20. Der Knabe und der Vogel.

In einer großen Handelsstadt lebte einmal ein reicher Kaufmann, dem zu seinem Glücke nichts weiter fehlte, als ein Sohn, denn er hatte keine Kinder. Endlich wurde er auch dieses Glückes theilhaftig; seine Frau gebar ihm einen lieben muntern Knaben, zur Freude des ganzen Hauses.

Als nun das Tauffest gehalten wurde, erschien auch eine Fee, um dem Täufling ihre Geschenke darzubringen. Sie trat zu den Aeltern, und sagte: »Ich könnte ohne Mühe die ganze Wiege eures Kindes mit den köstlichsten Edelsteinen, Diamanten, Rubinen, Saphiren und Smaragden überschütten; aber ihr seyd schon reich genug. Reichthum, ohne die Gabe, ihn nützlich anzuwenden, macht nicht glücklich; darum beschenke ich euern Sohn mit Lebhaftigkeit des Geistes und schneller Fassungsgabe. Dies Beides wird ihn in den Stand setzen, sich nicht nur einen Schatz trefflicher Kenntnisse zu erwerben, sondern die erworbenen Kenntnisse auch gehörig anzuwenden!«

Hierauf verschwand die Fee. – Der Vater, ein eifriger Handelsmann, war mit diesem unsichtbaren Angebinde der Fee nicht ganz zufrieden, und meinte zu seiner [122] Frau, sie hätte dem Kinde wohl ein werthvolleres Geschenk machen können. Die Edelsteine, deren sie erwähnt, wären nicht zu verachten gewesen, und da er auch mit Juwelen handle, so würde er sie mit großem Vortheil verkauft haben, und sein Söhnlein hätte von dem Geldertrag ansehnliche Zinsen ziehen können.

Bei dem Knaben aber entwickelten sich schnell die Geschenke der Fee. Er zeigte im sechsten Jahre einen bewundernswerthen lebhaften Geist; Alles, was er sah und hörte, prägte sich seinem Gedächtnisse tief ein, und er that oft den Aeltern und Bekannten, selbst Fremden, die des Handels wegen zu dem Vater kamen, solche Fragen mit kindlicher Treuherzigkeit, daß die Befragten oft in Verlegenheit geriethen, was sie ihm darauf antworten sollten. Alle bewunderten das kluge und wißbegierige Kind, am meisten aber die Mutter, deren Liebling es um so mehr war, da es keine Geschwister hatte.

Die Folge dieser mütterlichen Liebe war aber, daß sie dem Söhnchen allen Willen ließ, jeden seiner kleinen Wünsche befriedigte, und allen seinen Launen und thörichten Einfällen nachgab. Der Vater und die Hausgenossen folgten ihrem Beispiele, um es nur mit der Mutter nicht zu verderben, und sich bei ihr einzuschmeicheln.

Die Fee, die immer ein wachsames Auge auf den Knaben gehabt hatte, erschien einst der Mutter, und stellte ihr vor, das sie dem Knaben durch ihre allzugroße Nachgiebigkeit sehr schade, sie müsse seinen Willen frühzeitig zügeln, und ihm keine Unarten nachsehen: denn sonst würde ihr Angebinde, statt ihn glücklich zu machen, ihm zu seinem Verderben gereichen.

Die Mutter wagte es nicht, der Fee, aus Furcht vor ihrer Macht, gerade zu in's Gesicht zu widersprechen; sie beschönigte ihre Nachsicht mit ihrer Liebe, und versicherte, [123] daß ihr Söhnchen noch nichts Schädliches begehrt, und nicht Tadelnswerthes gethan habe.

Die Fee ermahnte nochmals die Mutter zur Strenge gegen den Knaben, und bat sie dringend, ihn nicht durch unzeitige Nachgiebigkeit zu verwöhnen, und sein Herz durch eine verkehrte Erziehung zu verderben. – Die Mutter aber achtete wenig auf diese wohlgemeinten Ermahnungen der Fee, und dachte, sie hätte sich um die Erziehung ihres Sohnes nicht zu bekümmern.

An das prächtige, fast palastartige Haus des reichen Kaufmanns stieß ein sehr schöner, großer Garten, geschmückt mit den mannichfaltigsten Bäumen und Stauden; hier wechselten Palmen mit Myrthen und Lorbeerbäumen, Orangen mit Mandelbäumen, blühende Fliederstauden mit Jasmin, und hochstämmige Rosenbäume trugen Blumen und Knospen, roth, weiß und gelb. Auf zierlich abgesteckten Beeten prangten Lilien, Tulpen, Nelken, Narcissen und andere liebliche Blumen; das bescheidene Tausendschön, das blaue Veilchen, die duftende Reseda, die buntbestäubten Aurikel bekränzten diese Beete, und süße Wohlgerüche entstiegen den Kelchen.

In diesem Garten pflegte der Knabe in der schönen Jahreszeit, sobald der Lenz begann, seine Blüthen zu verstreuen, bis der Herbst wieder das Laub von den Bäumen streifte, und die gereifte Purpurtraube gepflückt und zur Kelter gesammelt war, zu spielen. Hier sprang er umher, schlug den Ball, oder haschte Schmetterlinge und Maikäfer, pflückte sich Blumen, und ließ, wenn es später im Jahre war, und die Winde schon stärker weheten, Drachen an einem langen seidenen Faden in die Luft fliegen.

Einst sprang der Knabe in diesem anmuthigen Garten gegen Abend fröhlich umher, und belustigte sich am Werfen mit einem Ball. Dieser flog in ein Gebüsch von Flieder [124] und Rosen. Er wollte den verlorenen Ball dort wieder hervorziehen, aber als er auf dem grünen Rasen kniete, und die kleine Hand in das Laub des Gebüsches streckte, wohin der Ball geflogen war, und der ihm noch roth und gelb entgegen schimmerte, rauschte ein kleines Vögelchen aus dem Dickicht hervor, und setzte sich dicht neben ihn auf eine blühende Rose.

Das Vögelchen war so klein und leicht, daß es die Rose tragen konnte, ohne entblättert zu werden, oder einzuknicken. Sein Gefieder schimmerte in allen Farben des Regenbogens, wie Gold und Edelsteine. Es zwitscherte süße Töne, sah den Knaben mit seinen kleinen, hellleuchtenden Augen sehr freundlich an, und nickte dabei mit dem kleinen, buntbefiederten Köpfchen, als wollte es gleichsam sagen: Da bin ich, greif' mich! –

Der Kleine vergaß hierüber seinen Ball, und verwandte kein Auge von dem schönen Vögelchen. Es erwachte in ihm die Begier, es zu besitzen; er greift nach ihm, um es zu erhaschen, aber der befiederte Gartenbewohner hüpfte von Zweig zu Zweig, doch immer nur so weit, daß er vor einem raschen Angriff des Knaben gesichert ist.

So neckte ihn der Vogel unablässig, und der Knabe wurde dadurch nur noch eifriger, ihn zu verfolgen. Jetzt waren sie bis an das äußerste Ende des Gartens gekommen, der an einen, durch einen Zaun getrennten, großen Wald stieß. Hier flog der Vogel auf die Spitze eines Spaliers dieses Zaunes, und als der Knabe, schon ganz ermüdet, nach ihm greifen wollte, verließ er diesen Sitz, und rettete sich auf den untersten Zweig des Baumes, der im Walde diesem Zaun zunächst stand.

Hier begann das lose Vögelchen auf's Neue sein muthwilliges Spiel mit dem Kleinen, und sein zwitschernder Gesang kam diesem wie eine Art Spott vor, daß er [125] nun, durch den Zaun getrennt, vor seinen Nachstellungen sicher sey.

Dies entflammte bei dem feurigen Knaben die Begier nach dem Besitz des Vogels noch stärker, wie zuvor. Vater und Mutter, und alle ihre Hausgenossen und Umgebungen hatten immer jeden seiner Wünsche befriedigt, und jetzt sollte ein kleiner, unbedeutender Vogel sich gegen ihn widerspenstig bezeigen? Das konnte er nicht ertragen; er bot also alle seine Kräfte auf, sich durch das Gitter des Zauns zu zwängen. Aber so klein und schlank er auch war, so waren die Stäbe doch zu dicht neben einander, und so unbeweglich befestigt, daß alle Anstrengungen seiner kindischen Kräfte es nicht vermochten, nur Einen von seiner Stelle zu rücken. Der Vogel schien diesen fruchtlosen Bemühungen mit Ruhe zuzusehen, und sein Gesang aus der kleinen Kehle klang fort, wie ein höhnendes Ha! ha!

Das verdroß den Knaben noch mehr. Er versuchte über den Zaun zu klettern; mit vieler Mühe erreichte er die Spitze desselben, sprang dann hinunter, blieb aber an einem der Zacken des Gitterzauns mit dem feingewebten Gewande hängen, und zerriß es in Fetzen. Dieser Umstand schmerzte ihn zwar, doch vergaß er ihn bald über den Vogel, der ihn ganz furchtlos emporklettern und herunterspringen sah, ohne sich nur im mindesten von dem Zweige zu entfernen, auf welchem er saß. Er hatte sogar jetzt das Köpfchen unter die Flügel gesteckt, als wenn er schliefe, und der Knabe zweifelte nicht, ihn jetzt sicher zu erhaschen. So wie er aber die Hand nach dem, zum Schein schlummernden, Vogel ausstreckte, rauschte dieser empor, und wählte einen andern entfernten Zweig zu seinem Sitz.

Unmuthig über diese fehlgeschlagene Bemühung beschloß der Knabe, seinen Vorsatz auszuführen, es koste, was es wolle. Der Vogel aber lockte ihn immer tiefer in den Wald, [126] der mit jedem Schritte immer unwegsamer und finsterer wurde. Die Dämmerung trat ein: kaum schimmerte ihm noch das glänzende Gefieder in dem Dunkel des Hains, wie ein leuchtendes Marieenwürmchen, und er würde die Spur des Vogels ganz verloren haben, hätte dieser nicht durch seine Töne sich ihm mehr verrathen, als durch den Glanz seiner Federn.

Plötzlich trat eine rabenschwarze Nacht ein; Wolken hatten den Himmel umzogen; die Sonne war untergegangen, und ein fernher rollender Donner, und das Leuchten der Blitze verkündigten ein herannahendes Gewitter. Ein Sturm erhob sich, feurige Blitze durchkreuzten die schauervolle Finsterniß, und ein heftiger Gewitterregen strömte vom Himmel herab. Der Vogel war verschwunden; auch hatte der Knabe in dieser Angst gar nicht weiter an ihn gedacht; sein einziger Wunsch war nur, aus der Wildniß wieder in das älterliche Haus sich zu flüchten; aber seine Kräfte waren erschöpft; er sank ohnmächtig unter einen Baum, dessen Zweige unter dem Toben des Sturmes erseufzten.

Da der Knabe bei dem herannahenden Gewitter nicht wieder aus dem Garten in das Haus zurückgekommen war, so eilten Vater und Mutter dorthin, um ihn aufzusuchen. Vergebens riefen sie ihn mit Namen; keine Antwort erfolgte. Sie kamen endlich bis zu dem Zaun und der Gegend, wo ihr Sohn übergestiegen war. Hier fanden sie einige herumliegende Fetzen seines zerrissenen Kleides, und kamen ihm dadurch auf die Spur.

Mit Laternen versehen mußten nun alle Diener und Dienerinnen des ganzen Hauses den Wald durchstreifen, um den verlorenen Sohn wieder zu finden. Die Mutter lief immer voran, denn ihre Angst um den Liebling ihres Herzens war am größten. Endlich entdeckte sie ihn sanftschlafend unter einem Baume, weckte ihn auf, schloß ihn vor [127] Freuden fest in ihre Arme, und bedeckte ihn mit Küssen mütterlicher Zärtlichkeit.

Jetzt war auch der Vater hinzugekommen, und nachdem der Rausch der ersten Freude des Wiedersehens vorüber war, begannen beide Aeltern, am meisten aber die Mutter, dem Sohne Vorwürfe zu machen, wie er sich so leichtsinnig und verwegen aus dem Garten hätte wagen können. Er erzählte Alles, wie es ihm ergangen sey, und bedauerte nur, als er sich gerettet sah, daß er den Vogel nicht erhascht habe.

Da erschien die Fee, und sagte: »Alles dieses war mein Werk, um dich, Kind! zu belehren, daß die Begierde, jeden Wunsch zu befriedigen, den Menschen nach und nach, statt zu beglücken, oft in großes Verderben stürzt. Nur der wird in späteren Jahren glücklich und zufrieden seyn, der schon in der Kindheit lernt, gehorchen und entbehren. Lerne demnach, deine Wünsche und Begierden einzuschränken und zu zügeln. Ich würde dir, zur Erinnerung an diese Lehren, und an die Erfahrung, die du gemacht hast, als du so ungestüm den Vogel verfolgtest, und ihn für jeden Preis haben wolltest, diesen gerne jetzt geben, aber das ist unmöglich: denn dieser Vogel war – ich selbst!«

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TextGrid Repository (2012). Lehnert, Johann Heinrich. Märchen. Mährchenkranz für Kinder. 20. Der Knabe und der Vogel. 20. Der Knabe und der Vogel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DCC9-6