den Rhein ergießt, ging Erich mehrere Male des Tags; und darum sinnierte er sich dann jedesmal einen kleinen Roman zurecht, wie er es auf alten und bekannten Wegen pflegte; es handelte sich da meistens um eine Privatdozentenstellung nebst einer anhängenden blonden Grafen- oder exotischen Fürstentochter.

Und nach dem Bade streckte er sich nackt ins Gras und ließ stundenlang die steile Mittagssonne auf sich niederbrennen –.

Als ich Junge war und auf Vaters Armen das Schwimmen lernte, ließ er mich untertauchen und das etwas salzige Wasser schmecken –: Sieh, so, aber viel stärker schmeckt das Meer. – Dann streiften wir über die Wiesen, benannten Blumen und sprangen über Bäche und sahen das Wasserhuhn auf dem sandigen Grund unter [41] den Wellen laufen. Im Dorf aber beim Schummerlicht erzählte ich den Nachbarjungen, wie gewaltig tief die Lippe sei und wie dort schwarze Vögel, groß wie ein Strauß, gleich Fischen unter dem Wasser schwimmen, und die rufen so, gerade als wenn ein kleines Kind ertrinkt. – Doch wenn die Fledermäuse kamen und die Glühwürmer tanzten, wurden wir unter dem Wagen, wo wir hockten und erzählten, hervorgeholt und zu Bett gebracht. Dann kam das Gute Nacht, das wohlige Sich-Gruseln und Verstecken-Spielen in den Kissen und dann das Gebet: Da war ein Kaninchen krank geworden – Lieber Gott, laß es wieder gesund werden – ein kleiner Eichbaum gepflanzt – Lieber Gott, laß ihn anwachsen – war ein Feuerchen angezündet, und das wird morgen geklatscht – Lieber Gott, laß mich keine Prügel kriegen.

Da gedachte er – und reckte sich eitel-behaglich in der bratenden Sonne – wie er bei solcher Gelegenheit auf die Frage: Willst du es nicht wieder tun? – nach einigem Überlegen mit Ja! geantwortet hatte, da er sich sagen mußte: Ja, ich will es nicht wieder tun – ist richtiger als die doppelte Negation: Nein, ich will es nicht wieder tun. Die Belohnung für [42] diese erste Probe logischen Gefühls war nicht ausgeblieben. –

Und da mir gesagt war, Amen bedeute soviel wie: Ja, ja, es soll also geschehen – so hängte ich an mein zierliches Gebet einen ungeheuren Amenschwanz; hunderte Male leierte ich das Zauberwort her und zählte es an den Fingern ab –: wenn ich mir soviel Mühe gebe, kannst du mir auch helfen! –

Doch dieses trauliche Bittverhältnis nahm bald ein Ende; er merkte schnell, daß sein Gebet wenig fruchte, im Gegenteil, hatte er im Hinblick auf ein gefährliches Vergnügen heftiger als sonst um Sicherheit gebeten und ging dann umso sorgloser zu Werke – Feuermachen, auf die Bäume-Klettern, Eisschollen- und Nachenfahren auf dem Teich, so traf ihn desto sicherer das Verhängnis; dazu die Belehrung älterer Kameraden, der unverständliche Katechismusunterricht mit Auswendig-Lernen, Prügel und Nachsitzen, wenn die Andern sich draußen tummelten: Das störte bald dieses Verhältnis, das nur auf Bitten und berechtigten Erwartungen beruhte. – Seinen letzten Stoß erhielt es mit dem Tode eines kleinen Mädchens. Noch einmal hatte er während ihrer kurzen Krankheit alle seine Gebetsmacht [43] aufgerufen, hatte sein Amen! so dringlich und unzählig hergeschrien, bis der mitleidige Schlaf ihn in die Arme nahm – aber die Kleine, Zarte starb, still und schön wie ihr kurzes Leben –.

Da streifte ich mir die schwarze Trauerbinde vom Arm und band sie vor die Augen, daß dem kleinen umherstapfenden Jungen die ganze Welt schwarz erschien; des Nachts suchte ich zwischen den Sternen, ob ich nicht dort ihr Veilchenauge fände, des Tages aber sammelte ich Primeln und Hainanemonen – das waren ihre Lieblingsblumen, und legte sie auf ihr kleines Grab. –

Dann brachte die unheimlich losplatzende Liebeszeit Nöte über Nöte. Und da fielen die schimpfenden Worte eines bornierten Pfaffen, der ihn zur Konfirmation vorbereitete und für sein Geld etwas leisten woll te, auf geeigneten Boden; der wetterte von Sünde und ewiger Höllenpein, daß der Scheublickende, Ratlose sich ansah wie ein ganzes Nest von Sünden. Und hatte er so kein Vertrauen und keine Ehrfurcht, geschweige denn Liebe für den wieder aufgetauchten Gott, so doch vernichtende Furcht. – Da fielen ihm die Edda und seltsamer Weise die Dichtungen Shelleys in die Hände; die vertrieben [44] den eifernden Judengott und setzten den Verschüchterten wieder mitten in die Natur.

Da hatte ich auf einer hohen Stange, um die ich eine Türkische Bohne hatte ranken lassen, meine Wetterfahne stehen –: das war eine Schwanenfeder, die auf der dornigen Astspitze einer Schlehe spielte; auf der Ligusterhecke, in der die Wetter-Bohnen-Stange ihren Halt hatte, hockte mein Kompaß –: den hatte ich gebaut aus einer mit Wasser gefüllten Lippmuschelschale, in der auf Holundermark eine magnetisierte Nadel schwamm; daneben ein hygroskopischer Fichtenzapfen und am Fenster das Thermometer waren meine übrigen meteorologischen Instrumente, – aber es waren seltsame Instrumente: um ihre Aufzeichnungen kümmerte ich mich wenig, ihr einfaches Dasein, von mir geschaffen und zusammengestellt und nun lebend in der freien Natur, bei Tag und Nacht, Regen und Sonnenschein – genügte mir. Sie bildeten für mich die Verbindung, den Kontakt mit dem Innersten der Natur – dem Innersten? Haha! dem Innersten der Natur!

Aber als ich Gott Valet gesagt und dem Engländer die Hand gereicht hatte, lebte ich, wenn ich des Morgens zur Bahn ging, um nach der [45] naheliegenden Gymnasialstadt zu fahren, es mit seltsam lyrischem Stolz nach, wie der Sonnenaufgangsäther die rosa Schäfchenwölkchen umarmte, ehe er sie trank, sah in düsterseliger Melancholie den Sturm der Raben Scharen wiegen und hörte ihn an den Telegraphendrähten seine Klagelieder pfeifen. Und die Edda bevölkerte meine Welt mit Riesen aus Frost und Reif und dem einäugigen Windegott, wie er neun Tage an der Esche hängt und aus Mimes Quell dicke Weisheit schlürft.

Aber je tiefer ich mich in diese Gestalten flüchtete, je vertrauter mir das Rauschen eines einsamen Wacholders wurde und je bedeutsamer die schwüle Stille des Mittags, wo die Kornweibchen über den wogenden Roggenfeldern geistern, desto tiefsinniger zugleich, rätselhafter und einem innigen Erfassen widerstrebender wurde das, was mich da umgab. Und da kam es, daß ich eines Tages neugierig in einen Garten trat voll hoher Pappeln: doch was Spinoza mir zu Einem Großen einte, zerschlug Schopenhauer mit einem Hieb: ich und das Ding da draußen, das ich doch erraten wollte, ich und das Ding in mir, das ich doch fassen wollte: und da bekam ich ein Wort, ein wüstes wildes drängendes [46] Wort – und so war es denn wieder nichts weiter als der in ein Wort verkleidete hinterweltliche Finstergott und der Junge, der mit seinen schwachen Kräften gegen ihn loszieht.

So warf ich das Große Eine, das ich ersehnte und wofür ich nun die Formel gefunden, und die ewige Zweiheit, die ich fürchtete, deren Formel ich aber nicht widerlegen konnte, zusammen und begnügte mich mit Schlagworten, die ich nur zum Teil verstand.

Aber was mir so an Verständnis abging, ersetzte sich reichlich durch Gefühl. Ich wußte und fühlte mich glücklich darüber, daß ich mit meinem amor dei, meiner substantia cogitans et extensa oder meiner Erlösung des Willens durch den Intellekt, meiner Interesselosen Anschauung, meiner Welt als moralisches Problem irgend etwas Tiefes aussagte und jedenfalls den Dingen näher stand als meine Mitschüler und Lehrer, wenn sie mit donnerndem Pathos »die Worte des Glaubens« hinwarfen und nicht ahnten, was sie sagten und, wußten sie es, zu feige waren, aus ihrem Wissen die Konsequenzen zu ziehen. Sie fühlten, wie ich sie kannte und verachtete, und dankten mir mit Spott und gemeinem Hohn.

Und dann war ich eines Morgens Student, [47] war Fuchs und stand unter der kalten Ernüchterungsdousche: Schau, Leibfuchs, jetzt kommt das Leben, Mädel, Schläger- und Gläserklang! Und in den Ferien: bald nächtlicher Wanderer im Wald, bald Sternengucker; bald Mikroskopiker, bald trübsinniger Träumer am Bach – – semester-, jahrelang. – Da tauchte das Wort Sehnsucht auf – es hing so in der Luft, da holte ich es herunter. Und dann? Wo vorher die Sehnsucht gehangen, hing nun das Examensgespenst, wurde größer und größer und hüllte sich in die absonderlichsten Masken. –

Und jetzt liege ich hier und bin ein verbummelter Student. Und suche mir zu helfen, indem ich mich mit klarer Absicht und hellstem Bewußtsein auf dieser Bummelbahn des flüchtigen Naschens fortrollen lasse. Soll denn das Unergründliche, das mich in das bewußte Dasein geworfen, nur sein Spielzeug an mir haben wollen? Ein interessantes Experiment mit mir anstellen wollen, was aus solchem Konglomerat aus haltlosem Willen und überwacher Anschauung, hineingestoßen in das rastlos und erbarmungslos rollende Rad des Lebens, wird – um es dann, wenn es zerschellt, in die Rumpelkammer [48] der mißratenen Existenzen zu werfen? Hm, auch mich interessiert's.

Ja, lieber Strom, das ist derselbe Knirps, den du vor zwanzig Jahren das Schwimmen gelehrt – ein wenig größer geworden, ein wenig dummer, ein wenig klüger, ein wenig braun gebrannt, ein wenig zerhauen – – Wie die Sonne brennt! Als ich am Lubminer Strand oben in Pommern lag, zog sie mir die Haut in Fetzen vom Leibe – ah! da war Leben.

Sollte vielleicht das, was ich meine blaue Sehnsucht nenne, die versteckte Wut nach lautem Leben sein? Soll erst dann meine Willenskraft aufwachen, wenn ihm etwas Gewaltiges entgegentritt, nicht dieser elende Mikrokrimskrams von Bücherstaub und Tiftelei – Kampf und Krieg, ein lohendes Glück, ein mich niederschmetterndes, buchstäblich mich mit Füßen tretendes Leid – brausendes riesenfäustiges Leben?

Sehnsucht nach dem Leben? Eine vermaledeite Sehnsucht – schmeiß sie fort! –

Es war spät am Nachmittag, als Erich müde und wie betäubt von der brennenden Sonne zu Hause ankam.

Als es Abend ward, blätterte er in seinem verehrten [49] Byron und las das süße Märchen von dem griechischen Inselkind Haidie. –

Und als er am nächsten Tag vom Bade heimkehrte, ging er auf sein Zimmer und schrieb:

Die Kieselkristalle blinzeln und glitzern mich an – bald fern und still wie ein Stern, bald wie neckische Geister. Über ihnen breitet ein Sauerklee, die hohe, ästige, an Gartenhecken häufige Form, seine Blätter; flach ausgebreitet am Tage, dicht zusammengefaltet in der Nacht – wie liegt in diesen bescheidenen Bewegungen das ganze Rätsel des Lebens!

Man nennt und gruppiert sie unter dem Namen Schlafbewegungen, nyktitropische, und reiht sie unter die durch äußere Reize hervorgerufenen Variationsbewegungen. Das sagt mir nichts: so habe ich Schnitte durch die Blattpolster gemacht und sie unter dem Mikroskop betrachtet. Das sagte mir noch weniger.

Gewiß, wie diese Bewegungen möglich sind und zustande kommen, kann ein Schuljunge verstehn. Aber hiermit begnügen wir uns nicht, wir glauben mit diesen Bewegungen einen augenscheinlichen Nutzen für die Pflanze verbunden und kommen so immer wieder auf die verrufene Zwecktätigkeit zurück. Nun können [50] wir aber nicht ins Blaue hinein den Pflanzen Empfindungen der Außenwelt und ein zweckmäßiges Reagieren auf deren Veränderungen zuschreiben, doch nicht das Bedürfnis als Grund der Handlung, es zu befriedigen, hinstellen. Sie müßten das Bedürfnis nicht nur deutlich empfunden, sondern klar erkannt haben und darnach unter den verschiedenen Handlungsmöglichkeiten die zweckmäßigste aussuchen und zielbewußt anwenden, um das so erkannte Bedürfnis zu stillen. Und wissen wir überhaupt so bestimmt, ob ein solches Bedürfnis, wie wir es meinen, vorlag? Ob mit der erreichten Handlung überhaupt irgend ein Nutzen, und wenn – ob gerade dieser damit verknüpft war?

Und dem Plasma, als der lebenden Kohlenstoffverbindung, allgemein die Fähigkeit der Empfindung und des zweckmäßigen Handelns zuzuschreiben, sagt garnichts; das ist nur eine Phrase mehr.

Und schalte ich die Zweckmäßigkeit und auch einen unbeabsichtigt erreichten Nutzen aus und betrachte allein den nackten Zusammenhang von Ursache und Wirkung, so haben sich vielleicht unzählige Ursachen von irgendwo her an diesem Punkt getroffen und ihr Zusammenstoß war [51] eben die »zufällige« Ursache zu dieser ungewußten und ungewollten Wirkung.

Und diese Wirkung, diese Erscheinung hat sich nun vererbt – und zwar ohne daß in allen Fällen die zufälligen Ursachen, wie sie die erste Erscheinung bewirkt haben, weiter wirkten –, nun komme ich schon ohne Empfindung, Nutzen und Zweckmäßigkeit nicht weiter. Ich muß sagen: Die Pflanze hat den Nutzen der einmaligen Abänderung empfunden, er hat ihr im bekannten Kampf ums Dasein geholfen, und sie hat ihn deshalb ihren Kindern vererbt – denn die Erklärung: Das ist eine spezifische Eigenschaft des Plasmas, die durch äußere oder innere Eindrücke in ihm bewirkten Veränderungen zu vererben, ist keine Erklärung, ist nur eine sehr wohlfeile Beschreibung.

Aber auch schädliche Abänderungen vererben sich –? –

Und nun steckt einmal in dieses Durcheinanderwirken von Ursachen und Wirkungen, Vererbungen und Anpassungen, unbewußten und bewußten Empfindungen, zweckmäßigen bewußten und unbewußten Handlungen, Tropismen, Nastien und Instinkten eure Molekulartheorie hinein, beseelten Stoff und stoffliche[52] Seele, Kräfte von irgendwo her, die irgendwo angreifen – wundert ihr euch dann noch über euer hilfloses Gesicht? – Aber euer Gesicht ist glatt und eure Brillen sind ganz vergnügt – –?

Oder liegt die Erklärung wieder darin, daß wir alle Erscheinungen als in Wirklichkeit auch so seiend aber auch nur so seiend auffassen, wie sie uns scheinen, und sofort sie nach Zeit, Raum und Ursächlichkeit ordnen, schematisieren und erklären wollen, wo unser Intellekt vielleicht garnicht geschaffen ist, die Dinge adäquat zu erkennen? Aber weswegen ist er denn fähig, seine Unfähigkeit zur absoluten Erkenntnis einzusehen? Weswegen muß ich denn wissen, daß ich nichts wissen kann?

So stehe ich denn abermals vor der mit Brettern zugenagelten Wand – es ist so jämmerlich traurig. Oh, es ist wohl besser, dieser vermaledeiten Wand den Rücken zuzukehren, anstatt jahrlang an ihr entlang zu rasen und eine Öffnung zu suchen, von der man sich doch sagt, daß sie nicht zu finden ist, garnicht vorhanden sein kann? Oh, es ist wohl besser, mit einem Sprung, einem tollen, alles überjauchzenden Schrei in das Leben da draußen zurückzujubeln: Es lebe das Leben!

[53] Aber da humpelt wieder die griesgrämige Frage an: Weshalb jubelst du nicht, es lebe die Arbeit? – Herrgott! weil sie doch wieder an die vernagelte Wand führt!

Und die andere, die ebenso griesgraugrämige: Tu's – aber was hast du davon?

Und die teuflische: Tu's – aber meinst du, du tust es, weil du willst? Du Narr, weil du mußt; du kannst nicht anders!

Ich werde ins Freie gehen. Wohin? Ins Bruch? In den Wald? In die Heide? – Soll ich schließlich den zureichenden Grund suchen, weshalb ich dieses Mal ins Bruch und nicht in die Heide gehe!

[54] Das Bruch

Östlich vom Lichtenhagen zieht sich von Norden nach Süden eine Senkung hin, auf der gegenüberliegenden Seite begrenzt von aufsteigenden Ackerfeldern, weiten Heideflächen und Kiefernwäldern. Zwei Bäche sammeln die Wasser dieser auf Lehm und Mergel ruhenden Senkung und tragen sie in trägem Lauf zu Tal, um mit ihnen den Dorfteich zu speisen. Der treibt mit ihnen seine Mühlräder, schafft aus ihnen Badekölke und Eisbahnen für die Jugend, Schwemmen für die Pferde und Waschplätze für die Weiber und gibt dann diese durchtollten und durchwühlten Wasser durch eine andere Senkung in den südlichen Höhn weiter durch Bach und Fluß zum Strom.

In der Mitte dieses langgestreckten, mannigfach eingeengten und verbreiterten Tales liegt ein Heiderücken, der schon seit langer Zeit auf seiner einsamen Höhe ein Hochmoor trägt; das schmückt [55] seinen Rand mit würzigen Gagelsträuchern und Sumpfporsten und dem gelben Beinheil, mit schwarzen Moorkiefern und kümmerlichen Zwergbirken, über seiner Mitte aber wölbt sich ein gewaltiges Sphagnumlager – und unter dem, hier in dem übermoosten See, haben die beiden südwärts fließenden Bäche und ein dritter nach Norden abströmender ihren Ursprung.

Dieses ganze, versumpfte, vermoorte und vertorfte Gebiet nennen die Leute das Bruch und denken dabei an saure Wiesen, oftmalige Überschwemmungen, die ihnen das karge saftlose Heu wie Schiffe und Flöße davontragen, und an Maifröste, die in den wenigen anliegenden Gärten die Obstblüte und die jungen Gemüse regelmäßig zerstören.

Aber auf den torfigen Wiesen, den sandigen Aufschüttungen der Bäche und eisenroten Gräben, an den übelriechenden Sumpflöchern, in den zerstreut liegenden Elsen- und weichhaarigen Birkengebüschen, am Rande der Kiefern- und Eichenkolonien geben sich flammende leuchtende Blumen ihr Stelldichein: Da läuten neben den brennenden Weidenröschen die Purpurglocken des Fingerhuts, gesellt sich zu dem weinduftenden Wasserdost der friedlose Goldweiderich[56] und breitet die gewaltige Bärenklau ihre gastlichen Dolden. Hier leuchtet weit über die Wiesen die hohe Grundfeste und unter ihr nickt die Arnika mit ihrem harzduftenden Blütenkopf, während allerorts die bunten Kerzen der Knabenkräuter brennen und die zartgefransten Blütentrauben des Fieberklees; und allerorts schwellen die Sphagnummoose ihre grünen und bläulichen Polster, zarte Moosbeeren und gleißender Sonnentau haben sich auf ihnen angesiedelt und neben ihnen, wo der wilde Schneeball an zierlichen Schirmtrauben seine Früchte hangen läßt, hockt träge und tückisch das Fettkraut und schaukelt seine Veilchenblüten auf schlanken Stengeln. Aber in der Mitte, dort um das schwarze Erlenloch, in dem der sparrige Pferdekümmel sich breit macht, haben gefleckter Schierling und hohe Brustwurz im Verein mit übermannshohen Sumpfdisteln und Nesseln eine Mauer geschlungen, über die nur noch die braunen Rispen des Schilfrohrs ragen; und von Rispe zu Rispe, von Halm zu Halm und Baum zu Baum klettert über Alles und überschüttet Alles die Winde mit ihren weißen Trichterblüten. –

Ringelnattern und Kreuzottern haben hier ihr Reich und ihre Beute an lärmenden Froschheeren [57] und mannigfachen Mäusen; Wasserhühner und Krickenten locken aus dem Röhricht und trippeln des Abends auf den taufeuchten Wiesen; polternden Fluges gehen Rebhühner- und Fasanenketten vor dir hoch; gaukelnde Kiebitze wiegen sich in den Lüften; schreiende Regenpfeifer streichen in Scharen dahin; der schillernde Eisvogel huscht über die Bachläufe – während der Reiher steif wie ein Pfahl am Schilfrand steht.

Aber in den Kölken und Lachen tanzen unzählige seltsame Wesen auf und nieder – ein grotesker ungeheurer Kopf, mit zwei Hörnern versehen, der Körper eingeschlagen und nicht viel größer als dieser, mit breiten Borsten am Schweif – mit einigen zornigen Schlägen ist es unten und steigt jetzt wieder geruhig hoch, stundenlang geht das Spiel, auf und ab –. Doch des Abends schälen sich aus den seltsamen Tauchern Schnaken hoch, diese Lachen und Kolke senden Heere auf Heere aus von sausenden surrenden Mücken, daß das ganze Tal singt und summt und surrt. –

Es ist schön, am glühenden Sommermittag durch dies Alles zu schweifen, sich im Schatten einer Silberweide neben den Bach ins Gras zu werfen, zuzusehen, wie der Grashalm in den kleinen Wellen sich hebt und senkt, wie über [58] ihnen blauschimmernde Gyriniden gleich tanzenden Quecksilberkugeln ihre unermüdlichen Reigen kreisen, wie glänzende Schilfkäfer von Halm zu Halm schwirren, wie dort auf dem trockenen Eichenast ein Sperber aufbäumt, umlärmt von Schwalben und Bachstelzen und anderem scheltenden Volk – um dann seinen Blick an eine einsame Wolke zu hängen und mit ihr durch den blauen Himmel zu segeln, weit fort ins Reich der Träume, der bunten Sommerträume – so weit, daß du plötzlich um dich blickst: was ist das? – wer bin ich? – wo war ich? –

Wie die beiden südlichen Bäche ihr Wasser dem Dorfteich zuführen, so hat auch der dem Nordrande des Hochmoors entspringende seinen Teich zu tränken. Der liegt am nördlichen Ende der großen Senkung. Die Wälder, die in einiger Entfernung das ganze Tal begleitet haben und dann in gewaltiger kompakter Masse sich bis an den Rhein nach Cleve wälzen, senken sich hier von allen Seiten flach und sanft herab und lassen ihre Vorposten, Haseln und Weiden, in den stillen Wassern sich spiegeln. Weiße Seerosen liegen in der Mitte dieser Wasser und träumen in lauen Nächten zum Mond, während an den langgestreckten Ufern der ewig raschelnde und lispelnde Schilfwald [59] schwätzt; bis unter die Buchen und breitkuppligen Kiefern dringt er zuweilen in dem umgebenden Wald vor mit seinen bleichen Schlangenwurzeln. Mehr und mehr sucht er dem Wasser sein klares spiegelndes Reich zu rauben, immer neue spitze Schößlinge läßt er aus dem schlammigen Grund hochschießen, er kann nicht genug sein windiges zerrissenes Gesicht sehen, nicht genug sich rascheln und schwätzen hören. Nach Osten zu hat er schon die beiden Ufer bis fast zur Teichesmitte in seinem festen schwätzenden Besitz, hier und da reicht er sich schon die Hand von Ufer zu Ufer, seine rauschende raschelnde Hand, und die armseligen freien Lachen dazwischen hat er in ein, zwei Jahren zugewürgt, und dann liegt er da, breit und brutal, und neigt schwätzend seine braunen fahrigen Köpfe nach den ewig gleichen Stößen des Westwinds –.

Doch am östlichen Ende dieses raschelnden Waldes liegt wieder ein Teich, blank und rein vom Schilf; Laichkräuter, Froschlöffel und runde Kolonien dunkelgrüner Krebsscheren leben in dem, und purpurne Schwanenblumen und die weißen Blütenwirtel der Pfeilkräuter lächeln von seinen Ufern: und wenn bis hierhin die kleinen Wellen des Baches, die von da oben zwischen den narkotischen [60] Gageln und Porsten heruntersickerten, gekommen sind, dann spielen und glucksen sie an mächtigen Mauern und Pfeilern, ein hoher Turm spiegelt sich in ihnen, dann plätschern und wandern sie rings um eine Wasserburg, das alte Schloß zu Raesfeld – eine Wasserburg, im Tiefland, von breiten Gräben umgeben – wie sie im Norden und Nordwesten Deutschlands träumen und zerfallen.

Nichts weckte in Erich schöner und reiner die schmerzlose Verwunderung über unser hineilendes, verzerrtes, sinnloses und unergründliches Dasein als diese alte, halb zerfallene Burg. Oft wanderte er, vor sich und seinem Überdruß flüchtend, hier hinaus, um auf der flechtenbewachsenen Galerie des Turmes stehend oder in eine der tiefen Fensternischen gelehnt dieses träumerische Bild auf sich wirken zu lassen.

Auf drei Wegen konnte man das Schloß und das nach ihm benannte etwas abseits gelegene Dorf erreichen. Einmal durch das Bruch, an den Bächen entlang, über den Heiderücken mit dem einsamen Moor und den anderen Bach hinab; das war der kürzeste, er lief der Luftlinie gleich und in zwei Stunden war man dort. Sodann im Bogen über die östlichen Höhn, durch Felder [61] und Heideland, über ein Dorf, das berühmt war durch eine uralte Eiche – von dort aus benutzte man den Fahrweg und sah nach einer kleinen Weile die Türme des Schlosses herüber grüßen – drei Stunden ging man hier. Der dritte Weg schlängelte sich westwärts vom Bruch durch den Lichtenhagen und den KöniglichenWald – sandige, nasse und verheidete Waldwege. Es dauerte vier, auch wohl fünf Stunden, bis man mit dem niedersteigenden Wald bei dem Schilfteich anlangte; doch meistens verlief man sich unterwegs und kam nach stundenlangem Umherirren in einer ganz anderen Gegend heraus.

Ein feiner Westwind, der zuweilen an stillen glühenden Sommertagen von den feuchten Wäldern nach der weiten dürren Heide weht, rastet gern auf seiner Fahrt bei dem alten Schloß. – Mit einem leisen Schwung hebt er sich von den Teichen, deren ölig glatte Fläche er nicht zu kräuseln vermocht hat, hoch und streicht, nach vergeblichem Bemühn die steilen Mauern des Schlosses, seine hochgelegenen breiten Fenster und sein flaches Schieferdach zu erklimmen, längs der Wand des auf jenem Flügel senkrecht stehenden Gebäudes hin, hebt sich langsam bis zu dem spitzen Ziegeldach, um sich aber bald [62] in dem mächtigen Efeubewuchs der Mauer zu verfangen und über ihre dunkelgrüne Mauerraute, ihren Rainkohl und Hauslauch niederzugleiten zu den niedrigen Trümmern eines runden Turms; er kühlt und tränkt die Pflanzen, die dort zwischen dem Schloß und dem Wassergraben hausen – den Alant, die Pestwurz und das Bilsenkraut, den alten Spindelbaum, der Jahr aus Jahr ein im Schutz einer hohen Esche in scharlachroten Kapseln seine orangegelben Samen trägt, den schwefelfarbenen Eibisch und die über ihm blühenden weinduftenden Rosen.

Inzwischen hat der Graben, der die ganze weitere Nordseite des Schlosses schützt, schon seit Jahrhunderten hinter dem runden Turm einen Arm nach Süden geschickt – und über den eilt nun der Westwind hinüber, quer über den langgestreckten Hof, um aber gleich an der zusammenhängenden Wand der Wirtschaftsgebäude und ihrem steilen Ziegeldach anzuprallen; die werfen ihn wieder über den Hof zurück, sodaß er denselben Graben über einer breiten Brücke überweht und dann in den eigentlichen Schloßhof fällt.

Auf diesem hochgelegenen Hof, den an seinen [63] beiden Wasserseiten eine niedrige Mauer umfaßt, lagert die Luft heiß und leicht und läßt den Wind, wie er von den kühlen Bogengängen vor den Kelleröffnungen zurückfährt, kreisen und steigen, die enge Treppe, die zu der schmalen Tür des Hauptflügels führt, hinaufgehen, auf der Plattform neben ihr seine Kräfte wieder sammeln, in die breiten, der Morgensonne entgegenlachenden Fenster des einen und die schmalen, Schießscharten ähnlichen des andern Flügels blicken – und dann im Bogen auf den hohen Turm zuwehen, der neben dem Schieferdach in eigentümlich ausgeschweiften Linien sich verjüngt. Vergebens versucht der Flüchtige an solchen Tagen die rostige Windfahne, die da oben von der zwiebelförmigen Kuppe ins Land schaut, zu drehen und setzt mit einem eleganten Sprung über die beiden Höfe und den Graben zu dem anderen Turm hinüber, der massiger und weniger hoch als der des Wohngebäudes das Südende der langgestreckten Wirtschaftsgebäude abschließt.

Hier oben auf der steinernen Galerie, über der sich eine schieferbedeckte Kuppel mit kleinem Glockenaufsatz erhebt, umläuft der Wind dann wohl den Turm und blickt ins Land: unten schläft [64] der Burggraben mit seinen Nymphäenblättern und Laichkräutern, schlafen still die roten spitzen Dächer der Tagelöhnerhäuser, ruht die zweitürmige Kapelle und schlummern die holprigen spitzsteinigen Gassen mit ihren windschiefen blaugekalkten Häusern – sie scheiden das Dorf da hinten mit seinen Wirtshausschildern und elektrischen Lichtern, die neue hastende Zeit gegen die Vergangenheit, die hier schläft und träumt – blickt in den Schloßhof, wo zwei Geistliche auf und nieder wandeln, sich auf die Hofmauer setzen, plaudern und den Hahn fortscheuchen, der sich vor ihren Augen den Minnesold holen will – da hängt der Efeu so matt und sonnenmüde über dem breiten Fenster, das auf die Turmreste blickt – da ragt der Turm so einsam in die Luft, und neben ihm hin und über das gleißende Schieferdach fort schweift der Blick fern auf den sonnenbeschienenen Teich, das sich beugende neigende Schilf und die ruhenden Wälder – blickt über die Anger und Felder weit in die Heiden, wie sie mit dunklem Kieferngebüsch gesprenkelt sich unabsehbar in den blaugelben Sonnenglast verlieren, in dem die Kirchtürme ferner Dörfer auftauchen, zittern und verschwinden –, aber dort über dem Heidesattel [65] lagert grauer schwerer Dunst; da schickt der Industriebezirk seinen Kohlenrauch ins Land und hängen schwarze Punkte in der Luft: die Fördertürme der Zechen, wo das gewaltige Rad die schwarzen Gestalten wieder ans Licht trägt!

Wie lange wird's dauern, daß das Dröhnen und donnernde Hasten von da unten auch hier die Ruhe und den Traum verscheucht, auch hierhin seine tobende, dampfende und rasselnde Zeit trägt? Und wenn die alt geworden und zerfällt, so hängt wieder eine andere dort am Horizont und droht mit ihrer Gegenwart, und wieder – was ist Menschenleben, was ist Menschenlos! Wie eine Stunde fließt es und träumt es dahin, und ihre Werke vereinsamen und zerfallen zu Staub –. Aber sind sie denn anders als ich? Ich komme und vergehe, Stunde für Stunde, bin zeitlos und bin doch immer da. –

Als so der Wind gesprochen, erhob er sich und wehte fort über Dorf und Feld in die glühende Heide, um nach kurzem Schlaf in den Bärlapprasen und Farndickichten zur Nacht wieder zurückzukehren zu den westlichen feuchten und warmen Wäldern.

[66] Am Bruchbach

In jener Gewitternacht war Erich ein Verlangen gekommen, das Schloß wieder zu sehen; er war seit dem Herbst des vergangenen Jahres nicht mehr dort gewesen, da er gehört hatte, es werde wieder bewohnt, – aber heute an einem heißen Junitage war er hinausgewandert, sei es auch nur, um sich an der Geschmacklosigkeit, verfallene Gebäude wieder wohnlich zu machen, zu weiden. Er war den Weg über die östlichen Höhen und das Dorf gegangen und wollte sich auf dem Heimweg durch das abendliche Bruch für den ausgestandenen Ärger entschädigen.

Aber als er schon von der Heide aus eine Fahne auf dem Turm flattern, und als er näher kam, das Geländer der Brücke angestrichen und mit Maien bekränzt und den Torbogen mit Fichtenkränzen und Papierblumen umwunden sah, machte er grimmig kehrt, ging in eine Wirtschaft und freute sich an seinen Verwünschungen, [67] diesen Überrest aus kraftvollen Tagen in einem Narrenkleid wieder sehen zu müssen.

Dann werden sie dir auch deinen Efeu abreißen, der dich bisher geschützt, und deine entblößten Mauern werden sie mit Cement beklecksen, deinen Alant und Eibisch werden sie dir geraubt, deine Weinrose ausgerodet und dafür Teppichbeete gezirkelt haben, deine hallenden Zimmer haben sie renoviert, deine rauchgeschwärzten Kamine vermauert, deinen Rasen mit unfruchtbarem Kies bestreut – haben dich verhunzt, das Narrenvolk! Zum Brandstifter möchte ich werden: lieber Schutt und Asche, den Pflug darüber und die allmählich verklingende Erinnerung an ein Schloß mit hohen Türmen, das hier einst gestanden, als ein cementbeworfener renovierter Zwitter!

Wie ein Kneifer auf dem Visier einer Ritterrüstung mutet mich dieser Cementbestrich auf den rohen Sandsteinblöcken an – versucht doch nicht zu mischen, was nicht zu mischen ist! Die Zeit ist kein Zusammenhängendes, kein absolut Gegebenes; die da haben in ihren harten Köpfen die ihre geschaffen, ihr schafft euch die eure: wie könnt ihr die Produkte mischen, da eure Köpfe verschieden sind? –

[68] Auf seine Frage erzählte ihm die Wirtin, das Schloß sei zu Ehren der Grafentochter geschmückt worden, die vor acht Tagen – wissen Sie, bei dem großen Gewitter – angekommen.

Weswegen ist denn noch die Fahne auf dem Turm? –

Ja, in der ersten Begeisterung sind die Leute von außen auf den Turm gestiegen und haben sie da aufgesteckt, und jetzt wagt sich keiner mehr hinauf. –

In der ersten Begeisterung? –

Nun ja, sie freuten sich doch. Sie sind ja auch für heute Abend zu einem Fäßchen Bier geladen. –

Freuten und begeisterten sich für eine Puppe, für einen Zieraffen, der von ihrer Hände Arbeit schmarotzt. – Ist denn schon vorher oder erst des gnädigen Fräuleins wegen der Efeu abgerissen und das Schloß mit Cement beworfen worden? –

Das Schloß mit Cement beworfen? Wie kommt Ihr darauf? –

Da zog er die Stirn in Falten, zahlte seine Zeche, grüßte und ging. –

Die wird mich für einen verfluchten Sozialdemokraten halten, – dachte Erich, als er außerhalb [69] des Schloßbezirkes den Bach entlang stapfte – und doch ist mir nichts widerlicher als dies gröhlende Gezänke um Lohn und Brot. Aber ebenso wenig kann ich für den irgend ein Gefühl der Hochachtung oder gar Begeisterung hegen, der durch seine Geburt und nicht durch eigene Kraft die Früchte fremder Arbeit an sich reißt und vergeudet. Nun – das mag mich wenig kümmern – ich muß erst mit mir klar sein, ehe ich mir über das Wohl und Wehe meiner erbärmlichen Landsleute Gedanken mache.

Und wann wird das werden? Kann das werden? – Aber soll sich Natur nicht doch einmal selbst ergründen? – Vielleicht in einer anderen ihrer Erscheinungen und eben nicht in mir – wozu aber bin ich denn da? –

Er blieb stehen und bohrte verbissenen Blicks den Stock in den torfigen Grund –

Ein spöttisches Lachen riß ihn hoch: Es wird Sonnentau sein, Herr Botanikus! –

Es ist böser grundloser Sumpf – was suchen Sie hier? – rief er sich aufrichtend und den Stock, der tief in den schwarzen Moder eingesunken, herausziehend dem noch immer spöttisch ihn anlachenden Mädchen zu, das schlank und schön zwischen den Erlen am anderen Ufer stand.

[70] Einen Weg über den Bach. –

Wohin? –

Zum Schloß – zu Ihnen, wenn Sie wollen.–

Hier ist der Bach breit und seicht – waten Sie doch durch. –

Ich muß zum Tanz! –

Haha! sind Sie das famose Fräulein, das mit Böllerschüssen, Täteretä und wehenden Fahnen kam? –

Dann watete er aber trotzdem hinüber, nahm sie wortlos auf seine Arme und schickte sich an, sie hinüber zu tragen. In der Mitte des Baches blieb er mit seiner Bürde stehen und fragte, ihr nahe in die Augen blickend:

Also Ihretwegen hat man mir das Schloß verhunzt? –

Schätzen Sie mich niedriger als das Schloß? – Tragen Sie mich hinüber, – ich schenke Ihnen morgen eine Rose. –

Ah, so herum willst du –? –

Warum nicht? Ich schenke dir eine Rose! –

Und wenn ich sie nicht mag? –

Ha! ich heiße Loo – und nun Gute Nacht, mein hübscher Herr. –

Als Erich über die Höhe ging und im Mondschein die fernen Türme und die schlaff herabhängende[71] Fahne sah, duftete der Porst so narkotisch und jauchzte und klagte eine Nachtigall so feurig und traurig, daß er den Kopf schütteln und sich zusammenreißen mußte: Ich will es nicht! ich will meine Sehnsucht – hoho! meine Sehnsucht! aber ich will sie nicht verheddern mit der Brunst! –

Aber das Lied, das dort oben in der Nacht schwamm, klebte an ihm und folgte ihm tückisch in Schlaf und Traum; es half ihm nichts: die Welt war eine schluchzende unaussprechliche Melodie, und ihre sich jagenden Erscheinungen ihr immer gleicher immer wechselnder Text.


Mit einem leichten Blut, aber einem Verstand, der in den Stunden, in denen er dieses nicht zu zähmen hatte, nicht von Langerweile geplagt war, sondern vorsichtig und neugierig in die Welt lugte und sich auf seine Weise bestrebte, in der Bilder Flucht das Beharrende zu finden, und deswegen mit ein wenig Melancholie und guten blauen Augen: so war ihr Vater auf dieser Welt angetreten. Zu einem Gelehrten zu ungeduldig, zu einem Landedelmann zu regsam und zu einem Beamten mit zu guten blauen Augen beschenkt, war er Soldat geworden und [72] hatte in den drei Kriegen mitgekämpft. Und nun, zu Geduld und Gelassenheit gealtert, hatte er den Rest seines Lebens seinem still neugierigen Verstand zur Verfügung gestellt. Und da er eben geartet war, in den Dingen nur nach einem Dauernden zu suchen und nicht zu fragen nach ihrem wie? und woher? und weshalb so?, ging er gemächlich und mit fröhlicher Traurigkeit an der großen Grenze entlang, und der einzige Blick, den er hinüber tat, war die Ahnung und die zögernde Bewunderung eines Unerklärlichen.

Und hatte ihm bisher das Schloß mit seinen reichen Erträgen aus ausgedehnten Ländereien und Waldungen ein sorgenfreies Leben gewährt, so sollte es ihm jetzt in seiner Stille und Abgeschiedenheit erst das rechte geben. So lebte er seit einiger Zeit zwischen seinen Volieren und Aquarien, seinen kleinen Gewächshäusern und Algen- und Pilzkulturen und war nebenbei bedacht, seine reichen Sammlungen zu vertiefen und zu erweitern. Manchen klugen Blick tat er so in das Leben, seine weitverzweigten Beziehungen, seine Wiederkehr und ewige Änderung – Einblicke und sich klärende Gedanken, die ihm bei einem eigentlichen und polemisierenden oder [73] gar lehrenden fachwissenschaftlichen Studium ewig fern geblieben wären.

Er hatte zwei Söhne und eine Tochter erzogen, so gut wie er wußte, und die waren ihm verdorben: so mochte sein jüngstes Kind seine eigenen Wege gehen; es geht ja doch alles auf das hinaus, wo es hinausgehen muß. – Nun war sie auf ihren eigenen Wunsch hierher gekommen und durfte teilnehmen an seinen kleinen Forschungsreisen und geduldigem Ausharren über Drahtglocke und Mikroskop. Und sollte sie wieder hinaus wollen in die Puppenwelt, so mochte sie es tun; vielleicht würde sie eine kleine Sehnsucht mitnehmen nach dem ruhigen Land, in das er sie einen Blick hatte tun lassen.

Als Sechzehnjährige, blauäugig, schön und unbändig lüstern, bei der ersten Gelegenheit das Leben, wie sie es auffaßte, an sich zu reißen, fing sie ihr Leben an. Aber da ihre Ritter dumm oder roh waren, blieb es bei einem unruhvollen, naschenden, stets um das Ende bangenden Genießen. Und je älter sie wurde, desto weniger war sie befriedigt, desto heftiger, seltsamer und tiefer schien ihre Glut – desto näher rückte der Überdruß, desto greifbarer, drohender stieg in der Ferne magenfarben der Ekel hoch.

[74] Da war sie zu ihrem Vater geflüchtet, um mit Absicht sich in seine stille Beschaulichkeit hineinzuleben, das mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Gedanken wieder zu denken, was sie wahllos über die Natur und ihre bizarren Erscheinungen zusammengelesen hatte. –

Sie stand am Fenster und blickte in die Nacht hinaus. In dem Efeu zirpten die Sperlinge im Traum, ein Igel schmatzte und prustete unten an den alten Turmmauern, die Wasserhühner im Schilf lockten und riefen sich, drüben zwischen den Weiden quäkte eine Gesellschaft Frösche ihren Hochzeitsgesang ruhelos, eintönig wie eine tollgewordene ins Wasser gefallene Spieluhr – und tief und schauerlich dumpf rülpste von den Teichufern her eine Rohrdommel ihr Ü rump – ü plump pump in die Nacht –; Stimmen gröhlten im Dorf, von dem Bier und Tanz waren die Burschen fortgegangen und machten nun ihren Wünschen Luft in derben Liebesliedern – einige Hunde bellten heulend und klagend zum steigenden Mond – der Nachtwächter ging mit seiner Flöte umher und blies die Stunden ab – ein – zwei – dreimal: Mitternacht.

[75] Der Sommerabend

Als Erich am nächsten Nachmittag wieder hinauswanderte, den Bach hinauf, über das Hochmoor hin und wieder den Bach hinunter und hinkam, wo der Sumpf auf beiden Ufern brütet und in sich den Rasenplatz und den Bach einschließt, umgrenzt von Erlen und Disteln, lag Loo schon im Grase, unter einem Sonnenschirm und die Arme unter dem Kopf verschränkt. –

Lege dich zu mir ins Gras. – Erich heißt du? Ich will dich Heinz nennen. Küsse mich, Heinz! –

Und da sie sich ihm in die Arme gab, berührte er mit seinem Mund den weißen Ausschnitt an ihrer Brust.

Du trägst den Sonnentau? Wo ist die Rose, Loo? –

Laß die Rose. Aber sag mir, woran dachtest du, als du gestern so dumm-tiefsinnig über deinen Stock dich beugtest? –

[76] Ich dachte darüber nach, wozu ich auf der Welt bin. –

Wozu? Sieh die Schmetterlinge! Zwei zusammen! Sieh, sie fliegen dabei! Durch die Blumen geht es hin, über die Gräser, oben, unten – über den Bach, über die Bäume, hoch in den blauen Himmel hinein! – Wozu du auf der Welt bist? Ach du Dummster! Des wegen! Deswegen! Sieh her, du Dummster! –

Und sie öffnete mit einem Ruck ihr Kleid und schälte ihre weiße Brust hervor. Da hob er sie hoch und trug sie, die Lippen auf ihre kleinen Brüste gepreßt, zum Bach, während sie ihre Zähne in seine Wange schlug, daß ihr das Blut in zwei kleinen Tropfen von den Lippen floß.

Dann ließen sie die Sonne auf ihren nackten glänzenden Leibern spielen und sahen zu, wie ihr Licht auf den Wellen glänzte, die sich im Schilf verloren, schmal, gleißend wie ein Schwert. Und als sie die Wipfel der Erlen berührte, kleideten sie sich an und verabredeten die Stunde für den nächsten Tag.


Erich erschienen die Traumbilder zuweilen in der Hülle von Rhythmus und Reim. In Metren und klingenden Endreimen sprachen und [77] sangen die handelnden Figuren, und ihres Äußeren und zumal der Landschaft, in der sie sich bewegten, ward er sich bewußt, als wenn ein Anderer oder sie selbst ihre Reize in einem Gedicht vortrügen; seine Phantasie zeigte sie ihm nicht, wie sie ihm am hellen Tage entgegen getreten wären, sondern in der abziehenden und verallgemeinernden Form der gebundenen Rede. Irgend ein klingender Vers zauberte ihm ein wogenschlagendes Meer, einen mondbeschienenen Schneeberg vor, blieb aber zugleich mit dem vorgestellten Bild im Bewußt sein. Am Morgen war dann nur noch eine wohltuende Erinnerung an tönende Verse und ein verblassendes Bild, aber vergeblich bemühte er sich, der Pracht und Gewalt dieser nächtlichen Verse wieder habhaft zu werden.

Traum, gib mir Rhythmen und tönende Reime, auf daß noch einmal ihre Nacktheit vor mir tanzt! –

Aber weder Schlaf noch Traum wollte ihm nahen. Da streckte er sich behaglich aus und blickte von seinem Bett aus in den schwindenden Sommerabend. Mit der sinkenden Sonne war er heimgekehrt, und jetzt lag er da, faul und liebesmüde. Er sah den Himmel in grünlichen Farben [78] leuchten, eine Schar purpurroter Schäfchenwolken dahin schwimmen, hörte die Leute auf den Straßen plaudern und lachen – ein Wagen fuhr ab und zu, Turmschwalben kreisten schreiend über den Dächern, und ein Windhauch trug Lindendüfte ins Zimmer.

Wie schwer es hält, mich gegen dieses Alles, das mich so träumerisch süß in sich bettet, abzuschließen und es sachlich zu betrachten. Es durchdringt mich, ich nehme es in mich auf und bin selbst der grüne Himmel, in dem wie sonnenbeschienene Porphyrinseln die Abendwolken schwimmen, das friedliche Plaudern, das da um die Leute schwebt, und ruhevoller Sommerabend.

Diese ruhevolle und, wenn ich sie lange anschaue, herzbeklemmende Schönheit und Harmonie, sind es Begriffe, die wir aus unserem Geist in den Himmel da draußen verpflanzt haben, oder haben wir nicht vielmehr die Dinge da in Jahrtausenden auf uns wirken lassen, haben sie nicht so die Begriffe Schönheit und Harmonie in uns und mit uns gebildet?

Was bewundern wir nun? Bewundern wir nicht die unbeschreibliche Empfänglichkeit und Kraft unseres Geistes, der aus dem, an sich ihm [79] gleichgültigen, Material, das ihm die Sinne gegeben, den Begriff der Form gebildet, und das tätige schaffende Gefühl, das wir beim Anschauen dieser erschaffenen Form in uns warm und tröstend leben fühlen? Wirkt also deswegen der Sonnenuntergang auf die Menschen verschieden, weil die einen in sich etwas Formendes und Empfindendes haben und die andern nicht?

Und was tut der exakte Naturwissenschaftler? Er erklärt: er zerlegt den »Abendhimmel« in Strahlengattungen, Brechungen, Absorptionen und physiologische Farben – und die führt er zurück auf die Empfindlichkeit der durch die roten Strahlen abgestumpften Netzhaut gegen deren komplementäre: mit Worten, Zahlen, Zeit und Raum und Ursächlichkeit erklärt er alles und führt alles bis auf sie zurück – beschreibt, so gut er kann, das Bild, das er sich von den Dingen macht, machen muß, nennt's erklären und legt sich schlafen.

So hat er ja immer sein Genügen, alles absolut so sein und sich abspielen zu lassen, wie es der homo sapiens verstehen kann, alles auf ihn zurückzuführen, durch ihn zu erklären; er strebt darnach, in allem die Ordnung nach Raum und Zeit und Kausalität, in allem die Daseinsweisen [80] und Anschauungsformen des Menschengeistes wiederzufinden, sodaß als letzte abschließende Frage die nach der Beschaffenheit dieses Geistes bleibt – und die löst er dann im kecken Zirkelschluß durch die schon nach dessen Denkgesetzen erklärten Außendinge. Eine schöne Wissenschaft, die mit dem Zirkelsymbol! Eure ganze Wissenschaft, mit der ihr alles erklärt, erklärt nur euch selbst, und ist durch das Ergetzen, das dieses Euch-überall-Wiederfinden und Euch-Beschreiben erregt, nur ein verfeinertes und zugleich umfassenderes gewaltiges Gefühl!

Und was sagt der Philosoph, wenn ich die Abendröte meine Schöpfung und mein Eigentum nenne und zusehe, wie andere sich unsägliche Mühe geben, sich durch sich zu erklären? Er nickt mir zu, mit einem melancholischen Lächeln, weist aber schnell mit hochgezogenen Augenbrauen auf ein Unerklärbares hin, das allem Anschein nach, schon weil diese Schöpfung zustande kam, dahinter steckt. Er nennt es das Ding an sich, ich glaub's, gewiß – aber was soll das Großes sein? Es ist Loo und ihr wilder Mund!

Inzwischen war es dunkel geworden; da kleidete er sich wieder an und vergrub sich in [81] mathematische Formeln, auf daß sie ihm Schlaf brächten. Und sie taten es; fragten aber wenig nach seiner Hoffnung auf Rhythmus und Reim – sondern rächten sich, indem sie ihm die Welt in nichts denn schwingende Atome zerlegten und ihn durch die Ausrechnung ihrer verschiedenen Schwingungselastizität zur Verzweiflung brachten.


Den gleichen Abend saß Loo im Turmzimmer ihres Vaters mit der Bestimmung von Laubmoosen beschäftigt; sie betrachtete und zählte unter einem Präparationsmikroskop die zierlichen Zähne, die das Peristom der Sporenkapsel bilden, und bestimmte hiernach und nach der Gestalt des Deckels und der Haube die einzelnen Pflanzen. Ihr behagte wenig diese peinliche Arbeit, aber gleich nach ihrer Heimkehr war sie in das Zimmer ihres Vaters getreten und hatte zu seiner Freude ihm ihre kleine Hilfe angeboten. Der saß vor seinem Tisch und ließ seine Augen auf einem Enzian ruhen, den er sich aus dem Walde mitgebracht hatte –:

Wo kommst du so früh her? Der Herbst, August und September ist deine Zeit. – Du blaue Blume! Wie oft hat man dich im Walde [82] läuten gehört, aber folgte man deinem Klange, so warst du wieder unendlich fern; und die Sehnsucht suchte dich in Minne und Kampf, in Klostermauern und Einsiedelwald, in Treue und aller Tugend, in ruhelosem Streifen von Burg zu Burg, von Wald zu Wald.

Schön blühst du im Kampf! Im Rossewiehern und Todesdonnern – das Leben ein Rausch und im Rausch es geendet!

Aber heute bist du verwelkt, dein Läuten ist im Winde verklungen und verloren – die große Sehnsucht ist tot. Da reden sie wohl noch von ihrer Sehnsucht, nach einer großen Persönlichkeit, oder gar nach einem großen, deutschen Reich, ergehn sich in gefühlsseligem Gottsuchen oder in brünstiger Erotik – aber es sind Worte, Worte. Wenn die Alltagsarbeit ruht und die Langeweile drohend hinter dem Berge steht, dann reden sie sich wohl ein, sie hörten dein Läuten – andere gar lügen es anderen vor und machen ihre Lüge zu Geld – aber trau ihnen allen nicht, es sind nur Worte, glaube mir, nur Feiertags- und Lügenworte.

Und die, die sich auf alten Schlössern vergraben und sinnend in das drängende Wachsen und Hasten und Blühen da draußen schauen, [83] zuweilen ist ihnen wohl, als klänge von ferne, von ganz ferne ein leises, blaues Läuten zu ihnen, aber so dünn und bang – – ach! ein Mensch, in dem sie noch voll und tönend läutet, nicht in Feiertagsstunden – Tag aus Tag ein ein großes Sehnen, Locken und Läuten!

Liebe Loo, was denkst du dir von meiner Beschäftigung? –

Vielleicht will mein Vater auf diesem Wege finden, weswegen er eigentlich auf der Welt ist? –

Wie kommst du darauf? –

Ich meine eben, eine Antwort hierauf müßte man zu allererst zu finden suchen, wenn man einmal auf der Welt ist. –

Ja Kind, das ist so eine Frage, die man gerne stellt, die aber zu garnichts führt. – Man kann sie wohl nur, da es mit unserem Intellekt nicht weit her ist, aus der Moral beantworten – vorausgesetzt, daß es eine unbedingte Moral gibt. – Die meiner kleinen Käfer und Algen glaube ich zu kennen, die Käfermoral: friß und wachs, auf daß du nicht gefressen und überwachsen wirst. Da liegt eine Antwort drin – aber für uns? Nicht wahr, hier wird man gerne verlegen.

[84] Ein Anderer würde wohl eine Antwort wissen: zur Entwicklung unserer Persönlichkeit – würde er sagen – oder zur Erkenntnis – wieder einer: um mitzuarbeiten an einer Art geistiger Entropie der Welt, sind wir da – und was sie sonst zu schwätzen wissen.

Wir sind eben einmal da, und das Einzige, was wir können, ist, diese Frage tun, und da keine Antwort folgt, weggehn. Doch da das schon von selber kommt, warum sollen wir nicht auch einmal leben – – . –

Sie hat die große Sehnsucht nicht – sprach er vor sich hin, als Loo mit einem Gutenachtgruß das Zimmer verlassen hatte.

Ach, das mag nicht leben und nicht sterben. –


Sie streifte die Kleider ab und lehnte sich in die Nacht.

Warum kommst du nicht? Der Efeu ist stark und fest, und Alles schläft. –

Sie warf sich auf ihr Lager, aber auch ihr kam weder Schlaf noch Traum. – Da rudert unter dem Ufergebüsch ein Nachen heran und leise raschelt das Schilf – nun legt er an, unten am Turm – da schwingt er sich hoch –! ah! da sollte er mir König sein, zu dessen Füßen [85] ich säße, Märchen spinnend bis zum frühen Morgen, und wieder die Nächte durch, tausend Nächte durch wie Königin Schehersad ihrem König Scheherban erzählte –.

[86] Die Mücken

Reißend und sonnenfroh flog der neue Tag herauf, doch wie braune Schnecken langsam krochen Erich die Stunden daher – aber die Stunde Wegs den Bach hinauf, den Flügelschlag einer Stunde den Bach hinab –! Das Gras lag noch zertreten und zerdrückt – Tandaradei! – er wühlte sich hinein, kreuzte die Arme hinter dem Kopf und blinzelte wartend ins Licht.

Aber er wartete und wartete, eine halbe, eine geschlagene Stunde ging hin. Da sprang er hoch und blickte umher – nichts, nur der brennende zitternde Mittag. Und wieder verrann eine Stunde und glühte senkrecht die Sonne herab; Wolken blutgieriger Bremsen und pfeifender Mücken umschwärmten ihn, summend, singend, stechend und quälend – er schlug um sich, tauchte abgerissene Weidenzweige ins Wasser und schlug damit um sich, [87] flüchtete in die Schatten der Erlen – aber ganze Schwärme stiegen aus dem kochenden Sumpf. Da warf er die Kleider ab und suchte Schutz in dem Bach, streckte sich über den Sand und ließ die perlenden Wasser über sich rinnen. Nun hatte er Ruhe vor den Stechborsten und haarfeinen Stiletts seiner schwirrenden Feinde; sie stoben fort und suchten sich ein anderes Wild.

Aber jetzt kam ihm der Durst, trocken, zungenklebend. Der trieb ihn hoch, daß er sich ankleidete und ingrimmig scheltend nach dem nahen Eichendorf lief, – eine stöbernde Mückenwolke sang hinter ihm her.

Und dort, in der Wirtschaft Zur alten Eiche, trank er, aß und trank und trank –

Allerhand Volk kam herein, Pfahlbürger und Fuhrknechte, ein Trupp Viehjuden schlurfte herein, schmutzig und kotstinkend, und fuhr in seinem Schacher fort.

Haben sie dem das Gesicht verhauen! –

Hat sich gefecht, hat sich mit's Rasiermesser von die Doktors gefecht. –

Ein Unfug, der sich immer breiter macht, – rief ein junger, schwarzröckiger Volksschullehrer – eine Sünde, sich derart den Körper zu verstümmeln! Eine Unmoralität, der verfluchten Eitelkeit [88] wegen mit seinem und seiner Mitmenschen Leben zu spielen! –

Was! einen Unfug, Eitelkeit, eine Sünde – Unmoral! – rief Erich aufspringend und in den Kreis tretend – und Sie schwarzröckiges Pfaffengeknete wagen das mir zu sagen?

Wie? Wenn ich handele, wie mir behagt, nennt ihr das Unmoral? Ja, ihr nennt's so. Ihr duckt euch, ohnmächtig, hassend, vergeltungwartend, und nennt meine rücksichtslose Kraft unmoralisch, böse, weil ihr sie nicht habt, weil sie euch schadet – was sie mir ist, darnach fragt ihr nicht. Ach, was wißt ihr Gesindel von mir! – –

O, ihr kennt wohl die süße Trunkenheit der Rache, die mir die Klinge in die Hand drückt – aber ihr seid schwach, ihr wagt und könnt euch nicht rächen, sagt uns aber, ihr wolltet es nicht und vergebt. Aber spart ihr nicht ihre Süße dem Siege der Gerechtigkeit auf, auf dann, wann ihr in eurer erbettelten – pfui Teufel! – Ewigkeit und Seligkeit lacht und jubelt und jauchzend und lobsingend euch freut an dem Duft unserer höllegebratenen, schwefelgeschmorten Ruchlosigkeit, Ungerechtigkeit, unserer – Stärke?

[89] Nicht wahr, ihr nennt mich gut, wenn ich euch nicht schade und alles das, was ich mir errauben und in mich zwingen könnte, euch überlasse – nein, mit euch teile – sonst wäre ich ein verdächtiger Verächter. – Und böse, wenn ich lebe, wie ich will, nach meinem Gesetz und meiner Moral, wenn ich sorge, daß mein Handeln meine Eigenart und mein Gewissen nicht beschmutzt, mich mir nicht verekelt, wenn ich meine Lebenskraft nach außen werfe, dem Gegner ins Gesicht, auf daß ich nicht über mich selber herfalle und mich zerschlage, mich zu meiner eigenen Hölle machen muß?

Eure Güte ist Ohnmacht, eure Geduld Warten-Müssen, eure Verzeihung Schwäche, eure Seligkeit Zinsen für erhaltene Prügel; euer Gut das euch Pöbel Nützliche – mein Gut das mir – mir allein Nützliche und Genehme.

Ihr lügt eure Schwächen um in Verdienste, in entsagende hoffende langweilige Tugenden: verlangt aber nicht von mir, daß ich tue und denke wie ihr: ihr habt eure Welt, ich die meine, ihr habt keine Ahnung von der meinen, sie ist euch ewig fremd, sie und ihre »Moral«: so schmuggelt nicht eure Welt in die meine, betrügt, [90] belügt und bezaubert und knechtet nicht meine Moral mit der euren!

Moral? Moral? Gut? Bös? Ihr moralisiert mich gut, wenn ihr mich nicht fürchtet, böse, wenn ihr meinen Schlägen entgegen bangt. Meinthalb. Wähnt aber nicht, daß ich deshalb diese Faust, die euch peitschen könnte, böse nenne, unmoralisch nenne – sie ist mir gut, gut und höchst moralisch, weil sie tut, was ich will. Maßt euch nicht an, daß ich euch, die ihr mich aus bangen, müden, dummen Augen anstarrt, gut heiße – ihr seid mir schwach, feig, schlecht und schlecht! Was ich kann, will und tu, ist gut – das ist meine Moral, ist die Moral, ich bin das Maß der Moral – und ihr seid feige Hunde! – –

Wollt ihr nicht? – – Oder wollt ihr lieber eine Runde Bier? –

Sie knurrten und schielten ihn an – die Runde kam, da tranken sie mit – weswegen sollten sie auch nicht mittrinken?

Dann ging er nach draußen und setzte sich mit einem neuen Glas unter den Kastanienbaum.

Er hat Nietzsche gelesen, meine Herrn, und ist dazu betrunken. Gehen wir beiseite. Er wird schon daran zu Grunde gehn. –

[91] Dann sprachen sie noch eine Weile durcheinander, tranken und gingen nach Haus.

Als die Sonne schon schräg über den Dächern stand, trank Erich das letzte Glas und ging. Er ging, den Hut in der Hand und den Rock am Stock über der Schulter getragen, und der kühle Lufthauch, der über den schattigen, hochgelegenen Fahrweg strich, trug ihn in einer leichten wiegenden Stimmung weiter. Von rechts her blinkten die Türme des Schlosses herüber.

Glänzt nur und blinkt! Ich kenne eine weiße Haut in euren Mauern, die tausendmal schöner glänzt und blinkt, – und die gehört mir, mit Leib und Seele mir. Haha! mit Leib und Seele mir! –

Ein Hügelrücken, der aus einem duftigen Birkental aufstieg, lockte ihn mit einem Ausblick über den langgestreckten Bruchgraben, die Wälder und den farbenfrohen Westen.

Sieh, wie ein flacher grüngoldner Weinbecher ist der Himmel über die Erde gestülpt. Dort, wo die sinkende Sonne hinter dem Himmelsglase leuchtet, hängen purpurgoldne Schaumtropfen an der Weinschale, und drüben im Osten, wo der Mond rot und gespenstisch groß durch [92] sie hindurch blinkt, liegt blauschwarz die kalte Nacht hinter ihr und reißt blutrote Risse in sie. – Nun werden die Rotweintropfen im Westen aussehen wie brennender Purpur, die ganze Schale leuchtet und flammt – hörst du nicht, wie sie klingt? Ein klingender, mächtiger Ton, süß und lang, als wollte er nicht enden – laß mich aufgehen, großer Gott, in deinem Farbenklang, selbst du werden und rosenrote klingende Welt! – –

Mit meinen Denkformen arbeite ich meine Sinneseindrücke um zur Welt. Und nehme ich einen Teil dieser Welt heraus, so kann ich von ihm meine menschlichen Zutaten nicht mehr abstreifen, um ihn als ein Ding für sich hinzustellen. Versuche ich, ihn zu erklären, so beschreibe ich meine Zutaten, also mich – durch wen? durch mich – empfinde ich seine Schönheit, so empfinde ich mich, den Schöpfer des Schönen; und bewerte ich ihn nach Gut oder Böse, so bewerte ich mich, mich den Schöpfer moralischer Werte.

So habe ich eine Ichwelt und daneben, dahinter eine andere Welt, ein Chaos für mich, ohne Ordnung, Zahl und Zeit, Raum und Ursächlichkeit, Gut und Böse, Schön und Häßlich, Sein [93] und Nichtsein, das ich aber in mich umschöpfe, das ich umschaffe zur bunten Wirklichkeit – ich, das kleine Tier das große wilde Chaos – dieses Himmelsweinglas, das da über mir hängt voll von Wein und Trunkenheit, und das ich an die Lippen setze, durstig, durstig – O Welt! O Gott! O Ich! –

Er stand auf, blickte mit trunkenen Augen in seine Welt und machte sich auf den Weg.

Aber als er die ersten Häuser im Dorf erreicht hatte, leuchtete ihm ein Wirtshausschild entgegen. Leute saßen am Fenster und er meinte, sie nickten ihm freundlicher zu als sonst. So trat er ein, trank und war guter Dinge. Und die Nacht endete damit, daß er mit früheren Trinkkameraden zusammengeriet und – am nächsten Morgen sich nackt vor dem Klavier liegen fand, an dessen Kerzenständern er seine Kleider aufgehängt hatte.

[94] Der dunkelblaue Enzian zum ersten Mal

Am nächsten Tage erhielt Erich einen Brief von Loo, aus dem ihm neben einer gleichgültigen Entschuldigung ein Efeublatt entgegenfiel.

Nun werde ich in der Nacht hinauswandern, denn die Lage des efeuumrankten Fensters ist mir wohl bekannt. Bald Gott und Weltenschöpfer, bald Trunkenbold und Fenstersteiger! – Aber meinen Enzian habe ich gefunden, unter der Jägereiche; träumerisch und dunkelblau, die Glocke schlank und halb geschlossen, wie jedes Jahr. Früh ist er gekommen; es ist in diesem Jahr alles so früh, die Sonnenuntergänge leuchten wie im Herbst, und wir schreiben den 20. Junius. – Ich habe mich neben ihn ins Gras gesetzt und ihn lange angeschaut: wer bist du? was willst du, was bedeutest du mir? Ich habe dir einen Namen gegeben und dich dadurch geschaffen und für mein Eigentum erklärt:[95] was siehst du mich so fremd und seltsam an? Bewegst dich und mich und schwankst hin und her und läutest in mir?

– Weißt du noch, wie du tastetest von Buch zu Buch, wie du schwanktest von Meinung zu Meinung, weißt du noch, eitler Junge, wie du deinen Intellekt trenntest vom Willen, wie du mißmutig warst, gedrückt und gequält, wie du eine Sehnsucht huckepack trugest, wie du littest an dir?

Gib Acht! Man hatte dir eingeredet, du hättest es schwer, dein Leben sei verpfuscht, das Leben sei eine Schuld, sei schlecht, ohne Sinn, ohne Wert; man wollte dich ducken, dich in die große Armee der Leidenden schmuggeln, du solltest bemitleidenswert werden und bemitleiden: und du glaubtest ihnen – wie ungern! – und wieder nicht – wie gern! Denn du bist stark, aber warst krank – wo? wie? was weiß ich. Und deine Sehnsucht war, herauszukommen aus allen diesen müden Verneinungen, diesen törichten Formeln, die im Nein ihr Ja haben, diesen tönenden Wissenschaften, diesen Worten –. Deswegen sprangst du von Buch zu Buch, spieltest mit ihren Formeln und ließest sie wieder fallen, die Neins und Wenns, um selber eine [96] zu finden, aber ein Ja! sollte sie klingen – denn du wolltest leben! Aber nicht wie der Pöbel lebt – einen Grund, ein Ziel, eine Lebensformel suchtest du. Nun, hier ist sie:

Weißt du: das Himmelsweinglas, das du ausschlürfen wolltest – – nun niete dir die Formel: Die Welt schaffst du.

Du vergeistigst das Chaos zur Welt; das Andere, das Noch-nicht-Du, das alte Ding an sich, ist nur das, was von dir noch nicht geschaffen, vermenschlicht, noch nicht dein Eigentum geworden ist. – Du schaffst die Welt: nun lebe, lebe! –

Die kleine blaue Blume läutete so froh und stark – warum soll ich ihr nicht glauben?

Und dann bin ich baden gegangen – – – und habe stundenlang im Grase gelegen; und während die weißen Wolken durch den Himmel segelten und der Fluß geruhig durch Schilfduft und Ried und schwatzendes Vogelvolk hinströmte, habe ich das Ding an sich, den Intellekt und den Willen verlacht und mir ein Ich-weiß-nicht-was? gewünscht.

Gegen Abend entstiegen Schwärme von Eintagsfliegen dem Fluß, an den Gräsern, Halmen und Pfosten kletterten sie hoch und warfen aus der Hülle sich in die Luft zum kurzen Hochzeitsleben. Die Luft war weiß über den Wassern [97] von den auf und nieder tanzenden Massen – und die sinkende Sonne in dem Höhenrauch, den der Nordwind gebracht hatte, rot wie ein Rubin: das hätte mich fast bezwungen, daß ich schon begann, die stundenkurze Existenz der Imago zu beklagen und daran sentimentale Folgerungen zu knüpfen – aber da hörte ich den Enzian läuten und ich lachte: Das Tier freut sich jahrelang seines Räuberlebens, und dieser Liebesflug ist sein taumelnder Höhepunkt. Es lebe das Leben und seine ewige Brücke:Venus genetrix!

Vor acht Tagen hätte ich ihr geflucht und geklagt: Was ist das Leben? So ist das Leben: es fließt dahin wie Wellenschaum, kommt und geht, quält sich und stirbt – wozu? –

Die ganze Luft ist erfüllt von Höhenrauch, sogar ins Zimmer dringt er herein mit seinem brenzlichen Geruch, und die Luft ist mürrisch und kalt. Das wird heute Nacht ein Weg durchs Bruch! Nebelgeschwader werden dort lagern, Moormannen hocken und frieren an Irrlichtfeuern, und ich sehe mein Schattenbild riesengroß und gekrönt vom Zirkel Ulloas auf den Zeltwänden geistern – und ü rump – ü plump pump geht die Reveille – in solcher Nacht plaudert's sich süß in den Armen Loos.

[98] Das Efeublatt

Die Nacht flog über den Nebelheeren hin und her; sie lugte durch die Türritzen und Fenster und Spalten, hinter die sich das Getier des Tages vor ihren Kulpaugen geflüchtet hatte.

Nun hockte sie zwischen dem Efeu und den feuchten Mauerresten des Turmes und schielte zu dem Fenster hoch. Da sah sie zwei Menschen stehen, nackt, und ihn ein Tuch über die Blöße seiner Freundin werfen. Und sie schmiegte das Haupt mit dem langen losen Haar an seine Schulter und legte den Arm fest um seinen Nacken, so schauerte der Atem der Nacht herauf. –

Kennst du das Märchen vom fehlenden Reim? – fragte sie ihren schweigsamen Freund.

Es war einmal ein großer Magier, der arbeitete Tag aus Tag ein und die stillen Nächte durch in seinem Laboratorium. Die langen Nachtwachen, die giftigen Dämpfe und die furchtbaren Erscheinungen [99] hatten ihm den Famulus geraubt; nun mußte er allein arbeiten, Tag und Nacht, Sommer und Winter.

Aber eines Tages, am Nachmittag des heiligen Weihnachtsfestes, ließ er die Feuer erlöschen, wusch sich und ging in ein anderes Zimmer, das geschmückt war mit Krokodilpanzern und staubbedeckten Versteinerungen; an den Wänden hingen sie, auf den Tischen und Schränken lagen sie, ja von dem hohen Kanonenofen glotzten sie herab. Er sah mit einem finstern Blick über sie hin, holte aus einem Schrank einen großen Bogen Papier und setzte sich vor einen Tisch: Jetzt werde ich von meinem Leben schreiben.

Und er fing an zu schreiben in einer schweren klingenden Sprache, lauter Reime – stundenlang, bis ihn das heilige Abendläuten aufsehen hieß; er legte die Feder hin und sagte:

Ich will eine Pause machen. Mir fehlt ein Reim – vielleicht finde ich ihn, gewiß, ich finde ihn. – Da läuten sie: was dieses Plasma sich doch für seltsame Häuser baut – und der Muschelpetrefakt auf meinem Tisch, jedes Atom von ihm ein Sonnensystem: wenn diese Dinge einmal sprechen könnten mit Worten, wie wir sie verstehn, ob sie auch das Wörtchen wozu? kennen? [100] Ob sie es auch wenden und drehen werden nach allen Seiten und es dann in heller Verzweiflung von sich werfen – wozu?

Doch mir fehlt der Reim – –. Wie die Glocken läuten! Das ist nun alles für mich vorbei – Glauben und Jugend und Freunde – o ich hatte viele Freunde, aber ich traute ihnen zu sehr – und dann machte ich Reisen – Reisen – wie ist mir? Fand ich nicht auf einer meiner Reisen den Reim? –

In einem finsteren Geklüfte Karmels liegt eine Höhle und gräbt sich mit ihren ultravioletten Krallen tief hinein in das steinerne Herz des Berges. In dieser Höhle, fern, wo es so still wurde, daß das ungeheure Schweigen mir mit Donnerstimmen in die Ohren schrie, liegt ein kleines Gemach.

Dunkelrote Teppiche rollen von den Wänden, die selber schimmern wie Amethyst, Ambra brennt auf goldenen Dreifüßen, Smaragde, Opale und dunkelgrüne Chrysoberylle blinken, schwellende Diwane ziehen sich an den Wänden entlang – das war die Wohnung einer jungen Fee.

Beim Lesen hatte der Schlaf sie übermannt, daß ihre Hand, die ein Buch hielt, hinabgesunken [101] war, – mitten auf ihrer runden Brust aber saß ein Falter und wiegte mit seinen blauen Flügeln. Und das Schweigen, das draußen mit Donnerstimmen schrie, war hier nicht mehr.

Behutsam ließ ich mich vor ihr nieder auf ein Gepardenfell und stahl das Buch, ein seltsam gebundenes, voller Schnörkel und sich verschlingender Arabesken.

– »als nunmehro der vierundzwanzigste Vers des heiligen Buches Mann geworden war, ging er in die Welt, um sich das schönste Weib, das es gab, als Ehegespons zu suchen. Er wanderte und wanderte, durch alle Fährnisse und Nöte, vergrub sich in Klüfte und Schluchten und stärkte seine Augen am Lichte tausender Sonnen und seinen suchenden Geist an Geweben und Gespinsten von Nichts – dann war ihm wohl, als hätte er die Ersehnte im Arm – doch sie zerflatterte ihm wie der Duft der Rose – du fühlst ihn, er durchdringt dich und macht deine Augen glänzen, aber du weißt nicht wie? und wo?

Da begannen Falten sich in seine Stirn und Wangen zu graben, und seine Augen wurden hart.

Aber eines Tages klopfte er an die enge Tür eines Buches und sprach zu dessen Herrn, der [102] hervortrat, angetan mit einem weißen Seidenkleide: Ich bin der vierundzwanzigste Vers des heiligen Buches, der da heißt: In Allem Ist Und Alles Ist, O Mensch – – – –«

Als ich bis hierhin gelesen hatte, schwirrte der Falter von der Mädchenbrust herab und verdeckte den Vers mit seinen schimmernden Flügeln – ich blickte auf und sah die Augen des Mädchens in den meinen ruhen, da ließ sie ihre Arme auf meine Schultern sinken und drückte ihren Mund auf den meinen. –

Aber als sie eines Abends in meinen Armen schlief, fiel mein Blick auf das Buch, das ich vor Jahresfrist oder mehr von mir geworfen hatte, und suchte den Vers – da ergrimmte der Falter und wuchs und schlang seinen Rüssel um mich und trug mich und warf mich – – Unter einem Ginsterbusch, der seine gelben Blüten über mich streute, fand ich mich wieder –

Da trat aus dem Walde vor mir ein Wanderer, staubbedeckt, das Antlitz von glühenden Sommern verbrannt und von beißenden Wintern zerrissen, eine Narbe der ganze Mensch. Der kam auf mich zu und fragte: Habt Ihr sie nicht gesehen? Ich bin der vierundzwanzigste Vers des heiligen Buches, der da heißt: In Allem [103] Ist Und Alles Ist, O Mensch – ich suche das Mädchen, das mir bestimmt ist vom Anfang bis zum Ende der Welt –

Da ging er weiter, über den Bach hinüber, über die Wiesen, die Felder, bis er hinter den Hecken aus Haseln und wilden Rosen verschwand.

Jetzt fiel der Felsen von meiner Brust und ich schrie ihm nach: Ja, ich habe sie gesehen, ich habe sie besessen, ich habe ein Jahr oder mehr an ihrer Brust geruht – sie war der Reim! Sie war der Reim! Doch ihr Bild ist mir verschwunden, kein Bild, kein Laut oder Hauch –.

Der Abendwind tat sich auf, eine Amsel schlug im nahen Waldesrand – dann brach ich meine Reisen ab und fuhr heim. Werde ich sie wiedersehen? Ihr Kuß war sanft, und ihre Lippen waren weich und süß. –

Da sah die Nacht, wie das blanke Weib aus dem schwarzen Tuch sich hochzog zu ihres Liebsten Mund; und hörte es dann leise weiter sprechen:

Als so der Magier gedachte, wie er einstens den Reim besessen, hörte das Geläute der Glocken auf, und erstaunt blickte er hoch. Dann schüttelte er grimmig-traurig den Kopf und ging in das Laboratorium zurück, wo er die Rolle mit den [104] tönenden Reimen fluchend zerriß und mit den Fetzen das Feuer anfachte unter den rußigen Kesseln und Retorten.

Das ist das Märchen vom fehlenden Reim. Kennst du es nicht? Kennst du es nicht? – Wie kalt ist der Wind, o trage mich in meine Kissen zurück. –

Das hörte die Nacht und sah, wie der Jüngling seine Freundin auf die Arme nahm, und sie sich um ihn klammerte wie eine weiße Schlange.


Die Sonne hing schon gleich einem roten brennenden Ballon im Osten, als Erich auf der Höhe stand, wo der Sumpfporst blüht.

Wo hat sie das Märchen her? Will sie, daß ich alles Strebens Wurzel und Krone in ihr und ihrer Liebe finde? Ihr liebes Spielzeug werde, ihr zärtlicher Besitz? –

In den Tälern lag der Nebel wie ein Meer, und die Wipfelgruppen der Erlen und Eichen sind Klippen, um die es brandet – eine steile Insel, ein flacher Himmel und eine brennende Kugel, die aus gelben Dünsten sich hebt: da ließ er sich auf ein Polster von Rasenbinsen nieder, um sich an dem Schauspiel zu weiden.

Und wie er seine Augen von den leise quirlenden[105] Massen fort auf die Sonne wandte, bemerkte er auf der glühenden Scheibe einen Fleck; er blickte schärfer und sah, daß er eigentümlich zitterte und schwankte –

So wird ein Falke, der über einem Nebelmeer rüttelt, zum Sonnenfleck –

Jetzt fiel der Punkt blitzschnell in die Tiefe –

Wie mancher andere Fleck, der sich so zwischen uns und die Wirklichkeit schiebt, mag so zur Erde stürzen! Wie manches Wort noch, das uns die Aussicht versperrt – nicht jedes Wort?

Ziehen wir nicht mit Worten und Formbildern die Welt in uns und suchen sie dann, wenn sie in unserem Besitz ist, dieser zu entkleiden und streifen die verschlammten Netze ab von dem köstlichen Meeresschatz? Und was haben wir dann: das nackte bloße blanke Ding, das aber dennoch in unseren Gedanken steckt – in uns –?

Denke ich nicht zuerst das Chaos, aus dem ich eine Wortwelt bilde, die ich sodann durch Abstreifen der Worte zum Ding an sich konstruiere?

Muß ich nicht so meine Formel: Ich schaffe die Welt – verbessern in die: Ich bin die Welt? Einmal Chaos, einmal Wortwelt, einmal Ding an sich?

[106] Suche ich also nicht Loo durch meine Vorstellung, meinen Wunsch und Besitz in mich zu verwandeln, sondern vielmehr: denke ich sie nicht erst, schaffe ich sie nicht zuerst in mir, ist sie nicht ein Teil von mir, mit dem ich schalte, wie mir behagt?

Wie könnte ich jemals ihr zärtliches Spielzeug werden! Ist sie nicht ich! Bist du nicht ich, du süßes Märchen?

Ich bin die Welt! –

Aber wenn alles Menschenleben zerstiebt, so hängt doch droben noch düsterrot die erlöschende Sonne – ah! wie nun ihre warmen Strahlen in den Nebel greifen, sie zu langen Locken und Bändern spinnen und in die Höhe ziehen, um aus ihnen die weißen Wolkenbälle zu weben und zu nähen, und dann den Wind rufen und ihre Weberkünste ihn forttragen und weitersegeln heißen durch die blaue Sommerwelt!

[107] Der Bauchhaarige

Wo das Sonnentier Actinosphaerium im Grundschlamm des Kosakenkolkes rollt, wo die prachtvoll grünen Desmidiazeen und zierlichen Diatomeen gleiten und als selbstherrlicher Räuber dieser Welt der Ruderfüßler und Große Wasserkäfer haust, lebt ein rätselschweres, bauchhaariges Wesen, der Chaetonotus chuni.

Man weiß wenig von ihm, man ist noch mit der Frage der Zugehörigkeit der Gastrotrichen, d.i. der Bauchhaarigen, beschäftigt; kennt man aber die, kann man bestimmt sagen: es ist kein Infusorium, es ist ein Fadenwurm, ganz bestimmt ein Fadenwurm, Herr Collega, so ist das Rätsel, mit dem sich der Bauchhaarige umhüllt, gelöst. – Dieses Rätsel wollte Erich lösen.

Es ist doch nur ein Wortspaß – murmelte er und schleuderte die Flasche mit dem Rest des Schlammes, aus dem er die Bauchhaarigen gefischt, in den Kolk zurück; hängte das Planktonnetz [108] zum Trocknen an einen Weidenast und etikettierte eine Reihe anderer Glaser –

Ja nur ein Wortspaß. Man füllt eine Rubrik, schlingt einen neuen Knoten, freut sich und damit hat die Sache ihr Ende – mit einem Wortspaß; und damit vertreiben Leute ihr Leben, mit einem Wortspaß. Es mag auch ein Augenspaß sein, ein Trost vielleicht, daß auch diese Plasmawürste leben und leiden – leiden? Gefressen werden! Das Leiden bezweifle ich – das ist unser Privileg. – –

Da kommt ihr Vater! Ein Graf mit Ketscher und Botanisiertrommel! Ein würdiger Nachkomme derer von Raesfeld! Beim Teufel! ein würdiger Schwiegervater! Ich möchte ihn sprechen hören. –

Er trat auf den alten Herrn zu und entschuldigte sich, daß er ihm ins Gehege gekommen sei.

Sie schaden ja nicht meinem Besitz, wenn Sie sich die Mühe machen, ihn zu durchforschen. –

Nun ja, ich gebe Ihnen ein paar Worte mehr – sie stehen zur Verfügung. –

Der alte Herr lächelte und bat ihn, ihm eine Durchsicht der Gläser zu gestatten.

Bitte; aber es sind nur Worte, immer Worte, Herr Graf. Ich suche nur das Rätsel des Chaetonotus zu lösen. –

[109] Sie setzten sich ins Gras, und der Graf betrachtete bedächtig kleine Schlammproben unter der Lupe und setzte dann mit einem Grashalm die weißen Striche auf die Glasplatte des Algensuchers.

Der Chaetonotus chuni, zweifellos. –

Nicht wahr? Man müßte eine Kultur von ihm anlegen. Das Rätsel muß geknackt werden. –

Und zwar bald, sonst kommt Ihnen ein Anderer zuvor. –

Zweifellos. Die Lösung schwebt in der Luft – ein glücklicher Griff, und der Mann hat sein Lebenswerk getan. –

Gewiß. – Wir haben eine viertel Stunde bis zu mir. Begleiten Sie mich? –

Gerne. Aber bedenken Sie, es sind nur Worte; Rätsel und Lösung sind Worte –

Sie fangen wohl nach wortlosen Begriffen? Damit kommen wir nicht weit. Sie wissen, man sagt, unsere natürlichsten Begriffe und Stellungen zu den Dingen seien Irrtum und Lüge von Anfang an. – Bist du toll geworden, Loo? –

Er sprang auf und eilte auf das Sumpfloch zu, in welchem Loo über die Graspolster, die sich um die Erlenstämme gebildet hatten, auf [110] sie zu turnte. Aber lachend sprang sie aus dem gefährlichen Gebiet.

Den Weg hab ich schon tausendmal gemacht! – Ach, gehen Sie mit meinem Vater auf die Schmetterlingsjagd? Haben Sie ein komisches Schmetterlingsnetz! –

Sie ergriff das Netz und schwang es kreisend um sich, daß Erich die Tropfen ins Gesicht flogen.

Da sah sie die Gläser, die neben ihm im Grase standen.

Was haben Sie hier? – Der Große Bauchhaarige aus dem Kosakenkolk – was für ein Unsinn! Weg damit! Und das! – Fort mit dem Zeug! – – Laß uns gehen! –

Jaja. Sie kommen doch mit? Gewiß kommen Sie. –

Gewiß komme ich. –

Er nahm sein Netz, zerriß es mit einem Ruck und schmiß es den Gläsern nach, die Loo in den Kolk geworfen hatte. Sie gingen durch den Sumpf, durch den soeben Loo gekommen, sprangen von Erle zu Erle und balancierten dann vorsichtig über einen schmalen Pfad, der unter ihren Schritten wogte wie junges Eis. – So waren sie eine Weile gegangen, wortlos, Loo [111] voraus – als Erich plötzlich einsank und schnell bis zu den Hüften im Schlamm steckte. –

Mit bösen Augen hatte Loo ihm zugesehen, wie er sich an einer Erle, die ihr Vater zu ihm niedergebogen, herauszog, und war dann mit den Worten: Ich werde vorausgehen und für den verunglückten Herrn trockene Kleider bestellen – wütend fortgelaufen.


Bad, Anzug und Wäsche war für Erich bereit, aber vergeblich suchte er nach einem Brief, einer Karte, einem Wort, nur nach einem Zeichen von Loo. Da kleidete er sich um; es schien der Anzug eines Gärtnerjungen zu sein – es war ihm gleich, aber der Durst quälte ihn. Da stand auf einem Tischchen ein Glas Milch und ein belegtes Brot –

Er nahm das Glas und setzte es an den Mund, aber mit einem Fluch riß er es zurück und warf es auf die Steinfliesen.

Du Teufelinne! –

Da trat sein Wirt ins Zimmer –

Wer stellte Ihnen denn das hier hin? – Aber wie wär's, wenn wir den Bauchhaarigen für heute in Frieden ließen und einmal zusähen, was Raesfeld an Diatomeen besitzt? –

[112] Sie gingen hinab und stiegen in den Nachen; und Erich ruderte, durch den Schloßgraben und den Schilfwald in den langgestreckten westlichen Teich. – Nymphäenblätter, dicke aufgetriebene Algenwatten, ein Schwanenpaar, das wütend das trichterförmige Netz angriff, erschwerten ihre Arbeit; aber als sie genügend Material hatten, gingen sie an Land, siebten, sonderten, glühten und färbten, bis die blendenden Wolkentürme, die vorher ihr schönes Licht in das Mikroskop geworfen, zu dunklen Gebirgen wurden und mit wilden Zacken und schneeglänzenden Gipfeln zu ihnen herüberdrohten. Da schoben sie die Instrumente beiseite und Erich verabschiedete sich, denn es war sicher, daß die nun schiefergraue Bergmauer mit Gewittern ging; den Wagen, den ihm sein Wirt anbot, lehnte er ab.

Auf den Gängen, im Hof oder Garten, an ihrem Fenster – von Loo war nichts zu sehen. Da schlug er den Kragen gegen den in großen Tropfen schon niederschlagenden Regen hoch und eilte ins Freie.

Hier überholte ihn der Sturm, warf ihm den Hut vom Kopf, daß er über die Felder tanzte –

Zwei Monde lang hatte der Himmel gebrannt [113] und geglüht und unendliche Wassermassen hochgehoben, jetzt warf er sie in einem Gusse herab, Sturm und Gewitter hinterher. Die Luft ward zu Wasser, klatschenden, schlagenden, gießenden, prasselnden, unheimlich brausenden Wassern, die die Stürme hin und her warfen, dort es als eine kompakte Masse glatt auf die Erde schleudernd, dort es sich in die Hände werfend und als gischtenden Schaum wieder in die Wolken wirbelnd. Hier riß der Sturm, auf weiten Feldern seine Brüder zu einem singenden Keil zusammenschweißend, eine jähe Lücke in die brausenden Wasser und verteilte sich dann heulend über die Wälder, bahnte sich hier, vertausendfacht, seine zusammenbrechenden Wege, um sich drüben auf den Heiden wieder zu eins zu ballen und im Hui! über die Hügel zu tanzen – Wacholder und Heidebüschel hinterher. Da spaltete ein Schlag den Himmel in zwei Teile, und polternd rasselten die Trümmer herab! Da wieder einer! – Da! – Dort! Ein Riese stand da oben und zerhieb den Himmel in Fetzen, und wie Hagelschlag unaufhörlich kollerten die rollenden Trümmer herab. Und aus den zerfetzten Rissen fuhr der entfesselte Sturm und stampfte Wälder und Felder in Grund – Feuerjoh! Feuerjoh! Im [114] Schloß hat's eingeschlagen! – Feuerjohoho! Die Scheune brennt, das Schloß brennt! – Brand! Brand! Das ganze Dorf brennt! – Hoho! Das Fräulein! Fangt sie! Das Fräulein ist toll geworden! Fangt sie! Hussa ho! Fangt sie!

Doch sie war schneller als ihre Verfolger. Von Liebe und Furcht gejagt, flog sie durch den Sturm und Lärm. Fangt sie! Schon hatte sie die Chaussee erreicht – Fangt sie! – jetzt bog sie in die einsamen Waldwege ein – o sie kannte die einsamen Waldwege! Noch zwei, drei beherzte Burschen sprangen ihr nach – dann lockte neuer Feuerlärm sie zum Dorf zurück.

Da kämpfte sie sich wieder durch zum Weg; laufend, kriechend, liegend – die nassen Büsche zerschlugen ihr Gesicht, Regen und Sturm warfen sie hin und her. Dann trieb sie ein jäher Blitz, der spukhaft die Gegend erhellte und polternde Donnertrümmer auf sie warf, wieder auf den rechten Weg. Haare und Kleider flatterten in dem schlagenden Sturm – er warf sie zu Boden – in den Graben – da krachte ein abgerissener Ast neben ihr nieder – sie stolperte, stürzte – doch weiter! nur weiter! immer weiter! Zu ihm! Zu ihm! Zu Füßen will ich ihm liegen – aber mir soll er gehören, mir allein! [115] Mir allein! Jauchzend schrie sie es in den Sturm. –

Du Teufel! Du Teufelinne! Das Lied sang der Sturm und Donner in Erichs Ohren den ganzen Weg; warf ihn hin und her – Du Teufelinne! Süße Teufelinne! Da spellte ein Blitz eine Pappel neben ihm – in zehn, zwanzig glühenden Schlangen fuhr er in den Boden und als leuchtendes Schwert wieder hoch in die Nacht. Schlag sie tot, schlag sie tot, die Teufelinne! Ho! du Sturm schlage sie tot! Da fegte er ihn über den Weg und rollte ihn in den Graben – er watete in ihm fort, von dem der gießende Regen wie ein Schaum und Nebel wieder hoch stieg. Er fiel, raffte sich hoch und erkletterte mit Händen und Füßen den Weg. O wie schmerzt der Regen auf dem bloßen Kopf! Als spülte er Haare, Haut und Knochen fort! Da tanzte eine blaue Kugel über dem Weg, da fern über den sturmgebeugten Bäumen, nun hier, jetzt da – O du blauer Blitz, o du tanzende Kugel – tanze sie, tanze sie tot, den Teufel! Da sprang sie mit einem klatschenden Donner auseinander – Heißa! Klatsche sie tot! – Der Wind verschlang's, warf ihn hin und her, quirlte und wirbelte gelbe Wolken [116] wie Schwefelstaub durcheinander und schmiß sie hussa ho! in den brechenden Wald. – Du Teufelinne, süße Teufelinne! O du schöne Teufelinne! Was tat ich dir? O schlagt sie tot, schlagt sie doch tot!

Rief sie da nicht? – Oh, die Teufelinne kommt! Da floh er vor ihr her wie ein wolfgejagtes Tier. – Heinz! – Schlagt sie tot! – Heinz! – Da hatte sie ihn ereilt und riß ihn zurück – er stieß sie fort in den Schmutz –. Da umschlang sie seinen Leib und er schleifte sie hinterher –. Schlage mich, Heinz, o bitte, schlage mich! – Da drängte sie sich hoch, umklammerte mit beiden Händen seinen Arm und preßte sich an ihn. – Ich will ja nur dich haben, aber dich allein, ich dich allein! – – Sie halten mich für toll – Heinz! sie wollen mich fangen wie einen tollen Hund! O ich bin auch von Sinnen, bin ja toll – – Der Sturm warf die Taumelnden hin und her – und der soeben eine Pause gemacht, brach mit neuem Ungestüm über sie. Da fegte er ein Meer wirbelnder Blätter hoch über ihnen her und warf es weit in die Heide, die grau und unsäglich wild vor ihnen lag.

Hussa! mein schönes Lieb! Hussa! – Wollen wir fliegen? Kannst du nicht fliegen, süßer Teufel? –

[117] Er riß sie hoch, sprang windgetragen über den Graben und flog mit ihr Hand in Hand über die Hügel – jauchzender Sturm und Blätterwirbel hinterher. Hussa! Ich habe dich lieb, du schöner Engel – Hussa! Du süße Schöne, wir fliegen – o du Wilde, Schöne wir fliegen – fliegen –

Da warf sich der Sturm auf eine andere Seite, wirbelte sie um und rollte sie den Hügel hinab. Dann holte er noch einmal Atem in die brausende Brust und spie ihn aus, daß die Wacholder und Heidebüschel wieder über die Hügel tanzten. – Dann legte er sich stöhnend auf die Seite und sank in Schlaf; die zerfetzten Wolken da oben und da auf Erden die jagenden Blätter und verwehten Menschen mochten sehen, wo sie eine Ruhestatt fänden. –

Auf der Heide wurde es still. Nur droben die Wolken trieben noch ihr Spiel und erzählten sich in ihrer hastigen Weise, daß nun Regen kommen würde, langer wochenlanger Regen.

[118] Der Landregen

Ein Landregen, der nicht weichen wollte, der tagelang seine grauen Eimer trug vom Ozean bis fern zum sommerdürren Steppenland, legte sich über Stadt und Land. In unendlich eintönigem Getröpfel fiel es von den Dächern und goß aus den Rinnen, tagelang.

In einem Regenmantel, den regenschweren Hut tief in der Stirn, war Erich hinausgewandert. Jetzt saß er mit Loo und dem alten Herrn im Schloß, in einem Zimmer, dessen Fenster auf den Hof und die zum Teil niedergebrannten Scheunen blickten. Sie quälten sich nicht zu einem Gespräch, sie sahen wortlos hinaus in den gießenden Regen.

Aber trotzdem, – unterbrach der Graf die Stille – Sie werden es wohl glauben, junger Freund, ich liebe solchen Regen. Hören Sie, wie das von den Dächern tropft, so selbstverständlich und eintönig, ein Tag wie der andere. Dazwischen [119] die alte undichte Regenrinne mit ihren klatschenden Güssen, unregelmäßig und ungleich stark, das sind so die Episoden, die hohen Tage des Lebens – und alle gehen zu Wasser, alle. Aber hören Sie das Tröpfeln, das Tröpfeln, so müde und eintönig-geschäftig, das bleibt – wird ja auch zu Wasser – aber es bleibt – tripp – trapp. Sehen Sie, das erfüllt mich mit so eigener Freude – – Und er ging in sein Turmzimmer hinüber.

Du hättest nicht kommen sollen, Geliebter – sagte Loo, die mit verschränkten Händen am Fenster stand – der Regen ist nichts für uns. Was soll unsere Liebe, was soll das? Weshalb haben wir uns so lieb? – Und das nennt sich Glück – – ! –

Hör einmal zu, Loo:

Es war ein Tag wie heute, so zwischen Nachmittag und Abend, als ein junger Scholast durch die Straßen Jenas ging. Winkelige, enge Gassen waren das, langnasige Giebel mit großen, unheimlich schwarzen Augen und einem breiten gefräßigen Maul, aus dem die schwarze Zunge wie eine Rolle geformt heraushängt. – Es wird später und später und wird eine stürmische Nacht. Da begegnet dem einsamen Scholasten ein [120] Mensch, dessen Beruf es war, durch seine Dummheit und seinen Reichtum alles um sich unglücklich zu machen, ohne daß er selbst dabei Glück genoß – den packt sich der Scholast, schüttelt ihn und schreit ihm ins Ohr:

Sieh diese stürmische Nacht! Weiße, zerrissene Wolken jagt der Wind von der Rudelsburg her, und blickst du lange hinauf, wie der Mond sie verzinnt und versilbert, dann wird's dir, als flöge der Mond dahin, der Fenriswolf hinterher, und Turmspitzen, Turmhähne mit flatternden Flügeln, die langnasigen Giebel in wilder Flucht mit, die Häuser, die Gassen, die Stadt, du selbst – hui! in die Unendlichkeit! Packt's dich, du Jammermann? Siehst du das Haus dort mit der grotesken Doppelnase am Giebel? Und das Fenster darunter, im windigen dritten Stock, Licht ist drin? Da geht's hinauf, drei Treppen hoch – komm mit! Hoppla, du Jammermann. –

Was? Du siehst nichts? Tränen dir die Augen? Beißt dir der scharfe Tobak sie aus?

Und draußen heult der Sturm, die langen Giebelnasen knarren und wackeln und schütteln den Kopf über das schlechte Wetter und rufen in gespenstischer Zwiesprache bei jedem Nieser [121] Gesundheit! Gesundheit! Euer Gnaden – sich zu. Und der Kessel singt, der Grog glüht und wir sechzehn sitzen tabakrauchumhüllt am runden Tisch, und unter uns ist einer, der hat eine harte böse Stimme:

Ich habe zehn Tage keinen Wein getrunken, ihr Füchse, keinen Schläger und kein Weib berührt, ich habe mich hier vergraben und habe die Rettung gefunden. Nicht für die Menschheit – was heißt Menschheit? Für mich, für euch, ihr Füchse.

Und ich habe gefunden: So viel Individuen, so viele Welten. Unser sind ihre Erscheinungen, unser ist ihre Zeit, unser ihr Raum, unser ihre Ursächlichkeit: wir sind die Welt.

Seht, jetzt nehme ich die Zeit – er streckte die geöffnete Hand hoch – presse zusammen, was zwischen ihrem Anfang und ihrem Ende liegt – er krallte langsam die Hand zu – und werfe es unter mich – er schmetterte die Faust nieder.

Füchse, Sophistik! heißa Sophistik! Jetzt lösen wir ein Geheimnis! Habt ihr schon über die Möglichkeit nachgedacht? – Wähntet ihr nicht damals in der Zeit, eine Handlung als Ausführung eines Gedankens sei möglich, und [122] die andere nicht? Und weswegen war sie unmöglich: weil sie eurer Erfahrung und Logik widersprach. Und was ist denn Erfahrung? – Die, kausal gedachte, zeitliche und räumliche Verbindung zweier oder mehrerer Erscheinungen. Was erfahrt ihr so? – Euch. Wie könnt ihr denn euch durch euch widerlegen? Füchse, Sophistik! heißa Sophistik! Und was ist eure Logik? Die angenommene Gleichheit gewisser zeitlicher und räumlicher Erscheinungen, und was daraus im Zwange eurer Kausalität folgt. Wie könnt ihr denn abermals euch durch euch widerlegen? – Und wenn ihr die Ausführbarkeit eines Gedankens von einer fernen Zukunft erhofft: haben wir die Zeit nicht niedergerissen und unter unsere Füße getreten? Gedanke und Ausführung sind nicht mehr getrennt, sie sind eins geworden.

So gibt es keine Möglichkeit oder Unmöglichkeit; was ich auch denke, ist nicht nur ausführbar, sondern schon da, ist schon dadurch geschaffen, verwirklicht und da. Ruhig, du Jammermann!

Und nun gebt Acht, wir bauen ein Schiff, ein glückhaft Schiff. –

Da holte er unter einem abgeschabten roten Plüschsofa einen zweiunddreißigeckigen Kasten hervor, in dessen Mitte eine Geige befestigt war, – [123] und sang ein Lied: die Geige gab einen leisen Klang. Und jetzt sang er hart und sporenklirrend: schrillend klangen die Saiten.

Mittönende Schwingungen. –

Nun legte er sein Gesicht in stille Falten, und seine Augen wurden traurig: da klang die Geige auch leise und traurig – Dann reckte er sich hoch: zornig schrie eine Saite auf.

Ich nenne es übertragende Schwingungen der ersten Kategorie – wovon? worauf? Äther, Luft – was tun Worte! –

Dann nahm er die Geige wieder und entriß ihr einen Ton: ein Nordlicht hing draußen in der Luft und warf Flammenspeere und Feuerglorien über den Himmel.

Ich nenne es übertragende Schwingungen der zweiten Kategorie – wovon? worauf? Luft, Äther – was tun Worte! –

Und nun schlug er das Fenster zurück und strich einen Klang, der sich wie roter Sammet anfühlte: da ward es stille draußen, der Sturm ward zum Hauch, eine weiße Wolke fiel vom Mond und schwebte wie von einer Sehnsucht durchwogt vor dem Fenster, und die Giebel machten Bücklinge, graziös steife Rokokoverbeugungen, und schnitten ein verliebtes Gesicht.

[124] Doch als er dann den Bogen führte, rasselten die Schiefer zu Boden wie Hagelschlag, die rostigen Turmglocken fuhren aus ihrem Schlaf und schrien dröhnend und schmerzlich auf, und eine Windsbraut lachte durch die Gassen.

Luft – Äther – Luft – ich nenne es kurz die dynamischen Schwingungen. – Seht ihr, wir bauen ein Schiff, ein glückhaft Arche-Howald-Schiff! Seht ihr's nicht schwimmen droben an der Steilküste Samlands, brandungumrauscht, bernsteingeschmückt – rund, zweiunddreißigeckig und eine Geige klafterhoch die Bordwand überragend? –

Ja Loo, denke dir eine ungefähre Halbkugel, neunzig Meter breit, dreißig Meter tief, zweiunddreißigeckig, ohne Mast und Segel, ohne Schornstein und Schraube, ohne Anker und Steuer, statt dessen in der Mitte eine Riesengeige tragend: das war Musarion und unser glückhaftes Schiff.

Und seine Besatzung bildeten sechzehn ganze Männer und ein halber, der war Geheimrat und Berliner, und diente uns als Koch.

Unsere Gehirnwindungen, graue und weiße, und damit unsere Welt, stehen in Beziehung zu einem ganz bestimmten Ton, wie er aus Grundton [125] und Nebentönen sich zusammensetzt: erklingt dieser, so geraten sie und ihr Weltbild in frohe, treibende Erregung. Und wie jeder Mensch eine Tagesstunde hat, in der er sich am zärtlichsten liebt, so ist jene Erregung am intensivsten in dieser Stunde. Und was ist denn die Stunde weiter, als der Stand der Sonne über oder unter einer bestimmten Himmelsrichtung?

So entsprach unser Wesen einem Strich der Himmelsrose. Verstärkten wir nun unsere Erregung, indem wir mit dem Grotesken Riesenbogen unseren Leibton über der Stirne strichen, von wo aus wir unsere Gehirnwindungen am eindringlichsten miterklingen hießen, so pflanzten sich deren Schwingungen auf die Saiten der Riesengeige fort und wurden dort aus den übertragenden Schwingungen erster Kategorie in dynamische umgesetzt: Das Schiff bewegte sich in der dem Ton eigenen Himmelsrichtung. Strich Howald e, so fuhr es gen Ost, geigte er cis, so wandte es sich der Abendröte zu.

Wie der Wechsel der Schnelligkeit mit Hilfe einer Flöte, das Anlegen mit Hilfe einer Pauke bewirkt wurde, wirst du dir selber ausmalen können.

Das war die fremdartige, wie ein Hünengrab [126] oder Brontosaurosknochen in unsere Zeit hinaufragende Besatzung Musarions. –

An einem waldmeisterduftenden Maiabend verließen wir die Bernsteinküste mit dem Kurs zwischen Bornholm und Rügen auf Trelleborg. Dort raubten wir ein schwedisches Mädchen Marga und geigten sodann durch den Sund, Kattegat und Skager Rak, am südlichen Abhang der Doggerbank entlang und durch den Kanal, um am nächsten Abend vor Lizard vor Anker zu gehen.

Ein Paukenschlag! und Wind und Wellen treiben an uns vorbei, die massigen Wogen des Ozeans werfen sich dröhnend gegen unser Schiff, und in den Saiten der Geige pfeift der Westwind, der ozeangeborene, seine klagende Melodie. Ich war abgelöst worden, und der Fuchs Torring übernahm den Dirigentenplatz; so ging ich an Deck, lehnte mich an die Geige und ließ meine Gedanken schweifen – –

Da höre ich ein Toben und Schreien und sehe sie herstürmen, lachend und mit fliegendem Haar –

Eine Riesengeige streicht man mit einem Riesenbogen! – und unter dem jubelnden Zuruf der Gefährten reißt sie den tönenden Bogen über die Saiten:

[127] Als hätte ein Wetterschmied alle Taifune und Orkane und all ihr wildes Geschwistervolk zusammengehämmert, um sie in einem Guß auf uns loszulassen – so flog unser Schiff. Die Wasser bäumten sich wie Berge vor uns hoch, standen als grollende brausende, donnernd in sich einstürzende Mauern zu unseren Seiten, und ihr Wutschrei, wenn sie meilenweit hinter uns zusammenschlugen, warf den Erdball zitternd und pendelnd aus seiner Bahn. Und gleich einer ungeheuren Geschützkugel tönte unser hoch aus den Wassern sich hebendes Schiff dahin, eine Meute bellender, kläffender, heulender Sturmhunde hinterher. Wir lagen am Boden wie vom Beilschlag hingestreckt – aber Marga, die geduckt auf ihren Knien neben mir kauerte, lachte mit funkelnden Augen in die erbosten Wasser – Planken und Menschenleiber tanzten und quirlten vorbei – wie ein Blitz kam's, wie ein Blitz verschwand's – helljauchzend bäumte sie sich hoch und starrte ihnen nach in die grüne gischtende Finsternis.

Als ich das sah, die Trümmer eines überrannten Schiffes und das jauchzende zerstörungstrunkene Weib, kroch ich in meine Kajüte, um in mir das Mitleid und das Grausen zu töten. –

[128] Und dort erhitzte ich drei Tage lang meine Phantasie, mir die grausenerregendsten und bemitleidenswertesten Bilder vorzujagen, und hatte meine prickelnde Lust, die letzten Fäden, die mich in den Bannkreis des Phantoms Gott und »Gut und Böse« ziehen wollten, langsam zu durchschneiden.

Dann eilte ich an Deck, um die Schriftstücke, auf die meine Phantasie ihre Teufelsbilder gemalt hatte, über Bord zu werfen, und warf sie – in den Amazonenstrom, jawohl – in den Amazonenstrom.

Amazonien! Wie lange hat es gedauert, bis die Pororoca wasserwolkenlärmend in deinen Strom sich wälzt! Einmal Meer, das gegen granitene Küsten eines Urlands im Osten brandet, Inseln aus sich hebt, sumpfig und üppig wie nur im tropischen Sumpf, und Insel sich an Insel schließend, dein Meer versinkend und vertrocknend: Land! Dann die Küste wieder eines gewaltigen Meers, auch das zerfällt, versandet und verdünt und verfrachtet seine Wasser in mächtige westliche Ströme, bis die aufbäumende Cordillera ihnen den Weg vertritt und mit ihren eigenen Wassern vereint sie einen See bilden heißt, mächtig und breit, überströmend [129] und seine Fluten in gewaltigen Rinnen in den Ozean werfend: da ward dein Amazonas! da rollte der Wasserwolkenlärm rauschend und brausend deinen Strom hinan – Amazonas!

Hochwassergeschwollen, gelb und trüb, verfilzte Pflanzenbarren und umgestürzte Bertholletien tragend, wälzte er sich unabsehbar zwischen seinen Inseln ins Meer. Wo der Tapajos sein flaschengrünes Wasser in ihn wirft, wo am Ufer Mumbakapalmen, langarmige Heveen und Bambusse eine schwermütige Linie ziehen und die Victoria regia ihre grünen Blatteller wiegt – lag still und stumm unser Musarion und ließ die schlaffen Saiten seiner Riesengeige im Morgenwind summen.

Aber ich fand mich allein, die Boote waren fort – so lehnte ich mich an die Riesengeige und spielte ihr auf meiner Fiedel ein Lied.

Das ist nun deine Welt, einzigartig und nie oder immer wiederkehrend, auch wohl schön und wild – aber eine Welt der absoluten Einsamkeit, das ist deine Welt. – –

Am Mittag kam Howald mit den Gefährten zurück, mit Pflanzen und erbeuteten Tieren beladen; in Kiepen, Körben, Gläsern und Netzen brachten sie die Fauna und Flora Amazoniens [130] an Bord. Sie grüßten mich zerstreut, redeten mit unendlichem Stimmengewirr durcheinander und zogen sich, immer disputierend, in die gemeinsamen Arbeitszimmer zurück.

Marga, an der Geige lehnend und sich aufrichtend und leise dehnend, lächelte mich an – da überließ ich meine Freunde ihrem Treiben und folgte ihr. Nach tagelangem Arbeiten unter Deck tauchten meine Gefährten wieder ans Licht, ruderten sich an Land, kehrten mit den mannigfaltigsten Dingen zurück und verschwanden wieder, immer redend und mit nachdenklichen Gesichtern. Und ich – blieb bei ihr.

Doch eines Tages berief Howald einen Convent und hielt folgende Rede:

Füchse! Zwiefacher Art waren die Ziele unserer Arbeit: einmal, zu erklären die Fähigkeit unseres Wesens, sich bei einem gewissen Ton zu konzentrieren und nach einer bestimmten Richtung hin übertragende Schwingungen zu erregen – ein andermal, dieses erklärte Phänomen mit unserer Philosophie in Verbindung zu setzen.

Was den ersten Fall betrifft, so waren wir bescheiden und haben uns begnügt mit der Beschreibung des geschichtlichen Werdens dieser [131] Fähigkeit, und nebenbei mit einer detaillierten Beschreibung.

Worin bestand also unsere Erklärung? Sie bestand darin, nachzuweisen, daß bei den verschiedensten, einfachsten und differenziertesten, Wesen ein gewisses höchstes, Kräfte auslösendes Wohlbehagen auf Schwingungszuständen beruht – und (wenn auch nicht in der lückenlosen Reihe einer bestimmten Steigerung) festzustellen, daß dieses durch die Wellen eines spezifischen Tones erhöht und sogar in übertragende Schwingungen umgesetzt werden kann.

Diesen Nachweis haben wir geführt, haben den Vorgang selbst bis ins dritte, vierte Glied der Ursachenreihen trefflich beschrieben – und so unser vorliegendes Phänomen erklärt. –

Nun, meine Freunde, was haben wir mit dieser Erklärung eigentlich ausgesagt: wir haben eine Eigenschaft verfolgt, wie sie sich bei verschiedenen Lebewesen in verschiedener Stärke zeigt, so daß wir in der Lage waren, nach den verschiedenen Graden dieser Stärke ihre, in anderen Eigenschaften sich ähnlich verhaltenden Träger in eine Rangordnung einzusetzen; diese betrachteten wir dann in ihrer zahlenmäßig aufsteigenden Linie unter dem Bilde der Zeit – und[132] stellten so die Hypothese des geschichtlichen Werdens, der Entwicklung unseres Phänomens auf.

Nun konnten wir diese Betrachtungsart bei allen Dingen anwenden und durchführen, so daß wir eine Welt erhielten, die sich entwickelt, die aus sich wird – und diese galt es nun, laut des philosophischen Zieles unserer Arbeit, in Beziehung zu setzen zu der, die nach unserer Formel in uns und durch uns ist.

Ihr fühlt alle, daß ein gegebener Verknüpfungspunkt in der Apriorität der Zeit liegt. Und so würde leicht einer sagen: nur im Banne der Zeit sehen wir das als ein Nacheinander und Werdendes, was in Wirklichkeit ein Nebeneinander und Seiendes ist. Dem würde ich entgegnen: wir haben als Menschen die Zeit niedergerissen und nehmen als solche das Nebeneinander an – obwohl in dem »Nebeneinander« noch der Begriff der Zeit steckt –, aber wie stand's mit diesem Nebeneinander, als noch die haarige Bestie, dieses Gürteltier, dieser Amöbenklumpen, das höchstdifferenzierte Wesen des Planeten war? Denn nichts hindert uns, dieses für einen Teil der Welt anzunehmen; nichts hindert uns, ihr Füchse, die Zeit räumlich zu setzen, sie als vierte Dimension zu postulieren.

[133] Es bleibt also die Frage: in welchem Verhältnis steht die gewonnene (wissenschaftliche) Formel einer werdenden, oder räumlich nebeneinander geordneten Welt zu unserer alten unerschütterlichen (philosophischen) einer konzentrierten Welt, die sich manifestiert in unserem Schlachtruf: Ich bin das All, ich bin die Welt? Oder offener: wie ordnen wir die erste der zweiten unter?

Du, und jetzt wandte Howald sich an mich, jüngster aller Füchse, wirst die Schwere dieser Frage würdigen – ist doch mit ihr im tiefsten Grunde die Existenz Musarions verknüpft –; aber die Lösung verlangt, insbesondere für dich, einen Ort und ein Klima ohne die fordernden und lockenden Schönheiten dieses tropischen Stroms:

Berghohes Eis und frostblauer Himmel, Schnee und sturmgejagte Wolken, blaue Gletscher und Feuerberge in nordischer Nacht –! Folg uns zum Vatna Jökull! Auf nach Island! –

Auf nach Island! rief ich – Auf nach Island! donnerte es über den Strom. –

Ein Leierkastenmann hatte sich unter dem Fenster aufgestellt und dudelte ihnen seine Freitagsnachmittagsmelancholie herauf.

[134] Ach Loo, der Regen regnet jeglichen Tag, such dir einen lustigeren Galan. – Sieh den Gärtnerjungen drüben, er stützt den Kopf in die traurige Hand und blickt zu dir. Weißt du, was er denkt? Er denkt – Hoff nur, du armer Fratz – Ach erlaß mir den Kitsch. Wer weiß, sie sucht sich einen andern Cavalier. – So ist's. Nur nicht feige, liebe Loo –. Ich werde in die Heide gehn – 's ist just das rechte Wetter. –

Er reichte ihr flüchtig die Hand und ging. –

[135] Der Wacholder

Meine Heide – ein Erdenstück, das sich wälzt durch Licht und Finsternis. –

Meine über sie hinbrausenden Stürme – nichts denn Wellen eines Meers, mitgerissen im lichtüberschütteten, finsternisdurchschauerten Planetenlauf. –

Meine schwarzen Wacholder hier, Jahrhunderte alt – was sonst, als eine Folge von Tag und Nacht, Sommer und Winter, vom unbeschreiblich schnellen Erdenlauf –

Und ich unter ihnen, ihrem Rauschen und Raunen lauschend, eintagsalt – geworden in der Zeit aus der Algenkugel, die dort grüngolden im Wasser rollt, schaffend die Welt in mir durch die Zeit – kommend und seiend, rollend und fest und dennoch rollend – es ist, um toll zu werden! –

Da wurden die Wacholder auseinander gebogen, und Loo trat zu ihm.

[136] Vergib, ich mußte dir nach. –

Gewiß. Aber komm, es graust mich hier unter dem Gerausch und Geträtsch der buckligen Wacholdergreise und dem verrückten Gelispel der Birke, die da in dem algengrünen Wasser ihre Haut bespiegelt – Komm, wir wollen in die Heiden und Winde gehen. –

Da verließen sie das Kieferngebüsch, das in seinem kleinen Kessel diese Gesellschaft barg, und traten in die Heide, die in langen Hügelwellen nach allen Winden hinwogte. Auf dem höchsten Sattel einer solchen setzten sie sich nieder und blickten mit traurigen Augen ins Weite.

Der Regen hatte aufgehört; nur ab und zu versuchte eine schnelle, niedrig hängende Wolke ihre Eimer auszugießen – doch der Wind blies sie fort und setzte in unruhigen Stößen von Hügel zu Hügel und warf sich mürrisch rauschend in den fernen Wald.

Braunrote Flachsseide hatte die junge Heide zu Boden gedrückt und würgte sie tot, und die rotblättrigen Ampfer- und dunkelgrünen Bärlapprasen zogen sich hügelauf, hügelab und beneideten nicht die beiden, die, die Knie hochgezogen und Wange an Wange gelehnt, dasaßen, als gehörten sie nicht in diese Welt.

[137] Siehst du den Findlingsblock? Der liegt da schon viele Jahrtausende – und dahinter den Muschelhügel? Auster über Auster –: Was mögen sie alles gesehn und erlebt haben? – Nichts haben sie gesehn, nichts haben sie erlebt! Nur wenn der Blick stiller Heidewanderer und sturmverwehter Liebenden auf ihnen ruhte, bildeten sie den Teil einer Welt. – Und jetzt leben sie, jetzt kauere ich hier, und sie küssen dich – und spielen mit deinem Haar –. Was mag nach Jahrtausenden hier vorgehen? Nichts, nichts! Die Jahrtausende sind nur in uns, wir sind nicht mehr, und die Welt ist tot. – – Wie der Wind braust und die Wolken eilen – o Loo, ich habe dich unsäglich lieb. –

Er nahm ihren Kopf in beide Hände und sie preßten ihren Mund aufeinander, als wollte eins sich in das andere flüchten vor sich und der Welt. – –

Du, weshalb lachen wir eigentlich nie? –

Lachen? Lachen? Ja, es ist auch zum Lachen. Hör zu:

Wenn die winterlichen Südweststürme der nordatlantischen Zyklonen kreisen, dann werfen sie die grauen Wogen auch in die Risse und [138] Fjorde Islands. Und dahin ging unsere Fahrt. Ein zerfetztes braunes Oval, wie es auf dem tiefblauen Meer der Karte liegt, mit Basalten und Trachyten bedeckt und über ihm mit Vulkanauswürfen und berghohem Eis, inmitten brausender Stürme und in halbarktischer Nacht – dahin ging unsere Fahrt.

Gemächlich geigten wir den alten Seglerweg entlang, ließen die Capverdischen Inseln und Azoren im Osten liegen und trieben in einer Novembernacht auf Island zu. – In Sturm und Regen lenkten wir in den Faxa-Fjördr und schlugen am nächsten Morgen vor Reykjavik die Ankerpauke. Nun lagen wir da – unser Schiff war gesund und Marga stark und liebesfroh, aber Zwiespalt und bitteren Streit trugen wir mit.

Beim Verlassen des Amazonas hatten wir uns versprochen, die wissenschaftliche Seite unserer Arbeit – die Erklärung Musarions – als beendet anzusehen und uns mit nichts Anderem als dem Versuch der Unterordnung jener Erklärung unter unsere philosophische Formel zu beschäftigen. Da trieb uns auf der Höhe von St. Vinzent der Kanarienstrom einen Tamarindenzweig zu, und sogleich begann Howald [139] die »Klangfähigkeit« des Pollenschlauchplasmas der rotgelben Tamarindenblüten experimentell zu vergleichen mit der der Amöben, die er im Schiffswasser fand.

Nun kann ich alles, was ich mir wünsche, mir auch als ausführbar beweisen, noch mehr, es ist in dem Augenblick des Wunsches schon als bewiesen da und ich genieße es. Aber ich darf dann nicht gestört werden durch eines Andern anzweifelnde Methode, die sich eitel-dumm die exakte nennt.

Und nun kommt mir, der ich auf der langen Seefahrt schon oftmals die erwünschte Unterordnung vollzogen sah, dieser Plumpe und höhnt: Mein Freund, sieh hier den abermaligen Beweis eines Werdens, einer über allen Zweifel erhabenen Tatsächlichkeit der Entwicklung. – Da fährt der Zorn in mich und ich kündige meinem alten Kameraden mit bittern Worten die Freundschaft; und zugleich werden unsere gemeinsamen Freunde uneins, schwanken und ergreifen Partei, der Streit wird »sachlich«, vertieft und verbeißt sich – und so setzen wir unsere Fahrt mit zwiespältigem Gemüte fort.

Und Marga, die sich inzwischen aus Langerweile verliebte, gab sich, ich weiß nicht mit wem [140] – mit einem Gärtnerjungen ab. Aber da der ein Tölpel war und sie erkannte, daß sie in ihm nur eine Laune, meinthalb einen Wunsch ihres Geliebten umarmte, sehnte sie sich in die Arme des Lebendigen zurück. Da aber ein in wissenschaftlichen Zank verbissener Liebhaber niemals bei der Sache sei und eine nur persönliche Versöhnung zwischen mir und Howald zwecklos, eine solche aber von Philosophie und Wissenschaft, wie wir sie hier plötzlich verträten, unmöglich sei, machte sie den Vorschlag, die Angelegenheit als Ehrenhandel zu betrachten und den auf Island auszutragen.

Und damit einverstanden, beschleunigten wir die Fahrt, bis sich im Angesicht Islands die Frage erhob, mit welchen Waffen unser Handel auszufechten sei. Nach einer zerdisputierten Woche vor Reykjavik hatten wir keinen anderen Ausweg mehr als den, die ganze Frage wissenschaftlich anzufassen, d.h. erstens, darzutun und zu begründen, weshalb dieser Streit zwischen exakter Wissenschaft und reiner Philosophie als Ehrenhandel aufgefaßt und ausgetragen werden müsse – und zweitens, aus der Begründung dieser Tatsache zu folgern, welche Waffen zu gebrauchen seien.

[141] Ich gebe das Extrakt unserer Verhandlungen:

Unser, mithin Doktor Erichs und Howalds Wesen und dadurch das ihres Faches charakterisiert ein Ton. –

Wie legen zwei Dinge ihr strittiges Verhältnis zu einander bei, d.h. wie unterwirft entweder eines das andere, oder wie grenzen sie ihre Gebiete gegenseitig ab, oder schließlich, wie heben sie sich beide auf eine höhere Stufe, auf der ihre feindlichen Seiten sich nicht widersprechen? – Durch ein klares und umfassendes Zutagelegen ihrer Eigenschaften.

Und da die im feindlichen Verhältnis zu einander stehenden Dinge im vorliegenden Falle letzten Grundes Töne sind, wie legen sie ihre Eigenschaften am umfassendsten zu Tage? – Durch Erklingen.

Wie nennt man es nun, wenn zwei Dinge zugleich hervortreten, in der Absicht, durch vollständiges Entfalten ihrer Eigenschaften ihr strittiges Verhältnis irgendwie beizulegen? – Kampf.

Präziser und exakter? – Zweikampf.

Wie also beseitigen sie ihre strittige Stellung zu einander? – Durch Zweikampf.

[142] Und was zwang sie überhaupt, ihr unklares Verhältnis zu klären? – Das Gefühl, sich, d.h. ihrer Macht nicht genug zu tun, wenn es bei dem schwächlichen Unklaren bliebe.

Wie nennst du dieses Gefühl? – Ehre.

Was ist also der Zweikampf? – Ein Ehrenhandel.

So legen mithin zwei Dinge ihr strittiges Verhältnis durch einen Ehrenhandel bei. –

Und welche Waffen handhaben sie in diesem? ...

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Welche Waffe benutzt der Stein im Kampf mit dem Wasser? – Die Schwere.

Der Hund? – Den Zahn.

Der Engländer? – Die Pistole.

Also? – Die ihnen charakteristischen.

Und was ist uns, und somit unserem Fach charakteristisch? – Sich in einem Ton zu konzentrieren.

Benutzt werden deswegen was für Waffen? – Töne.

D.h.? – Instrumente.

Was für Instrumente? – Die jedem Ton eigenen.

Was vertritt der Ton? – Ihr Wesen.

Und? – Ihr Fach.

[143] Welche Instrumente sind also zu wählen? – Die jedem Fach eigenen.

Also? – Erich den Dudelsack, Howald die Alarmtrompete.

In ähnlicher, schwierigerer Weise stellten sie den Paukkomment auf, den mir mein Sekundant am Abend nach der exakten Disputation mitteilte.

Folgendes war ausgemacht: Was in der Theorie vonnöten, ist in der Praxis oft Wurst. Dieser Satz gilt auch umgekehrt. – Unparteiische sind Geysir und Oräfa; sie geben das Kommando durch einen kilometerhohen, in der Mittagssonne gleißenden Wasserstrahl und ein unterirdisches Grollen. Sodann dudelt Erich ein Liebeslied, nach ihm Howald das seine. Das Urteil sprechen wieder die beiden Naturburschen: ein höhnisch-unterirdisches Grollen bedeutet Unterordnug des Evolutionisten, eine blaue Dampfwolke Auswischung des Philosophen. Sekundant Howalds ist Merker mit der Bumbumtrommel, meiner ein verkorxter Pfaff mit der Posaune. – Es ist ein Kinderspiel und kommt alle Tage vor –

Dann verließ mich mein Sekundant, und ich legte mich schlafen. Und der Sturm brauste um [144] unser Schiff, und der Wogengott, der tranige, wogentatzige Kerl, saugt ihn ein und speit ihn prustend wieder aus, Eddagepolter auf seinen Lippen und Seemannslachen in seiner verbrannten Kehle. Hoiho! Sturm und böiger Wind. Von Nord und West fährt er her, mein Lieb, und stößt nun über uns hin, ruhelos – was ist Leben, was ist Liebe? Hoiho! Wind und Regen und böiger Sturm! –

Die Nacht ging hin, der Morgen kam, und die Mensur begann. Howald war an Land gegangen, ich blieb auf dem Schiff und sah vor mir die welligen Schneetücher der südlichen Höhn, die Weiden und Birken, die unter der niedrig zwischen gelben Schneewolken herablugenden Sonne dahockten wie phantastische Gnomen und eingepelzte Riesenkinder. Die Unparteiischen gaben das Kommando und ich spielte mein Lied und erzählte vom trüben Winter, von grauen Wolken, die über die dämmrige Erde Flocken streuen, und vom Jüngling, der in diese Flocken, die tanzenden, leisen, blickt und der Liebsten denkt – und sie dann plötzlich dahin fahren sieht, in Pelze gehüllt, die Schellen klingen, die Rosse dampfen, und mit lachenden Augen blickt sie in die stöbernde Weite –

[145] Marga lachte, die Gefährten lächelten, und die verschneiten Weiden und Birken kicherten ihre Schneekapuzen herab: weshalb springt er nicht auf den Schlitten und nimmt sie sich? Der bange, der dumme, der spezifische Träger der Lächerlichkeit – der Mensch! –

Da paukte Merker, und Howald setzte sein Horn an den Mund. –

Und vor mir sehe ich einen sonnenlosen Julitag, der auf einem Exerzierplatz die Zeit verdöst; aber unter den sieben verkrüppelten Akazienbäumen üben sie unentwegt, rühren sie unentwegt ihre Trommel und blasen im gräßlichen Durcheinander ihr ewig gleiches, ewig falsches Signal sich in die Ohren; in den unwirklichsten Dissonanzen, in den quäkendsten, schreiendsten Wehmuttönen schlingen und knäueln sich ein Dutzend hoffnungslose Versuche zusammen zu einer jämmerlichen Apotheose biderbsten Fleißes und ewigen Nicht-Gelingens – das ewig gleiche falsche Signal: oh wie liebe ich dich, scientia, mechanica, mathematica, oh wie liebe ich euch, die ihr mir die sieben Welträtsel knacktet, mir dem Zerschmetterer Kants und dem unendlichen Schwätzer und Enträtseler der Welt – es ist, um in die Wolken zu gehen.

[146] Aber Marga lachte, die Gefährten lächelten, und die verschneiten Birken und Weiden kicherten: warum ißt er nicht? warum trinkt er nicht? warum treibt er nicht Unzucht und schläft? Warum bläst er denn? Aber immerhin: ein pläsierlicher Mensch, ein sapienter Mensch – der lustigste Witz der Welt! –

Da stieg die blaue Dampfwolke hoch und wischte mich weg. –

Das sind mir abstruse Tölpel! Das sind mir Unparteiische! Wie kann man das lieben, mit dem man kämpfen muß Stunde für Stunde, das man unterkriegen muß und kann es nicht, das unser Leben zur Hölle macht, mehr als Hunger und Qual zum jammervollsten Inferno macht! Das mir jeden Tag vergällt, mich kein Ding ansehn und genießen läßt, ohne daß ich fragen muß: was seh ich da? – wie seh ich es? – was steckt dahinter? – weshalb frage ich darnach? – was ist das, wenn ich mich frage? – – Das lieben? Vermaledeite Tölpel!

Als Howald an Land zurück gerudert war, machte er einen Versöhnungs- und Wiederanbiederungsversuch: Philosophie und Wissenschaft gehören nun ein mal zusammen; und bedenke –

[147] Bedenke! Erst wischst du mich nach berühmten Mustern aus und zimmerst dann mit deinen dürftigen Experimenten und Begriffsbrocken eine Welt zusammen und rufst mich zurück, meinen Segen zu diesem Gebäu zu geben? –

Nicht so, Lieber. Bedenke, sind wir nicht nach Island gefahren, um das Ergebnis unserer exakten Forschung unserer Formel unterzuordnen? Das Probieren, Konstatieren, Registrieren dem reinen Denken? –

Denken? Denken? Ich habe das Denken satt! Ich gehe in die Wüste, auf den Vatna Jökull – Denken? –

Dann steckte ich eine Rolle unbeschriebenen Papiers und ein Paket Zündhölzer zu mir, machte mich auf und ging gen Osten in die Wüste; erreichte nach einigen Tagen den Thorsa, von dessen Ufer aus ich den Hekla seine Rauchwolken in den Himmel blasen und die blauen Gletscher des fernen Oräfa herüberspiegeln sah und langte um die Zeit der Sonnenwende im Lande meiner Sehnsucht an –: auf den Gletschern und Eisfeldern des Vatna Jökull wanderte ich.

Und die Menschen, die mir auf meiner Pilgerstraße oder im Lande meiner Sehnsucht begegneten, [148] verscheuchte ich, indem ich einen Bogen des übrig bleibenden Papieres in Brand setzte und ihn schweigend unter ihrer Nase verbrennen ließ.

Mein Trank war geschmolzener Schnee und meine Speise süßgefrorene Ebereschenfrüchte, Moose undCetraria islandica – mein Lager aber war der Schnee, meine Decke der Himmel mit seinen Stürmen und Sternen, und noch manchen Bogen Papieres trug ich: so war ich gegen die schmutzige Not des Lebens zwiefach geschützt und begann nun ernstlich, die Hydraköpfe meines Denkens totzuschlagen.

O hätte ich einen Gesellen gehabt, der mir bei jedem aufsteigenden und aufquellenden Gedanken eine Kopfnuß oder einen Schlag vors Maul gegeben hätte! – Ich hatte Marga gebeten, mir solchen Liebesdienst zu tun:

Nicht denken – ei ja; deswegen brauche ich aber nicht erst in die Einsamkeit zu gehen –

So suchte ich mir einen anderen Gehilfen: das Denken ist ein Verbrennungsprozeß, und darum muß er gelöscht werden, wie der Heilige von Padua seine Liebesglut löschte. Merkte ich also, daß etwas wie ein Gedanke aufflackern wollte, dann –

[149] Haha! das will wieder ein Gedanke werden – warf ich mich kopfüber in den Schnee und kugelte mich in der stäubenden Wolke. Und sagte ich mir dann:

Jetzt wird der Gedankenembryo erstickt sein – Haha! Da ist der Schnee! –

Und nach langen Wochen war ich soweit gekommen, daß ich nicht mehr dachte! O Loo, nicht mehr denken!

Das letzte Sich-Aufbäumen jenes rätselhaften, grausigen Tiers, das ihr Gedanke nennt, klammerte sich an Marga und ließ sich erst nach schwerem Kampf, tagelangem Hinaufkriechen und Hinunterwälzen auf dem scharfen Gletschereis endgültig niederzwingen.

Warum hast du Marga gepriesen und nicht deinescientia? Aus Wahrheitsdrang, so prahltest du, und hast doch gelogen. Warum nur hast du gelogen?

Warum gerietest du mit Howald in Streit? Warum wurde deine Formel so schwach gegen seinen Zweifel, daß du zanktest?

Und warum unterlagst du? Warum zerplatzte deine Formel und wurde deine Welt zerstört, daß du das Denken fliehst? Weil du Marga liebst? –

[150] So weit mußte ich das Höllentier beißen lassen, da packte ich es und rang mit ihm, da begann ich einsam in mondbeschienenen Nächten und an kurzen Mittagen am vergletscherten Nordhang des Oräfa hinaufzukriechen und hinunterzukugeln, immerfort – durch die Spalten und Risse, über den Schutt und die scharfen Blöcke weg – die Sterne lachten dazu, und der Schnee knirschte vor Vergnügen. Da zwang ich das Tier, da zerriß ich es Glied für Glied unten im Eiswasser und Moränenschutt – –

Drei fahle Blitze – jetzt liegt es unter dir – jetzt bist du soweit – jetzt hast du dein Glück – lautlos, unfaßbar, bläulich fern – dann wurde es Nacht, tiefste Stille, tiefstes süßestes Dunkel – nicht mehr denken – –

Wie lange das währte? Eine Sekunde, ein Jahr – hat das Nicht-Denken, das Glück eine Zeit? – – –

Oh Loo, der Wind stößt grimmig über die Heide und aus dem Osten klettert grau und unwirtlich die Nacht – laß uns gehen. –

Aber sie warf sich über ihn und hielt ihn so lange fest, bis die Nacht über ihnen war und sie im Regen nach Hause stolperten.

[151] Osmunda regalis

Im feuchten Gebüsch, auf den Hängen des Landwehrgrabens, breitet der Königsfarn seine gewaltigen Laubwedel aus. Dort hatten ihn Erich und Loo überrascht, wie er aus seiner hohen Rispe die Sporen zur Erde streute. Da hatten sie ein Stück des Lehmbodens, der von den keimenden, ihren chlorophyllreichen Inhalt entleerenden, Sporen wie mit feinem grünen Sammet bedeckt war, ausgeschnitten, um ihre weitere Entwicklung unter einer Glasglocke zu verfolgen. –

Komm mit! – Und sie führte ihn in das Turmzimmer, betrachtete flüchtig ihr Präparat unter dem Mikroskop und bat ihn dann, hineinzusehen:

Er ist reif geworden! –

Die Antheridien des bandförmigen Vorkeims hatten sich unter dem Druck des Deckglases gelöst, und die Spermatozoiden schwärmten aus – drängend, hastend, in einem taumelnden [152] unruhvollen Suchen, bis zwei, drei in den offenen flaschenförmigen Hals eines nahegebrachten Archegoniums eindrangen, um sich mit der tiefgelegenen Eizelle zu vereinigen. –

Hm! –

Hm! Ist das alles, was du hier zu sagen weißt? Sagt es dir nichts? garnichts? –

Nun, das Präparat ist sehr hübsch – alle Anerkennung, liebe Loo. –

Sonst nichts? –

Nun ja, viel und wenig – im Grunde garnichts. –

Wieso? –

Wenn du es wissen willst –: dieser kleine ungestüme Spermatozoid und das offene Archegonium ist das, was wir Liebe nennen. Und dann – wie sage ich es am besten? – kehre den Satz um: die Liebe ist jenes Spermatozoid und Ovum – und die sind Plasmagebilde mit der Funktion der Fortpflanzung. –Es ist ein Schauspiel, ein schönes, gewiß. –

Das ist die Liebe? Das? –

Das ist meine Liebe und deine, ist die Liebe. Frage lieber nicht, was wir aus ihr gemacht haben. –

Nein, nein! Du lügst! Weißt du, du lügst! –

[153] Es ist die Wahrheit. –

Aber ich mag solche Wahrheit nicht. Das ist auch garnicht wahr – du lügst, weißt du – du lügst! Soll ich dir einmal sagen, weshalb ich dich so lieb habe? Weil du mein Leben bist, weil – weil ich dich liebe! Das ist etwas anderes, das ist mehr als das – das da – das ist – – pfui! –

Sie riß die Glasplatte aus den Klammern, warf sie auf den Boden und zertrat die Trümmer mit dem Fuß. Und als er sie beschwichtigen wollte, stieß sie ihn zurück, trat aus Fenster und sah starren Blicks hin aus. – –

Dann lachte sie hell auf, raffte die Röcke und tanzte auf ihn zu:

Heißa! mein Schatz! Gewiß hast du recht. Das ist die Liebe! Wie die Spatzen und Katzen – aber gewiß, das ist die Liebe! Was kann ich dafür, daß ich Mensch bin? Tanze, mein Freund – eins, zwei, drei – tanze! O weh! Was kann ich dafür, daß ich Weib bin? Tanze, tanze – eins, zwei, drei – tanze! Wie die Tagelöhner und Hunde – haha! Oh pfui! pfui! pfui! –

Da fing er sie auf und führte sie aus dem Zimmer, geleitete sie über die Treppe und [154] den Hof, setzte sie in den Nachen und ruderte sie in das hohe Schilf.

Und hier kauerte sie sich zu seinen Füßen, schmiegte den Kopf in seinen Schoß und blickte traurig zu ihm hoch.

Ich sterbe nun bald. Was soll das alles? Das ist ja alles eine große Lüge. Mein Leben ist verpfuscht. – Das Leben ist so schön, o so schön – –

Was redest du, Loo? –

Doch, es ist so. – Weißt du, weswegen ich dir den Farn zeigte? Ach, du weißt es schon. Wenn alles liebt, – nein! ich darf nicht daran denken. – Das Leben ist so schön, mein süßer Freund – so schön wie die Liebe. – Aber das ist bei uns beiden anders, das ist ja alles so über mich gekommen – –. Und darum – sterbe ich. – Oh, das Sterben ist schön. Du wirst mir dein Märchen erzählen – mich noch küssen – –

Dann bat sie ihn in einer ängstlichen Hast, sie an das Ufer zu rudern; und als sie an Land gestiegen waren und er gehen wollte, trat sie an die Efeumauer, hob sich auf die Zehenspitzen hoch und pflückte ein Blatt; das drückte sie ihm in die Hand.

Jetzt gerade! sagten ihre Augen.


[155] Als es Nacht war und der Vollmond schien, und die Sperlinge nur noch leise in ihren kleinen Träumen schilpten, schlich mit wachsbleichem Gesicht der Gärtnerjunge an die Efeuwand und begann mit ungelenken Fingern auf einer Geige zu zirpen.

Sollte das der blaue Enzian sein? – murmelte Erich, wie er in den Armen der Geliebten lag.
Du lügst – sprach da Loo im Traum, dann erwachte sie und warf sich über ihn.

[156] Der dunkelblaue Enzian zum zweiten Mal

Vom nächsten Tag war in Erichs Tagebuch zu lesen:

Morgen ist Kilian! Drei Tage Kilian! Volks- und Schützenfest auf historischer Grundlage! Meine Herrschaften, das muß man gesehen, das muß man gehört haben – jede Nummer gewinnt! Zehn Pfennige Einsatz! Nur zehn Pfennige! Hau den Lukas! – Holla! Böllerschuß und Tschingdara und Zapfenstreich!

Und auf der andern Seite:

Sonntag, den ersten Kilianstag. Drei Schöne habe ich aufgebracht! Die eine zwischen den Gärten; zuerst stahl ich für sie Birnen, dann knöpfte ich ihre Blouse auf und hinter einer Hecke kam sie zu Fall – Winden knüpfte ich um ihre Schenkel; ich wette, sie trägt sie noch. Die zweite fiel am Nachmittag, beim Tanz; [157] ihre Brüste hüpften wie ein Paar Melonen – da führte ich sie ins Korn. Von der dritten komme ich her – die hatte den Teufel in den Beinen.

Und auf der nächsten:

Montag, den zweiten Kilianstag. Heute werde ich saufen gehn.

Und auf der vierten:

Dienstag, den dritten Kilianstag. Als ich meinen Kater vertrunken hatte, geriet ich an einen Ingenieur. Wir saßen auf dem Thron, er hatte eine Rede gehalten und versuchte uns nun mit einer Erklärung der Kilowattstunde zu düpieren.

Zuerst amüsierte es mich, ihm zuzuhören, dann aber mußte ich einer Erscheinung gedenken, die mich zuweilen überfällt: Es stößt mir wohl zu, daß ich mir plötzlich vorkomme als ein wie aus allen Himmeln Gestürzter, daß ich einen Baum, eine Blume, besonders eine Hecke mit fremden Augen und maßlosem Erstaunen, mit einer betroffenen Bangigkeit anblicke und ängstlich zu mir spreche: was ist das?

Ich liege an dem besonnten Abhang eines Hügels und in der Ferne glänzt ein Strom – da fällt mein Blick von den Wolken und Schwalben [158] fort auf die vanilleduftenden Strahlenblüten einer Fetthenne. – Und plötzlich schiebt es sich wie eine Wand zwischen mich und die geschauten Dinge, daß ich sie nun als etwas Nie-Gesehenes, Unüberbrückbar-Fremdes, nie zu deuten Wunderbares ansehen muß. Die Namen, die wir über sie geworfen haben, verfliegen, und ich stehe nun den Namenlosen gegenüber – einsam, unausdenkbar verlassen, in einer unerhörten Welt, von einem rätselhaften Grauen gepackt: was ist das?

Und da erinnere ich mich, wie wir einmal die fetten Blätter solcher Sedumarten zerdrückt und in dem grünlichen Schleim die Chlorophyllkörner und Kerne gesucht haben:

Und das Graue, meine Herrn, ist jenes Plasma, das uns alle aufbaut. Fügen Sie etwas Quecksilberoxydul hinzu – Sie werden sehen, es färbt sich ziegelrot. –

Da haben sie die Pflanze zerschnitten, zerfasert, zerquetscht und verbrannt und haben gefunden, daß dieses Ding da, das sie Sedum telephinum nennen, besteht aus dem und dem, seine spezifischen Eigenschaften sind die und die, und es wächst und blüht dann und dann, und so und so, und da und dort. Derart haben sie [159] es erkannt und als etwas so Erklärtes und Erkanntes ihrem Schema einverleibt; sie kennen seinen Stoff, seine historisch gewordene Form und seine, kausal gedachten, physiologischen Eigenschaften; dieses dann mechanisch-mathematisch geordnet bildet die Wissenschaft über die Knollige Fetthenne, und diese Wissenschaft schließt kühn in sich Philosophie und wenn du willst, Religion, Ästhetik und Politik.

Aber mich trennt in diesem Augenblick eine unüberbrückbare Kluft von dem da vor mir, etwas wie Ehrfurcht und Grauen und das herzklopfende Bewußtsein meiner kläglichen Einseitigkeit, Kurzsichtigkeit, Subjektivität und absoluten Unfähigkeit hält mich gebannt, bis es schließlich mich hinwegstürmen heißt zurück in die schwankend-feste Wortwelt der Menschen. –

Und doch ist dieses Leben und sein Bild, die Gedanken und das Rätsel, die es in mir auslöst, der Ausfluß einer Welt – und doch trennt mich von ihm eine solche Kluft.

Aber ich muß die Wand wegschieben, muß sie überspringen – aber wie? –

Ein Joule ist nun gleich zehn hoch sieben Erg, und ein Erg ist die Arbeit, welche ein Dyn – – höre ich den Ingenieur.

[160] Alles blühender Blödsinn! –

Was? Ich? –

Ja Sie! – Glauben Sie nicht? –

Und zur Bekräftigung und da es gerade Kilian ist, schlage ich ihn ins Gesicht. – Der Thron fährt hoch, die Adjutanten und Kellner springen – doch ich wehre die nächsten ab und verlasse mit dem Gefühl eines genossenen ungeheuren Spaßes das lamentierende Zelt. – Den Abend war ich wieder da, tanzte und trank – der Ingenieur sah mich scheel an und kniff. –

Und auf der folgenden:

Diese vier Tage haben mir gut getan. Keiner wußte, was er von mir denken sollte, da wurden sie beleidigt, und es ward eine große Prügelei. Aber ich fange wieder an, klarer in meiner Welt zu sehen; jetzt noch ein langweiliger Tag und eine tiefe Nacht – dann gehe ich auf Jagd: den alten Gang, nach der Jägereiche zum Enzian. –

Und unter dem Datum des letzten Augusttages schrieb er auf:

Vorgestern war ich unterwegs, und jetzt ist die Beute sortiert. – Es war um den beginnenden Nachmittag, als ich meinen Enzian fand und so lange in seinen dunklen Kelch schaute, [161] bis mir nur noch so war, als sänke hier und da leise ein herbstlich purpurnes Blatt des Faulbaums oder auch das ziegelfarbene einer Zitterpappel zu Boden, als schrie fern vielleicht ein Häher und zögen hoch über mir die weißen Wolken – – –

Mit Hilfe deiner heiligen Dreieinigkeit, mit Zeit und Raum und Ursächlichkeit, du Narr, schaffst du und bist du die Welt.

Deine Zweifel sagen: diese Dreifaltigkeit und die Fähigkeit, durch sie die Welt zu schaffen, ist geworden – folglich dienen sie deinem Bauch und nicht dir, du Narr, und um die Welt zu erkennen.

Was aber zweifelt hier, was fällt hier ein Urteil über ein anderes? – Du über die Welt, wie du sie geschaffen hast und bist – du über dich: kann nun ein Ding über sich – und nicht nur über sich – etwas aussagen, das etwas anderes als es selbst ist? Kann der Geist mit Hilfe der Logik, d.i. durch sich über sich urteilen? zumal – wenn er tatsächlich geworden ist – seine Prinzipien höchst wahrscheinlich nicht geworden sind, um ein Organ einer adäquaten Erkenntnis zu werden? – Und sagst du: Gut, aber die Dinge, wie sie sind ohne meine zutuende Vermenschlichung – was weißt du von denen?

[162] Urteile und zweifle, soviel du willst – so sagte der Enzian – du bleibst in deiner Welt. –

Aber es sagt mir jeder Nerv, jeder Knochen – ich bin heraus aus meiner Welt, ich kenne sie nicht mehr, glaube ihr und mir nicht mehr, traue mir nicht mehr – ich bin mir selber fremd geworden! Ich bin nicht mehr der verbummelte Student, ich bin ein Zwitterding, bin nichts –.

Ja, wenn dich die ganze Gattung, die ganze stiere dumme Herde mit ihrem gemeinsten und verrücktesten Triebe packt, wie willst du da noch eine eigenartige Welt sein? –

Wie kann Liebe so große Dinge tun! Liebe ist – –

Nun, was ist sie? – läutete die kleine Teufelsglocke – du wußtest es; Plasmagebilde, nicht wahr, du Superkluger? Soviele Individuen, soviele Welten gibt es zwar, aber jede ist gleichzeitig ein Teil der andern. Jede ist auf tausend andere verstreut, wird durch tausend andere erbaut und baut mit an tausend anderen und langsam, ihr selber unmerklich, wird sie ihr Eigenes verlieren und sich in ein Produkt der andern verwandeln.

– Siehe den freiwilligen Einsiedler, den eigensten, freiesten Menschen, die in sich harmonischste [163] Welt. Weshalb bist du nicht Einsiedler geworden, Erich? –

Und jetzt sieh Mann und Weib, um die der Geschlechtstrieb sogleich eine gegen andere Einflüsse schützende Ringmauer schlägt – nimm zwei Menschen mit eigenem Geist und machtbegehrlichem Willen und lasse sie in jener Ringmauer zu ihrem Turnier auf einander los: und kommt es nach prickelndem Kampf zur gegenseitigen Modifizierung, verknoteten Abhängigkeit, Zugehörigkeit und schließlichen Unterwerfung eines Teils und haben die beiden an dem Zucken der sie verknäuelnden Fäden ihre Lust – das ist die Liebe.

– Wie konntest du lieben! Du schwächst, auch als Sieger, dein Selbst. Wie sehr bindet der Unterworfene noch seinen Überwinder! – Und die Frage: wer war in eurem Fall der Stärkere? – Du lächelst, aber siehst du nicht schon mit Loos Augen die Welt: liebst du nicht die Welt? Weswegen trittst du deiner Welt gerade mit Liebe gegenüber?

Hier steckt's, hic haeret aqua, hier liegt der Hase im Pfeffer und der Hund begraben – hier wurde deine Welt brüchig und brachen die Mauern deines Hauses ein, daß die [164] Zweifelwinde blasen und wehen und wehe tun konnten.

Was ist aus deiner Sehnsucht geworden? Konnte sie nicht darauf hinausgehen, einmal die Kraft zu erlangen, deine selbstgeschaffene Welt mit kühler Verachtung abzutun? – Und nun Liebe? Was heißt das? Kann ein Ding, wenn nichts außer ihm existiert, sich lieben? Sagtest du nicht: Ich bin die Welt! Die Welt sich lieben? Wo steckt denn das Andere, das sie, um sich zu lieben, von sich scheiden muß? O du Liebender! O du Geliebter! O du Zwitter! O du Hanswurst! –

Uneins ist deine Welt, halb und zerstört, unselig verheddert eure beiden! Da sitzt sie und quält sich mit Sehnen, Seele, Welt und Tod – deinem Spezialfach, mein Teurer, aber unselig lächerlich doppelt verwandelt und verdreht – o hau den Knoten durch, den löst ihr nicht mehr, den löst kein Gott –!

Oder – willst du fliehn? Versuch's. Ein gut Teil von dir, und welch guter Teil, bleibt zurück bei Loo, ist Loo. Willst du als Kastrat in die Wüste ziehn, als Centaur auf die Berge steigen?

Oder – willst du so weiter leben, taumelnd [165] und wankend in Genüssen, die für dich keine Genüsse sind – aber stagnierende Lachen, in denen die Frösche vergnüglich quaken, das Herdenvieh! – und in Stunden der Einsamkeit gequält vom Hunger und Durst nach dir, deiner Ganzheit, deiner Welt – mit dem Bewußtsein, ihn niemals stillen zu können, um dann fluchend zurückzutorkeln in die Lachen – Tier, nur Mensch, nur Mischmasch sein?

Ich hau den Knoten durch, ich hole mir im Tode meine Welt, mein Ich zurück, ich vereinige mich mit mir in meiner Vernichtung.

Dann ist die Formel gelöst; die Welt ist tot, ist nichts und wird nichts sein, wie sie ohne mich Schaffenden nichts gewesen; ist zeitlos, raumlos, ursachlos, ist von Ewigkeit zu Ewigkeit tot. O du großer Tod.

Doch noch einmal wollen wir aufflammen wie ein schönes Licht – dann wird die Zeit getötet, die Ursächlichkeit erschlagen und der Raum gewürgt, dann wird die Formel gelöst. –

Und Loo? Reiß sie mit! – Laß sie leben, was liegt an ihr?

So? was liegt an ihr! – Das, daß die Tiere kommen, die feigen, viehischen Weniger-als-Tiere und täppisch, geil und widerlich in meiner [166] Welt, meinem Erbe wühlen: ihr vorschnarren was Gnädigste ersehnen, bin ich – äh, Assessor Pavian, äh, Graf Schimpanse auf Gabun – – O die Affen! O der Mischmasch! – Loo leben lassen? Reiß sie mit, sie ist deine Welt.

Ich werde auch Loo erschießen. Ich tu's – oder sie mag zusehen, wie sie zur rechten Zeit es selber tut.

Da lachte die blaue Glocke, da nickte der karnevalbunte Herbst mir zu, daß die roten flittergoldnen Blätter aus seinen Haaren stoben – ein Wind tat sich auf, ein Häher schrie – da erwachte ich, riß die Glocke aus und warf sie dem feixenden Alten ins Gesicht: lach du – ich tu's.

[167] Hagebutten

Als nach dem Bade Erich im Fenster lag und in den Abendhimmel blickte, reichte ihm der Postbote einen Brief herauf. Er öffnete ihn, las ihn, zog die Stirn in Falten und sprach zu sich: Ahnt sie etwas, oder macht sie sich selber daran?

Er sprang aus dem Fenster und ging ins Bruch, wo die Batrachier kantierten.

Was hältst Du, hatte Loo geschrieben, vom Traumorgan? Weshalb soll ein Einwirken Verstorbener auf Lebende nicht möglich sein? und umgekehrt? Sogar mein Vater gab zu, dies wäre a priori nicht zu leugnen – oder vielmehr, es sei ein Auswuchs der Schopenhauerischen Trennung von Willen und Intellekt; hätte es damit seine Richtigkeit, so wäre die Frage diskutierbar. Denn das stehe auch ihm fest, daß der Mensch mehr sei als nur eine chemische Verbindung in historisch gewordener Form. Und [168] wie sollte Schopenhauer nicht recht haben: ist nicht die Welt so wüst und traurig?

Wende Dich nicht ab von Deinem blaustrümpfigen Mädchen – o wenn Du alles wüßtest!

Stundenlang allein sitze ich an der Efeumauer oder schaukele in der Hängematte und sehe in den Garten und auf die Teiche mit ihrem Schilf; die Astern beginnen zu knospen, und die Tomaten und Hagebutten werden rot und reif.

An einem solchen Tage – ich hatte Shelley gelesen – war ich in einem Tale Kaschmirs zwischen Rhododendren, Kletterrosen und gewaltigen Primeln – und Du warst da, mein Freund – –. Und wenn das mir Lebenden geschieht, was wird erst kommen – –? Oh, die Welt ist viel seltsamer, als wir gedacht haben. Komm nicht zu mir in der nächsten Zeit – –

Da stand eine bläuliche Flamme, wie ein Kind groß, an der Erlenbuschecke, still und unbeweglich, und die melancholischen Unkenstimmchen läuteten noch seiner und trauriger – –

Es ist der Kosakenkolk, – sagte Erich – und die Ufer des Tobol und die tobenden Burane, die einst in dem runden Schädel lebten, spuken jetzt im niederdeutschen Bruch. Auch eine Metempsychose: [169] einmal in einem verfilzten lausigen Menschenkopf, dann in der spitzen Flamme H2S + PH3 – – Sie nähert sich – sie kommt – sie wächst – spricht da etwas? –

Er riß die Augen krampfhaft auf, dann machte er kehrt und ging und raste in wilden Sätzen nach Haus.


O wie schön ist es, an übergroßer Liebe sterben zu müssen – sagte Loo zu ihrer Seele und blickte mit dem Ausdruck tiefen Glücks in die herbststille Welt – mit einem Lächeln süßer Müdigkeit nach hartem Kampf:

Meine Liebe ist nichts – ist nichts anderes als was die Tagelöhner und Hunde treibt. –

Als so ihr alter Bekannter, der magenfarbige Ekel vor der entwerteten Welt, kam und der Wunsch, ihn zu fliehen, und der Tod mit doppeldeutigem Gesicht lockte und greifbarer und näher wurde, stand er bald als unvermeidlich, als nicht mehr ferne Wirklichkeit vor ihr. Und es galt nun, für ihn Ursachen zu suchen, d.h. das Gerne-Wollen, aber Feige-Sein zu verkleiden in ein übermächtiges Müssen, und dem dann das Harte und Unfreie zu nehmen durch eine moralische oder ästhetische Würdigung: wie gut, wie schön [170] ist es, so leiden zu müssen, so zu leiden. Und die windigsten Ursachen genügen, es genügt eine Phrase, ein kitschiges abgedroschenes Bild:

Wird mir die Brust nicht zu eng und droht mir das Herz nicht stille zu stehen, erfüllt es mich nicht mit unaussprechlichem Glück und kalter Todesangst, wenn er mir seine Liebe gesteht? Wenn er mich mit in seinen Taumel reißt, kommt dann nicht diese Liebe über mich wie ein glühender Wirbelwind, mein ganzes schwaches Leben verbrennend und verzehrend? Bin ich nicht, wenn ich ihn in meinen Armen habe, eine lohende Flamme? Kann sie ewig brennen? – Muß ich nicht darum an übergewaltiger Liebester ben?

Und dann werden diese »Ursachen« vergessen – man traut ihnen nicht recht – und man ergötzt sich an der Schönheit und Erhabenheit ihres Wertes: O wie schön ist es, an übergroßer Liebe zu sterben! –

Dann greift man zu Dichtern, diese Hausapotheke weiß immer Bescheid. Und der Zufall wollte, daß ihr Shelley in die Hände fiel:


»Welch Wunder ist der Tod,

Tod und sein Bruder Schlaf –«


Eine Seele, die auf Wunsch der Feenkönigin [171] den schlafenden Körper verläßt, frei im Raume schwebt und Vergangenheit und Zukunft schaut –!

Sie träumte in die Weite, wohlig, unbewußt –

Ein Traumorgan – die Fähigkeit, sich entlegener Vorgänge bewußt zu werden ohne Vermittlung der Sinne, ungebunden durch die beengenden Denkformen – befreit von der Zeit! Das hatte der Philosoph gelehrt. Und hier löst sich die Seele vom Körper und blickt in die gewesenen und werdenden Zeiten – ein körperloser Geist empfindet! –

Da entfiel das Buch ihrer Hand, und die schon eine Weile starr vor sich hin gesehn hatte, fuhr erschrocken zusammen und blickte hoch. –

Dann streifte sie mit der Hand über die Augen und sagte laut: Ich habe wohl geträumt. – Und dann ging sie auf ihr Zimmer und schloß sich ein, denn das Schwätzen der Leute und der Wind, der in der Esche spielte, taten ihren Ohren weh.

Eine sonderbare Welt! Ich saß an der Efeuwand und war zur gleichen Zeit in den Bergen Kaschmirs und schlug einem Dichter die Harfe – tat ich das? Ich hatte sie in der Hand und stand vor einem Mann, der im Grase schlief. Wer war es? Er war's! Dann spielte ich auf der Harfe – [172] habe ich wirklich auf der Harfe gespielt? Aber dann wachte er auf und hat mich an sich gerissen. – –

Dann war meine Seele hierher zurückgeflogen, wo ich an der Efeumauer saß; und das Bild des Gartens und der Teiche, das während der ganzen Zeit in meinen Augen blieb, kam mir erst zum Bewußtsein, als meine Seele zurück war. Und da erschien mir das alles fremd – die Astern, das Schilf und die Tomaten; und als ich es erkannte, mußte ich lächeln, ich glaube, ich habe gelacht.

Und wenn ich dann tot bin – und mein Geist beginnt zu wandern – –

Wenn den »Gründen« und »Ursachen« das Unangenehme genommen ist, und man sich ergetzt hat an dem Guten und Schönen der noch immer mit Schmerz verbundenen Handlung, wird ihr auch der Schmerz genommen: nicht um ihrer selbst willen, auch nicht des Guten und Schönen, das sie begleitet, wird sie begangen, sondern sie ist zum Mittel geworden: Der Tod nicht Flucht, sondern Übergang zu einem körperlosen und als solchem freieren und reineren Leben.

Und jetzt dürfen sich die ersten »Gründe« und der letzte »Zweck« die Hand reichen und ins [173] Bewußtsein treten: Sterben, um dem unfreien und gemeinen Triebe zu entfliehen in ein ewiges, körperloses Land, in ein Land der Seelen, wo nur die Seele liebt. –

Aber sie wußte nichts von der Komödie, die sie sich selbst gespielt hatte, sondern ging still in den Zimmern, dem Hof und dem Garten umher – mit ernsten Augen und mit lächelnden Lippen.

Damals schickte sie Erich den Brief, er möge jetzt nicht kommen, denn die Astern gingen ins Knospen und die Hagebutten würden rot und reif.

Aber nach einigen Tagen schrieb sie ihm abermals, er möge kommen, denn es sei alles bereit.

[174] Phallus impudicus

Auch Erich steckte mitten in seiner Komödie.

Aber in Ruhe und Ordnung soll es vor sich gehen. Nicht daß am Ende die Leute mir in ihrer furchtsamen Weise vor dem Unverstandenen den Verstand absprechen. – Aber was liegt daran! mögen sie es tun und die Glocken läuten.

Meine Schulden betragen zweitausend Mark; hätte ich ihrer mehr, so wären sie das imaginäre Überbleibsel eines Abendessens oder einer Liebesnacht – der Himmel bezahlt's.

Meine Raritäten und Siebensachen, die mir lieb sind, weil ich sie selbst gefunden und gepflegt habe, mitnehmen kann ich sie nicht – zerstören und zerkrümeln wir's. –

Dann setzte er sich hin, um den Abschiedsbrief zu schreiben. Und da sein Blick dabei auf einen Strauß roter Moschusmalven fiel, den er am Morgen gepflückt hatte, bemüßigte er sich zu der Bemerkung: Oh ihr! Ihr werdet faulen – anrühren wird [175] man euch ja nicht – und den Infusorien ein Heim bieten; das Rad, das öde, rollende Rad! –

Jetzt halt ich es auf – begann er zu schreiben – morgen falle ich ihm in die Speichen, oder es geht über mich hin: es ist eins wie das andere. Drüben in der Heide in dem Kiefernbusch, in seiner Talschüssel, bei dem Birkenmädchen und ihren Wacholdergreisen, da soll's geschehn.


Blickt nicht auf mich so ernst, so kummervoll,

Kopfschüttelt nicht: ach, unser Sohn war toll –


Nanu! – lachte er und riß das Blatt heraus. Packen wir es anders an:

Der Himmel blaut und die Sonne lacht, und wenn man Abschied nimmt, muß man hoffnungsvoll und fröhlich sein – –

Auch das ist nichts – murmelte er und zerriß das Blatt. Das Epitaph eines unglücklich Verliebten. Das Grabgebrumm eines durchgefallenen Kandidaten! Wie kann ich denn ihnen meine Gründe so darlegen, daß sie mein Handeln verstehn! Wie können sie meine Gründe auch nur für einen Augenblick von ihren Meinungen über sie trennen! Sie werden immer in ihren Augen zu den ihrigen, und sind dann als solche für sie unzureichend.

Dann warf er seine Petrefakten und Knochenrelikten [176] in den Mühlenbach und ging den alten Weg und geriet mit der Weile in ein dorniges Gestrüpp, in dem krochen ockerfarbige Schleim- und gallertige Zitterpilze auf modernden Hagedornästen, die an anderen Stellen zerfressen wurden von bläulich-weißem Schimmelbelag und dunkelhutigem Hallimasch; mächtige Konsolen des Zunderschwamms entquollen einer sturmgebrochenen Buche und grünblaue und orangegelbe Flechten siedelten und hingen allerorts; über allem aber thronte wüst und beschmutzt ein verlassenes Elsternnest, und unter ihm erfüllte alles eine fliegenumschwärmte Stinkmorchel mit ihrem beißend aasartigen Geruch –.

Wie sie um den triefenden Phallus gieren und schwärmen –! Ihr Leckerbissen, ihr Ideal – impudicus! Impudice! impudice!

Habe ich Recht dazu? Habe ich keine Pflichten gegen andere? – Pflichten gegen andere sind egoistische Forderungen dieser Andern an mich; nur in diesem Sinne haben sie mir »Gutes getan«, und das habe ich nicht verlangt und nur in meiner Schwachheit angenommen, anstatt es zurückzuweisen. Und soll ich für diese Schwachheit jetzt büßen, indem ich in ihr verharre? –

Habe ich Grund dazu? Treibt mich nicht [177] ein Selbstbetrug, eine Täuschung? Die könnte nur in der Art liegen, wie ich meine Welt anschaue. Und daß die Welt meine Vorstellung ist, und daß diese schöpferische Vorstellung ihr Eigenartiges verloren hat, das ist die Wahrheit. Und ebenso wahr ist es, daß ich ohne eine eigenartige, ganze Welt nicht lebenswürdig leben kann. –

Treibt mich auch keine Feigheit? Nicht das Gespenst: ewig mißmutig, nörgelnd und reuegequält, verarmt und hungernd, ein abschreckendes Exempel und leicht zu erreichendes Mitleidsobjekt: ein verbummelter Student? – In einem Jahr könnte mir der Bauchhaarige den Doktor und der Graf die schöne Erbin geben, und wollte ich es anders, so segelte ich noch in dieser Stunde mit ihr und ihrem Geld nach Indien.

Schreckt mich nicht das Bild, in einer verknäuelten und verkrümelten Zwitterwelt leben zu müssen, einer Welt, die nur zum Teil, und auch da nur meine verzerrte Schöpfung ist?

Nun, so etwas wie einen Grund muß ich doch haben, und diese drohende Zwitterwelt fliehen zu wollen, ist eben mein Grund.

Ist das Feigheit? Wo mir ein Zustand winkt, [178] den Tausende mit dem Gefühl, in ihm das Glück zu packen, empfangen würden?

Aber das sind alles nur Gegenargumente für euch. Ich bin das Einzig Eine, das was fest steht, in dem Alles lebt und ist; alle Welt, der Friedlos hier und die Abendwolke dort, der Sternennebel im Haupthaar der Berenike – ich bin Raum und Zeit, in mir ist alles verbunden durch Ursache und Wirkung, ich bin der große Namen- und Sprachenschmied, in mir ist Chaos und Dissonanz, Ordnung und Harmonie, ich bin das große Doppelgesetz, ich stelle die Rätsel und Geheimnisse und löse sie auf – ich bin das X, bin Gott, All, ich bin die Welt!

Und dann? – Dann ist die Welt tot. –

Wer sagt denn, daß zu meinem Ich nur dies Denken nach den drei Formen und vier Prinzipien gehört? Der Körper ist schon gedacht, existiert nur im Denken, jede Zelle ist nur ein ins Sichtbare, »Stoffliche« umgesetzter Gedanke, Wille – woher weiß ich, ob nicht das denkende Ich sich auch einen ätherischen, ich meine immateriellen, Körper geschaffen hat? Oder umgekehrt, ob nicht gerade dieses immaterielle Wesen das Ursprüngliche ist? Das sich ein Organ in meinem Denken geschaffen hat? So, daß mein [179] jetziges Ich und seine Denkweisen seine Sinnesorgane bilden? Deren Mitteilungen es durch höhere, feinere und mehrere »Denkformen« verarbeitet? Wer sagt mir, daß das nicht so ist?

O, dann bin ich erst recht, erst dreifach recht die Welt.

Und wenn dieses höhere, reinere Ich seiner Organe überdrüssig geworden ist – denn es ist nicht durch sie bedingt, es hat sie geschaffen – und frei wird – und dann beginnt zu fliegen, – frei – zu – fliegen – – –

Sieh, es dämmert, und ich finde mich wieder hoch auf dem Moorrücken bei meinen Porsten und Goldweiden, und es wetterleuchtet – o blitzt nur blau, gedankenschnell und fern: wer weiß, ob ich nicht morgen schon blitze wie ihr, schneller als ihr, schneller, höher – höher als der Gedanke –!

Da nach einer Weile das Wetterleuchten unter den Horizont sank, nahm er Abschied von dem moosüberwölbten See und ging heim.

Einen Abschiedsbrief schreibe ich nicht; sie mögen die peinliche Affaire, zumal wir beide den gleichen Weg gehen, einer unglücklichen Liebe aufs Kerbholz schneiden. Und wo und wie sie meinen Leib finden –: fragt die junge Imago [180] nach ihrem Gewand, wenn sie es abstreift und in die Lüfte sich schwingt? In die Lüfte sich schwingt –!


Nach dem Abendessen wanderte er im Garten durch den schweren Duft der weißblühenden Tabakpflanzen und betrachtete lange den massigen Backsteinbau der Dorfkirche.

So ernst und fest wie für Jahrtausende – und alles Trug, ein süßer, verrückter, boshafter Trug, und heute ein Geschäft.

Aber deinen goldenen Clever Schwan will ich treffen! Das Wappentier über dem Kreuz – so gehört's. –

Und er holte die Pistole und zielte in dem matten Licht der Sterne. Hart und laut hallte der Schuß, und in den Fenstern nebenan wurde es hell – –:

Der traf das Schieferdach, von dem an Wintermittagen der Schnee in den kleinen Lawinen niederrollt. –

Und der ging durch das Kreuz, von dem im Frühjahr die Stare ihre Lieder singen. –

Und nochmals! Die Fenster öffneten sich und die Schlafmützen rissen die Augen auf – –:

Und der traf den goldenen Schwan, wie er [181] durch die braune Nacht hinschwimmt. Und die Schlafmützen knurrten und schimpften –. Dann nahm er einen Gartenstuhl und setzte sich dicht neben die weißen Solanazeen, deren betäubenden Duft er stundenlang in sich sog – über ihm, über den dunklen Dächern und dem schwarzen Turm kreisten lautlos tausend Sterne. –

Das Auge ist noch so gut – murmelte er, als er die Waffe gereinigt und sich schlafen gelegt hatte – und die Hand so fest, daß auch ein ferneres Ziel sich lohnt als diese breite Brust. –

Aber kurz vor dem Einschlummern, wenn die Traumbilder beginnen, die müden Tagsgedanken zu überwältigen, und ihnen das Metermaß und Stundenglas aus der Hand reißen, tauchte noch der letzte müde auf: O, sie wird sterben – sie will es ja. Warum soll sie nicht sterben? –

Dann waren die Tagsgedanken tot, und es kam der Traum durch die Mauer, durch das Zimmer, nahm ihn auf seine Arme und wiegte ihn – fort mit ihm! über die Dächer, die Linden, um den Kirchturm herum – siehst du den Punkt im Schwan? Den Kirchturm hin unter! Tiefer – tiefer – – –.

[182] Der Grünspecht

Am nächsten Morgen kam ihr Brief:

Du Lieber, ich habe Dich unsäglich lieb. Ich bin ganz nur Du, denke nur Dich, fühle und träume nur Dich. Ich bin um Dich Tag und Nacht, ich wiege Dich auf meinen Armen in Schlaf und küsse Dich mit meinen Lippen wieder wach. O wie lange haben wir uns nicht gesehen. Aber Geliebter, weißt Du auch, wie lange wir uns schon vorher gesehen haben und gekannt und lieb gehabt, bevor Du mich trugst über den Bach, schon so lange, o wie lange. Wie wir in Indien waren – wie lange ist das her! – ich Dein Page und Du mein Ritter – o wie die braunen Weiber Dich mir neideten! – wie ich Dir sang in dem einsamen Zelt und die Harfe schlug –, weißt Du das wirklich nicht mehr, Geliebter? Ob Du das noch weißt! Und wie lange wir uns darnach noch gesehen haben – und sehen werden!

[183] Wenn ich gestorben bin und Du die alten Wege wieder wandelst, durch die Weidenbüsche, über die Heidehügel, und es Abend wird und die Nebel ziehn –, dann wehe ich leise zu Dir, und Du merkst mich nicht und ich bin doch um Dich, schwebe immer um Dich durch Heide und Wald –, dann setzest Du Dich nieder, müde vom Wandern und trauriger Sehn sucht voll – und ich schmiege vom Rücken her meine Arme um Dich und drücke meine Lippen in Dein Haar – auf Deinen Mund, und Dein warmer Atem durchweht mich wieder –. Warte nur, warte!

Du mußt nun heute zu mir kommen, Vater ist verreist und Alles bereit. Wir gehen zuerst dorthin, wo die Weidenröschen und Erlen stehn; dann wandern wir in den Wald, wo an der glatten Buche der Specht lacht; und dann über die Heide in das Dorf, wo unter der alten Eiche der Champagner wartet. Und dann trägt uns ein Wagen ins Schloß, wo ich zu Dir tanze als Dein Page im schwarzen Pagenkostüm. Und dann – ach dann –! –

Als Erich kopfschüttelnd den Brief gelesen hatte, schob er eine Patrone in den Pistolenlauf und machte sich auf den Weg.

Auf der Mühlenbachbrücke saß ein Schustermeister [184] und ließ die weißgescheuerten Holzschuhe auf den Zehen baumeln.

Morgen, Examen gemacht? –

Gemacht. –

He is duhn – knurrte er ihm nach und spuckte in den Bach.

Aber Erich ging festen Schrittes weiter und kam nach einer Stunde bei den Schloßteichen an.

Und als er um ein letztes Heckengebüsch bog, flog Loo, dunkelrot gekleidet, wie eine Katze auf ihn zu, riß sein Hemd auseinander und preßte ihren Mund auf seine Brust. Dann hängte sie sich in seinen Arm und führte ihn über die holprige Dorfstraße zum Schloß. Als sie auf der Brücke stehen blieben und den hochrückigen Karpfen zusahen, fühlte sie die Pistole in seiner Brusttasche. Schnell wie ihr Gedanke griff sie zu und zog sie hervor.

Und hiermit will mein Freund sich totschießen? Ach, du dummer Freund! Du hast nur eine Kugel bei dir, und die steckt im Lauf. Soll ich den goldbuckligen Herrn da unten anschießen? Eine Hand darunter oder zwei –

Da krachte der Schuß und goldgelbe Schuppen schwammen auf den kleinen Wellen.

[185] Und jetzt könnte ich sie hinterher werfen – aber sie ist so sauber und blank. Ich werde Kugeln holen – wollen wir Karten schießen? Herzen schießen, rote Herzen schießen? – Weswegen wolltest du dich nur totschießen? Ich komme doch wieder. Ich hol Karten und Kugeln – und dann – gehen wir baden, dummer Heinz! –

Sie eilte fort. – Nun, hast du dein Examen gemacht? Sonst mach's hier! Hinunter! und beiße dich fest in die Laichkräuter und Algen! Wie die Wildente, weißt du noch? – Aber dann schüttelte er den Kopf und lehnte sich über das Geländer und blickte in das trübe Wasser, auf dem junge Enten an den Schuppen, die da noch schwammen, ihre Schnäbel versuchten.

Was meint sie mit dem Wiederkommen? Was meinst du mit dem Wiederkommen? –

Er nahm ihre zwei letzten Briefe aus der Tasche und las sie Wort für Wort.

Das immaterielle, über- und vormaterielle Wesen, das sich unser Denken als Organ gebaut – spukt das auch in dir? Nach deiner Art? Weswegen spuken? Und wenn wir gestorben sind und es ist so? –

Da fühlte er, wie sie sich über ihn lehnte und hörte sie an seiner Wange flüstern:

[186] Glaubst du jetzt, daß ich wiederkomme? – Ich habe dir Kugeln mitgebracht. Karten mit roten Herzen gibt's nicht bei uns, da habe ich ein Buch genommen; das wollen wir zerschießen. Tristan und Isolde – ach lache nicht! –

Da wandte er sich um, – mag es sehn, wer will – hob sie hoch und trug sie über die Brücke –.


Es war Mittag, als sie gebadet hatten und zu der Buche kamen, die da am Rand des Waldes wächst.

Jetzt ist das Buch zerschossen, Loo; und Tristan und Isolde sind wieder einmal tot. –

Lieber, ob nicht die beiden wirklich gelebt haben und noch leben? – nicht als Mensch, ich meine: als Geist, umherschwebend, als –

Als ein immaterielles Wesen – nicht wahr, Loo? –

Und die erzählen nun denen, die ein Ohr haben für Geisterstimmen, ihre Schicksale, traurig-süß. Ließe sich das nicht denken? –

Und eben, wie wir die Geschichte zerschossen, waren sie um uns; sie haben schon heute Morgen dir ins Ohr geflüstert, wir möchten ihr süßes Leben wieder lesen –

Es ist so einsam in der Geisterwelt. – Was [187] werden sie wohl gedacht haben, Heinz, als unsere Kugeln um sie pfiffen? –

Gelacht haben sie. –

Sie hatten sich auf das spärliche Gras und die Moospolster, die aus der Blätterschicht unter der Buche hervorquollen, hingestreckt, Loo dicht neben ihren Freund. Nun legte sie den Kopf auf seine Brust –

Du bist mir noch dein Märchen schuldig. –

Da nahm er ihre Hand und erzählte:

Du weißt, ich wanderte auf dem Vatna Jökull – –

Da klang es: tra–tra–ruuuh!

Der Evolutionist! rief ich und warf mich in den Schnee.

Tra–tra–ruuuh!

Der Evolutionist! ruf ich und rolle über eine Schneebrücke und stürze mit der einbrechenden klaftertief hinab. Ganz langsam und weich schlage ich auf messerscharfen Eisblöcken auf.

Jetzt fängt das Denken wieder an – sage ich, dann legt es sich purpurn über meine Augen. –

Und wer sagt dir denn, ob nicht deine Prinzipien und deine Anschauungsformen nicht nur geworden, sondern geradezu erlogen sind, lebenbedingte Lüge sind von Anfang an? – höre ich [188] Howalds Stimme über mir. In einem grausigen Nest von Unsinn und Brutalität endete mein Liebeslied von Reykjavik. Da habe ich den Evolutionisten an den Nagel gehängt und mich verschworen, dir zu folgen.

Denn du hattest recht; aber deine Formel ist halb, mache sie ganz: Die Welt ist das Vergnügen, das Vergnügen ist die Welt! – Das ist der Weisheit allerletzter allerbester Schluß; eine Formel, die in sich schließt eine Wertschätzung alles Lebens, aller Wissenschaft und aller Moral, eine, die Ja und Nein sagt – Wache auf! –

Und unser Schiff bauen wir um; wollen wir die jetztzeitige Litteratur in Ballen unter seinen Kiel heften? Denn ich will urteilen wie der Oräfa, wenn besagte Jetztzeitige unser Musarion nicht in die Lüfte hebt: kraft ihres geringen spezifischen Gewichtes und ihres enormen Auftriebs wird sie es in ein Luftschiff verwandeln – wir steigen in die Lüfte, wir streichen unsere Geige und werden fliegen, fliegen werden wir! –

Und wir bestiegen unser Schiff, nahmen den Grotesken Riesenbogen und geigten längs den Fär-Öer und Shetland Inseln, durch das Skager Rak, Kattegatt und den Sund auf Greifswald zu. Dort schlugen wir dröhnend die Ankerpauke, [189] auf daß wir an Land gingen, und am nächsten Morgen wurde Musarion von den Eldenaer und Wieker Pferden und Schiffern an Land gebracht und vertaut; wir aber begannen mit dem Engroseinkauf der gesamten schönen und philosophischen Litteratur, die die letzten zehn Jahre an das Licht der Sonne gekotzt hatten; dazwischen hurten und soffen wir und schlugen uns die Schädel ein.

Bis es eines Tages in der Gesellschaft ruchbar wurde, daß unser Schiff beschlagnahmt werden sollte. Auf unsere Erwiderung, die Fähigkeit Musarions, als Luftschiff zu fungieren, beruhe auf der Windigkeit der Jetztzeitlitteratur und habe mit dem Staate nicht das Geringste zu tun, ward uns zur Antwort, gerade Dieses träfe den Staat ins innerste Mark – entweder nicht geflogen, oder verstaatlicht und unter Polizeiaufsicht geflogen.–

Da spannten wir einen Droschkengaul vor unsere zwölf Bücherwagen und jagten nach Wiek; und da wir die Saiten beschlagnahmt fanden, stürmten wir auf die Stadtwache und mit zwölf Pickelhauben nimmt Howald es auf –:

Ei, wozu habe ich meine Quart gelernt? Und meine Terz? Und meine brillante Prim? – Die Saiten her! Und hussa nach Wiek! –

[190] Die Bücherballen sind festgebunden, sie treiben uns reißend hoch, daß die Haltetaue klingen und singen – Pfiffe gellen, Blendlichter gespenstern über den Hafen und brüllend und übereinanderkugelnd wie ein betrunkener Bienenschwarm stürmt die Horde an – unsere Freunde voraus, ein Sprung, die Taue durchkappt, und wie eine ungeheure Granate heulen wir hoch! Kugeln schlagen ein, die Wut und Enttäuschung tief unter uns schreit und wimmert herauf, aber wir haben eine Saite befestigt und streichen unsern königlichsten Bogenstrich, und fort fliegen wir, als machten wir Jagd hinter Sonne und Mond. – Am Morgen hingen wir über den südlichen Ausläufern des Ural.

Wohl hatte bei der tollen Flucht sich jeder von uns gesagt, daß es von jetzt an für ihn mit der menschlichen Gesellschaft zu Ende sei: allen Winden und Nöten preisgegeben, sturmgetragen wie der Vogel in der Luft, allein vertrauend auf unsern königlichen Bogenstrich und kriegerischen Paukenschlag würden wir irren durch die Welt, ruhlos von Stadt zu Stadt, rastlos von Land zu Land – ohne einen Gott, dem wir vertrauen und unsere Leiden als liebende Züchtigung, unser Nicht-Wissen als vorsorgliche Huld [191] zuschreiben könnten, an dem wir verzweifeln und dem wir fluchen könnten, ohne eine Wahrheit, ohne ein Ideal, ohne Gut oder Böse, Schön oder Häßlich, Sünde oder Tugend, ohne Liebe oder Haß, ohne Verantwortlichkeit, Gehorsam, Pflicht oder Mitleid, ohne Gesetz oder Willkürlichkeit, ohne Freund und Geliebte, Mensch, Staat, Familie und Gesellschaft, Ding oder Tier – nur uns und unser Musarion und den skeptischen Herrscherblick über die weite Welt; unsere sonnengewöhnten Augen, unsere Flüchtigkeit und wüstenbraune Haut, unser Nicht-Tier, unsere lohende Lust und grüner Ekel würde uns verraten in der alten und neuen Welt, Jeder könnte uns fassen mit seiner schmutzigen Schacher-und stinkenden Alltagsfaust, uns aus seiner verbrannten Kehle anpoltern und mit seinem nervlosen Jargon anhauchen:

Da ist einer! Da ist einer vom Musarion! Ein Musarione! Haltet ihn! haltet ihn! –

Wohl wußten wir das, aber jetzt schwimmen die purpurn und goldnen Morgenwolken gerade unter uns und lasse die Erde verschwinden, und wir selbst sind nichts denn eine goldene schwebende Wolke – Freiheit! Freiheit! –

[192] Was weinst du, Loo? Wenn du weinen willst, gehe ich allein. –

Gleich einem herbstverwehten Ampelopsisblatt liegen im Abendlicht die gewaltigen Seebecken des Lorenzstromes da, wie wir über der steinigen Nordküste des Huronsees stehen. Mit unsern Gläsern sehen wir hoch am südlichen Horizont die Häusermeere Buffalos liegen und glauben als winzigen Silberfaden den Niagarra stürzen zu sehen – da meldet Howald: um elfeinhalb treten wir zwischen Sonne und Mond-, und wir bleiben über unserer unwirtlichen Küste hängen.

Die Nacht ist wolkenlos und still, nur die Seen unter uns branden unhörbar an den Gneisblöcken und Basalten. Hoch und mit seinen Tychostrahlen wie eine geschälte silberne Nagarunga anmutend hängt der Mond über uns, nur der Orion und der Bär sind bei seinem hellen Licht zu sehen. – Unsere Uhren zeigen halbzwölf, da wird der Ostrand undeutlich und verschwimmend, ein flacher dunkler Einschnitt frißt sich langsam ein, ein rostbrauner Kreisschatten saugt die silberne Apfelsine in sich – langsam, geduldig, er hat Zeit –. Und wie eine Stunde verflossen ist, ragt nur der westliche Rand wie eine schmale [193] gleißende Kalotte über den kleineren dunkelrostroten Körper. Hinter ihm flammen leuchtend die Sternbilder in der dunklen Nacht auf, weißgrau und sternenleer ist der Himmel vor ihm; das Auge beginnt zu flimmern, lange rückwärts gerichtete Strahlen schießen von der halbmondförmigen Silberhaube aus – und jetzt strudelt und rennt das dunkelrote weißköpfige Gebilde wie ein riesiger Algenschwärmer mit scheitelständigem Wimperkranz durch die Welt. – –

Aber im Süden hinter den Seen sind Wolken aufgequollen, ein Nachtwind treibt sie unter uns her und wie zerwühlte Kissen, in denen ein Riese schwer geträumt, liegen sie unter uns; und der Algenschwärmer ist enzystiert, eine braune, tote Kugel taumelt er in die Nacht. – Doch um zwei Uhr Morgens ist er vom Rost befreit und lacht wieder mit seiner pausbackigen Bonvivantvisage in die Welt, unschuldig dumm und süß, als wäre nichts geschehn, – und die Wolken unter uns sind glatt und schwellend wie weiße Betten, die auf ein Liebespaar warten. –

Nun treiben wir langsam über die Alleghanis und das Piedmont dem Süden zu; am Abend hängen wir hoch über den Baumwollfeldern Alabamas –. Da, wie der Rand der sinkenden [194] Sonne den Horizont berühren will, versammelt uns unser Fuchsmajor.

Wenn das Rätsel der Schwerkraft gelöst ist, und, ihr Füchse, es ist in diesem Moment geschehn, – jetzt haben wir die Schere, sie zu durchschlagen, und die Kappe, uns gegen ihre Strahlen zu schützen – ein Sprung in den Raum –! So reißen wir uns los von der Erde und folgen der unter uns rollenden auf ihrer Grenze von Tag und Nacht.

Ein unverrückbarer Standpunkt im Raum: und es eilt die Sonne davon und ihre Planeten in gewaltigen Spiralen: folgen wir ihren glänzenden Schleifen!

Berechnen wir die Resultierende der drei Geschwindigkeiten und Wege, finden wir den absoluten Weg und die absolute Geschwindigkeit, mit der wir unserer überwundenen Mutter im gedankenschnellen Laufe folgen! –


Vor uns den Tag und hinter uns die Nacht,

den Himmel über uns, und unter uns die Wellen!


Da war der von Abendwolken durchwogte Kessel, in dessen Mitte wir gehangen, herabgestürzt und rollt als buntfarbiger Riesenball auf dem Boden einer ungeheuren nachtschwarzen Kugel. Zu unseren Seiten die Sonne, fern, stechend [195] und kalt, und die Sternbilder des Südens und Nordens sind um uns. – Fliegen wir, rasen wir durch den Raum, oder hängen wir fest wie ein Adler über unserer Erde?

Aber wir wollen ihre blauen Meere unter uns schäumen, ihre weißköpfigen Berge vom gelben Tag durch rote Dämmerung in braune Nacht sich wälzen sehen –! Da läßt unser Fuchsmajor uns wie schlagendes Raubgevögel niederstürzen –:

Die Sterne sind erblaßt, Wolken und Himmel flammen und flüchten, Orkane rütteln an unserem Schiff – aber unter uns spielen die Cañons des Rio Colorado, rosenrote Zinnen, Türme und gewaltig ummauerte Basteien, quirlen, kreisen, flüchten in die Nacht, eine bunt bekleckste Palette reckt sich die Yukawüste ihnen nach –, da schießen die steilen Osthänge der Sierra Nevada hoch, weißfirnig kommen sie an, schlagen unter uns in roten Flammen hoch und versinken als verbrannte, dunkelglühende Schutthaufen im Osten –. Ein Wolkentanz! Göttliche, rosige, tanzende, kugelnde, umschlingende und umschlungene Leiber: Bacchantinnen sind's, Meerfrauen flüchtend weiße wilde – – und nun kommt Er! Wie ein gewaltiger wolkenumuferter Strom – der [196] Ozean! Silberfarben aufquellend aus dem fernen Tag, tiefblau unter uns und in Purpurtodesfarben gehüllt in den Schlund der Dunkelheit sich gießend. Acht Stunden lang trinkt sie seinen wogenden Purpur, acht Stunden lang hängen unsere durstigen Augen über ihm. – Wieder ein Wolkenleibertanz über gelben Ebenen, und der Göttliche ist tot. Berge und Ströme, der Kailas und Ganyri mit ihrem blauen Schmuck der heiligen Seen, Bergriesen, Dschungeln und braune Wüsten fahren dahin; Babylon, Golgatha und den Nil grüßen wir; Wüsten und Meere tanzen, der wolkenstürmende Atlas flammt und erlischt, der Ozean rauscht stundenlang – da kriechen die Brackwasser und Sümpfe Georgiens hoch, die abendlichen Baumwollfelder Alabamas träumen wieder unter uns und ein Tag ist hin.

Die Saiten gerefft! Die Pauke geschlagen!

Halb in braune Schatten, halb in bläuliches Licht getaucht, frißt sich der unter uns rollende Globus in den Boden der sternbestickten Nacht – biegt seitwärts in gewaltiger Spirale – jetzt nur noch ein purpurner Stern – jetzt verschwindend im galaktischen Staub.

Die Planeten –! Und auch sie nur Staub, [197] in die Nacht gestreute Diamanten – Straßenkehricht, den ein Wind aufwirbelt und verweht.

Und die Sonne beginnt zu wandern, zu kreisen – und ist auch nur ein Stern wie die andern.

Fest, fester und ruhender als irgend ein Ding der Welt, Giordano, stehen wir im Raum; silberner, flimmernder Schimmelbelag überwächst seine gewaltigen Hohlkugelwände.

Da fangen die kosmischen Bilder an, sich zu verzerren, öffnen sich und treten auseinander, beginnen zu kreisen, zu eilen, zu schwirren wie ein liebestoller Schwarm Leuchtkäfer in einer Sommernacht – und werden größer und gewaltiger, kommen über uns – die Hand am Steuer! – –

Der Sternensturm ist vorbeigewirbelt, verwirbelt, verrauscht – ein silberner Rauchring, den einer in den Äther geblasen – eine leuchtende Linse, die wir in den Raum gerollt – die sich verliert wie ein sinkender Stern.

Das war die Welt, war »das Ungeheuer von Kraft – die feste eherne Größe von Kraft – das zugleich Eine und Viele – das Meer in sich selber stürmender und flutender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr – mit einer [198] Ebbe und Flut seiner Gestaltungen – umschlossen vom Nichts als seiner Grenze –« und wir hängend im Nichts, jenseits der Grenze, jenseits der Welt – . – –

Jenseits der Welt? Und nie wieder in der Welt? – fragte Marga und sah uns leuchtend an; dann trat sie an das Fallreep und verließ sausend als ein Meteorit des Nichts unser Schiff.

Horch Loo, der Specht lacht!

Als uns, die wir im Nichts, in grundlosen Abgründen und raumlosen Weiten und Höhen trieben, der silberne Rauchring wieder begegnete, nahmen wir Musarion die Tarnkappe ab und überließen uns den wogenden Strömen der Schwere und fragten nicht: wohin treibt ihr uns? an welcher Sternenklippe spült ihr uns an? – – –

Als wir nach endlosen Jahren Umherirrens und phantastisch-langweiligen Weltenspuks wieder die Erde unter uns sahen, ließen wir unsere Litteratur wie weiße Vögel nieder flattern und schaukelten wieder auf den Wellen des Ozeans. –

In einer windig-kalten, regnerischen Augustnacht landeten wir an der friesischen Küste; dort zündeten wir ein Windlicht an und begannen laut aus den übrig gebliebenen Jetztzeitbüchern [199] vorzulesen. Da begann das Schiff zu stöhnen und zu ächzen, da schwoll es unnatürlich zu einer gewaltigen wimmernden Kugel an, da hob es sich gleich dem schwangeren Bauch eines Meerweibs aus den Wogen und platzte, als wir eine viertel Stunde gelesen hatten, mit einem kurzen kanonenschußähnlichen Knall auseinander.

Am nächsten Morgen trennten wir uns. –

Nach manchen verloschenen Herbsten erhielten wir von Howald einen Brief, durch den er uns zu dem Abschluß seines Lebens einlud. Wir eilten zu ihm.

Um den flechtenfarbigen Säulenstamm einer Buche gelagert, sehen wir zu, wie der Sommer verbrennt; wie er die Substanzen, die er unter der Sonne zusammengebraut, in der Flamme aufleuchten läßt, um sie dann dem alten qualitativen Analytiker in die Retorten und Gläser zu werfen: und im leuchtenden Gold verflüchtigt das Buchengrün, blutfarben der Faulbaum und knallrot Ebereschen und Vogelkirschen, während auf blendend weißen Dochten sich die schwefelfarbigen Birkenfeuer wiegen und tiefpurpurn wie ein glummender Aschenhaufen im Sumpf der Schneeball glüht.

Hörst du, Loo, wie der Specht lacht?

[200] Wenn der Stab dort, um den der Kreis gezogen ist, den kürzesten Schatten wirft, dann soll es geschehn. Wir aber sind elegisch und schauen die Buchen an; als aber der Schatten unseres Stabes nur noch wenige Minuten Zeit bis zu seiner kleinsten Länge hatte, fing Howald mit einer Art Gebrüll also zu reden an:

Saufen wir! Reden wir nicht! Denn das Reden ist aller Trübsal Vater von Anfang an. Wären wir verbummelte Studenten, wenn wir nicht reden könnten? Buschklepper wären wir und stellten den Dienstbolzen und Schnapsausschänken nach und wären höchstens zuweilen etwas mürrische Tagediebe –in den Momenten, in denen jetzt unser Lamentieren am pathetischsten sich gibt, höchstens etwas mürrische, querkäuzige Tagediebe. In der Sonne lägen wir und brieten uns die Haut braun und schwarz, und unsere ganze Sprache wäre ein Nüstern-Blähen und eine Art stiermäßigen Gebrülls beim Anblick zweier Brüste oder eines runden Hinterteils, oder wäre ein Durch-die-Nase-Schnauben und ein inniges Grunzen wie das einer sielenden Sau. Oh, ihr Füchse und verbummelten Studenten, wir trügen in diesem Grunzen und Brüllen die Lösung der Welt, wir wären das Ding [201] an sich, und die Welt bestände nicht aus Ich und Du, wir würden nicht merken und uns nicht einbilden, die Welt sei noch etwas anderes als Schnapsgläser und Weiberschenkel, der Katzenjammer bliebe uns fern und wir trügen nicht den Buckel der schweifenden Sehnsucht, wir merkten nichts von dem Chaos von tausenderlei Meinung und Lüge, in das wir uns hineingeredet, hineingeschwätzt; da wäre kein Wortefadengewirr, da hätten wir nichts zu entknäueln, keinen Anfang, kein Ende des Wortelügenfadens aufzufinden, da tobten wir uns nicht in metaphysischen Paroxysmen, in abschließenden Formeln und Systemen aus, da brauchten wir nicht wie heute dastehn und unseren letzten feinschmeckerischen Spaß zu haben an uns, die wir die Orientierung verloren, da unser Ich sich in Grammatik und unsere Philosophie sich in atavistisches Geschwätz verflüchtigt hat, da brauchten wir nicht außerhalb und jenseits stehen, da lägen wir da und grunzten und brummten uns mit seligen und kuhäugig dummen Augen zu Grab – oh, ihr Füchse und verbummelten Studenten, saufen wir! Reden wir nicht! –

Und nachdem wir noch eine Weile still und unbeweglich dagelegen hatten und den drei, vier [202] Buchenblättern nicht wehrten, die in kleinen spielerischen Spiralen auf unsere Augen und Körper niederfielen, stieß Howald plötzlich einen brüllenden Klageschrei aus und schoß sich eine Kugel in den Bauch.

Horch doch, Loo, wie der Specht lacht!

Als sein Körper erkaltet war, gingen wir in den Wald, um Reisig für den Scheiterhaufen zu sammeln. Hier aber befiel uns eine sonderbar bleierne Müdigkeit, und ein Drängen und Brausen entstand in unseren Ohren, das uns zu unserer Buche zurückkehren hieß. Und hier betteten wir uns um seine Leiche und wühlten uns tief in die gelben Blätter und schliefen ein.

Oh Loo, horch, wie der Specht lacht!

Da senkte sich vor meinen Augen ein Nebel herab und mir war, als habe ich meine Augen fest geschlossen und sähe doch Marga aus dem Nebel treten; und ich fühlte, wie sie mir Augen und Stirn berührte und mich hochzog an ihre Brust. Ein Luftstrom schraubte uns hoch – da holte sie aus ihrem Busen ein Fläschchen hervor, das duftete nach Ruchgras und welkem Thymian, und träufelte Tropfen auf die Schlummernden. Da hebt es sich wie ein Hauch von ihnen, und ist kein Körper mehr, und hängt sich an uns, [203] wispert, lispert und plaudert um uns, und hebt uns hoch und höher, über die Wipfel und Höhn – und werden wie ein Luftzug, ein Wind – und sind Sturm und brausen durch die Lande zum Meer, und dort verteilen wir uns in alle Winde. –

Hell und klingend lachte der Specht auf und wiegte sich in elastischen Wellentälern über sie hin, die nach einer sprachlosen Weile sich mit wahnsinnswildem Ungestüm in die Arme preßten.

[204] Der Rehbock

Wein, Heinz, Wein! Wir gehen ins Dorf – auf die Kirmes gehn! Tanzen, süßer Heinz! Und einen kalten Fasan mit Preißelbeeren! Und roten Burgunder will ich trinken –

Da schwang er sie hoch und sie umpreßte mit ihren Beinen seine Brust und bog sich weit zurück, und so begann er zu laufen, keuchend, Hügel auf, Hügel ab, bis er häuptlings mit ihr in das blühende Heidekraut stürzte. Aber als er sie ganz entkleidet hatte, entriß sie sich ihm und lief nackt auf die Höhe des Hügels – denn sie waren in einer kleinen Mulde gestolpert, in der das Heidekraut mit zähen Zweigen sich bis über ihre Knie verstrickte. Und die Hände über den Rücken verschränkt blieb sie stehen und genoß ihre Nacktheit und die endlos blühende Heide mit ihrem Mittagsschweigen und ihren abertausend summenden Bienen. Als er sich ihr aber nähern wollte, floh sie vor ihm und raste in wilder Flucht geradewegs [205] auf das Dorf zu, dessen Kirchturm hinter einem blauschwarzen Kiefernwald wie eine spitze Lanze in den Himmel stach. Das Heidekraut zerriß ihre langen Strümpfe, aber ihr Haar blieb fest und es währte lange, bis er die Flüchtige, atemlos gegen seinen Schoß Hinsinkende erreicht und wütend zu Boden geworfen hatte.

Als sie sich wieder angekleidet hatten, gaben sie sich die Hand und gingen weiter, wie ein Geschwisterpaar, das sich in einem dunklen Walde ängstigt. – Bei einem kleinen Birkengebüsch stutzten sie und sahen Rehe in dem spärlichen Grase äsen. Da bat sie ihn um die Pistole und schoß, vorsichtig auf den Knien näherkriechend, auf den ihr zunächst stehenden Bock. Das Tier zuckt zusammen, seltsam matt und dünn hallt der Schuß in die Heide und in weiten Sätzen wippen die Aufgeschreckten über die Hügel hin, dann versinken sie hinter der letzten Purpurwelle. –

Er wird schon verenden – dann gab sie ihm die Pistole zurück und sah mit scheuen Augen zu, wie er in den Lauf eine neue Patrone schob. Als sie in das Dorf gekommen waren, fragten sie sich zu der Vogelrute hin, wo auf einer hohen [206] Stange der hölzerne Vogel saß – ein runder unförmiger Kloben, denn Kopf, Flügel und Schweif sind schon herabgeschossen.

Wenn ich den Königsschuß schieße, wirst du Königin, Dorfkönigin, Spaßkönigin –

Dann ließ er es sich einige Bitten kosten, bis man ihn in die Schützenzunft aufgenommen hatte, tat drei Schüsse und schoß den Vogel herab. Und unter Gebrüll hoben ihn ein Dutzend Kameraden auf ihre Schultern und trugen ihn so unter Hochrufen und Lachen in das Zelt, wo man ihn in einen Gehrock steckte und ihm die Königskette um den Nacken hängte. Loo dagegen blieb in ihrem roten Kleid, ihr wurde ein bunter Georginenkranz aufs Haar gesteckt, Parade wurde vor dem neuen Königspaar gehalten, und dann ging der Zug ins Dorf – die Musikanten blasen und die dicke Trommel knallt.

Und das Pokulieren begann, und bald hatte Erich ein Gelüste, seinen drei Hofdamen die Kleider herunter zu reißen, bald zuckte es ihm in der Hand, seinen Mitpokulierenden mit einem Säbel die Köpfe vom Rumpf zu schlagen, daß das Blut in Springbrunnen in die Höhe schösse und als warmer Regen auf ihn und seine Königin niederfiele; aber er begnügte sich, mit einer feinen [207] bissigen Ironie seine Untertanen gegen sich aufzustacheln und beim Tanz seinen Damen obszöne Dinge ins Ohr zu flüstern – sie waren es zufrieden und wären auch noch mit anderem zufrieden gewesen. Dann aber tanzte er lange mit Loo und seine Blicke vergruben sich schmerzlich in ihre traurigen Augen.

Als es Abend werden wollte, verabschiedete er sich und ließ seinen Thron leer. – Der letzte Tag vor dem Nichtmehrsein, jetzt rüstete er sich, hinzugehen zu den anderen, geschwundenen, fern im Westen hinter den dunklen Wäldern. Er putzte seinen Himmel blank und rein und rundete zart seine duftigen Schäfchenwolken und bemalte sie mit Gold und Rot und strich mit seiner weichen Hand noch einmal über seine Sonne – dann ruhte er aus und legte sich klar und weich zum letzten Male über seine Erde, die närrische Erde, den tollen Stern.

Sie waren in ein Wirtshaus gegangen, das etwas abseits vom Dorf an der Landstraße lag, und vertrieben sich die Zeit und wehrten sich gegen die Zeit, indem sie mit nachdenklichen Augen den Dreiecken und Kreisen zuschauten, die Erich mit einem Stock in den Sand des Gartens [208] zeichnete, bis er plötzlich aufschaute und mit trockener Stimme fragte:

Und nachher? –

Aber da er ihre angstvoll großen Augen sah, blickte er wieder fort und zeichnete seine Kreise weiter. Von ferne kam ein Wagenrollen – da nahm er sein Glas und goß es auf die Kreise aus –:

Eine kitschige Symbolik – aber wir müssen gehen, müssen gehen, Loo. –

Der Wagen hielt, mit zurückgehaltenem Atem hörten sie den Kutscher nach ihnen fragen, da traten sie mit zögernden Schritten aus der Laube und stiegen ein. – Die Laube verschwand, die Linde vor dem Haus und das Zelt mit dem hellen Tuch, – einige Häuser, dann waren sie allein auf dem weiten Weg.

Aber der Luftzug und die Sonne, die hier draußen noch nachmittaghell auf den Wegen und Stoppelfeldern brannte, das Getrappel der Pferde und die roten keck aus dem dunklen Laub hervorfunkelnden Beeren der Eberesche und die gelben schwarzscheckigen um die Räder wirbelnden Blätter der Ahornbäume machten ihr Blut wieder schneller kreisen; die Stoppelfelder lagen da so prall und grell, die Leute [209] grüßten, und die Sonne funkelte und lachte –:

Oh wir leben! Denk doch, wir leben – leben! –

Donnernd polterte der Wagen über die Schloßbrücke, aber die beiden, trunken vor Lebens- und Abschiedsglück, sahen noch immer nur sich –; da hielt der Wagen.

Wir sind da, Loo. –

Der Gärtnerjunge kam auf sie zu und überreichte eine Depesche ihres Vaters, daß er am nächsten Morgen käme.

Es ist gut so – sagte Loo, und sie wankten auf ihr Zimmer.

[210] Die Nacht

Als um einhalbneun die Nacht auf ihren Fledermausflügeln aus der Heide kam und ihren Bruder, den Abend, hinter die Wälder verscheuchen wollte, rief der ihr zu:

Halt ein mit deinen Flatterscheuchen, du Garstige! Ich will deine Neugier kitzeln, du Schwarze. Gib Acht auf das Schloß, das da zwischen den Teichen und Rohrdommelwiesen schläft; auf das nördliche Fenster gib Acht, wo der Efeu sich plustert und die Spatzen schlafen. –

Das alte Geschwätz! Wieviel von deinem Neblerleben soll ich dir wieder schenken? Was hast du gesehen? –

Da verkroch sich der Abend hinter das Dorf, wo die Lichter brannten, und erzählte seiner Schwester, die über den Dächern auf ihren Flügeln hing: Als ich vorhinnen bei dem alten Schloß meine Nebel kämmte, sah ich in dem Efeufenster einen Menschen stehen, der mir bei [211] meiner Arbeit zusah. O, ich kenne die Augen der Menschen! Und der – kennst du noch den Moorbrenner, der da oben in Friesland – oder war es am Haarlemer Meer? – in der tollen Wut sein Kind in den Backofen unter dem Schlehdorn warf? Es war um die Zeit, wenn mir der Höhenrauch meine Nebel verdreckt – – nun flattere nicht gleich mit deinen Scheuchen! denn der Moorbrenner machte auch solche Augen.

Da dachte ich, Der da im Fenster hat dir so oft zugesehn, just wie das blanke Weib, das sonst dort steht: du solltest ihn trösten. Darum flog ich hinter die Wälder, wohin die gestorbenen Jahre und Tage gehen, und brachte von dort einen Nußbaum mit und an ihn gelehnt ein altes, hohes Haus, an dem ein Weinstock bis hoch zu dem spitzen Giebel kletterte. In dem Garten auf dem rechten schmalen Beet längs des Weges waren Stiefmütterchen und Goldlack, links aber standen die Georginen und krausköpfigen Sonnenblumen; und hinter der Weißbuchenhecke kamen die Ginsterbüsche und das Heidebruch, in dem im Herbst der Nebelkönig seine Laken spinnt, und aus dem Heidebruch wurde Buschwerk und märchendunkler Wald. Und da wuchs ein Machandelboom: bei dem hatte er gespielt und [212] eine schöne goldbraune Schlange gefangen. – Dann war er krank; und ich brachte ihm ein helles Zimmer, dessen vier Wände waren weißgekälkt. An der einen Wand gegenüber dem kleinen Bett hing das Bild des alten Kaisers und darunter unter einem Glasrahmen ein vergilbter Bibelvers; auf der Glasscheibe spielte die Sonne mit ihren runden Lichtern, – das sah der Knabe und fragte seine Mutter, die neben ihm am Bett saß: Mutter, was will die Sonne? – Sie will dir Gute Nacht sagen, mein Junge. – Dann küßte sie ihn, faltete seine Hände und ging aus dem Zimmer; das wurde voll von Sonnenschein. – Und dann brachte ich ihm einen Sonntag her – Oh, Schwester, nun scheuche nicht mit den Flatterflügeln! –

Als nun diese Tage und Stunden mit mir gekommen waren, schnitten sie ein traurig Gesicht und wollten Den da im Fenster nicht wiederkennen und gingen zurück hinter die dunklen Wälder. – Als das Der da am Fenster merkte, zerdrückte er eine Träne in seinen gottverlassenen Augen und wollte herab springen und fliehn – aber da trat das schwarze blanke Weib zu ihm und warf sich vor seine Füße. Da lachte er. – Aber sie erhob sich und legte den Kopf auf seine[213] Schulter, und nun sahen mir beide bei meiner Arbeit zu mit ihren gottlosen Augen. Aber als du angeflattert kamst, du Garstige, schlossen sie das Fenster und ließen den schweren Vorhang herab.

Gib Acht auf das Fenster, Schwester, da geht was vor! Erzähle mir drüben, was du gesehn, du Feuchte, Garstige, du Fledermausflüglige! –

Da hob die Nacht sich hoch, und als sie mit gewaltigen Flügelschlägen ihren Bruder vertrieben und nachgeholt hatte, was sie versäumt, huschte sie und kreiste sie acht Stunden lang um das Schloß. Bald hing sie auf ihren Flügeln wie ein Alp über den Dächern und Türmen – bald klammerte sie sich mit ihren Krallen in den Efeu und die Mauerritzen und lugte in das Zimmer, während ihre Fledermausflügel die ganze Wand bedeckten, daß die Spatzen im Schlaf die Federn sträubten, so kalt und feucht waren die Flügel der Nacht, – dann hockte sie auf dem Dachfirst und hüllte sich in ihre Flughäute, die nun so feucht waren, daß das ganze Dach troff, und ließ ihr Ohr zu dem Fenster herabschlottern und horchte – ihre Nase aber schnupperte gen Osten, ob dort der Morgen schon käme, der blanke Affe mit seinem ewig faden Lächeln. –

[214] Da plumpste sie wie ein Stein vom Dach und huschte am Boden hin, über die Bachläufe und Ackerfurchen, Ziegenmelker und Käuzchen hinterher: der blanke Affe war da. –

Schatten flattern auf und ab, Stunden, Tage und Jahre und was in ihnen war. Da zischelt es:

Was hast du gesehn? –

Am Schloß, als ich an der Wand hing, daß die Spatzen schauerten und froren? –

Erzähle! Erzähle! –

Was soll ich Großes gesehn haben! Kennst du das Menschenweib? – Dieses hatte seine Glieder in ein seidenes Kleid gezwängt, wie die Pagen es trugen, – und seinen Buhlen hatte es vermocht, sich in ein Lederwams zu kleiden, wie die Falkeniere sich kleideten. Dann hatte sie verstaubte Weine geholt und Ambra verbrannt. Und während ihr Liebster sich auf ein Lager geworfen hatte, lag sie zu seinen Füßen und erzählte ihm Märchen, schöne Menschenmärchen –, von Djinnen und Genien und wie sie sich vor Jahrtausenden schon geliebt – o wie geliebt! o, schöne schimmernde Märchen. Ihre Augen aber glummten wie die eines nächtlichen Vogels, ihr Gesicht war wie leuchtendes Weidenholz [215] um Mitternacht. – Märchen vom Wiedersehn und Weiterleben als lachendes Spechtpaar im Buchenwald, als Wind und Nebel – o schöne Märchen.

Doch er schüttelte das Haupt. Da entstürzten ihren Augen Tränen, sie raufte ihr Haar und zerschlug ihre Brust. Doch dann hob sie wieder Augen und Arme und sang ihm Märchen, o wilde flackernde Märchen! Und willst du es glauben, Bruder? Da nickte der Tölpel ihr zu und zog sie zu sich hoch. Sie aber zerriß ihr Kleid über den nackten Brüsten und warf den Leib über ihn und umschlang und umkrallte ihn, als wollte sie ihn zerpressen mit ihrer Lust. Und ein Taumel kam über sie, eine Wut wie – was weiß ich, ich feuchte uralte Nacht. – Aber siehst du, Bruder, mit einem Male knickte ihr Körper in ihres Liebsten Armen zusammen, und sie fiel von ihm ab wie ein geschlagener Ast – ihre Augen lohten und brannten, dann schlug ihr Haupt auf die Seite – und das schöne Weib war tot. –

Und er? Erzähle, erzähle! –

Als sie in seinen Armen zusammengebrochen war und ihre Glieder sich lösten und ihr Kopf zur Seite schlug, taumelte er und stürzte von dem Lager zu Boden. Als er sich aber wieder über [216] sie geworfen hatte und das, was er vorher gesehn, nicht glauben mochte, waren ihre Augen schon gebrochen, häßliche, tote Menschenaugen. Da hob sich seine Brust und zerriß das Lederwams über ihr, – – dann sank er neben sie, betastete blind ihren Kopf und drückte dabei ihre Augen zu. –

Und dann? Erzähle! erzähle! –

Und dann? Hast du einen Menschen gesehn, in dem nichts mehr von seinen Göttern und Eitelkeiten geblieben ist, nur der hell schreiende Schmerz, der seinen armen Körper rasen heißt? Ich sah sie oft, wenn ich an ihren Fenstern kauerte, und dann kam es über mich, daß ich meine spitzen Zähne in ihr Fleisch graben wollte und ihnen beistehen in ihrem Schmerz. – Dieser arme Hund kuschte in die Ecke und kroch in sich zusammen, und seine Augen verglasten. – Und als ich auf dem Dachfirst hockte und nach dem blanken Affen ausschaute, und mein Ohr herunterschlotterte, hörte ich ihn nach einer Weile deklamieren:

Nun ja – so sollte es ja kommen – besser konnte es garnicht kommen – jetzt ist es Zeit für dich – –.

Da hörte ich jenes törichte Knacken, wie ich es so oft schon hörte, und ihn weiter deklamieren:

[217] Was zögerst du? – – Hast du Angst? – – Haha! was Angst? was Mut? Bist du nicht das Maß der Dinge, die Welt? Bist du nicht die Welt?–

Da schlug er ein gellendes Gelächter hoch, wie ich es auch schon oft gehört:

Die Formel! Hahaha! Die Formel! Der Gott! Der Irrsinn! – – Bist du es nicht, die mich hierhin gebracht hat? Wollte ich mich nicht vor dir, vor deiner Tierheit und goldnen Verhurtheit retten? – Aber du hast mich gefangen und vergiftet und hast mich zum Tollhäusler gemacht! – Und nun du mich hast, wo du mich haben wolltest, gehst du deinen Weg, verfluchtes Weib! Du Hure! Du Tier! Schlagt sie tot, die Teufelinne! –

Das Alles muß er in der Ecke deklamiert haben, in die er sich gekuscht hatte; aber bei den letzten Worten muß er aufgesprungen sein, denn ich hörte Stühle stürzen und dann den Knall – und darauf ein Geheul, als hätte ich ihn bei den Füßen gefaßt und zerschmetterte seinen Kopf an den Wänden:

Hussa ho! Den Leichenschänder! Schlagt ihn tot, den Leichenschänder! –

Dann brach er durch die Tür mit Fäusten und brüllte in den Flur:

[218] Den Leichenschänder! Schlagt ihn tot, den Leichenschänder! Hussa ho! den Leichenschänder! –

Dann stürzte er über die Brücken und Straßen davon – . –

So? O erzähle! Erzähle! –

Dann kroch er in ein Röhricht und kuschte sich in den Schmutz, wie die angeschossenen Tiere es tun – . –

Erzähle, was wird er tun? –

Da kam der blanke Affe – was ist auch dabei? –

Erzähle –

Doch sie hatte sich schon in ihre Fledermausflügel gehüllt und plumpste tiefer, wie ein Stein vom Dach fällt.

[219] Die Kiebitze

Am Bruchbach, in das Röhricht hatte er sich geduckt, wo die Rispen sich beugen und neigen über den unheimlich raschelnden Blätterdolchen, wo der Nebelregen herabrieselt und durch ihn die Kiebitze gaukeln: Kiuwitt! Kiu-witt! –

Wie die Wellen rinnen – wie glücklich sind die Wellen. – – Aber wie sie hasten und drängen – wie gequält sie sind. – – Aber sie fühlen es nicht – wär ich eine Welle. –

Da treiben sie eine tote Katze an, die Haare fließen in Fetzen von der bläulich schimmernden Haut und die Augen hat eine Krähe verspeist. Nun bleibt sie an den Rohrstengeln hängen und hebt sich an ihnen hoch.

Noch einmal! –

Da lud er die Pistole, hob sie und die Kugel platzte in den aufgetriebenen Balg.

Nun? Was hast du getan? – – – O du feiger Hund! –

[220] Inzwischen wälzte sich der Balg träge auf eine andere Seite, kroch um die Rohrstengel herum, und die Wellen trugen ihn fort. – – – Kiu – witt!

Wär ich ein Dichterhund – nun nun, warum denn Hund? Er ist auch nur ein Lügner. –

Kiu – witt!

Und nun? – – Ho! erwartest du denn so viel von ihm, achtest du das Leben denn so hoch, – und jaulst nun und kriechst in die Ecke, wo es sich einmal näher zeigte und dich kitzelte? Packen, unterkriegen, dich mit Füßen treten ho! mit Füßen treten – arbeiten will ich, fressen, schlafen, schwitzen, Steine hauen, um mich schlagen, Berge schmeißen – –.

Nun, nun – also arbeiten willst du? – Vergessen, betäuben – nicht wahr, du feiger Hund? Willst du stille sein!

Also du willst arbeiten? Willst? Du willst? – Du mußt! Wie der Ziegel vom Dach fällt – du mußt! Wollen? Haha! Notwendigkeit, Notwendigkeit, weiser Doktor! weißt du: von unendlichen Ursachen her bedingt – –. Du fluchst ihr? Du mußt ihr fluchen, mußt deinen Spaß am Fluch haben; du kannst nicht anders – kein Verdienst, keine Schuld – müssen![221] müssen! liebster Doktor! Du kommst nicht heraus.

Und dein Ich? Dein stolzes Ich? Weißt du, was dieses Ich ist? Und deine Seele? Deine fliegende Seele? – Willst du stille sein!

Kiu – witt!

Dann mußt du diese notwendige Satanide lieben? – Es ist der einzige Weg – – Nun, du hast ja immer gelogen.

Und wenn diese Liebe kommt –

Ein Satan hat diese Welt – Kiu – witt! – sich zum Spaß gemacht, sich zum Spaß ein Gefängnis gebaut – kein Entrinnen hieraus, kein Nichts, kein Tod – du kommst nicht heraus – in ewiger Wiederkehr nicht heraus, in ewige Kerkergitter gesperrt und ewig kehrt diese Nacht dir wieder – o zerspringe nicht, armer Kopf, o liebe Knochen, haltet fest! –

Stille, still! Das wußtest du ja längst, das nimmt dir ja die Lust, dir die Schuld zuzuschieben, zu büßen, dich wollüstig-tröstend zu zerquälen, zu zermartern, zu zerfressen – –. Willst du stille sein! –

Und jetzt werden sie dich begraben, Erde auf dich schütten, auf deinen Mund, deine Augen, dein Haar – –.

[222] Colchicum autumnale

Als die Morgensonne steiler geworden war und den Regen und die Vögel vertrieben hatte, wusch Erich sich die Stirn in dem kalten Bachwasser und ging heim, an der Mühle vorbei mit ihren zwei Pappeln und langweiligem Rauschen, an den Teichen, in denen vor vier Monaten die Kaulquappen eine bestimmte Tiefe bevorzugt und sich derart wie ein zitterndes schwarzes Band an den Ufern hingeschlängelt hatten, durch den Tiefen Weg und über die Mittelstraße und stand plötzlich in seinem Zimmer:

Ein Tag? Monde und Jahre faßt ein Tag? Entfernungen wie Länder weit eine Wegstunde? Was heißt Raum, was Zeit! –

Da lächelte er und sagte zu sich:

Jetzt retten, was noch zu retten ist. Mein Kopf ist schwach und eng – aber meine Sehnen sind stark. Ist denn das Leben – ist denn das [223] Leben nur mit dem Kopf zu kriegen? Das Tier schlägt dich unter sich –: ich will Tier sein und will dich unter mich schlagen. –

Darauf legte er einen Zettel auf den Tisch mit der Nachricht, er fahre in den Industriebezirk, um sich selber sein Brot zu verdienen, schlich sich durch eine Hintertür aus dem Hause und gelangte auf Umwegen zum Bahnhof. Dort fuhr er mit dem nächsten Zuge ab, um von der ersten größeren Stadt aus die Strecke zu wählen, auf der er dem heimkehrenden Grafen begegnen konnte. Und als er ihn auf dem Bahnhof eines Kreuzungspunktes in ein Abteil des nach der Heimat fahrenden Zuges einsteigen sah, ging er auf ihn zu, benachrichtigte ihn kurz über das Geschehene und schloß mit den Worten:

So kam es, daß Loo sterben und ich um eine Erkenntnis reicher werden mußte; ich nutze sie aus und werde Fabrikarbeiter. Das ist das Ende dieses Sommers, Herr Graf. –

Daß Sie sich deswegen in den Kittel eines Fabrikarbeiters stecken wollen, ist wohl nicht notwendig. Und daß meine Tochter starb – vielleicht war es ein Glück; sie starb ja im Glück – und was können wir weiter dabei tun, als konstatieren, daß der Mensch einmal so sein fragwürdiges [224] Dasein verläßt und einmal so –: alt und jung, gern und ungern, das gibt vier Zusammenstellungen; wie nennt man's – Permutationen? Eine närrische Welt, zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über sie, sie ist es nicht wert. –

Dann reichten sie sich die Hände. Erich stieg in einen Wagen vierter Klasse unter Polen und Rottenarbeiter, und der Graf in ein gepolstertes Abteil eines anderen Zuges. –

In einem Bergwerk, siebenhundert Meter unter der Erde fand Erich sein Brot; er schaufelte die Kohlen aus den Körben in die Wagen und fuhr sie dann in den niederen Gängen zwischen den gebogenen und geborstenen Holzstempeln, schweißgebadet, durch glühende Hitze und kalten pfeifenden Wind zum Schacht.

Und Loo? Ein Arzt kam und übersah den kleinen blauen Fleck auf ihrer linken Brust, redete von Herzschlag und schrieb darüber sein Attest. Dann begrub man sie; Thujabäume und Trauerweiden standen zwischen dem hohen fruchtenden Gras.

Den Gärtnerjungen, der sich in der nächsten Nacht auf ihrem Grabe entleibt hatte, begrub man dagegen nicht weit von ihr in der Kirch hofsecke.


[225] Stiebende kalte Oktoberregen vertrieben die Klarheit und satte Stille des Herbstes. Wo vorher die melodisch rufenden Zickzackzüge der Kranichheere über die blau-dunstigen Wälder geflogen waren, kreischte jetzt durch Wind und Wolken die Wildgans und zauberte in den Nächten den Wilden Jäger in den Sturm. An einem solchen Tage, dem letzten Oktobersonntag, der Dunst und stiebende Nebel über die kahlen Felder fegte, kam Erich noch einmal ins Land.

Er war schnell aufgerückt in dem hämmernden, rasselnden und dampfenden Betriebe. Jetzt durfte er achthundert Meter unter der Erde unten im letzten schrägen Flöz die glitzernden Steine hauen, durfte viermal des Tags die steile Leiter hundertundfünfzig Meter auf und nieder steigen, den Griff der heißen Lampe krampfhaft zwischen die dumpf schmerzenden Zähne gepreßt – und hatte er dann atemlos die letzte Sprosse erreicht, so preßte der schneidende Luftstrom ihn zurück und warf ihn mit der zuknallenden Tür gegen den nassen salzigen Stein. –

Nun durchstreifte er, von keinem gesehen, die Gegenden, wo ihn jeder Baum und Strauch an die Verlorene gemahnen wollte, an jedes Wort und jede Liebkosung, die da und dort gefallen. – [226] So kam er zu dem Bach, wo sie sich zuerst getroffen hatten. Der Regen fiel und fiel, daß der Bach über die niedrigen Ufer trat und seine trüben Wasser über die Weidensträucher wälzte. Er warf sich achtlos in das nasse Gras und stützte den Kopf in die Hand. Herbstzeitlosen, die in den letzten Tagen in Menge aufgesproßt waren, umstanden ihn. Er reckte sich aus und pflückte einige, und es durchfuhr ihn, hinzueilen und sie auf ihr Grab zu legen. Aber er entschlug sich des traurigen Wunsches:

Wozu? Da ist ein sandiger, regenzerwühlter Hügel, mit welken Kränzen bedeckt, und darunter – –.

Als seine Glieder kalt und steif wurden, stand er auf –

Die Komödie soll ihres symbolischen Schlusses nicht entraten – und ließ die Blumen langsam in den Bach fallen, der sie in seinen trüben Wassern rasch entführte. Er blickte ihnen nach, so lange sie zu sehen waren. –

Du bist ja doch nur ein Komödiant –: Herbstzeitlosen – im schattenbevölkerten Hades ist eure Heimat, und im nebelumbrauten Kolchis kamt ihr durch Zauber auf die Erde, um in unser Land zu wandern, auf niedere feuchte [227] Wiesen, wenn der Oktober seine Nebel braut und aus ihnen seine grauen Regen auf die Erde gießt. O, ihr habt Heimatsinn und wißt, wohin ihr gehört, fremde seltsame Lebenskinder, die ihr eure Liebe selbst unter die dunkle Erde vergrabt und selbst dorthin wieder zurück taucht, geheimnisvoll und fremd, wie ihr gekommen: so seid nun ihr die Blume meines Lebens. –


Bravo! Bravissimo! Holla ho!

Der Dirne geb' ich die Wege nicht frei, Wo Männer raufen, da bin ich dabei, Und wo sie saufen, da sauf' ich für drei! Halli und Hallo!

[228] Das Bergwerk

Träge kroch der Zug durch den Oktobernachmittag und rollte und rasselte unmutig durch den Regen, der seinen weißen, quirlenden Atem zerfetzte und in weißen Brocken auf die Felder warf. In einer Ecke des niedrigen und schmutzigen, hin und her schwankenden und stoßenden Wagens hockte Erich und sah gedankenlos die regenglänzenden Äcker und verschlafenen Gehöfte vorüberziehen – faul und eintönig kamen sie an, faul und eintönig flossen sie wieder zurück in den Regen.

Alle paar Minuten hielt der Zug, und alle paar Minuten schoben sich neue regentriefende Gestalten in den überfüllten Wagen. In schwarzen Klumpen standen sie um ihn, dufteten nach Schnaps und Tabak, und ein widriger Geruch stieg von ihren durchnäßten Kleidern hoch. Aber sie fühlten sich wohl, es war warm und roch nach Menschen und Fusel, und sie konnten sich [229] reden hören; und als ein halbwüchsiger Bursche eine Harmonika hervorzog und aus ihr den neuesten Operettenquark zerrte, und sie gröhlen und mitsingen konnten und Zoten machen, da war Sonntagnachmittags- ach ja Feiertagsstimmung im Wagen.

Er blickte auf sie hin und sah dann wieder hinaus auf die trüb und grau vorüberziehende Welt. Dunkler wurde es, und heftiger schlug der Regen gegen die Fenster.

Aus der Winkelgröße der Rillen, die die herabfließenden Regentropfen auf dem Fensterglase ziehen, und der Geschwindigkeit des Zuges muß sich die Fallgeschwindigkeit der Regentropfen annähernd berechnen lassen.

Und er fing an, auf einem Bogen Papier, in den er des Vormittags sein Frühstück eingeschlagen hatte, Formeln und Zahlen zu schreiben, bis er sich auf die Lippe biß, das Papier zerfetzte und wieder vor sich hin starrte. Plötzlich öffnete er das Fenster und warf Papier und Bleistift hinaus.

Dunkler wurde es, und wie eine Wolke brütete und lastete der Dunst der zusammengepferchten Menschen in dem Wagen, ein trübes Licht flackerte an der Decke und malte die bleichen und alkoholgeröteten[230] Gesichter, die aus dem Klumpen starrten, zu brutalen und geistlosen Fratzen; sie redeten nicht mehr – was sollten sie reden? sie gröhlten nicht mehr – was sollten sie gröhlen? Sie starrten vor sich hin, und weiter ging es durch die Nacht und den Regen.

Die Arme auf die Knie gestützt und den Kopf in den Händen vergraben, saß Erich da.

Vor einem Jahr, oder war's vor zweien? da ging ich mit einem Mädel, wie hieß die noch? an der Saale entlang; den Giebichenstein, an dessen Wand der Efeu im Winde wogte wie ein Kornfeld wogt, gingen wir hinauf, und als wir uns über die Brüstung lehnten und in den Abend hinaus blickten, da sprach sie ein Gedicht – von einem Jüngling, der noch nie die Sonne gesehn hatte und starb, als er sie sah – wie hieß das dumme Ding?

Inzwischen hielt der Zug von Minute zu Minute, rollte und stieß von Weiche zu Weiche, ein Licht nach dem andern huschte vorbei, gelb und verwaschen oder grell und geisterhaft blau – die Industrie nahte. Da wachte er aus seinem Sinnen auf, blickte wie aus einem fernen Traum erwacht im Wagen herum und auf die Lichtkleckse und Regenbogen, die die vorbeihuschenden [231] Lichter auf die Scheibe warfen, dann verdüsterte sich sein Gesicht; er öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. Die Räder stampften und dröhnten rhythmisch unter ihm hin, Ruß und Regen schlug ihm ins Gesicht, und aus dem Dunkel fuhren ihm Schatten entgegen, glotzten ihn mit glühenden Lichtern an und bäumten sich hoch, als würfen sie sich über ihn, und rissen sich wie ein Blitz wieder zurück in die Nacht und hinter ihnen wälzten sich Schlackenberge, unter deren Kruste es noch glummte und glühte, und Erzhalden, die grau und gelb und seltsam stumpf im Regen glänzten, wälzten sich wie ungeheure gläserne Walfische heran, vorbei und die Seilbahnen, an denen die Wagen wie närrische Kinderspiele glitten, drehten sich und kreisten und fuhren plötzlich himmelhoch in die Luft, in die die Hochöfen mit ihren feurigen Zungen drohten und leckten – ein Knäuel wassertriefender schwarzer Vollwerke und kleiner rundkuppliger Türme, die tanzen einen wilden grotesken Tanz, rote Strahlen zischen jäh aus ihnen hervor, sprühen in schimmernden Feuergarben hoch und in Feuer und Dampf hüllt sich die zischende Bande – das stampft und zischt und dröhnt, das wallt von Dampf und Qualm und Rauch und wirft mit [232] seinen wilden Lichtern in die Nacht, die schwarz und drohend über diesem Allen hängt und selbst wie erbost und zuckend über diesem dröhnenden und gellenden Hexenkessel liegt.

Das schlägt und stört die Stille der Nacht – wenn nur die Narren einsehen wollten, wozu? Einsehn? Einsehn? Hab ich noch nicht genug davon! Das hat mit Einsehn nichts zu tun; das ist Geld, das ist Wille und Macht; das ist der werdende Krieg, hier wird er geboren, der sich selber noch nicht kennt, bis er eines Tages Mann geworden und ausbricht tobend, brüllend, ein höllischer Taifun! Wie das flammt in der Nacht, wie das mit seinen breiten Lichtfäusten in den Himmel schlägt und lacht! Wirf dich hinein, tose und rolle mit, nicht rechts, nicht links – geradeaus! Ein Zahn in einem Rad dieser brodelnden Höllenuhr, die da Lichter und Donner in die Nacht wirft, ist mehr als der schillerndste Gedanke und die tiefgründigste Erkenntnis. Schlag zu! Werde Eisen und Wille und Zahn! Eisen, das ist's; gefühllos, skrupellos, nicht rechts, nicht links, ein Hieb, ein Schlag, ein Glühen! Eisen, das ist's, Geld, Gold – Krieg!

Bravo, alter Zaubermeister, nun lüge dir wieder vor, daß das, was du nicht ändern kannst, [233] wozu dich bittere Not und Verzweiflung und Flucht vor dir selber treibt, das Allerschönste und Allerwahrste ist. Du bist auf dem besten Wege dazu, du bist und bleibst Hanswurst, du Narr und Wahrheitsfatzke. Was nichts ist als Arbeit und Not, nichts als hetzendes und gehetztes Geld, das – schlägt mit seinen schönen breiten Lichtfäusten in die Nacht, das ist ein Zauberhexenkessel, wie's auf der Bühne und im Märchen steht – o du Schönheitsfatzke und feiger Patron!

Aber seine Augen mochten sich nicht trennen von dem Glühen und höllischen Leuchten. Dann lachte er hell auf und warf sich zurück in seine Ecke und wußte nicht, sollte er sich nachher betrinken oder sich gleich aus dem Wagen werfen. Auf einem schmutzigen kohlenstaubschwarzen Bahnhof stieg er aus und drängte sich robust durch das Geschiebe trunkener Bergleute und Polen ins Freie.

Er hatte nicht weit zu gehen; er hauste mitten drin in dem Dröhnen, dem Qualm und Schmutz. Vor Jahren hatte da ein ärmlicher Kohlgarten um einen noch ärmlicheren Kotten sein verschlafenes Dasein gefristet; aber während das Eisen und das rollende Geld ins Land kam, und seine Nachbarn ihr Stück Boden zu klingender Münze [234] gemacht hatten, blieb der Philemon dieses melancholischen Kohlkottens fest und sah geruhig zu, wie die Schlote und rauchenden Öfen ihm näher rückten und ihn schließlich umkreisten und umqualmten. Und als er starb, ließ man die zusammenbrechende Hütte stehen, man vergaß sie, und hier schlug Erich sein Heim auf. Im unteren Stock hauste eine Polenfamilie, oder waren's ihrer zwei? Er wurde nicht klug daraus; wie er auch nicht klug daraus wurde, zu wem der Haufen dreckiger Kinder gehörte, der da ewig lärmte und sich balgte. Sie wußten's wohl selber nicht, falls es zwei Stammväter und Mütter waren, sie hatten ihre Zeit um zwei Jahrtausende zurückgedreht und lebten in ewig sich prügelnder und ewig sich im Schnapsdusel versöhnender Güter- und Weiber- und Kindergemeinschaft. Die oberen zwei Giebelkammern bildeten sein Quartier und das zweier Bauernsöhne, die ein Jude und ihre Spekulationswut von ihrem Höfchen vertrieben und der Kohle in den Rachen gejagt hatte. Sie hatten sich eines Sonntags eine Polin heraufgeholt, die ihnen Bettgenossin und Aufwärterin wurde und ihnen des Morgens die Henkeltöpfe mit Kartoffeln und Fleischbrocken füllte – was war dabei?

[235] Es ist Sonntag heute, ach ja Feiertag, und Feiertag heißt Glück, und die Quintessenz des Glücks ist Schnaps, eine Harmonika und, wenn es sich selbst übertrumpft, ein Grammophon. Vielleicht sind sie aber gesunder als ich, dachte Erich als er die unbeleuchtete und brüchige Leitertreppe hinaufstieg und das Dudeln einer Harmonika und patriotische Krächzen eines Grammophons an sein Ohr klang, vielleicht war ich nur krank, mein ganzes Suchen eine fixe Idee, ein Krampf meines Körpers, dem die Arbeit fehlte und der sich da in theoretischen Paroxismen erging. Die da sind glücklich, sind Tier wie's sich gehört – wohlan! werde ich Tier. –

Als er in das Zimmer trat, sah er auf dem Tisch in einem winzigen Holzbauer einen Kanarienvogel hocken und mit ängstlichen Augen in das Licht blinzeln und auf das Heer von leeren und halbleeren Bierflaschen, die rings um ihn aufgefahren waren; der Schnaps fehlte nicht, und auf der Ecke des Tisches schnarrte neben einem Strauß knallroter Papierblumen das Grammophon einen Parademarsch.

Da feiert einer seinen Namenstag; sie haben auch Gemüt, was willst du mehr?

Er legte einen Taler auf den Tisch, setzte sich [236] zu ihnen und machte mit. O, es ging hoch her; und die beiden Dirnen sahen nicht übel aus, breithüftig und jung und zu allem bereit. Er redete irgend was und trank und blickte dann wieder starr auf den verschüchterten Vogel. Was plustert der gelbe Spatz sich auf! Was denkt er wohl von uns! Aber sie lachten ihn aus und die Burschen füllten von neuem sein Glas. Da zog er eine zu sich heran, ihre Bluse war offen, da fuhr er mit seiner Hand hinein und legte sie um ihre kräftige Brust und sang und trank und merkte, wie er betrunken ward und doch nicht vergaß.

Als gegen Mitternacht die beiden Dirnen verschwunden und die beiden Burschen mit ihrer Polin in das Schlafzimmer getorkelt waren, machte er auf dem Sofa sein Lager zurecht, streckte sich hin und starrte ins Licht. Der Kanarienvogel hatte sich noch mehr aufgeplustert und blickte mit bangen Augen bald in das Gesicht des Menschen, der da auf dem Sofa lag, und bald in das blendende Licht.

Sie starrten beide so lange ins Licht, bis Marinka aus dem Verschlag trat, in dem sie sonst mit den Burschen schlief; sie hob wie geblendet die Hand vor die Augen und machte sich nichts daraus, daß ihr das Hemd von der Schulter sank.

[237] Das fehlte noch. –

Und er rief sie mit heiserer Stimme zu sich. Da setzte sie sich zu ihm und er streifte ihr Hemd vollends bis zum Rock herab, dann löschte er ängstlich das Licht.

Als er am nächsten Morgen aufwachte, lag der Kanarienvogel tot in seinem Bauer. Da nahm er den Käfig und warf ihn aus dem Fenster –:

Nun mögen die Bälge von unten sich an ihm traktieren. He! Marinka!–

Als er dann von ihr zur Grube ging, füllte sie dankbar seinen Henkeltopf mit den besten Stücken. So war ihr geholfen; denn sie hatte nun auch den zum Geliebten, der sich bis jetzt gegen sie gesträubt hatte, und ihm; denn er bekam von den dreien das beste Essen. Er bemerkte es wohl und hinderte es nicht.

Aber nach einiger Zeit verließ er sie und ihre beiden Genossen, da er keine Lust hatte, sich an der Auseinandersetzung über die Vaterschaft an dem Kinde, das Marinka erwartete, zu beteiligen.

Ich habe noch nicht den Mut, eventuell meinem eigenen Kinde in die Augen zu sehen, meinte er. Marinka und die andern beiden lachten ihn aus, aber er ging und mietete sich bei irgend einer Witwe ein und lebte mit ihr.

[238] Denn die Dirne gehört mit zum Schnaps, soll das Glück vollkommen sein. Es ist ja nicht gerade Glück, es ist so, als wenn man einen brennenden Stollen zumauert, damit die Glut nicht ins Freie dringt und Unheil stiftet. Aber hinter den Mauersteinen brennt's noch jahrelang, immerfort – wehe, wenn es die Mauern zerreißt und ins Freie schlägt! Aber ich werde es schon bändigen und eindämmen, ich werde schon Stein auf Stein über mich schütten.

Doch nach einiger Zeit verließ er wieder dieses Weib, er wechselte oft. Denn sie liebten ihn alle. – Ich bin noch immer auf der Flucht vor mir, es fällt erbärmlich schwer – und dann schloß er sich in seiner Weise irgend einer Dirne oder einem Lumpen an. –

Inzwischen ging die Zeit dahin, und der Winter spannte schon wieder gelassen seine sternhellen Nächte über das rauchige Land, das da zwischen Ruhr und Rhein seinen Boden zerreißt und seine Menschen zu Sklaven und Maulwürfen schlägt; er kommt ungern von den Feldern und Wäldern des Ostens hierher, aber jetzt hing Nacht für Nacht sein diamantenfunkelnder Deckel über dem brodelnden und zischenden Hexen-Gold-Kessel. Böse Nächte waren das für Erich, er [239] mochte die Sterne nicht sehen und zog die Stirne kraus oder sang laut ein Hurenlied.

Aber eines Tages hielt er es nicht mehr aus, sondern setzte sich hin und schrieb einen Brief, in dem er den Eltern seine Vermählung mit einer aus dem Arbeitshause entlassenen Dirne mitteilte.

Wahrlich schwer fiel diese Lüge, sagte er, als er den Brief besorgt hatte, aber es soll das Weihnachtsgeschenk sein, das ich mir beschere. Denn jetzt soll die letzte Brücke brechen – wir halten den Damm schon fest! –

Dann lachte er vergnügt, pfiff ein Lied und ging seinen Weg.

Und wirklich, wenn er jetzt des Nachts seinen Arbeitsweg ging und über ihm die Sterne blinkten, sah er sie nicht und dachte nicht an sie, die ewigen Versucher und Verführer zu den Abwegen und Abgründen des Denkens, sondern dachte an das Leid, das er durch jenen Brief geschaffen hatte. Lieber grub und bohrte er in seiner Wunde, als daß er des Rätsels der Gravitation gedachte, an das sich für ihn sogleich der ganze Teufels-Rattenschwanz uralter Rätsel und aller Lösung lachender Fragen schloß. Ich halte den Damm schon fest!

[240] Und er hielt ihn fest, bis auch durch diese Welt von Kohle und Eisen und Geld und wieder Geld das Kinderlied von Weihnachten betteln ging.

Um zwei Uhr Mittags war er mit seiner Belegschaft zu Tage gefahren und schlenderte nun am Heiligabend durch die Straßen, von einer bösen Unruhe geplagt. Die Fabriken ruhten, nur in den Hochöfen schmolz der Koks das Eisen, und der Schnee, der am Vormittag gefallen war, blieb auf den Dächern liegen und hing an den Schloten, ohne wie sonst gleich von einer schwarzen Ruß- und Staubschicht bedeckt zu werden. Auf den Straßen ward er zu einer schwarzen glitschigen Masse, aber er gefror schnell und zerbrach dann klirrend unter dem Fuß. Der Himmel klärte sich auf, er hing gelbgrün und von braunroten Wolken durchflogen über dem fremdartigen Winterbild von verschneiten Zechen und Schloten und verhieß eine klare und kalte Nacht.

Vor einem Schaufenster stand Erich, er lachte laut, als er sah, daß es ein Juwelierladen war.

Soll ich ihr was schenken?

Das war ein sechzehnjähriges Mädel, das er für die Tage, die seine Witwe verreist war, zu sich genommen hatte.

Das fehlte noch! Schenken, um sich an der [241] Freude der Beschenkten zu freuen! Einem andern eine Freude machen, um selbst unter dieser Freude zu leiden, das war etwas. Nein, dann würde man sich noch über sein Leiden freuen und sich darauf etwas zugute tun. Man kommt nicht heraus, verflucht.

Und er bohrte die Hände in die Taschen und schlenderte weiter, bis er ins Freie kam; und hier rastete er erst, als er vor sich mitten im Felde die Reste eines Dorfes sah, das wegen Einsturzgefahr verlassen war. Zerfallene Häuser, herausgefallene Fensterladen und eingestürzte Mauern, Schutthaufen und mit Wasser gefüllte Senkungen, und über Allem Schnee und Winterhimmel. Die Sonne aber hatte gerade mit ihrem unteren Rand den Horizont erreicht und rosa Schatten über den Schnee geworfen.

Nicht weiter, Lieber! Das spukt und gespenstert hier wieder nach Schönheit und Wehmut, und du weißt, welche Teufel dahinter auf dich lauern. Hüte dich, geh heim, süßer Hanswurst.

Doch er trotzte und lehnte sich an eine Weide, die da stand, und sah der Sonne zu, wie sie unterging, wie der Himmel bleicher wurde und bläuliche Schatten über den Schnee liefen. Ein Hund, den Hunger oder Erinnerung trieb, [242] strich in diesem Augenblick um das verlassene Dorf.

Oh, ich habe nie mit ihr zusammen den Schnee gesehn! Ich habe nie mit ihr – – willst du heim, du toller Hund!

Da machte er kehrt und lief zurück und ward ihr Bild und ihre Augen erst los, als er für einen Augenblick in eine Schenke trat; dann schlenderte er weiter und ging nach Haus. –

Ei, Konkubinchen ist ausgeflogen, das Nest des Weihnachtsprinzen ist leer. Träumen wir von ihr, träumen wir von euch beiden, von der da draußen im toten Dorf, um das der Hund streicht, und von diesem Hürchen, das fortflog wie ein Vogel, den ich mir gefangen. Träumen wir von zu Hause, vom Weihnachtsbaum und Mütterlein, träumen wir von Sonne und Sternen und blinkenden Rätseln. Vom Bergmann wollen wir träumen und von der pfründigen Professur, vom Schläger – ei ja, ich schwang den Schläger gut, doch jetzt wurde ein Schlegel daraus; vom Grafen und Porst und der Nachtigall, o von dem grauroten Schloß und von Sternen und Rätseln, o blinkende Sterne!

Da erblickte er in einem Spiegel, der ihm gegenüber hing, sein Bild und nahm ihn von der [243] Wand und warf ihn gegen den Ofen, und es dauerte nur eine kleine Weile, da hatte er die Töpfe und Gläser, die da zu finden waren, zertrümmert und hatte seinen grimmigen Spaß dabei gehabt.

Jetzt wollen wir dem Konkubinchen Geschenke kaufen.

Und er kaufte ihr ein, soviel er tragen und zahlen konnte, doch wie er seinen Einkauf heimbrachte, war das Nest noch leer. Da machte er sich auf die Sohlen und suchte sie und fand sie in einer Spelunke am anderen Ende der Stadt, wo sie sich einen Spaß daraus machte, zwei junge Burschen gegeneinander auszuspielen und sich von ihnen betrunken machen zu lassen. Er setzte sich an einen Tisch nebenan und sah nur einmal zu ihr hinüber, gerade in dem Augenblick, wo sie ihm zum Trotz den einen ihrer Kavaliere umhalste. Dann bezahlte er sein Getränk und ging. Aber er war noch nicht weit gegangen, als sie ihn eingeholt und ihren Arm in den seinen gehängt hatte; sie sprachen kein Wort, aber im Gehen fühlte er, wie sie ihre junge Hüfte gegen die seine schmiegte.

Ich will denken, ich wäre um drei Jahre jünger, und sie trüge statt ihres Fähnchens ein [244] blauweißes Kostüm, das ich ihr von meinem Kolleggeld gekauft habe.

Dann spielte er den Verliebten und wurde dabei selbst verliebt, und als er sie die Treppe zu seiner Stube hinaustrug, wußte sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Dann zeigte er ihr die Geschenke und war den ganzen Abend wie ein Student, der fern von der Heimat mit seinem Ladenmädchen Weihnachten feiert. Als es kalt wurde und der klingende Frost seine Eisblumen und -Palmen ans Fenster warf, entkleidete sie sich, und es war dabei eine Unruhe und Erwartung, der die Süßigkeit des Verbotenen anhing. Und auch darauf war er nicht der brutale Narkotiker, der Vergessen sucht, sondern es schien fast so, als habe er sich und ihr eine Freude machen wollen.

Aber als sie in seinem Arm schlief, da war zwischen den Wedeln der Farn- und Palmbäume aus der Sigillarienlandschaft, die da am Fensterglas wuchs, eine Lücke geblieben, und durch diese Lücke sah man den Nachthimmel und einen einzelnen Stern. Der lockte ihn von dem warmen Mädchenleib fort in die Nacht. Behutsam schlich er von ihrer Seite, kleidete sich an und ging. Den Stern hatte er verloren, aber an seiner [245] Stelle lockten ihn unzählige. Er eilte, und der Schnee knirschte unter seinen Füßen, er wußte nicht, wohin er ging, und er fand sich plötzlich wieder inmitten der zerfallenen Häuser und Schutthaufen des verlassenen Dorfes, um das am Abend der Hund gelaufen war. –

Der Schutthaufen, der dort aus dem Eis ragt, das die wassergefüllte Senkung überzogen, ist mein Thron und Altar. Einstürzende Häuser lauschen mir, aus Fenstern und Türen der verlassenen blicken Dunkel und Trostlosigkeit mich an. Schnee bedeckt sie und bedeckt das Feld, das diese Verlassenheit und ihren Thron in sich schließt. Es schweigt wie bei Toten, nur der Wind heult und klagt. Wie ein schwarzer Saum dehnt sich im Süden die Stadt und der Hütten und Zechen Gewirr und gleich nie ruhenden Wächtern leuchten die Hochöfen in die Nacht. – Besteig ich den Thron! –

Er glitschte hinüber über das Eis und setzte sich mitten auf die Höhe des Schutthaufens, der von dem Schnee wie mit einem Altartuch bedeckt war.

Die Wolkendecken zerriß und vertrieb der Wind, und schwindelnd blicke ich mitten in das Rätsel des Seins. In Milchstraßen und Sternbildern lodert's an mir vorüber und treibt mich und [246] reißt mich durch seine funkelnden Nebel in Zeitlosigkeit und Raumlosigkeit. O, ich weiß, was ihr wollt! Ich weiß, wohin ihr mich lockt, wozu ihr mich mit eurem funkelnden Schweigen verführen wollt! –

Lang streckte er sich über das verschneite Mauergetrümmer hin, und sein Auge verlor sich in dem Silberstaub, der da Punkt an Punkt den Himmel überwachsen hatte. Eine Stunde verrann und war nichts, denn ein blauschwarzes Dunkel, in das eine Hand silberne Funken gestreut, war nichts, denn ein sternenbestickter Hohlraum, durch dessen unermeßliches Dunkel eine Erde flog. Dann erhob sich der Einsame auf seinem Schutthaufen inmitten des Eises und hob kniend halb abwehrend, halb flehend die Hände hoch:

Glück und jeglichen Erdengenuß nahmt ihr mir, ihr locktet mich auf Wege, die zum Wahnsinn führen und Fluch, und die ihr Opfer nicht lassen aus ihrem höllischen Zauber. Seht, nun bin ich zum Tier geworden, zum Weniger-als-Tier, das Rettung vor sich sucht in Straßenfreuden und Straßenschmutz. Nun laßt mir dies! Laßt mich Tier bleiben und lockt mich nicht fürder mit eurem blinkenden Zauber und höllischen [247] Rätseln – laßt mich nicht wahnsinnig werden, ihr ewigen Götter! –

Der Wind ist kalt und heult wie ein hungriger Wolf in der Nacht, und wie sie blinken und blitzen wie kalt, wie kalt – und ihr seid doch durch mich! Seid nichts ohne mich! Blinkt nur – ich blinke in euch. Funkelt nur – ich funkle in euch! –

Da warf er sich vornüber in den Schnee, und da er auf der Höhe des Schutthaufens lag, hing er beiderseits herab wie ein Toter.

Aber als er wieder aufstand und hoch auf seinem Schutthaufen die Faust zum Fluch gegen die Sterne hob, hörte er ein Lachen hinter sich und da er sich umwandte, siehe, da tanzte in einer Höhe, die wohl ein Kirchturm hat, ein bläuliches Gewirr von geometrischen Figuren und mathematischen Symbolen. Das schwirrte und raste um sich, sinnverwirrend. Dann wandelte es sich mit einem Male gemächlich in einen phosphorfarbenen Kreis, in dem ein Quadrat hing. Der Wind aber hatte inzwischen sein Heulen unterbrochen und die Nacht schwieg wie erstarrt. Da hörte er es sprechen:

Wir sind durch dich? Sieh her, das hast du geschaffen, ohne daß Auge oder Hand oder irgend ein Außending es dich gelehrt. Das bist ganz du, [248] nun komm und enträtsele dich. – Du Narr! Oho! Du Dreiteufelsnarr!!

Dann knallte es wie ein Flintenschuß und ward eine rollende Dampfwolke, wie die Krone einer jungen Linde groß, und höhnte und lachte und stürzte sich auf ihn – hoho! du Narr!

Er aber zog den Kopf in die Schultern und lief wie ein Hase dem schwarzen Streifen am Horizont zu und hatte ihn in mehr denn Windeseile erreicht. Als er in die erste Straße einbog und den ersten trunkenen Nachtschwärmer sah, zerplatzte mit einem leichten Knall die Dampfkugel, die ihn bis hierher verfolgt und bis auf einige Armeslängen erreicht hatte. Er aber raste weiter und kam nicht eher zur Ruh, als bis er sein Zimmer gefunden und sich fest an den jungen Mädchenleib geschmiegt hatte.

Sie hatte sein Fortgehen und Kommen nicht bemerkt und war noch wie im Traum, und da sie sein krampfhaftes Zittern fühlte, spielte sie tröstend mit seinem Haar und sagte:

Denk nicht daran, Lieber; ich weiß, was du verloren hast. Aber denk nicht daran, wir sind allezusamt arme Hunde, ach! wie arme Hunde. Nun weine nur nicht – ach! was sind wir für arme Hunde. –

[249] Und diese läppischen Trostworte taten ihm unendlich wohl.

Die beiden nächsten Tage war er ruhig und schweigsam und ließ es zu, daß die Kleine mit einer mütterlichen Sorgfalt um ihn wirkte. Aber er duldete nicht, daß sie sich länger von ihm entfernte, und fühlte sich am wohlsten, wenn sie auf seinen Knien saß und mit seinem Haar spielte. – Aber am übernächsten Tag ging er zur Grube, es war früh am Morgen und schneite. Die Kleine, die ihn verlassen mußte, begleitete ihn bis zum Schacht; hier küßten sie sich, und von da an verloren sie sich. Es war der letzte Kuß, den Erich von Frauenmund erhielt. –

Als er mit seinen acht Gefährten im Förderkorb stand und ihre verbissenen, vergrämten und verrohten Gesichter beobachtete, mußte er des Bildes gedenken, das ihm vor einigen Tagen der Spiegel gezeigt hatte.

Nein, werde nicht ihr Kamerad! Die haben ein paar Hoffnungen verloren und sind verbittert durch Neid und Haß und Alltagsleid. Die sind fertig mit Allem, ihr kleines Leid und ihr Neid und Haß sind wie ihr Alkohol und ihre Weiber nichts denn ein Stimulanz zu ihrem weiteren Fliegenleben. Sie leiden und neiden und hassen, [250] um zu leben, leben, um zu leben. Ich aber lebe dem Leben zum Trotz! Leid gegen Leid! Ich will doch sehen, ob mein Wille weiter geht als Leid und Rätselgeflunker. –

Ein Klingelzeichen klang, und elastisch hob sich der Korb, als zöge er tief Atem ein, bevor er den Sprung ins Bodenlose wagte, dann schwand der Boden, in den Ohren begann es zu brausen, es war, als flögen sie schwindelnd himmelan, Staubregen überfielen sie und Lichter kamen wie ein Blitz – nun fühlten sie, wie sie zur Tiefe fielen – nun wiegte und schwebte und federte der Korb – nun stieß er leise auf, und Licht ist rings.

Im Norden ist Gestein niedergegangen, und es sind Schlagwetter in der Luft, sagte jemand. Er nickte und ging schweigend seiner Arbeitsstätte zu; durch Gänge und Stollen, eine halbe Stunde weit, bis der Stollen auf das schräg aufsteigende Flöz stieß. Eine Leiter führte hinab an die hundert und mehr Meter tief, da nahm er die Lampe zwischen die Zähne und stieg in das gähnende Dunkel. Über ihm hing der Schiefer glatt und grau, neben ihm surrten, von Drahtseilen gezogen, die Förderwagen auf und nieder; es ist glühheiß, und der Schweiß perlt. Licht kommt von unten – Glückauf! – und er ist angelangt.

[251] Sein Atem geht schwer, die Luft ist dick und drückend warm, und seine Kleider sind zum Auswringen feucht. Da wirft er sie ab und arbeitet nackt. Doch die Hacke liegt heute schwer wie Blei in der Hand und prallt fast wirkungslos von den schwarzen glitzernden Bruchflächen ab. Da setzt er sich hin, lehnt sein Arbeitszeug zwischen die Knie und starrt vor sich hin. Die Grubenlampe hat er auf einen Gesteinsvorsprung gestellt und schraubt jetzt ihr Licht auf einen kleinen Funken herab – da setzt sich eine blaue handgroße Aureole dem gelben Lichtpunkt auf.

Es ist Schlagwetter in der Luft; das Barometer fiel, und im Norden, da hinten unter dem verlassenen Dorf, sind Gesteinsmassen niedergegangen. Dann tritt der Unsichtbare heraus aus seinem schwarzen Stein und schleicht durch die Gänge und Stollen, stülpt hier und da seine blaue Hand über ein Licht, und ein Funken fliegt in ihn, und mit dreizehntausend Kalorien schlägt er durch den Stollen und verbrennt und zertrümmert, was er findet.

CH4, o ein tückischer Feind. So liegt und lauert der Wahnsinn auf den Gängen und Irrwegen des Lebens und zaubert seine blauen Aureolen und Wunderblumen, aber anstatt aus [252] diesem Stollen zu flüchten, über dem der Wahnsinn hängt, freuen wir uns der Zauberblüten, bis der Funke in ihn fliegt und er unser Leben zerreißt und zerschlägt.

Was soll das in der Nacht und in dem Schweigen! Sieh, wie die blaue Blume da blüht und das Dunkel mich umkrallt und das Schweigen mir zuraunt. Bei der Vermoderung von Dingen, die einst gelebt, wird der Tückische geboren; aber die Deckgebirge, die die Meere über ihn gewälzt haben, halten ihn fest, bis wir kommen und sein Gefängnis lösen. Dann zischt und bläst und brodelt er aus dem schwarzen Stein und schlägt sich in Abbaue und hängt dort oben im Dunkel, hoch im Alten Mann; und kommt dann, wie heute, wo oben der Schnee fällt, aus seinen Schlupfwinkeln hervor und brütet und lauert über uns und wartet auf den Funken und schlägt dann mit seinem rasenden Druck und seinen fegenden Flammen unter der Erde her, schleudert die Wagen beiseite und preßt sie platt wie Papier, biegt und dreht die Fördergestelle zu bizarren Schlangen und Knäueln und reißt sie im blitzschnellen Rückschlag wieder zurück; und sein Bundesgenoß, der trockene Staub, bringt sein Flammen und Rasen von Sohle zu Sohle – [253] die Grube brennt! Dann stehen sie da oben am Tage und ringen die Hände und sammeln und senden Depeschen, aber was er und der Brand noch nicht erschlagen hat, das würgt nun der Schwaden – kein Leben mehr zu Berg, denn den Sauerstoff hat Er mit seinen zwei Riesenflammen verzehrt. O, es ist ein braver Feind, o das ist Lust, das ist Reiz! –

Reiz? Der Reiz ist die Dunkelheit, die Grabesabgeschlossenheit und das ewige Schweigen. –

Siebenhundert Meter unter der Erde, im Stein und ewigen Schweigen vergraben – warum kein Grab? Denn es ist nicht Genuß – der blinde frißt sich selber auf; es ist nicht Kunst – die feige scheut die Wirklichkeit; es ist nicht Liebe – die faule will nur Ruh und Rettung vor sich; es ist nicht Macht – die wilde wird zum Knecht des Erstrebten; und es ist Alles zusammen nicht, was mich halten könnte, denn Alles zusammen muß. Es ist das Einzige der Stolz und Wille zu sich und eine Mauer von Eisen um mich und eine Mauer von Stein in mir. Das ist's. Siebenhundert Meter unter der Erde, im Stein und ewigen Schweigen vergraben – warum kein Grab?

Und weiter lauschte er dem Schweigen, fühlte [254] die Wucht des Berges über sich und gedachte seiner Kindheit und Jugend und ihrer unentwirrbaren Narrheit und Sinnlosigkeit – Zwei Mauern, eine von Eisen und eine von Stein, das ist's!

Dumpf schlug das Echo zurück und rollte dröhnend und drohend in das Dunkel, das da oben wie ein Riesenauge auf ihn stierte. Und näher kam es und schlich auf lautlosen Tigertatzen Schritt vor Schritt gegen ihn und – krallte sich mit einem Sprung auf ihn und würgte ihn. Da blickte er sich um, da kroch es fletschend zurück und stierte wieder von oben mit seinem gierigen Auge auf ihn und langte und langte und suchte das Licht zu stürzen – da fühlte er und hörte das Schleichen der Kralle und blickte hin und sah das Licht im Drahtkorb flackern und wogen – das Schlagwetter kommt!

Er nahm das Licht und umhüllte es, dann blickte er dem Dunkel fest ins Auge, ergriff seine Hacke und huschte die Leiter empor.

Er rannte und brüllte, aber als er halbwegs den Schacht erreicht hatte, hob es ihn wie eine Feder hoch und warf ihn krachend gegen den Stein, und eine rote Flamme fegte über ihn und noch eine, und ein Sturm kam und rollte [255] ihn wie einen Wolleflausch zurück, dann ward es Nacht. –

Als er erwachte, sah er sich in einem weißen Saal liegen, sein Kopf war verbunden und sein Rücken brannte wie Feuer, und viel Stöhnen und Jammern kam aus den Betten, die um ihn standen. Und nach einigen Tagen hörte er, daß jene zwei Flammen, die über ihn gefegt waren und der giftige Schwaden, der ihnen nachgekrochen war, dreihundertundvierzig Mann gefressen hatten. –

Im Frühjahr verließ Erich das Krankenhaus; er war kahlköpfig geworden, und seinen Rücken deckte eine purpurrote glatte Haut. Nach einigen Tagen fuhr er wieder zu Berg und war nun, was er wollte, ein Zahn in einem Rad der brodelnden Höllenuhr, die da Lichter und Donner in die Nacht wirft und in sich den Krieg gebiert. Seine Augen blickten hart, und sein Gang war breit und fest. Der Weiber und des Schnapses bedurfte er nicht mehr, aber die Streiks machte er mit und redete mit in den harten und verbissenen Versammlungen, und freute sich, mit schneidenden und kühlen Worten die Instinkte derer, die da an seinen Lippen hingen, kitzeln und aufpeitschen zu können, seine Macht von neuem [256] zu fühlen und sich seiner Menschenverachtung abermals bewußt zu werden.

So lebte er lange Jahre, zur Heimat fuhr er nicht mehr; nur im Herbst kam ihm wohl ein Sehnen, weiche Herbstzeitlosen in seiner Hand zu halten und sie Blume für Blume in einen regengeschwollenen Bach fallen zu lassen – den Narren, den Komödianten zu spielen! So überwand er es und mit jedem Jahr ging es leichter. Zwei Mauern, eine von Eisen und eine von Stein!

Und die Sehnsucht – – –

[257] Der Affenkäfig

Eines Sonntags im Sommer fuhr Erich mit den Mannen, Weibern, Dirnen und Kindern seines Vereins nach Münster, um die dortigen Kirchen und den Zoologischen Garten zu besichtigen. Und als sie dichtgedrängt vor dem Affenkäfig standen und grinsend dem Treiben der Vierhänder zuschauten, brach er in ein solches Lachen aus, daß die Wärter glaubten, es tobe da ein Irrer, und sie müßten ihn bändigen; und sperrten ihn in einen leer stehenden Bärenzwinger. Dort kletterte er am Gitter hoch, streckte die Zunge aus und lachte, daß es sogar den Leuten, die sich vor ihm zu einem stieren Klumpen zusammengeballt hatten, zu arg wurde. Als sie fort waren, bat er die Wächter, ihn herauszulassen, und gab ihnen ein Trinkgeld. Dann fuhr er mit den Mannen, Weibern, Dirnen und Kindern seines Vereins heim und sang mit ihnen Gassenlieder zum Takt der ratternden Räder.

[258] Aber am nächsten Tag war er wieder der Alte.–

Aus der Mauer fiel ein Stein und das Eisen tat einen Riß, da schlug eine Flamme heraus. Aber über Nacht habe ich gemauert und genietet; was soll's!

Und das Rad drehte sich weiter und warf Dröhnen und Lichter in die Nacht, jahrelang. Die Mauern hielten fest, und das Feuer – schlief.

[259] Der dunkelblaue Enzian zum dritten Mal

Aber eines Tages trat in seine Stube ein Bote und überreichte einen Brief von dem Gericht seiner Heimat; in dem war zu lesen, daß er von dem verstorbenen Grafen zum Erben eingesetzt war.

Da schwieg er eine geraume Zeit – Den Anachoreten in der Wüste zu spielen, ist keine Kunst, aber in Alexandrien und Rom! –

Und er trat die Erbschaft an.


Ü rump – ü plump pump rülpste die Dommel am Teich, in dem die Frösche wie eine tollgewordene Spieluhr quakten, ein lauter Vogel sang fern im Bruch – da stand Erich am Fenster und blickte in die Nacht. –

Aber die Gentiana pneumenanthe habe ich wieder gefunden, unter einer Eiche, die Jägereiche nennt man sie, – er blüht früh im Jahr, mein Enzian.

[260] Ein Menschenalter lang – läutete er – bist du unten gewesen und kommst jetzt wieder her zu mir: was willst du hier? Deinem Narren Zucker geben?


Dich, dein Verhältnis zu den Dingen

und diese selbst, so wie sie sind,

in eine Formel zwingen?


Ho! alter Freund, in einem Jahr tanzen die Lettern vor dir und sind deine müden Augen blind.

Oder will er wieder selber Baumeister sein, selber Philosoph?

Ach alter Narr, in einem halben Jahr bist du toll. –

Da stand der silberbestäubte Klöppel still. – Ich werde mir ein Fernrohr kaufen, einen Achtzöller; und dort oben auf dem Turm soll er stehen. –

Dann zündete er Licht an und repetierte die Grundsätze der Astronomie.

Am nächsten Morgen erhielt der Zimmermann den Auftrag, das Kuppeldach des Turmes drehbar zu machen; das Turmzimmer wurde behaglich eingerichtet, der blanke Achtzöller aufgestellt – nun saß er die Nachtstunden durch im Turm, und in seinem Tagebuch wechselten lange [261] Zahlenreihen ab mit großen, flüchtig hingeworfenen Buchstaben. – Doch trat er müde und mit schmerzenden Augen auf die Galerie und blickte hinab in die stille Nacht oder in den Morgen, wie er gelb und langweilig aus der Heide stieg, so blitzte wohl das Auge auf, und zornig stampfte sein Fuß die verwitternden Steinfliesen. –

Das sehe ich nun alles, mein Geist durchblitzt unendliche Räume und kann sich bei schwindelndem Gehirn sekundenlang vorstellen, wie es in Wirklichkeit – in menschlicher Wirklichkeit sich darstellt. Und ich empfinde Ehrfurcht.

Wovor empfinde ich Ehrfurcht?

Vor der Ausdehnung des Raumes? Vor meiner Schöpfung, die ich nicht zu Ende bringen kann? – Vor dem schlechtweg Unbekannten, dem X? Das ich selbst gedacht, alias erlogen habe? –: Nein vor dem Raum und dem X habe ich keine Ehrfurcht.

Oder vor der Gesetzmäßigkeit der himmlischen Bewegungen? Wäre sie nicht, so zerfiele das Schauspiel in Wirrnis und Staub –: wie kann ich die Notwendigkeit bewundern? – Und diese »Gesetzmäßigkeit«, ist sie nicht ein, wahrscheinlich verlogenes, Bild, das ich mir aus fraglichen [262] Sinneseindrücken und aus Begriffen, die ebenso fraglicher Herkunft sind, gemacht habe? – Ein Wort, durch das ich ein menschliches Nicht-Können in ein tröstend allgemeines Müssen umgelogen habe? Soll ich meine Lügen anbeten? – Und wie steht es im Besondern mit dieser Gesetzmäßigkeit? Da ist noch der Stoff, und an ihm greifen die gesetzmäßigen Kräfte an. Aber wo ein Gesetz herrscht, wird immer ein Widerstrebendes vorausgesetzt –: soll nun das Widerstrebende in der Kraft selbst stecken oder im Stoff, in seiner Trägheit? Eine Kraft im Stoff – zwei Kräfte, die sich um den Stoff streiten, um den Stoff, der wiederum sich, als dem Widerstrebenden, sein eigenes Gesetz aufzwingt, das der Träge –? Darauf läuft es hinaus. Kraft gegen Kraft, eine unentwirrbare, grundlose Einschachtelung von Kräften, und in ihrem ewigen, makroskopischsten und mikroskopischsten, Streit soll es eine Gesetzmäßigkeit, eine Norm geben, der sie alle als Widerstrebende untergeordnet sind? – Wer ist der Gesetzgeber? Nun, dafür gibt es vielerlei Worte, und hinter denen grinst der Vierhänder, der Mensch –: Ehrfurcht vor dem Menschen?

Aber der Mensch ist auch ein Stück der Welt, –[263] und so überkommt mich vielleicht die Ehrfurcht vor ihr, die eine solche anscheinende Gesetzmäßigkeit, ein solches Abwägen zwischen Stark und Schwach, besitzt und in ihm sich dessen bewußt wird? – Vor solchem Bewußtwerden Ehrfurcht? Ehrfurcht vor dem, das unter Anderm den Menschen in die Erscheinung stieß?

So bleibt, wenn ich einmal Ehrfurcht hegen will, nur die vor dem Unbekannten, jenem X; und da ich dieses geschaffen, so habe ich Ehrfurcht vor meiner Weisheit oder meiner Dummheit.

Nun, meine Weisheit besteht, außer jener famosen Schöpfung des X, darin, daß ich weiß: daß da draußen ein Ding steht, von dem ich nur in Bild habe, – daß meine Sinne zu wenig sind und deshalb dieses Bild einseitig ist; jedes Tier, jede Pflanze, jedes Atom meines Körpers kennt wieder andere Seiten von ihm: weshalb kenne ich diese nicht? – daß – wenn mir auch tausend Sinne zur Verfügung ständen, – ich das so Übermittelte doch nur durch die drei Denkformen verarbeiten könnte: warum habe ich nicht mehr? – daß diese meine Denkformen geworden sind, garnicht da sind zur Erkenntnis, sondern nur zur Unterscheidung des mir Nützlichen und Schädlichen, ein anderes [264] Organ: warum sind sie nur so beschaffen? warum muß ich dies erkennen? – und zum Schluß, daß mein Denken, meine Philosophie, meine Welt nur Worte sind, daß auch das tiefste Erkennen immer subjektiv, immer Bild bleibt, daß ich nichts bin denn ein unzufriedener, faselnder Grammatiker.

Was bleibt mir da von der Bewunderung meiner Weisheit übrig? Die Bewunderung, die Ehrfurcht vor ihrer Unzulänglichkeit, d.i. die Bewunderung meiner zulänglichen Dummheit.

Soll das meiner Sehnsucht Ziel und Ende sein? – Bedauere ich es vielleicht? Dann hätte ich dreißig Jahre zwecklos Kohlen gehauen. –

Wie ein Licht nach dem andern da unten erlischt – nur die Sterne, ich und die balzenden Bauernburschen sind wach – – und sind alle drei das Gleiche – aber was? Das muß sich doch ergründen lassen!

Dummheit? – schwerlich. Weisheit? – unmöglich. Güte? – wäre Blasphemie. Ruchlosigkeit? – wäre Feigheit. Aber Rücksichtslosigkeit? – augenscheinlich. Zwecklosigkeit? – höchst wahrscheinlich. Aber Sinnlosigkeit? – was wissen wir!

Stoff? – niemals. Kraft? – gewiß. Geist? [265] – wo steckt der Unterschied zwischen Kraft und Geist?

Aber sollte ich ihn finden, muß ich dann nicht fürchten, er wird wieder Bild, Spiegel, nur ein Wort sein? –

[266] Der dunkelblaue Enzian zum vierten Mal

Zornig brauste heute der November durch den Wald, legte – willst du wohl! – die stolzesten Kiefern auf die Decke und schmiß Fetzen auf Fetzen die hangenden und jagenden Wolken in die Nacht; fegte und pfiff um Dach und Turm, rasselte in den Schiefern, rauschte im Schilf und wühlte in den klatschenden Wassern der Teiche.

Der macht reine Bahn, dachte Erich, der pustet die weißdochtigen Schwefelflammen und die Blutlichter im Sumpf hurtig aus und läßt die Goldtaler der Buchen rollen. – Den Lichtenhagen roden sie aus –'s ist just das rechte Wetter. Da wird die Jägereiche gewesen sein und der Enzian ausgeläutet haben am Niederrhein. – Rauchende Schlote und dröhnende Hämmer und zwischen ihnen das stinkende Gewürm – mich soll's wundern, ob Das nicht noch die Abendwolken und den Himmel beschmutzt; dann gehört [267] ihnen dieser Stern, dann sind sie seine Herrn – o was für Herren! O, 's ist just das rechte Wetter. –

Da kam durch das Pfeifen und Pusten des Sturms der Traum. – Der nimmt ihn bei der Hand und führt ihn zu einer breitästigen Eiche. Die Männer, die dort stehen und ihre Äxte wetzen, sehen sich mit einem seltsamen Lächeln an, sie werfen die Kittel ab und streifen die Hemdärmel hoch und spucken in die Hände und heben die Äxte und – schlagen in den Baum. – Die braunen Holzscheite stieben, ein Zittern läuft durch seine Äste – da neigt er sich, senkt sich, da – schlägt er krachend hin. – Doch zwischen seinen Ästen hoch wächst eine blaue Blume, wird größer und höher und wird eine mächtige dunkelblaue Glocke, übermannshoch, und schwankt leise auf dem biegsamen Stiel. – Nun heben die Holzhacker wieder ihre Äxte –: da beginnt sie ein tiefes und volles Läuten im Wald, der ganze Wald klingt, Luft und Erde klingt – – jetzt kracht sie rasselnd ineinander. –

Da erwachte er, Ziegel polterten von den Dächern und zerrissene Sturmwolken hasteten über den Morgenhimmel. –

Ein Gemälde von den beiden Königskindern [268] hing in dem Zimmer, in dem Erich seine Vormittage zu verbringen pflegte.

– Ein roter Herbstabend, durch den ein Kranichheer zieht –: o wie schön ist die Sehnsucht, aber ihr Ziel ist ihrer nicht wert. Wie habe ich nicht eine Lösung, eine enthüllende Formel des Unergründlichen, das mich umlagert, ersehnt –! Und was habe ich am Ende gefangen: die Erkenntnis einer Unmöglichkeit, eines Unsinns. – Wie das Laub der Bäume über Nacht zerstoben ist, auf den Wellen schaukelt und sich verhaspelt hat in dem rissigen Schilfrohrhaar, ist mein Sehnen zerstoben und zerflogen.

Wie es sich krümmt unter dem Winde, das gelbgraue Rohr, wie die Wellen glucksen und schnappen, wie die Wolken kugeln, wie verkaterte Zechbrüder torkeln sie hin –: wie schön ist diese Welt des Scheins, aber sie ist der Bewunderung und Liebe nicht wert, denn es ist ein sinnlos gewalttätiges Wirken, in das wir die Schönheit, unsere Schönheit, unser aufreizendes Gefühl nach Neuem und Anderm hineinlügen.

Lügen –. Aber wenn es eine Lüge gibt, muß es eine Wahrheit geben, ein Ding besteht nur durch seinen Gegensatz; damit Alles Unsinn ist, muß Alles Sinn sein. – Kann nicht gerade das [269] Bestehen der verschieden großen Kräfte und ihr gegenseitiges Sich-Abwiegen und zu überwinden Suchen der Sinn sein? Überwinden wollen, herrschen wollen, um zu herrschen, der Zweck? Um der Lust willen am Herrschen?

Ja, wenn ich die Natur aus mir erklären will, finde ich tausend Erklärungen. Dann biegt und quält der Wind dort das Rohr, weil er es biegen und quälen will und seine Lust daran hat – wie er mein Schloß in Staub blasen würde, wenn er die Macht dazu hätte. Dann leuchtet dort der Himmel so sehnsüchtig rot, weil er so will; er würde klingen, – o mit welchem Ton! – wenn er könnte, um sein schmachtendes Herz zu hören, um an seinem sehnsüchtigen Leid sein unermeßliches Jauchzen zu haben. – –

Wer sagt mir, daß solche Erklärungen, die ich aus mir schöpfe und über die Natur breite, notwendig inadäquat sind? – Sie sind mit ihren Begriffen und Urteilen geworden, folglich – –. Nun, gilt der Einwand? Doch nur, wenn nur sie geworden, und die Welt, die sie zu erklären suchen, ewig sich gleich und seiend wäre. Aber diese Welt ist selber geworden, ist ein immer wechselndes Ergebnis der sich abwiegenden und ringenden Kräfte, und so mit ihr eng verknüpft[270] sind unsere Erklärungen das geworden, was sie heute sind. Können wir da so plump diese von jener trennen, beide als etwas Grundverschiedenes auseinander halten? Das, was in ewigem Wechsel und Anders-Werden einmal Kraft, einmal erklärender – was erklärender? –: gerade diese und sich erklärender Geist ist, als zwei fremde, feindliche, garnicht in Beziehung zueinander zu stellende Größen setzen? – –

So habe ich ein sich immer anders darstellendes Ding, das sich sich selber anschaulich macht, sich selber erklärt, – weshalb? –: weil es so will, weil es sich erkennen, sich seiner bewußt werden will.

Alles tobende Kraft, alles sich seiner bewußt werden wollender Geist. Wie nenn ich's? – O nenn es nicht! Weißt du, die Worte haben eine trügerische Hülle von Gefühl – Worte sind Fallen. Nenn es das Namenlose, nenne es »Das«, »Es« –.

Und wir und unsere Erklärungen nichts mehr, aber auch nichts weniger als eine augenblickliche Stufe der Selbsterkenntnis des Namenlosen?

Und meine Ehrfurcht – wohl vor mir, aber als einem jungen Erklärungsversuch des Namenlosen, und nicht – –. Öffnet sich mir da [271] nicht ein Tor, so deutung-hoffnungsvoll, so weit, so tröstend – so abschlußverheißend? –

Am Nachmittag schwenkte der Wind nach Norden um und vertrieb vom gelbblauen Himmel die fliegenden Wolkenlappen.

Es wird klar bleiben, sagte Erich und schritt über die Brücke zum Turm, und einige Tage so währen. Wird es frieren diese Nacht? –

Am andern Morgen war die Erde fest geworden; hart und polternd rollten die Wagen, und hell klapperten die Holzschuhe der Jungen, die mit roten Gesichtern und die Fäuste in die Taschen gebohrt zur Schule trappelten und auf dem Pfützeneis das erste Glitschen versuchten. Die hölzerne Brücke knirschte und klang hohl, als Erich über sie zurückschritt.

Die Rispen des Schilfrohrs sind mit Reismehl gepudert, die Gräser weiß bereist und die letzten Blätter fallen ab, schwarz und zusammengeschrumpft.

Und als Erich nach einigen Wochen am Fenster stand, nach der Windfahne und den Wolken sah und seine Instrumente ablas und dann die Wetterkarte er hielt, fand er, daß das Tief über Schottland und Irland in der Nacht eine schmale Zunge über die Niederlande bis in das bergische [272] Land vorgestreckt hatte. Die Temperatur stieg stetig und langsam, die Windfahne tastete unruhig hin und her und ratlos quirlten die Wolken durcheinander, hier und da fiel sachte der spärliche Reif von den Bäumen – da rückte er seinen Sessel an das Fenster und wartete auf den ersten Schnee. Nach einigen Stunden kamen die ersten Flocken an, einzeln, verloren; und jetzt tanzen und wirbeln sie herab und werden mehr und mehr und Luft und Erde wird weiß.

[273] Der Abendstern

Eines Morgens, da ein schneidender Ostwind den Himmel rein gefegt hatte, machte Erich sich auf, um einen Gang in den Schnee und die Kälte zu tun. – Der Wind biß in die Haut, und der Schnee knirschte unter den Füßen und flammte auf den sonnenbeschienenen Feldern blutrot vor seinen übermüdeten Augen. Da ließ er Sonne und Wind im Rücken und wandte sich den schwarzblauen Schatten der Kiefern zu. Nun erlosch die Flamme des Schnees zu sanftem Rosenrot, und die Kiefern streiften die Hülle von ihrem blaugrünen Leibgewand ab; auf ihren Kandelabern trugen sie den Schnee in weichen Wattebäuschen, und hoch über ihnen sang der Wind sein stöberndes Lied.

Als eure Bewußtseinsform, als euer euch erklären wollendes Stammeln wandele ich unter euch – o wie ihr mir glaubt, mir zunickt, mir dankt, o wie ihr mich liebt, meine blaugrünen Brüder.

[274] Und das, was sich Mensch nennt, – an die Stirne zeigt's und die Fäuste ballt's, wenn es mich sieht; nennt mich einen Verächter, schimpft mich einen boshaften Narren – und doch war ihre Art auch einstmals unsere Erklärungsweise, unser Stammeln, meine stillberedten Brüder; aber Jahrhunderte flossen darüber, und das, was sich heute Mensch nennt, gehört nicht mehr zu uns: so halte ich mich an euch, laßt uns zusammenstehn, o meine mich liebenden Brüder.

Da begegneten ihm Jungen, die Fichtenstämmchen auf den Schultern trugen, – ihr fröhliches Geplauder verstummte, und ihre eben noch glänzenden Augen blickten scheu und abweisend auf ihn.

Weihnachten ist es, sagte er zu seinem Herzen, ich aber feiere meine Weihnacht unser Kiefern und Schnee, und gedenke sie heute Nacht unter Sternenbrüdern zu halten. –

Er bog um eine Wegecke – da setzte der Wind mit einem Sprung auf ihn und schlug seine brennenden Zähne in seine Haut; die Schatten des Waldes flüchteten zurück, und vor ihm über dem öden Schneeland flogen lange rote Strahlen und begannen purpurne Lichtwogen zu schwimmen – zu kreisen –, auf den Hügeln, die wie [275] riesige weiße Ameisennester ihn umscharten, standen grinsende, flatternde Feuerfratzen – –

Schneevergrabene Baumwipfel und Holzstapel sind es; und ich bin in die abgeholzten Waldparzellen des Lichtenhagen geraten. Muß ich nicht nahe bei der Jägereiche sein? –

Wie eine schrotgeladene Masse fegte der Wind, wie ein Meer rasender Lichtwogen, ein Karneval zähnefletschender Höllenmasken umbrandete der Schnee seine geblendeten Augen – –

Die Eiche möcht ich wiedersehn, die den Enzian beschattete. –

Er stieg in das Schneegewirr, kletterte mühsam über die Stämme und verstieg sich in dem schneevergrabenen Astgewirr, versuchte mit seinem Stock die flimmernden, knisternden und brennenden Massen zur Seite zu fegen –: aber er fand sie nicht, er gab es auf. Nichts, nur toter Schnee, in den der Wind seine Wellen grub. – Und der stieß immer erboster auf ihn und traf ihn immer sicherer mit seinen nadelspitzen Blizzardkristallen – die Augen rollten wie glühende Kugeln in der hämmernden Stirn – Strahlengarben, Lichtkugeln und Globen tanzten in der Funkenluft, berghohe Glutwogen, auf ihnen der Teufel Alleroberster reitend, brachen über ihn ein –.

[276] Ist denn ein tollgewordenes Polarlicht vom Himmel gefallen? Bohrt sein wahnwitziger Dämon in meine Aughöhlen glühende Kreisel? O meine fernen Brüder, weshalb ist der Weg, den wir gemacht, mit Leiden bestreut wie mit Schneekristallen? Weswegen unsere Straße mit bohrenden Qualen gepflastert? Weshalb? O weshalb, meine fernen schattigen Brüder? –

Und als die Lichtfastnacht sich zusammengeballt hatte zu einem tiefpurpurnen unbeweglichen warmen Meer, und der süße Schlaf kommen wollte und hinter ihm der glasäugige Tod, sagte er zu seinen Füßen:

Wie? ihr habt tausend Sprossen viermal des Tages gezwungen, und verzagt vor einer Stunde Wegs? –

Und zu seinen Augen:

Wie? ihr habt das Licht kriechen sehen über die Strudel künftiger Welten wie eine Schnecke, und verzagt vor ihm, wenn es irrsinnt und spukt? –

Dann stülpte er den Hut vor die Augen, hub seine Füße hoch und suchte mit dem Stabe den Weg, und ging nach seinem Heimatsdorfe, das er seit jener Zeit nicht mehr betreten hatte.

Dort forderte er in einem Gasthaus einen Wagen und fuhr heim.


[277] Am 24. Dezember dieses Jahres war Venus Abendstern; sie ging rechtläufig durch den Steinbock und Wassermann und tauchte nach Sonnenuntergang als erster Stern am Südwesthimmel auf. Wie ein Auge blickte sie aus dem grünrosigen Himmel auf die beschneite Erde, über der der Wind eingeschlafen war, und deren Menschen sich anschickten, ihr süßestes Fest zu feiern.

Auf der blinkenden Eisfläche, die zwischen den Schilfen und Wäldern wie ein Spiegel lag, um das freundliche Auge des Himmels wiederzustrahlen, trieb die Jugend ihr Wesen.

Aber sie sind nicht so laut wie in den vorigen Tagen, und das Pärchen, das jeden Tag sich hier findet, läuft weniger bewegt und keck. Und bald werden sie heimgehen, einer nach dem andern, und werden im Flur stehen, der schon erfüllt ist vom Duft des brennenden Baumes, und auf das Glockenzeichen warten, das sie hineinstürmen heißt in die große Freude. Und die Alten selbst sind heute milde und schön und freuen sich auf den duftenden Karpfen, den sie aus meinen Teichen sich gebettelt haben.

Und alles das wegen eines Glaubens, eines dummen, fremden, überjährten Kinderglaubens, dessen einlullenden Gefühlszauber sie sich alle, [278] sie mögen sonst zu ihm stehen wie sie wollen, für diesen Tag gespart haben. – Wie lange mag es noch währen, bis dieser melancholische Hebräer, dieser arme Gottessohn, endlich gestorben ist? –

Da begannen sich die Teiche zu leeren, der Abendstern verschwand, und im Südosten zeigten Mars und Saturn ihr ruhiges Licht; Geläute erhob sich im Dorf, und Lieder ferner Kindheit wurden laut. Und Stern auf Stern erschien; der Orion flammte auf mit seinem flimmernden Jakobsstab, dem rötlichen Beteigeuze und dem prangenden Rigel; aber sie überstrahlend hing tief im Süden der Sirius und über ihm der leuchtende Alphard –, da zogen die Plejaden ihren stillen Kreis mit der flackernden Alkyone und dem feurigen Aldebaran. Doch über Alles hin und Alles in ihre gewaltige Spirale schließend rollte die Milchstraße daher, Stern an Stern, Punkt an Punkt, Nebel an Nebel – Weltenstaub. Und alles Dies, die funkelnde Silberwelt und das weihnachtliche Erdenland und in ihm mit schwarzen Mauern und grotesken Türmen das alte Wasserschloß, traf sich und einte sich zu einem Großen in dem Geiste des einsamen Mannes, der da im hellen Fenster stand.


[279]

Aus dem Osten der Urgewässer

reckt sich des reifkalten Riesen Dorn,

damit der Schlummer die Menschen betastet,

die Müden auf Erden vor Mitternacht.


Die alte Eddastrophe sprach Erich vor sich hin, als er nach kurzem Schlummer wiederum an das Fenster getreten war.

Die Müden auf Erden – müde von Glück, von Alltagsglück – von Alltagsschmutz. – Sieh, der Nord! Sternenleer und dunstig wie immer – was kommst du mir ungerufen mit deinem alten Götterwort?

In meiner süßen Tölpeljugend sah ich hinter deinen Nebelbänken das Rätsel lauern und ahnte seine Lösung in tobenden Asen und rauhreifigen Joten, Kraft gegen Kraft, Wut gegen Wut, Wille gegen Wille – – bin ich im Kreise gerollt, vierzig Jahre lang, und stehe nun wieder dort, von wo ich ausging? Die Welt – ein Gewirr maßlos ringender Kräfte, ihre Gesetzmäßigkeit und ihr Sinn nichts denn ein stetes Obsiegen des Stärkeren? Ein Kampf, der sich seiner bewußt werden will – weswegen? – ein Gedanke, der werden will – weswegen? –

Kann aber etwas werden wollen, das noch nicht ist? Kann nicht nur ein Wachsen, ein Anders-Werden[280] gewollt werden? – Also die Welt ein Gedanke, der sich seiner bewußt werden will – –.

Doch es schlägt Mitternacht, und Jupiter ist heute rechtläufig in der Jungfrau und tritt um Mitternacht über den Horizont. –


Vor drei Stunden trat der Erste Mond vor seinen Planeten, so werde ich nun seinen Schattenklecks von Osten heranschwimmen sehen. – Ein rotjunges Judenkind auf Heu und auf Stroh, Fischerknechte und verstaubte Bücher sagen, sein Vater sei ein Gott – aber eine Sonnenfinsternis des Jupiter, in silberner Winternacht vom Raesfelder Schloßturm aus gesehn, von einem andern rollenden Stern zu vorbestimmter Stunde beobachtet – was wird es mir sagen? –

Und als gegen fünf Uhr des Morgens die kleine Schattenscheibe den Planeten verlassen hatte, und alsobald ein zweiter Mond als Lichtpunkt im Osten aufgetaucht war, vollendete Erich die Zeichnung der gelbroten Kugel, ihrer Wolkengeschiebe und ihrer sie umkreisenden Monde und schrieb unter das schwarzumrandete Bild:

Allerdings ist der Gedanke, die Kraft: die denkende Kraft das Absolute. Es besteht [281] nichts außer ihr, und ein absoluter Stoff existiert nicht.

Wie ich soeben den Planeten von seinen Monden umkreist sah, so muß ich mir das Atom ebenfalls denken als einen Mittelpunkt, um den andere Mittelpunkte kreisen. Aber diese Mittelpunkte sind nicht »stofflich«: wie die Hohlkugel lückenlos ihren immateriellen Mittelpunkt umgibt, so umgibt die denkende Kraft – um ihr einen Namen zu geben, das Ich – den Gedanken des Stoffs; konzentriert sich vollkommen auf diesen einen Gedankenpunkt, und der »Stoff« ist da.

Und dieser Gedanke des Stoffs ist vielgeteilt, und die Stufen seines Bewußtseins in der Erscheinungs-, Denk- und Bewegungsart der Materie sind mancherlei. – Und sind alle die Erscheinungsarten zu der absoluten Bewußtseinshöhe gelangt, so ist der Stoff, in welche Form der Gedanke verfallen und mit ihm nun ringen und in ihm sich wieder bewußt werden mußte, bezwungen –: die Erlösung ist eingetreten; und er, der der Träger alles Ringens und alles Leidens war, verschwindet spurlos, er wird vergessen, und es ist, als wäre er nicht gewesen.

Und da der Gedanke dann im eigenen Anschaun[282] versinkt, so löst er sich zu einem seligen Nichts, einem anderen Nirvana auf.

Und den Vorgeschmack, die selige Ahnung dieses Glückes genieße ich jetzt, indem ich mich, soweit es meine Bewußtseinshöhe zuläßt, in dem stoffvergessenden Anschaun meines vielgeteilten Ichs verliere – –


So tiefe Ruh in mir,

unendlich tiefe Ruh –

und alle Welt in mir

und woget ab und zu

sich einend all in mir.


Und ich bin ein Gebet –

und bet' mich selber an – –

o still! da ist's verweht. –


Geläute klang in sein Zimmer, volltönig brachte es die schweigende Nacht; Lichter flammten auf, und Schritte und Gemurmel wurden auf den Straßen laut.

Die heilige Messe beginnt, schrieb er weiter, und die Freude erhält ihre Weihe. Aber ich halte die meine hintan, denn ich will zuvor den letzten Grund meiner Ehrfurcht finden. –

Wieder ließ er die Blicke durch die Winternacht schweifen, und nach einer langen Pause setzte er sich nieder und schrieb:

Aber weswegen muß der Gedanke den langen[283] Kampf- und Leidensweg der Materie und ihrer Entwicklung zu klarerem Bewußtsein durchmachen? Weswegen kann er nicht sogleich im absoluten Sichbewußtsein dastehen, also nicht sein? Wozu ist der Leidensweg da? Weswegen fiel der reine Gedanke in den des Stoffs? – –

Lag in dem Denken des Stoffs – vielleicht – eine Sünde? – eine Schuld?

Und muß er die jetzt – sühnen?

So liegt vielleicht in dem bangen Ahnen dieser vielleicht doch ehernen Kausalität von Schuld und Sühne der Grund zu meiner Ehrfurcht? – Und die Schuld bestände dann, da nichts Anderes existiert als er, in der einfachen Tatsache seines Daseins, das ja schon den Gedanken des Stoffs, bevor er gedacht war, in potentia in sich schloß – –.

Halt! Halt! Alter Narr, wo fährst du hin! –

Der Jupiter versank mit seinen Monden, Nebel steigt auf, und der Bär hat seinen Kreislauf vollendet – ich bin wieder angelangt, wo ich in meiner Kindheit stand. –

Er löschte das Licht, warf sich angekleidet auf den Diwan und rief eiligst den Schlaf.

[284] Der Tauwind

In dem Nebel, der am Morgen gekommen war wie von nirgendwo und in seine grauen Tücher Himmel und Erde eingesargt hatte, blies ein leiser Wind; der trieb die fallenden Tropfen gegen Halm und Baum und ließ sie dort in weißen Eiskristallen anschießen. Und als der Erdschatten am Westhimmel verschwunden war und die Sonne stieg, verflog der silberschmiedende Wind und hob sich der Nebel und hing grau und hoch über des Verflogenen köstlichem Werk: in glitzernde Rauhreifketten war die Erde gelegt.–

Siehst du, Alter, diese helmgeputzten Jungen, die auf ihren neuen Schlitten und Eisschuhen tollen, diese Affensoldatenröckchen, diese Säbelchen und neuen Krügelchen, Bändchen und Crawattchen sind das sich seiner bewußt werden wollende Namenlose! Diese Alten, die ihre verkonsumierten Kartoffeln und Biere in Mäntel gezwängt haben, als gälte es einen Zug gegen [285] den Pol, die mit ihren unleidlichen Cigarren deine Luft verpesten, die frech wie Geschmeiß auf Gestorbenen auf deinen Brücken stehen, auf deinen Höfen, an deinen Mauern herumlungern, gebildet sind und weihnachtlich-winterlich gestimmt und reden von der Poesie deines Schlosses und dem Affentreiben ihrer Brut zuschmunzeln – heißa! das Liebespaar, eine neue Boa hat's und freut sich über den Neid der Andern, wie es hinter die Schilfwände gleitet, hinter die Erlen und Weiden! – ist das sich seiner bewußt werden wollende Ding, der Gedanke, der sich erkennen, sich fassen will, – Das da sucht sich zu finden, Das da findet, Das da hat die Wahrheit – Das da erkennt ehrfurchtsvoll die eherne Kausalität von Schuld und Sühne, Das da geht darauf aus, sich zu erkennen, um sich zu erlösen, sich zu erlösen vom Dasein, vom Dasein, das durch sein Da-Sein schuldig geworden, vom Gedanken, der durch sein Denken in Sünde gefallen – haha! der Gedanke denkt! – Tandaradei! Das da hat die Wahrheit, Das da ist die leibgewordene Wahrheit! – Ach! die Wahrheit! ach! die Lüge! ach! das Geschwätz! ach! die Eitelkeit! ach! die schwätzende lügende Eitelkeit!

Ein anderes Organ, geboren aus klappernder[286] Furcht, genährt durch Hunger und Not, gewachsen in schwälender Rache, in Wut, Schwäche und Eitelkeit – umgeschwätzt zu einem Organ der Erkenntnis, der interesselosen Selbsterkenntnis des Dings! O Narr, o Kind! Und ist das Mittel ein Gedankending, so ist's erst recht sein Handhaber, ist das Organ Gedanke, wie sollte sein Besitzer nicht Gedanke sein: so ward die Welt ein Gedanke, der sich mit Hilfe des Gedankens denkt, um sich zu denken! Ein Herdenorgan, ein »Bewußtsein« zum Ding an sich gelogen! O du Tausendsassa! O du köstlicher Wortklauber!

Das wußtest du doch alles – und nun? – Ach ja, die Ehrfurcht, die Stimmung! Hege doch Ehrfurcht vor der glitzernden Rauhreifwelt da draußen – aber nicht deswegen, weil sie unerklärlich ist – sie ist weder unerklärlich noch erklärlich – auch nicht deswegen, weil sie so tief, so bedeutungschwer ist – deine Unfähigkeit ist tief, dein Fabulieren bedeutungschwer – auch nicht deswegen, weil sie Schein, Bild, Erscheinung eines hinterweltischen Dings ist – wie hangen die zusammen? was heißt Schein, was Ding an sich? Worte sind's, Wünsche sind's, Lügen sind's! – hege doch Ehrfurcht vor der glitzernden [287] Rauhreifwelt, vor den rollenden Sternen, den leuchtenden Abendröten, den reinen Himmeln, deinem gesunden Leib innen und außen! Aber du wolltest mehr, du wolltest Gründe haben! Hinterher hinzu gelogene Gründe für deine kindische Ehrfurcht, deinen Stimmungsdusel. O ja, Gründe für deine Stimmungen, die suchtest du, und da – fandest du sie, wie leicht, ach! wie leicht. Nun, da sind sie! Schau sie dir an, die schmauchenden Bierbäuche und ihre Affenjungen!

Wahrheit wolltest du, willst nur Wahrheit, das ist deine dunkelblaue Sehnsucht von Jugend an? – Gewiß, du wolltest deiner Stimmung Gründe unterschieben, aber nicht Gründe von da, woher du sie nehmen solltest, aus deinen Augen, deinen Ohren, deinem Magen und Unterleib – o nein! Gründe von hinter den Welten, hinter den Sternen her! Das war dein Wahrheitsuchen.

Du hast schon lange den Glauben, die Wahrheit finden zu können, abgelegt, den Glauben an eine absolute Wahrheit beiseite gelegt? – Gewiß, aber mit Zähneknirschen und grabmüdem Entsagegesicht. Aber weißt du, wenn du einem Ding entsagst, dann liebst du und wertest du [288] auch als Entsagender es noch – ach! wie tief, in wie verborgenstem süßestem Herzen liebt gerade der Entsagende! Die Möglichkeit, dein Zuckerlieb Wahrheit zu gewinnen, schwand dir wohl, aber ihre Wünschbarkeit, ihr Wert schwoll ins Ungemessene, ins Tolle – ins Tolle! mein Alter.

Du hast den Glauben an eine absolute, übermenschliche, dingliche Wahrheit abgelegt und siehst die Dinge nun, wie sie außerhalb der Wahrheit sind. Die Dinge sind nicht wahr: das ist jetzt deine – Wahrheit über sie. Die Dinge scheinen: das ist jetzt deine – Wahrheit über sie. Sind die Dinge nicht in Wahrheit außerhalb der Wahrheit? Streiche doch erst die Sprache aus deinem Kopf.

Und in solchen Aberwitz bläst dein Erzzauberer, der sich Stimmung nennt. Und wie der Klang auf den Schlag des Klöppels folgt: weswegen, woher überfällt mich diese Stimmung? Habe ich Grund dazu? – Gewiß; weil ich Ehrfurcht habe, leuchten meine Augen und schwillt meine Brust. Ein Wort, ein nichtssagendes vielsagendes genügt – wovor habe ich Ehrfurcht? O, davor, daß ich die Dinge sehe, wie sie sind, wie sie in Wahrheit außerhalb der Wahrheit sind, daß ich [289] ihr Erklärer, ihr Deuter, ihr Mundstück bin. O Hansnarr! Hansdichternarr! O du rohrhalmiger windiger Phantast, o du Stimmungsinterprete, du unfreiwilliger Blähungendeuter!

Aber auf daß sie Ehrfurchterweckt, muß Schmerz mit der Erkenntnis verbunden sein. Ehrfurcht vor einer beglückenden Erkenntnis – o solche Ehrfurcht laß dem Pöbel, den schmauchenden Bierbäuchen da. Eine Schuld muß erkannt werden, eine schmerzensvolle leidenstolle Sühne muß erkannt, gewollt, muß mit ehernen Stirnen – mit verzückten Wahnsinnsaugen, in autokannibalistischen Wollüsten bejaht werden! Etwas schlechthin Unergründliches, rätselhaft Gegebenes muß dabei sein – o dann kannst du Ehrfurcht hegen! – Nun, sie stutzte zur rechten Zeit, verschluckte den bitter-süßen Rest und legte sich schlafen. –

Und jetzt? Wo ist das Tor? Das Ziel? Der endliche Abschluß? Zeig ihn mir, armer Narr: da ist kein Nein, ist kein Ja – ein Mittelding, ein grauer Schatten, ein graues Nichts: was geht's mich an! was weiß ich! – –

Doch siehe, liegt da nicht wieder ein Urteil drin? Eine latente Wahrheit? Und wie bald wird die frei sein, ihren alten Unheilweg gehen und [290] ein System des Was weiß ich! Was geht's mich an! aufstellen, – und dabei wird wieder Ehrfurcht verpufft und Wollust verstöhnt – – – o gäbe es Krieg!

Käme der Krieg! In gleißenden Wolkentürmen lauert er rings –: erwachte ein Sturm, der ihn aufjagte aus seiner lauernden Ruh, daß er über uns kommt in seiner schwarzblauen Wetternacht mit seinen Schwefelwinden, seinen goldenen Blitzen –! Volk gegen Volk, Land gegen Land – ein Stern nichts denn ein tobendes Gewitterfeld, eine Menschendämmerung, ein jauchzendes Vernichten –! oh, ob dann nicht ein Höheres – da riß Erich das Fenster auf und rief in den Hof: Herunter von meinen Brücken! Herunter vom Eis! Herunter von meinem Hof!–

Und als sie Gesichter machten und zu zögern begannen und zu murren und zu mucken anfingen, holte er den Krückstock und eilte hinab: Muckt Das? Will Das wohl herunter vom Schloß! – und stürmte auf sie los und trieb sie über die Brücke, daß sie stolperten und glitschten und fielen und sprangen, nicht viel hätte gefehlt, und sie wären geflogen, – und huschte hin – Will Das wohl herunter! – über den Hof – Ich will Das lehren, Gesichter machen! – durch das[291] Scheunentor – Ich will Das mucken lehren! – über die Brücke und die Gasse ins Freie.

Als er zurückkehrte und den Krückstock wie einen Schläger kreiste, fühlte er, wie warm die Luft plötzlich geworden, und sah, wie der Rauhreif allerorten gefallen war, und das Eis stumpf und wässerig wurde, und der Boden begann, glatt zu werden –

Ho! es liegt Tauwind in der Luft – und er ging nachdenklich in sein Zimmer. –

Es will Frühling werden, acht Tage Winterfrühling, Weihnacht-Neujahr-Frühling werden. Das bläst hurtig die Silbergaukelstücke zum Teufel, das macht freie Bahn, freie Luft! –

Freie Bahn! Freie Luft! Und noch einmal Frühling! Sommerkraft! In rote Blumen und duftendes Gras mich wälzen, in den Himmel schauen: o du lügst, aber du bist schön in deiner meiner Lüge, und ich liebe dich! Du unschuldig gelogenes blaugoldenes Himmelsweinglas! O ihr lügt alle, ihr roten Blumen, ihr gaukelnden Vögel, ihr blauschwarzen Schatten und Teiche – aber ihr seid schön, unschuldig schön und bös, und ich liebe euch!

Freie Bahn! Freie Luft! Und noch einmal [292] Frühling! Sommerkraft! Oh, ob ich dann die Kraft zu dieser Lüge habe? –

Aber weißt du, du darfst es nicht Lüge nennen! Sagst du Lüge, so gehe lieber in die Kirche, sie läuten, sie bimmeln-baum-bammeln schon wieder –, das ist folgerichtig. Habe doch die Kraft und sage nicht Lüge! Laß es nicht darauf hinauslaufen! Schlage den alten Gott doch endlich tot! Der ist nämlich noch nicht tot in dir – die alte Hinterwelt und ihr alter Gott und ihre Werte und Wünsche wollen nicht tot gehen in mir. – Weißt du, du hast es an der unrechten Stelle angefaßt: mit einer Jugendphrase war es dir genug, mit einem überlegenen Dummen-Jungen-Lächeln glaubtest du den alten Gott totgeschlagen zu haben. Du hast ihn nur geohrfeigt, mit einem Stein nach ihm geworfen, wie freche Jungen es tun, und da duckte er sich und rächte sich und verdarb dir dein Leben.

Du hast den geilen Stamm geköpft, aber seine Wurzel blieb saftig und gesund und schoß Trieb auf Trieb. Und die hegtest und pflegtest du und ranntest mit diesem bösen Ballast auf Suche in alle Welt, bummeltest in allen Ecken und grubst nach deiner lieben, ach! so lieben Hinterwelt: Wahrheit, Abschluß, Ding, Sinn, Ziel, Grund – [293] wie diese gesuchten Schätze anders hießen –: das war der alte Gott. War je einer ein Gottsucher, so warst du's; war je einer in sein Verderben verliebt, so warst du's. Sein Priester bist du gewesen, wie er sich keinen feineren wünschen kann, sein blinder, wütender, sich selbst zerfleischender Priester und törichter Goldgräber. O du – war deine Sehnsucht – Sehnsucht nach deinem mit Dummen-Jungen-Steinen verscheuchten Gott? Deine Bummelbahn – eine Gottsucherbummelbahn? – In der du alt und weißhaarig und einsam und Verächter geworden bist und glücklich verbummelt? O habe doch die Kraft und mache der Bummelbahn ein Ende! Noch einmal Frühling! Sommerkraft! Rote Blumen und blauer Himmel – –!

Und wenn nicht, so grüße deinen Feind und sei ihm dankbar für seine Feindschaft –: ein Feind, der die Macht hatte und ausnutzte, dein Leben zu verpfuschen, ist schon einer grußwürdigen Feindschaft und eines Dankes wert –, hat er mir mein Leben doch interessant gemacht, bin ich doch Bursch geblieben mein Leben lang – heißa! ein verbummelter Student!


[294] Heulend fiel der Westwind her über das Schloß, knatternd warf er Ziegel und Schiefer auf den Hof und platschte sie auf das brechende Eis – und still lag Erich auf seinem Lager und lauschte dem Tauwindtoben. Wie raschelt und rauscht das Rohr, wie schnaubt der Wind, wie brausen die Kiefern, wie stöhnen die Wälder, wie schlägt und wütet der Regen gegen das Glas!

O blase sie fort, mache Bahn, freie Bahn, lieber Wind! Wie du stöhnst, wie du wollüstig stöhnst–! wer umschlingt dich, du Wilder?

Ja, Wind sein, Tauwind sein und über die Lande brausen! Nicht Mensch sein, nicht Seele, nicht Kriechen und Leid – ein tobendes, jauchzendes, stöhnendes Gefühl! Schnaubende Winde, rollende Erden, brausende Sterne – ist nicht die Welt ein tobender Sturm? Blase doch die Menschen fort – ach! nur Sturm sein, nur rollende Erden, nur brausende Sterne –!

In Sturmliedern schlief er ein. Fest lag das Tief über dem Nordkap, und die ganze Nacht durch brausten die Stürme an dem Keil entlang, den es in gewaltigen konzentrischen Bogen nach den Alpen zuschob – von Britannien bis zur russischen Grenze ein Regen und ein schwüler schwerer Sturm. –

[295] Mir hat Sturm geträumt, Sturmglück geträumt diese Nacht. – Das wird ein gesegneter Tag! Wandern will ich. Ins Land der Stürme wandern. –

Dann rief er seinen Verwalter und tat ihm kund, er würde ein Jahr oder mehr auf Wanderschaft gehen. Und als der ihn verlassen hatte, suchte er in seinen Atlanten und Büchern das sturmreichste Land der Erde und den stürmereichsten Weg dorthin.

Und dann nach sturmreichen Jahren zurück in den Sommer, in rote Blumen und blaue Himmel –! –

Die Rosse waren geschirrt und das Ränzel geschnürt, als Erich noch einmal auf den Turm stieg, um Abschied von seiner Sternwarte, seinen Teichen und Wäldern und Heiden zu nehmen.

Lebt wohl! ihr Zahlen und Zahlengespenste. Ihr ein Maß, oder gar eine Norm der Welt? O nur ein Mittel, mir sie denkbar zu machen. Denkbar? Nun ja, so quasi denkbar zu machen. Lebt wohl, ihr krummbeinigen, buckligen, dickbäuchigen Runengespenste.

Und ihr Kreise und Kugeln, ihr Ringe und Schatten und Hörner? Schon nicht mehr nur Mittel, schon Bild und Abklatsch – – fängt das schon wieder an? Lebt wohl, lebt wohl! –

[296] Dann trat er auf die Galerie, über die sich ein dunkler Wolkenkeil gerade in den Westen bohrte, über ihm breit und wulstig und sich im Osten in fliegende Wolkenfetzen auflösend – drei Keile, die sich zu einem gewaltigen ineinander schoben, regenschwer und prallgespannt; aber am runden Horizont standen in Nord und Süd weißgleißende Wolkengebirge, sonnenbeschienen und unbewegt – und vor ihnen und in dem schmalen Streifen blauen Himmels über ihnen jagten und kreisten in ruhelosem Getriebe weiße, bläuliche Wolkenfetzen und vereinigten sich hinten im Osten zu einem übereinander kugelnden und strudelnden Wirrwarr mit den Ausläufern des dunklen dreifältigen Keils – aber den Kopf voraus und den Fuß weit hinten nach strichen gelassen und schnell Hagelschauer fern über die Höhen und Wälder. Da packte der Wind seine Reisemütze, wirbelte sie hoch und trug sie über die Dächer davon.

Hallo! Lieber Wind! –

Er lachte der Fliegenden nach, lachte, wie sie fern zur Erde fiel, über die Wiesen und Felder rollte und an den Hecken des Friedhofes liegen blieb. – Schier wagerecht bog dort der Wind die Thujabäume.

[297] Heißa! die symbolische Reisemütze! Leb wohl, süße Loo! Wenn ich wiederkehr', wenn ich wiederkehr' – –. Du, klingt dir kein Märchen im Ohr? Ach! ich will nicht den Reim. Rote Blumen und blaue Himmel –!

Dann wandte er sich, um hinabzusteigen; aber der Wind preßte ihn hart gegen die Pfeiler.

Du möchtest mich nachblasen die siebzig Fuß hinab – nun, das kommt, wann ich will, und das hat seine Zeit. Erst stirbt der Gott da hinter den Sternen und steigt der der Erde hoch, dann – –

Dann? Dann liebt der Erdengott seine Erde – – Lieben? Was ist denn da noch zu lieben? Zu lachen höchst! Lächeln muß er, lachen muß er, muß traben wie ein stolzes dummes Tier –!

Werde ich nicht auch dann in die Welt gestoßen, ohne daß ich es wollte? Muß ich nicht auch dann mich gegen das Leben wehren? mit Lachen und Stolz mich wehren? Und dankbar sein für etwas, das ich nicht gewollt, das ich nachträglich gut gesagt, trotzdem, ja gerade weil es mich quält: weil ich mit einem Ja besser als mit einem Nein leben kann? Muß ich nicht Dankbarkeit, Freude, Interesse, Liebe lügen? Lügen, ich kann nicht anders! – Es ist ein Lügen, das Leben lieben, das Leben, von dem ich nur seine Lüge kenne; [298] es verlachen, wenn ich nicht weiß, worüber ich lache; es erforschen, wo ich nicht weiß, was ich erforsche; mich an ihm freuen, da ich nicht weiß, worüber ich mich freue; es fortwerfen, wenn ich nicht weiß, was ich fortwerfe; es weiter wollen – wozu? wo ist der Sinn? wo ist der Zweck? wo ist der Grund? – Kein Wissen, kein Sinn, kein Zweck, kein Grund, kein Ziel, kein Entfliehn – verflucht!

Er schmetterte den Fuß gegen den Pfeiler, daß er knackte und zur Tiefe fuhr, und häuptlings flog er ihm nach.

Am Abend hatte man seine Leiche aus dem Schlamm herausgeholt, mit ihm den abgebrochenen Pfeiler – den trugen sie zurück auf die Galerie. – Weswegen? Sie wußten es nicht.


Ende

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TextGrid Repository (2012). Sack, Gustav. Romane. Ein verbummelter Student. Ein verbummelter Student. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-B334-5