Friedrich Maximilian Klinger
Betrachtungen und Gedanken
über verschiedene Gegenstände
der Welt und der Literatur

[2] Zueignung

DIESE Schrift, wie alle in der Sammlung enthaltne[n], widme ich den Deutschen, meinen Landsleuten, für die ich sie geschrieben – als dem Volke, das so hoch in der Kultur steht, daß man mit Kraft und Wahrheit, im biedern deutschen Sinn, zu seinem Nutzen und seiner Unterhaltung schreiben kann.

[2]

1801. 1802

[3] [402]DER Optimism[us] und Pessimism[us] sind Zwillingsbrüder. Ob der letzte ehebrecherisch durch Superfötation hinzugepfuscht sei, ist jetzt, da man die Mutter vor kein geistliches Gericht ziehen kann und der Vater immer schweigen wird, schwer auszumachen. Mir scheinen sie beide ehrlicher Geburt, keiner älter als der andre und, um allem Streit über Erbfolge und Erbrecht zuvorzukommen, in einem nicht zu unterscheidenden Wurf ans Licht der Welt geworfen worden zu sein. Wer ihr Vater ist? Das »Pater est, quem demonstrant nuptiae« läßt sich hier nicht anwenden. Fragt die stumme Ewigkeit! Genug, die Zwillinge sind da und sind – so entgegengesetzter und widersprechender Natur sie auch sein mögen – so innig verbunden und unzertrennlich, wie sonst nichts in dem ganzen Universo innig verbunden und unzertrennlich zu sein scheint. Alles, was durch sie geschieht – und was geschähe wohl ohne sie? –, trägt die Farben beider, so kreischend diese auch gegeneinander abstechen. Keinen Augenblick kann man einen ohne den andern besitzen; und scheint auch einmal einer allein zu Gaste zu kommen, so tritt doch gleich der andre hinterdrein, als könnte er ohne seinen geliebten Gesellen nicht atmen und sein. Der erste scheint indessen immer etwas träger zu sein, wenn er kommt, als wenn er sich empfiehlt. Kurz, dieses edle Brüderpaar hat sich so ziemlich, ohne weiter ihr Recht zu beweisen, zu Herren und Herrschern der moralischen und physischen Welt gemacht; und ist der letzte wirklich [402] ein Bastard, wie ihm die, bei denen er den Herrn über seinen Bruder spielt, oft laut nachsagen, so möcht' ich wohl den ehrlich gezeugten Bruder fragen, warum er sein Geburtsrecht nicht besser behauptet habe. Vielleicht würde er mir weislich antworten: »Durch diese Zulassung erwies ich erst recht meinen Wert.« Aber eine weise Antwort ist nicht für alle Leute eine befriedigende Antwort.

1


[403] [133]DIE wahre Regierung muß einem fruchtbaren Sommerregen gleichen, der das trockne Land befeuchtet, ohne daß man ihn hört. Es haben Regenten gelebt, die die Staatsmaschine mit solchem Gepolter, Gerassel, Geräusch, Geklatsche und Ungestüm herumtrieben, daß jeden Augenblick zu befürchten war, sie oder die Maschine müßten davon zertrümmert werden.

2


[133] [405]WENN ich auch die höchste und dünnste Stufe der skeptischen Leiter bestiegen habe, so führt mich immer die Poesie (im hohen Sinne des Worts) einige Stufen abwärts. Sie beweist den moralischen Sinn im Menschen; und diese schaffende, erhebende, beseligende Kraft konnte nur aus ihm entspringen. Alle Virtuosität, die Tugend selbst ist Poesie und wird nur von den sanften, glänzenden Fittichen derselben emporgetragen und gehalten. Auch beweist der Lohn, den beide in der Welt finden, ihre nahe Verwandtschaft. Und doch sind sie da, werden wohl immer dableiben. Woher kömmt doch dem Menschen dieses eigensinnige Verharren auf Dingen, die sich so schlecht lohnen?

3


[405] [468]DER idealisierende Dichter und der Satiriker nehmen sich beide vor, uns den Menschen zu malen. Der eine taucht seinen Pinsel in den ätherischen Glanz, den er in seiner Entzückung vor dem Schemel des Allerheiligsten schweben sieht; der andre taucht ihn in stinkenden Morast. Wäre es möglich, die beiden ganz widerstrebenden Stoffe gehörig zu mischen, und es führte ein Maler ohne zu ekstatisches Entzücken und ohne zu galligten Humor den Pinsel, so möchte vielleicht das wahre Gemälde des Menschen über der Staffelei erscheinen.

4


DIE Deutschen haben keine hervorstechenden Satiriker oder vielmehr keine Satiren, die ein Mann, der die Welt und die Menschen kennt, lesen mag. Kömmt es etwa daher, weil sie alles verehren, was reich und groß ist? Weil sie ein leidendes, kein politisches Volk sind? Oder ist die deutsche Treuherzigkeit und Gutmütigkeit daran schuld, da sie sich immer begnügen und bei den ihnen mißfallenden Vorfällen denken, es ließe sich wohl noch ertragen oder bei genauerer Untersuchung manches zur Entschuldigung des Widrigen sagen? Das gute Volk glaubt sogar, Rabener sei ein Satiriker. Ein guter, witziger Schriftsteller war er wirklich, aber nur ein Satiriker, der einem obige Fragen noch näher legt. Man vergleiche nur das, was er behandelt, mit dem, was Swift und Rabelais behandelten. Gehört aber der Stoff [468] und die Bearbeitung des alten Gedichts »Reineke der Fuchs« wirklich einem Deutschen, so haben wir einen Satiriker, den man mit diesen Männern nennen kann.

5


[469] [405]BEI keinem Volke hat die schöne und täuschende Idee von immer steigender Veredlung des Menschengeschlechts mehr gläubige Anhänger und Verehrer gefunden als bei den Deutschen. Vielleicht darum, weil sie noch das moralisch beste Volk unter den kultivierten Völkern unsrer Erde sind. Wer wird es nun einem edlen Manne verargen oder seinen Glauben zu nah' an die widersprechende Erfahrung halten, wenn er ihn durch schöne dichterische Bilder und platonische Gedanken zu befördern sucht? Sein Glaube entspringt aus seinem Herzen – und hoffentlich auch aus dem Herzen seines Volks – und ist mit jener Poesie verwandt, von welcher ich oben sprach.

6


[405] [445]KANN man die deutschen Sitten und Gebräuche, ihren Charakter, ihre Denkungsart nach den Werken ihrer Schriftsteller beurteilen? Mir scheinen sie mehr die Schriftsteller der ganzen Erde zu sein, keinem Volke besonders anzugehören und nicht mehr Charakter zu haben als ihre politische Reichsverfassung. Was man von den meisten sagen kann, ist: daß sie Schriftsteller sind, daß sie alles zusammenraffen, alles schildern, alles auftragen, ohne sich nur im geringsten an eignen Ton und Farbe zu halten. Das Vaterländische allein scheint ihnen fremd. In den Übersetzungen ihrer Werke erkennt man an einer gewissen Nüchternheit und Enge der Begriffe, an einer gewissen Charakterlosigkeit auf den ersten Blick, daß das Machwerk auf einem Boden entsprungen ist, der sich durch nichts bezeichnet. Man sagt von großen Schriftstellern, daß sie nicht einem Volke, sondern der ganzen Welt gehören. Spräche ich in diesem Sinne, so hätte ich Klopstock, Goethe, Schiller usw. genannt; aber diese bezeichnet der Charakter des Genies, das durch jedes Werk seine Herkunft beweist. Jedes gute, ja sogar jedes mittelmäßige französische oder englische Werk hat den Ton und die Farbe der vaterländischen Sitten und Gebräuche. Warum haben sie die deutschen nicht?

7


[445] [144]DIE Großen und der Hof hatten in Frankreich die Grundsätze (das, was man jetzt »Mißbrauch der Philosophie« oder »heutige Philosophie« nennt) schon lange praktisch ausgeübt, eh' sie die Philosophen in ihren Werken systematisch aufstellten. Wann haben wohl die Großen und Menschenführer Bücher um Rat gefragt, wie sie ihr Geschäft treiben sollten! Der Lehrmeister ist ihnen viel näher, und das Praktische stellt sich bei ihnen ohne alle Theorie ein. Zu allen Zeiten haben wohl die herrschenden Sitten die Schriftsteller nach ihrem Geiste gebildet, aber wann die Schriftsteller die Sitten nach dem ihrigen? Und wer von den Großen liest den Sittenrichter, der sich der Zurechtweisung anmaßt?

8


WENN ich von den Großen im Staate oder am Hofe rede, so will ich damit eben nicht immer sagen, sie verdienten diese Benennung immer wegen ihrer großen und wichtigen Taten und Tugenden; vielleicht denke ich nur dabei, sie hätten den Beruf dazu. Vielleicht erinnert mich dieser laute Schall auch nur an die Gefälligkeit und Gutmütigkeit der Kleinen.

9


[144] [5]DER höchste Genuß für mich in diesem Leben war bis jetzt die Hervorbringung einiger meiner Schriften, dann ein witziger Einfall unter munter-geistreichen, sich verstehenden Gästen bei Tische, der das Lachen rechter Art erweckte, oder ein kühnes Bild, ein starker, verwegner Gedanke, die plötzlich, ganz ausgerüstet, dem Geist entsprangen, tiefen Sinn enthielten, die Zuhörer in angenehmes Erstaunen oder mit Furcht vermischte Verwundrung versetzten. Der Augenblick ist voll wahren ästhetischen Genusses, wenn die Anwesenden nach und nach, mit noch schüchternem Blick, nach dem Manne hinsehen, der die Blitze so kühn über ihre Häupter schleuderte, ohne sie zu versengen.

10


[5] [498]MAN streute wohl ehemals Goethen Weihrauch; jetzt aber erkühnen sich Knaben, ihn mit Teufelsdreck zu parfümieren. Ich würde sagen: Was für einen Zauber muß Schmeichelei mit sich führen, da Goethe nicht an einem solchen Gestank erstickt! Aber ich denke zu gut von ihm, als daß ich einen Augenblick glauben sollte, er habe diesen Gestank gerochen. Wären »Wilhelm Meister« und »Hermann und Dorothea« nicht von so gutem Atem, wie würde es ihnen unter einem solchen Rauchfaß ergangen sein? Und doch glauben verständige Leute zu bemerken, ihre Farbe sei etwas blässer dadurch geworden. Übrigens gehört den Deutschen der Ruhm dieser neuen Vergiftungsart zu, und hoffentlich wird kein Volk sie ihnen streitig machen wollen.

11


[498] [353]EINEM Unerfahrnen Lebensregeln geben, heißt: einem Ungeübten Unterricht im Fechten durch Zuschauen geben. Das Auge unterscheidet die Stöße nicht, und doch gleicht einer dem andern so wenig als ein Fall des Lebens dem andern. In Büchern nehmen sie sich sehr gut aus, und ein Welterfahrner kann bei Lesung derselben ebendas Vergnügen empfinden, das ein Weltumsegler bei einer Reisebeschreibung fühlt, die ihm bekannte Untiefen, Klippen, Sandbänke mit den dabei ausgestandnen Gefahren ins Gedächtnis ruft.

12


[353] [449]DER fanatisch-royalistische Schriftsteller ist mir ebenso verhaßt als der fanatisch-demokratische. Gewöhnlich verteidigt der erste einen sultanischen Despotismus und schadet einer Sache, auf welcher notwendig das Glück der Menschen gebaut ist, der andre baut ohne Grund und tut dasselbe. Beide sind nun außer der Zeit. Der erste suche nun von dem Äußern des zweiten etwas Gefälligeres und Gesetzlicheres anzunehmen, so wird alles recht gut gehen. Wer wagt dann noch aufzustehen und ein freches Wort zu sagen?

13


[449] [256]UM orthodox zu reden, so hat auch die »Vorsehung« die Französische Revolution, wie alles, herbeigeführt. Das heißt: Sie fand die Voraussendung aller der uns empörenden und erschreckenden Greuel nötig, um endlich das zu bewirken, was wir nun sehen. Man muß ein Theolog sein, und ein recht orthodoxer, um diese Angel zu verschlucken, an der sich auch ein Walfisch verbluten könnte.

14


[256] [348]WENN die Menschen die moralische Kraft hätten, alle ihre moralische Kraft zu gebrauchen, so möcht' ich wohl das Wesen der Gesellschaft sehen, wenn noch so etwas bestehen könnte. Ein einziger Mann von ganzem, unbiegsamen, gediegenen Charakter ist der Schrecken der ihn Umgebenden, ein Felsen, gegen den der Strom verunglücktes gläsernes Geschirr treibt.

15


DIE härteste und schwärzeste Erfahrung, die wir zu machen haben, ist die Anerkenntnis, daß wir im tätigen Leben das ganz Entschiedene unsers moralischen Werts verbergen müssen, wenn wir geduldet werden wollen. Nur mit dem, was man nicht fürchtet, was man nicht zu achten gezwungen ist, woraus das gewöhnliche moralische Wesen der Gesellschaft besteht: mit schielenden, schwankenden Halbtugenden verstattet man aufzutreten, und auch nur diese machen uns der Gesellschaft erträglich.

16


ALLES, was uns Vater, Mutter, Lehrer und Bücher in der Jugend als feste moralische Lehren so sorgsam einzuflößen trachten, müssen wir auf der Bühne des Lebens zu verschleiern oder gar zu vergessen suchen. Der sie ganz befolgen will, muß die Beschränktheit und Einsamkeit wählen. Nun frage ich: Was ist denn die Gesellschaft, die ihr widersprechende Erziehung dazu, [348] wenn es so ist? Das Sonderbare aber, meiner Meinung nach, liegt noch mehr darin, daß man uns trotz allem dem nach so vielen tausend Jahren noch immer in der Jugend gegen den Strom zu schwimmen lehrt, ob man sich gleich bewußt ist, daß der Strom für die Kraft des Stärksten zu mächtig ist. Hier waltet abermals etwas von der Poesie, von welcher ich oben 1 sprach.

17


[349] [256]VOLTAIRE, Montesquieu, Rousseau, Mably, Diderot, die Ökonomisten und Enzyklopädisten sollen durch ihre Schriften die Französische Revolution geschaffen haben – so sprechen die Ausgewanderten, und wer nicht denken kann oder mag, ihnen nach. Sie vergessen (die Ausgewanderten wissen warum) die Ränke, den Stolz, die Habsucht und Zügellosigkeit der Großen seit der Minderjährigkeit Ludwigs XV. Doch wer mag sich hierbei aufhalten? Und was wäre wohl ohne obige Genies am Ende aus der Revolution hervorgegangen? Ebendas, was aus der Türkei hervorgehen würde, wenn dort eine politische Revolution statthaben sollte: noch grausamere Szenen und eine gänzliche Auflösung. Haben diese Genies wirklich etwas zur Entwicklung der Revolution beigetragen – nachdem sie so gut vom Hofe und vorzüglich von den Großen vorbereitet war –, so haben sie auch den Samen in ihren Schriften hinterlassen, den man wieder aufgehen [256] sieht. Im Wiederaufbauen zeigt sich das aufgeklärte Volk; die andern können nur niederreißen und dann sich zerstreuen!

18


DASS etwas Teuflisches (ein dunkles Wort; aber es bezeichnet) in der menschlichen Natur ist und sich der Oberherrschaft bemächtiget, sobald es nur kann, haben wir während der Französischen Revolution anschaulich genug gesehen, und es hat beinahe das Ansehn, als sei es nur dieses Teuflische, das den Sumpf bewege, in dem das Menschengeschlecht sich herumwälzt. Mit guten Absichten wird immer angefangen (wann je mit reinern, edlern von seiten der Regenten?); aber sie sind allein nicht hinreichend, die Kräfte aufzurühren; die scheußlichen wilden Leidenschaften sollen, müssen zum Ziel führen, und nur wann sie ein Ungeheuer, das alle verschlingt und alle noch übrigen zu verschlingen droht, ausgebrütet haben, blickt man wieder auf den Zweck zurück, den die guten Absichten angedeutet haben. So schien auch dieses Werk ohne Teufeleien nicht gelingen zu können und prägte sich zur Beschämung des Menschengeschlechts dadurch recht zum scheußlichen Menschenwerk. Gelungen ist [es] nun einmal, wir mögen es nun anstaunen, verfluchen, bewundern oder uns davor kreuzigen und segnen. Es ist doch nur Menschenwerk und leider ganz natürlich zugegangen, so teuflisch es auch aussieht. Da habt ihr eine allgemeine Weltgeschichte zur Lehre und Warnung in einem Atemzug, wie freilich noch kein deutscher Professor seinen Zuhörern eine zum Leitfaden zugeschnitten hat.

19


[257] [263]WENN etwas Sonderbares und Bedeutendes im deutschen Charakter ist und ihm Ehre macht, so ist es dieses: daß die Gelehrten dieses Volks noch im achten Jahre der Französischen Revolution untersuchten, ob die Franzosen auch ein Recht dazu gehabt haben. Hätten sie dieses ausfinden können, so hätten sie sich wahrscheinlich über ihre Leiden getröstet. Und dieses Gefühl für Recht ist das Gefühl des ganzen Volks. Haben Deutschlands Völker diesen Sinn für Recht nicht in den gefährlichsten Zeiten aufs kräftigste bewiesen? Ihren Fürsten trotz dem von ihnen so laut, durch so auffallende Maßregeln gezeigten Mißtrauen so bewiesen, daß man kein Dorf auf dem deutschen Boden zu nennen weiß, das seine Bürgerpflichten verletzt hätte? Ich hoffe, Deutschlands Fürsten werden es erkennen; werden erkennen, daß, wenn die Weltgeschichte kein Ereignis aufgezeichnet hat, das der Französischen Revolution gleicht, sie auch kein Volk nennt, das bei solchem Unglück, in solcher Not und solchen Versuchungen es so mit Recht und Pflicht und seinen Fürsten gehalten hat. Und da ich aus vielen moralischen Ursachen stolz bin, ein Deutscher zu sein, so bin ich es aus dieser vorzüglich.

20


[263] [301]WER, möcht' ich sagen, das Tierische, Fleischliche, Sinnliche eines durch weisheitsvolle Schriften berühmten Mannes nicht gesehen und beobachtet hat und seinen Charakter nach seinen Büchern zusammensetzt, der könnte ebensogut von einer Stadt sagen, durch die er einmal auf Reisen bei schönem Wetter und Sonnenschein gefahren, es wäre dort immer schönes Wetter und Sonnenschein; besonders wenn ein solcher Mann ohne Leidenschaft, Humor und Laune, folglich immer weise und klug schreibt. Hier kann man sich oft bei näherer Besichtigung, wenn man noch einigen Zweifel hat, aufs innigste überzeugen, daß zwei sich ganz entgegengesetzte Dinge in dem Menschen hausen: ein Gott und ein Tier, die sich wechselsweise ausspannen und ablösen; zweispännig fährt doch der Mensch in den Hauptmomenten nicht, denn wenn der Gott den Zügel ergreift, steigt das Tier murrend hinten auf; faßt ihn das Tier, so muß sich der Gott ohnedem gefallen lassen, hinten aufzutreten. Wir lesen jetzt Bücher und sogar periodische Schriften, die uns erheben, durch ihre hohe Weisheit und schöne Menschlichkeit beruhigen und beseligen. Sähen wir manchen ihrer Verfasser näher, wir würden über das sinnliche, irdische, körperliche, eitle, leidenschaftliche Tier erstaunen, das so göttlich reden kann, und gar nicht begreifen, wie es zu gewissen Stunden die grobe Hülle abstreifen und [wie] ein Wesen einer andern Welt vor uns treten konnte. Ein solcher Mann scheint unter dem Stabe einer Fee zu stehen, die ihn durch eigensinnige [301] Berührung umwandelt. Aber kann und soll dieses den Glauben an seine Weisheit oder die Lehren derselben schwächen? Mich dünkt: Es muß ihn vielmehr in den Augen des billigen Beurteilers erhöhen; denn beweiset es nicht das wirkliche Dasein dieses Gottes um so kräftiger, wenn der ihm huldiget, der von dem gefährlichen Tier so gewaltig hin und her gezerrt wird?

Darum mochte freilich das öffentliche und mündliche Lehren in den Hallen, Gärten, auf den Spaziergängen, wie es bei den Griechen Sitte war, etwas gefährlicher und bedenklicher sein. Man mußte sich doch, um nicht durch eignes Handeln und Wirken im täglichen Verkehr des Lebens mit seinen Lehren im Widerspruch zu stehen, etwas mehr zusammennehmen, als wenn man bloß, unbekannt und unsichtbar dem Publikum, das man sich als Schüler denkt, im Kabinett die Feder führt und sich in den besten, gesundesten Stunden des Geistes und Herzens zur Höhe seines Gegenstandes schwingt, windet oder schraubt. Daher kommt auch wohl das Gehaltene, Übereinstimmende im Reden, Tun oder etwanigen Schreiben des einmal angegebenen oder angenommenen Charakters der griechischen Philosophen. Diogenes hätte vielleicht nur in Büchern hündisch gebissen und die Reichen, Üppigen, Schwelger und Ungerechten verhöhnt und zur Schau ausgestellt, übrigens aber gelebt wie jeder Autor, der auf alles dieses schimpft und demohngeachtet so gut ißt, trinkt, sich bettet und kleidet, als er und der Verleger es bezahlen können; Diogenes mußte wirklich wie ein Hund leben, wenn er sich und seine Lehren nicht lächerlich und verächtlich machen wollte. Ob Sokrates zur Bekräftigung seines öffentlichen Lebens und Lehrens im Gefängnis, das man ihm öffnen wollte, geblieben wäre, um für beides den Tod zu leiden, wenn er in seiner Stube geschrieben und das Geschriebene an den Buchhändler verkauft hätte, anstatt es jedermänniglich auf den Straßen und in den Werkstätten zu predigen, ist wenigstens eine erlaubte Frage, die ihn und seinen Dämon in allen Ehren lassen soll.

Doch haben nicht auch wir Lehrer der Weisheit und Moral in [302] unsern Hörsälen? Aber kommt man über mehr mit ihnen überein, als daß sie zu gewissen Stunden des Tags einer gewissen Anzahl junger Leute, etwa für sechs oder acht Taler, ihr Kompendium nach ihren Heften erläutern, die Schüler dieselben nachschreiben, ohne daß sich der Schüler um den Lehrer und der Lehrer um den Schüler weiter bekümmere. Was der Lehrer gesprochen, hat der Schüler schwarz auf weiß; die Schule ist gemacht – das heißt: Er hat geschwatzt, sie haben gehört!

21


[303] [490]WENN man Schillers »Don Carlos«, »Wallenstein«, Goethes »Tasso«, »Iphigenie«, Lessings »Nathan«, Klopstocks »Oden« und »Messias« und einige andre Werke liest, so fragt man sich wohl, wenn man wieder zu sich kömmt: Welch ein Volk muß dieses sein, für das man so etwas schreibt und das es zu schätzen weiß? Die Täuschung löst sich, wenn man die Götzen dieses Volks ansieht, die auch ihre Tempel haben – und weit besuchtere Tempel als die wahren Götter! Aber hat die Natur nicht jeder Art der Tiere die ihnen zukommende Nahrung aufgetischt? Warum sollte es hier anders sein? Und was wäre wohl mit Recht dagegen einzuwenden? Die Götzen wissen doch, daß sie nur Götzen, daß ihre Priester nicht die wahren sind, daß nur Götzendienst mit ihnen getrieben wird.

22


[490] [457]WIE sehr bedauert man nicht, wenn man Garves vortreffliche Versuche voller Weisheit, politischer Klugheit und schöner Moral liest, daß der edle Mann so schwer einherzieht, so gar dogmatisch ist und uns gar so sehr den Professor zeigt! Wann werden die Grazien die Sohlen unserer Prosaisten beflügeln, wie sie es den französischen Prosaisten so gefällig tun? Wieland selbst, dem doch die Grazien bei seinen Gedichten so oft zur Seite stehn, scheint, wenn er Prosa schreibt, Blei an den Füßen zu haben. Und die Weitschweifigkeit, die uns nichts erläßt, die uns alles auskramt, die uns für gar zu dumm hält!

23


[457] [303]WELCH ein schönes moralisches Ganze stellt das Leben der Greise Klopstock und Gleim auf! Übertreffen wir Deutschen die Franzosen in der wahren Poesie, so übertreffen wir sie auch in der Moralität; und beide sind so eng verbunden, daß keins ohne das andre bestehen kann. Und welch eine Reihe von Namen Verstorbener ließe sich in diesem Sinne hinzufügen: Lessing, Garve, Mendelssohn, der edle Georg Schlosser aus Frankfurt – das Bild der reinsten Menschentugend!

24


[303] [269]DIE deutschen Fürsten und des Reiches unmittelbare Ritter kommen mir während des ganzen letzten Krieges vor wie der hohe französische Adel, als Richelieu Rochelle belagerte. Einer fragte den andern: »Werden wir wohl so toll sein, Rochelle einzunehmen?« Jetzt suchen die deutschen Fürsten bloß Entschädigung für die Kosten der Belagerung, und zwar, da die Festung des Feinds nicht übergegangen, auf Kosten ihrer Mitstände. Wäre aber die Festung wirklich von den Übermächtigen, an die sie sich so fest angeschlossen hatten und anschließen mußten, eingenommen worden, wie wäre es ihnen selbst ergangen? Und wie sonderbar das Schicksal sogar auch mit den deutschen Fürsten zu spielen wagt! Diejenigen geistlichen Fürsten, die vorzüglich den Lärmen zur Belagerung geblasen haben, scheinen zwar etwas berupft, doch noch so ziemlich davonzukommen. Mögen sich die säkularisierten gefürsteten Äbte und Bischöfe damit trösten, daß es wenigstens Männer ihres Standes waren, die das Feuer anlegten, welches ihre Fürstenstühle nun zu verzehren droht. So wird es sich dann jetzt ausgleichen bis zu einer neuen Staatsaktion.

25


[269] [200]IN Frankreich stürzte, wie man sagt, der Dritte Stand den Thron (den doch der Hof und die Großen untergruben, als seien sie nur dazu gedungen), weil der Hof zu nachsichtig und die Großen zu habsüchtig und eitel waren, die Militär- und Staatsbedienungen dem Dritten Stand zu erteilen oder mit ihm zu teilen. Gleichwohl übertraf der Dritte Stand die beiden höhern an Reichtum, Kultur und Kenntnissen. Hier ein Gegenbild: Der russische Hof findet eine Stütze in dem Dritten Stand gegen den Geburtsadel, dessen Aristokratie und die leibeigenen Bauern. Jeder, der der Krone dient, er sei freigewordener Soldat, aus dem Sklavenstand entlassener Bürger, freigeborner Bürger oder Ausländer, gehört zu dem Adel und genießt dessen Rechte, sobald er Offiziersrang im Zivil-oder Militärstande erhält. Hier hört also aller Neid auf, und dem Verdienst und dem Ehrgeize sind die Tore ohne Unterschied geöffnet. Ja der Dienst des Staats adelt hier mehr als Geburt, weil der Geburtsadel nur durch ihn bedeutend hervortreten kann. So glänzt zwar der Adel, aber er blendet nicht. Wahrscheinlich wäre dasselbe (durch ähnliche Maßregeln, wie sie die eigentümliche Lage des Reichs gestattet) in Frankreich erfolgt, die Eifersucht erloschen, und alles hätte eine andere Wendung genommen. In Frankreich zog der Geistliche den Zehenten von dem Erwerb des Bauern; in Rußland bearbeitet der Geistliche das ihm zugeteilte Feld wie der Bauer, und der Sohn des Geistlichen muß, wenn es gefordert wird, als Soldat dienen [200] wie der Sohn des Bauern. Hat der Mönch hier auch ein bequemeres Leben, so hat er doch gewiß ein noch armseligeres als der Weltgeistliche. Überdem sind die russischen Geistlichen die tolerantesten und genügsamsten, die ich in Europa kenne, und ersetzen an Ruhe dem Staate, was er an ihrer wenigern Kultur verliert. Ihr Stand ist also für den Staat kein Stand in politischer Bedeutung. Wollte man die meisten Staaten den gallischen Entwickelungen, soweit sie nützlich sind und sein können, näherbringen, so müßte man das Übergebliebene des Feudalsystems nach und nach ausrotten; wollte man Rußland den übrigen europäischen näherbringen, so müßte man das Gegenteil tun: Man müßte das Feudalsystem in der besten Art nach und nach einzuführen suchen, damit es den Kreis der andern durchlaufe. Aber welcher Sterbliche wagte, einen Rat zu geben und das Schicksal von vierzig Millionen Menschen auf seine Schultern zu nehmen?

26


[201] [329]»HABE den wahren Geist deines Postens, Standes und Berufes, so hoch oder so niedrig du auch im Amte stehen magst!« Dieses sollte man allen Staatsbeamten von dem höchsten bis zu dem niedrigsten täglich zurufen; nur bei der Klerisei wäre es ein unnützes Geschäft.

27


[329] [449]ES gehen wirklich mehr Talente in der Welt verloren, als ausgeübt werden, und dieses beweist, daß wir reicher an Geisteskräften sind, als das von der politischen Gesellschaft uns zugeschnittne Maß auszuüben verstattet. Auch mögen wir ebenso gut klagen, daß mehr von den Naturprodukten verloren geht, als wir verzehren; denn daß sie etwa andern Geschöpfen und Insekten dienen mögen – was kümmert dies den Menschen, für den alles andre gemacht ist? Aber wozu dienen ungebrauchte Talente? Etwa dazu, daß wenigstens diejenigen, welche den Spielraum zur Entwickelung der ihrigen gefunden haben, davon leben können. Beispiele erläutern am besten: Wir haben im lieben Vaterland sechs- bis siebentausend arbeitende Federn; dreißigtausend und mehrere wären gewiß fähig, die Feder zum Bücherschreiben [449] zu führen, wenn sie in die Lage gekommen wären, dieses Talent zu entwickeln. Könnte nun das Publikum die Arbeit von dreißigtausend Federn bezahlen, wie es sechstausend bezahlt? Und gesetzt, es wäre so gefällig, das gute Publikum: Wäre dies nicht eine stärkere Kontribution als die letzte französische?

28


[450][201]

Über den Kaiser Alexander den Ersten

NACH den ersten Empfindungen und Betrachtungen, welche die Todesnacht Kaiser Pauls des Ersten in mir erweckte, wandten sich mein Herz und Geist plötzlich auf seinen jungen blühenden Nachfolger, der unter solchen Umständen, in diesen Jahren, nach solchen für einen Erbprinzen seltnen Erfahrungen den Thron bestieg. Der denkende Mann, der alles Vorhergegangene beobachtet hatte, in diesem Augenblick vieles ahndete und dabei den Vorhang der Zukunft etwas zu heben suchte, konnte jetzt auf dieser Erde keinen anziehendern Gegenstand seiner Betrachtungen finden. Ich sah den in jugendlicher Schönheit blühenden Monarchen um neun Uhr aus seinen innern Zimmern heraustreten; der ganze Palast war voll noch stummfreudiger Menschen jedes Standes, jedes Ranges, die alle, noch erstaunt über die plötzliche Veränderung, ihre forschenden Blicke aufeinander und dann auf [201] ihn hefteten. Die Herzen gehörten ihm schon lange. Alles, was in mir lebte, dachte und empfand, schien mir jetzt in ihn eindringen zu wollen, um mit ihm zu fühlen und zu denken; ich würde nun etwas Anziehenderes schreiben, wenn ich alle Gedanken und Empfindungen wiederum so lebendig aus meinem Innersten hervorrufen könnte, wie sie in jenem merkwürdigen Augenblick mein Innerstes bewegten. Das Gefühl seiner Lage schien sich in sanftem Trauern, aber in tiefem Bewußtsein seines reinen, edlen Sinnes auf seinem schönen Gesichte auszudrücken. Die Menge, welcher er heute das erste und jetzt gewiß schmerzliche Opfer durch seine öffentliche Erscheinung bringen mußte und die sich um ihn her und hinter ihm wie ein Strom ergoß, schien in seinem Herzen eine schmerzliche Empfindung zu erwecken. Ich sah, daß er tief dachte und tief fühlte. Sein blondes Haar war in Unordnung und ohne Puder. Er hatte eine sehr schwere, sehr bedeutende Nacht gelebt; sein ganzes Äußere trug die Spuren davon in sich. Meine Betrachtungen wurden jetzt ernster in diesem Menschengewühle; wohin ich blickte, sah ich Gesichter bedeutender Leute, deren jedes mir eine Reihe neuer, sonderbarer Ideenverbindungen aufdrang. Hoffen, Furcht, Freude, Angst, Ungewißheit, Besorglichkeit, gutes Bewußtsein, unruhiges Gewissen drückten sich nach den verschiedenen Lagen und Verhältnissen auf den Gesichtern der bedeutenden Männer aus, die hier gedrängt zusammenstanden und von welchen jeder sein Schicksal dem kaiserlichen Jüngling abzufragen schien. Ich kannte seine ganze moralische Würde, seine Milde, seine Güte, seine Gerechtigkeitsliebe, seinen feinen, schonenden Sinn; aber die seltne Tugend, die allen diesen schönen Eigenschaften die Krone aufsetzt, die sie erst zu königlichen Tugenden macht, der feste Wille, die unerschütterliche Stärke in der Ausübung dieses moralischen Sinnes und der anerkannten Pflichten waren noch nicht erprobt. Erst jetzt trat er in die Schranken, diesen gefährlichen Kampf mit sich und den noch weit gefährlichern mit denen, welchen er einen Teil seiner Macht anvertrauen mußte und die jede seiner Leidenschaften jede seiner Schwächen so gern zu [202] benutzen suchen werden, zu beginnen. Ein Jüngling von dreiundzwanzig Jahren an der Spitze von vierzig Millionen! Ich sah diese vierzig Millionen in diesem Augenblick in Scharen von Geistern um ihn her versammelt, die ein plötzlicher Aufruf hervorgerufen und die nun alle voller zweifelhafter Erwartung ihres Loses auf den schönen Genius blickten, dem der Endausspruch anvertraut ward. Dieses Bild schwebte den ganzen Tag vor meinen Augen, und ich schlief ruhig unter den Fittichen dieses Genius ein.

Aber nun sind alle meine Besorgnisse verschwunden, und ich lebe in dem schönsten Genusse für einen Mann, dem das Schicksal der Menschen am Herzen liegt. Ich sehe diesen sanften, edlen Charakter sich täglich mehr und kraftvoller zu allen Pflichten seines so erhabenen als schweren Standes entwickeln. Er weiß, daß Festigkeit, aus wahren Grundsätzen entsprungen, die erste der Herrschertugenden ist, und er übt sie aus. Vor dem Entschluß untersucht, erwägt und prüft er jedes Geschäft mit Kälte, Klugheit, Weisheit und Gerechtigkeit, und jeder aus diesen reinen Quellen entsprungene Entschluß trägt das Gepräge seines edlen Geistes und Herzens, das die Tat und den Ausspruch ganz als die seinigen bezeichnet. Durch sein so feines als kluges Betragen verloschen ohne Geräusch und ohne merkliches Entgegenstreben alle Parteien, die sich unter schwachen, leidenschaftlichen, schnellwollenden und schnellausführenden Herrschern zum Nachteil des Regenten und des ihm anvertrauten Staats bilden, sich untereinander um Einfluß bekämpfen, stürzen und durch ihren rastlosen Kampf, ihr Emporsteigen und Fallen unaufhörlich die Schwäche des Regenten und den Mißbrauch der ihm listig entwandten Macht dem Reiche zur Schau ausstellen. Jeder große Beamte, der die Ehre hat, ihm zu nahen, ist nur dies in seinen Augen und nur nach dem Maße der Erfüllung seiner Pflicht von ihm geachtet. Sein Herz öffnet sich der Freundschaft; er liebt geprüfte Freunde, aber sein Verstand, seine Erfahrung, die ihm das Nachteilige, Gefährliche des Lieblingswesens für sich und seine Freunde zeigen, weisen jedem nur dieses reine Verhältnis als das einzige mögliche an, mit ihm vertraut zu leben. Nur er [203] regiert, und der spähende, auflauernde Hofmann weiß keinen zu nennen, der in Sachen des Staats und dadurch auf das Schicksal der Menschen einen leitenden Einfluß hätte. Bescheiden und liebreich im Umgang, wie kein junger Mann von seinen Jahren, scheint er nur Regent in Erfüllung seiner Pflichten während seines rastlosen Arbeitens zu sein. Hier zeigt er es, daß er sich für den ersten Staatsdiener des ihm anvertrauten Reichs ansieht, daß ihm die schwerste Bürde und die größte Verantwortung zugleich vor allen aufgelegt ist. Das, was der unwissende Haufen der Menschen bewundert und beneidet: der die Majestät umstrahlende Glanz, das Blendende und Ermüdende des Zeremoniells, der trügliche Schimmer einer nur von dieser unwissenden, sinnlichen Menge geträumten Glückseligkeit, die Zeichen der Unterwerfung, in denen sich die Getäuschten und Betrognen seines Standes so wohl gefallen, nur dieses allein fühlt sein Geist, der edlere Genüsse kennt, als eine Last; und nur der Gedanke, sein Stand mache ihm auch dieses Äußere zur notwendigen Pflicht, verhindert ihn, die darauf verwendeten Stunden als ganz verloren zu betrachten.


Um dem Staate Sicherheit und Unabhängigkeit von seinen Nachbarn – und dies auf ihre Kosten – zu verschaffen, mit entfernten Grenzen den alten wahren Kern des Reichs zu decken, haben seine Vorfahren seit einem Jahrhundert mehr nach außen als aufs Innere gewirkt. Die Geschichte spricht von ihren Eroberungen und von dem Ruhm ihrer Krieger; aber jetzt kann man von Rußland sagen: Es arbeitet an seiner Größe, nicht an seiner Schwäche, und ihm [Alexander] ist der Ruhm vorbehalten, die innern Staatskräfte ganz zu entwickeln. Rußland bedarf jetzt keines Eroberers mehr; es bedarf eines weisen Beschützers, Erhalters und Beförderers, eines Regenten für das Innere. Das, was er besitzt, wird ihm keiner rauben, und schwerlich wird man den Versuch wagen. Ein Regent, der auf die Entwickelung der innern Staatskräfte arbeitet, der die Staatsökonomie von sich selbst anfängt, für den Tand und Pracht keinen Reiz haben, [204] der sich hierin nicht einmal etwas versagt, weil es seines Geistes unwürdige Genüsse sind; ein Regent, der überzeugt ist, daß die große Summe, welche der arbeitende Teil seines Volks in so kleinen und für ebendiesen so bedeutenden Zahlen zur Erhaltung und Beschützung des Staats zusammenträgt, auch nur zur Erhaltung und Beschützung dieses Staats bestimmt sei, erwirbt eine Macht und ein Übergewicht gegen seine Nachbarn, die nie die glänzendsten Siege, welche die Schlachtfelder mit Leichen der Untertanen bedecken und die Staatskräfte erschöpfen, verleihen. Dies ist der feste Grund, auf den wahre Macht gebaut werden muß. Mochte der mazedonische Alexander immer nach Indien ziehen; dem unsern wird sich das innerste Heiligtum des Tempels der Menschheit öffnen, dessen Stufen er schon betreten hat. Ein Schmeichler würde sagen: »Er wird Rußlands Alexander sein, wenn man ihn nötigt, das Schwert zu ziehen!« Ich sage: »Er wird dann nur Rußlands Verteidiger sein!« Der strenge Philosoph kann nicht mehr fordern, als er bisher geleistet hat; er sieht, daß der junge, edle Mann seines erhabnen Standes würdig ist, daß er ihn ehrt und zu diesen kritischen Zeiten selbst über freche Äußerungen erhebt. Der Menschenkenner ist überzeugt, daß er auf dieser schweren Bahn als ein starker Mann vorwärtsschreiten wird; denn er ringt nach dem wahren Ruhm, er achtet den Menschen und setzt Wert auf die Achtung der Menschen. Er hat schon die erste der königlichen Tugenden so jung errungen: das Gute zu wollen und, nach Prüfung anerkannt, es voll Mut und Kraft zu vollziehen.

Ob Rußland die Tugenden seines Regenten recht zu erkennen und zu schätzen weiß? Europas kultivierte Völker richten jetzt ihre Blicke auf Rußlands glückliche Söhne, um über ihren politischen und moralischen Wert das Urteil zu sprechen. Ich hoffe, es soll zu ihrem Ruhm ausfallen.

Vor allen Herrschern Europas ist dem Regenten Rußlands das schwerste Los geworden; denn von allen Völkern Europas fielen auf das ihm anvertraute zuletzt die Strahlen jener Kultur, welche die Menschen zur reinen Moralität führt. Nur noch in seinem[205] Reiche waltet durchaus eine politische Verschiedenheit zwischen den Menschen, welche die Quelle vieler Übel und schwer zu besiegender Hindernisse ist; aber die jetzt Lebenden haben so wenig als ihre nächsten Voreltern diese Lage der Dinge geschaffen, und ihnen kann dadurch kein Vorwurf gemacht werden. Die Aufgeklärten des Landes bedauern diese Lage; und Weisheit, Menschlichkeit, mehr ausgebreitete Kultur werden auch hier das ihrige wirken und dieses durch so viele gute Eigenschaften und Tapferkeit merkwürdige Volk durch leise abgemessene Schritte einem.dem Menschen würdigern Verhältnisse zuführen.

Ich habe nie über einen Regenten ein Wort geschrieben, nie einem geschmeichelt. Werde ich es nun, nach meiner Erfahrung, in meinen Jahren, gegen den zu tun wagen, den ich für den Edelsten der jetzt Lebenden seines Standes halte? der meine stillste, innerste Glückseligkeit ausmacht? Und warum sollte ich nicht sagen: den ich innigst liebe?

Ich danke dem schönen Genius, der jetzt so menschlich gut über Rußland herrscht – oder besser und wahrer: der es zu edlen Zwecken leitet –, den reinsten Genuß meines Geistes im stillen Beschauen seines Wirkens; und er ist der einzige Regent, dessen Geschichtschreiber ich sein will, wenn ich so lange lebe, bis das Werk, das er begonnen, etwas vollendeter dasteht. Mein Glaube an seinen Geist und sein Herz ist so fest, daß ich überzeugt bin: Ich werde dann nur nötig haben, alles oben Gesagte durch eine Reihe schöner, weiser und zweckmäßiger Taten zu belegen.

29


[206] [91]KEIN Mensch hat noch – im bürgerlichen Leben wenigstens – seinen ganzen Verstand und seine ganze Vernunft gebraucht; und ich weiß nicht, ob einem derselben dieser Vorzug zu wünschen wäre. Ohne das Kissen der Sinnlichkeit lägen wir zwar auf einem sehr reinen, aber sehr kalten Marmor, und wahrscheinlich würden wir darauf erstarren.

30


[91] [85]ICH erröte jedesmal, wenn ich einen Menschen, indem er von seinesgleichen redet – es sei von einem Manne oder Weibe –, die Beiwörter »heilig« und »göttlich« gebrauchen höre. Meine eigne Tierheit erinnert mich sogleich an die Tierheit des Mannes oder Weibes, von welchem man redet, und meiner Einbildungskraft erscheint der schmutzige Zug aller dieser Tierheiten, die uns anhängen und durch welche wir bestehen, noch schmutziger, als er ist. Vom Menschen kann man nichts Bessers sagen, als daß er ein Mensch im rechten und natürlich guten Sinn des Worts ist. Ich fühle so gut als ein andrer, daß man ein biedrer, wackrer, mutiger, auch zuzeiten ein edler Mann sein kann; aber »heilig« und »göttlich«? Was für Worte! Und wie leer in Beziehung auf das Menschentier! Dieser Schnickschnack ist seit einigen Zeiten in Deutschland sehr gebräuchlich. Beweist es etwa, daß wir uns dem Gegenteil mehr nahen, daß wir dieser Schminke bedürfen, unsre durchschimmernde Immoralität mehr zu bedecken? Oder ist es Ziererei, die doch einem sonst ernsten Volke am wenigsten kleidet? Die Philosophen sprechen uns sogar von Heiligkeit des Willens und der Menschenrechte vor; sie beweisen dieses alles a priori. Die Natur und das bürgerliche Wesen gehen indessen ihren gewöhnlichen Gang fort, ohne welchen alles Spekulieren der Philosophen ein Ende hätte. Ich möchte ebenso gern einen Bären, der auf zwei Beinen nach dem Dudelsack einher sich spreizt, einen Vestris nennen als einen Menschen »heilig«, »göttlich«, [85] er sei auch, wer er wolle. Diese Wörter sind aber nur Phrasen und Schriftzeichen, die das Publikum dem Buchhändler und der Buchhändler dem Autor bezahlt.

31


SELBST diejenigen, die unsre Tugend »göttlich« nennen, sagen etwas Einfältiges. Recht menschlich muß die Tugend sein, wenn sie Menschen nutzen soll. Die »göttlich« Tugendhaften lassen gewöhnlich die Welt gehen, wie sie geht, seufzen und verhalten sich ganz ruhig in ihrem »göttlichen« Gefühl. Sie zahlen ihre Schuld an andre und die Welt mit Wohlgefallen an sich selbst ab.

32


[86] [479]»SCHÖNE SEELE« – ein Weib, das von Vapeurs gewisser Art geplagt wird und keinen Appetit hat; ein Dichterling ohne Einbildungskraft, in deren leerem Raume Phantasmata statt Bilder und Farben schwimmen und schweben, dem es an wahrer physischer und moralischer Kraft, etwas zu erschaffen, gebricht! Sieht man zwei solcher Wesen sich in wechselseitiger Entzückung aneinander reiben, so glaubt man einen Frosch zu sehen, der seiner Gattin die Eier am Paternoster (wie die Naturkündiger das Gewächs nennen) mit allem Eifer des Instinkts herauszieht, ob ihm gleich ein Spallanzani die befruchtenden Teile herausgeschnitten hat. Die »schönen Seelen« sind auch vorzüglich in Deutschland – nein, in deutschen Büchern! – zu Hause. Ich wünschte wackre, tätige, kräftige, mutige Seelen zu sehen. Für diese arbeiten aber *** und mehrere nicht. Die Tränen, welche uns diese und besonders der erste krugweis dahingießt, gleichen den unecht silbernen Tränen, die auf den Leichentüchern der Großen in Flittern schimmern.

33


[479] [384]ALS Samuel sein jakobinisch-maratisches Gemälde von der königlichen Regierung mit so grellen Farben aufstellte, sprach doch wohl der Priester aus ihm, der durch Sauls Salbung die weltliche Herrschaft über die Juden verlor! Warum vergaß ihn der Abt Barruel in seiner berüchtigten Liste der Jakobiner? Weil kein Priester den andern einer Sünde zeiht. Darum stehen sie auch so ungern unter weltlichem Gericht. Doch kenne ich einen Fall, wo keiner des andern schont: Wenn nämlich die Beichte bezahlt wird wie in einigen protestantischen Städten und besonders bei reichen Gemeinden. Man müßte dieses abzuschaffen suchen; wäre es auch nur darum, den esprit du corps dieses Standes rein zu erhalten.

34


KÄME Christus heute zur Welt und predigte seine Religion in dem reinen Geist und Sinn, wie er sie einst gepredigt hat, in Rom, die Inquisition würde ihn schnell als Ketzer ergreifen, ihn in die Engelsburg festsetzen, wenn sie nicht, um dem Greuel schneller zuvorzukommen, etwas Ärgeres täte. In protestantischen Ländern könnte er weder Pfarrer noch Schulmeister werden, denn schwerlich würde er die Symbolischen Bücher unterschreiben wollen. Und wie sehr würde er sich wundern, wenn man ihm sagte, er müßte erst nach Halle ziehen, seine Religion zu studieren, wenn er sie predigen oder lehren wollte.

35


[384] [57]JEDER schimpft auf die Eigenliebe des andern als einen Feind aller uneigennützigen und edlen Handlungen, und jeder weist der seinigen den ersten Platz in seinem Innern an. Da sie also der Hauptgötze eines jeden wird, so wandelt auch jeden der Pfaffengeist an: Alle andern sollen nur den seinigen allein anerkennen und ihn als Priester vorzüglich ehren.

36


[57] [95]DIE Metaphysiker rechnen die Einbildungskraft zu den niedern Seelenkräften, um sie von den reinern, edlern, geistigern zu unterscheiden. Ich habe nichts dagegen; nur ist es sonderbar, daß sich diese ohne jene ihres Daseins gar nicht bewußt wären.

37


[95] [57]MAN sagt gewöhnlich, der Umgang mit den Menschen schleife den Charakter ab. Spräche man nicht bestimmter, wenn man sagte: »Die Furcht, unserm Interesse zu schaden, macht uns so behutsam, daß wir uns auf das sorgfältigste hüten, etwas Rauhes, Starkes, Wahres, Kühnes zu sagen und zu tun, daß wir fein geschmeidig, nachgebend werden, nicht um andern [nicht] zu mißfallen und sie zu schonen, sondern weil uns der allergeliebteste Freund näher an dem Herzen liegt?« Nicht die Welt, der Egoismus um der Vorteile in der Welt ist der Schleifstein, an dem sich die rauhen Ecken der meisten abreiben, weil sich sonst die scharfe Seite gegen sie selbst wenden würde.

38


[57] [13]MAN gewöhnt sich in der Gesellschaft an alles; selbst an das Lächerlichste, Erbärmlichste, Plattste des Geistes, an Mangel und Mißbrauch des Verstandes, an die häßlichsten Gesichter, die widrigsten Fehler des Körpers. Man bemerkt diese Gebrechen am Ende kaum mehr; aber noch nie hat man sich an die Energie eines Mannes gewöhnt oder sie erträglich gefunden, der sich in Taten und Worten immer als ein Mann zeigt, der durch Tun und Betragen die Schwäche, Schlechtigkeit, Erbärmlichkeit und Dummheit der so Gebrechlichen in ein zu grelles Licht setzt.

39


DIE Menschen verzeihen einem wohl noch, gerade und ehrlich zu sein; aber sie fordern tiefes Stillschweigen darüber von dem, der es ist. Auf Kosten andrer nur erlauben sie ihm, sich frei und laut auszudrücken.

40


[13] [221]ES gibt Länder, wo es Herkommen ist, den Staat zu bestehlen. Man erlaubt es wohl einem, ein Dummkopf oder ehrlicher Mann zu bleiben; er hüte sich aber nur, daß dieses Verletzen des Herkommens nicht allzu ruchbar werde. Bei dem Rückzuge der ersten aus dem Dienste sieht man recht, daß sie im Geiste dieses Herkommens gehandelt haben; denn seine Verehrer lassen keinen dieser unbelohnt abtreten – aber weh' den andern! Diesem wird als Warnungszeichen einer solchen Tugend ein schöner – aber schlecht nährender! – Lorbeerzweig zugeteilt, den er, wenn es ihm beliebt, sogar in seiner einsamen Schlafkammer tragen darf (in der Einbildung nämlich!).

41


WER einen Ziegenbock melken will, gehe nach Europas, Asiens usw. Hauptstädten und predige die Tugend. Gleichwohl finden sich in jeder derselben rechtschaffene und tugendhafte Leute: ein Beweis, daß etwas in dem Menschen liegt, welches weder Beispiele, Gewohnheit noch Erziehung durchaus ausrotten können. Zugleich auch ein Beweis, wie wenig wahrhafter Tugend dazu gehört, die Menschen in Gesellschaft zusammenzuhalten. Not, Bedürfnis und Eigenschaften ganz andrer Art wirken dieses Wunder. Das wenige echte Gute ist auch da, aber wie der Probierstein in der Werkstätte des Goldschmieds: Man braucht ihn zur Prüfung, und wenn man den Wert des Goldes erkannt hat, [221] legt man ihn beiseite, arbeitet mit schlechterm wie mit besserm Golde – Gefäße kommen immer hervor. Die Regenten müssen es ebenso mit den Menschen machen; nur daß hier der echte Strich von dem falschen schwer zu unterscheiden ist.

42


[222] [329]EIN Mann auf einem wichtigen Posten, der gern auf seinen Grundsätzen und bei seinen Pflichten verbleiben, der seine Untergebenen ebenso streng zur Erfüllung ihrer Pflichten anhalten will, sollte so wenig als möglich mit Hofleuten und Weibern umgehen. In ihrer Gesellschaft nimmt man, um nicht immer zu mißfallen, nach und nach soviel Schonendes und Schwaches an, daß man ihnen in ihrer Handlungsart gleicht, ehe man sich's versieht. Die Zufriedenheit dieser mit ihm macht einem solchen Manne den Prozeß, ehe noch ein Kläger auftritt.

43


WER an einem bedeutenden Posten steht und seiner würdig handeln will, sollte sich des Tages mehr als einmal sagen: »Wer in den Wald gehen will, muß sich nicht vor Bären und Wölfen fürchten. Geschmeidigkeit und Furcht machen noch geschwinder zum Schurken als Habsucht.« Die letzte berechnet doch noch; und ein Mann, der von ihr besessen ist, hat es nur miteinem Schurken – mit sich selbst – zu tun.

44


[329] DIE Weiber kann man nie zu sich heraufziehen, am wenigsten, wenn von großen, wichtigen Dingen, besonders von Gefahren und Aufopferungen, die Rede ist. Ich nehme den Fall aus, wenn sie in den Mann verliebt sind, der so etwas fordert; aber nicht immer, wenn sie ihn nur lieben. Ihr ganzes Bestreben geht vielmehr dahin, die Männer zu sich herunterzuziehen und sie mit ihren eignen Liebenswürdigkeiten auszustatten. Der, den sie so ausgestattet haben, der Liebenswürdige in ihrem Sinne, ist selten ernst und streng mit sich und andern Männern.

45


[330] [109]EIN französischer Schriftsteller hat sehr gut gesagt: »Ein Mensch ohne Charakter ist ein Ding!« Da aber die Leute, welche den Geschäften des Staats vorstehen, gefunden haben, daß es sich leichter mit Sachen, Dingen oder Werkzeugen arbeiten lasse als mit einem Menschen von Charakter – das heißt: von bestimmtem Willen, von geordneter Neigung und festen Grundsätzen –, so gebrauchen sie die Menschen lieber und vorteilhafter als Dinge. Und da die Menschen von Charakter von ihrer Seite auch gefunden haben, daß man mit den daraus fließenden schönlautenden Eigenschaften verhungern könne, so verbergen sie ihren Charakter solange, bis er sich von selbst verliert, und lassen sich, um zu essen und weiterzukommen, als Dinge gebrauchen.

46


ES ist unmöglich, den Menschen nach einer bestimmten moralischen Form zu bilden und ihn in dieser Bildung zu erhalten, wenn er nur etwas von seinen wenigen natürlichen Rechten beibehalten soll. Dem Despoten mag es durch Furcht im Äußern bis auf einen gewissen Punkt gelingen. Hier erhebt sich aber auch das Unnatürliche gegeneinander so hoch, bis es zusammenstürzt. Daher treffen alle Klagen, die man über die Menschen insgesamt anstimmt, weniger sie als das Zusammensein in der Gesellschaft und die Verhältnisse, die notwendig daraus entspringen müssen, wenn das Ding fortgehen soll. So wenig man nun dem Tier seine [109] Tierheit zum Vorwurf machen kann, ebensowenig kann man dem Menschen das zum Vorwurf machen, was sich aus ihm in der Gesellschaft entwickelt.

47


[110] [13]JEDERMANN haßt die Heuchelei, und mit Recht; gleichwohl muß jeder mehr oder weniger eine Maske tragen. Diejenigen, für welche sie die natürliche Bekleidung geworden ist, hassen sie am meisten, weil sie sich nicht gern mit gleicher falscher Münze wollen bezahlen lassen.

Ich möchte indessen wohl einige Zeit in einer Stadt leben, wo man übereingekommen wäre, jeder sollte und müßte so gerade, offen im Denken, Wünschen, Reden und Handeln verfahren, als [13] er sich gestimmt fühlte. Ich wette, man würde sich bald gezwungen sehen, die so verhaßte Heuchelei (wahrscheinlich unter einem feinern Namen) von der Kanzel dem Volke als Pflicht zu predigen. Die Erzieher tun dieses täglich, ohne es vielleicht zu wissen, wenigstens ohne es zu gestehen, und bereiten dadurch ihre Zöglinge zur Gesellschaft vor. Man nennt dieses höflicher:dem jungen Menschen einen Firnis des Anstands, des Gefallens geben und ihm den rauhen Weg, der zum Glück führt, ebnen. Gäbe es einen Philosophen, der seinen Schüler unbedingt lehrte, gerade, offen im Handeln zu sein, das Schlechte nicht allein zu hassen und zu vermeiden, sondern auch laut zu mißbilligen, die Wahrheit nicht für sich zu behalten, sondern sie auch ohne allen Vorbehalt mitzuteilen – so möchte ich die Antwort seines Schülers hören, wenn der Philosoph ihn eine Zeitlang nach seinem Eintritt in die Welt fragte, wie er gefahren, was er gefunden, ob er ihm für seine Lehren dankbar sei. Dafür empfiehlt man gewöhnlich feines, schonendes Betragen, Weltklugheit; und das Evangelium selbst sagt ja: »Seid klug wie die Schlangen!«

Und ebendiese Klugheit, dieser Firnis, der, so nötig er auch sein mag, so allgemein sie auch nur unter diesem feinern Namen einherschleicht, sich gar Kultur nennen läßt, ist doch nichts anders als die feinere Maske der Heuchelei, die nicht einmal für Verkappung gehalten wird. Verzeiht man sich nicht alle Heuchelei, sobald sie wie Weltklugheit aussieht? Nennt man den nicht einen rohen, unerzognen Menschen, der sich ohne diese Schminke zeigt, er mag es auch noch so ehrlich mit uns meinen?

48


CHARAKTER darf beinahe niemand zeigen als ein armer biedrer Teufel, der nicht mit uns teilen will, der keinen Anspruch auf das Glück macht, dem wir nachjagen; auch ein dichterischer Mensch, dem das Land der Ideale und schlechte Kost g[e]nügen. Solche Leute können sogar Klügern zum Zeitvertreib dienen, und man erlaubt ihnen das, solange sie bescheiden und bloß mit ihrer Narrheit zufrieden sind.

49


[14] MAN findet nirgends einen biedern, rechtschaffenen Mann ohne ein Merkzeichen, das ihm Leute von der Gegenseite angehängt haben. Dieses Merkzeichen hängen sie ihm an, damit sich Leute ihresgleichen an dem Manne nicht irren. So bindet der kluge Hirt dem stößigen Ochsen Heu an die Hörner; und jene klugen Leute rufen durch das Merkzeichen ihren Gesellen zu: »Trau ihm nicht, er ist ein Pedant! Ein Reformator! Ein Be-ekler! Ein moralischer Schwärmer!« Freilich ist die Tugend immer etwas trotzig; sie nimmt durch den ewigen Kampf, den immer wachsenden Widerstand, das Gefühl ihres Werts etwas Kühnes, ich möchte sagen: die Mienen und Gebärden eines Soldaten an, der sich in Scharmützeln und Schlachten immer brav gehalten hat. Ihr erlaubt dem rüstigen Rosse zu wiehern, warum nicht dem Manne, der doch weiter nichts gegen euch vermag? Bedenkt nur, daß, wenn solche Leute gar nicht wären, euch eure Heuchelei und Klugheit gegeneinander zu nichts nützten! Und damit ihr euch untereinander überlisten könnt, müßt ihr doch nach dem Äußern jener, ihren Ausdrücken, ihrem Ton, ihrem Handeln die Maske zusammensetzen, die euch so gut forthilft. Ohne sie dienet nur ihr euch zum Muster, und ihr trüget dann wohl eine scheußliche Fratze, aber wahrlich keine gefällige Maske.

50


[15] [179]MAN sagt sehr weise und mit vielem Rechte: »Der, welcher sein Glück machen will, muß früh aufstehen!« Es ist aber nicht genug, man muß ihm auch noch folgende Regeln mitgeben: »Du mußt ertragen können wie ein Esel, unermüdet sein wie ein Postpferd, glatt wie ein Aal; mußt allem entsagen, was dich zum Menschen macht, mußt gar kein Bedürfnis kennen; für dich muß es weder Scham noch Schande geben! Nun geh' hin! Das Praktische wirst du in den Vorzimmern der Großen und in ihrer Gesellschaft lernen. Wenn du dann so einige Jahre auf deine Bildung verwandt hast, so fällt dir wohl etwas zu.«

Man sollte sagen, gewisse Staatsleute hätten diesen langwährenden Bildungsplan für ihre Untergebnen geflissentlich ausgedacht, um sie in ihrem Sinn zu erziehen oder die sich Hinzudrängenden zu proben, ob sie fähig wären, den wahren Geist des Geschäft[s]lebens zu fassen. Ihr scharfes Aug' entdeckt schnell den zur Bildung Untauglichen, und an dem verlieren sie gewiß keine Zeit; er wird ebensobald einen Toten aus dem Grabe herausklopfen als das Glück aus dem Kabinett eines solchen Staatsmannes. Aber sagen wird er es ihm nicht, das muß er selbst ausfinden.

51


[179] [197]ES ist lustig und zugleich traurig anzusehen, wie sich die Hofleute und Staatsbeamten beim Antritt einer neuen Regierung zerarbeiten, um dem Fürsten, der Charakter und Willen zeigt, diese ihnen lästigen, ihm nach ihrer Meinung ganz überflüssigen Eigenschaften geschwind zu nehmen. Ein der Erde drohender Komet kann auf das Volk nicht mehr Eindruck machen als eine solche Erscheinung auf diese Herren. Sie scheinen steif und fest zu glauben, daß jeder Fürst, um es recht nach ihrem Sinn zu sein, moralisch kastriert sein müsse. Die Verschneidung nehmen sie, wenn sie können, so früh als möglich über sich und sind des Lohns gewiß.

52


[197] [276]IN England spricht man jetzt nur vom Handel; gewisse andre Wörter, die man dort wohl ehemals aussprechen hörte, sind ganz verschollen. Ich erwarte, daß man das Handelswesen dort bald als die einzige Glücks- und Seligkeitslehre auf den Kanzeln predigen wird. Wenn sie das Moralsystem ihres Landsmanns Mandeville beweisen wollen, so sind sie gewiß auf dem rechten Wege.

53


[276] [479]DIE meisten Gemütsbewegungen der fein erzogenen Weiber, besonders der Romanenleserinnen und »schönen Seelen« – ihre Liebe, ihre Andacht, ihr Lachen, ihr Zorn, ihre Freude, ihre Betrübnis – sind hysterisch. Was können sie dafür, daß sie ein Organ haben, das eine materielle Seele zu sein scheint, die sich in alles mischt?

54


[479] [45]ALLE Systeme der Moral – von Sokrates, Plato, Epikur, Seneca usw. bis zu Mandeville, Lamettrie und Helvetius – schildern eine wahre Seite des Menschen; auch alle künftige[n] Systemenschöpfer, sie mögen den Menschen noch erhabener oder niedriger als alle Verstorbenen und Lebenden vorstellen, werden eine richtige Seite von ihm treffen. Ein so sonderbares Wesen ist der Mensch in seinem praktischen Tun. Die moralische Welt berührt sich in den entferntesten Punkten, in dem Allerentgegengesetztesten und stellt dem beobachtenden Geist ein Ganzes dar, dessen wilde, unharmonische, durch- und gegeneinanderwirkende Bewegungen und Stöße keinem erlauben, einen Ausspruch über dieses Ganze zu tun, der nicht durchs einzelne widerlegt würde. Der Mann, der dieses wilde Gewühl, das an Verwirrung und Kampf der ungleichartigen Materie das düstre Bild des Chaos der Dichter weit übertrifft, nach den Wirkungen der Erscheinungen auf sein Herz durchs Gefühl beurteilen will, findet sich, eh' er sich's versieht, auf eine Klippe getrieben, wo ihn ein Abgrund erwartet, in den ich nicht mehr blicken mag. Die Vernunft setzt einen Kanon fest und sagt: »So soll es sein! So muß es sein!«, hängt dann die Regeln und Maximen hintenan und glaubt, ihr Werk getan zu haben..Kants eherner, rhodischer Koloß von Imperativ – oder sein ungeheurer, über der moralischen Welt an einem Haar hängend, schwebender Probierstein – oder auch der seiner Sonne entwichene, erstarrte, unfruchtbare Trabant, der kalt [45] und ohne Rolle am Himmel hängt, tut ebendasselbe. Indessen geht diese sogenannte moralische Welt in allen diesen Irrgängen und Durchkreuzungen immer nach dem Alten fort und setzt niemanden in Erstaunen als den Beobachter. Die handelnden Personen denken nur an ihre Rollen, achten des Zuschauers nicht und kümmern sich während des Spiels nicht ein mal um den Verfasser, der ihnen das Stück zum Abspielen so zugeschnitten hat. Die Hauptintrige des Stücks ist übrigens sehr einfach, so verwirrt es auch aussieht, und jedem Spielenden durchaus bekannt;

denn jeder spielt im rechten Sinn des Stücks, das heißt: Er arbeitet, die Katastrophe der Komödie oder Tragödie zu seinem Vorteil zu wenden, unbekümmert, wie es den Mitspielenden ergehe. Und welches ist nun das Zauberwort, der Talisman, der die in den Ohren des erhabenen Moralisten gellende und schnarrende Disharmonie gleichwohl zu einem ganz erträglichen, einzig möglichen Einklang stimmt, den alle kennen, der durch und auf alle wirkt und den doch keiner während der Handlung laut ausspricht? Man hat dieses Zauberwort oder diesen Talisman in allen alten und neuen Sprachen ausgesprochen und Helvetius im klärsten Französischen und im Geiste seiner Zeit; aber da diese Art von Moralisten dadurch eine Seite des Menschen ohne Schonung aufgedeckt haben, welche er so ungern wie alle Wahrheiten sieht, so ist ihnen ebender Dank geworden, den wir dem gewähren, der unser Geheimnis verrät. Was ich ihnen zum Vorwurf mache, ist nicht diese Wahrheit, sondern: daß sie nicht gefühlt haben, daß ebendieses eine höhere Moralität beweist, daß über diesem düstern, empörenden Gewühl reine, lichte Gestirne schweben, nach welchen die von diesem Talisman getäuschten Wanderer zuzeiten aufblicken müssen, wenn sie sich nicht ganz auf ihrem gefährlichen Wege verirren und in dem Morast, den sie als festen Boden betreten haben, untergehen wollen. Die Moralisten ihrer Art hätten nicht vergessen sollen, daß alle diese widrigen Erscheinungen, diese Abartungen ebendas Wahrhafte einer höhern Moralität, die immer den Menschen zu sich zurückzuziehen strebt, aufs strengste und praktisch beweisen. Hätte nicht ohne sie die [46] Ausartung immer zunehmen müssen? Erkennen wir nicht durch die alte und neue Geschichte, durch die ganz neuen Ereignisse, die wir alle erlebt haben, daß, wenn diese Ausartung zu einer drohenden Krisis gestiegen ist, der verirrte Haufe, um sich zu retten, wieder zu jenen leitenden Gestirnen aufblickt? Ein Moralist dieser Art wird freilich mit seinem Talisman hervortreten und uns zurufen: »Nur er wirkt dieses Wunder!« Freilich ist es ein Wunder, und ein recht großes Wunder, um ein leeres Wort zu gebrauchen, daß ebendieser Talisman zur moralischen Ordnung zurückführen muß; aber ich zweifle, daß dieser Talisman das Wunder in diesem Sinne zu bewirken fähig wäre, so kräftig er auch ist, wenn er nicht, gebildet von einem reinern Genius, mit einem edlern Urstoff ursprünglich gemischt, in die Brust eines jeden gelegt worden wäre. Er erlaubt den Gebrauch desselben einem jeden nach seinen Kräften und konnte darum den Mißbrauch nicht hindern; aber keiner kann den seinigen so ganz verdunkeln, um nicht an dem besser erhaltenen Lichte des andern zu entdecken, daß der seinige wirklich verfinstert ist. Beweist es nicht seine Überzeugung von der Verfälschung seines Talismans, daß er, um im Verkehr des Lebens nicht ganz durchzufallen, das Licht des echten Talismans durch Firnis und andre Kunststücke an dem seinigen nachzupfuschen suchen muß? Ein elender, schlechter Mensch – ein Heuchler – kann sich von allen Vorurteilen losmachen; aber das einzige wird ihm bleiben und ihn zwingen, sich zuzeiten zu gestehen – hätte er es auch so fein angelegt, daß alle andre[n] schwiegen –, er sei ein elender, schlechter Kerl. Würden die Menschen, die sich von so vielen Vorurteilen losgemacht haben, sich nicht auch von diesem zu entfesseln suchen, wenn der Talisman bloß aus dem groben, sinnlichen Stoff gebildet wäre?

55


[47] [450]KEINEM Sterblichen ist ein reinerer Genuß, eine höhere, von andern unabhängigere Glückseligkeit zuteil geworden als dem wahren Dichter – ich rede von Dichtern wie Homer, Ariosto, Tasso, Shakespeare, Milton usw. Wenn sie sich nach dem Gefühl ihrer moralischen Kräfte und der Macht ihres Genies eines Gegenstandes bemächtigt haben, so ist die ganze Schöpfung ihres Werks in ihrer Gewalt. Nichts kann diese Schöpfung hindern; sie ist über alles Fremde, über den Zufall selbst erhaben. Bilder, Gedanken, Ausdruck springen in den seligen Augenblicken der Begeisterung vollendet aus ihrer Seele, und die einzige angenehme Beängstigung, die sie anwandelt, ist: es möchte etwas von diesem zuströmenden Reichtum an Bildern und Gedanken verschwinden oder verlöschen, weil in diesen Augenblicken das Mechanische der Darstellung der voreilenden schöpferischen Dichterkraft nicht nachzueilen vermag. Und welch ein Genuß erwartet ihn beim Überblick seiner Schöpfung nach der Vollendung? Wer von allen Sterblichen – Held oder Staatsmann – kann von seiner Tat und Handlung sagen, sie gehöre ihm so zu, sei so unbedingt nur seines Geistes Werk, als es der Dichter sagen kann?

Setze man zu allem Obigen das, was dazu gehört und ohne welches es nicht zu denken ist: eine hohe moralische Stimmung; einen mit edlen, großen Gedanken beschäftigten Geist; eine durch den Charakter bestimmte kräftige Denkungsart; einfache Sitten, Gefallen an einer beschränkten Lebensweise; völlige Unkenntnis der Glücksjägerei, der schleichenden Mörderin des Besten im Menschen – und ich habe genug gesagt. Nein! Ich habe [450] Klopstocks Genüsse und Leben beschrieben, ohne es zu ahnden. Ein andrer setze das Jahr seiner Geburt hinzu.

56


[451] [490]DER deutsche gedruckte Unsinn unterscheidet sich durch seine Originalität von allem ausländischen Unsinn; denn er grenzt durch eine krampfhafte oder, wie es seine reichen Schöpfer lieber hören, poetische Verzerrung mehr noch an Wahnsinn als Dummheit, ob er gleich mit letzterer reichlich ausgeschmückt ist. Ich kenne auch wohl englischen und französischen Unsinn; aber er ist doch immer von einer viel bescheidnern, viel prosaischern Stimmung und läßt sich meistens mit der Dummheit genügen. Das letzte Dezennium des vorigen Jahrhunderts hat besonders viele dieser originellen Verzuckungen hervorgebracht, und nach der Fülle des Reichtums ihrer Schöpfer zu urteilen, werden sie uns auch hoffentlich im neuangetretnen daran nicht Mangel leiden lassen. Allein die Herren müssen auch bedenken, daß sie davon leben wollen, daß das Publikum es bezahlen soll und daß man im Eifer für eine nützliche Sache zuviel tun kann.

57


[490] [406]MAN möchte an manchen Philosophen, der mit einem Werke über die Frage, wie der Mensch denkt, auftritt, die Frage tun, ob er auch wirklich bei Untersuchung der schweren Aufgabe gedacht habe.

58


[406] [498]MAN hört jetzt jeden Augenblick, wenn von dichterischen Werken die Rede ist, von »Kunstwerk« reden und macht dadurch den zum mechanischen Künstler, der es am wenigsten ist, sein und scheinen soll. Doch es soll vielleicht nur dazu dienen, das ästhetische deutsche Geschwätz mit einigen neuen Phrasen aufzuschwellen. Mich deucht, bei der Lesung eines echten dichterischen Werks müßte man so wenig an Kunst denken, als man an sie bei der Betrachtung der blühenden Natur denkt, und der Geist des dichterischen Schöpfers müßte uns während des Genusses ebenso unerklärbar scheinen als die Kräfte der schaffenden Natur, [498] die ihren Reichtum vor uns hinschüttet. Die Frage: »Woher nahm der Dichter seinen Stoff, die Bilder, die Gedanken, Empfindungen? Wie kam er auf diese Form?« und die Frage: »Durch was für Mittel schmückte die Natur unsre Erde? Wie kam sie auf diese und jene harmonische Ordnung?« sind gleich schwer zu beantworten.

Sie sagen, durch die Kunst beweise der Dichter, daß er Gewalt über seinen Stoff habe, daß er ordnender Herr seiner Schöpfung sei. Wichtige Entdeckung! Wer hat je geglaubt, daß es zur Begeisterung gehöre, von Sinnen zu sein? Das Werk, der Geist des Werks stellt das Maß der moralischen, dichterischen Kraft seines Urhebers auf, und eh' sich diese ergießt, hat sie sich die bequemste Form und den zum Gegenstande schicklichen Ton schon gewählt. Wer dann mit dem Maße und der Richtschnur in der Hand arbeitet oder beurteilt, verfertigt oder beurteilt ein Werk der Konvention und kein Dichterwerk. Goethes »Iphigenie« und »Tasso«, Lessings »Nathan« sind die vollendetsten Dichterwerke neuerer Zeit; und Goethe fühlte gewiß, ohne an Kunstwerk zu denken, daß die Form des »Götz von Berlichingen« zur Entwicklung der gegenwärtigen, mit dem Stoff harmonierenden Stimmung nicht die schickliche wäre. Und gleichwohl ist »Götz von Berlichingen« ein ebenso großes Kunstwerk! Und dann Shakespeares, Dantes Kunstwerke! Aber die Herren, die so viel von »Kunstwerk« in Journalen und Schriften reden, möchten uns gar zu gern an eine gewisse Nüchternheit des Geistes gewöhnen; sie haben freilich ihren Stoff in ihrer Gewalt, denn sie tragen ihn wie Mosaik zusammen, und da tut die schulgerechte Zeichnung das meiste. Die Täuschung ist auch darnach.

59


[499] [238]EINE große Fürstin sagte zu einem Ausländer, der sich über die Unreinlichkeit des gemeinen Volks ihres Reiches beklagte: »Warum wollen Sie, daß sie für einen Leib Sorge tragen sollen, der ihnen nicht zugehört?« Ein Dolchstich mitten durch das Herz des Genius der Menschheit, wenn ein solches Wesen existiert! Existierte es aber je, so muß es längst an ganz andern Dolchstichen Todes verblichen sein, als an diesem epigrammatischen.

60


EINE andere große Fürstin trank einst bei guter Laune folgende moralische Gesundheit ihren Gästen zu: »Verderben allen Dieben und Schurken meines Reichs!« – »Pst!« rief ihr ein kluger Hofmann zu, »Eure Majestät trinken die Pest über Ihr Reich.« Und in welchem Lande wäre leider dieses nicht die gegründete Erinnerung?

61


ICH habe in einem deutschen Buche, das ich durchblätterte, gelesen, ein Fürst, dessen Name und Reich mir entfallen ist, habe nach der schändlichen Hinrichtung Ludwigs XVI. zu einem andern Fürsten gesagt: »Herr Vetter, was wird aus uns armen*** werden, wenn man so mit Königen verfährt?« Er hätte ebensogut sagen können: »Herr Vetter, es ist hohe Zeit, daß wir unser Geschäft vernünftiger betreiben, uns zusammennehmen, unserem [238] Volk mehr trauen und uns untereinander wie deutsche Männer verbinden«; aber man wollte erst versuchen, ob man das Wesen so forttreiben könnte, wie man bisher getan.

62


[239] [245]LUTHER war wirklich ein kühner und durch seinen energischen Charakter oft ein großer Mann. Man macht ihm Verschiedenes zum Vorwurf, auf das sich sehr leicht antworten ließe. So sagt man zum Beispiel, der Reformationsgeist sei ihm nur nach und nach gekommen, und er habe bei dem ersten Schritt weder an die Folgen gedacht noch sie erwartet. Schrieb' ich im Priestergeist, so würde ich sagen: Hier eben wirkte die Vorsehung, welche immer die rechten Mittel für und durch ihr schwaches Werkzeug wählt. Hätte Luther das päpstliche Gebäude, das ganz Europa drückte, auf einmal angegriffen, so wär' es ihm wahrscheinlich wie allen denen ergangen, die nicht ein Reformationsgeist, sondern eine Reformationswut überfiel. Diese wollten den päpstlichen Stuhl unter dem *** seiner Heiligkeit nicht nach und nach wegrücken, sondern ihn unter ihm zerschlagen. Dazu stand er zu fest. Die ersten leisen Laute Luthers waren recht dazu gestimmt, das Volk an stärkere zu gewöhnen, den noch sichern Feind zu dummen Antworten und schwächlichen Maßregeln zu verleiten. Hätte er zu laut Lärmen geblasen, so wäre das ganze feindliche Heer aus seinem Schlummer erwacht und er geschlagen worden, bevor er Streiter und Verteidiger um sich hätte sammeln können. Um Luthers Größe darzutun, ist es gleichgültig, wie er es angefangen; das Entscheidende liegt mehr darin, wie er sein Werk durchgesetzt hat; es erhob sich und steht noch. Man wirft ihm ferner vor, der Neid auf die Dominikaner, [245] die sich zum Nachteil seines Ordens der Pacht des Ablasses bemächtigt hätten, wäre Ursache an seinen ersten Schritten gegen den Papst gewesen. Verhielte es sich so und hätte Luther wirklich diesen esprit du corps gehabt, so beweist es doch nur, daß er an seiner Stelle war, was er sein mußte: Mönch als Mönch, Reformator als Reformator. Handelte er hier als Mönch, so schlug er als Reformator die Kardinalswürde aus, wofür tausend und tausende seiner Brüder die ganze Christenheit hingegeben hätten, auch wohl noch heute hingäben. Überhaupt: Je menschlicher die Dinge und selbst die größten zugehen, je näher treten sie uns, je anziehender werden sie für den denkenden Mann, der die Welt, ihren Gang kennt und der den täuschenden Dunst von der Geschichte merkwürdiger Menschen zu verjagen gewohnt ist. Nur Phantasten laufen den glänzenden Irrwischen nach und suchen und finden immer bei großen Wirkungen große, reine, erhabene, übermenschliche Bewegursachen. Die Leidenschaften, das Interesse, die Furcht, der Neid, der Haß, die Rachsucht, die Eitelkeit, welche die Menschen von- und gegeneinander stoßen, diese bringen die Dinge hervor, die oft in der Geschichte in Bewunderung und Erstaunen setzen. Die meisten Geschichtschreiber gehen gern im Feierkleid einher, und es gibt Menschen, die, weil sie wirklich klein sind, gern alle Toten und Lebenden groß sehen wollen; sie glauben dann ihre Rollen und ihren Ruhm mit ihnen zu teilen, indem sie sich für fähig halten, sie anzuerkennen. Wer als Mensch die Taten der Vorwelt liest und die Taten seiner Zeitgenossen bemerkt, dem mißfällt es nicht, wenn ein Mann im Geiste seines Standes seine Rolle spielt. Der Papst muß Papst sein, der Mönch Mönch, der Fürst Fürst, und so die Leiter herab. Nur wenn sie ihre Rollen wechseln oder zusammenflicken, wenn sie hin und her schwanken, werden sie im Handeln und in der Geschichte unerträglich. Ich mag Gregor den Siebenten, so wenig ich Freund der Päpste bin, ganz gern seine Rolle als Papst spielen sehen; die Gegenpartei nur führte sich erbärmlich auf. Wären die Fürsten damals gewesen, was sie als Fürsten sein mußten, so hätte Gregor [246] der Siebente seine Rolle nach der ihrigen abgemessen. Daß Luther das Tintenfaß nach dem Teufel geworfen hat, gefällt mir recht wohl. Wer sich jahrelang mit dem Papst und seinem ungeheuern Heere herumschlägt, kann leicht Teufel zu sehen glauben.

63


[247] [144]WENN ich einem regierenden Fürsten Bücher zum Lesen und Wiederlesen und nicht allein zum Lesen, sondern auch zum Studieren vorschlagen sollte, so würde ich ihm – da Fürsten wirklich [144] wenig Zeit zum Lesen haben – Friedrichs des Zweiten Werke vorzüglich empfehlen. Dieser trieb sein Geschäft in dem wahren Geist, kannte sein Amt nach allen seinen Pflichten und Seiten und übte es wirklich als ein Amt aus. Da nun der fürstliche Leser den gleichen Beruf mit dem großen Manne hat, dessen Werke ich ihm anempfehlen möchte, so werden seine Lehren mehr Eindruck auf ihn machen und ihm unverdächtiger sein als die Lehren von Männern untergeordneter Stände. Zur Befestigung und Bekräftigung der von diesem König aufgestellten Grundsätze würde ich ihm das Studium der Geschichte Frankreichs im ganzen letzten Jahrhundert bis auf heute, morgen und übermorgen usw. empfehlen. Fragte man mich, ob Fürsten auch Dichter lesen sollten, so antwortete ich »Nein!«, weil kein Amt weniger das Idealisieren verträgt als das ihrige und weil kein Sterblicher schneller und ernsthafter aus schönen Dichterträumen über Welt und Menschen aufgeweckt wird als die Fürsten. Die Männer, mit welchen und durch welche sie wirken, stellen ihnen Ideale aus ganz anderm Stoffe gebildet vor Augen, als die dichterischen es sind. Vielleicht wendet man mir ein: »Gleichwohl war Friedrich der Zweite auch Dichter.« – Ja, er machte Verse, und das ebenso, wie andre Fürsten auf die Jagd gehen, um das Regieren einen Augenblick zu vergessen. Gleichwohl zeigt er es auch in seinen Versen, daß er das Regieren dabei nicht so ganz vergaß, wie die Bourbone[n] auf ihren Jagden es taten; denn auch sie sind voll weiser Lehren und gesalznen Spottes über die, die das Regieren so gern vergessen.

64


[145] [472]BISHER wenigstens war die deutsche Literatur – zur Ehre unsrer Sitten! – nicht mit gewissen schändlichen Büchern gebrandmarkt; und unsre Lüstlinge mußten sich begnügen, sie in der gebildetern Sprache unsrer Nachbarn zu lesen. Jetzt sind einige unsrer hungrigen Schriftsteller auch auf diesen elenden, schmutzigen Erwerb[s]zweig verfallen, und da ihr Hunger sehr groß, ihr Kopf sehr leer und ihr Herz nichts wert ist, so werden sie wahrscheinlich das ehrliche Publikum mit Übersetzungen und Originalwerken dieser Art überschütten. In Berlin hat man schon Sammlungen davon gemacht; denn da der Deutsche sich immer gleich bleibt, immer auf große, langdauernde, einträgliche Werke spekuliert, so werden wir bald Sammlungen dieser Art besitzen, die sich mit der Masse der allgemeinen Weltgeschichte, Krünitzens »Enzyklopädie«, der Reisen zu Wasser und zu Lande messen können. Daß aber ein ehrliebender deutscher Buchhändler solche Werke nach dem galanten Leipzig zum Vertrieb schleppen kann, beweist, wieweit wir nun schon in der Kultur gekommen sind. Aber wahrscheinlich sind diese Buchhändler – wie ihre Autoren – mehr gewinn- als ehrliebende Leute, und sie könnten beide mit allem Recht das berühmte Motto Vespasians in ihren Stempel und ihr Petschaft schneiden lassen: »Der Gewinn stinkt nicht darnach.« Erst schale Romane voller Tränen und erbärmlicher Empfindungen, und dann diese drauf: das muß unsre Jünglinge und Jungfrauen zu artigen Männern und Weibern bilden.

65


[472] [57]DIE Eitelkeit ist für die Gesellschaft, was der Wind für die Windmühle ist; ist sie auch nicht der stärkste, so ist sie doch gewiß ein guter Wind, die Maschine zu bewegen. Wir haben eine [57] Luft-, eine Musik-, eine Windleiter oder Windrose, und ich weiß nicht, was für Leitern, um die Kräfte der Natur nach Graden zu messen. Es ließe sich ebenso gut eine Leiter der Triebe machen, die die menschliche Gesellschaft treiben, nur suche man die Töne dazu nicht im Plato allein.

66


[58] [269]DIE Staatsleute in der Schweiz kommen mir in diesem Augenblick vor wie Bauleute, die weder über den Riß des Gebäudes noch über die Materialien dazu einig werden können. Sie [269] vergessen, daß das Volk, für das sie bauen sollen, und sie selbst unter Ruinen wohnen.

67


[270] [457]DIDEROT hat den Deutschen gezeigt, wie man über ästhetische Gegenstände schreiben muß. Er entwickelt uns die tiefsten Geheimnisse der Kunst so klar und deutlich, daß sie jeder versteht, sich ihrer jeder erfreuen kann. Das deutsche, schwerfällige, systematische, mit Terminologie beladne, auf Stelzen gehende, philosophisch-ästhetische Gewäsche – der auf dunstender Kohlenglut aufgewärmte Enthusiasmus, womit sie es nicht vergulden, sondern verkupfern – ist von allem deutschen Gewäsche das unerträglichste für einen Mann, der an Klarheit gewöhnt ist. Diderot hat ihnen, ich sage es noch einmal, gezeigt, wie man mit Feinheit, Wärme und Bestimmtheit über diese Gegenstände schreiben kann, und seine »Salons« enthalten, nebst seinen [457] »Betrachtungen über die Malerei«, die erste aller Poetiken und Rhetoriken, nicht der Form nach, sondern des kräftigen, vollen und wahren Inhalts wegen. Der Dichter und der Philosoph gehen hier vertraulich und leicht in der schönsten Verbindung zusammen, und keiner schadet dem andern. Nur Lessing kann neben ihm bestehen; und hätte dieser nicht so viele Streifzüge in die Literatur getan und nicht zuviel Zeit in Scharmützeln mit elenden Geistern verloren, wir hätten so etwas schon längst und vielleicht vollendeter gesehen.

68


[458] [469]WOHER kömmt es, daß hervorragende Satiriker in den alten und neuen Zeiten so selten sind? Freilich erfordert es gar mancherlei Talente, um hier zu glänzen. Denn außer einem treffenden, wahren, scharfen Witz, einer ausgebildeten, geschmeidigen Sprache, einer regen Einbildungskraft zur Erschaffung neuer Bilder und zur Auffassung unbemerkter, überraschender Verhältnisse, der geistvollsten Poesie zu auffallender Erfindung des Stoffs und der Bearbeitung desselben erfordert diese Gattung noch einen freien, kühnen, hellen Beobachtungsgeist, tiefe Kenntnis des Menschen in allen Ständen und Verhältnissen, eine aus wahrer moralischer Energie entsprungene Indignation über Torheiten und Laster. Diese, nicht die Galle, muß die Geißel führen, wenn wir den Zuchtmeister achten sollen und der Gestrafte mit Überzeugung, er habe die Streiche verdient, erschrocken von dem Buche aufspringen und heulend davongehen soll. Diese Indignation hat Swift zum größten und einzigen Satiriker der neuern Zeit gemacht; um ihn selbst recht kennenzulernen, muß man alle seine Schriften und besonders seine Briefe lesen. Daß es in Deutschland wenig solche Genies gibt, begreife ich; denn, ohne von unsern milden Sitten, unsrer politischen Stille, unsrer Verträglichkeit, unsrer Achtung für das Hergebrachte, der Verehrung des Großen und Reichen zu reden, wirft diese Gattung zu wenig Gewinn ab, und es ist hier nicht so leicht, bändereiche Werke zu schreiben. Unsre Schriftsteller üben daher die Satire nur gegeneinander aus, und das nur in dem Fall, wenn einer dem andern in den Erwerbszweig fällt oder bei den Kunden durch kecken Tadel zu schaden sucht; dazu gebrauchen sie dann gewöhnlich ein Ingredienz, das ich oben vergessen habe: die Grobheit. – Ich hoffe doch nicht, daß man mir entgegensetzen wird, unsre Ritter- und Geisterromane enthielten Satire genug. Vielleicht [469] glauben die Schreiber derselben, eine Satire gemacht zu haben, wenn sie Fürsten, Minister, Geistliche usw. mit recht grellen Zügen, schülerhaften Beschuldigungen, gräßlich abgeschmackten, naturwidrigen Lastern ausstaffiert haben. Ach nein! es sind nur Satiren auf ihre Verfasser und die, welche sie mit Wohlgefallen lesen.

69


EHEMALS verbrannte man die Männer, welche Bücher gegen das schrieben, was die Priester und der Haufe Religion nennen. Die Werke, die ihnen dieses Schicksal zuzogen, liegen jetzt als Seltenheiten in den Bibliotheken vergraben, und nur Büchernarren bezahlen sie noch. Späterhin sah man Schriften dieser Art als etwas Kühnes und mit einiger Furcht an; die Franzosen haben uns aber so sehr an solche Erscheinungen gewöhnt, daß man jetzt das kühnste und witzigste solcher Bücher mit Gleichgültigkeit ansieht und kaum nach dem Namen seines Verfassers fragt. Wir lachen nicht mehr über den beißendsten Spott. Die Sache ist abgetan; das heißt, wir wissen, daß der schärfste Witz des Ungläubigen und der tollste Wahnsinn des Kühnsten gegen die auf Moralität gegründete Religion nichts vermag. Die Verteidigung des Kultus überlassen wir denen, die davon leben. Konnten die Franzosen selbst doch damit nicht fertig werden, und die katholischen Priester haben ihnen wahrlich bewiesen, daß sie keine Druiden des alten Galliens sind! Sie lebten aber auch nicht wie jene im Dunkel der Wälder.

70


[470] [263]JEDES System zur Unterjochung der Menschen, von Machthabern gebildet, es sei politisch oder religiös, muß endlich den freien, immer regen, nie ganz schlummernden Geisteskräften des [263] Menschen weichen. Werden sie ganz wach und laut, so bleibt nichts übrig, als mit ihnen zu wirken oder, wenn man weise und vorsehend genug ist, sie gleich anfangs auf einen guten Zweck zu leiten. Nur der Widerstand zwingt ihnen eine gefährliche Richtung auf und spielt sie Leuten in die Hand, die solche Zeitumstände zu nutzen wissen.

71


WAHRSCHEINLICH hätten die deutschen Fürsten beim Ausbruch des Kriegs gegen die Franzosen mehr Ruhe bei sich und treuere Anhänger gegen ihren Feind gefunden, wenn sie nicht durch unzeitige, auffallende Maßregeln den Argwohn erweckt hätten, ihr Krieg sei zugleich ein Krieg der Finsternis mit dem Lichte. Dieses machte nicht allein ihr Unternehmen, sondern selbst ihr Regentenwesen verdächtig. Manche handeln noch immer in diesem verkehrten Sinn so fort, als fürchteten sie, die Menschen von diesem Argwohn zu heilen. Und haben dieses Deutschlands Völker verdient? Diese Regenten sollten bedenken, daß, wenn es wirklich möglich wäre, den Geist des Menschen zu ersticken, ihre Vorgänger schon vor Jahrhunderten ihnen hierin zuvorgekommen wären und ihnen schwerlich etwas zu tun übrig gelassen hätten. Aber dieses war immer ein so schwerer als kitzliger Punkt, ohne welchen freilich das Regieren ein so leichtes Geschäft wäre als das Kuhmelken. Wen ehrt aber auch ein leichtes Geschäft?

72


DIE politischen Ketzer haben in den letzten Zeiten die religiösen nun ganz vergessen gemacht. Die Gefahr betraf mehr das Nähere, das Irdische. Wäre ihre Anzahl nicht so groß gewesen, wir hätten ein Martyrologium in Folio; wahrscheinlich wären aber die Dokumente dazu ein politisches Geheimnis geblieben. Zum Verbrennen hätten kaum die Wälder zugereicht. Indessen tat man in einigen recht orthodox-politischen Ländern, was man konnte, und die Staatsinquisition ist – nicht hinter der kirchlichen [264] zurückgeblieben. Vermutlich hat sie auch ebendie Wirkung auf den Geist der Menschen getan wie ihre ältere Schwester.

73


[265] [257]DIE meisten Verteidiger der Sache der Regenten behandelten diesen so großen als wichtigen Gegenstand ebenso wie die Emigrierten ihre alte Verfassung. Dadurch, daß sie alles verteidigten und Dinge lobpriesen, die eigentlich gar nicht zur Verfassung des Staats und der wahren Lage des Regenten gehören, setzten sie das wirklich Gute, das sie zu sagen hatten, selbst in ein zweideutiges [257] Licht. Hätte es von beiden abgehangen, so weiß ich nicht, was aus dieser wichtigen Sache geworden wäre. Die Not allein macht weise, sowohl die Fürsten als die Völker. So laßt sie denn wirken, diese allmächtige Göttin, und Royalist und Demokrat sich heiser schreien – bald wird ihr Schrei nur ein Schrei in der Wüste sein. Er ist es wohl schon.

74


[258] [504]UNTER den verschiednen Ursachen, die man für die Korrektheit der griechischen und römischen Schriftsteller anführt, wenn man sie mit den neueren vergleicht, habe ich immer zwei wesentliche vermißt. Die erste: daß zu ihrer Zeit die Buchdruckerkunst noch nicht erfunden worden war; und die zweite: daß sie sich den Bart wachsen ließen, bevor sie das Volk – das heißt: die Männer – zu lehren und zu unterhalten unternahmen; denn ich glaube beinahe aus dem ernsten Tone dieser Männer zu bemerken, daß sie nicht für Weiber schrieben.

75


MAN klagt, dünkt mich, sehr unbillig und in Deutschland selbst wahrhaftig sehr unpatriotisch darüber, daß wir so viele Bücher schreiben und drucken lassen. Haben wir Deutschen nicht ein vorzügliches Recht dazu, da wir die Buchdruckerkunst erfunden haben?

76


[504] [247]ROBERTSON und Gibbon erkennen laut, wie viel sie in der historischen Kunst von Voltaire gelernt haben. Sie nennen seine »Essais sur l'histoire universelle« ein Meisterstück der Darstellung und ihr Muster. Wir Deutschen schimpfen indessen noch immer auf Voltaire, und diese literarische Sünde hat sich unser großer Lessing zuschulden kommen lassen, von dem sie [sich] dann wie eine Nationalerbsünde auf Greise und Jünglinge immer fortgeerbt hat und immer forterben wird, bis wir auch einst Robertsone und Gibbone haben werden, was ich zu unsrer Entsündigung von Herzen wünsche. Auf einen Voltaire selbst rechne ich aus verschiedenen Ursachen nicht.

77


MAN wirft Voltaire und Gibbon in einem pfaffischen Sinn vor, ihre Geschichten seien Satiren auf die Vorsehung. Und wenn man nun eine wahrhafte Geschichte von dem schriebe, was wir seit mehr als zwölf Jahren erlebt haben, was schriebe man dann? Und was ist die ganze Geschichte? Und warum soll man die Geschichte der Menschen in dem Sinn der orthodoxen und hyperorthodoxen Theologen lesen? Bossuet, der von der Vorsehung die Thronen der Fürsten zerschlagen, die Völker vernichten ließ um der Juden willen, hat eine Geschichte in diesem Sinn geschrieben; wir haben genug daran, und jeder beklagt das schöne Genie, das hier so fehlgegriffen hat oder, aus gewissen Ursachen, greifen wollte. In der Geschichte ist nichts orthodox, da ist leider alles Ketzerei: Ketzerei gegen die Bibel, die Moral, das Natur- und Völkerrecht und die Politik selbst. Wäre die Geschichte nur keine Satire auf die Menschen und Menschheit überhaupt und könnten [247] nur diese sich dagegen rechtfertigen, die Vorsehung selbst wird sich schon, ohne unsre Vermittlung und unsern Beistand, aus dem verworrenen Handel herausziehen. Wir verstehen dieses Wort so wenig wie viele andre Wörter, an deren Schall die Menschen ihr Heil hängen, und befinden uns in der peinlichsten Verwirrung, sobald wir den vermeinten Sinn davon mit dem Gang der Welt ausgleichen wollen. Ist die Geschichte eine Satire auf die Menschen, so seh' ich noch nicht ein, wie es eine auf das sein kann, was man Vorsehung nennt. Die Vorsehung in einem solchen theologischen Sinn in die Geschichte zu mischen, dieses ist Ketzerei – und recht grobe Ketzerei. So behandelt, müßte sie nur von und für Sklaven geschrieben werden, und vielleicht liegt hier der verborgene Grimm gewisser theologischer und politischer Ankläger, den ich nicht weiter aufdecken mag. Die Geschichte soll uns nicht allein weise, klug und erfahren machen, sie soll auch unsre Kräfte aufregen und unsern Geist von dem befreien, was man ihm aus gewissen Absichten aufgeladen hat – kurz, sie soll den Schuldunst von unserm Verstand verjagen, unsre Blicke frei machen, aufs Ganze richten, unsern Mut beleben und philosophischen, nicht theologischen Sinn für die Ansicht der Welthändel erwecken. Nur ein[en] Beweis, wie gewisse Leute Geschichte schreiben, wie andre wünschen, daß man sie schriebe: Wem galt die Satire, als der elende Schmeichler von Jesuiten, Pater Daniel, zum Vorteil seines Ordens es unternahm, die französische Geschichte zu schreiben, um darzutun, es hätten vor den legitimierten Bastarden Ludwigs XIV. schon viele Bastarde über Frankreich geherrscht? Die Geschichte war sehr beliebt am Hofe und sollte den Bastarden des Königs den Weg zum Throne bahnen. Was! Eine solche – und eine Geschichte, die sklavische Unterwerfung unter geistliche und politische Tyrannei predigt und auch den frevelhaftesten Fürsten an Gott und seinen Geschöpfen zum Statthalter dieses Gottes, dessen edelste Geschöpfe er mißbraucht, aufstellt, dies wäre keine Satire auf die Vorsehung? Das mag ein Prior seine Mönche glauben machen; bei uns vermag es der ausgemachteste Staatsmann, der berühmteste [248] Superintendent, der Papst und Luther nicht mehr. Auch Europas Fürsten wissen es, daß man nicht ihnen damit zu dienen sucht.

78


[249] [270]ALS man eines deutschen Fürsten Vorschlag an den nach dem Rückzuge der Franzosen wiederum versammelten Reichstag des Heiligen Römischen Reichs in Regensburg zu einem Denkmal für den Erzherzog Karl in den Zeitungen bekanntmachte, glaubten einige Leute wirklich, es gelte dem gebeugten, zerstückelten Heiligen Römischen Reiche und der soeben von der Flucht zurückgekehrten Reichsversammlung in einem andern Sinn. Man sprach darüber, wie über jeden Zeitungsartikel. Einige sagten: es scheine ernst zu sein, und jener Fürst habe sich die nicht unbedeutende Rolle aufgespart, am Ende des blutigen Stücks dem den Lorbeer zu erteilen, der ihm der Würdigste dazu schiene; nur sei es schade, daß die Umstände und die traurige Lage des deutschen Reichs nicht so gut zu seinem Wunsche paßten, daß die Folgen der Taten des wirklich edlen und tapfern Helden für das deutsche Reich so gar schlimm ausgefallen wären. Ein anderer erinnerte an den großen Gustav Adolf, ebendieses Reiches Erretter. Ein dritter meinte gar, jedes Denkmal auf deutschem Boden nach diesem Kriege sei ein Siegesmal über Deutschland selbst usw. – und was man noch alles schwatzte. Einer fragte gar, ob die zur Säkularisation bestimmten Opfer auch ihren Beitrag zu der Summe herschießen müßten. Freilich ist jetzt einem gut gesinnten Reichsländer die üble Laune ein wenig zu verzeihen; sie ergreift auch mich zuzeiten; aber wahrlich nicht wegen dieses Denkmals. Der endliche Frieden, woran der junge, edle Held so vielen Anteil hat, wozu er, wie es scheint, den Ausschlag gab, ist hundert Denkmäler des Danks wert, und wahrscheinlich hat es auch der deutsche Fürst so gemeint. Nur müßten die entschädigten Reichsfürsten die Kosten tragen, wenn es dazu kommen sollte.

79


[270] [385]DIE Juden hatten, wie die Bibel lehrt, ein göttliches Patent zur Vertilgung der Völker und der Eroberung ihrer Länder erhalten. Die Christen haben dieses Patent erweitert und sich allein die Seligkeit in jenem Leben zugesichert, nachdem sie alle andre [n] vor, mit und nach ihnen lebende [n] Völker, die Juden selbst, davon ausgeschlossen haben. Es ist die einzige Religion, die ihre Herrschaft so weit ausgedehnt hat, und das nenne ich Eroberung oder Eroberungssucht. Die protestantischen Christen sind bescheidener; sie zweifeln wenigstens hin und wieder an diesem Eroberungsrecht, auch wird ihnen selbst der Anteil an dem Patent von der alten Kirche bestritten. Mußte dieses ausschließliche Recht aufs künftige Leben nicht einen starken politischen Einfluß auf die Philippe, die Ferdinande in Ansehung des gegenwärtigen haben? Wer kann und darf denen die Erde abstreiten, die durch Dokumente den Besitz des Himmels erweisen können? Auch dieser Geist schweigt jetzt, und vermutlich, weil das Lautwerden zu dieser Zeit doch nichts nützen würde.

80


[385] [451]MADAME DE STAËL hat Augenblicke in ihren Schriften, die mich vermuten lassen, sie lebe nicht allein mit ihrem leiblichen Ehemanne, sondern noch insgeheim mit einem männlichen Geiste. Ist dieses nicht, so muß sie etwas an sich haben, das andern Weibern fehlt.

81


[451] [213]VON allem, was man in der Welt Glück zu nennen gewohnt ist, ist keines schwerer mit Mäßigung, Bescheidenheit und Erinnerung seiner Lage zu tragen als die Gunst der Fürsten. Weibergunst verliert ihren Reiz durch den Genuß, nur der Durst nach dieser nimmt während des Genusses zu. Selbst der Weiseste, Erfahrenste, der allen Versuchungen widerstanden, befindet sich in Gefahr, wann er diesem Zauber nahet. Und doch fordert ihr von dem Manne, der diesen Zauber besitzt, der die Wirkung davon auf alle andre[n].beständig wahrnimmt, er allein soll sich nicht von seiner eignen Zaubermacht berauschen lassen. Nur er soll immer weise und bei kaltem Sinn bleiben, ob er gleich sieht, daß der schon dem Rausche nahe ist, der nur auf den Schatten dieses Zauberkrauts getreten hat.

82


WIE man einen Günstling beneiden und hassen kann, begreife ich nicht; doch ich vergesse, daß die meisten, die es tun, nicht am Hofe leben und von jenes Glücke nur reden hören. Der Neid tröste sich! Kein Sterblicher bezahlt seine eingebildeten Genüsse oder das, was das Glück ihm zuwirft, teurer, als es der Günstling bezahlt. Der Sklave verkauft nur seinen Leib, der Günstling alles, was ihn zum Menschen macht, ja selbst seinen Gott; denn er muß sich in seinem Herrn einen sichtbaren erschaffen, um ganz gläubig, ganz hingegeben zu sein und zu scheinen. Der [213] Haß tröste sich damit, daß der Günstling nach Fallen und Steigen, nach Steigen und Fallen und der daraus fließenden peinlichen Ungewißheit seiner Lage endlich so gewiß ganz fällt, als er sich dann ganz unglücklich fühlt. Die so genossenen Jahre vergißt keiner: Wer kann den Menschen wieder in sich erschaffen, wenn er ihn einmal in sich zerstört hat? Das Licht seines Lebens verlischt, sobald seine Sonne ihm untergegangen. – »Und das Böse, das sie getan haben?« Unter einem Fürsten, der so etwas braucht, ist für das Volk selten viel zu gewinnen, wenn sie auch nicht da sind. – »Aber ihre Frechheit, ihr Stolz, ihr beleidigendes Betragen!« Die Armen teilen nur wieder aus, was sie empfangen; wie sollten sie es sonst aushalten?

83


EIN Gemeinspruch sagt: »Das traurigste Los der Fürsten ist, daß sie keinen Freund haben können« – und ich setze hinzu: daß keiner, den sie in diesem schönen Sinn wählen, weise und stark genug ist, sich damit g[e]nügen zu lassen; daß jeder derselben zugleich Günstling sein und scheinen will. Fände sich auch einer, der sich in dieser edlern Bestimmung gefiele, so tun die Hofleute aus guten Gründen ihr Möglichstes, den Freund in den Günstling umzuschaffen; und der muß dreifaches Erz vor der Brust tragen, der hier ihren Ränken und Schmeicheleien widerstände. Es kömmt hierbei auf zuviel für sie an. Ob sie nun gleich keines Menschen Freund sind, so wissen sie doch von Hörensagen, daß aus einer solchen Verbindung gewisse Pflichten entspringen; sie wissen ferner, was durch und mit einem Günstling auszurichten ist und daß, wenn das Günstlingswesen einmal Bedürfnis geworden ist, die Reihe auch an sie kommen kann. Steht der Günstling endlich da, wo sie ihn haben wollen, so kömmt er mir vor wie ein Schlachtopfer, das die Priester beräuchern und schmücken, während der Opferer den Stahl wetzt. Der Fürst selbst hält sich für einen Mann, der in der Liebe nur unglücklich war und es bei jedem Wechsel besser zu treffen hofft. So fällt [214] er natürlich vom Schlimmen ins Schlimmere, denn jeder neu Geworbene sucht sich durch kräftigere, listigere Mittel gegen ihn selbst vor Unfällen zu bewahren.

84


[215] [258]ES ist vorüber, das schreckliche, düstre, Europa drohende Ungewitter, das seit zehn Jahren überall unsern Horizont verfinsterte und bei dessen leuchtenden, feurigen Blitzen wir in zusammengedrängten, schnell sich nacheilenden, schrecklichen, grauenvoll erhabenen Bildern die Erscheinungen der ganzen Weltgeschichte vorüberfliegen sahen. Jetzt herrscht Stille; die von den Blitzen Erschlagenen schlafen unter der Erde, kaum erinnert man sich ihrer; denn mit dem Verhallen des wilden Getöses verlöscht auch schon die Erinnerung des Geschehenen. Trüge die Weltgeschichte nicht Sorge, diese großen, die politische und moralische Welt erschütternden Begebenheiten aufzuzeichnen und auf die Nachwelt zu bringen, man würde davon in fünfzig Jahren wie von einer tragischen Märe reden; in hundert würden sie wenigstens von der Menge vergessen sein. Wenn dieses kein Beweis des Vorübergehens, des Vergänglichen, des Nichtigen ist, so kenne ich keinen; aber ebendarum, weil dieses die Kennzeichen des Menschengeschlechts sind, mußte und konnte dieses auch nur geschehen. Welch ein Stoff zu einem philosophischen Gedicht!

85


[258] [222]WER keinen freigebigen Hof gesehen hat, kann sich von der Impertinenz und den Anmaßungen der Menschen, vom größten bis zum kleinsten, keinen Begriff machen. Wenn der tausendundtausendste Teil der Verdienste um den Staat, die hier mit frecher Stirne öffentlich angegeben und schriftlich vorgezeigt werden, wirklich da und ausgeübt worden wäre, ein solches Land müßte ein Utopia sein; man müßte von dem hohen Wert des Menschengeschlechts so überzeugt werden, als es nur immer der verblendetste, schwärmerischste junge Gläubige an dasselbe sein kann. Vermutlich ist dieses die Ursach', daß der Mann von wirklichen Verdiensten – der folglich bescheiden ist – von der ungeheuren Masse der Verdienste andrer so niedergedrückt wird, daß er es gar nicht wagt, von den seinigen zu reden. Aber die Verdienste jener Frechen haben außerdem noch das Eigene, daß sich diejenigen, die diese Verdienste dem Fürsten vorzutragen haben, ein sehr reelles Verdienst für ihre eigne Kasse dabei machen. Denn wer wird nicht eine Belohnung mit einem Verlust erkaufen, auf die man weiter keinen Anspruch hat als den, welchen eigne Impertinenz und die verbrecherische Kühnheit des erkauften Lobredners verleihen? Hat man die erste Empörung überwunden, die diese Leute durch das Aufzählen ihrer Verdienste und die erfolgten Belohnungen in unserm Geist und Herzen erregen, so überfällt auch den wackersten Mann zuzeiten ein solcher Ekel an der Erfüllung seiner Pflichten, daß er mehr als gewöhnlicher Kraft bedarf, ihn zu besiegen. Der betrogne Fürst weiß nicht, daß man ihn dazu braucht, den wirklichen Diensteifer seiner noch Getreuen zu erwürgen, daß er dann nur noch auf die Enthusiasten, die auf dem stolzen Bewußtsein ihres Werts ruhen und eigensinnig darauf beharren, zählen kann; und [222] im bürgerlichen, im tätigen Leben gibt es, wie bekannt, gar wenig Enthusiasten.

86


WENN man eine Zeitlang aufgemerkt hat, wie es in einem solchen Staate, wie der oben bezeichnete, zugeht, so muß man endlich überzeugt werden, das eiserne Schicksal wolle es so, daß ein Teil der Menschen arbeite und der andre die Früchte ihrer Arbeit einernte. Man sollte dieses die Kinder in der Schule lehren, damit sie sich früh daran gewöhnten; vielleicht lernt aber auch mancher es schon da aus Erfahrung.

87


[223] [397]DER Weise, welcher sagte: »Hielte ich auch alle Wahrheit in meiner verschloßnen Hand, so würde ich mich doch hüten, sie zu öffnen!«, hat mit diesen wenigen Worten ein Urteil über die Menschen gesprochen, das man zwar, wenn man sie kennengelernt hat, unterschreiben muß, das aber auch zugleich die bitterste Satire auf das ganze Menschengeschlecht enthält. Es beweist, daß das Menschengeschlecht nie aus der Kindheit heraustreten kann, daß es dieses nicht einmal wagen darf, daß demnach alles Träumen von immer steigender Veredlung ein schöner, dichterischer Zeitvertreib ist. Kömmt es daher, daß, was diesem und jenem in dieser oder jener gegebenen Lage nützliche Wahrheit ist, in dieser oder jener andern Lage diesem und jenem das Gegenteil und gar schädlich sein kann, so frage auch ich mit Pilatus: »Was ist Wahrheit?« Ich wollte, daß Christus, der diesen frechen, sarkastischen, richterlichen Einwurf hörte, auf diese Frage geantwortet hätte. Er, der für die Wahrheit starb, der die Wahrheit selbst und aus ihrer reinsten Quelle entsprungen ist, mußte das Ding am besten wissen.

88


[397] [376]DER Mann, welcher zum erstenmal das Wort »Vorsehung« ausgesprochen hat und dem es g[e]nügte, hat für Millionen den verworrensten aller Knoten mit einem Atemzug zerhauen. Er war, ohne es zu wissen, der konsequenteste Politiker und Priester, der je gelebt hat. Mit einem Worte hat er eine Säule gebaut, auf welcher der größte Teil der Sterblichen – selbst zum Behagen derer, welche sie mißbrauchen – ziemlich sicher und hoffnungsvoll ruht. Darneben steht noch eine Säule, von dem Altertum aus rauhen, ungeglätteten Steinen aufgeführt; es ruht sich weniger sanft darauf, weil an ihren scharfen Ecken das Öl des Glaubens herunterrinnt, das sich an die glättere anschmiegt. Und doch ward die glatte nach der rauhen gebildet. Nur das Gefühl des moralischen Werts konnte die Begriffe beider erschaffen; auch mußten sie sich leicht ausbreiten, da Eigenliebe und Stolz ihre Rechnung dabei fanden. Der Mensch sprang von der Erde zum Himmel auf, er machte sich die Gestirne, die Geister der Natur, Götter, Götzen und Fetische im Gefühl seines Dünkels untertan; und gestand er ihnen das Recht der Oberherrschaft zu, so geschah dies nicht um ihrentwillen, sondern darum, damit sie sich mit ihm und seinem Schicksal vorzüglich beschäftigen sollten und um sie dazu bei guter Laune zu erhalten. Der Glaube an Wunder fließt ungefähr aus gleicher Quelle; denn auch von seinem Fetisch fordert sie der Wilde für sich. Für das Gewöhnliche sind sie doch nicht da! Der Glaube an alles dieses mag nun dem Menschen herkommen, woher er will; nichts Tröstenderes [376] und Schmeichelnderes konnte ein zum Leiden und Dulden, zur Ausbildung für solch eine Gesellschaft geschaffenes und bestimmtes Wesen aus sich herausziehen oder in dasselbe gelegt werden.

89


[377] [182]SOBALD ein Fürst den Thron besteigt, der das Beste des Staats – das heißt, mit Erlaubnis sei es gesagt, das Beste des gesamten Volks – zu seinem Zweck macht, der weise, sparsam, gerecht und menschlich ist, seine Pflichten streng erfüllt und die Erfüllung der Pflichten ebenso streng von andern fordert, der nur wahres Verdienst nach Beweisen und Selbstüberzeugung belohnt, der Pracht und Zeremonien für eine Last ansieht und sich den letztern nur, soweit auch dieses zur Pflicht gehört, unterwirft, so entflieht der hohe Adel, wenn er sich fest überzeugt hat, daß es ernst ist, auf das Land oder geht auf Reisen ins Ausland. Selbst das Wohlgefallen und die Gunst des Monarchen werden weniger gesucht und geachtet, weil man sie ja doch nicht zu seinem Vorteil gebrauchen, ich will sagen, mißbrauchen kann. Die entsetzliche Hofskälte erstarrt, eh' man sich's versieht, alle die bunten und schönen Insekten, die nur in der warmen Sommerluft leben können.

90


[182] [258]DIE Französische Revolution hat unter vielen neuen Dingen eines hervorgebracht, das man vorher nicht kannte; ich meine die Despotomanie. Ihre Mutter war wahrscheinlich die Demokratomanie, und hoffentlich ist die erste jetzt tot, da ihre Ernährerin abgefahren ist.

91


[258] [110]ICH verzeihe es einem Manne, der sich unter einer freien, Gesetze achtenden Regierung über schlechte Witterung, Hitze, Kälte, überhaupt über die gewöhnlichen physischen Unbequemlichkeiten beklagt; wer dies aber unter einem despotischen oder gar despotomanischen Treiben (ich ehre das Wort Regierung) tut, der muß nur einen Leib, keine Seele haben, er muß die moralischen Übel weder kennen noch fühlen. Von allen Plagen des armen Menschengeschlechts kann sich die geängstete Einbildungskraft eine Vorstellung machen, selbst von denen der Hölle der orthodoxesten Christen, wobei man doch wahrlich die Farben zum Schrecken nicht gespart hat. Hier verfährt man wenigstens nach einem Ausspruch, hier herrscht etwas Festbestimmtes und Faßliches. Aber wer von den ersten Qualen und Plagen eine Beschreibung machen wollte, der müßte von ganz unfaßlichen Leiden reden, von namenlosen Wunden der Seele, Geisteszermalmungen, Herzenszerknirschungen, von nie rastenden, alle moralische Kraft zerstörenden Qualen; von einer Furcht, die ärger als Todesfurcht ist, da sie kein Ende nimmt, mit der man zu Bette geht, die in bangen Träumen fortdauert, mit der man aus dem schauderhaften Schlummer erwacht und die jeden auf allen seinen Schritten begleitet. Kurz, er würde den Horcher auf einen Punkt des schrecklichen, schaudervollen Leer-Erhabenen treiben, wo das Herz nicht mehr fühlt, weil der Geist nichts mehr faßt. Und wer kann sie ertragen? Nur der, welcher in einem Lande geboren ist, wo so etwas rechtliches Herkommen ist, oder man muß einen ehernen Mut, eine Seele haben, die sich durch eigne Kraft tagtäglich wieder selbst erschafft. Man muß es darauf anlegen und darauf anlegen können, den Kampf mit diesem Wesen nicht allein zu bestehen, sondern ihm gar nicht auszuweichen, wenn man davon überfallen wird. Wer eine solche[110] Lage überlebt und seinen Charakter und seine Denkungsart nicht allein aufgeopfert, sondern sie nicht einmal verborgen hat, der kann stolz auf seinen errungenen Lorbeeren ruhen: Er hat mehr als Schlachten gewonnen.

92


[111] [451]WARUM kann ein welterfahrner Mann nichts Exzentrisches vertragen? Weil er gesehen hat, daß es zu nichts führt, zu nichts taugt, nichts befördert, selbst das Lachen nicht. Alles, was es wirkt, besteht darin, daß es dem ein Zeichen anklebt, der sich damit schleppt oder der von diesem Wesen besessen ist. In der Welt ist ihm keine Stelle angewiesen, und in der Literatur ist es gegen den Menschenverstand. Aber warum treten so viele unsrer jungen Leute mit diesem Zeichen als Schriftsteller auf? Eben darum, weil sie junge Leute sind und es ihnen noch an allem dem fehlt, was sie zum Auftreten berechtigen könnte.

93


[451] [480]VOLTAIRE sagt irgendwo: »Wenn die Bewundrer Homers aufrichtig wären, so würden sie die Langeweile eingestehen, die ihnen ihr Liebling so oft verursacht.« Ich glaube, dieser Ausspruch [480] ließe sich mehr auf Platos Bewunderer anwenden, besonders, wenn sein Sokrates recht in das Katechisieren verfällt.

94


[481] [169]DIE Politik, die es doch wahrhaftig mit klaren Dingen und bloß mit Dingen von dieser Welt zu tun hat, ist gleichwohl ebenso voll leerer Worte als die Metaphysik. Man nehme nur »Völkerrecht«, »Staatengewicht« usw.

95


[169] [458]HERR VON THÜMMEL hat uns in seinen Reisen nach Frankreich ein Buch gegeben, wie wir noch keins in Deutschland hatten: voller Geist, Jovialität, Genialität, neuer Ansichten, Menschen- und Weltkenntnis. Dies alles ist mit einem so leichten und, wo es nötig ist, mit einem so feurigen Kolorit dargestellt, wovon wir wenige Beispiele gesehen haben. Und doch würde es den Franzosen nicht in einer Übersetzung gefallen, eben wegen dieser Fülle. Aber wie kann man auch die Originalwerke der Deutschen und Engländer ins Französische übersetzen?

96


[458] [276]DER Nationalhaß, das Nationalvorurteil der guten Deutschen und die bis jetzt noch zur See despotisch herrschenden Engländer, welche die ganze Welt als ein für sie geschaffenes Warenlager ansehen, mögen es noch so bitter finden: Die Geschichte wird das vergangene Jahrhundert, um es mit einem einzigen Worte zu bezeichnen, immer das gallische oder französische nennen. Das gegenwärtig angefangene scheint bisher diese Bezeichnung nicht verändern zu wollen.

97


[276] [215]DER Mensch gewöhnt sich an alles, lernt endlich alles ertragen; nur habe ich noch keinen gesehen, der sich an Unbedeutsamkeit und Einsamkeit hätte gewöhnen können oder sie hätte ertragen lernen, wenn er eine Rolle am Hofe oder im Staate gespielt hat. Der Kummer, der ihm folgt, verläßt ihn nie und drückt ihm eine Physiognomie auf, die sich von allen Physiognomien des Kummers unterscheidet. Und dieser Kummer drückt sich so leer in solchen Gesichtern aus, daß man vor lauter Mitleiden gähnt, wenn man sie ansieht.

98


[215] [58]WER eine rechte Schimpf- und Schandrede auf den Egoismus hören will, der bringe den ausgemachtesten Egoisten auf dieses Kapitel. Dieser verficht den Wert und Gebrauch seines Götzen nur dann recht, wenn er den der andern im Kot herumschleift. In dem Augenblick, da er die kleinen Tempel der Götzen andrer niederreißt, glaubt er dem seinen aus den Ruinen ein wohlbefestigtes Heiligtum aufzubauen. Man sagt gewöhnlich, der Egoismus lösche alles Feuer des Enthusiasmus aus, aber der Egoist selbst beweist uns bei dieser Gelegenheit das Gegenteil.

99


[58][239]

DER HOFMANN: »Es ist doch gottlos und abscheulich, daß die Philosophen, wie man sagt, in ihren Büchern und Hörsälen die Jugend lehren, man könne das höchste Wesen gar nicht begreifen, sein Dasein gar nicht beweisen. Ich bin kein Philosoph und begreife es.«

DER PHILOSOPH: »Nichts ist natürlicher, da Sie Ihr höchstes Wesen tagtäglich mit Ihren eignen Augen sehen und mit Ihren Ohren hören.«

100


[239] [215]EIN Neuling ganz sonderbarer Art in der Welt ist ein Mann, der von Jugend auf am Hofe gelebt hat, endlich bis zum Günstling emporgestiegen ist, dann fällt und endlich unter andern, mit andern Menschen leben muß. Da er nie das geringste Bedürfnis für seinen Leib, Lebensgenuß und Unterhalt bezahlt und durchaus auf Kosten des Fürsten gelebt hat, folglich den Preis und Wert keines Dinges kennt, so erschrickt er über die kleinste Ausgabe; und muß er auch nur ein Paar Schuh oder einen Wagenriemen bezahlen, so schreit er laut auf, man betrüge ihn, das ganze Menschengeschlecht sei gegen ihn verschworen.

101


[215] [47]ES gehört hohe moralische Kraft dazu, den Verstand durch Welterfahrung, durch tätiges Geschäftsleben und in dem Umgange mit höhern Ständen aufzuklären, ohne daß das Herz in [47] dieser Schule auftrockne. Ich kenne darum nichts Interessanteres als einen welterfahrnen Mann mit grauen Haaren, der nach ehrenvollem, tätigem Leben zu seinen Verwandten und Jugendfreunden zurückkehrt und den alle, obgleich die Zeit sein Äußeres verwittert hat, doch noch an seinem gesunden Herzen, seinem Geist, Sinn und seiner Denkungsart wiedererkennen. Dieses nenne ich: den Kern im Menschen aufbewahren, und darauf arbeite ich, überzeugt, daß der innere Mensch nie altert, wenn Verstand und Herz sich nicht trennen. Mir ist die Morgenröte der Jugend noch nicht untergegangen; ist ihre Farbe auch nicht mehr so glühend, so ist sie um so sanfter und milder, und der Geist sieht leichter die Bilder, die hinter dem schimmernden Dufte schweben.

102


DIE schönste, seltenste und glücklichste Vermählung unsrer Geisteskräfte ist die der hohen dichterischen Einbildungskraft mit der Vernunft des Mannes von Geschäften, der in der Welt lebt, leben muß und Dichter bleiben will, weil er hierin seinen schönsten Genuß, seine festeste Stütze findet. Aber er muß sich hüten, daß die bilderreiche Gattin nicht über den ernsten, strengen Gemahl den Meister zu sehr spiele. Dieser muß die Kunst verstehen, die Warme, Begeisterte zum sanften Schlafe zu bereden, wenn er im tätigen Leben wirken und handeln soll. Alles, was dem Liebenden verstattet werden kann, ist, zuzeiten der süßschlummernden Geliebten heimlich einen Kuß zu rauben, damit das Herz während der Trennung nicht allzusehr verkalte. Nur wenn der ernste Gatte nach geendigter Tagesarbeit in das stille, heimliche Kabinett tritt, darf die holde Schlafende ganz erwachen.

Was mich ärgert, ist, daß ich um gewisser Leute willen sagen muß, daß darum ein solcher Mann weder Verse noch poetische Prosa zu machen braucht, um Dichter zu sein.

103


[48] [480]ICH habe so viel von engelreinen Seelen in deutschen Romanen gelesen (gesehen habe ich noch keine), daß ich herzlich wünsche, wenn wirklich solche Seelen im Vaterland existieren oder vegetieren, daß einmal plötzlich ein erzreiner Engel einer solchen »schönen Seele« erschiene, sich unzertrennlich ihr zugesellte und sie auch in keiner Lage des Lebens verließe. Daß er mit ihr schliefe, mit ihr zu Tisch, in Gesellschaft ginge, mit ihr ... Ich wette, die engelreine Gesellschaft würde ihrer Menschheit am Ende so lästig werden, daß sie ihn kniend flehen würde, sie zu verlassen; und ginge es so nicht, so glaube ich beinahe, sie würde zu Torheiten (die Franzosen nennen es Sottisen) ihre Zuflucht nehmen, um des lästigen Gastes los zu werden. – Ein Stoff zu einer Novelle oder einem Roman; ich gebe ihn denen preis, die auf solche »schönen Seelen« gestoßen sind.

104


[480] [44]ICH halte dafür, daß in der jetzigen bürgerlichen Verfassung der freiste Stand – der nämlich, in welchem man seinen natürlichen Charakter und eine bestimmte Denkungsart am meisten beibehalten, folglich von seiten des Geistes, am unabhängigsten leben kann – der Soldatenstand ist. Wenn man rechts, links, vorwärts marschiert, den Befehlen gehorcht, zu befehlen versteht, so kann man im übrigen (vorausgesetzt, man wolle nicht durch Schleichwege sein Glück machen) so frei, gerade und kühn verbleiben, als es die Natur mit einem gemeint hat.

Setzt man noch hinzu, daß ein solcher Mann das Glück hat, bei einer schönen Gelegenheit von einer Kugel am rechten Fleck getroffen zu werden, auf freiem Felde, in frischer Luft, unter dem hohen blauen Gezelt des Himmels, ohne Chirurgus, Feldarzt und Feldpriester in der Seligkeit seines Berufs aus der Welt zu gehen, so muß man sagen, er ist so unabhängig und frei gestorben, als er gelebt hat.

105


[44] [385]DIE katholische Religion hatte einen besonderen Einfluß auf die Politik; sie gab ihr einen priesterlichen Anstrich, das heißt, sie machte sie raffinierter, listiger, heuchlerischer, härter, gewandter, stolzer, demütiger und vielleicht tückischer. Man kann noch die jesuitische reservationem mentalem hinzusetzen. Sollte es daher kommen, daß es eine wahre Priesterreligion ist, daß ihr Haupt, der Papst, ehemals der Schulmeister der Politik in Europa war?

106


[385] [436]ALLE Wissenschaften und Kenntnisse sind in unserm blühenden Europa verhältnismäßig im Steigen. Die Chemie, Naturlehre, Kriegswissenschaft, Politik, ja selbst die Theologie schüttelt in Deutschland den Schulstaub ab und scheint Religion werden zu wollen – und nun gar die Philosophie! Sollte dies nicht die immer steigende Veredlung des Menschengeschlechts beweisen, an welcher so viele zweifeln? Oder werden wir nur reicher an Kenntnissen und ärmer an wirklichen Tugenden? Und doch müßte das letzte nicht der Fall sein, wenn der schöne Traum wirklich in Erfüllung gehen sollte! Unsre Väter wußten weniger als wir; und dennoch glaube ich, daß zu ihrer Zeit, um nur bei dem lieben Vaterlande stehen zu bleiben, mehr Tugend und Rechtschaffenheit in Deutschland zu finden war als jetzt. Bessere Köpfe sind wir, das ist ausgemacht; aber der Kern des Menschen scheint sich mehr zu verhärten. Setzt man aber diese steigende Veredlung des Menschengeschlechts in allgemeine Kultur und Verfeinerung des Verstandes, so ist das ganze Ding weit faßlicher: so veredelt sich, was lesen und denken will, was gelehrt wird. Das Wort Humanität ist indessen auch stark in Gang gekommen; und in der Tat, man ist gezwungen, einige Dinge feiner zu machen als vormals.

107


[436] [223]EINEM Fürsten ist vieles möglich; nur zwei Dinge vermag auch der mächtigste nicht: daß der Staat, dem er vorsteht, nicht bestohlen werde und daß seine Untertanen immer Gerechtigkeit erhalten. Der Despot vermag beides noch weniger, wenn er nur als Despot regiert; denn unter ihm eilt jeder Beamte, für sich zu ernten, eh' ein andrer über die Saat herfällt. Auch denkt er, er bestehle weniger den Staat als den Herrn und die Günstlinge.

108


[223] [179]DER leerste, für unsern Geist ermüdendste Aufenthalt sind die Prachtzimmer der Großen, in denen wir allein auf Audienz warten müssen. Alles, was man da stehen und hängen sieht, scheint [179] gar nicht zum Gebrauch bestimmt; man kann sich an keinen Gegenstand anschließen, durch kein Gerät mit dem Besitzer in ein vertrauliches menschliches Verhältnis treten. Alles, was um einen her steht und hängt, scheint dem Besitzer so unnötig und überflüssig zu sein, daß, wenn nun das Warten gar zu lange dauert, man sich endlich selbst zu den ihm unnötigen und überflüssigen Geräten rechnet.

109


[180] [281]WENN ich begreifen könnte, wie eine Katze maust, die man gleich, noch ganz unerfahren in dieser Jagd, von ihrer Mutter weggenommen hat, wie man zum Dichter wird – wie Homer, Shakespeare, Milton und Klopstock –, wie man in einem moralisch-verdorbenen Staate ein rechtschaffener Mann bleibt, wie die Gesellschaft überhaupt mehr durch den bloßen Glauben an Tugend und Religion als die Sache selbst besteht, wie diese beiden sich auch in der verdorbensten erhalten und fortwirken: so wollt' ich kein Buch mehr lesen und als Menschenlehrer auftreten. So kann ich nur träumen, sehen, hören, bemerken und vergleichen und dann faseln wie jeder andre, wenn ich etwas mehr tun will.

110


[281] [385]ICH wundere mich nicht, daß man der Kirche in dem Papst wieder ein sichtbares geistliches Haupt hinstellte. Das neue Konkordat, welches mit dem Papste abgeschlossen worden ist, muß ein merkwürdiges Dokument zur Geschichte des menschlichen Geistes sein. Beweist es auch nicht die Stärke des Papsts, so [385] beweist es doch gewiß, was ein Kultus vermag, den Priester länger als tausend Jahre zu ihrem Vorteil gepflegt haben. Von der Religion kann nicht die Rede sein, das ist ein ganz anderes Ding, und darüber hat man nie ein Konkordat geschlossen. Auch hatte man wahrscheinlich einen ganz andern Zweck dabei. An den bekannt gewordenen Palliativen sieht man, daß der Papst, die Kardinäle und die Erzbischöfe ganz in dem rechten Sinn ihres Standes handeln: »Laßt uns nur hinein! Räumt uns nur ein Haarbreit ein, für das übrige wollen wir schon sorgen.« – Ich fürchte, Frankreich wird alles das an diesen Palliativen erfahren, was ein chronisch Kranker bei ihrem Gebrauch erfährt. Die heimgekehrten Priester werden nie vergessen, daß man sie einst auf Diät gesetzt hat. Versucht es nur mit den Jesuiten! Als die Französische Revolution die drohende Wendung nahm, eilten sie zu allen Fürsten Europas, von welcher Religion diese auch waren, schrien laut und lispelten leise: »Da seht ihr die Folgen unsrer Auflösung! Euch und die Bourbone[n] rettet nun nichts mehr als unsre Herstellung!« Sie dachten nur an ihre eigne Herstellung. Die Furcht macht leichtgläubig; sie erregt die Leidenschaften, besonders bei Fürsten, denen gewisse Leute aus gewissen Ursachen immer nur eine Seite, und zwar die jenen gefallende, zeigen. Dieses geschah in vollem Maße, im Anfang und während der Fortdauer der Revolution, veranlaßte alle Fehlgriffe und machte Frankreich zu dem, was es ist. Dies nennt man: teil an dem Schicksal der Fürsten nehmen, sich ihnen recht ergeben erzeigen, und so betrog man viele derselben in der fürchterlichsten Stunde, die je die Uhr der Welt für Fürsten schlug. Auch machte die Vorstellung der Jesuiten, die zu andern Zeiten Unwillen erregt hätte, auf viele sehr kluge Leute Eindruck; vielleicht dauert er noch. Später wandten sie sich an einen großen Monarchen und bewiesen auch ihm: daß nur durch sie der Thron der Bourbone[n] hergestellt und Europas Völker von ihrem Wahnsinn geheilt werden könnten. Sie faßten Fuß, die Sache ging vortrefflich, und es war viel von dem Einfluß eines so großen, stark–, kühn- und schnellwollenden Monarchen für sie zu erwarten. Aber [386] nun machten sie einen Schüler – nein! – einen Pfaffenstreich, den ich von Jesuiten, die so leise gehn, nicht erwartet hätte. Ich würde sagen, die Vorsicht mischte sich drein, wenn ich diese in die Torheit eines Jesuiten mischen möchte. Im Taumel des Glücks fragte einer ihrer Feinsten, der ihr ganzes Werk geleitet hatte, den Monarchen, wie sie sich benehmen sollten, wenn einer seiner Untertanen zu ihrer Religion übergehen wollte? Der Monarch durchdrang auf einmal den Jesuiten und Jesuitismus, die Täuschung verschwand, eine nähere Furcht vertrieb die entferntere, ihr Werk zerfiel von diesem Augenblick an und hätte sich – hat sich, wenigstens in diesem Lande, nicht wieder aufgerichtet. Aber wer hätte dies auch von einem Jesuiten erwartet?

111


DIE Katholiken mögen die Protestanten immer Ketzer schelten; das, was sie von Aufklärung erhalten haben, sowie die wenige Geistesfreiheit, deren sie genießen, verdanken sie ihnen doch, und sie lohnen es, wie Menschen immer Wohltaten lohnen.

112


[387] [415]DIE kalte Vernunft, besonders die jetzt in der Philosophie herrschende und durch sie zur Herrschaft strebende, verachtet alle Schwärmerei und allen Enthusiasmus. Gleichwohl würde sie noch heute nicht wagen, sich so keck zu zeigen, wenn diese beiden kühnen Waghälse ihr nicht den Weg gebahnt hätten. Die kalte philosophische Vernunft ist wenig zum Wagen geneigt, sie heilt vielmehr das Herz von allem kühnen Unternehmen. Es waren keine kalten, vernünftigen Philosophen, sondern dichterische Köpfe, die über die Mißbräuche aller Art, oft auf Gefahr ihres Daseins, herfielen. Leute oder Geister dieses Gehalts schlugen so lange auf den irrigreligiösen, irrigpolitischen und irrigmoralischen Schleier, der die Augen des Menschen verhüllte, bis er hin und wieder zerriß und freiere Aussicht verstattete. Nur sie bringen laut in der Leute Mund, wovon der ganz vernünftige Philosoph in seinem Kabinett schreibt und spricht, und sind, wie gesagt, die Waghälse der politischen, moralischen und religiösen Welt.

113


DER Streit, der gegenwärtig zwischen den kaltvernünftigen und den warmen, gefühlvollen Philosophen herrscht, gleicht dem Kampfe zwischen der sogenannten ganz neuen Souveränität des Volks und der tausendjährigen Erfahrung dagegen. Er muß auch ein gleiches Ende nehmen; die Anmaßungen werden dann [415] bescheidner werden und das Resultat nach Beendigung des Streits für beide Teile gleich vorteilhaft ausfallen. Sie werden sich ineinander verschmelzen. Wenn die Kämpfenden des Streits müde sind, so sieht sich jeder nach seinem wahren Standpunkt um und tritt in seine Grenzen zurück. Nur ein Unterschied wird übrig bleiben, und er ist beträchtlich. Jener Kampf bedeckte das Schlachtfeld mit Leichen, dieser bedeckt es mit Büchern. Ach, das Vergessen erwartet beide zugleich, und kaum zeichnet man die Anführer auf!

114


GEFÜHL und Vernunft sind die Sonne und der Mond am moralischen Firmament. Immer nur in der heißen Sonne, würden wir verbrennen, immer nur im kühlen Mond, würden wir erstarren.

115


[416] [133]WENN die Fürsten wüßten, wie das bloße Anerkennen des wirklichen Verdiensts die Herzen ihrer Staatsdiener, von welchem Range sie auch seien, erhebt, ihr ganzes Dasein beseligt, wie es alles Bittere der vorigen Vernachlässigung vergessen macht, wie es ihnen auch die schwerste Arbeit versüßt, ihre Fähigkeiten dazu entwickelt, ihre Moralität und dadurch die Moralität anderer verbessert, sie würden sich's zu einer der ersten Pflichten machen, wahres Verdienst zu erforschen, anzuerkennen und zu belohnen. Aber es gehören so viele glückliche Umstände für den Fürsten und den Staatsdiener dazu, daß die Ausübung dieser Pflicht zu den schwersten und seltensten gehört und darum auch den glücklichen Erfolg nicht haben kann, den ich jedem solchen Fürsten so herzlich wünsche.

116


[133] [58]OHNE die Eitelkeit erwachten die Fähigkeiten der meisten Menschen nicht, der Weiber ihre blieben nun gar tot. Sie wirkt im gesellschaftlichen Leben mehr als selbst Hunger und Durst, ja man opfert ihr sogar oft das möglich Entbehrliche dieser Bedürfnisse auf. Je eitler der Mensch, je tätiger ist er; dieses beweisen uns ganze Nationen. Sie ist die wahre Königin der Welt, die große Wundertäterin, und wäre sie nicht da, so müßte man sie zu erschaffen suchen. Und ist sie nicht mehr eine liebenswürdige als schädliche Närrin? Spielt sie auch die Meisterin zu sehr, so bringt sie doch immer nur Torheiten hervor, die meistens andern nützlich sind oder durch ihr Lächerliches unterhalten. Da hingegen ihre höhere Veredlung, der ernste Stolz, das Großgefühl, das erhabne Bewußtsein der Geisteskräfte, Stärke und Macht andere niederdrücken und ebenso leicht zu großen als gefährlichen Taten reizen. Die erstere flattert immer wie ein Schmetterling umher; ihre ernsten Geschwister betreten oft mit erschütterndem Schritt die Grenzen des Verbrechens, und setzen [58] sie auch nicht immer die Welt in Flammen, so machen sie doch die Gesellschaft erstarren, in die sie ihre hohe Würde tragen. Die Eitelkeit scheint mehr die Zugabe der mittlern Stände zu sein, der Stolz nebst seinen Nebengefährten mehr das Eigentum der Höheren, das heißt: der Leute, die sich im Besitz des Welttheaters fühlen. Empört bei den erstern der Stolz, so beleidigt die Eitelkeit bei den letztern; denn sie ist bei ihnen mehr ekelhaft als lächerlich. Da Männer, die weder von der einen noch von dem andern so weit beherrscht werden, daß sie ihr Wirken und Tun bestimmen, zu seltene Ausnahmen sind, so lassen wir diese unberührt; gleichwohl lebt keiner auf Erden und hat darauf gelebt – vorausgesetzt, er sei nicht von frühster Jugend auf eine einsame Insel ausgeworfen worden –, auf den nicht die Eitelkeit zuzeiten ihre Rechte ausgeübt hätte. Der Funke, den Prometheus vom Himmel stahl, um das Menschending oder den Menschenklotz zu beleben, war gewiß die Ausbeute der zusammengesetztesten und wunderbarsten chemischen Operation, vielleicht der feinste, lebendigste Extrakt aus dem unendlichen physischen und moralischen Reiche. Aber wie schlich sich das windige, luftvolle Ingredienz der Eitelkeit in die Operation und wie veranlaßte sie nicht die Verpuffung des Ganzen? Woher kam es? In der physischen und bloß tierischen Welt existiert sie so wenig wie ihre höheren Konsorten; da wirkt nur Kraft und Instinkt. So wenig man dem nachrechnen kann, der den Menschen zu so verschiednen Zwecken so gebildet hat, so gewiß ist der reine Mensch eine bloße Null, die die Gesellschaft erst durch Entwickelung zweckmäßiger sinnlicher Triebe, die ihm der Moralist zum Vorwurf machen muß, um sie zu zügeln, zur Zahl macht. Sie setzt die Nenner zu dieser Null. Alles jetzt Berührte gehört zu den großen Zahlen, die allergrößte aber, die aus diesen großen zusammengesetzt wird, vermögen wir so wenig auszusprechen als die unendliche Zahl. Selbst die Newtone, Euler, Laplace und Lagrange vermöchten es nicht.

117


[59] WIR hassen alle den Despotismus, und gewiß mit Recht; gleichwohl übt ihn jeder mehr oder weniger aus – ein Beweis, daß wir alle überzeugt sind, es gehöre etwas Gewalt dazu, das gefährliche Menschentier in Schranken zu halten. Das Gesetz kann nicht allen Übertretungen, besonders den kleinen, sich jeden Augenblick im menschlichen Verhältnis ereignenden vorbeugen, und gewöhnliche Menschen, deren Zahl die größte ist, müssen zur Erfüllung ihrer Pflichten gestoßen werden. Ist dieses auch kein Despotismus, so trägt es doch die Miene desselben und muß sie tragen. Man versuche es auf einem bedeutenden Posten, nur in seinem Hause mit dem ganz milden, nachsichtigen, liebevollen, humanen Geist, und man wird bald fühlen, daß, wenn man andre nicht ein wenig despotisiert, man gewiß von ihnen despotisiert wird.

118


[60] [249]ICH wünschte eine Geschichte der Päpste von einem Manne zu lesen, der die Darstellungsgabe Voltaires mit dem kalten philosophischen Forschungsgeist Gibbons, den dieser uns in seiner Kirchengeschichte zeigt, verbände. Er würde uns eine Geschichte des menschlichen Geistes von vierzehn Jahrhunderten geben. Der es aber unternähme, müßte Sekte, Vaterland, Meinung und alle Vorurteile vergessen können. Der unbefangene Verstand müßte immer wachen; das, was wir erfahren, lernen und bemerken sollten, müßte nur aus den Taten und Handlungen hervorgehen und der Geschichtschreiber selbst unsichtbar sein. 2

119


[249] [259]UM eine recht ästhetisch wirkende Geschichte der Französischen Revolution zu schreiben, müßte man die Kunst verstehen, alle die merkwürdigsten Begebenheiten, wie sie aufeinander folgen und eine aus der andern fließen, in einem kräftigen, feurigen, kurzgedrängten Stil, ohne Anmerkungen, Gemälde, Porträts, Deklamation und ohne Schimpf und Lob darzustellen. Jede Begebenheit müßte überdem so erwiesen sein, daß auch der keckste Zweifler und der bestimmteste Parteigeist, von welcher Meinung er sei, nichts dagegen aufzubringen fände. Würde dieses Werk so ausgeführt, welch eine Beschäftigung für unsern Verstand, unsre Einbildungskraft und unser Herz! Aber würde man auch das schreckliche, empörende, zermalmende Gemälde in seiner nackten Wahrheit ertragen können?

120


[259] [470]DAS Feuer des Unwillens über Torheit und Laster entzündet den Witz zum kühnen Sarkasm[us], der Spott reizt ihn zum spitzigen Epigramm. Der erste entspringt aus einem starken Gefühl; indem dies den Witz berührt, durchglüht es ihn auch, und ebenso schnell springt das elektrische Feuer in die Seele, das Herz und die Einbildungskraft des Hörers. Mit einem Zug entwirft er ein vollendetes Gemälde aus der moralischen Welt; aus [470] den kühnen Gedanken wird ein feuriges Bild, das aus dem Spiegel der Wahrheit glühend herausleuchtet. Der Witz spielt um das Lächerliche, er spitzt in Ruhe den Pfeil und fixiert den Verstand auf den ins Auge gefaßten Punkt. Der Sarkasm[us] wirft eine Fackel in das Dunkel des menschlichen Wesens; schleudert er sie auf den einzelnen, so steht er, wie in einer schnell erleuchteten Höhle, mitten im Feuer. Das Epigramm deutet nur mit dem Finger auf die Toren, und sie ziehen vorüber.

121


[471] [15]ES gehört viel dazu, daß sich ein Mann, dem, wie man zu sagen pflegt, das Herz überfließt, in der Gesellschaft erhalte; am Hofe ist es gar ein Wunder. Ich rede nicht von einem Narren (so, wie unsre Nachbarn sagen), der aus Geschwätzigkeit und Unbesonnenheit überfließt. Ich spreche von einem Manne, der zu spät an den Hof und unter die feine Welt gekommen ist, der zu steif durch den moralischen Panzer, den er sich selbst geschmiedet und angelegt hat, aller fernern feinen Erziehung unfähig ist, der, selbst edel, rasch fühlend, offen, wahrhaftig und bieder, nur Leute solcher Art aufgesucht hat und, wenn er sie nicht fand, sich, nach Erfüllung seiner Pflicht, in seinen einsamen Zimmern [15] aufhielt. Berührt man vor einem solchen Manne eine schlechte, verdächtige Sache, so bezeichnet er sie, gereizt von der schonenden Höflichkeit der Anwesenden, mit einem Zuge, fährt immer mit der Wahrheit grade heraus, ohne zu bedenken, ob sie die Anwesenden ertragen können oder ertragen dürfen. Selbst gleichgültigen Dingen gibt er durch Wärme, eigenen Ton und feste Art ein Gewicht, die die wichtigsten in dem Munde anderer nicht haben. Aus mutvollem Vertrauen auf sich, aus Gewohnheit und einer gewissen vertraulichen Gutmütigkeit und arglosen Absicht teilt er selbst an der Tafel seines Monarchen, wenn ihm Umstände diese Ehre verschaffen, seinen Nachbarn Gesinnungen über berührte Gegenstände und Personen mit, daß diesen dunkel vor den Augen wird. Man muß so etwas gesehen und erfahren haben, um daran zu glauben und noch mehr, wenn ich hinzusetze, daß man einen solchen Mann ruhig hinlaufen läßt, hat man sich erst fest überzeugt, er strebe nach nichts weiter und lasse sich die Erfüllung seiner Pflicht g[e]nügen. Alles, was man dann tut, ist, daß man ihm ein Beiwort zu seinem Namen hinzusetzt.

122


[16] [281]EIN Mann, der immer gesund gewesen ist, kennt sich und den innern Menschen nur vom Hörensagen. Krankheiten entwickeln Kenntnisse von Dingen in ihm, die er vorher gar nicht geahndet hat; es ist, als wenn Abspannung, Schwäche, zu gespannte Kraft, Nervenreiz, Fieberhitze und ihr ganzes häßliches Gefolge die innere Seele so ängstigten, daß sie nun im Drang ihrem eignen Besitzer die längst verborgenen Geheimnisse offenbaren müßte. Wir erstaunen dann, daß ein so sonderbares und wunderbares Ding in uns lebt und gelebt hat. Wir treten hier durch physiologische und psychologische Selbsterfahrung in eine uns ganz [281] unbekannte moralisch-physische Welt voller Wunder in uns selbst. Viele Leute erfahren auch nur alsdann erst, daß etwas in ihnen lebt, das sich mit nichts vergleichen läßt. Sagt man ihnen, das Ding ginge ganz natürlich und animalisch zu, so macht man ihnen das Rätsel noch dunkler. Der Seelenkranke endlich, der übrigens mit seinem Körper zu leben und zu handeln scheint wie wir, ist gewiß eine der geheimnisvollsten Aufgaben für den denkenden Mann, und hier löst man nichts mit einem Machtspruch auf. Was weiß ich, wenn man mir sagt, dieser Zustand rührt von physischen Ursachen her? Wenn ich etwas sehen möchte (um etwas recht töricht Unmögliches zu wünschen), so wäre es eine kranke Seele, während sie ihr Körper martert, und dann möchte ich sie wiedersehen, wenn sie ihren Körper verlassen hat.

123


[282] [330]EIN Mann, der immer mit festem Sinn nach Maximen und Grundsätzen in der Welt handelt und doch sein Glück machen will, kömmt mir wie ein Feldherr vor, der Schlachten großer Vorgänger kopiert, sie ausführt, ohne die Stellung des Feindes damit verglichen oder die seine darnach beurteilt zu haben; oder wie einer, der sich zu einem Zweikampf bewaffnet, ohne zu wissen, mit was für Waffen sein Gegner ihm entgegentreten wird. Der wahre Glücksjäger tritt ohne alle Waffen auf, er verbeugt sich vor jedem Kämpfer, zeigt gar keinen Mut, fällt vor jedem Streich besiegt nieder – und steht doch endlich als Sieger auf, da im Gegenteil der erste, wenn ihm auch durch Zufall ein glücklicher Streich gelingt, der endlichen Niederlage gewiß am nächsten ist. Soll man also weder Maximen noch Grundsätze haben? Das sage ich nicht; ich sage nur, daß der Mann, der sie zum Glückmachen brauchen will, nicht vergessen muß, daß, sowenig zwei Blätter der größten Eiche oder aller Bäume eines ganzen Waldes sich einander gleichen, ebensowenig gleichen sich zwei Lagen im menschlichen Leben, und daß es nicht mit der Maxime allein gelingt, sich in diese ungleichen Lagen hineinzuschicken.

124


[330] [458]IN Wielands vortrefflichen, einzigen Gedichten ihrer Art – als »Musarion«, »Oberon«, den Rittergedichten, Märchen usw. – herrscht eine griechisch-italienische Phantasie, mit deutschem Gefühl erwärmt und durch schöne, menschliche Philosophie veredelt. Ich habe ihn noch nicht als Dichter genannt; aber braucht man den zu nennen, der ganz Europa gezeigt hat, daß die Grazien im Geleite schöner Weisheit – und doch ohne fieberhafte Überspannung –, immer gefälliger Dichtung, feiner Sinnlichkeit und Harmonie der Sprache auch in einem Deutschen sich vereinigt haben? Von allen unsern Dichtern ist er derjenige, welcher den Ausländern am meisten gefällt und gefallen mußte. Seine Stoffe gehören allen Völkern und liegen der Phantasie eines jeden gleich nah; und ob ihm gleich die Behandlung derselben [458] eigentümlich zugehört, so ist sie doch dem Geiste jedes kultivierten Volks angemessen. Wieviel könnte man nicht noch über ihn sagen? Es sei genug, wenn ich hinzusetze: Er allein hat den sanften Rosenschimmer über unsern Parnaß gezaubert, der die grelle, ernste Farbe desselben erheitert und das düster erhabene, ihn oft verhüllende Gewölke erhellt.

Wer ihn hier verkennt, dem haben nie die Musen gelächelt; aber vielen ihrer sein wollenden Priester in Deutschland lächeln die Musen nie.

125


[459] [451]DIE Spanier und Italiener hatten politische Schriftsteller; die Engländer und Franzosen hatten ihrer, haben ihrer noch: Nur wir Deutschen haben keine. Unsre Staatsleute schreiben nicht, und unsre Gelehrten arbeiten noch immer an den Elementen. Sie sind noch immer mit dem Natur- und Völkerrecht beschäftigt; und wahrlich, übte man diese nur erst gegen die armen Reichslande aus, wir könnten der übrigen Staatsrechte entbehren. Indessen beschäftigen sich unsre gutmütigen Gelehrten mit der Statistik, die ihnen eigentümlich zugehört, und nicht zufrieden, daß sie ihren Völkerhirten die Herde zählen und deren Ertrag berechnen, tun sie es noch für alle Völkerhirten Europas.

126


[451] DER gemeinnützige Schriftstellergeist der Deutschen zeigt sich auch darin, daß er den Engländern und Franzosen Verzeichnisse ihrer Schriftsteller liefert. Das Ding liegt ihnen so nah, so sehr am Herzen, daß sie fürchten, es könnte gar einer von diesen Völkern vergessen werden. Übrigens geht hier auch eigner Vorteil mit dem gemeinen Besten Hand in Hand, und so muß es im literarischen wie im bürgerlichen Verkehr gehen, wenn der Staat blühen soll.

127


WENIGSTENS erwerben sich unsre Gelehrten das Recht, über die Literatur andrer Völker zu reden, da sie die Sprachen aller kultivierten Völker Europas lernen und ihre Schriften in dem Original lesen können. Die Engländer und die Franzosen rechnen es sich einander hoch an, wenn sie einige lebende Sprachen gelernt haben; der bescheidene Deutsche nennt es kaum ein Verdienst. Er denkt, es sei ein Werkzeug mehr, ohne welches er sein Gewerbe nicht nützlich und aufrichtig treiben könnte. Und an seine Bescheidenheit gewöhnt, zählt es ihm auch weder der Engländer noch der Franzose zum Verdienst.

128


[452] [499]WAS eine Schrift von einem großen Mann bewirken kann, beweist die echt königlich schale Schreiberei des Größten der Könige über die deutsche Literatur. Wie viele im Ausland und besonders Männer von höherm Stande, die sich so gern durch einen Machtspruch von aller weitern Mühe befreien und sich[499] ebendarum für die ausgemachtesten Richter der Sache halten, urteilen nach dieser Schrift über uns ab! In fünfzig Jahren, und drückte auch die deutsche Literatur alle Literatur der Ausländer nieder, wird dieses Urteil noch spuken. Es sind noch nicht zwei Jahre, daß mir ein Mann dieser Art geradezu sagte, wir hätten keinen andern Roman als den im Irrgarten der Liebe herumtaumelnden Kavalier. Ich zitierte zur Antwort seine Quelle, und die Sache war zwischen uns abgetan; denn streiten muß der Deutsche nicht mit dem Ausländer, er muß ihn durch Taten besiegen. Hierin nur hat er es getan und wird es ferner tun.

129


[500] [314]MAN sagt sprichwörtlich: »Der große Mann ist es nicht vor seinem Kammerdiener«; ich möchte hinzusetzen: Welch ein unerträglicher Mensch müßte der große Mann sein, der es auch vor seinem Kammerdiener wäre! Der wahrhaft große Mann ist es nur am gehörigen Orte, an der rechten Stelle, im übrigen ist er wie unsereiner, und je mehr seine Größe unter dem Natürlichen und Gutmütigen vor unsern Augen verschwindet, je mehr fühlen und erkennen wir sie, und auch nur so können wir sie lieben. Nicht die Kraft und ihre immer gespannte Darstellung, die kleinen menschlichen Schwächen oder die Herablassung durch Güte dazu machen liebenswürdig. Der große Mann zeigt uns alsdann, unser aller Mutter sei auch die seine, er bleibe ihr getreu und sei uns noch nah verwandt!

130


[314] [303]ICH habe viele große Männer und berühmte Schriftsteller genannt, aber noch nicht den reinsten, moralischen Menschen, der mir in einem Leben von beinahe fünfzig Jahren vorgekommen ist. Dieser war Georg Schlosser aus Frankfurt am Main, der daselbst vor kurzem als Syndikus sein schönes Leben endigte. In ihm hatte sich die menschliche Natur veredelt, und er selbst leitete sein ganzes Leben hindurch alle seine erworbenen großen Kenntnisse nur auf diesen Zweck. Kein unreiner Faden läuft durch das reine Gewebe seines Lebens – und er führte ein sehr tätiges Leben. Ich möchte sagen: Nur die Tugend war sein Genie und machte es aus; so kräftig, so ganz und vollendet stellte er sie dar. Daß er mein Freund bis zum letzten Augenblick seines Lebens war, meiner in der langen Abwesenheit gedachte, wie ich seiner, und wir, entfernt und nah, immer in gleichem Geist verbunden blieben, rechne ich zu dem wichtigsten Gewinn meines Lebens. Wann ich einst den [303] deutschen Boden wieder betrete, dann werd' ich erst recht seinen Verlust fühlen. Da er den Ort lange verlassen hatte, wo wir uns zuletzt und so lange sahen, so konnte ihn mein Geist in den neuen Verhältnissen ohnedies nicht mehr an Ort und Stelle gegenwärtig denken.

131


[304] [314]DAS Immer-Große oder Ganz-Große bringt endlich die nämliche Wirkung hervor wie das Erhabene: Es macht erstarren. Die Seele ist erst ganz gedrängt voll davon, und dann erfolgt eine Leere, weil der Geist allein wirkt und seine Verbindung mit dem Herzen während dem Staunen aufgelöst zu sein scheint. Zum wahren, dauernden Genusse gehört das letztere unbedingt dazu. Der Mensch ist froh, wenn er nach dieser Bewunderung wieder auf etwas stößt, wo sein Herz auch mitspricht.

132


ES ist nichts Empörenders für den Verstand und das Gefühl, als wenn man in einem berühmten Manne durch nähere Bekanntschaft die Entdeckung macht, er sei der Taten selbst nicht [314] wert, die er ausgeführt hat und die ihm doch den Ruhm und sogar die Unsterblichkeit in der Ferne zusichern. Man zankt in innerm Groll mit allem dem, was sich in das Wesen der Menschen mischt und ihr Schicksal leitet. Wer nie geglaubt hat, ein blinder Zufall herrsche in der Welt, glaubt es doch in diesem Augenblick, um sich aus dem unangenehmen Gedränge herauszuwinden. Lernen wir einen wirklich großen Mann kennen und finden ihn seines Ruhms würdig, so macht er, wenn er klein von Person ist, einen noch stärkern Eindruck auf uns; sein Geist wird um so größer vor unsern Augen, denn wir wundern uns, wie er Raum in dem kleinen Körper gefunden hat, und denken vielleicht dunkel an die Anstrengung gegen das Physische, die seine Entwickelung erforderte. Ist aber der Mann seines Ruhms unwert, so schrumpft dieser um so mehr vor uns zusammen, als der Mann groß von Wuchs ist. Einer dieser Art, der auf dem Flügel der preußischen Leibgarde stehen könnte, muß die widrigste Wirkung tun. – Wen sollte es nicht ärgern, daß die Natur so viel Stoff verbraucht hat, um uns zu äffen. Wir wissen ja schon, daß er den Tempel der Göttin des Ruhms beraubt hat, während sie schlief oder sonst was tat. Zum großen Mann gehört noch mehr als Taten; zum berühmten mögen sie hinreichend sein.

133


[315] [270]WER in spätern Zeiten die kriegerischen Taten der Franzosen nebst den Folgen derselben, deren lebende Zeugen wir waren, [270] lesen wird, dem ist es gewiß nicht zu verargen, wenn er sie für außerordentliche Menschen hält; besonders wenn er hinzudenkt, daß sie sich mit Völkern schlugen, die ihnen an Wissenschaft und Kultur gleich waren. Wir wissen, daß sie Men schen waren wie wir, nur von etwas belebt, das den Menschen nicht gewöhnlich belebt. Das Nationale, was man hierbei denken könnte, setzt sich wechselweise ins Gleichgewicht. Ist der Franzose schnell und lebhaft, so ist der Deutsche ausdaurend und geduldig. So denken wir uns auch die Römer in der Entfernung als außerordentliche Menschen, immer mit ernsten, strengen, politischen Tugenden ausgerüstet. Auch sie waren wahrscheinlich Menschen wie wir, gleichfalls nur mit etwas belebt, was nicht gewöhnlich ist. Aber ebendieses ist es, was den Ausschlag gibt von Volk zu Volk, von Mensch zu Mensch. Die Franzosen haben, wie die Römer, ihre Karthaginienser gefunden, aber keinen Mithridat, obgleich genug von dem, was diesen König und sein Haus stürzte. Überdem stritten die Franzosen für sich, ihren Ruhm, ihr politisches Dasein; ihre Gegner für den Sold und den, der ihn reichte. Der Geist der Eroberung und die Begierde zur Beute, die die Römer vorwärtstrieben, blieben den Franzosen auch nicht aus, nachdem sie sich erst selbst in Sicherheit gesetzt hatten.

134


[271] [239]TRETET einem Hofmann, der das Podagra hat, auf den kranken Fuß, er wird es euch verzeihen, wenn es darum geschieht, ihm Platz zu machen und er dadurch nur um die Länge des schmerzenden Fußes dem Fürsten näher zu stehen kömmt. Ja, er wird euch, geschmeichelt von der erzeigten Ehrerbietung, unter dem ärgsten Schmerz noch zulächeln. Aber der Himmel steh' euch bei, wenn es darum geschieht, ihm vorzutreten.

135


ICH selbst habe den Oberkammerherrn noch gekannt, der so laut und andächtig in der Kirche betete, daß es die ihm Nahstehenden hören konnten: »Lieber Gott, mache doch, daß der Monarch hold auf mich blicke!« Und warum sollte er nicht? Er kannte keine andre Ernte. Und ist die Ernte der holden Blicke des Monarchen für den Höfling oft nicht einträglicher als die Ernte einer ganzen Provinz, die bei zu lange anhaltender kalten Witterung um die Wärme der Sonne zum Himmel fleht? Jeder betet um das, dessen er bedarf, und Gott weiß ja, wozu er, der jedem seine Bestimmung angewiesen, den Hofmann bestimmt hat. Der Oberkammerherr betete in seiner brünstigen Andacht[239] vielleicht etwas zu laut; seine Kollegen tun dasselbe, nur leiser. In recht kultivierten Ländern haben wohl Mütter von Stande den Heiligen Lichter geweiht, vielleicht noch etwas Ehrwürdigeres tun lassen, um ihren Töchtern die Huld des Fürsten zuzuwenden, wenn sie selbst keine Ansprüche mehr darauf machen konnten.

136


[240] [5]WENN ein Mann ein Buch schreibt, in dem er eigne Gedanken und eignen Empfindungsstoff verarbeitet hat und dabei aufrichtig verfahren ist, so gibt er dem Publikum nicht allein einen Teil seines Selbsts damit, er läßt es sogar in sein Innerstes blicken und überreicht ihm noch obendrein das Maß seiner moralischen Kräfte. Zerreißt sein Werk nur immer; er gab euch doch nur von seinem Überflusse, und das Ganze, das er in sich ausgebildet hat, bleibt ihm unversehrt!

137


[5] [282]EIN Maler, der eine recht häßliche Fratze so malte, daß sie in einer nicht leicht zu findenden Stellung gegen das rechte Licht nicht sowohl ein schönes als erträgliches Gesicht vorstellte, würde eine Allegorie des menschlichen Wesens in der bürgerlichen Gesellschaft malen.

138


[282] [49]ICH, der ich an keine Wunder glaube, will ein Wunder, an das ich glaube, erzählen. Ich sehe tagtäglich die moralische Welt, die so tief, tief auf der physischen ruht, daß sie kaum zu unterscheiden sind, von der geistigen an einem einzigen dünnen Haar aufwärts gezogen und sogar etwas emporgehalten. Und das noch größere Wunder ist dieses: daß die ungeheure Masse seit so viel tausendundtausend Jahren dieses einzige dünne Haar nicht zerreißen kann, ob sie gleich durch unartige Wendungen und unaufhörliches Zerren ihr Möglichstes dazu tut.

139


WER es wirklich so weit gebracht hat, daß er sich durch seinen Geist, seine moralische Kraft beherrscht und durch diesen Geist sein und der Menschen Streben und Wirken und die Gründe dazu hell und ruhig durchblickt, der muß endlich an ein höheres, von der Materie ganz verschiednes Wesen in sich glauben, so unmöglich es auch sonst zu begreifen und zu erweisen ist. Darum möcht' ich sagen: daß der sich nach und nach durch Herz und Verstand ausbildende Mensch durch die Übung, die Anwendung seiner moralisches und intellektuellen Kräfte das Bewußtsein eines höhern Wesens in sich erweckt und selbst das geistige, unsterbliche in sich auferzieht; wenn er also auch seine Seele nicht selbst erschafft, so macht er doch das schlummernde, dunkelträumende, wähnende, unstete Ding in sich zu einem wachen, bestimmten, sich ganz bewußten Wesen. So kann nun auch dieses Wesen gleich einer Gottheit in unserm Innern wohnen, und wir können sogar unter seiner Herrschaft etwas von dem unaussprechlichen Genuß empfinden, den wir dem Schöpfer der Welten und Geister nach unsern Begriffen beilegen, und so das Allererhabenste, im Geist zu herrschen und zu wirken, mehr als ahnden.

140


[49] [249]AUCH ganze Städte hat die allgewaltige Zeit begraben. – Nach Jahrtausenden haben Sterbliche andrer Sprachen, andrer Sitten, andres Glaubens ihre Gräber geöffnet. Da liegen sie wie tote Gerippe an demselben Lichte, das sie einst erleuchtete und ihre verschwundnen Bewohner erfreute. Die Zerstörerin scheint sie aufbewahrt und hervorgezogen zu haben, um uns zu erinnern, daß vor ihr Hütte, Palast, Städte mit Mauern und Türmen einerlei ist.

141


DIE Werke großer Dichter sind voll düstrer Klagen und erhabner Bilder über Vergänglichkeit und Zerstörung; sie fühlen dabei, daß in ihnen die schönste Welt durch beide erlischt, sich auflöst und verschwindet.

142


[249] [123]DIE schöne, einfache, väterliche, patriarchalische Benennung der Völker als »Herden« und der Fürsten als »Hirten« gewinnt zu unsern Zeiten, und vorzüglich in Deutschland, tagtäglich an Würde und Wahrheit. Man spricht von nichts als von Vertauschung der Länder oder Triften und unterhandelt ohne Aufhören über diesen wichtigen Gegenstand; kömmt endlich das Werk zustande, so werden die Herden ihnen ganz fremde Hirten haben und die Hirten ihnen ganz unbekannte Herden weiden.

143


[123] [359]DIE Mythe oder Sage, ein Teil der Engel sei gegen Gott, ihren Herrn und Schöpfer, im Anfang der Zeit aufrührisch geworden, ist ganz im Geist und nach dem Herzen der Menschen erfunden. Das unbeständige, kühne, eitle, stolze Ding traut höhern Wesen, wenn es sie denkt oder träumt, nicht mehr Beständigkeit oder Kraft zu, als es an sich kennt, und um sie sich ähnlich zu machen, ziert es sie mit seinen Gebrechen aus. Ich weiß wohl, daß die Priester diese Sage zu einem ganz andern Zweck gebrauchen; ich weiß auch, daß mit dem Glauben oder Unglauben an dieselbe viel von ihrer Sache steht oder fällt. Übrigens kömmt das Gerücht davon aus dem Orient, dem Lande des Despotismus und des Aufruhrs, her, woher uns noch schlimmere Dinge als dies gekommen sind.

144


WENN plötzlich das Wesen aller Wesen den dicken, dunkeln Vorhang wegzöge, der uns seine Geheimnisse verbirgt – ich glaube, die Auflösung derselben würde so einfach erhaben sein, daß das Menschengeschlecht vor Bewunderung erstarrte. Ein recht keck vernünftelnder Philosoph würde vielleicht ärgerlich ausrufen: »Ist es nur das?« Und der Freche würde mit diesen Worten, ohne es zu wollen, das Höchste gesagt haben. Dieses Wesen hat für unser Glück und unsre Ehre dadurch, daß es sich dieses einfach erhabene Geheimnis, wie ich es zu denken [359] wage, vorbehalten hat, zugleich gesorgt. Die Menschen würden es doch nur verunreinigen, wenn sie dann noch etwas vermöchten.

145


[360] [406]WER recht zur Erkenntnis seiner Unwissenheit gelangen will, muß Metaphysik, Physik und was dazu gehört studieren; hier erfährt er immer, was das Ding nicht ist, das er wissen will; und so liest und studiert er die Geschichte des menschlichen Geistes, wozu ihm weiter nichts fehlt als die in dem unzugänglichen Archiv verborgenen Dokumente.

146


[406] [418]MICH dünkt, ebendarum, weil dem Menschen der Ursprung seiner meisten moralischen Übel so nah liegt, versteigt er sich in der Höhe und Tiefe, um die Quellen derselben zu suchen. Er könnte sich bei etwas genauer und aufrichtiger Prüfung hundertmal selbst eine klare Antwort geben, bevor er auf einen so verwickelten Fall stieße, der ihn berechtigte, den zu fragen, der alles durch das weiseste Schweigen beantwortet hat. Er sagte zum Geschaffenen: »Geh und wirke nach deiner Kraft!«, und so verwies er den Menschen an sich selbst. Wir sehen täglich, wie der Mensch ihm für diesen Tätigkeitstrieb dankt, wie er ihn benutzt und wie er den dafür zur Rechenschaft zieht, der ihn damit begabt hat.

147


AUCH die jetzt von den Philosophen so sehr verschrienen Endursachen haben dem Menschengeschlecht große Dienste geleistet; wir werfen in unsern blendend hellen Zeiten eine Krücke nach der andern weg; aber laßt euch nicht beunruhigen, es geschieht nur in Büchern und auf Kathedern. Im bürgerlichen Leben hinken auch die kaltvernünftigsten Philosophen auf Krücken einher – wahrlich, sie müßten sonst in der Luft gehen lernen, denn auf der uns und sie ernährenden Erde würden sie, nach ihrer Weise, auf die Nase fallen, und dazu glaubt der Philosoph, wenn er auch keine Endursache gestattet, die Nase doch nicht gemacht. [418] Auch ich liebe Luftschlösser, sie mögen noch so bunt aussehen, wenn man nur nicht verlangt, daß ich darin wohnen soll; und will man es, so muß man mir doch von der festen Erde an eine Brücke oder Leiter aufbauen und hinstellen, damit ich sie ersteigen kann. Doch eine Brücke oder Leiter gehört zum Empirischen. Tritt auch ein Baumeister, wie der edle Friedrich Jacobi, mit Materialien auf, um uns zu einer geistigen Welt sicher zu führen, so erheben andere ihre Luftschlösser so sehr und schnell in die Höhe, daß sie der Kühnste im Fliegen nicht erreichen kann.

148


[419] [406]WENN – zum Verdruß der Bauliebhaber – die Verwirrung der Sprachen die Vollendung des Turms zu Babel hinderte – so tun die verschiedenen Systeme der Philosophen dasselbe zu unserm Verdruß bei ihrem Gebäude. Der Tempel der Philosophen und der Turm zu Babel bleiben beide nur Fragmente. Vielleicht ist die Verwirrung, welche die verschiedenen Systeme hervorbringen, noch größer als die Verwirrung, welche die verschiednen Sprachen erzeugten. Denn hören wir nicht die größten Baumeister am philosophischen Tempel immer klagen, daß weder Gesellen noch Jungen sie verstehen? Da steht also das philosophisch-papierne Babel im Fragment, und drückt es auch die Erde nicht, so drückt es doch die Köpfe.

149


[406] [377]WENN das höchste der Wesen die Hypothesen der Philosophen über seine Schöpfung, Welt und Regierung hörte, es müßte, wenn man menschlich von ihm so reden darf, wahrscheinlich, nach Verhältnis, dasselbe Vergnügen empfinden, das ein großer selbstregierender Monarch empfände, wenn er das politische Gewäsch der Müßigen über seine Regierung und die Geheimnisse derselben im Kaffeehause belauschte.

150


[377] [91]WENN die wahre Dichterei ein Beweis von höherer Moralität (wie ich glaube) in dem Menschen ist, so ist es die veredelte Liebe zwischen den Geschlechtern in der Gesellschaft auch: Die Sinnlichkeit allein hätte dies nicht gefunden, hätte sich auch nicht so verstiegen. Aber ist nicht auch die Liebe Dichterei?

151


[91] [250]ES ist sonderbar und vielleicht bemerkenswert, daß die einzige in einem republikanischen Geiste geschriebene englische Geschichte von einem Frauenzimmer, der Miß Macaulay, ist, und wahrlich in einem starken, römisch-männlichen Sinn. Sie suchte wahrscheinlich nichts am Hofe; doch war es schon lange vor der Französischen Revolution in England Gebrauch, sich sorgfältig vor allem republikanischen Anstrich zu hüten. Es schien, als wollten die großen Schriftsteller durch ihre Zärtlichkeit für das regierende königliche Haus oder die Minister desselben die Schuld abbüßen, die ihre Vorfahren durch den Republikanismus auf sich geladen hatten. Man glaubt ihnen zuzeiten gar anzufühlen, als schämten sie sich des Vergangenen, so gar unschuldig sie auch daran sind; ich habe nichts dagegen, wenn die Art der Wiederherstellung Karls des Zweiten dieses bewirkt. Darüber muß man Miß Macaulay hören. Selbst Hume, der doch wahrhaftig als Philosoph skeptisch und republikanisch genug ist, zeigt sich, und besonders in der Geschichte der Stuarts, als die gläubigste und gutmütigste Seele. Selbst der Papismus ist ihm hier weniger zuwider als der Republikanismus, und hätte er, der Allerungläubigste Englands als Philosoph, ganz England als Geschichtschreiber zum katholischen Glauben bekehren können, damit der ihm verhaßte Republikanismus ja niemals mehr das Haupt erhübe, er hätte es wahrscheinlich getan. Mag er! Ich will aber damit nicht sagen, als sollte man die Geschichte in einem republikanischen Geiste schreiben; man soll, meine ich, die Geschichte im Geist ihrer Zeit schreiben: weder tadeln noch loben; weder verbergen noch ausschmücken; dann wird der Wert der Handelnden, ihres Wirkens und ihrer Gesinnungen von selbst hervorgehen.

152


[250] [330]WER auf schlechtgestimmten Instrumenten spielen will, der sage einem recht Glücklichen Wahrheiten und tröste einen recht Unglücklichen.

153


[330] [50]DER Mensch war moralisch-tot geboren oder erschaffen worden, so sagt man, und das heißt: Er war vollkommen. Da beschlich der Zweifel seinen Geist, und er ward ein lebendiges, tätiges Wesen, das etwas aus sich zu machen lernte.

541


[50] [304]ES finden sich in der Tat verschiedne auffallende Ähnlichkeiten zwischen den Ärzten der Seele, des Herzens (den Moralisten) und den Ärzten des Leibes.

Erstlich sind beide noch nicht einig über die Grundsätze ihrer Kunst und Wissenschaft; denn so gut es Boerhaavianer, Stahlianer, Hoffmannianer, Brownianer gibt, ebenso gut gibt es Platonianer, Epikureer, Helvetianer, Zenonianer und Kantianer.

Zweitens sind sie beide in gleichem Zwist über die Behandlung der Kranken. Die eine Partei will reizen, hinaufspannen, erheben, die andre schwächen, niederdrücken, abspannen, demütigen. Für den einen hat der Kranke nur einen Körper, für den andern ist er ganz Geist.

Drittens handeln und urteilen beide nur nach Vermutungen, gehen aber so rasch auf Gefahr des Kranken zu Werk, als sähen sie alles mit leiblichen Augen, als fühlten sie alles mit Händen des Fleisches.

Viertens sind beide innerlich überzeugt, daß sie die ihnen verborgenen Geheimnisse nie erraten werden; das Höchste, was sie hierüber gestehen, ist, daß sie der Sache ganz nah sind, daß ihr so nah zu sein oder sie ganz zu wissen für den Kranken auf eins herauskömmt.

Fünftens gebrauchen beide meistens nur Palliative, besonders bei Leuten von Welt, die für beide Teile gewöhnlich die Chronisch-Kranken sind. Hier flicken also beide nur und suchen die morschen Gebäude zusammenzuhalten.

Sechstens haben beide ihre Marktschreier und Pfuscher.

Siebentens muß der Kranke bei der Kur beider das Beste tun, und da kömmt alles auf seine eigne Natur und Kraft an.

[304] Achtens schreiben heutzutage weder die einen noch die andern ein Rezept umsonst. Wenn der Kranke dem einen es geradezu bezahlt, so bezahlt er es dem andern durch die dritte Hand – die Hand des Verlegers.

Neuntens: Wenn der Arzt sein Heilmittel mit Hilfe des Apothekers in Latwergen, Pulvern, Mixturen, Tränkchen, Pillen usw. seinen Kranken beibringt, so tut es der Moralist durch Hilfe des Verlegers unter der Gestalt von Romanen, Dramen, dramatisierten Geschichten, Almanachen, Gedichten, Kompendien und ganzen Systemen.

Zehntens: Die Arzneien beider können, schlecht oder übertrieben angewandt, Gift werden.

Elftens: Schickt auch der Moralist seine Kranken nicht geradezu aus der Welt, wie es wohl dem Arzt widerfährt, so hilft er nach gewissen Systemen doch manchem auf den Weg dahin. Kuriert mancher Arzt seinem Kranken die Schwindsucht, die Hypochondrie an den Hals, so läuft mancher aus der Schule der Moralisten als ein schwärmerischer Geck oder etwas Schlimmers.

Ein wesentlicher Unterschied herrscht gleichwohl zwischen beiden: Der Arzt erkauft sein Recht zur Praktik bei der Fakultät durch ein Patent, und der andre findet es, gebräche es ihm auch an allem, in seinem Tintenfaß.

Doch genug; der rechte Mann ist sein eigner Arzt und sein eigner Moralist.

154


[305] [397]ES gibt Leute von so hohem Geiste, daß sie das, was man Gemeinplätze oder Gemeinsprüche zu nennen pflegt, gar nicht leiden können und wollen; sie vergessen, daß man es nur dadurch in den gewöhnlichen Gesellschaften aushalten kann, daß nur [397] durch Gemeinsprüche ein Tor und ein Geck zuzeiten noch etwas Gescheites sagt, daß man also ohne sie so etwas gar nicht hörte. Und läßt sich am Ende nicht beinahe das meiste, wo nicht alles, was die größten Köpfe zur Wahrheit verarbeitet haben, auf einen Gemeinspruch zurückführen? Die Gemeinplätze oder Gemeinsprüche sind die verarbeitete und erprobte Weisheit des ganzen Menschengeschlechts von den ältesten Zeiten her, und vergäße sie plötzlich die Menge, ich zweifle sehr, daß ihr die Werke unsrer Genies den Verlust dieses Schatzes ersetzen könnten. Laßt sie ihr; wir zerarbeiten uns oft an einem verworrenen Knoten, den der gemeine Sinn mit einem derben, kurzen, körnigten, wahrheitsvollen Spruch auflöst.

155


[398] [459]ES gibt Poeten – nicht Dichter! –, die uns die Natur so kalt, hölzern, steif und schülermäßig korrekt beschreiben, als hätten sie während der Arbeit hinter der camera obscura gesessen. Auch ist es wirklich so. Ihre camera obscura sind die Gedichte ihrer Vorgänger; und ihr ganzes sensorium ist und wird eine camera obscura, in der sich alles verkleinert und zusammenzieht und wo alles da ist, nur das Belebende und Bewegende nicht. Es fällt auch wohl Licht hinein, aber ohne Wärmestoff. Hier trifft wenigstens der Gemeinspruch »Der Dichter wird geboren!« nicht ein; hier macht sich der Poet.

156


[459] [111]WENN die Kleinen recht wüßten, um was sie die Großen bitten müßten, sie würden ihnen unaufhörlich zurufen: »Gewährt uns nur das Kleine, Gewöhnliche, Tagtägliche in Ordnung, das Große wollen wir euch gern erlassen; wir müssen es ja doch mit dem Kleinen, das ihr uns in vielen Jahren verstattet habt, in einem einzigen Augenblick abbezahlen.«

157


ES wäre noch eine Haupterfahrung an den Menschen zu machen, und zwar eine, von welcher bis auf den heutigen Tag die Weltgeschichte schweigt: ob und wie sie eine lange Reihe weiser, guter, gerechter Regenten ertragen würden. Die Anfrage scheint beleidigend und paradox; ich kann nur sagen, daß es mir leid tut, und wünsche von Herzen, daß das Menschengeschlecht diese Probe erleben möchte, zweifle aber, ob es sie bestände, wenn sich auch alle Umstände von außen und innen dazu vereinigten. Und die Vernunft? Das Glück in dieser Lage, wonach alle seufzen? Wovon alle Philosophen und Menschenfreunde träumen? Eben hier liegt die Schwierigkeit: in diesem Glück, in dieser Vernunft und in diesem Einerlei – diesem seligen Einerlei.

158


[111] [377]VIELE Philosophen halten dafür, der Glaube an ein böses Wesen – Typhon, Satanas, Teufel usw. – sei dem Menschen von den schrecklichen, ihn oft zerstörenden Naturerscheinungen aufgedrungen worden. Ich seh' es als einen ihm gewöhnlichen, bescheidenen Zug seiner Selbsterkenntnis an. Er brauchte sich aber nicht so weit zu versteigen: die Erscheinungen seiner eignen innern Natur und die Wirkungen derselben nach außen konnten ihm dazu verhelfen. Nur da man anfing, ihm zu schmeicheln um gewisser Zwecke willen oder, als er gebildet genug war, sich selbst zu schmeicheln, warf er den Ursprung dieses Wesens außer sich, um eins zu haben, dem er etwas aufladen konnte, wenn es zur Sprache kam.

159


[377] [16]MAN erträgt einen Menschen in der Gesellschaft, wenn es gleich allgemein bekannt ist, daß ihm sein Gewissen wegen schlechter Handlungen, die nicht unter das Gesetz gefallen sind, in jedem Blutstropfen an das Herz schlägt. Sobald aber diesem Manne jemand eine Ohrfeige gibt, die er nicht standesmäßig beantwortet, so geht kein Ehrliebender mehr mit ihm um. Was geht uns sein Inneres an? Das Äußere macht den Menschen.

160


[16] [49]MAN kann ohne Wahrheitsgefühl und ohne den Mut, es zu zeigen, ein großer Virtuose, ein Feldherr, ein Staatsmann, ein großer [49] Versemacher (nicht Dichter), kurz alles im Leben sein, nur kein Mensch im rechten Sinn des Worts. Aber dieses ist auch kein Titel, der etwas einträgt oder zur »Ehre« berechtigt.

161


[50] [123]MAN sagt, und gewiß mit einem Schein von Recht, wo nicht mit vollem Rechte: daß die Großen der Erde nicht nach den gewöhnlichen Regeln und Gesetzen, die wir im Leben gegen uns zu beobachten verpflichtet sind, verfahren können, daß wir sie auch nicht darnach beurteilen dürfen. So hat sich für sie auch wirklich nach und nach eine ganz eigne Politik und Moral, nach welcher sie gegen ihr eignes Volk und andere Völker verfahren, ausgebildet. Ich habe nichts dagegen und weiß, daß ihre Verhältnisse ganz andrer Art als unsre sind; zu bemerken ist aber, daß, wenn man diese Verhältnisse gar zu geringe achtet, es sich ereignen kann, daß sich das Volk bei eintretenden Umständen auch einer ganz eignen Moral und Politik bedient, wenn es mit ihnen zusammenstößt. Wenigstens sieht man auch da nichts von Regeln und Gesetz, wie uns die Erfahrung gelehrt hat.

162


[123] DIE Kleinen oder die Menge machen wirklich wunderliche Forderungen. Sie fordern von allen Großen der Erde, daß sie immer groß sein sollen und das so recht in ihrem Sinne, als würde jenen dieses Wesen angeboren wie ihre Titel.

163


WENN Hof- und Staatsleute und Beamte an dem Fürsten die Großmut und Freigebigkeit als vorzügliche Tugenden loben, so sieht man wohl, was sie darunter meinen. Sie möchten gern jeden derselben zum politischen Beutelschneider am Volke für sich selbst machen; und weil sie selbst aus Furcht vor dem Gesetze nicht so gerade zugreifen dürfen, so möchten sie zu ihrem Besten den dazu reizen, der nach ihrer Meinung ein unwidersprechliches, ewiges Privilegium zu solchen Eingriffen hat.

164


VIELE Mächtige der Erde gehen aus der Welt, ohne in ihrem Leben daran gedacht zu haben, welch ein schweres Amt ihnen das Schicksal auferlegt hat – so leicht wissen es ihre Helfer zu machen. Dieses nenne ich doch: in Unschuld des Herzens und Geistes sterben; aber welch eine unschuldige Erziehung gehört auch zu solch einer Bildung!

165


DIE beste Regierung ist, wenn der Fürst nach festen und weisen Grundsätzen selbst regiert, durch seine Minister ausführen läßt und auch um die Ausführung nicht unbekümmert bleibt. Die erträgliche ist, wenn der Fürst hinter dem Vorhang steht und die Minister allein regieren; in diesem Falle müssen sie doch der Selbsterhaltung wegen auf einige Grundsätze halten und sich nach denselben verbinden. Die schlimmste ist, wenn der Fürst zu regieren wähnt oder sich die Miene davon geben läßt! In diesem Falle glaubt sich jeder, der ihm naht, den Mächtigsten, und jeder Minister will außer seinem Departement noch alle andere[n] beherrschen. Keiner will Ast, alles will Stamm sein. Zu Rate sitzen [124] feindliche Parteien, der Staat wird hin und her gezerrt, und wundert sich zuzeiten der Fürst über die Unruhe dieser Menschen, so deuten die Hohenpriester auf ein Opfer; es wird geschlachtet, und er hat wirklich ein paar gute Tage. Gewöhnlich sterben Fürsten dieser Art mit einer starken Gabe Menschenverachtung, ohne doch dabei nur einen Augenblick an sich selbst zu denken.

166


ES ist schwer, daß die Religion der Großen der Erde allgemein so andächtig und brünstig sei als die Religion gemeiner Menschen. Erstlich fehlt es ihnen an der Not, dem Druck, dem Bedürfnis dazu, und zweitens hat man sie nach gewissen Formeln dem höchsten Wesen selbst so nah gebracht, daß sie, wo nicht ganz als Verwandte, doch als recht gute Bekannte glauben vortreten zu können.

167


[125] [169]WAHR und unleugbar ist es, daß große, immer zunehmende Auflagen die Industrie befördern; aber sonderbar ist es, daß in manchen Staaten das Bedürfnis und der Mangel in ebendem Grade zunehmen, als sich die Staatseinkünfte vermehren. Hier allein seh' ich ein Steigen in der Vervollkommnung des Menschengeschlechts, die gewiß alle Begriffe und Erwartungen der kühnsten Philosophen alter Zeiten übertrifft; und wahrscheinlich wird diese Vervollkommnung an der Grenze des Allererhabensten – dem Nichts – enden.

168


[169] [276]DASS der bloße Kaufmannsgeist der trugvollste der bösen Geister sei, den die Menschen erschaffen haben, beweisen uns die Engländer und werden es uns fernerhin zur völligen und g[e]nügsamsten Überzeugung beweisen. Viele sind so gut, sich den Kopf zu zerarbeiten, wie sich wohl die Engländer aus diesem verworrenen [276] Handel ziehen würden; ich glaube, ohne den meinen anzustrengen, sie werden es, wie alles, als Kaufleute tun. War der geendigte Krieg eine mißlungene Kaufmannsspekulation, so findet sich auch das Hilfsmittel in derselben Quelle. Kam ja doch am Ende die ganze Sache mit Protest zurück.

169


ENGLAND hat uns gezeigt, daß es außer den Großen der Erde noch einen Stand gäbe, den Stand des Kaufmanns, der nach eigner Moral und Politik verfährt und sich um die gewöhnlichen uns in der Gesellschaft Lebende verbindenden Pflichten nicht bekümmert. Das System der Aufopferung – versteht sich, nicht derer, die diesen Stand ausmachen – ist auch hier an der Tagesordnung. England zeigt uns, daß es für diesen Stand, als Stand im Staate, weder Natur–, Völker–, ja nicht einmal menschliche und göttliche Gesetze gibt. Es geht eine Sage in der philosophischen Geschichte der Menschheit, als habe der Verkehr der Völker durch den Handel einst Kultur und Humanität befördert und ausgebreitet; seht doch, wie sich der Engländer in allen Weltteilen, auf allen Meeren bemüht, uns von diesem Vorurteil zu heilen!

170


WENN man sich von dem humanen und Heldengeist der englischen Staatsleute und Helden einen recht anschaulichen Begriff machen will, so muß man die Reden ihrer Staatsleute und Helden während des letzten Krieges lesen und sie mit den ehemaligen vergleichen. Nelson in der Bescheidenheit und Windham in der Menschlichkeit finden schwerlich ihresgleichen unter dem Volke, das sie vorzüglich hassen; läse auch der erste die Geschichte der Helden der königlichen Zeit und der zweite die des Konvents. Was ich mit den Engländern habe? Ich wollte, man kaufte ihnen nichts mehr in Europa ab, so würde wahrscheinlicher die ganz eingeschlafene Humanität dort wiederum erwachen müssen.

171


[277] [265]WENN Deutschlands Fürsten je vergessen können, daß Deutschlands Völker, die in diesem langen, gefährlichen und schrecklichen Kriege das meiste gelitten – und am ärgsten gelitten haben, weil sie ganz unschuldig daran waren –, doch trotz allem dem und trotz allen Versuchungen, an denen es nicht fehlte, gleichwohl ihnen und ihren Gebräuchen getreu verblieben sind, so sind sie – ich wage es zu sagen, und sollten sie mir es auch noch so übel deuten – nicht wert, Fürsten solcher Völker zu sein. Wäre nach diesem Krieg ein Denkmal zu errichten, so müßte es ein Denkmal der deutschen Volkstreue sein, von deutschen Fürsten, mit dieser Inschrift: »Dem deutschen Volk errichtet und geweiht.«

Ich spreche nur von den Reichslanden und möchte wohl hören, wie es unsre Amphiktyonen in Regensburg aufnähmen, wenn wirklich ein deutscher edler Fürst diesen Vorschlag machte. Vielleicht sagte einer der Weisen dieser Versammlung, es sei ein gutes politisches Stückchen! – Aber nein! Sie würden schweigen und bei einem gewissen großen Hofe erst anfragen, dessen Antwort ich ebenso gern lesen als den Vorschlag machen hören möchte.

172


[265] [169]WER ein Projekt machen will, der mache eins, das auf die Einnahme Einfluß hat; es müßte mehr als toll sein, wenn es nicht wenigstens zur Untersuchung an die Behörde übergeben würde.

173


[169] [278]WARUM werden die Deutschen von andern Völkern nicht so geachtet, wie sie es verdienen? Warum setzt der Engländer den Deutschen dem Franzosen nach, ob er diesen gleich mit unauslöschlichem Haß beehrt? Der Franzose macht es ebenso, ob er gleich nicht Ursache hat, den Engländer zu lieben. Vom Spanier rede ich nicht; dieser ist in seiner Meinung immer der erste. Demohngeachtet gestehen sie dem Deutschen alle ein, er sei tapfer, gelehrt, aufgeklärt, duldsam, erfinderisch, gerecht, treu, bescheiden, halte auf Sitten. Aber ebendarum, weil er nur dies ist, achtet man ihn nicht nach Verdienst. In der Konkurrenz von Volk zu Volk helfen diese Tugenden ebensoviel, als sie dem einzelnen in den bürgerlichen Verhältnissen helfen. Politische Tugenden geben in beiden den Ausschlag.

174


[278] [111]WER das Volk zu beobachten Gelegenheit hatte und bemerkt hat, wie wenig zu seiner Glückseligkeit gehört, mit welch mühsam ersparten Genüssen es sich für glücklich hält, wie es die Ruhe liebt, der es zu seinem Erwerbe bedarf, wie es sich die schwere Sorge und Arbeit mit den Gedanken auf kommende Sonn-und Festtage erleichtert, wie es sich gar nicht um das bekümmert, was diejenigen treiben, die über dasselbe gesetzt sind, [111] wenn sie es nur in Ruhe arbeiten und das Wenige genießen lassen – der kann gar nicht begreifen, wie solche Wesen auf einmal ihrer glücklichen Ruhe, Zufriedenheit und Beschränktheit entspringen können. Und wahrlich, es gehören ebenso außerordentliche als frevelhafte Mittel dazu, um diesen ihnen unnatürlichen Zustand zu bewirken. Unwissenheit, Unsinn und Verbrechen müssen lange verbunden gewirkt haben, um denen ihre Lage unerträglich zu machen, die so wenig brauchen, um glücklich, zufrieden und ruhig zu sein, die so gar nicht ahnden, daß sie mehr an das Schicksal selbst zu fordern haben als dieses.

175


DIE beste Art, dem Volke wohl zu tun und seine Last zu erleichtern, ist, daß es nach und nach, ohne Geräusch, Lärmen und ohne Prahlerei geschehe. Da das Volk mehr an sich selbst als an das abstrakte Ding von Staat und dessen Bedürfnisse denkt und zukünftige Umstände gar nicht in Anschlag bringt, so glaubt es auch leicht, es tue mit dem Wenigsten schon zuviel, und die notwendigsten Einschränkungen selbst seien Zwang. Doch da dieses Ereignis zu den außerordentlichen gehört, so weiß ich nicht, wie mir es einfallen konnte, eine überflüssige Bemerkung mehr zu ma chen.

176


[112] [459]MICH dünkt, ein Kenner müßte bei dem Anblick des Bildes einer Madonna oder Heiligen sogleich erraten können, ob es ein katholischer oder protestantischer Künstler gemalt hat. Man glaubt an einer gewissen Kälte zu bemerken, daß es dem letzten am rechten Glauben dazu fehlte. Homer, Virgil und Ovid machen eine gleichere Wirkung auf beide als die Legende, und an den Göttinnen der Mythologie läßt sich ihr Glaubensbekenntnis nicht unterscheiden. Hier scheinen sie beide von einer Religion zu sein, der Religion der Dichter. Ich glaube aus ebendiesem Grunde, daß Klopstock den Stoff seiner Messiade sinnlicher dichterisch – ich möchte sagen brünstiger – behandelt haben würde, wäre er ein recht gläubiger Katholik gewesen. Daher [459] vielleicht das mehr Metaphysisch-Religiöse als das Sinnlich-Religiöse in Bildern, Gedanken und Charakteren.

177


[460] [490]FREILICH, ihr Zweifler, hat die Vorsehung für alles gesorgt; denn da sie den Reichtum, den Luxus – mit allen gefährlichen [490] Folgen des Müßiggangs – in dem sich zur Gesellschaft entwickelnden Chaos des Menschenwesens schwimmen sah, sah sie auch die Karten, die Bücher aller Art, die Theater, die Künste nebst ihrem Gefolge und alle sonstigen Spielereien darin schwimmen. Sie haben sich nach und nach gefunden, und nun sind sie so amalgamiert, daß das eine mit dem andern geht und gehen muß.

178


[491] [305]WELCHER Moralist schadet dem Menschen am meisten im wirklichen Verkehr des Lebens? Der, welcher den Menschen zu hoch, oder der, welcher ihn zu tief nimmt? Wäre das Ding einzurichten, so müßte der Hochherzige und Hochgeistige die Schriften der letzten zuzeiten lesen, um sich etwas zu temperieren, um brauchbarer für den Lebensverkehr zu werden. Dem diesem Entgegengesetzten müßte man die Schriften der ersten in die Hände geben, um ihn etwas aus dem Kot zu lüften. Aber [305] die Praxis lehrt, daß das Reine das noch Reinere sucht und das Schmutzige das noch Schmutzigere. Beide finden ihre Gläubigen; der Moralist, welcher nun beiden nutzen wollte, müßte demnach das Menschending weder zu hoch noch zu tief nehmen; aber das rundet sich nicht so systematisch aus und läßt sich auch nicht aus Büchern und durch Spekulation allein finden.

179


ES ist doch wirklich auffallend, daß es meistens Gelehrte von Handwerk, also Leute sind, die mehr mit Büchern als Menschen zu tun haben, die für uns die Moral schreiben oder als unsre Lehrer in dieser für uns so wichtigen Sache auftreten. Haben Staats- und Geschäftsleute denn gar keine Zeit dazu? Glauben sie gar nicht daran? Oder hat sie etwa die Erfahrung gelehrt, das Ding ließe sich nicht systematisch behandeln und nütze überhaupt nicht viel? Freilich ist ihre praktische Erfahrung ein schlimmer Lehrmeister – und ein recht auftrocknender dazu –, vielleicht auch ebenso unzuverlässig, als es die Bücher jener Herren sind, aus denen sie ihre Wissenschaft lernen, um eins mehr zu schreiben.

180


[306] [331]WIE schwer der Mensch zu befriedigen ist, kann man daraus sehen, wenn man einen beobachtet, dem das Glück plötzlich etwas zugeworfen hat, das er lange sehnlich wünschte, dessen er lange bedurfte und nun kaum mehr zu hoffen wagte. Den ersten Tag wird er trunken vor Freude sein, die Spenderin hochpreisen, ihr gar danken. Beim Erwachen findet er an der Gabe schon dies und jenes auszusetzen, so verliert sie von Tag zu Tag etwas von ihrem Reiz; er findet immer mehr, das Ding hätte doch besser, seinem Verdienste gemäßer ausfallen können. Hört man ihn nach einer gewissen Zeit davon reden, so glaubt man beinahe, ihm sei ein Unglück widerfahren; man muß ihm dann ins Gedächtnis rufen, vielleicht gar beweisen, daß es ein Glück war und ist, worüber er sich nun beklagt. Nur wenn man ihn auf seinen vorigen Zustand verweist, wird man ein Lächeln gewahr. Und das Glück sollte nicht launisch sein? Ich finde es viel vernünftiger und gesetzter als die, deren es sich annimmt.

181


[331] [452]DEN deutschen guten Sinn (bon sens), diesen derben, kräftigen Sohn eines geraden, natürlichen Verstandes, eines unverdorbenen Herzens und gesunden Körpers, trifft man wohl noch bei Lebenden an, nur in den meisten Büchern zur Unterhaltung muß man ihn nicht mehr suchen. Hier scheint er ganz außer Gebrauch gekommen zu sein. Die Autoren dieser Bücher fühlen dunkel, was sie einst von diesem gefährlichen Feinde, den sie gar nicht kennen, zu fürchten haben, darum arbeiten sie aus allen Kräften instinktmäßig auf seine Vernichtung hin. Umsonst, der plumpe, energische Geselle wird sie überleben, ihnen plötzlich erscheinen und sie durch seine bloße Erscheinung selbst vernichten.

182


[452] [491]DAS elendeste Buch findet wenigstens einen Bewunderer, sonst wäre es doch wahrhaftig nicht geschrieben worden; aber mußte es nicht geschrieben werden? Gehörte es nicht zu der Reihe der einmal von Ewigkeit her festbestimmten und -angeordneten Dinge, die zu ihrer Zeit erscheinen müssen? Ein schlechtes Buch mußte in seiner Zeit so gewiß erscheinen als ein leerer Kopf. Und was ist nun ein schlechtes Buch? Eine Pfuscherei in der moralischen Welt. Was tun denn die anders, die keine Bücher schreiben? Wäre es nicht besser für manches Volk, daß dieser oder jener Große der Erde, dieser oder jener Staatsmann nur ein schlechtes Buch geschrieben hätte? Es hätte ihn vielleicht von gewissen schlimmern Beschäftigungen abgehalten. – Ich möchte wohl wissen, was man dem einzigen Bewunderer eines schlechten Buches antworten könnte, wenn er diese Sätze recht logisch erhärtete und bewiese. Was uns aber vor diesen sophistischen Einwürfen sichert, ist der einzige Bewundrer selbst.

183


[491] [500]MAN teilt gewöhnlich die Bibliotheken nach Fächern in verschiedenen Zimmern ab; ich meine, man könnte sie ebenso gut nach Gesunden und Kranken einteilen; es vereinfachte das Geschäft um vieles. Die Kranken müßten dann freilich wieder nach den Übeln, woran sie leiden, abgeteilt werden; man würde also besondere Zimmer bestimmen für Schwächlinge, für nervenlose Empfindsame und kränkliche »schöne Seelen«, für Idioten, für Windsüchtige, für Unheilbare, für Hypochondrische, für Schwermütige, für Überspannte, für Mondsüchtige, für Wahnsinnige, für ganz Unsinnige und endlich einige ganz vermauerte Zimmer für epidemisch Kranke und ganz Verpestete. An die Hauptpforte könnte man die Inschrift eingraben: »Lazarett und Narrenhaus des menschlichen Geistes und Verstandes.« Das Auffallende würde hier sein, daß der Kranken mehr wie der Gesunden sind und man auf eine immer dauernde, nie nachlassende Seuche schließen könnte; glücklicherweise gehören Seuchen in der physischen Welt zu den seltnen Fällen. Was aber auch den besten und gesundesten Kopf verwirren könnte, ist, daß der Besucher dieses Lazaretts in Gefahr wäre, eine ganz sonderbare, erstaunenswürdige und widernatürliche Erscheinung in dem Reiche der Geister zu bemerken: nämlich einen und denselben Mann in dem besten Wohlsein unter den Gesunden und in den beklagenswürdigsten Umständen unter den Kranken zu finden. Wer daran [500] zweifelt, der mustere nur seine Handbibliothek; ich mag den Katalogus nicht machen.

184


[501] [453]DIE Benennung »Schöngeist«, die vor dreißig Jahren so angenehm klang, ist nun zu einem widrigen Schall geworden; man bedient sich jetzt des allgemein bezeichnenden Wörtleins »Schriftsteller«. Die »schönen Geister« scheinen selbst damit zufrieden zu sein, denn sie beehren sich untereinander wörtlich und schriftlich mit diesem Titel. Ich finde dieses sehr klug; denn der Nachklang Geist in ihrem alten Titel könnte doch manchen ihrer Leser an gewisse Forderungen erinnern. Wenn man sich der Ausdrücke bedient »Schriftgießer«, »Schriftschneider«, so denkt man an etwas Mechanisches, Handwerkliches; bei »Schriftsteller« denkt man an das Schreiben.

185


[453] [125]MAN wirft den Fürsten immer ihr Mißtrauen vor; macht man es ihnen etwa nicht darnach? Läßt man es ihnen an Ursache dazu fehlen? Ich möchte wohl hören, was diese Herren am Ende von den Menschen sagten und dächten und ob sie ihnen mehr trauten, wenn von ihren Hausgenossen sie in ihrem kleinen, beschränkten Bezirk so behandelt würden, wie man gewöhnlich die Fürsten behandelt, und sie bei jedem Wechsel immer dasselbe erführen. Nicht ihr Mißtrauen – ihren Leichtsinn mache ich ihnen zum Vorwurf. Ich wundre und ergötze mich jeder Zeit, wenn ich einen Fürsten mit grauen Haaren (vorausgesetzt, er sei es wirklich gewesen und habe es nicht bloß geschienen) gutmütig und freundlich lächeln sehe. Wer nach solch einer Erfahrung noch so lächeln kann, der muß etwas vom Menschen in sich gerettet haben;

und dieses ist nichts Leichtes, wenn man nicht mit stumpfem Geist und mattem Herzen geboren worden ist.

186


[125] [265]DIE Royalisten haben in ihrem Eifer immer das Hauptmittel gegen den Revolutionsgeist der Völker vergessen: Alexander der Erste, Kaiser von Rußland – Friedrich Wilhelm, König von Preußen – Friedrich, Kronprinz von Dänemark – Maximilian Joseph, Kurfürst von Bayern – Friedrich August, Kurfürst von Sachsen – Karl Friedrich, Markgraf von Baden – Karl August, Herzog von Weimar – Ernst, Herzog von Gotha – Karl Wilhelm Ferdinand, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel – Ludwig X., Landgraf von Hessen-Darmstadt – Peter Friedrich Ludwig, [265] Fürstbischof zu Lübeck, zeigen es ihnen lebendig. Die Demokraten machten es nicht besser; für sie mußte erst ein Mann erscheinen. Beide Teile können nun schweigen und die Beispiele reden lassen. Doch gibt es noch Höfe und Winkel, wo sie Hörer finden werden; mögen sie sich da heiser schreien, wenn wir es nur nicht mehr anhören müssen.

187


DIE kantische Philosophie fing ihr Revolutionswesen in dem Geister- oder Verstandesreich mit der Französischen Revolution an. Diese hat, wie es scheint, in einem einzelnen ihr Ende gefunden; aber jene wird, kann und soll ihren einzelnen nimmer finden. Das philosophische Reich ist ja ohnedem nach seinen jetzigen Reichsgrundgesetzen nicht von dieser Welt.

188


DIE Engländer und die Franzosen selbst haben wohl manch dummes und schlechtes Buch in den letzten zwölf Jahren über die Revolution und die Politik überhaupt geschrieben. Das schlechteste und dümmste Zeug über diese Gegenstände ward aber in Deutschland verfertigt. Und natürlich, es war den meisten unsrer Schriftsteller eine ganz fremde Materie – eine Materie, die gar nicht zu dem Nationalgeist paßte; denn wer hatte sich vorher um so etwas bekümmert? Wie konnten sie nun etwas anders liefern, da die meisten erst unter dem Schreiben der Bücher lernten, wovon die Rede war. Warum wurden aber gleichwohl so viele dumme Bücher darüber im Vaterlande geschrieben? Weil der Spekulationsgeist dieser Schriftsteller schnell entdeckte, daß ihnen die gereizte Neugierde hier auf eine reiche und lange dauernde Nahrungsquelle hindeute, aus der zu schöpfen man nur Hände brauchte. Auch waren jetzt die Geister so gestimmt, wenn anders der Geist etwas dabei tat, daß das Tollste und Dümmste das Gesuchteste und dadurch Einträglichste werden mußte.

Wie viele berühmte, sonst kluge und vernünftige Schriftsteller kamen während dieser Zeit mit ihrem Ruhm ins Gedränge? Es [266] war freilich leichter, die Feder nach aufgefaßten oder aus Büchern gezogenen Meinungen zu führen, als die schnell sich folgenden, alle Begriffe verwirrenden Ereignisse nach diesen Meinungen zu leiten. Darum sahen wir auch viele dieser Herren nach jeder Leipziger Messe oder jedem Mondenwechsel (in den Journalen) ihre politische Physiognomie verändern. Ja, viele wechselten ihre Gestalt so oft, daß man in diesem politischen Gewühl die Fabel vom Proteus, wohin man nur blickte, in der Wirklichkeit sah. Sie mögen nun nach einer festen Gestalt suchen, solange sie wollen, uns wird sie immer zweideutig bleiben. Der konsequenteste von allen war, um mit einem recht großen Mann zu enden, der Verfasser des Hamburgischen Politischen Journals, der seinen Noten zu der lange vor der Französischen Revolution erschienenen Übersetzung des Plutarch getreu verblieb und ihren Wert in diesem Journal erhärtete. Er hat die großen Männer der griechischen und römischen Republiken so im Kot herumgeschleift, daß es kein Wunder war, daß er nun mit besudelten Fingern fortschrieb. Seine Noten zu diesem Plutarch haben mich seinen Namen auf ewig vergessen machen, ich hätte ihn sonst wahrlich genannt.

189


[267] [60]JEDER fängt von sich an – dieses ist der Grundstein, auf welchen die Gesellschaft gebaut ist, auf dem sie ruht. Man könnte es das offenbare Geheimnis derselben nennen. Aber man mag auch wirken, hervorbringen, was man will, wenn es uns selbst nutzen soll, so müssen es andre gebrauchen können. Wer diese Bestimmung für den Menschen zu niedrig findet, der lebe, arbeite, sterbe für sich, wenn er kann, werde zum Gott oder – ein Nichts.

190


[60] [460]MANIER in der Poesie oder Kunst zeugt immer von Schwäche und Affektation, wodurch man das Mangelnde zu verdecken oder zu übertünchen sucht. Kraft ist ohne Manier, mag sie auch rauh, wild und schneidend sein; übertrieben heißt sie Verzerrung, nicht Manier. Große Dichter und Künstler können wohl eine eigne Physiognomie in ihrer Darstellungsart und dem Ausdruck ihrer Gedanken und Empfindungen haben, aber keine Manier; sie zeigen sich immer, wie sie sind, verhehlen und verbergen nichts und suchen noch weniger durch Künsteleien das Mangelnde zu ersetzen. Selbst das bloße Talent sucht sie zu vermeiden, und nur diejenigen, die beides heucheln, überziehen ihre Werke mit diesem Firnis.

191


[460] [112]JE stummer das Geschöpf ist, je weniger rührt uns sein Leiden; manchem Fürsten erging es ebenso mit seinem Volke. Das Volk soll und muß stumm sein, und diejenigen, die für selbiges reden sollten oder dürfen, gleichen ganz den Stummgebornen, wenn von ihm die Rede sein sollte.

192


WARUM empfindet der Kleine oder tief Untergeordnete den Händedruck des Großen oder Mächtigen nur in dem Kopfe? Weil er an der Miene, an der Hand, die ihn berührt, fühlt, daß die Handlung ganz von oben und nicht von der Brust herkömmt.

193


[112] WENN ein Fürst Tag und Nacht, jede Minute und Sekunde alle das Jammer- und Klagegeschrei über die physischen und moralischen Übel seiner Untertanen anhören und vernehmen müßte, seine Lage würde die schrecklichste, unerträglichste auf dem Erdboden sein; und er kann noch sagen: »Hab' ich euch doch nicht geschaffen! Bin doch ich nicht die Ursache eurer unvermeidlichen Leiden! Bin doch auch ich ihnen ausgesetzt wie ihr!« Aber es liegt etwas erschrecklich Groß-Erhabenes für den Menschen in dem Gedanken, daß das Wesen aller Wesen die Klagen, den Jammer, das Winseln und Seufzen über die moralischen und physischen Übel aller auf den unzählbaren Welten Lebenden, von ihm Geschaffenen – von dem, der ihn auf Erden vorzustellen glaubt, bis zum Wurm – von Ewigkeit vernommen und angehört hat und in Ewigkeit vernehmen und anhören wird.

194


[113] [331]EIN Mann von gefühlvollem Herzen, reger Einbildungskraft und feinen Organen überhaupt, bezahlt die wenigen Genüsse, die er vor andern etwa voraus hat, am Ende teuer genug. Kömmt er glücklich durch, so ist gewöhnlich ein Herz voller Wunden und eine Phantasie voll trauriger Bilder sein Erwerb. Ein gewöhnlicher Mensch genießt und leidet nur für sich; der Mann, von dem ich rede, für das ganze Menschengeschlecht, selbst die Zukunft wird ihm gegenwärtig. »Aber ihr sprecht von einem Manne ohne Verstand!« Ich spreche von einem Manne, der Verstand genug hat, die wahre Gestalt des Menschenwesens einzusehen und zu fassen, der aber nicht Verstand genug hat, seinen Teil für sich zu nehmen und sich über alles andre hinauszusetzen. Wer ganz ruhig leben will, muß gar keinen Begriff vom Allgemeinen haben, selbst der Bettler kann sich so zum Mittelpunkt machen und sich dafür erkennen.

195


[331] [95]MICH wundert es gar nicht, daß Schwärmer, Enthusiasten, Fanatiker, kurz alle überspannte[n] und verzerrte[n] Köpfe, von welcher Art, Glauben und Meinung sie auch seien, Weltleute und Männer von ruhigem Verstande hassen und schimpflich auszuzeichnen suchen. Ohne diese hätten sie längst die Welt zum Tollhause und sich zu Oberaufsehern desselben gemacht.

196


[95] [491]DAS Publikum kann freilich zu seinen Schriftstellern sagen: »Ihr steht in unserm Solde.« Die meisten könnten aber dem Publikum antworten: »So dienen wir dir auch!«

197


[491] [360]MAN könnte zu dem biblischen Spruche »Die Toren sprechen in ihrem Herzen: ›Es ist kein Gott!‹« hinzusetzen: »Laßt es die Toren in ihrem Herzen immer sagen, handelten nur die ›klugen‹ Leute nicht oft so, als gäbe es keinen.«

198


[360] [332]ZUR Krankheit gehört Geduld, zur Gesundheit Mäßigung, zum Leben Tätigkeit, zum bürgerlichen Verkehr Billigkeit, zum Unglück Kraft, zum Glück Weisheit; aber mit allen diesen Gaben kömmt man doch nicht am Hofe durch. Wer da fragt, was dazu noch erforderlich ist, der bleibe davon weg.

199


[332] [16]JEDERMANN findet die Schmeichelei, welche einem andern gesagt wird, eine fade, lose Speise; die Eigenliebe aber würzt sie in dem Augenblick, als man sie uns selbst auftischt.

200


[16] EINE große Monarchin sagte einst: »Man hat mir über alles Mögliche Schmeicheleien gesagt, nur über mein Singen nicht.« Hier nur fanden wahrscheinlich die Hofleute den Beweis der Sterblichkeit ihrer Monarchin.

201


[17] [332]WEN Glück und Unglück nicht auf die Probe gestellt haben, der stirbt wie ein Reichssoldat, der nie den Feind gesehen hat.

202


[332] [75]WIEVIEL ist wohl auf den Einfluß des moralischen Gesetzes auf ein Geschöpf zu rechnen, das nicht stark genug ist, die diätetischen Vorschriften zu seinem Wohlsein zu beobachten, obgleich die Strafe der Übertretung dieser durch die schlimmen schnell wirkenden Folgen meistens sogleich eintritt? Die Strafe für die Verletzung des erstern ist oft weit entfernt, das Interesse des Übertretens gewöhnlich innigst mit der Übertretung jener Gesetze verbunden, und der Mensch wird durch das Interesse gestimmt. Dieses kann nie der Fall der Übertreter letzter Art sein; denn die Befriedigung einer augenblicklichen Lust oder die Verletzung der Diät für den Kranken, das Überlassen einer Ausschweifung über die Kraft für den Gesunden sind offenbar gegen das Interesse beider. Man wendet mir vergebens ein, auch dieses sei Übertretung des moralischen Gesetzes, das uns die Mäßigkeit zur Tugend macht; ich rede hier von den erlaubten Genüssen des Lebens nicht in einem mönchischen Sinn, auch nicht von dem, was man tun sollte, sondern von dem, was man gewöhnlich tut, wenn man die Mittel dazu hat. Das Auffallendste aber ist die große Übermacht des Tierischen über das Geistige, die hier so weit geht, daß man wirklich mehr Moralisch-Mäßige als Physisch-Mäßige in der Welt findet, weil die erstern nicht immer das letzte sind. Der größte Held, der klügste Geschäftsmann, der berühmteste Philosoph, der kälteste Kaufmann, der Lehrer der Moral, der Religion selbst, ja der Mann von dem [75] festesten, stärksten Charakter, welches mehr als alles Obige sagen will, sind oft die größten Schwächlinge an der Tafel. Sogar bei der Andächtigen vermag der Arzt weniger als der Beichtvater; sie überfüllt sich den Magen, während sie ihre Augen voll religiöser Schwärmerei zum Himmel erhebt, mit Konfitüren und süßen Getränken, und der süße Hang zur Sünde ist so reizend, daß ihn eine solche Seele wenigstens in dem zu befriedigen sucht, was ihr am unschuldigsten scheint. Der Superintendent, der in der Morgenpredigt gegen jede Unmäßigkeit donnerte, verläßt oft die Mittagstafel mit glühendem Gesicht und einer Übersättigung, die dem Wohlbeleibten mit einem Schlagfluß droht; denn es ist zu wetten, daß ihn der Anblick des sanften Federbetts das unzerische Pulver vergessen machen wird. Vergißt nicht sogar mancher Arzt an einer guten Tafel alle die Rezepte, die er bei seinen Morgenbesuchen gegen die Unverdaulichkeit geschrieben hat? Auch der schwachnervigte Staatsmann, der mit allen benachbarten Höfen im diplomatischen und mit dem seinen in einem ränkevollen Kriege lebt, erinnert sich bei dem reizenden Geruch der gewürzten Speisen der Regeln der Klugheit nicht, die er auf jenen Streitfeldern zu seiner Erhaltung anwendet. Und ach! Hörte nicht der Größte der Könige auf, es an der Tafel zu sein, wie uns seine Anekdotensammler bis zum Überdruß vorerzählt haben? Doch vielleicht ist es ein Glück für die Welt, daß sich die durch allzu große Geisteskräfte zu sehr hervorragenden Menschen durch diesen Mißbrauch etwas abschwächen. Vielleicht hemmt er in etwas ihre allzu gefährliche Tätigkeit, ihren zu kühnen Mut, und der tierische Mißbrauch, den sie an sich selbst ausüben, rettet uns von dem Mißbrauch ihrer Geisteskräfte, die sie wahrscheinlich an uns üben würden. Aber könnten nicht die aus dem überfüllten Magen aufsteigenden Dünste durch den Druck auf das Gehirn oder die böse Laune, die der Unverdaulichkeit folgt, einen schädlichen Einfluß auf unser Schicksal haben? Die wohltätige Natur hat dafür gesorgt und diesen Übertretern ihres Gesetzes die bleierne Trägheit zugesellt, die sie nicht eher verläßt, bis sie sich durch Hilfsmittel [76] aus dieser Lage gerettet haben. Für die üble Laune sind die Kammerdiener, die Hausgenossen oder die Glücksjäger da, die sich in solchen widrigen Stunden aufdrängen. Und gibt es wohl in dieser sublunarischen Welt ein Gut ohne seinen gewöhnlichen Begleiter? Nur die Tätigkeit schlechter Autoren bändigt nichts; diese schreiben in jeder Geistes- und Leibeslage, und schlafen auch zu unsrer Ruhe jene gemeldeten gefährlichen Leute, so rettet uns doch von diesen letzten nichts als der allgewaltige Tod.

203


[77] [5]EIN Autor, der im hohen Alter, wenn schon seine Leibes- und Seelenkräfte verloschen und durch die Menge der Geburten erschöpft sind, immer noch fleißig fortschreibt, kömmt mir vor, als [5] eile er, seinen Geist ganz auszuleeren, um dem Schöpfer seine Seele so leer zu überliefern, wie er sie bei der Geburt bekommen hat: als tabula rasa (glatte Tafel), wie diejenigen das Ding nennen, welche nicht an angeborne Ideen glauben. Man könnte sie auch mit Weibern vergleichen, bei denen eine gewisse Zeit eingetreten ist, wo ihnen die Natur sagt: »Es ist genug und nun alles umsonst!«, die aber das Ding aus Gewohnheit und falschem Reiz nicht lassen können. Die Anwendung mache ein andrer!

204


[6] [36]NACH Borellus ist die Kraft des Herzens einhundertundachtzigtausend Pfunden gleich, nach Bernoulli dreihundertfünfundsiebzig, nach Hallern hebt der Herzschlag so viel hundert Pfund Gewicht, als der Mensch ohne Nachteil auf der Brust tragen kann. Gewiß eine ungeheure Kraft für ein so kleines Ding! Wie kömmt es aber, daß ebendieses Ding, das eine so mächtige physische Kraft besitzt, an moralischer so schwach ist, daß es kaum einen Skrupel Kummer vertragen kann, daß es das Lächeln der Gunst oder Ungunst, des Glücks oder Unglücks so leicht emporhebt, so leicht niederschlägt, ja oft gar auflöst? Kurz, daß das Physisch-Stärkste im Menschen das Moralisch-Schwächste ist? Weil die Natur uns die physische Kraft gegeben hat und sie ohne unser Zutun und Anstrengung wirkt und wir bei der moralischen alles tun, sie uns selbst geben müssen.

205


[36] [351]SEIN gegebenes Wort und Versprechen halten, hat einen so entscheidenden Einfluß auf unsern Charakter, gewöhnt so zum stolzen Festhalten desselben und verleiht so viele moralische kräftige Stimmung und Sicherheit, daß man die Kinder und besonders Knaben von der frühsten Jugend an und in den kleinsten Dingen durch die frühste Erweckung des Gefühls davon daran binden und fesseln sollte. »Ein Wort, ein Mann!« ist ein deutscher und der alten Deutschen würdiger Spruch; ihre Söhne sollten ihn nie vergessen und sich dabei ihrer kräftigern Väter ehrenvoll erinnern. Auf sein Wort und Versprechen festhalten und es immer im Kleinen oder Großen, im Wichtigen und Unwichtigen ehren, entwickelt nicht allein den Charakter zum Kräftigen; es macht auch besonnen im Verkehr des Lebens, aufmerksam auf das, was wir zusagen und unternehmen, und folglich klug. Ein Mann, der ebenso leichtsinnig in unwichtigen Dingen sein Wort gibt, als er es bricht, ist selten sicher in wichtigen. Die Gewohnheit macht Wortbrüchige und Lügner, beides lehrt die Erfahrung, und Beispiele stoßen uns täglich auf. Es gewöhnt zugleich zu Opfern, da man aus Ehrgefühl bei der genommenen Wahl verbleiben muß, wenn auch neue Ereignisse noch so sehr reizten, und der Verkehr in der Gesellschaft fordert wechselseitige Opfer und Entsagungen. Aber warum vorzüglich die Knaben? Weil Mädchen nicht immer halten müssen und dürfen, was sie mit den Augen versprechen, weil sie überhaupt nie alle Versprechen erfüllen [351] müssen, die der Mund aus geheimen Gründen des Herzens leise ausspricht, weil wir den Vorbehalt ihres Herzens wissen und gestatten, weil sie durch süße Lockungen und herbe Versagungen reizen und weil die völlige Erfüllung des Versprechens von ihrer Seite sättigt und übersättigt. Ihre Moral erfordert überhaupt eine eigne Behandlung und besondre Regeln, da sie mehr geschaffen sind, den Tätigen das Leben zu versüßen, als selbst tätig zu sein. Diese Moral müßten die Liebe, die Klugheit und die feine Koketterie schreiben. Aber Rousseau hat dieses Thema in seiner Sophie erschöpft, und ich hätte immer schweigen können.

206


[352] [316]»WIR fordern immer Liebe und Liebe von den Weibern; manche aus Stolz und Eitelkeit wohl auch dann noch, wenn sie von dem, was sie so feurig forderten, übersättigt sind. Und doch wundern oder ärgern wir uns, lästern sie sogar, wenn sie das, was wir ihnen im Taumel zum Hauptgeschäft des Lebens gemacht und als einzige Bestimmung aufgedrungen haben, auch von uns heftig fordern und, finden sie es nicht mehr bei uns, es endlich bei andern suchen. Auch die, denen die Natur diese süße Schwärmerei versagt hat, müssen die Liebe als eine Kunst von uns lernen, wenn sie uns gefallen wollen, und übt man nicht, um den Meister zu ehren, eine gelernte Kunst noch lieber als das, was uns die Natur ohne Mühe gegeben hat?

207


[316] [126]WENN ihr die Fürsten beneidet und für glücklich haltet, so denkt euch einen edlen, rechtschaffenen Mann auf dem Throne und setzt hinzu: »Der Thron hat seine eigne Moral und Verfahrungsart und muß sie wegen der schwierigen, verwickelten Verhältnisse haben.« Denkt diesen wenigen und vielsagenden Worten recht nach, erwägt sie in ihrem ganzen Umfang nach eurem moralischen Gefühl, setzt euch an seine Stelle und beneidet ihn dann, haltet ihn dann für glücklich, wenn ihr es noch könnt. Der Fürst eines großen Reichs, der nicht hundertmal mit einem Privatmann seine Lage zu wechseln wünscht (ich rede nicht von trägen Geistern), ist es selten wert zu sein. Nur wer die Last wirklich selbst trägt, kennt ihr Gewicht. Wir können uns den Opfern entziehen, ihn weihen wir uns durch die Huldigung aufs Leben dazu ein, und nur er hat so viele Richterstühle, als er Herzen seiner Untertanen zählt, weise und törichte, gerechte und ungerechte, die ihm alle den Prozeß ohne Schonung, meistens ohne Untersuchung machen. Legt dieses in die Waage gegen das eingebildete Glück und wählt!

208


[126] [69]EIN schlechter Mensch ist der verdrießlichste und ungeduldigste Zuhörer in Gesellschaft, wenn man von seinesgleichen spricht; er fühlt sich auf dem Armensünderstuhl vor dem peinlichen Gericht. Darum sagt De Thou vielleicht: Es ist ein Fehler aller Menschen, daß sie mehr geneigt sind, das Böse zu tun, als die Erzählung schlechter Handlungen anzuhören. – Das Erinnertwerden daran scheint ihnen denn doch beschwerlich zu sein.

209


[69] [453]DIE Alten zerarbeiteten sich an weisen und sophistischen Untersuchungen, ob die Tugend gelehrt werden könnte. Es läßt sich freilich alles durch Fleiß und Anstrengung erlernen, sogar die ausstudiertsten Formen und spitzigsten Wortklaubereien, nur der Geist der Sache, der rechte praktische Sinn dazu, nicht. Der muß schon in uns vorhanden sein und sich nur durch Berührung entwickeln. Man sagt, man wird zum Dichter geboren, und ich setze hinzu: auch zum Regenten; beides wird keiner durch Kunst; alles, was diese tun kann, ist, das allzu Genialische und Gewaltsame zu zügeln. Wer eins von beiden ganz gegen seine Natur und Kraft ist, ist entweder ein Repräsentant des Dings oder ein Versemacher. Darum sind auch beide im hohen Sinn so selten. Nur kann man den Repräsentanten des Dings keinen Vorwurf machen; denn sie müssen es sein, und das Schicksal hat über sie dieses Los geworfen, ohne sie zu fragen.

210


[453] [182]DIE Politik, der Stolz, die Eitelkeit, die Langeweile, das Vorurteil, die Übereinkunft, die Ansprüche, die Überschätzung, der feine Geschmack, ein schwächliches Gefühl, welches von allem Geraden und Wahren empört wird, haben die strenge Etikette, das steife, lästige Zeremoniell, die künstliche Politesse in den Gesellschaften der Mächtigen und Reichen dem Menschengeschlecht [182] zur Wohltat hervorgebracht. Wer darüber spottet und die Mächtigen und Reichen eines Bessern belehren möchte, ist ein schlechter Menschenbeobachter und kennt den Vorteil des Volks nicht. Vermahnen, dazu aufmuntern sollte man; auf Mittel denken, das Erlernen dieser Künste und ihre Ausübung noch schwerer zu machen; Vorübungsschulen, Akademien sollte man dazu einrichten und Preise austeilen. Warum? Weil es die einzige der vielen Befriedigungen der Mächtigen und Reichen ist, der sie nicht auf Kosten der Kleinen G[e]nüge leisten und wodurch sie sich standesmäßig untereinander und gegeneinander selbst quälen, wenn es eine Qual für sie ist. Wer hätte es wohl gewagt, ihren Einfällen, Begierden und Leidenschaften einen so zuverlässigen Kappzaum anzulegen, wenn es nicht die Verfeinerung der Sitten und das daraus entspringende Hochgefühl eines besondern Werts über die Menge ohne das Zutun der Kleinen getan hätte? So rundet sich alles Eckige in der Welt aus; das Lächerliche selbst wird nützlich, und man könnte auch hier sagen: den Menschen fließen Wohltaten zu, deren sie genießen, ohne sie zu ahnden oder ihre Quelle zu kennen. Verliert nicht der, welcher durch die Anstrengungen in diesen Kleinigkeiten zu glänzen sucht, die Kraft zu größern, gefährlichern Dingen? Arbeitet nicht mancher – um ganz liebenswürdig zu sein – so lange an dem Zurückdrücken seiner Begierden und Leidenschaften, bis sie endlich ganz verdampfen? Setzt er nicht den Rest seines Charakters, wenn er ja einen hatte, auf dieses Spiel? Wo soll das Ding, von dem man keine Spur zeigen darf, am Ende nisten? Ich sehe das ganze Wesen als ein Opfer an, das man sich unbewußt dem allgemeinen Besten dadurch bringt, daß man sich alles dessen, was die Ruhe stören könnte, nach und nach beraubt. Und wie leicht ist es nicht, hier vollkommen und ein Mann des Tags zu werden? Je mehr sich die Mächtigen und Reichen mit Kleinigkeiten und unbedeutenden Dingen beschäftigen, je sichrer ist die Ruhe der Menge. Wenn sie so recht in ihren ausschließenden Zirkeln prangen und des dortigen Glücks siegend genießen, so denken sie der rohern und ungebildetern Klasse nur mit Verachtung [183] und Mitleid, und diese mögen sich Glück wünschen, daß jene ein solches Theater für ihre Tätigkeit gefunden haben; denn diese Verachtung ist ihnen nützlicher als die Tätigkeit. Freilich, den aus einer solchen Stimmung entspringenden kleinlichen Leidenschaften entgeht man nicht, und ganz lischt der Mensch nicht aus; aber man kann ihnen ausweichen oder sie versöhnen. Nur derjenige, welcher mit Kraft und Mut aus Macht-und Reichtumsgefühl handelt, geht rasch und kühn vorwärts, er mag zerstören oder aufbauen. Wer die Tiefe eines Bücklings nach Graden berechnet und die Worte auf die Waagschale der Gebühr legt, wer aus Überschätzung seines Selbsts nur aufmerkt, ob es ein andrer wage, ihn unter derselben zu behandeln, läßt gewiß die Welt in Ruhe; und griffe er auch durch Zufall und Geburt in ihr Wirken ein, so wird er das Große vor dem vielen Kleinen nicht sehen und sich gleich anfangs bloß darauf setzen. Gebt also den Toren ihr eingebildetes Recht, so werden sie euch um so weniger in eurem wirklichen stören. Preist ihnen ihren Zeitvertreib an, sie werden eurer weniger denken, euch weniger als Zeitvertreib aufsuchen.

Wahrhaft große Männer sind immer einfach; ihr Betragen ist immer ohne Kunst und ohne Schminke, es fließt aus richtiger Schätzung ihrer selbst und dem Anerkennen des Werts andrer. Sie können durch solche Ziererei ihrem Werte nichts hinzusetzen, aber wohl ihm etwas nehmen. Von diesen ist hier die Rede gar nicht.

211


[184] [126]KEIN Verschwinden einer Täuschung überrascht mehr, als wenn man endlich Gelegenheit hat, die großen Männer im Staate oder an der Spitze der Armee recht in der Nähe zu sehen. In der Jugend erscheinen sie uns alle so groß, ihr Wirken so bedeutend und wichtig, ihr ganzes Wesen und Geschäft scheinen so viele außerordentliche Geisteskräfte, hohen Mut, Talente und Aufopferung zu erfordern, daß wir gar nicht begreifen, wie solche Menschen dazu kommen und sich dazu ausbilden können. Wir sehen die große Maschine sich bewegen und denken uns das Gewicht darnach. Aber wie erstaunen wir, wenn alle die Träume verschwinden und wir den kleinen Hebel sehen, der das große Ding forttreibt; dann wundern wir uns nur noch darüber, daß es mit so wenig angewandter Kraft geht, gehen kann und gehen muß. Das Kapitel der Aufopferungen verschwindet ganz. Wir sehen dann, daß mancher Staatsmann, der die Regierung leitet,[126] weniger Fleiß und nicht mehr Geisteskraft aufwendet, auch wohl nichts Größeres tut als ein Bürger, der Haus und Gut verwaltet und in Ordnung hält. Dann fällt natürlich unser Blick auf die, denen daran liegt, daß die Maschine gehe, und die aus Not und Instinkt den Gang derselben befördern, ohne zu ahnden, daß sie außer ihrem täglichen Beruf ein so großes Ding in Bewegung setzen und immer glauben, viel höhere Geister als sie trieben das Geschäft für sie. Diese vermeinten großen Geister gleichen der Mücke des Lafontaine, die von dem Heuwagen herunterrief: »Seht doch, was ich für einen gewaltigen Staub mache!« Den Zuruf vergessen die Herren auch nicht; wer wüßte auch sonst etwas von ihnen? Aber auch das hat sein Gutes; nur das Zuviel-Tun, das Immer-nur-wichtige-Dinge-tun-Wollen ist das Bedenkliche. Was würde überhaupt aus der Welt und den Kleinen wer den, wenn die, welche sie leiten, alle große Männer wären, nur Großes tun und wirken wollten? Aus dem vielen Kleinen recht viel Nützliches zusammensetzen und dann ein heilsames, harmonisches Große hervorbringen, das ist Größe, die wir wünschen müssen.

Solange der Himmel ruhig über uns einhergeht, ist alles still; nur wenn ein Schwanzstern erscheint, kömmt alles in Bewegung, vom größten Astronomen bis zur Küchenmagd.

Also keine großen Männer? Recht große Männer, nur keine Schwanzsterne und Feuerkugeln am politischen Horizont! Am Himmel nur schaden sie nichts, und wir sind berechtigt, an uns vorzüglich zu denken.

212


[127] [436]DIE meisten Menschen sterben, ohne nur ein Wort davon zu wissen, daß sie durch ein unbegreifliches Wunder gezeugt worden [436] sind, durch ein ebenso großes Wunder gelebt haben und von nichts als den erstaunungsvollsten Wundern der Natur umgeben waren. Sie ahnden gar nicht, daß sie ihre Tage auf einem Schauplatz voller Zauberschlösser zugebracht haben, deren herrliche Erscheinungen und Wunder keine Einbildungskraft erreicht, kein Verstand durchdringt, kein Gedächtnis faßt und keine menschliche Zunge nennt. Wer die Natur durch ihre großen Historiker und die Beobachtung selbst nicht kennt, der geht aus dem Grabe im Mutterleib in das Grab der Erde hinüber, ohne daß sich der Schleier vor seinen Sinnen verdünnt hat, und ich weiß nicht, wie er die Wunder jener Welt ansieht und erkennt, da er in dieser ein Fremdling geblieben ist und sozusagen ohne Maßstab ankömmt.

213


[437] [410]DIE Moral ist die Stütze der Religion, die Naturgeschichte sollte die Stütze der Moral sein. Hier herrschen durchaus feste, unveränderliche Gesetze; Gesetze, die wir befolgen müssen, wenn wir erträglich, mit Gewinn, Genuß und ohne Furcht unsre Tage hinleben wollen. Ordnung, Harmonie, Zweck und Notwendigkeit – sind dieses nicht die Angeln, um die sich das menschliche Leben dreht und drehen sollte? Und die letzte? Jeder Gegenstand in diesem schönen, klaren und erhabenen Lehrbuch deutet auf diese Gesetze hin; nur hier sehen und hören wir nichts von Anmaßung, Pedanterei, dogmatischem, sophistischem Ton. Die Weisheit im schönsten, bescheidensten Gewande spricht uns aus allem an und führt uns immer aus unserm Wahn auf uns selbst und diese Gesetze zurück. Was sind die Systeme der Philosophen gegen ein Insekt, eine Blume oder die Welt, die eine Staude in sich und um sich bildet? Und was sind die Genüsse des Metaphysikers, der den Schall von Worten zu verkörpern sucht, gegen die Genüsse des Naturforschers, der die wahre Schöpfung in ihren schönsten Geheimnissen belauscht?

Man kann der jetzt herrschenden kalten, auftrocknenden, erstarrenden Philosophie nichts Besseres entgegensetzen als die Kenntnis der Natur; und es freut mich, daß ich in den meisten Büchern, die man in Deutschland für die Jugend schreibt, diesen Gegenstand so zweckmäßig behandelt finde.

214


[410] [77]DER Geist, der Verstand, die Seele machen den Menschen zum moralischen Wesen. Dies angenommen, wie es dann angenommen werden muß, sollen und müssen auch sie die Materie beherrschen. Da wir aber tagtäglich zu unserm Kummer sehen und an uns selbst erfahren, daß man oft nicht weiß, wer eigentlich den Herrn in uns spielt, und die Materie öfters als die Seele despotisiert, so ist es unmöglich, daß alle Seelen von gleichem Stoffe, gleicher Form, Gestalt, Stimmung, Laune und Kraft sein können. Ich weiß, daß dieses alles leere, nichtssagende Worte sind, daß es wie Unsinn aussieht; aber dem sei, wie ihm wolle: Verhält es sich so, so müssen sich im allgemeinen Vorratshause der Seelen ebensowohl verkrüppelte, buckligte, schiefe, hektische, rachitische, ungesunde, träge, gallartige, nebligte, feurige, salamandrische Seelen finden, als es Körper dieser Art im Vorratshause der Keime oder Embryonen gibt. Kurz, es muß ebensowohl ein Verhältnis zwischen den Seelen als zwischen den Leibern obwalten; und wohl dem, welchem eine recht gesunde, unverkrüppelte bei der Geburt zuteil geworden ist! Kann er auch nicht auf das Geschenk stolz sein, da er so wenig dabei getan hat als bei seiner physischen Zeugung, so kann er sich doch die reine Erhaltung desselben zurechnen, und dieses ist nichts Kleines. Noch einmal: Es ist eitel Torheit, aus der vielleicht etwas Verstand nur wetterleuchtet; aber wahrlich, man kömmt in das Gedränge, wenn man alle die erbärmlichen Seelen um sich her sieht [77] und über den Gegenstand nachsinnt; hier rettet nichts als ein salto mortale oder ein capriccio. Glichen sich alle Seelen von Haus aus: was für eine Gewalt müßte die Materie auf sie ausüben? Könnte sie nicht aus der schönsten Seele – dem reinsten Ausfluß des erhabensten Wesens, dem heiligsten, uns von den Tieren der Erde trennenden, uns ihm nähernden Geschenk – ein Ungeheuer machen, das es bei Wiedererblickung gar nicht mehr für sein Geschöpf erkennte, das es verwerfen müßte? Wie? Was? Woher? Warum? Aber die Vernunft soll wachen, ihr sind die moralischen Gebote eingegraben, und zwar von dem Höchsten selbst. Kant erwies es noch neulich! Und je räudiger, ungesunder, widerstrebender, schlechter der Stoff des Körpers ist, den sie regieren soll, um so größer ist das Verdienst; ja, sie kann nur dadurch auf Verdienst pochen, wenn die Vernunft auf etwas pochen darf. Das Leichte wird gar nicht gerechnet, da man des Schwersten sich nicht rühmen darf. – Aber die Vernunft steckt ja in der Seele und die Seele in der Vernunft und der Geist in beiden. Es ist immer derselbe Regent, nur unter verschiednen Titeln, den wir uns bald aristokratisch, bald monarchisch, bald demokratisch, bald despotisch denken müssen und der auch wirklich das Schicksal der Regenten hat; denn seine Minister täuschen und betrügen ihn unaufhörlich, wie es Minister zu tun pflegen, zerren ihn hin und her, machen ihn wohl zuzeiten glauben, er herrsche; und er muß es wohl glauben, da sie ihm aus Politik oder Klugheit die oberste Stelle lassen und ihn immer als regierenden Fürsten begrüßen. Ich kann mir nicht helfen, der Eingang in die Welt scheint mir schon einem Hasardspiel oder einer großen Lotterie für uns zu gleichen. Wir setzen, ohne es einmal zu wissen, schon dann unser ganzes Dasein auf ein Los – und nach der Erfahrung gibt es tausend und tausend Nieten gegen einen Treffer. Die Seele fliegt unserm Keim oder dem an das Licht sich gewaltsam drängenden Körper zu, wie sie aus dem Lostopf gezogen wird; jeder muß sie aufnehmen und sich mit ihr durch das Leben behelfen. So schüttelt das Schicksal die Würfel schon bei unsrer Geburt vor dem Schoß der Mutter, [78] stürzt sie aus der Hand, unbekümmert um den, dem der Wurf gilt; ja vielleicht tut es dasselbe schon im dunkeln Schoß der Mutter bei der Zeugung. Alles, was es zu sagen scheint, ist: »Geh' hin und kämpfe gegen den Wurf – oder mache eine Niete zum Treffer!« Spiele auf dieser gellenden, schnarrenden Saite weiter, wer Lust hat! Von dem Sollen und Müssen, dem heiligen Willen habe auch ich gehört. Wer den Knoten zerhauen will, muß über die Himmel springen, nicht mehr rückwärts blicken; denn jeder Blick auf die Erde verwirrt ihn aufs neue.

Große Religionslehrer haben ihn so zerhauen: Nach ihnen werden alle Seelen gleich geschaffen, das Wesen der Wesen zieht sie aus dem Glückstopf, bezeichnet jedes Los – und dann dreifaches Weh dem, auf dessen Los Verdammungszeichen steht!

Wenn aber ein elender, übelgebildeter, ungesunder Körper eine gute, reine, schöne Seele verpfuschen kann: Wie kömmt es, daß so oft in den schönsten Körpern die flachsten, schlechtsten, erbärmlichsten Seelen wohnen? Dieses müßte dann gar nicht sein können, oder jenes hat auch nicht statt.

215


[79] [387]WER sich einen reinen Begriff von dem menschenfreundlichen Charakter Christus' machen und sich ganz überzeugen will, daß er keine Religion als Priester und für Priester zu stiften dachte, der vergleiche seine milden Lehren, die er selbst ausgesprochen, mit den harten, gewaltsamen, zwingenden Dogmen einiger Kirchenväter, des Augustins, Calvins, Luthers usw. Hier findet man, was der Stand wirkt, welchen Einfluß er auf den Charakter hat. Sie scheinen alle von dem Spruch ausgegangen zu sein: »Wer über den Geist des Menschen herrschen will, muß ihn ängstigen und zerknirschen.« Christus, der den Priestergeist, von dem er so ganz entfernt war, kannte, wollte die Juden von den Zwangsgesetzen des Leibes befreien und ihnen Gott, den das Alte Testament immer als den schreckenden malt, als einen Vater nach seinem milden Sinn darstellen. Die spätern vermessenen Lehrer [387] oder Priester seiner Lehre legten den Geist in Fesseln; und damit er sie nie löse, frischten sie die Schreckensfarben wieder auf, und um das Gemälde recht schaudervoll und zweckmäßig zu machen, erfanden sie die Gnadenwahl. Das nenne ich die Seelen der ganzen Christenheit mit einem einzigen Netzwurf fangen. Nun bedurfte doch auch der Beste ihres Trostes. Aber welch ein Herz mußte der Mann haben, der Gott so denken, ihn so lehren konnte? Nur ein Priester konnte so etwas ersinnen; und die Philosophie, von den Sieben Weisen Griechenlands bis auf den großen Kant, kann sich gegen die Theologie rühmen, nie etwas erdacht zu haben (und es fehlt auch hier an Unsinn nicht), das nur an diese Vermessenheit, um es gelinder zu nennen, grenzte. Nur das harte Herz, der Stolz, die Herrschsucht, der Haß, der Verfolgungsgeist, die Anmaßungen solcher Religionsmäkler konnten den milden Geist Christi um ihrer geheimen Zwecke willen so grob menschlich-priesterlich umformen, als wir ihn durch sie sehen, wenn wir ihn nach ihren Auslegungen beurteilen.

Sprechen nun Leute dieser Art die erhabnen Worte aus: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!«, so kann man gewiß sein, daß sie nichts anders mehr vermögen und sich ihrer als bloßer Formel am Ende doch einmal erinnern.

216


[388] [432]DER Selbstdenker Hobbes ist derjenige Philosoph, von welchem der Mensch am meisten über sich selbst erfährt. Er verliert sich, die Erde, worauf er lebt, und ihre Bewohner nie aus den Augen. Er ist vielleicht der einzige Philosoph, der seinem Forschungsgeist nie erlaubte, das Land der Schimären zu betreten. Kam es daher, daß er so wenig las? daß ihm nichts daran lag, die Systeme der andern zu stürzen, da er Grund und Boden für das seine gefunden hatte? Man macht ihm zum Vorwurf, er sei ein Lehrer des Despotismus. Wenn ein Mann von seinem Geiste gezwungen ist, den religiösen Wahnsinn der Independenten, Presbyterianer und wie sie alle heißen eine Zeitlang anzuhören, so flüchtete er sich auch in die Hölle, wenn ihre Tore den Lebenden offen ständen.

217


[432] [504]DIE Buchdruckerkunst macht es den Betrügern und Schwärmern schwerer als die wachsamste Polizei, neue Sekten oder Religionen, wie sie es nennen möchten, zu stiften. Sie hat es Cagliostro, Mesmern, Gaßnern, Lavatern und andern gezeigt. Ohne sie waren sie selbst in unserm aufgeklärten Zeitalter auf dem rechten Wege dazu; die Buchdruckerkunst hat ihn aber zu hell für sie erleuchtet.

218


[504] [127]WARUM betrachtet man in allen Staaten den Minister des Auswärtigen vorzüglich als Minister und räumt ihm den Rang oder das Gewicht über denen des Innern ein? Warum glaubt man, sein Posten erfordere mehr Geist und Klugheit als der für das Innere? Liegt dem Fürsten und dem Volke mehr an dem Äußern als an dem Innern? Es wäre Unsinn, da beide nur durch das Innere da sein und bedeuten können. Denken vielleicht die [127] Fürsten, das Innere ginge ohnedem und müsse gehen? Ich glaube, die große Aufmerksamkeit auf das Äußere, die Achtung für den Minister des Auswärtigen und seine behutsamere Wahl, beweise weiter nichts als die Meinung, die die Fürsten untereinander von sich haben. Der Minister des Auswärtigen gleicht dem Wächter auf dem Turme einer immer vom Feinde bedrohten Stadt. Das schärfste Auge sieht am weitesten, entdeckt den Feind am geschwindesten; daher kömmt nun die allgemeine Schätzung für alles Diplomatische; und sie beweist unsre »Sicherheit«, unsre »Verträglichkeit«, unsre »friedliche« Verfassung.

219


[128] [388]WIE konsequent der Priestergeist in seinem Fache ist, mag folgende Anekdote beweisen: Als Christoph Beaumont, Erzbischof von Paris, der Molinist, auf den Einfall kam, dieselben Waffen gegen die Jansenisten zu gebrauchen, die einst der Kardinal Noailles gegen die Molinisten benutzte: den Gesunden und Sterbenden das Abendmahl nur auf ein Zertifikat zu reichen, ließ er gleich seine Befehle an die ganze Klerisei in Frankreich ergehen. Er wollte den Hof verwirren, und das Ärgernis war so groß, daß das Parlament endlich durch einen Schluß befahl, den Gesunden und Sterbenden das Abendmahl ohne ein solches Zertifikat zu reichen. Villeneuf, Erzbischof von Montpellier, gewandter und [388] feiner als alle seine Mitbrüder, suchte sich gegen den Schluß des Parlaments auf folgende merkwürdige Art zu decken: Ein sterbender, des Jansenismus verdächtiger Priester forderte das Viatikum und was dazu gehört. Der Erzbischof, um es mit beiden Mächten nicht zu verderben, schickte seinen Großvikarius nach den Kirchen der Stadt mit dem Befehl, alle Hostien so geschwind als möglich zu verzehren. Er leerte auch wirklich alle Ziboria aus, und die Mahlzeit bekam ihm so übel, daß er eines plötzlichen Todes starb. Als man seinen Leichnam öffnete, fand man einen festen Klumpen Teig in seinem Magen. Hier würde jeder Zusatz zuviel und zuwenig sein. Und solche Priester sprechen von Religion! Und man wundert sich über den Verfall der Religion zu jener Zeit in Frankreich!

220


[389] [180]MAN kann auf die Stimmung des Geistes und Herzens der Mächtigen und Reichen nach den Gegenständen der Gemälde schließen, die sie an den Wänden des Zimmers um sich haben, worin sie sich vorzüglich aufhalten; vorausgesetzt, daß Neigung und nicht Kenner-Liebhaberei, die nur auf den großen Namen des Malers und die Seltenheit sieht, die Wahl getroffen hat. Ich wenigstens kann in kein solches Zimmer treten, ohne mit meinen Blicken die Gegenstände der Gemälde zu mustern und die Gemälde über den Besitzer und den Besitzer über die Gemälde im stillen zu examinieren. Ist es nicht erfreulich, erweckt es nicht Zutrauen zu dem Besitzer, wenn man eine Reihe schöner, edler, erhabner Taten und Handlungen, von dem Pinsel des Künstlers der Vergessenheit entrissen, um sich her sieht, mit denen der, welcher sie ausgewählt, in Einverständnis steht? Sind es nicht oft die Gemälde allein, die den Mächtigen noch Wahrheiten sagen, ihnen von tugendhaften, edlen Handlungen und Aufopferungen reden, indem sie ihnen die Beispiele davon lebendig vor die Augen stellen? Es sind Lehrer ohne alle Anmaßung für sie.

221


[180] [189]DIE gefährlichsten Feinde der Religion sind nicht die, welche über den Mißbrauch, den die Menschen mit ihr treiben, laut werden, gegen die Vorurteile zu Felde ziehen und für die helle Vernunft arbeiten, ja selbst die nicht, die die Sache selbst und gerade antasten; die Indifferenten (die kalten Gleichgültigen) sind es, die über den Mißbrauch und die Vorurteile lachen und sich ihrer schädlichen Wirkungen erfreuen. Diese verachten die Menschen so sehr, daß sie glauben, sie könnten nicht anders sein und handeln, wären nichts Bessers wert, die Vorurteile allein machten ihr Glück, und man müßte sie lieber tiefer in den Schlamm hineinstoßen, als sie herauszuziehen suchen. Diese Leute sind zu fürchten, und ihre Zwecke, ihre Denkungsart verdienen Aufmerksamkeit.

222


AUCH der Hof und der Staat hat seine Indifferenten oder Gleichgültigen, und sie erfordern besondere Aufmerksamkeit. Sie unterscheiden sich nur dadurch von den übrigen, daß ihre Indifferenz den Augenblick zur wärmsten Parteilichkeit übergeht, wenn das Maß der Torheiten und des daraus fließenden Unglücks voll ist. Diesen Augenblick erwarteten sie in kalter, anscheinender Stille, und das Unglücksmaß füllte sich nicht ohne Genuß für sie.

223


[189] [223]WER das Mögliche frecher Anmaßungen, Überschätzung des Werts, von Dummheit, Narrheit, Stolz und Selbstgefälligkeit erfahren will, der höre die Unzufriedenen in einem Staat an, merke gefällig auf ihre Klagen und scheine an die Verdienste, die sie dem Staate geleistet haben und noch leisten könnten, zu glauben. Ich zweifle aber, daß ihm Ärger und Unwillen das Lachen verstatten.

224


VOR dem Manne mit Kraft und List – oder mit einem Wolfszahn und einem Fuchsschwanze – hütet euch, besonders wenn er ein Hof- oder Staatsmann ist oder sonst einen wichtigen Posten bekleidet; am meisten, wenn er das Haupt einer Partei ist oder [223] darnach strebt. Solche Charaktere finden sich am ersten unter den halbkultivierten Völkern, und es gehört ein Rest von Wildheit, ein durchdringender, seinen Vorteil schnell absehender, aber kein geordneter Verstand dazu. Es ist gewöhnlich Selbstbildung, Entwicklung der innern Kräfte durch die Umstände bis an die Linie, wo die Moralität anfängt. Von dieser Linie halten ihn die heftigen Begierden und der Geist, der im Verwegnen seinen Wert sucht, zurück. Umarmt euch ein solcher Mensch, so beißt er euch wenigstens mit seinem Bärenherzen, wenn ihr noch nicht zu seinen Zwecken paßt, und tritt er in einer Gesellschaft auf, so mustert er Freund und Feind mit dem Blick des Raubtiers, indem er zugleich jedem der Anwesenden mit dem Fuchsschwanz über die Augen streicht.

225


[224] [491]GELLERT und Rabener haben mehr zur Bildung des deutschen Volks beigetragen als unsre größten Genies ebendarum, weil sie keine Genies waren und es auch nicht scheinen wollten. Was soll auch das Volk mit den Werken der Genies machen?

226


[491] [36]DER Mensch kann vielleicht alles vergessen: die Liebe, die Freundschaft, die schuldige Dankbarkeit, alle Pflichten, ja selbst das Andenken des Guten, das er getan hat. Was er aber nicht vergessen, dem er nie ausweichen kann, was nie in ihm schläft, das, wenn es auch schlummern könnte, doch durch das kleinste Ereignis plötzlich erweckt würde, ist sein eignes Urteil über seinen Wert und sein geführtes Leben. Hier zeigt sich der Finger eines Höhern mehr als in der ganzen übrigen Schöpfung, und [36] hier liegt der Grundstein der Moral, den weder Laster noch Sophismen bewegen können und nie bewegen werden; denn während man sie begeht, während man sie niederschreibt oder denkt, spricht man sich auch schon das Urteil drüber.

227


[37] [432]MIT geziemender Bescheidenheit und der gehörigen Achtung für die jetzt lebenden großen philosophischen Genies aller deutschen Universitäten wage ich meinen Landsleuten in das Ohr zu flüstern: Wir haben einst auch einen Philosophen gehabt, der einiges Aufsehen in Europa machte; er hieß Leibniz. Bald wird man hinzusetzen müssen: und einen Kant!

228


ES ist ein Buch zu schreiben über die Undankbarkeit gegen die Genies vergangener Zeit; nicht des Publikums, sondern der [432] lebenden Genies; denn diese – sie seien Dichter, Philosophen, Moralisten, Politiker, Ökonomen und was man will – fangen gewöhnlich damit an, daß sie vor den Augen des Publikums die Altäre der Verstorbenen ihres Faches zerschlagen; kein Wunder, daß dann die Verehrung derselben aufhört. Also ein Buch über die Undankbarkeit der Genies gegen die Genies. Aber – ach! – die Nemesis erwartet auch sie!

229


[433] [324]ES gibt Leute von Welt, Geist und auch wohl von Herz, die mit Ernst spotten und mit Spott ernsthaft sind. Man muß ihre Schule gemacht haben, um sie zu erraten; das heißt: man muß durch Erfahrung an dem Nichtigen, Unsteten, Zweideutigen, Zwecklosen humoristisch geworden und der Geist durch das Aufzeichnen der vielen mißlungenen Kalküln ein so schneller Rechenmeister geworden sein, daß er bei jedem Ereignis, jeder Begebenheit, die andre erfreuen, in Bewundrung, Erstaunen und Hoffnung setzen, schnell das Fazit zieht; aber das Herz muß sich noch an der allzu großen Fertigkeit des Rechenmeisters ärgern. Nur der letzte Umstand macht humoristisch. So wird es auch begreiflich, wie ein solcher Mann über wichtige Begebenheiten und Vorfälle spöttisch und über kleine ernsthaft spricht: Die ersten, denkt er, verlieren ohnedies ihr Gewicht, und den letzten muß man doch aus Mitleid beistehn, damit sie etwas zu sein scheinen.

230

1802. 1803

[324] [79]DER Geist des Menschen (versteht sich dessen, der ihn gebraucht) ist das unzubefriedigendste, unersättlichste Ding der uns bekannten Wesen. Die ganze Erde, die Planeten, Sonnen, Milchstraßen, die schwindelndsten Höhen über dem unendlichen Raum genügen ihm nicht; er schwingt sich über Grenzen, die er bebend nur denkt, sucht in dem Leeren, das ihn selbst vernichtet, noch einen festen Punkt, und stürzt er auch schaudernd nieder, so fällt er doch nicht besiegt herunter, denn er erwacht in dem Bewußtsein, die Kraft, durch die er sich so hoch emporgeschwungen, müsse ihm dazu gegeben und er zu dem kühnen Fluge berechtigt sein. So knüpft der immer rege Unbezwingbare sein Dasein an ein Wesen, das ihm sein sich aus den wirkenden, durch irdische Gegenstände gereizten Sinnen enthüllender Verstand endlich noch als ganz wesenlos aufdrängt. Und ihr nennet ihn »Sohn der Erde?« Ihn, der nicht zufrieden mit den Beobachtungen [79] der moralischen Erscheinungen der gegenwärtigen Bewohner der Erde, die Geschichte der längst Staubgewordnen aufschlägt, ihren Wert und Unwert wägt, sich daran ergötzt, darüber trauert und, wenn er auch nicht in der Lage ist, für die größere Vollkommenheit der künftigen tätig zu werden, wenigstens in schöner Begeistrung ihr höhere Veredlung träumt, wünscht und hofft! Woher kömmt dem »Sohn der Erde« dieses Streben, diese Unruhe, diese Ungenügsamkeit? Alles erstirbt endlich in ihm und kömmt zur Ruhe, nur dieses nicht. Beweist er nicht durch dieses Streben dahin, wohin er nicht gelangen kann, daß er ein Recht dazu hat, daß er mehr ist, als er selbst von sich sagen, fassen und darlegen kann? – Wessen Sohn er auch sei, des Unbegreiflichen ist er es gewiß, da er sich selbst unbegreiflich ist. Was sollten ihm diese Gedanken, diese Ahndungen, diese Forderungen, die er dem Unbegreiflichen durch höhere Kultur, sozusagen nach und nach, gegen seine erste scheinbare Bestimmung entwendet und sich dadurch zu höhern Ansprüchen berechtigt? Was sollen diese Gedanken in der Erde mit ihm, wo sie nicht vermodern können, zu nichts mehr hervorkeimen wie alles andere sich in neue Erscheinungen Auflösende? Dazu, eine Zeitlang zu wirken und dann zu verschwinden, ohne eine Spur für ihn zu hinterlassen, ohne daß er sich des Gedachten weiter erinnere? Ihr sagt natürlich und mit Recht: Sie wirken in das moralische Dasein des Menschen insgesamt, und das nach Lage, Wert und Tätigkeit auf Jahrhunderte und Jahrtausende; aus dem Geistigen soll und kann nur das Geistige keimen. Das eben ist der Beweis für die Verwandtschaft mit der Geisterwelt oder von etwas Höherm in uns, dessen Bewußt sein wir durch alle Anstrengung, alles Forschen ebenso wenig finden als erschaffen konnten. Aber was ist das Wirken des Größten, Edelsten, Erhabensten – des Mannes, der einem Teil der Erde eine andre und bessere Gestalt gibt, gegen das Unendliche, da es im Ganzen nicht merkbarer wird als das Wirken der Bewohner des geträumten oder wirklichen Zentralkörpers des Universums? Was wiegt unser Wirken auf der Waage dieses Unendlichen? Vielleicht [80] eben darum, weil wir das nicht wissen und nicht wissen können, wird es wert, gewogen zu werden.

231


[81] [332]DER gefährlichste Krieg, welchen der Edle auf dieser Erde zu führen hat, ist nicht der mit den äußern Feinden; der mit den Innern ist es, welche der Kampf mit jenen erzeugt. Die moralischen Erscheinungen um ihn her, die Früchte seiner Taten, die so selten seinen Absichten entsprechen, drängen auf sein Herz und seinen Geist, treten tagtäglich als kühnere Feinde auf, um ihm durch das Fruchtlose seines Kämpfens und Wirkens auch das Törichte desselben zu beweisen. Der erste Sieg, den er diesen Feinden als wohl- und klugerfochten zugesteht, die ersten Sophismen, womit er seine Niederlage beschönigt, lösen die Zauberkraft seiner Waffen, womit sie die Erhabenste der Feen beim Eintritt in die Schranken versah. Er tritt unter die Zuschauer, wenn er nichts Schlimmeres tut, und die Züge des Bestallungsbriefs verlöschen in seinem Herzen. Nur der, welcher sich nie besiegt fühlte, der sich selbst überwand, der bis ans Ende ohne Zweifel verharrt, ist der Mann der Parabel, dem der Feind Unkraut unter den Weizen säete und der, zufrieden mit der kleinen Ernte, immerfort gute Saat ausstreut. Ihm nur reift in einer einzigen guten Ähre die Siegespalme.

232


[332] [259]NACH Burke entsteht das Erhabene aus der Furcht, dem Schrecken, dem Staunen. Schlagt die Französische Revolution auf, ihr findet es auf jedem Blatt, aber so, daß es euch zermalmt, wenn ihr es auf die Kapelle bringt, wo man Theodizeen abzieht!

233


[259] [50]JEDES edle Gemüt hat etwas von einem übersinnlichen Mystizismus, der es mit einer höhern Welt in Verbindung setzt und darin erhält. Dieser Mystizismus ist aber vom Aszetismus ebenso verschieden wie dieser von der wahren Religion.

234


[50] [17]DER in der bürgerlichen Gesellschaft auf allen Plätzen, in allen Versammlungen hörbare Satz »Den Schuften, Schurken, Niederträchtigen, Bösen, Ungerechten nur gelingt es in der Welt; rechtschaffene Leute kommen zu nichts, werden noch gekränkt, gemißhandelt, wenigstens immer zurückgesetzt« ist endlich durch die Schuld ebendieser Rechtschaffenen, weil sie, unterjocht von dieser Meinung, in Untätigkeit versanken, während jene ihre rastlose Tätigkeit noch mehr anspornten, so zum Bestallungsbrief für die Schufte und Schurken an die bürgerliche Gesellschaft geworden, als hätte ihn der Stifter dieser Gesellschaft selbst unterschrieben und die Füchse, Wölfe, Tiger zum Herrschen von Haus aus bestellt. Der Weise oder Tor, der diesen Satz zum erstenmal laut aussprach, hat damit den Guten und Rechtschaffenen ein Urteil gesprochen, das sich immer mehr bestätigen mußte, weil sie einfältig genug waren, den Schurken das Feld zu räumen und die Herrschaft des Bösen über das Gute in der moralischen Welt gutmütig anzuerkennen. Hätten sie so viel Mut und Tätigkeit gehabt und gezeigt als Tugend, Resignation und Geduld, wie hätte es der kleinen Anzahl von Schurken so weit gelingen können? Denn zur Ehre der Menschheit sei es gesagt, es gibt mehr rechtliche Leute als schlechte – aus welchem Grunde sie es auch seien –, aber leider sind die Rechtschaffenen von Schafsnatur, und es ist bekannt, daß ein einziger Wolf die größte Herde so in Schrecken setzt, daß alle weglaufen, wenn er eins erwürgt und davonschleppt. Ihr Trost ist: Er wird doch endlich in die Grube fallen, und geschieht es zufällig, so sind sie wohl noch Schafe genug, Mit leiden mit dem Würger zu haben, wenn er unter der zerschmetternden Keule ihrer Wächter heult.

235


[17] DIE Moral selbst stellt eine Menge von Klugheitsregeln auf, die auf Vorsichtsregeln gegen die Schurken und Bösewichter hinauslaufen. Die Erfahrung bekräftigt sie; so machen uns beide feige und rüsten uns zum Erdulden des Bösen und nicht zum Bekämpfen desselben aus. Das heißt doch wohl, den Schurken und Ungerechten nicht allein den Sieg erleichtern, sondern vorbereiten. Krieg gegen die Schurken und das moralische Böse überhaupt müßte die Losung in der Gesellschaft sein; denn nur als Kämpfer dagegen beweisen wir unsre Bestimmung und unsre Ansprüche, die aus ihr fließen, praktisch. Unsre feigen Lehrer, geistliche und weltliche, machen uns »klug«, das heißt, sie kastrieren uns moralisch, damit wir die Stoßkraft früh verlieren; und machen uns nicht Feigheit, mißverstandenes Interesse zu gar folgsamen Schülern?

Warum ich dieses hinschreibe, da ich doch wohl wissen kann, daß es nichts ändert? Weil ich obigen Satz vorzüglich hasse, den Ungrund davon lebendig fühle, weil ich glaube, daß man darum noch nicht rechtschaffen ist, wenn man bloß nichts Schlechtes tut; daß man es nur alsdann ganz ist, wenn man auch den Mut hat, für das Gute und Gerechte tätig zu sein und, tut es not, dafür sie kämpfen.

236


ICH kenne keine andern Menschenfeinde als die tätigen, bedeutende Rollen spielenden Männer, welche die Menschen zu allen ihren Absichten wie dazu geschaffene Werkzeuge brauchen und mißbrauchen, gleichviel, wie es diesen Werkzeugen bekomme. Was man gewöhnlich Menschenfeinde nennt, sind Menschenscheuende und sie Fürchtende, die sich gern, um sich gegen alles Anstoßen zu sichern, wie die Schnecken in ihre Häuser verkröchen und einmauerten, wenn sie nur die Natur wie diese mit dem dazugehörigen Leim versehen hätte und sie ohne Luft leben könnten. Auch zählt man die galligten Humoristen dazu; aber diesen genügt das Poltern, Schelten und die Sarkasmen über die Schlechtigkeit der Gattung. Der wahre Menschenfeind glänzt [18] und prangt in den Gesellschaften und ist der beredteste Lobredner der Menschen, die er so gut zu benutzen weiß. Er pfeift den Vögeln die Melodie vor, die sie am liebsten hören, um sie in das Garn zu locken, und singt sie ihnen dann noch vor, wenn er sie erwürgt. So preist der Prediger den Verstorbenen am Grabe hochselig, den er mit unzeitigen Vorspiegelungen von jenem Leben vor der Zeit hineingejagt hat.

237


[19] [231]WO ein Aas ist, da sammeln sich die Adler. Wenn ich sage, das Volk ist das Aas, das der verschwenderische Fürst zum Fraß hinwirft, so brauche ich doch nicht zu sagen, wer die Adler sind?

238


[231] [492]WENN ich ein Feenmärchen lese (das ich noch sehr gern tue) und die schöne Wohltäterin und Beschützerin erscheint dem Helden des Stücks, so denke ich an die mächtige, erhabne Fee, die uns in der Jugend, in dem Augenblick, da sich unsre Sinne entwickeln, mit ihrem Zauberstabe berührt – die Dichtkunst in meinem Sinne. Ich weiß voraus, daß nun der Held der Fabel mit Glauben, Vertrauen in die Welt tritt und ihm auch das Unmöglich-Scheinende gelingen wird, so lange er den verliehenen Talisman besitzt, an den sein Glauben und sein Vertrauen befestigt sind. Verliert er ihn durch Nachstellung eines Feindes seiner Beschützerin oder endigt sich das Märchen mit dem Verschwinden der wohltätigen Fee, so sitzen Held und Heldin so gemein vor mir, als ich vor mir selber sitze, wenn ich das sanfte Wehen der bilderreichen Fittiche meiner Jugendgefährtin nicht an meinem Geist vernehme. Ich lege das Buch unzufrieden, aber still zur Seite, blicke auf die Welt, streiche mit der Hand über die Stirne und fühle, was die Zauberkraft meines Talismans geschwächt hat.

239


[492] [19]WER lange in der Hauptstadt eines großen Reichs gelebt, da gesehen, gehört, bemerkt, gefühlt und gedacht hat und dem doch Sinn für Recht und Wahrheit geblieben oder wohl gar noch verstärkt worden sind, der nimmt endlich eine so ernsthafte Miene an, daß sie wirklich in Gesellschaft lästig wird. Ohne daß er es wolle, zeigt seine strenge Physiognomie den Kritikus oder Rezensenten der Handelnden durch Blicke und Gebärde, und da er sozusagen seinen Namen unter jede Rezension schreibt, die Autoren gar gegenwärtig sind, so kann man schließen, wie beliebt er dadurch wird. Wenn man ebendaselbst Leute von Jahren antrifft, die auch an demselben Orte gelebt haben und noch immer lächeln, immer zufrieden sind, immer schmeicheln und alles herrlich finden, so kann man leicht auf Leerheit des Kopfes schließen, wenn man gutmütig genug ist, nicht tiefer zu forschen. Wenigstens muß man vieles, und zwar auf einen bedeutenden Grad, mitgemacht haben, um so versöhnt mit allem auszusehen. Solche Leute machen nun auf einen Mann obiger Art ebendie Wirkung, die ein Possenreißer auf den macht, der eben ein sehr wichtiges Staatsgeschäft betreibt.

240


DER Mensch ist ein ernsthaftes Tier; dies beweisen wir bei unsrer Arbeit und unsrer Ruhe. Wer also immer lächeln und heiter sein kann, der muß ein Affenspiel mit dem Leben getrieben haben.

241


[19] OB der so ernsthafte oder der lächelnde Zufriedene glücklicher ist? Dieses ist eine Frage, die sich auf etwas Höheres bezieht, als mancher vielleicht glaubt. Der immer Frohe tut selten mehr, als bei guter Laune zu sein und andre darein zu versetzen. Er findet in dem sogar Stoff zum Lachen, worin etwas ganz anders liegt. Der Ernsthafte im obigen Sinn glaubt, er sei nur für wichtige Dinge da, und beweist es auch, wenn man es ihm erlaubt. Wenn sich also der Lächler die Gesellschaft zueignet, so eignet sich der Ernsthafte dieser Art die Moralität zu. Und dann ist die Frage, ob edle, tiefe Gedanken, die die Seele erheben, rühren und erschüttern, nicht in einem Augenblick glücklicher machen als dieses Frohsein, womit man sich und andre nur kitzelt.

242


[20] [377]SEHT nur, wie gewaltig ernst und streng Maler und Bildhauer das vorstellen, was wir Gott-Vater nennen. Ihr meint vielleicht, sie wollten dadurch seine Majestät darstellen. Ach nein! Sie malen und meißeln als Menschen ein Wesen, das alle unsre Torheiten weiß, sieht, bemerkt und aufzeichnet. Wahrlich, Stoff genug zum Ernst! Seht, wie mild und freundlich sie den Sohn vorstellen; auch das tun sie als Menschen! Sie wollen uns ja ein [377] Wesen darstellen, das bei dem strengen Ernste alle diese Torheiten und Laster entschuldigen und aussöhnen soll.

243


[378] [360]ES ist kein Wunder, daß edle Geister zuweilen an die Grenzen, die uns der Meister gezogen hat, zu ungestüm, übelgelaunt und kühn anstoßen. Sie sehen sich nicht allein in dem Gefängnis, sondern nur gar zu oft in der Unmöglichkeit, ihre edle Kraft in demselben für ihre andern Mitgefangenen tätig auszuüben. Das stille Aufsteigen im Innern ist ihnen allein verstattet; wenn man nun immer wieder in das Gefängnis ohne weitern Erwerb zurücksinkt und diese vergeblichen Versuche zu oft wiederholt, so ist es schwer, immer gut gelaunt zu sein. Nur diejenigen, welche von diesen Grenzen und von dem Auffliegen gegen dieselben nichts wissen, sich in gar keinem Gefängnisse fühlen, können sich über die Laune solcher Geister wundern.

244


[360] [240]NECKER lief dem großen Manne so gewaltig und rauschend durch dick und dünn nach, geführt von wahrem Lichte und Irrwischen, die er in der Eile nicht unterschied, daß er ihn nie erreichen konnte. Selbst durch Schriftstellerei will es ihm nicht gelingen, ob er sich gleich bis zum Predigtschreiben erhoben hat. Wenigstens hat er dadurch für verunglückte Staatsleute seiner Art gesorgt, wenn etwa einer oder der andere den mystischen Tick hat, womit er alle seine Mißgriffe und Mißgeschicke übertüncht. Auf die hohe Meinung von Selbstverdiensten um den Staat und die Menschheit kann er ohnedem, auch bei einem noch Unglücklichern, so gut als auf die seine von sich rechnen. Als Politiker war der Mann überhaupt ein viel zu lärmender Moralist; und ein so hoher, beredter Moralist er auch war, so hatte er doch den Fehler, daß er mehr nach außen als auf sein Inneres horchte. Und darum klebte ihm etwas vom Scharlatan in beiden an.

245


[240] [282]WARUM sind die meisten Werke über die Moral so unbefriedigend? Weil ihre Verfertiger den physischen Menschen überspringen, mit dem moralischen anfangen, mit welchem sie doch endigen sollten, ohne jenen aus den Augen zu verlieren. Sie sollten bedenken, daß sie sich selbst nur durch Spannung und Täuschung von unsrer Ernährerin und Lehrerin, der Natur, trennen können.

246


[282] [460]DIE Deklamation im Stil ist die Scharlatanerie der Redekunst. Der Deklamator fordert an sein Gehirn Bilder und starke Gedanken. Da es nun zu wässerigt dazu war, sie aufzufassen, so sprudelt es ihm mit Luft gefüllte Blasen in die Feder. Er fordert an seine Einbildungskraft Gefühl, um diese Blasen zu färben, zu erwärmen, und die Arme, die in der Morgenröte selbst nichts dergleichen gefunden hat, bedeckt die Blasen so lange, bis es ihr gelingt, sie mit einem ekelhaften Fischleimfirnis zu überziehen. So flattern sie so lange glitternd herum, bis sie auf den kernhaften Gesellen, guten Menschensinn, stoßen und zerplatzen.

247


[460] [180]DIE Politik, die man bei dem Eintritt in die Welt zum Glückmachen anwendet, führt ein so feines Gift mit sich, daß der, welcher heute aus solchen Gründen dem Kammerdiener eines Großen süßlächelnd sich empfehlend, demütig-freundlich bittend die Hände drückt oder beim Vorbeigehen eines seiner Begünstigten so erschrocken auf die Seite springt, als sei seine [180] Gegenwart ein Verbrechen, von diesem Gifte in Jahr und Tag so durchdrungen sein wird, daß seine Hab- und Ehrsucht die Hände nach allem ausstrecken werden, was sie erreichen und an sich anziehen können. Solche Leute greifen furcht- und schonungslos durch Recht und Gesetz und denken – wenn sie anders dabei denken –: Wir haben es durch Erniedrigung bezahlt, bezahlen es noch täglich damit.

248


AUS der Art, dem Tone, wie sich einer durch den beliebten Kammerdiener bei einem bedeutenden Mann im Staate anmelden läßt, kann man auf den moralischen Charakter und den politischen Wert des sich Anmeldenden schließen. Ist der sich Anmeldende selbst ein bedeutender Mann, so hat man hier Gelegenheit genug zu erfahren, wie er am Hofe steht. Zeigt er es auch nicht, so tut es gewiß der Kammerdiener des andern. Man kann sich da, wenn man eine Zeitlang beobachtet, ohne weitere Mühe eine wahrhafte moralisch-politische Tabelle des Werts der kurrenten Menschen im Staate zusammensetzen – und nicht allein derer, die angestellt sind, sondern auch derer, die angestellt zu werden suchen. Das Gesicht, die Gebärden, die Langsamkeit, der Mißmut, der Hohn, die Laune, die Schnelligkeit, die Heiterkeit, das besonnene Anhören, das stumme Verbeugen des Kammerdieners an dem Teppich der verborgnen Gottheit setzen zu der Ware so genau bestimmt den Wert, daß man sie darnach mit aller Sicherheit verschreiben kann, wenn man ihrer bedarf.

249


[181] [37]WER nicht in der Ehe als ein ordentlicher, gewissenhafter Mann gelebt hat, der kennt die Verpflichtungen und Sorgen des menschlichen Lebens nur vom Hörensagen; er geht mit halber Prüfung aus der Welt, ohne sich rühmen zu können, seine moralische Kraft ganz gebraucht und gezeigt zu haben, denn er ist wahrlich der schwersten Probe entschlichen. Große Männer und Genies, sagt man, sollten gar nicht heiraten und sich vor den lästigen Ketten hüten, die ihren Flug hemmen und fesseln könnten. Vielleicht bedurften ebendiese einer solchen Temperatur: Große Männer würden uns vielleicht dann menschlicher behandeln, und die Genies würde es wahrscheinlich vor dem Toll-Exzentrischen bewahren; denn auch das wildeste, kühnste Genie muß in diesem Stande zu Vernunft und zur Ordnung kommen. Die meisten dieser Ehelosen, besonders wenn sie große Männer, Genies, sind (ich verstehe auch darunter Genies in der Art, zu leben und zu denken), konstituieren sich durch den Egoismus zu wahrhaften Seeräubern in der bürgerlichen Gesellschaft, die obendrein noch derer spotten, die sie durch ihren Kaperbrief berauben.

250


NUR der, welcher ein wahrhaft mühsames Leben geführt hat – er sei Jude, Türke, Christ oder was ihr wollt –, sollte in jener Welt selig werden können; dann wären doch die ausgeschlossen, die ehelos gelebt haben und gestorben sind.

251


MORALISCH, politisch und ökonomisch betrachtet, sind denn doch die biedern, guten, tätigen, rechtschaffenen, sogar auch die [37] sogenannten einfältigen Leute – große Geister mögen darüber denken, wie sie wollen – die Stützen und Erhalter der Gesellschaft, sowie sie auch ihre Zierde sind. Kaufmännisch betrachtet, sind sie freilich die Narren derselben. Das, was sie sind, würde sich nur dann erst recht zeigen, wenn sie ganz aufhörten zu sein. Darauf rechnen nun auch die großen Männer gewisser Art und die rechten Kaufleute. Wie könnten sie es sonst bleiben?

252


[38] [453]EIN rechtschaffener, tiefdenkender, warmfühlender, um die Menschheit bekümmerter Mann von Energie und eignem Charakter, der sich zum Schriftsteller aufwirft, hat so viel Individuelles, daß er immer nur auf einzelne, ihm verwandte Geister wirken kann und sich gern auf diese beschränken sollte. Sobald [453] ein solcher Mann das Ganze umfaßt und darauf wirken will, so greift er es gewöhnlich mit solcher Kraft und so hohen Gesinnungen an, daß er es erschüttern würde, wenn man auf ihn hörte. Ich beziehe mich hier nur auf einen dieser Art, auf Jean-Jacques Rousseau, der, wie der geistreiche von Thümmel von ihm sagt, nur einmal wie ein Elefant über den Erdboden hingeschritten ist. Er stellt in seinem »Contrat social« eine allgemeine, bisher verschleierte Wahrheit auf, die souveraineté des Volks, ohne dabei zu denken, aus welchen Geschöpfen dieser Souverän zusammengesetzt ist. Die Erfahrung hat uns den Wert dieser Wahrheit auf das Allgemeine und recht im großen kennen gelehrt. Nützlich aber wird diese Wahrheit nur, wenn die Fürsten im stillen anerkennen, daß dieser vielköpfigte Souverän ihnen die Ausübung seiner Macht wirklich nur anvertraut hat, daß sie selbst nur durch ihn bestehen, nur für ihn da sind. Dieses jetzt so ziemlich allgemeine Anerkennen sprang denn doch aus Rousseaus Satz, und wenn die Fürsten es in Zukunft nicht beim bloßen Anerkennen desselben bewenden lassen, so werden ihm vielleicht auch die Nachkommen derer dafür danken, die jetzt dadurch gelitten haben. Daß sie ihm selbst danken sollten, wäre zu viel gefordert.

253


WENN auch der Schriftsteller obiger Art generalisiert, so generalisiert er immer nur nach seinem Individuum. Das Übel dabei ist nur, daß solche große Ansichten wegen der Neuheit und des Glänzenden auch von denen aufgenommen werden, die eigentlich gar kein Individuum im moralischen Sinne ausmachen und es natürlich wegen Mangel dieses Sinnes mißbrauchen und verzerren. Da aber nur durch Schriftsteller dieser Art die größten und wichtigsten Wahrheiten ans Licht kommen, weil sie allein den Mut haben, sie zu sagen und der sie begleitenden Gefahr sich auszusetzen, so läuft auch hier, wie überall, das Gute an der Seite des Bösen hin.

254


[454] [81]DASS die Menschen einen ruhm- und herrschsüchtigen, zur Zerstörung geneigten, nach Übermacht und Gewalt über ihresgleichen dürstenden Geist mit auf die Welt bringen, das beweisen der Enthusiasmus, mit welchem wir in der Jugend die Taten solcher Männer in der Geschichte lesen, und die Langeweile, womit wir gähnend das durchblättern, was stille Weise und Gesetzgeber zum Besten der Menschen getan haben. Wir tun noch viel, wenn wir es nicht ganz aus Ungeduld überschlagen, um geschwind zu denen zu kommen, die das in einem Augenblick vernichten, woran jene Jahrhunderte gearbeitet haben. Nur wenn wir die Übel empfunden haben, womit uns die kühnen Zerstörer und Herrschsüchtigen so reichlich beschenken, wenden wir uns zu den stillen Weisen und suchen Trost für uns und Hoffnung für die Nachkommen. Ohne diesen Geist wären wir nun zwar ein sehr gutmütiges, sanftes, aber auch ein sehr langweiliges Geschlecht und wahrscheinlich gar moralisch totgeboren. Also Kräfte her; aber nur auch Licht dazu! Ein Höherer wollte ja alles so, wie es ist.

255


GEWISSE Philosophen mögen sagen, was sie wollen; die Meinungen, der Glaube, wodurch die Gesellschaft noch so leidlich zusammengehalten wird, sind noch mehr als Worte und bloße politische Konvenienz; sie müssen auf etwas ruhen und eine Spur haben: Durch Worte leeren Schalls lassen sich die Menschen gewiß so wenig fesseln, als sie dieselben ohne allen Grund erfinden konnten. Hätte es die Not allein getan, so wären sie auch bloß bei dem Notwendigen und dem daraus fließenden Genuß geblieben. Doch diese Bemerkung scheint vielleicht manchem gar zu gemein; wenn aber gar zu viel Großes und Erhabenes gesagt und doch so viel Mittelmäßiges – wie immer – getan wird, so ist es Zeit, an das ganz Gemeine zu erinnern.

256


[81] [460]»UNSRE Literatur wird nicht von Weltleuten und andern Völkern geachtet, selbst von den fein kultivierten deutschen höhern Ständen nicht, wie sie doch in vielen Rücksichten zu verdienen scheint« – so klagt man; und die Klage ist gegründet. Aber da [460] wir Deutsche ein billiges Volk sind, so laßt es uns auch hier sein. Unsre Dichter, nach denen solche Leute am ersten urteilen, sind allzusehr Dichter, um ihnen gefallen zu können. Sie schweben zu hoch, dringen zu tief, sind zu individuell, zu metaphysisch, zu spruchreich, malen zu große Charaktere für das jetzige, vielleicht für das ganze Menschengeschlecht, denken überhaupt zu groß und erhaben und wollen also auch nur große und erhabene Wahrheiten dem Leser anschaulich machen. Soviel von unsern wahren, großen Dichtern. Unsre Poeten sind zu seicht, zu leer, es fehlt ihnen an leichtem Witz, an feiner Persiflage, an Ton, durch Welterfahrung geschärft und gestimmt. Sie wissen die Ereignisse und Vorfälle des Lebens nicht zu nützen, sie fangen mit Liebes- und Trinkliedern an, und wenn sie sich hierin erschöpft haben, so spielen sie mit metaphysischen, philosophischen Seifenblasen. Die dramatischen malen die alltägliche Natur gar zu alltäglich. – In der Philosophie haben wir keinen Locke, keinen Montaigne und keinen Condillac. Das Siegel der Verachtung, das wir ihnen aufdrücken, heißt – Empirismus. Unsre Philosophen schreiben mehr für den Katheder und für die Profession, gehen in ihrem System a priori ganz geharnischt einher, und ihre Sprache ist entweder so barbarisch-scholastisch oder so zugespitzt, daß der klügste Weltmann wie ein Dummkopf davor sitzt, und da er dieses doch nicht von sich denken kann noch mag, so müssen wir's ihm verzeihen, wenn er vorzugsweise den schwerfälligen Philosophen so betitelt. – Unsre Werke über die Moral sind entweder Kompendien oder in ihrem Geiste geschrieben; darum liest man sie wie eine Dogmatik, wenn man die Geduld dazu hat, und erbaut sich ebenso wie bei der Dogmatik. Die Franzosen haben moralische Schriftsteller in andrer Form und Gestalt, und die Engländer besitzen, von Addison bis auf Johnson, Werke mit so vielem Geschmack, Anmut und Geist geschrieben, daß sie sogar dem feinsten Weltmann Grundsätze lesbar machen, die er kaum mehr ahndet. – Und unsre Geschichtschreiber? Die sind gar zu gewissenhaft, gar zu belehrend, gar zu rechtschaffen, gar zu orthodox im Glauben, Denken und Zweck. Wären Gibbon und [461] Voltaire Deutsche gewesen, sie hätten gewiß als Historiker der Welt kein Ärgernis gegeben. – Und die Denkschriften (mémoires), worin die Franzosen so sehr glänzen? Diese fehlen uns ganz, nicht darum, weil wir gar nichts Merkwürdiges tun, keine merkwürdigen Männer haben, sondern weil unsre merkwürdigen Männer entweder nicht schreiben können oder nicht wollen und weil unsre dazu fähigen Köpfe als Gelehrte weder mit ihnen noch den Höfen, der Welt überhaupt in Verbindung stehen. Ihre Verhältnisse – politisch und moralisch – beschränken sich auf die Universität, das Gymnasium, das Tribunal, das Konsistorium, den Verleger und das Rezensionsforum. Vielleicht sitzt auch ein allzu ängstlicher Kleinigkeitsgeist, von unsrer Verfassung erzeugt und von den daraus entspringenden Verhältnissen auferzogen, zu fest in uns. Von den hohen, ernsten Wissenschaften spreche ich nicht, weil sich der Weltmann um diese wenig kümmert, weil es bei uns Sitte ist, daß wir durch Fleiß, tiefes Nachsinnen die Materialien zusammentragen, berichtigen und der Franzose sie uns als ihm gelieferte Beute, in ein schönes, lesbares Ganze verarbeitet, wiedergibt.

Ob ich damit den Deutschen einen Vorwurf mache?

Wir sind ein gutmütiges, ernsthaftes, betrachtendes, für die Menschheit besorgtes Volk; wir denken in Vergleich mit andern Völkern noch zu gut, zu groß von dem Menschen, weil wir uns dazu, wenigstens vor allen andern, berechtigt fühlen. Wir sind also noch nicht so weit gekommen, alles so leicht zu nehmen, daß wir darüber lachen und spotten könnten. Dazu betrachten wir die Weltbegebenheiten allzusehr im moralischen Lichte, und so lange uns dieser Fehler bleibt, werden wir alles so systematisch, gewissenhaft und redlich behandeln, daß uns Weltleute ohne gewisse Vorurteile immer des schwerfälligen Pedantismus beschuldigen werden. Und so gewiß den feinen Weltmann eine gewisse Falschheit begleitet, so begleitet die strenge Redlichkeit ein gewisser Pedantismus; er steht ihr vielleicht gar bei, nachdem sie ihn erzeugt hat.

Wählet nun!

257


[462] [145]WIE die Philosophen bei den Fürsten gefahren, beweist die Geschichte jener Waghälse von der Hofhaltung Alexanders wie auch derer, die in neuern Zeiten auf dieses Eis getreten sind. Die Sache ist übrigens leicht zu begreifen, und wer sich darüber wundert, der wundert sich wohl auch über noch gemeinere Dinge. Alles, was der Philosoph denkt, träumet oder schwärmt, hält er für dem Menschengeschlechte heilsame, absolut nötige, ganz [145] erwiesene Wahrheit. Alles, was der Fürst tut, hält er für recht, und wenn er sich in Beweise einläßt, so stellt er dem Philosophen die eiserne Notwendigkeit vor die Stirne und überläßt es ihm, seine und die Apologie der Menschen, die er beherrscht, zu machen. Der Philosoph umfaßt als edeldenkender Kosmopolit (denn so fühlt er sich) das Ganze; der Fürst wird von dem einzelnen gezerrt, gezogen und bestimmt: Sein Hof und – wenn es gut geht – sein Staat ist ihm das Zentrum des Weltgebäudes. Wie die Zensur überhaupt schmeckt, das fühlen die Philosophen bei der Kritik ihrer Systeme, und sie können mir darum den Beweis erlassen. Um die Ursache der wechselseitigen Ärgernis weiter aufzuhellen, könnte man noch fragen, auf welcher Seite der meiste Dünkel und Stolz herrsche, was jeder als Grund dazu aufzuweisen hat, ob Träume, Ideale, Schimären – wenn auch aus den edelsten Absichten entsprungen –, ja die Wahrheit selbst gegen das Gefühl sichtbarer, notwendiger Macht, die ihre Wirkung jeden Augenblick zeigt, stichhalten kann. Was der.Philosoph aus der reinen Vernunft beweist, stoßen Staatsleute, Hofleute, Heerführer durch die praktische um, und das um so leichter, da die Geschichte und die Erfahrung am Menschengeschlecht ihnen eine Reihe goldner Regeln darreicht, die sie nie vergessen, wenn auch ihr Gedächtnis für alles andre schwach geworden ist. Doch glaube ich gern, daß viele dieser Herren es lieber sehen würden, wenn ein geistreicher, tätiger Fürst sich mehr mit der Philosophie abgäbe als mit dem Staate; er müßte aber die recht tief spekulative wählen, zum Beispiel die transzend[ent]al-idealistisch-kantisch-fichtische; die würde ihm so viel zu tun geben, daß, wenn es ihm auch zur Erholung zuzeiten einfallen sollte, auf seinen Staat zu blicken, er ihn durch ein so scharf geschliffenes Glas sehen würde, daß er nicht mehr und weniger davon wissen und begreifen würde, als wenn er durch ein Herschelsches Teleskop die Nebelsterne musterte.

258


[146] DIE Feinde Voltaires oder die hochfliegenden Philosophen müssen ihm doch zugestehn, daß er in einem Punkte weiser war als ihr Plato selbst. Dieser zog dreimal an den Hof des Dionysius, ob er gleich das erstemal eine für einen Philosophen seiner Art ganz artige Erfahrung an einem Fürsten gemacht hatte. Voltaire versuchte es einmal und kam nicht wieder; das war doch immer etwas! Wahr ist es, Plato ließ sich nicht zuschulden kommen, was sich Voltaire zuschulden kommen ließ; aber was konnte dieser dafür, daß sich heutzutage der Philosoph über dem Autor vergißt und daß einem König, der Autor ist, hier auch etwas Menschliches widerfährt? Wenn Dionysius den Plato aus Neugier kommen ließ, um einen Philosophen seiner Art zu hören, so ließ doch wohl der große Friedrich den hochberühmten Autor als Autor zu sich kommen, und der König mischte sich vielleicht zur Unzeit in das moderne Geistesspiel. Aber die deutschen Philosophen sagen, weder Voltaire noch Friedrich wären Philosophen gewesen; und wahr ist es: sie haben weder Kompendien geschrieben noch Kollegien gelesen.

259


WENN ein Fürst wirklich an der spekulativen Philosophie Geschmack fände und sich unter den vielen Systemen für den Idealismus Berkeleys erklärte, der das Reale wegdemonstriert und die Menschen wie alle übrigen Dinge für bloße Erscheinungen hält, so könnte der sonderbare Fall eintreten, daß er sich allein als etwas Reales und alle seine Untertanen als bloße Erscheinungen dächte. In der Praktik ward dieses System von vielen Fürsten seit Plato und wahrscheinlich auch vor Plato so ziemlich ausgeübt, denn gar viele behandelten wirklich ihre Untertanen als bloße Erscheinungen und schienen nur sich für etwas Wirkliches zu halten.

260


WIE? Sollen also die Fürsten von der Philosophie wie von der Dichtkunst ausgeschlossen sein? Gibt es gar keine brauchbare [147] Philosophie für sie? Ach ja! Es gibt eine; aber ich schäme mich, sie vor den erhabnen deutschen Philosophen unsrer Zeit zu nennen, sie werden mich einen verdorbenen, sinnlichen Menschen, einen Barbaren, was weiß ich alles, nennen. Und gleichwohl muß ich es sagen, muß etwas ganz Altes, ganz Gemeines, von ihnen Verachtetes, Beschimpftes sagen: die Glückseligkeitslehre für uns und dadurch für sie, auf unsern Nutzen und dadurch auf den ihrigen gebaut.

Es ist heraus, und ich stehe vor den erhabnen Meistern in meiner ganzen Erniedrigung, aber nicht beschämt da.

261


[148] [278]ES ist ganz natürlich, daß der alles kaufende und verkaufende Engländer auf dem festen Lande den ihm nötigen und nur ihm heilsamen Krieg mit ebendem Golde kauft, das er auf demselben gewonnen hat. Was mich wundert, ist, daß er als ganz vollendeter Kaufmann nicht die Pest in Ägypten einhandelte, um sie über das ihm verhaßte Frankreich auszuschütten. Ich würde wirklich seine Großmut bewundern, wenn mich nicht ein kleiner Zweifel an dem Bewegungsgrund der Unterlassung dieser ihm so vorteilhaften Spekulation hinderte. Ich glaube nämlich beinahe, die Selbstliebe überwand oder verblendete hier den Kaufmannsgeist. Der Engländer fürchtete vielleicht, die Pest möchte sich als Konterbande über den Kanal einschleichen. Gleichwohl machte er schon, um ebendieses Frankreich zu demütigen, durch den Hunger, ohne alle Rücksicht auf sich, einen sehr kräftigen Versuch dazu. Dieses, die Taten in Indien, vor Kopenhagen, die Begebenheiten in der Vendée und *** und *** lassen uns von diesem Kaufmann noch manches Neue, bisher Unerhörte hoffen.

262


[278] [271]ICH glaube, das gute, durch Sitten so sehr berühmte Schweizervolk hat bei seinen noch immer dauernden politischen Spaltungen und Gärungen die menschenfreundliche, kosmopolitische Absicht, allen Völkern Europas einen rechten Ekel vor politischen Revolutionen beizubringen. Das Opfer ist großmütig, und an den Grimassen, die uns ihre politischen Gärungen abzwingen, könnten sie nun glauben, genug für uns getan zu haben.

263


[271] [208]WENN man in der Lage ist, mit wichtigen Männern am Hofe und im Staate umzugehen oder gar mit ihnen in nähern Verhältnissen zu stehen, so hat man sich vorzüglich vor gewissen Charaktern in acht zu nehmen, deren einige ich hier zu malen versuchen will.

Es gibt Männer, mit denen es die Natur wirklich recht gut gemeint hat, die aber diese Gaben zu ganz andern Zwecken in dem Verkehr der Welt gebrauchen lernten, als die Natur ihnen damit vorzeichnete oder andeutete. Zu diesen rechne ich die graden, biedern, offnen, kräftigen, jovialischen, mutigen, die durch ein trauliches Betragen an sich ziehen, durch eine gewisse Libertinage im Reden und Tun den unbesorgt machen, der sich an sie schließt. Solche Männer, wenn sie früh auf das rechte Theater kommen, fühlen bald, daß sie eigentlich zum Glückmachen geboren sind; auch sind sie nicht lange die Betrognen in der Welt. Das Zutrauen und die Sicherheit, die sie einflößen, reizen zum Vertrauen, und jeder, den sie so gewinnen, wird, ohne es zu ahnden, ihr Lehrmeister. Die Schwäche der Menschen und das ganze Spiel der Welt entwickelt sich wie eine bloße Komödie vor ihren Augen; der schon geschärfte Instinkt stößt sie plötzlich auf diese Ansicht, sie beurteilen dann die Rollen und wählen die ihrige. Da sie sich aus ebendiesem Instinkt auf ihre natürlichen Kräfte verlassen, so bekümmern sie sich wenig um weitere Bildung, um die moralische gar nicht; denn sie merken [208] bald, daß diese besonnen, und behutsam auf die Mittel zu den Zwecken macht, daß sie zwar ihren Verehrer veredelt, aber zu gewissen Wagstücken sich in Rollen zu setzen ungeschickt macht – kurz, daß man dadurch unter die Betrogenen gestoßen wird. Unter den wildesten, brausendsten Genüssen schläft ihr Verstand nicht, und ebenda rundet sich ihr System aus. Von nun an klassifizieren sie die Menschen, sehen in jedem ein Werkzeug, das bei Gelegenheit brauchbar werden kann, wenn man die Kunst versteht, unter Biederkeit und Laune seine Absicht zu verschleiern. Erlangt nun ein solcher Mann, dessen Zutrauen auf sich selbst immer durch das Zutrauen andrer verstärkt wird, eine hohe Würde im Staate, wird er bedeutend am Hofe, so fühlt er erst recht, welch ein vortrefflicher Firnis ein solcher traulicher, jovialischer Ton ist, um den Ehrgeiz, das Verlangen, immer höher zu steigen und sich zu erhalten, zu verbergen. Man muß sehr gewandt sein, um diese Art von Heuchelei, wozu die Natur selbst die täuschendste aller Masken hergegeben hat, zu ergründen. Wer sucht den Heuchler in dem Manne, der mit allen spaßt, der der munterste Gesell am Tische ist, der dem sinnlichen Genusse ganz zu leben scheint, der immer derb, mutig, offen vor euch steht und jeden Dienst, zu dem er euch braucht, so zu wenden weiß, als sollte er nur dazu dienen, euer Talent zu zeigen und euch aufzuhelfen? Wer fürchtet den Mann, der ebenso derb und gerade mit dem Fürsten und den Großen umgeht, der Wahrheiten mit Späßen würzt und Falschheit mit Laune zu stechenden Epigrammen zuspitzt, Sarkasmen an die lachenerregenden Entschuldigungen hängt? Er will und wird keinen verderben, weil er Freund und Feind gebrauchen kann und will; aber tritt einer zu keck gegen ihn auf, so wirft er ihm den Handschuh zum Kampf im Angesicht aller mit ebender Laune hin, als er einen Sarkasm[us] hinwirft, und sieht ihn durch die offene Ausforderung, die dadurch erweckte Meinung von seiner Biederkeit und furchtlosen Redlichkeit als geschlagen und sich als Sieger an. Wer fürchtet nun von einem solchen Mann ein frevelhaftes Wagstück? Führt er es endlich aus, so glaubt [209] man kaum dem ersten Gerüchte; denn sah er nicht vor, unter und nach dem Wagstück ebenso aus, als säße er mit uns an der Tafel, wo er der heiterste, jovialste der Gäste war?

Ich hörte einen solchen Mann einst sagen: »Es hätte wohl etwas aus mir werden können, wenn mich mein Vater etwas Rechts hätte lernen lassen.« Alles, denke ich, nur der Mann für ein solches Glück und für ein solches Wagstück nicht!

264


UND G***, der, so jung er auch ist, so früh er auch zu einem großen Posten gekommen, weder das Laster haßt noch die Tugend liebt? Der eine frevelhafte oder gute Handlung mit gleich kaltem Sinn ausführt, jede derselben nur als das rechte, für den Augenblick einzige Mittel zu seinem Zweck ansieht? Der, um durch nichts gestört zu werden, immer nur aus dem Kopfe handelt? G*** tritt mit dem Ernste eines Cato auf; die Sprüche der Tugend, des Patriotismus sind ihm so geläufig, daß er dadurch sogar dem Fürsten und denen seines eignen Standes imponiert. Wer sollte nun hinter einem so jungen, ernsten, besonnenen, weisen Mann suchen, daß es weder die Tugend noch der Patriotismus ist, die ihn so beredt machen, daß es nur immer die Sache ist, die er betreibt, die er durchsetzen will? daß nur er selbst, seine liebgewonnene Meinung der Zweck seines Redens und Wirkens sind? Sein Ernst entspringt aus Stolz, aus Überschätzung seines Verstandes, den er nach seiner Art allein ausgebildet hat und durch den er sich jedem überlegen glaubt. Da ihm dadurch so vieles gelang, so hält er für wahre Energie eines Staatsmanns, was bei ihm nur eiserner Starrsinn ist; an diesem soll sich jeder den Kopf zerstoßen, der ihn zu bekämpfen wagt, und um ihn recht gediegen zu machen, schlagen noch die Vorurteile des Standes, der Geburt, des Reichtums, der Nation darauf. Ist er Minister des Äußern, so erklärt er sich für eine Sache, für einen der Verbündeten; nach seiner Erklärung wird er darauf beharren, und wenn man ihm das Nachteilige für seinen Staat noch so deutlich zeigte. Seine politischen Sophismen, die [210] in des Ernsten Munde wie Weisheit der Erfahrung klingen, verblenden und betäuben selbst seine Gegner. Ist er Minister des Innern, so tut er dasselbe durch ein laut anerkanntes System der Staatsverwaltung, unter das sich alles schmiegen, in das alles passen soll. Ist das Maß seiner Staatsfehler und Staatsverbrechen endlich so voll, daß man ihn entfernen muß, so zieht er sich zurück wie ein Cato, sagt laut, er sei als ein Opfer der Tugend und des Patriotismus gefallen; und was das Sonderbarste an ihm ist: er glaubt wirklich, daß nur er der tugendhafte, der patriotisch gesinnte Staatsmann sei.

265


UND F***, der Lächler, der immer Zufriedene, der es mit keinem böse meint, der die Gefallenen tröstet, die Emporsteigenden nicht beneidet, der nirgends was Böses, Übelgemeintes sieht, alles lobt, alles entschuldigt, der selbst für das, was er nicht getan, woran er gar keinen Anteil hat, um Vergebung bittet oder durch seine Miene wenigstens zu bitten scheint? Dieses hat F*** in früher Jugend in den Vorzimmern gelernt, und es hat ihm gut gewuchert; denn ohne je etwas für den Staat getan zu haben, hat alles mit Eifer und Ernst an dem Glück des Harmlosen gearbeitet. So betrügt er nicht die Blödsinnigen allein; er täuscht selbst den ausgelerntesten Hofmann. Wie sollte er es nicht, da er in seinem Leben nicht laut von sich und seinem Interesse gesprochen hat, da ihm nie die Worte »Tugend«, »Rechtschaffenheit« am Hofe oder in der Gesellschaft entfallen sind? – da er nie etwas zu tadeln fand?

266


MÜDE dieser schaudernden, frosterweckenden Malerei, erhole ich mich an einem Manne von ganz entgegengesetztem Geiste. Hätte Jean Jacques Rousseau die Werke, die ihn mit Recht so berühmt gemacht, in frühern Jahren geschrieben, er würde wahrscheinlich weniger Torheiten begangen und die Eigenliebe schwacher, schaler Geister dadurch weniger gekitzelt haben; denn nur [211] solche ergötzen sich an den Schwachheiten berühmter Männer. Die Verwunderung Rousseaus, mehr in sich zu finden, als er in sich suchte und vermutete, auf einmal so mächtig über alle andern Genies seiner Zeit hervorzuragen, eine Teilnahme ganz neuer Art zu erwecken, machte ihn vor seinen Augen übergroß, überwichtig. Er konnte sich in ein Geschick nicht finden, an das er sich in Beziehung auf die Welt und durch sie auf sich selbst noch nicht zu gewöhnen gelernt hatte. Er ward zu plötzlich ein Glückskind in der Geisterwelt; und schnell aufgeschossene Glückskinder, von welcher Welt sie seien, finden sich selten in ihre Lage: Sie sind meistens noch schneller überrascht, als sie andere überraschen.

267


[212] [403]DIE Klage, der Mensch mißbrauche seine edelsten Fähigkeiten, ist so alt als absurd. Man vergißt aus lauter Eifer für das Gute dabei, daß sie, wenn man sie nicht mißbrauchen könnte, allen Reiz und Wert für uns verlieren, uns zu gar nichts nützen würden, weil wir durch sie kein Verdienst erwerben könnten. In der Besorgnis für die Sache, die wir lieben oder achten, und für das, worauf wir unser Dasein gründen, liegt unser Genuß. Wäre es gar keiner Gefahr von uns und andern ausgesetzt, hätten wir nicht dafür zu wachen und zu streiten, was würde es am Ende für uns sein? Welche Einförmigkeit der Ideen würde entstehen, welche Lähmung unsers Geistes erfolgen, wenn wir seine Fähigkeiten nicht mißbrauchten? Religion, Wissenschaften, Künste, alle moralische[n] und physische[n] Kräfte mußte der Mensch mißbrauchen können, um den rechten Gebrauch davon erkennen zu lernen, um dazu gespornt zu werden. Der Heilige, der die Welt flieht, den die Welt seiner religiösen Wut ruhig überläßt, ruft am Ende den Teufel selbst zu Hilfe, damit doch seine Frömmigkeit angefochten werde und er einen Zeitvertreib im Kampfe mit seinem Hirngespinste finden möge. Mißbraucht er hier auch sonst nichts, so mißbraucht er wenigstens seinen Verstand und den Verstand derer, die ihn einst bewundern. Wenn der Tugendhafte alles besiegt hat, so rettet ihn noch der Kampf mit dem gefährlichsten Feinde seines innern Selbst[s], dem Stolze auf seine Tugend, damit er über seiner eignen Vollkommenheit nicht erstarre. Aus der Religion muß Mystik, Schwärmerei und noch etwas Ärgeres entstehen können, aus der Philosophie Träumerei, [403] Unsinn und Vermessenheit, aus der Literatur schwächliche Schöngeisterei, aus dem Genie Wahnsinn, aus der Politik Kniffe, aus der Moral Sophisterei, aus der Tugend Heuchelei, damit sich die Geister aneinander reiben, sich ineinander spiegeln, sich belehren und das Wahre hervortrete und geachtet werde. Nur so konnte diese Welt der sonderbare Kampf- und Tummelplatz, die Übungs-und Prüfungsschule unsrer Fähigkeiten und Kräfte werden; für unsern Zeitvertreib ist wenigstens dadurch gesorgt, auch für unser Glück, wenn wir nicht mehr verlangen, als wir erreichen können – der wahrhaft Mutige erwirbt noch mehr. Narren und Toren, Schurken und Bös[e]wichter sinken endlich zusammen, so groß und wichtig ihr sie auch seht, und werden zum Fußgestell des Denkmals des Weisen und Edlen. Freilich sieht man dieses Denkmal nicht mit Augen; und doch findet es sich an jedem Ort, wo Menschen tätig wirken, und dieses ist das große Wunder der hier herrschenden Verworrenheit. Aber wenn ihr es wirklich sehen wollt, so müßt ihr euch tapfer durch die Schar der Verwandten derer schlagen, die das Denkmal tragen müssen, sie zum Fußgestell eures eignen Denkmals niederwerfen und es als Sieger besteigen. Ich überlasse das Weitere den Satirikern und Moralisten, die dem, was ich hier berührte, gleichfalls ihr Dasein und ihren Ruhm verdanken.

268


[404] [332]BEI Jupiters Throne liegen zwei Tonnen, wie die Fabel sagt; die eine enthält das Gute, die andre das Böse. Damit nun die Welt gedeihe und fortgehe, läßt es der Herrscher bald aus der einen, bald aus der andern, bald aus beiden zusammenlaufen: das Bild [332] manches Regenten und Staatsministers! Die Untertanen können aber immer noch zufrieden sein, wenn sie ihnen den Inhalt der zweiten Tonne nicht auf einmal über den Kopf ausgießen. Wahr ist es, da sie am Ende selbst in der großen Flut ertrinken könnten, so macht sie das behutsam; nun so hütet euch vor denen, die kalt und gleichgültig eine Tonne wie die andre öffnen und dabei wie Jupiter denken: Beides gehört zur Bewegung der Maschine.

269


[333] [492]DIE Fürsten, Staatsleute, Finanziers wissen nicht, wie sehr sie den Romanen–, Schauspiele- und Gedichteschreibern verpflichtet sind. Da in ihren Werken nur immer die Rede von Liebe ist, unter welcher bis jetzt noch, zum Heil der Welt, Jünglinge und Jungfrauen den Zeugungsakt verstehen, so arbeiten Leute für die Staatsbevölkerung, an die man gar nicht denkt, deren man im Staate gar nicht achtet. Und was das Sonderbarste ist: Sie kennen selbst ihre politische Wichtigkeit nicht. Ich hoffe nun, die Staatsleute und sie selbst darauf aufmerksam gemacht zu haben.

Es ist daher recht gut, daß die Romane, Schauspiele und Gedichte während des Revolutionskriegs in ebendem Maße zunahmen, als sich die Menschen durch ihn verminderten; denn nur so konnte die Lücke schnell genug ausgefüllt werden. Ein neuer Beweis, wenn man noch eines bedarf, daß das Gute immer neben dem Bösen herläuft.

270


[492] [128]EINES der größten Herrschergenies der neuern Zeit liebte, achtete sogar die Tugend und Rechtschaffenheit, aber nur so lange, als sie ihm nicht wie Gegenkämpferinnen in den Weg traten. Es scheint, daß schon vor ihm viele solche Genies diese Laune gehabt haben. Diese Herrschergenies sehen also die Tugend als ein sehr unschuldiges Ding an, solang' es sich ruhig und still verhält, das aber von dem Augenblick an gefährlich wird, da es sich tätig in die Welthändel mischt. Als Maxime, so gerade aufgestellt, lautet es freilich abscheulich; aber noch viel scheußlicher ist es, daß Erfahrung und Geschichte auf diesen empörenden Satz so deutlich hindeuten, daß ein Herrschergenie dieser Art auf beide mit dem Finger zeigen und dabei sagen kann: »Die Gefahr für diesen oder jenen meinesgleichen kam immer daher, daß der, welcher – die Gefahr erregte, entweder gar zu streng tugendhaft war oder die Tugend heuchelte.« Und wenn ein solches Genie bei recht guter Laune ist, so könnte es noch gar hinzusetzen: »Ich handle menschlich und weise, wenn ich die wahre Tugend zur Stille und Untätigkeit verweise; seht ihr nicht, wie man mit ihr umgeht, wenn sie sich in meine, eure oder die Welthändel überhaupt mischt?«

271


[128] [463]WER viel weiß oder zu wissen glaubt, wer den Grund vieler Dinge erforscht oder erforscht zu haben glaubt, für den gibt es wenig Erhabenes mehr in der Natur, er müßte sich denn am Ende selbst dafür halten. Das Wissen verschlingt den Sinn dafür und nährt sich durch seine Auflösung. Der Feinkultivierte, der euch das Erhabene haarscharf zergliedert, findet es höchstens noch in Beschreibungen der Gegenstände; der weniger Gebildete oder der Rohe findet es in den Gegenständen selbst und dann am meisten, wenn er das Wort noch gar nicht kennt und die Ursache im Unbegreiflichen nicht sucht, sondern recht dunkel ahnend fühlt.

Der wahr erhabene Dichter ist mit letzterm in gleicher Lage. Seine Einbildungskraft durchglüht sein erlerntes Wissen mit dem Feuer der schaffenden Kraft; das Gehaltlose, Nichtige zerfällt in Schlacken, Asche; der wahre Geist steigt auf, und die Wunder – groß, mächtig erhaben, erschütternd – treten aus ihm hervor.

Wer des Beweises bedarf, suche ihn im Homer, Milton, Shakespeare und Klopstock.

271


[463] [411]DER Seiltänzer und der Transzendentalphilosoph stehen gegen die auf der Erde ruhig wandernde Menge oder den empirischen Plebs der Anzahl nach in gleichem Verhältnisse, und das wahrscheinlich zum Besten dieser Künstler selbst. Eine zu große Anzahl derselben würde das Handwerk verderben, das mehr durch den Reiz des Anschauens der gefährlichen, schwindelnden Kunst als ihren Nutzen besteht. Für beide müssen ja die Bewundrer arbeiten, damit sie ihr Spiel treiben können. Der empirische, sich mit bloßer Erfahrung begnügende Plebs geht seinen geraden, ihm auf der Erde durch die Gesellschaft bezeichneten Weg fort, befördert, was er kann, läßt sich gefallen, was er muß, und ahndet nicht einmal die Flugkraft, die sich der Transzendentalphilosoph durch die gewaltigste Geistesanstrengung erwirbt. Der denkende Teil dieses empirischen Plebs sieht in dem Seiltänzer einen Beweis, was ein Mensch, gespornt durch den Abscheu vor harter Arbeit, aus seinem Körper zu machen vermag; in dem Transzendentalphilosophen erblicken wir, was der Mensch, wenn er die Zeit dazu hat, aus edlerm Triebe, durch Kraft und Kühnheit des Geistes vermag. Beider Arbeit sind nur Experimente und gewähren ein wunderbares, staunenvolles, manchmal gleichen Schauder erregendes Schauspiel.

Soviel ist gewiß, daß beide Künstler auf das Wohlgefallen des Publikums rechnen müssen, wenn sie bei ihrem Gewerbe nicht verhungern sollen; denn während man es erlernt, hat man nicht Zeit zu erwerben; einmal erlernt, ist und bleibt der Seiltänzer zu aller ernährenden Arbeit unfähig. Und was wollte der Transzendentalphilosoph anfangen, wenn er keine Zuhörer fände oder der Verleger den Artikel nicht mehr an Mann bringen könnte? Doch wenn dem ersten das Staunen des Pöbels das Brot sichert, so sichert es dem zweiten unsre Begierde, das zu wissen, von dem wir wissen, daß wir es nie erreichen können; und so ist dafür bis in die Ewigkeit gesorgt.

Wenn ich hier eine nichtswürdige Sache mit dem erhabensten Geschäfte des menschlichen Geistes zusammenstelle, so geschieht es nicht, um seinen Wert herunterzusetzen, sondern nur, [411] um auf seine Wirkung zu deuten. Die Menge ist, wird und muß der empirische Plebs bleiben, und die hochfliegenden Philosophen sind nur dann lächerlich und inkonsequent, wenn sie glauben, ihn sich nachziehen zu können oder zu müssen – und noch mehr, wenn sie glauben, ihre hohe oder tiefe Spekulation könne je bedeutenden Einfluß auf das Wohl der Menschen haben. Dieses hat die Natur weislich durch die Sinne vorbereitet und einen unerschütterlichen Grund dazu gelegt. Der die Menschheit ehrende Luxus des Geistes konnte nur durch den sinnlichern Luxus der Gesellschaft entstehen; denn zum Spekulieren gehören Bequemlichkeit, Ruhe; und so bequem konnten die Philosophen doch nur da leben, wo erkünstelte Bedürfnisse des Geistes und des Verstandes vermöge höherer Kultur einigen Wert erhielten. Eine Inkonsequenz mehr, wenn die Philosophen auf den Luxus schimpfen; ohne ihn wären sie gar nicht da, und die Bewunderer fehlten ihnen ganz.

Doch ich besinne mich! Wer sich, uns zu belehren, in das Leere, Übersinnliche, Unbegreifliche versteigt, um da einen Punkt zum Feststehen für sich und andere zu suchen, und dem, wenn er endlich nach tausend und tausend Gefährlichkeiten diesen Punkt erobert zu haben glaubt, die gleich ihm Herumschweifenden oder Herumschwimmenden doch zurufen: »Du stehst nicht, du sinkst! Du fliegst nicht, du sinkst!«, der muß wahrlich, um das fortzutun und immer dabei auszuhalten, eine hohe Meinung von seinem Geschäfte haben.

272


[412] [259]EIN artiger Beitrag zum großen Kapitel der Undankbarkeit der Menschen scheint mir das Betragen der jetzigen Franzosen und vorzüglich ihrer nun herrschenden Partei gegen die Revolution zu sein. Die, welche dieses Ungeheuer gezeugt, geboren, genährt, geliebkost und großgezogen haben, wurden von ihm zertreten, ohne es dafür zu erkennen; die es endlich gefesselt haben und durch selbiges alles sind, was sie wirklich sind, begnügen sich nicht damit, es für ein Ungeheuer auszuschreien, wie eine verpestete H*** auszupeitschen; sie peitschen vor seinem Rumpfe auch noch seine abgeschlachtete [n] Erzeuger und Erzieher aus. Daß die Politik und der Egoismus der jetzigen Machthaber dem ermüdeten Geist des Volks hier entgegenkomme oder ihm vorlaufe, ist ganz natürlich, alles recht gut; aber weise wäre es doch [259] von den Machthabern, wenn sie sich erinnerten, wem sie diese Macht verdankten, welche Ursachen den Grund dazu legten. Noch weiser wäre es von dem französischen Volke, wenn es dieselben laut daran erinnerte, sooft sie es vergessen wollten oder möchten.

274


[260] [306]EINIGE alte Philosophen – zum Beispiel Plato, bei dem Sokrates so scharf als langweilig über diesen Text katechisiert; der ewig geschwätzige Plutarch und andre mehr – quälten sich mit der schweren, dornigten Frage: ob die Tugend eine Wissenschaft sei; ob sie gelehrt, folglich gelernt werden könnte. Die Einfältigen! Wir Neuern, die wir jene in so vielem überflogen haben, können es geradezu bejahen: Wie wäre es sonst möglich, sie zu vergessen, wenn es nicht etwas in der Schule Erlerntes wäre? Wer noch eines Beweises bedarf, der beobachte nur den größten Teil unsrer Staats-, Welt- und Geschäftsleute. Nach der griechischen Geschichte zu urteilen, hätten sich auch die Platonen durch das Beispiel ihrer Staats-, Welt- und Geschäftsmänner die Untersuchung erleichtern können; vielleicht dachten aber die [306] Philosophen jener Zeit: Solche Leute beweisen weder für noch gegen den Satz. Und wahr ist's, die Staats-, Welt- und Geschäftsmänner hatten zu jeder Zeit so viele nötigere, nützlichere Wissenschaften zu erlernen, daß sie nicht geschwind genug ihr Gedächtnis von dem lästigen, ihren Gang nur hindernden Schulkram reinigen konnten.

275

[307] [360]Ein Gespräch

A: Wissen Sie wohl, lieber Vetter, daß man anfängt, Sie in der Stadt und sogar am Hofe für einen Atheisten auszuschreien?

B: Was Sie mir da Neues sagen! Aber warum, lieber Vetter?

A: Hm! Es ist wohl schwer zu erraten! Weil Sie, wie die Leute sagen, an keinen Gott glauben und dieses in der Hitze des Gesprächs deutlich genug merken lassen.

B: Nicht doch, lieber Vetter, dieses Gerücht entspringt aus einem [360] ganz andern Grunde, und der ist: daß ich ganz anders tu' und handle als alle die frommen Leute, die an Gott und auch die abgeschmacktesten Dogmen zu glauben vorgeben oder vielleicht wirklich daran glauben. Machte ich's wie diese Leute und hörten sie nicht, daß der Erbprinz von mir als einem aus Grundsätzen rechtschaffen handelnden Manne spräche, ich möchte glauben, was ich wollte. Lassen sie mich so schlecht werden, Rücksicht auf diese Leute zu nehmen, das heißt, mich mit ihnen zu gewissen Zwecken zu verbinden, so werden Sie bald in mir eine Stütze der rechtgläubigen Kirche sehen.

A: Das ist wahr, man greife Sie noch so leise an, gleich werfen Sie einem andere Gegner in die Schranken. Ein Atheist sind Sie doch, und ein recht bösgelaunter.

B: Bösgelaunt gewiß.
A: Aber um Gottes willen, Vetter, sagen Sie mir doch, wie kann man in der Theorie ein Atheist sein?

B: Vetter, wie kann man in der Theorie an Gott glauben und in der Praktik ein ausgemachter Schurke sein?

A: Da haben wir wieder das alte Lied! So erklären Sie immer die menschlichen Schwachheiten zu Ihrem Vorteile!

B: Und da haben wir wieder den Hofmann, dem Schurkereien nur Schwachheiten sind. Lassen Sie es immer gut sein, ich bin kein Atheist aus Theorie. Bin ich einer – um mir dann das Absurdeste selbst aufzubürden –, so bin ich es bloß durch die Praktik meiner gläubigen Ankläger geworden. Wenn ich lebhaft an diese denke, so fährt mir es immer schaudernd durch das Herz, und ich möchte im Schmerz ausrufen: »Wie kann man diese Menschen handeln und wirken sehen und herzlich an Gott glauben, da der Glaube an ihn auf sie so wenig wirkt?« Um zu enden, sag' ich Ihnen ein für allemal, daß es ebenso verwegen ist, das Dasein Gottes zu leugnen, als es unmöglich ist, es darzutun.

A: Gut! Gut! Aber warum sich lieber nach der gefährlichen Seite hinhalten?

[361]

B: Ach, lieber Vetter, man kömmt so nach und nach dazu, wenn man Gefühl für Wahrheit, Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit hat und – was das Rechte und auch das Schlimmste ist – wenn man mit dem Mut für beide zu kämpfen geboren wird und auf diesen Mut sein Dasein gründet. Sie haben von dieser wirklichen Ungemächlichkeit nichts zu fürchten, darum rede ich Ihnen davon, ein andrer hätte mich schon längst verstanden. Gestatten Sie nur einem solchen Manne Verstand, Sinn und Geist genug, alles recht und leicht zu fassen; nehmen Sie an, daß er auch die nötige Zeit und Geduld habe, alles das kennenzulernen, was die größten Genies der alten und neuen Zeit über die den Menschen wichtigsten Gegenstände gedacht haben; lassen Sie dann diesen so ausgestatteten Mann auf dem Theater der Welt Erfahrungen an Großen und Kleinen machen, so wird Ihnen meine Art zu denken oder – besser – zu empfinden vielleicht begreiflich werden, so fremd sie Ihnen auch jetzt erscheint.

A: Nichts als üble Laune.

B: Wie Sie wollen. Sie können es auch Stolz nennen; denn ich bin wirklich so stolz, daß ich von den Menschen verlange, sie sollten sich des Besitzes oder des Geschenks der schönen Fähigkeiten und hohen Eigenschaften, mit denen sie, ihrem Glauben nach, ein Höherer zu edlen Zwecken begabt hat, würdiger zeigen. Besonders verlange ich es von denen, welche sich an die Spitze der andern drängen und sie leiten oder beherrschen wollen.

A: Wenn die Welt nun so beschaffen ist, daß man mit dem Guten nicht immer durchkömmt?

B: Ja, ja; weil man ein gewisses Gute nur für sich sucht, ohne sich zu bekümmern, wie sich der dabei befindet, auf dessen Kosten man es findet. Das ist es eben, was mich in diese böse Laune versetzt hat, die doch wahrlich mehr wert ist als die gute Laune der Leute, denen Sie das Wort reden. Ich habe überhaupt bemerkt, daß der Glaube an Gott nur bei den Leidenden von bedeutender Wirkung ist, und das gewöhnlich [362] auch nur auf so lange, als sie in dieser Lage sind. Die Reichen, die Mächtigen, die Herrschenden, die Tätigen nehmen zu selten in ihrem Tun Rücksicht darauf, als daß man sie um einiger Ausnahmen willen in Anschlag bringen könnte. Die meisten brauchen diesen Glauben nur zu oft als Mittel zu gewissen Zwecken, und dieses nimmt nicht sehr für die Sache ein.

A: Aber bedenken Sie doch, Vetter, was ohne diesen Glauben aus der Welt würde! Die gottlosen Ungeheuer würden die Erde vereeren, alles auflösen und vernichten.

B: Das tun die Menschen auch mit diesem Glauben, wenn man sie nicht in Schranken hält; und am Ende wollen auch die Ungeheuer leben und genießen. Jeder fühlt, daß dies der Weg nicht dazu ist; und für die, welche es nicht begreifen wollen, halten die Klügern Strang und Schwert bereit – ohnedem die einzigen Gesetzgeber für Leute gewisser Art. Wenigstens würden wir eine Heuchelei, und zwar eine der schändlichsten, weniger in der Welt sehen.

A: Heuchelei der Tugend, auf welche Sie so stolz sind, auch ohne einen solchen Glauben, ist ebenso schändlich.

B: Noch schändlicher, Vetter.
A: Sie geben diesmal mehr zu, als ich von Ihnen hoffte. Und warum noch schändlicher?

B: Weil sie uns viel näher liegt als jener Glaube, ja so nah liegt, daß wir sie gar mit Händen greifen können. Weil gar dieser Glaube nur aus ihr entspringt oder entspringen soll.

A: Das ist mir zu hoch oder zu fein.

B: Mir nicht. Bisher hat noch kein Sterblicher die Tugend geleugnet, wenigstens ihren Wert nicht; selbst kein erklärter Gottesleugner, wenn es wirklich solche anmaßende, dogmatische Toren gibt; er müßte denn zugleich Autor sein und, um ein Buch zu schreiben, das Lärmen mache, ebendas tun, was jeder Schurke bei einer bösen Tat tut: sein Herz und seinen Verstand durch den Rausch der Eitelkeit und des Stolzes so betrügen und betäuben, wie dasselbe der letzte durch die [363] wilden Begierden tun muß, wenn er einen schlechten Streich oder ein Verbrechen ausführen will.

A: Wie Sie das stellen, drehen, wenden, einem entwischen, indem Sie vieles zu sagen scheinen und so wenig sagen. Zum Beispiel, wenn es Gottesleugner gibt, so sind es vermessene Toren, und doch ...

B: Soll ich einer sein? Und ich soll nun wählen; ich wähle nicht. Ich leugne hier nichts und glaube nichts. Lachen Sie immer.

A: Ja, wenn ich nur lachen könnte; die Materie ist mir zu ernsthaft dazu.
B: Geben Sie das Ernsthafte her.

A: Was ist dem zu geben, der nichts annimmt, der alles hat, indem er mit nichts zufrieden ist. Ich stehe doch als Mensch vor Ihnen.

B: In der Tat, das tun Sie.
A: Nun! Sie – Sie stehen nur als Schatten vor mir ...
B: Sie haben etwas sehr Tiefes und sehr Wahres gesagt.
A: Davon weiß ich nichts! ... und flößen gar Frost wie jeder Schatten ein!

B: Lieber Vetter, sei[e]n Sie nicht auf Ihre Wärme stolz; ich möchte Ihnen sonst zu chemisch scharf den Stoff dazu entwickeln.

A: Ach, wie Sie wollen! Ich kenne keine Tugend als diejenige, welche aus jener heiligen Quelle entspringt; auch bin ich überzeugt, daß alle die Leute, die Sie so sehr in Harnisch bringen, nur allein von diesem Glauben höher gehalten werden, als sie ohne ihn stehen würden. Und was trägt denn Sie und Ihre stolze Tugend?

B: Stolz ist meine Tugend nun eben nicht. Gefiele mir es jetzt, so witzig wie Sie zu sein, so antwortete ich: »Was trägt einen Schatten? Wozu braucht der Schatten einen Träger?« Aber so sage ich ganz grade und sinnlich: Meine Schultern tragen mich, meine eigne moralische Kraft, die ich für das wahre Zentrum des Menschenwesens und -lebens halte. Weil ich diese nun für mich hinreichend finde, so brauche ich der Krücken nicht, [364] die diese Herren nur dann ernstlich zu ergreifen scheinen, wenn sie sich schwach auf den Beinen fühlen, die sie aber gewöhnlich in dem Augenblick auf die Seite werfen, wenn etwas vorgenommen werden soll, wobei diese Krücken im Laufen hindern könnten. Reizen Sie mich nun nicht weiter; Sie setzen sich sonst der Gefahr aus, daß ich Ihnen eine Galerie von unsern an Gott glaubenden Fürsten, Staatsmännern, Helden und sonstigen recht orthodox-gläubigen, bedeutenden Männern aufführe, die etwas stark mit der Malerei der ihnen schmeichelnden Poeten, Hofleute und sonstiger Schmeichler abstechen möchte.

A: Warum nur solcher Männer?

B: Weil sich bei ihnen als herrschenden, gebildeten und verständigen Männern dieser Glaube am meisten in seiner Wirkung zeigen müßte. Sie machen ja die Geschäfte Gottes auf Erden, leiten ihre Macht und Gewalt von ihm ab, nennen sich nach und von ihm, und die Minister schreiben diese hochbedeutende Formel sogar an die Spitze jeder Schrift, die der Herr in seinem eignen Namen ausgehen läßt.

A: Ach ja. Sie zeigen schon die Galle, in die Sie den Pinsel tauchen würden.

B: Galle! Freilich, von ihr müßte man sich so leicht reinigen können wie diese Herren von den ersten Beschwernissen des Gewissens, um mit ihnen so verträglich zu leben, wie sie mit sich selbst und ihresgleichen leben; aber Sie wissen doch, Vetter, daß ich auch dann noch ein Narr meiner Grundsätze bin, wann ich einen dieser Herren beurteile. Die Galle soll nur dazu dienen, das Gemälde hin und wieder zu beleben, sonst würden ja Sie, der Sie sich so gut mit diesen Leuten vertragen, daß Sie ihr Tun, Wirken und Nichttun für ganz natürlich und verzeihlich halten, bei meiner Malerei einschlafen.

A: Geschwind zu dem Porträt andrer! Ich sitze Ihnen nicht!
B: Sitz' ich doch Ihnen! Wollen wir mit Seiner Durchlaucht anfangen?
[365]
A: Lassen Sie mich erst zusehen, ob wir allein ... ob keine Lauscher ...

B: Sie ahnden nichts Gutes, wie ich merke, und Ihre Vorsicht spricht dem Manne das Urteil, bevor ich rede.

A: Ich kenne meinen Vetter. Das Feld ist rein.
B: Ich nehme alle Gefahr auf mich!
A: Ach, damit wäre mir nicht geholfen. Nun!

B: Wie gern der Diener den Herrn mustert, beweisen Sie, nicht ich. Ich will Ihnen den Gefallen tun. Fragen Sie doch die Stütze der protestantisch-orthodoxen Kirche, den Beichtvater Seiner Durchlaucht, ob Höchst Dieselben geruhen, an Gott zu glauben! Sie werden schön ankommen. Wer spricht frömmer? Wer scheint überzeugter von dem, was er spricht? Und nun betrachten Sie das Tun, Wirken und Nichttun Seiner Durchlaucht. Ich sage Nichttun, Vetter, und schlage mit diesem Worte alle Kapitel in dem Leben vieler Fürsten und Staatsleute auf. Wenn Sie nun alle genau befragt und untersucht haben, so zählen Sie mir die Handlungen vor, die bei ihm aus diesem so hohen Glauben geflossen sind. Ich gebe Ihnen zwei, drei Monate dazu. Beehren Sie mich indessen mit einer kurzen Antwort auf meine Frage? Aber Sie schweigen ja ärger als ein Stummer. Ich sehe weder Gebärde noch Nachsinnen, das eine herbeiführen könnte. Bedenken Sie doch, wir reden von Seiner Durchlaucht; und, Vetter, wenn Seine Durchlaucht Ihnen einst diese Frage zu tun geruhten – nicht wahr. Sie würden beredter sein als Cicero? Freilich kann auch ich keine ausfinden. Aber halt, doch eine!

A: Oh, lassen Sie hören.
B: Bringen Sie dieselbe nur an rechter Stelle an, ich mache Ihnen ein Geschenk damit.

Hören Sie; Sie müssen dieses ihm dafür anrechnen, daß er, um für seine eigne hohe Person keine Sünde an dem ihm anvertrauten Volke und dadurch, wie wir hoffen wollen, an Gott, durch Selbsttätigkeit oder Selbstregieren zu begehen, es [366] seinen Ministern, Räten, Freunden und Freundinnen überlassen hat ...

A: Vetter!

B: ... die auch alle an dieser ziemlich schweren Sündenbürde so leicht tragen, daß immer einer dem andern durch Kabale, Intrige etwas von der schweren Last abzunehmen sucht. Sie selbst tragen ja einen Teil derselben mit ebender Gewissensruhe wie alle die andern Gefährten.

A: Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, ich sitze Ihnen nicht.

B: Der Beweis aber saß mir gar zu nah und ward dadurch um so kräftiger. Nun? Ist die Galle in diesem Miniaturstückchen zu sehen? Es war kaum Raum dazu. Reden Sie doch, wenn ich fortfahren soll!

A: Sie verdrehen alles.

B: So richten Sie es gerade, das wünsch' ich ja! – Nun gar die erste, größte, gewaltigste Exzellenz. –

A: Ja, der!

B: Nicht wahr, den darf ich schon in Fresko malen? Da geben Sie mir eine ganze Wand Ihres Saals dazu, und sollte sich auch die Galle unter die Farben mischen. Hier kann sie nichts verderben. Der Mann hat gar zuviel von jener Sündenlast auf sich geladen – und glaubt an Gott, als sei er zu Franckens gottseligen Zeiten im hallischen Waisenhause auferzogen worden. Es ist ganz erbaulich; aber wo, Vetter, fänden wir die Spur davon, wenn wir sie suchen wollten oder sollten?

A: Ach, leider hat er Gott auf der Zunge und den Teufel im Herzen!

B: So malt ein Staatsbeamter den, der mächtiger, begünstigter als er selbst ist; und nun sehe ich die Wirkung der Galle. Ich, der ich billiger bin, weder nach seiner Sündenlast strebe noch ihn darum beneide, sage: Er hat weder bloß Gott auf der Zunge noch den Teufel im Herzen; er ist sogar ein ganz guter, frommer, auch wohl gerechter Mann, sobald eine Sache vorkömmt, wobei weder der Minister, der Hofmann oder seine Erhaltung und Ansehn im Spiele sind. Kann er dafür, daß [367] ihm nicht lauter solche Sachen vorkommen? Ich könnte Ihnen beweisen ...

A: Vetter, es gibt keine solche Sache für uns; alles hat Bezug auf den Posten, auf dem wir stehen. Oh, wenn Sie wüßten! Aber Er! Er! Da ließe sich gar vieles sagen ...

B: Was soll nun ich weiter sagen, da Sie selbst in der Hitze, im Amtseifer den Vorhang so gewaltig aufgerissen haben, daß er beinahe gar nichts mehr verbirgt! Nun dann! Ereignet sich etwas, das in der weiten Ferne gefährlich aussieht, so sieht sich unser Mann sogleich um Hilfe um: Was nun aushelfe – die Gebote Gottes oder der Wink des Teufels – er braucht eins wie das andre; und hilft das Mittel, so dankt er weder dem einen noch dem andern. Dem Teufel nicht aus Frömmigkeit und Gott nicht, weil er ihn jetzt nicht an sich erinnern mag. Auch wissen Sie, lieber Vetter, daß leider die Winke des Teufels weit wirksamer in dieser bösen Welt sind, daß sie viel schneller zum Ziele führen, daß die Erfüllung der Gebote Gottes uns zwar ein ruhiges Gewissen abwirft und die künftige Seligkeit zusichert, aber selten in dieser Welt uns weit bringt. So bildet sich nun ganz natürlich der staatsmännische Erfahrungssatz; daß das Beste eines klugen Ministers das Beste des Fürsten und durch den Fürsten des Staats oder des Ganzen ist; daß die Erreichung dieses hohen Zwecks allein über das Verdienst aller Handlungen eines für das Ganze so besorgten Mannes entscheidet – oder kürzer: daß die Menschenbeherrscher und natürlich dadurch ihre Minister ihre eigne Moral haben. Und da sie ganz praktisch ist, so ist es auch die einzige Moral, die wir auf dieser Erde in all ihrer möglichen Vollkommenheit ausgeübt sehen. Das ist doch etwas, Vetter! Unser Mann ist hier wahrlich nicht zurückgeblieben, das muß ich ihm zum Ruhm nachsagen: Alles, was zu dieser hohen Moral nicht paßt, nennt er Schwärmerei, Philosophie, zuzeiten gar Theologie – ich weiß nicht warum? –, und er meint sogar, unser Superintendent oder Beichtvater würde an seiner Stelle ebenso denken, handeln, kurz [368] ebenso seine Rolle spielen – und hier, glaub' ich, hat er recht. Übrigens tut er euch gern einen Gefallen, weil es dem großen bedeutenden Mann so geziemt, seine Macht beweist. Der Glaube, von dem wir sprechen, gehört in die Kirche, dem Sitz des Fürsten gegenüber; anderwärts würde er den Staatsmann nur verwirren, nur verzagt machen.

A: So muß ich den Sünder auf dem Todbett erwarten!

B: Wirklich, er glaubt euch alle dahingebracht zu haben und lacht eurer; denn er weiß, daß ihr ihn auch dort vergebens erwartet. Ein Staatsmann, dem so vieles gelungen, der eine so große und beneidete Last so leicht getragen hat, der die Dinge der Welt und des Lebens aus einem so weiten Gesichtspunkt ansieht, in dessen dunkler Vertiefung er nur die eherne Säule der Notwendigkeit, von seinem Egoismus erschaffen, erblickt, verliert gewöhnlich die zu seinen Zwecken und ihrem Gelingen angewandten Mittel so aus den Augen, daß er sich auch noch in dieser bedeutenden Stunde Komplimente macht und in der völligen Überzeugung stirbt, er habe alles aus Pflicht und zum Besten des Ganzen als ein kluger Mann getan.

A: Auch diesen Trost nehmen Sie mir? Aber wenn er nun vor seinem Ende, das Sie so selig preisen, in Ungnade fiele, so könnten wir doch hoffen ...

B: Am allerwenigsten, lieber Vetter; denn hat er dieses Glück, vor seinem Ende recht in Ungnade verabschiedet zu werden, so wird er noch leichter mit seinem Gewissen fertig. Er trägt alsdann dem Richter der Welt den Undank des Fürsten und der Menschen für seine großen Verdienste vor, und die Überzeugung dieses Undanks verstattet der Reue so wenig Eingang, daß er vielmehr einen recht schimmernden Glanz auf seine Taten wirft.

A: Sie sind unerträglich!

B: Doch ein Trost, um Sie mit mir auszusöhnen; Sie sind nun gar zu aufgebracht: vielleicht, daß er dann erst im rechten Ernste an Gott glaubt! Man hat Beispiele, daß Ungnade, Unvermögen weiterzuherrschen und die gewisse Unmöglichkeit, [369] je wieder dazu zu kommen, manchen Staatsmann am Ende so weit gebracht haben, daß er in der Tat vermeinte, an Gott zu glauben. Er muß doch einen haben, bei dem er sich beklagen kann: denn gewöhnlich lachen die Menschen seiner Klagen; es müßte denn sein, daß der Klagende ihr Mitleid noch bezahlen kann und will oder daß, aus Unkunde, der Glaube an sein Wiederauferstehen noch nicht ganz in den Herzen der Zuhörer ausgestorben ist.

Doch ich bin es müde. Ihnen von einigen Elenden hier Schattenrisse abzuzeichnen, während die Weltgeschichte, stehend auf der Asche des Menschengeschlechts – was ist die Erde anders? –, mit schallendgellender Trompete schreit: »Die süßeste Ahndung, der erhabenste Gedanke des Menschen ist von dem Augenblick an ein politisches Institut geworden, da Furcht, Not, Wahn, Eitelkeit, Stolz und Selbstsucht die Sterblichen in Gesellschaften zusammendrängten und drängen mußten!« Ist Ihnen die Weltgeschichte des Vergangenen nicht genug, so nehmen Sie die letzten zwölf Jahre des verflossenen Jahrhunderts dazu. Leitete dieser Glaube wohl einen Augenblick unsre Nachbarn oder diejenigen, welche sie von ihrer politischen Ketzerei in der christlichen Absicht bekehren wollten, um ihr Land unter sich zu teilen?

Vetter! Wenn die prächtigen, wundervollen, schrecklichen und erhabenen Erscheinungen der Natur meinen gerührten und erstaunten Sinnen einen Gott predigen, so treiben nur zu oft die schändlichen, sogenannten moralischen Welterscheinungen, bewirkt durch die, welche durch Herz und Verstand an ihn zu glauben vorgeben, diese Predigt vor ihnen weg! Und mein eignes Herz ergrimmt darüber, daß ihm mein Verstand nichts weiter antworten kann als allenfalls: »Es ist wunderbar, aber unauflösbar!« Es muß nun also wohl so sein, wird wahrscheinlich immer so sein, da es sich doch bisher die Menschen so wenig an Unterricht in der Tugend und dem rechten Glauben haben fehlen lassen als an Komplimenten über diese und ihren ganzen moralisch-religiösen Wert überhaupt.

[370] Glauben sie doch sogar, daß Gott selbst sie durch Offenbarung unterrichtet hat! Also ist es gewiß nicht Mangel des besten Wissens. Und nun frag' ich Sie: Was ist es denn? – oder wenn Sie es auch nicht wissen, so fragen Sie meine Ankläger! Ich bitte Sie darum.

A: Oh, diese mögen sich, soviel ich merke, vorsehen, wenn einmal der Erbprinz zur Regierung kömmt und mein verschriener giftiger Vetter so Einfluß erhält, wie zu erwarten steht.

B: Vielleicht, daß man dann den einen oder den andern durch gewisse Bewegungsgründe dahin bringen könnte, in seinen Handlungen zu zeigen, als gebe es einen Gott, der belohne und bestrafe – nicht, als glaube er bloß an ihn. Aber beruhigen Sie sich und Ihre Freunde! Der Erbprinz macht zwar bis zum Fürstenstuhl nur einen kleinen Schritt; aber es ist ein Schritt, wobei man immer vorwärts, selten rückwärts blickt, und nur gar zu oft ein Sprung über den Lethe selbst. Gewöhnlich wissen es auch ihre Rechtgläubigen so einzurichten, daß der Neuling ...

A: Ich muß zum Minister!

B: Zu ebendiesem Manne? Warum sagten Sie es nicht früher? Sie hätten nichts verloren, was vielleicht der Fall ist, und ich – Zeit gewonnen. War es doch nur Schnickschnack für Sie und mich, auch für den Dritten, wenn Sie nicht so vorsichtig gewesen wären, die Türen abzuschließen.

A: So treiben Sie es immer, wenn Ihnen Ihre Freunde und Verwandten aus Teilnahme Wahrheiten zu Ihrem Besten sagen.

B: Ich hasse das Schuldenmachen. Soll ich nun mit meinem lieben Freund' und Verwandten damit anfangen? Wahrheit um Wahrheit! Vergessen Sie diesen Spruch aber ja da, wo Sie nun hingehen. Dort heißt es: Falschheit um Falschheit! O wir Betrognen alle – samt und sonders!

276


[371] [419]JENER französische Hof- und Weltmann, welcher einem auf die Frage, warum er sich nicht verheirate, zur Antwort gab: »Weil ich noch keinen Menschen gesehen habe, den ich zum Sohn haben möchte!«, gehörte, wenn seine Antwort aus allzu hoher Moralität entsprang, in jenes Land der Vollkommenheit, wohin wir einst zu kommen hoffen, und hatte sich also nur auf unsere schmutzige Erde verirrt oder in das Tollhaus, wenn er sein Gehirn nicht schon längst dazu gemacht hatte, um seinen stolzen Geist auf eignen Grund und Boden zu logieren. Wahrscheinlich war es nur ein Epigramm, ein witziger Einfall oder ein Sarkasm[us] eines Mannes, der mit der Erfahrung an sich und andern nicht sonderlich zufrieden war. Wir Bescheidenern könnten allenfalls hinzusetzen: Wo wäre aber das Menschengeschlecht überhaupt hergekommen, wenn der Vater aller so gedacht hätte?

277


[419] [169]WENN sich ein Staatsmann gedrungen fühlt, mit den Kaufleuten zum Besten des Staats über Handelssachen zu beratschlagen, [169] so kann er wohl, wenn er fein genug ist, erfahren, was das Beste der Kaufleute, aber wahrlich nicht, was das Beste des Staats ist. Die Welt oder der Staat eines jeden derselben sind sein Kontor und seine Bücher oder die Bilanz, die aus denselben herausspringt; und diese bestimmen seine Urteile über das Beste des Staats. Wie soll ein so beschäftigter Mann auf ein abstraktes Ganze sehen, da er sich ein viel näheres, kläreres versinnlicht hat? Aus ebendiesem Grunde ist der Kaufmannsstand der einzige Staat (ich sage vorsätzlich nicht Stand) im Staate, von dem für die Ruhe nichts zu fürchten ist. Der Kaufmann haßt alle politischen Revolutionen, die Hoffnung, zu gewinnen, und die Furcht, zu verlieren, machen feig und klug, überdem läßt sich aus allem Schlimmen und Bösen, das in dem Staate hervortritt, etwas machen, nur daraus nichts. Der Tempel dieses Staats ist die Börse, dort herrscht ein Götze, der alles zum Besten seiner Gläubigen einzurichten weiß, wenn man ihm nur ein wenig Zeit dazu läßt, und den Wert dieser Geduld lehrt jeden die Erfahrung. Schlechter und guter Wert des Geldes, Verbot und Freiheit der Einfuhr, niedriger oder hoher Tarif, Mißwachs, Mangel, Hunger, Überfluß, Krieg, Verschwendung oder Knickerei der Regierenden, Schulden, Kredit, alles Gewöhnliche oder Zufällige lenkt er zum Besten seiner Gläubigen; und sie verdienen es, da sie volles Vertrauen zu ihm haben und seine Gebote so treu beobachten, daß sie keins derselben außer acht lassen.

278


[170] [472]DIE plattesten deutschen Schauspielschreiber haben wirklich einige der wahrsten und natürlichsten Komödien geschrieben, weil sie sich nie über sich selbst erhoben und ein Ideal weder erträumen noch erreichen konnten. Aus ebendiesem Grunde haben die biblischen Geschichtsschreiber die Taten, Handlungen [472] und Gesinnungen ihrer Helden, Staatsleute, Priester, Gesetzgeber und Propheten so wahr, natürlich und ohne alle Verzierung aufgezeichnet und uns in ihren Werken ein zwar trauriges, aber untrügliches Maß ihrer eignen Moralität als Erbstück hinterlassen. Diese Männer standen mit ihren Helden in vollkommner Harmonie der Bildung. Man vergleiche mit ihnen nur die Geschichtschreiber alter und neuer Völker, die man meistens erst von dem rednerischen, dichterischen Schmuck, der höhere, edlere Ausbildung voraussetzt, entkleiden muß, wenn man hinter das Wahre kommen will. Das jüdische Volk scheint gar keinen Sinn für das Höhere im Menschen gehabt zu haben, es scheint ihm sogar noch heute, vermöge seiner Satzungen und des alten Rosts, daran zu fehlen. Freilich liefern seine Geschichtschreiber ebendarum ein so niederschlagend wahres Bruchstück zur Geschichte der Menschheit; und wer so plump wahr ist, den wird man wegen der Erdichtungsgabe nicht in Verdacht haben. Wenn sich obengenannte Schauspielschreiber über ihre Mittelmäßigkeit erheben, so zeichnen sie doch noch Karikaturen, aber auch so weit brachten es die Heiligen nicht. Ihre Gemälde sind mit groben, festgehaltnen Zügen hingeworfen, erregen meistens nur Schauder; und hat ihnen auch der heilige Geist ihre Schriften nicht eingeblasen, so war es doch der Geist der rohen Wahrheit, der immer auf der Erde lebte, sich nie über sie erhob, Gott selbst zu sich herunterzog und in die rauhe Menschheit einhüllte. Wenn er aufflatterte, so geschah es in ebendem Sinn, wie seine dichterischen Bilder beweisen. Die Hauptursache scheint gewesen zu sein, daß dieses Volk den Menschen noch nicht durch die Spekulation in zwei Teile zerschnitten hatte und das Intellektuelle gar nicht ahndete. Dieses bezeichnete es mit dem Worte »Atem«. Die Griechen erst erschufen die schöne Bedeutung desselben und legten dadurch den Grund zur edlern Ausbildung des Menschen. Außerdem wuchs dieses Volk unter Sklaverei empor, und sein erster Gesetzgeber ließ sich vorzüglich angelegen sein, es durch harte, alle Geisteskräfte niederdrückende Satzungen recht förmlich und priesterlich an die Erde und den [473] Himmel zur ewigen Sklaverei zu fesseln. Ob es despotischer Sinn gewesen sei, der ihn dazu bestimmte, ob er nichts Besseres kannte und ahndete oder ob er die aus Ägypten verjagten Sklaven nichts Bessern wert und fähig hielt, ist schwerer zu entscheiden als das Obige.

279


[474] [215]ICH habe bemerkt, daß den Hof- und Staatsmännern und manchen Regenten selbst, wenn man sich mit ihnen über eine Sache oder einen Vorfall, es mag die Politik, Ökonomie oder Polizei betreffen, zu unterhalten Gelegenheit hat oder sich mit ihnen darüber unterhalten muß, immer das Gemeinste, Einfachste als das Neueste und Fremdeste vorkommt, ja daß es sie oft so in Erstaunen setzt, so überrascht, als hätten sie von so etwas nie [215] reden hören. Sie denken alle so sehr ins Große oder glauben so sehr darauf zu denken, daß sie ganz aus den Augen verlieren, das Große werde nur vom Kleinen, Einfachen und Gemeinen zusammengesetzt.

Vom Hofe selbst scheint das Kleine und Gemeine ganz ausgeschlossen zu sein; denn vor dem Regenten will jeder groß, tief und weitsehend erscheinen, und um das zu können, stellt man so viele glänzende Resultate auf, als man zusammenzusetzen vermag. Gegen das Kleine, Gemeine und Einfache zu nah gehalten, würde das Leere gar zu sichtbar werden; doch jeder weiß ja, daß man da gern mit einem großen Maßstab mißt, daß nirgends die Göttin Hoffnung feurigere Anbeter findet als eben da, wo sie am wenigsten leistet.

Wenn ich aber sage, daß das Gemeine und Einfache dort so neu und fremd sei, so sage ich nicht, daß das Alltägliche fehle; daran ist man so reich wie in jedem andern glänzenden Zirkel, und nur dadurch ruht man von dem Großen aus.

Und wißt ihr, wer sich bei so etwas am meisten fremd stellt? Der Aufschößling des Glücks, der Parvenu, der nicht mehr rückwärts sehen will und der für uns durch seine hohen Ansichten recht auf die Tiefe deutet, aus der er emporgesprungen ist.

280


[216] [104]ALS Prometheus den Menschen schuf, bildete er sehr sorgfältig dessen Gehirn aus zähem Stoffe, damit er nichts vergäße und ihm alles Erlernte, alles Empfundne, Gedachte, Vorgestellte und Erfahrne auf immer in lebhafter und gegenwärtiger Erinnerung bliebe. So ausgerüstet, meinte er, würde der Mensch an Kenntnis, Glück und Genuß den Göttern selber gleichen. Jupiter, der besser wußte, was den jungen Erdensohn erwartete, und in diesem Umstand allein die gänzliche Auflösung unsers Geschlechts vorhersah, befeuchtete das Zähe seines Gehirns mit ein wenig Wasser aus dem Lethe, sagte dann: »Gehe hin, genieße, lerne, leide und vergiß! Mit dieser Wohltat nur hab' ich dich zur Dauer ausgerüstet.« Als nun später Pandora ihre Büchse öffnete und die Hoffnung dem jungen Geschlechte sich zugesellte, sagte Jupiter lächelnd: »Laßt ab von ihm, ihr Götter! Das Joch der Notwendigkeit ist nun für die Ewigkeit sanft umwunden; das Vergessen und die Hoffnung werden den Stier durch die Furchen des Lebens und ohne unser Zutun leiten.«

281


[104] [95]WIE ungerecht die wechselseitigen Vorwürfe der Menschen sind, beweisen unter andern auch die Klagen der Staatsleute, der Philosophen, der Dichter und sogar der Theologen über die Schwärmerei. Sie vergessen, daß ebendiese Quelle auch die Quelle ihres eignen Vermögens ist, daß sie ohne Einbildungskraft – ihre Schöpferin! – weder Plane zu[r] Zerstörung der Erde und dadurch ihres Ruhms, noch Systeme, Gedichte und Auslegungen der Bibel, besonders der Propheten, erschaffen konnten. Ach, sie vergessen, daß wir alle, im Guten selbst, ohne Schwärmerei sehr arme Wichte wären. Die Geschichte des politischen und moralischen Menschen wäre gewiß ohne sie das allererbärmlichlangweiligste [95] Ding von der Welt. Nur wenn ein Schwärmer auftritt, welcher Art und welches Sinnes er auch sei, erhebt sie sich über den Zeitungston; dann nur springen Kraft, Leben und Helldunkel hervor; dann nahen Geister unserm Geiste.

282


[96] [344]DAS Geistige im Menschen scheint beinahe nicht ganz, nicht recht ausgebildet werden zu können, ohne daß das Physische etwas erkranke. Das, was wir höhere, feinere Kultur nennen, muß unsre rohe Muskelkraft erst schwächen, unsre starken Nerven für die Eindrücke empfindlicher, reizbarer, das heißt kränker, krampfhafter machen. Dadurch, möchte man sagen, werden sie nur fähig, dem Geist oder Verstande zu dienen, wie er es zu seinen verwickelten Wirkungen gebraucht. Man könnte demnach in einem ziemlich bestimmten Sinne sagen: Die Physisch-Kranken, die Physisch-Schwachen leiten und regieren die Gesunden, Kräftigen und weniger Kultivierten – in den europäischen Staaten wenigstens. Ich will damit eben nicht sagen, daß die uns leitenden und beherrschenden Männer ganz krank seien oder zu Bette lägen; ich meine nur, daß sie an physischer Kraft verlieren mußten, was sie an geistiger gewannen und in diesem Verhältnis gegen das kräftige Volk stehen. So kann also alle höhere Kultur bloß auf Kosten der physischen Kräfte hervorgebracht werden; und verlöre der Haufen durch ebendiese Kultur, so unbedeutend sie auch sei, nicht etwas von den seinigen, so würden sie wahrscheinlich allzu kräftig für ihre Leiter sein, und kein Staat würde sich so zum Verträglichen von beiden Seiten ausgerundet haben, wie wir es in dem erleuchteten Europa wirklich sehen. Noch weniger könnte er bestehen. Wenn also ein Staatsmann, ein Held, Philosoph, Dichter, Gelehrter oder Künstler physisch[344] schwache Kinder zeugt, so hat er den Gezeugten schon voraus gebildet, und der Hofmeister oder Lehrer hat gar nicht nötig, den störrischen, steifen, der Arbeit des Geistes widerstrebenden Muskeln und Nerven entgegenzuarbeiten und die bäurische, tölpelhafte Natur durch Zwangs- und Schulmittel zugrunde zu richten, um die Nerven reizbarer zu machen. Ich halte demnach die neue Erziehungsmethode, wodurch man den Körper zu stärken sucht, für denjenigen ganz zweckwidrig, der durch Geist und Verstand wirken und herrschen soll. Rousseau ist an dieser Ketzerei schuld; aber bedenkt doch, wie sein Emil fahren würde, wenn er unter uns aufträte! Und dann sollte sein Emil kein Glück machen – und alle eure Emile sind nur dafür da. Also auf die kränkliche Reizbarkeit losgearbeitet! Sie nur bewirkt am zuverlässigsten, daß solche Leute nicht allein fähiger zu Staatsgeschäften und zu allem werden, was durch den Verstand erreicht wird, sondern daß sie auch in früher Zeit alles verlieren, was manchen gar zu Kräftigen hindern würde, sein Glück zu machen. Dahin rechne ich besonders die warme Teilnahme an dem Schicksal anderer, die aus physischer Kraft entspringt, weil diese wirklich dazu gehört, um für andere etwas zu wagen – kurz: das, was rohere Menschen Herzen nennen. Dieses kleine Ding, das manchen das Rad der moralischen Welt ist, vielen nur ein Muskel, der durch seine Kraft das Blut bewegt, das sich so leicht ausspricht und so schwer zu definieren ist, weil es höher steigt und tiefer sinkt, als wir messen und ergründen können, lernt durch die immer steigende Kultur, durch die immer neue Erfahrung, durch die Anerkennung wichtiger Lebenspflichten alles Rauhe, Holprigte, die gefährlichsten Abgründe, kurz: alles, was den Geist oder Verstand hindern könnte, bei der steten Übung so leicht und sicher überspringen, daß es am Ende der Ermahnung des Besitzers dazu gar nicht mehr bedarf. Es ist alsdann dem hell kultivierten Kranken so ergeben, daß es nur das annimmt, was auf ihn Bezug hat, daß es nur für ihn leidet, nur für ihn fürchtet. Könntet ihr einem solchen Manne die Brust öffnen, so würdet ihr vielleicht finden, daß sich das weiche, [345] warme Ding durch eine langdauernde moralische Operation in einen hellen, kalten Solitär umgewandelt hat, unter dem das Porträt des Besitzers euch freundlich anlächelt. Wenn man vor solchen Männern redet, muß man edle Vergleichungen wählen – sonst hätt' ich Kiesel gesagt; aber die Kiesel sind nicht durchsichtig, und viele glauben auch, der Diamant entwickle sich aus ihm. Ist nun unser Mann so weit, so richtet sich erst recht sein Blick aufs Große, und nichts hemmt mehr dessen Ausdehnung: es müßte denn sein, daß er nun in der Ausübung der Kultur seines Geistes so weit ginge, daß die physisch gesunden, rohen Erdensöhne erwachten und sich genötigt sähen, ihm einige ganz unvermutete Hindernisse in den sichern Weg zu werfen. Freilich gibt es Staatsleute und auch Gelehrte, die gerade so handeln, als sei ihnen von der physischen Kraft und dem obigen sonderbaren Dinge in unsrer Brust etwas übrig geblieben; aber fragt sie nur, was sie für einen Kampf mit denen auszufechten haben, die für andre ganz Geist geworden und bloß für sich Körper geblieben sind.

Wer dieses als Ironie liest, der kennt mich nicht, der liest nicht in dem Tone, in dem ich schreibe.

Ach, ich bin jetzt so weit von aller Ironie entfernt, daß ich vielmehr in allem Ernst die Apologie dieser Männer zu machen suche. Kann ich es besser tun, als wenn ich den Unvernünftigen ihre Undankbarkeit recht deutlich zeige? Wahrlich, wir müssen diese edeln Männer als Leute ansehen, die sich für uns dem Allgemeinen aufopfern. Entsagen sie nicht dadurch, daß sie ihr Physisches zum Besten des Geistigen durch Anstrengung aufreiben, allen Genüssen, die doch wahrlich nicht zu verachten sind? Wenn die Undankbaren sähen, wie diese Männer verdauen, wie sie ihre Weiber und Mätressen in dem geltenden Augenblick umarmen, wie Krämpfe, Gicht, Podagra sie plagen, wie sie, was rohere Sterbliche mit voller Kraft und Stärke genießen, der Natur durch Erkünstelungen diebisch rauben müssen, sie würden sie bedauern und nur sich für glücklich halten. Und gesetzt nun, es beherrschten euch Herkule im Physischen, [346] wie viele der Unsern es im Geistigen sind, glaubt ihr, ihr würdet besser fahren? Jetzt beherrschen euch unsre Herkule mit ihrer geistigen Kraft, die sie euch aus guten Ursachen gar nicht wünschen, noch weniger von euch fordern. Macht sie noch zu physischen Herkulen, und weh euch, wenn ihr die fünfzig Helden – und Wundertaten des Sohns Alkmenens und Jupiters nicht tagtäglich ausführt!

283


[347] [333]JE älter wir werden, je fester, hartnäckiger halten wir auf unsern Meinungen, Maximen, Gewohnheiten, überhaupt unsrer ganzen Denk- und Lebensart. Sie verknöchern sich sozusagen mit uns und werden dann erst recht unser wohl erworbenes, tapfer erstrittenes Eigentum. Bald sehen wir es auch als das einzige an, das wir noch wahrhaft besitzen, das uns niemand mehr rauben kann.

Das ist ja etwas ganz Gemeines, ganz Bekanntes! Nun, Glück dem, der dies Eigentum im rechten Sinn besitzt, der Kraft genug hat, an diesem festen Stabe bis ins Grab zu wandern! Nicht alles hat für ihn ausgeblüht; sitzt er nicht mitten unter den von ihm selbst gepflanzten Bäumen, die ihm jetzt reife, stärkende, erfrischende Früchte tragen?

284


MAN wirft oft Männern von Energie und Charakter vor, daß ihr Ton in der Gesellschaft zu entscheidend, zu absprechend sei; das heißt, man will, sie sollen als Männer handeln und wie Weiber reden. Sie gießen in Bronze; bringt ihnen eure zarten Wachsfiguren nicht zu nah!

285


[333] [371]SELBST die Neugierde des Allergleichgültigsten wird aufgeregt, wenn man in Gesellschaft faßlich von der Himmelskunde spricht.

[371] Wahrscheinlich mischt sich das dunkle Gefühl hinein, etwas von dem Lande zu erfahren, von dem man uns sagt, daß wir nur eine Ewigkeit dort leben würden.

286


[372] [20]SCHMEICHELEI, die sich auf etwas gründet, dessen Besitz wir uns wirklich bewußt sind, wenn auch nicht in so hohem Grade, als uns der Schmeichler zu verstehen gibt, ist für gemeine Menschen ein Konfekt-Nachtisch, um sie die schlechte Küche des Lebens ein wenig vergessen zu machen; für edlere ein Nektar, der ebenso geistig wirkt wie dieser berühmte Göttertrank. Nur wenn man zu unmäßig von diesem Konfekt ißt oder, um immer zu schlürfen, dem gar nachläuft, der den Nektar darreicht, verdirbt jenes den Magen, und dieser wird zu schlechtem Branntwein. Mit Mäßigkeit gebraucht ist die Schmeichelei wirklich für manchen ein nützliches Hilfsmittel zum Leben, wenn sie nicht gar einer der vielen Hebel desselben ist. Eine Dame oder ein Autor, die sich hinsetzten und sagten: »Hier sitzen wir vor euch, schmeichelt uns nur!«, würden zwar etwas Naives, aber gar nichts Dummes sagen. Sie sieht Götterkost vor sich, will ihr Dasein wollüstig glühend in allen ihren Adern, Nerven, Fibern, in den gröbsten Gliedmaßen fühlen; er will seinem zusammengedrängten Ich Expansion verschaffen und es bis in das kürzeste Haar seines Haupts empfinden. Ist das nicht so natürlich als [20] verzeihlich? Was eine Dame übrigens noch dabei fühlt, ist so wenig auszudrücken als die Wonne des sechsten Sinnes.

Ein Mann nun, der durchaus keine Schmeichelei anhören und ertragen könnte – von welcher Art, welchem Stande er auch sei –, an dessen Widerwillen gegen diese Götterkost man so wenig zweifelte, daß man ihm auch nicht die allerfernste, allerfeinste zu sagen wagte, würde zwar in der Tat ein sehr seltner Mann, aber ein sehr lästiger, langweiliger Gesellschafter sein. Glücklicherweise ist es nicht dieser Fehler, der die Leute zu schlechten Gesellschaftern macht. Keiner ist und lebt ohne Schmeichler, und wenn auch einen Sterblichen dieses allersonderbarste und härteste Schicksal je treffen sollte, so hoff' ich doch, er soll einen Schmeichler in sich selbst finden. Vielleicht ist eben darum mein Mann, der gar keine Schmeichelei ertragen kann, der größte, stolzeste Schmeichler seines eignen Selbsts. In der Seltenheit läge doch auch Genuß.

Brauch' ich nun hinzuzusetzen, daß ich nicht von jener Schmeichelei rede, womit Glücksjäger, Parasiten, Poeten, Hofleute, fade Bursche, leere Köpfe die reichen Dunse, die vornehmen Beschützer, die Günstlinge, die mittelmäßigen Regenten, die jungen Koketten und die alten reichen Witwen vergiften? Ich rede weder von dem recht groben Gifte, dem Rauchpulver von Asa foetida, noch von dem gefährlichen schleichenden Gifte, das langsam tötet, sondern von einem süßen, wohlschmeckenden, das der Verkehr des Lebens durch eine weltbekannte Operation zu einer Art von Kühlungs–, Erholungs–, Linderungs- und Stärkungsmittel verarbeitet hat und wobei sich die Genießenden so wohlbefinden, daß sie sich dasselbe in aller Unschuld einer dem andern darreichen.

287


[21] [419]DA es noch kein Volk gegeben hat und wohl auch nie eins geben wird, bei dem Tugend, Religion, gute Sitten durchaus geherrscht und sein Tun bestimmt hätten, so konnte es auch nicht anders geschehen, als daß die Gesetzgeber sich vergriffen oder wenigstens etwas Vergebliches, Unausführbares taten, wenn sie diese wichtigen Dinge gerade als Zweck und nicht als Mittel zum Zweck aufstellten. Das allgemeine Nützliche allein kann und [419] muß der Zweck der Gesetze für Menschen sein. Die nötige Anwendung und Ausübung dieses Grundsatzes ist allen faßlich und gründet jedes Dasein auf einen festen Boden. Jene höhern Dinge gesellen sich den Arbeitenden zu und beleben ihren Mut. Hier ist Raum für Geister niedrer und edler Art. Und aus diesem so unreinen Boden, den die erhabenen Moralisten und Gesetzgeber zu betreten verabscheuen, entspringt die Quelle aller der Tugenden, die sich in der Bemühung zur Erreichung dieses Zwecks in der Gesellschaft praktisch entwickeln: sie treten uns sogar so nahe, daß wir wirklich vertrauter mit ihnen werden als jene erhabenen Herren, die sie so glänzend ausgeschmückt haben, daß sie mehr blenden als erwärmen.

288


[420] [60]DIE Schlechtigkeit und Bosheit hätten gewonnenes Spiel, wenn die Philosophen den Grundsatz nicht unerschütterlich aufgestellt und bewiesen hätten: daß nur der Beweggrund den Wert der Handlung bestimme. Ohne diesen Grundsatz würde ein Mann, der tätig in der Welt gelebt und viel auf Menschen und durch Menschen gewirkt hat, oft in Verzweiflung über die Resultate vieler seiner bestgedachten und am reinsten empfundenen Handlungen sein. Das Wirken in der moralischen wie in der physischen Welt ist mit Verletzung verbunden. So wie der Gärtner, [60] der einen Baum veredeln will, den edlern Ast verwunden muß, um ein Auge zu gewinnen, so kann keiner – der strengste in seinen Pflichten am wenigsten – auf den Stamm der Gesellschaft eine gute Tat verpflanzen, ohne einen oder den andern, vielleicht selbst den Unschuldigsten, zu verletzen. Glücklich ist er noch, wenn es bei einer Verletzung bleibt. Ja, wenn ein solcher Mann, vielleicht bei seiner besten und wichtigsten Handlung, die Wirkung auf alle diejenigen, die dadurch gewannen und verloren, mit einem Blick übersähe, ich glaube, die scheußlichen Erscheinungen, die sich unter die lieblichen drängten, könnten ihn bei der zweiten wichtigen so schüchtern machen, daß sein Bewußtsein selbst erschüttert würde. Das übrige beantwortet der, welcher für alles eine Antwort hat: der Optimist.

289


WER edel, uneigennützig, großmütig denkt, ist überall frei, wer niederträchtig, eigennützig, kriechend denkt, ist überall Sklave. Der Mann, der sich in seinem Innern selbst konstituiert hat, hängt nicht mehr von der äußern Form ab; er steht auf seiner eignen Magna Charta, die ihm keine Macht auf Erden nehmen kann.

290


[61] [493]ES gibt Bücher, die ein welterfahrner Mann nicht anders lesen kann, als wenn er das Ernsthafte ironisch und das Ironische ernsthaft liest. Man kann auf diese Weise sogar einem Buche Sinn anlesen, in dem keiner ist.

Ebenso kann man aus einem Trauerspiel gewisser Art etwas machen, wenn man es komisch liest.

291


[493] [445]WAHR ist, wenn die Völker Europas mit ihren Sprachen erlöschten wie die Griechen und Römer, und die künftigen neuen [445] Völker studierten ihre übriggebliebnen Schriften wie wir die der Griechen und Römer, sie würden nur aus der Sprache erraten, zu welchem besondern Volke diese Schriftsteller eigentlich gehörten. Die Griechen und Römer haben einen bestimmten, festen Nationalcharakter in ihren Geistesprodukten, der durch ihre eigne und die politische Lage der damaligen Welt, durch ihre Verachtung und Geringschätzung aller andern Völker, mit denen sie durch den Geist und höhern Sinn nicht in Verbindung treten konnten, zusammengehalten ward. Heute ist es anders:

Alle kultivierte[n] Völker arbeiten – im Verhältnis der Stufen, worauf sie stehen – in gleichem Geiste am nämlichen Werke, und nur ein einziges kosmopolitisches Band scheint die ganze Geisterwelt zu umfassen. Die begrenzte Republik, die alles Fremde von sich stieß, ist ein allgemeines Reich geworden. Kein Wunder also, daß die Bewohner desselben einander ähneln.

So macht man uns auch den Vorwurf, daß unser neueres Theater, unsre Literatur, unser Geschmack, unsre Sitten fast gar nichts Nationales an sich trügen, daß sie ein Mischmasch von Gebräuchen, Gesinnungen und Charakteren aller Völker der Erde seien, daß uns unsre Dichter, Romanenschreiber bald Chinesen, Araber, Tatar[e]n, Römer, Griechen, die ganze alte und neue Welt vorführten und alles malten, nur uns selbst nicht, weil wir nicht so leicht zu bezeichnen wären. Diesem Vorwurf Gewicht zu geben, deutet man auf das Theater der Griechen hin. Der Grieche war nur Grieche; der Handel, der große Verkehr, die Wissenschaften, die Erweiterung der Erde, die Nachbarschaft ausgebildeter, beinahe in eine Form gegossener Reiche machten uns zu Menschen, und zu Menschen, die sich nicht allein auf Erden weise und klug dünken. Unser Nachbar ist uns etwas wert, und auch wir wollen ihm etwas wert sein. Der Grieche dachte sich als Mittelpunkt der kultivierten Welt, und seine nächsten Nachbarn, die Thrazier, Skythen diesseits und die Juden jenseits des Meers waren wahrlich nicht die Leute, ihn eines Bessern zu belehren. So dachte er von allen Völkern, wie er von seinen Sklaven dachte, die er [446] im Kriege erbeutet oder auf dem Markte gekauft hatte: von beiden meinte er, sie hätten nur den Herrn gewechselt.

292


[447] [420]WIE viele wahrhaft tugendhafte und rechtschaffene Männer würden wohl übrigbleiben, wenn einer die unglückliche Gabe oder die unselige Gewalt dazu hätte, auf einmal, durch einen einzigen Machtspruch, die von ihnen zu trennen und allein gegen sie über zu stellen, welche nur aus Klugheit und Furcht tugendhaft und rechtschaffen und, durch Egoismus gebildet, so geschickte Rechenmeister geworden sind, daß sie in aller Stille, bei jedem Vorfall, in der größten Geschwindigkeit das Fazit von Gewinn und Verlust herausziehen und sich nur darnach einrichten? Die Moral sei nicht allzu strenge und hüte sich, sie »gar zu laut« zu verdammen. Ohne jene würde die Zahl ihrer ganz Getreuen gar zu klein sein; sie vermehren den Haufen, und darauf kommt es im Kriege an. Im Augenblicke der Gefahr zieht der Tapfere den Feigen mit sich fort, teilt ihm manchmal sogar etwas von seinem Mute mit, besonders wenn es vorwärtsgeht.

293


[420] [184]EBENDIE Delikatesse oder der feine, zu gekünstelte zarte Geschmack der Staats-, Hof-, Weltleute usw., worauf sie sich als einen Erwerb, einen Vorzug ihres höhern Standes oder ihrer Erhabenheit über die rohern Söhne der Erde so viel zugute tun, ist auch nur eine Krankheit, die aus geschwächten, zu reizbaren, zu allem kräftigen Genuß verhunzten Nerven entspringt. Wenn sie kräftiger genießen könnten, so würden sie nicht Ersatz dafür in Intrigen, Kabalen, in dem trugvollen, täuschenden Gaukelspiel [184] des falschen Ehrgeizes, in dem leeren Schattenspiel der Eitelkeit allein suchen und ihn auch darin zu finden glauben. Ihr rastloser, krampfigter Drang, ihr abgenutztes Schattenwesen durch damit verwandte Erscheinungen immer bedeutender zu machen, beweist ja, daß sie das wahre Leben für eine elende Spiegelfechterei hingegeben haben. Da sie nun zum wahren moralischen und physischen Genuß keine Kraft mehr haben, so bleibt ihnen nichts mehr übrig, als sich durch erkünstelte Lust selbst zu genießen und dann, wie ein hingewelkter Narziß, im Genuß ihres Selbsts auszutrocknen. Es ist so gewöhnlich als erbärmlich, sogar fähige, geistreiche und liebenswürdige Männer zu sehen, denen der langsam schleichende und immer nagende Kabinetts- und Hofstod schon alles Mark so ausgezogen hat, daß der Anblick ihrer Gestalt das Leben selbst zum Ekel macht, und die gleichwohl die letzten Zuckungen ihrer schon beinahe erstarrten Nerven anwenden, um sich auf dem Platze zu erhalten, auf dem sie kaum mehr stehen können, oder gar noch vor dem erlösenden Schritt ins Grab den letzten über einen Nebenbuhler wagen, um die Natur bis ans Ende um ihr Recht an sie zu betrügen, und nur so als Sieger zu sterben glauben. So wie man nun jungen Leuten, um sie vor den traurigen Folgen der Selbstbefleckung zu schrecken, Jünglinge ihres Alters zeigt, die sich dadurch zugrunde gerichtet und nun mit erloschenen Augen, todbleichem Gesichte und ausgetrockneten Wangen, den Schatten gleich, einherschleichen, so sollte man jungen Männern von Stande die wandelnden Gespenster der Ehr- und Herrschsucht zeigen und ihnen dabei ins Ohr raunen: »Für jene gibt's vielleicht noch Rettung durch stärkende Mittel, kalte Bäder und Enthaltsamkeit; aber für diese gibt es keine andre Diät als die, welche die endliche Vernichtung uns allen vorgeschrieben hat.«

294


DER kränkste Hofmann wird an einem Hoffeste gesund, wenn er in Gunst steht. Migräne, Husten, stechender Katarrh, die plagende Gicht, die schneidende Kolik selbst verschwindet dann. [185] Das gehoffte freundliche Lächeln des Fürsten ist ein Balsam, der schon wirkt, bevor er noch von den Wangen und aus den Augen des Arztes aller Ärzte für den Hofmann träufelt. Das ist ein Tag der Kraftäußerung, worüber selbst ein Hufschmied oder Ackerknecht erstaunen würde, wenn er den Mann abends vorher und dann den folgenden Tag im glücklichen, glänzenden Gewühl sehen könnte. Er beugt sich trotz dem Skiatik, und sein steifer Rücken wird ein Seidenfaden, mit dem der Wind spielt, wenn der Fürst ihn anredet; den Husten selbst vermag er in der Brust zurückzuhalten, und sollte auch der stechende, zähe Schleim bei der Rückkehr nach Hause die Lungenflügel so zusammendrücken, daß ein unheilbares Asthma der Lohn des glücklichen Tages würde.

295


[186] [333]DER Biedermann, der es nun einmal darauf angelegt hat, sich mit den Schurken herumzuschlagen, vergesse ja nicht, seinen Harnisch jeden Morgen anzuschnallen; am besten, er legt ihn nie ab; denn auch in der tiefsten Einsamkeit lauert ein sehr gefährlicher Feind auf ihn.

296


[333] [437]DIE Philosophen mögen noch soviel von Seele, Geist und einfachem Wesen schreiben und reden; die Menge, der Haufen, der empirische Pöbel nennt nur sein Herz, wenn er von seinem lebenden und belebenden tätigen Innern spricht, alles andre dünkt ihn Schatten, den er wohl einstens näher kennenlernen wird. Sein Herz ist da; er fühlt es schlagen, fühlt es wirken auf sich und andere; darin liegt sein ganzes Dasein. Nur das Herz ist sein Führer und Meister. Klopft da an, wenn ihr etwas bedürft, und geht den Philosophen vorbei; ihr könnt zugrunde gehen, bevor dieser sich mit Geist, Seele, reiner Vernunft über den Beweggrund zur Tat vertragen hat, die ihr an ihn fordert.

297


WIR handeln, wirken, tun; der Philosoph führt das Register darüber und wägt unser Tun auf der Schale des moralischen Werts ab. Millionen sterben, ohne zu ahnden, daß es solche Leute, solche Wägende gibt, daß sie Muße dazu haben. Sag' ich dieses etwa den Philosophen zum Vorwurf? Kinderei! Sie sollten nur ihren Wirkungskreis nicht für so ausgedehnt halten. Ein Philosoph, ein Professor, der gewaltigen Lärm in den Hörsälen [437] oder im gelehrten Publikum macht, könnte sehr leicht zu der wahren Erkenntnis desselben kommen, wenn er sich in dem höchsten Rausche seines Ruhms plötzlich unter eine große Menge Volks versetzt fände und sein Genius ihm da zulispelte – wenn dieser anders so etwas wagen darf: »Von dieser Menge, die du nicht übersiehst, weiß wohl keiner etwas von dir, folglich hast du auch nicht auf sie gewirkt; und sie sind doch in Ordnung beisammen, handeln gar wie ganz vernünftige Leute.«

298


[438] [133]EIN guter Gesetzgeber müßte ebenso wie ein guter Geschichtsschreiber während seiner wichtigsten aller Geistesarbeiten [133] weder an Religion noch an ein moralisches oder politisches System denken. Er müßte weder Demokrat noch Aristokrat, Monarchist noch Despotist sein; immer nur auf das sehen, was die Menschen suchen: soviel Glück und Genuß als möglich und Sicherheit dazu. Die rechten Mittel zu dem ersten sieht und findet dann jeder. Jedes Gesetz, das dieses befördert, ist ein weises und gutes Gesetz; und selbst die Philosophen, von welchem System, die Religiosen, von welcher Sekte sie seien, sogar die moralischen Politiker, und dächten sie auch platonisch, werden es ihm im stillen herzlich danken, wenn sie es nur laut mißbilligen und das Absurde davon a priori und aus der Bibel dartun dürfen.

299


[134] [475]ES ist seit einiger Zeit Mode und wird wahrscheinlich bald epidemische Wut unter den deutschen Gelehrten werden, in bändereichen oder dickleibigen Lebensbeschreibungen ihrer eignen höchst merkwürdigen Personen hervorzutreten und so dem gutmütigen, geduldigen Publikum gewöhnlich die flachsten, plattesten Menschen in sich selbst nicht vorzumalen – vorzupinseln. Und das recht so, als wollten sie dem Publikum noch in lebendiger Person beweisen, wie wenig wahren Einfluß die Wissenschaften, die sie ihr Leben lang getrieben haben, auf ihren eignen Verstand und die Bildung ihres sittlichen Charakters gehabt haben. Was ist das Leben eines Gelehrten? Wer von ihnen begeht die Narrheit, es zu beschreiben, als der, welcher weiß, daß er in Gefahr ist, noch bei seinem Leben literarisch zu sterben? Das Edelste selbst wird unter den Händen dieser Leute Scharlatanerie. Was kümmert sie das? Es ist ein Buch mehr, das der Verleger dem berühmten Manne bezahlt. Das Publikum erfährt dann für sein Geld, wo der berühmte Mann geboren worden, wer sein Vater gewesen, wo er studiert hat, wieviel Bücher, zu welcher Zeit, in welcher Absicht er sie geschrieben, mit welchen Gelehrten er Zank gehabt, mit welchem Großen oder Reichsfürsten er gesprochen, was er gesprochen. Heißt das nicht, die gute deutsche Einfalt noch einfältiger machen wollen? Hier kann [475] sich niemand freuen als der Herausgeber des Nekrologs, der bei dem seligen Abfahren des großen Mannes das dicke Buch nur auszuziehen braucht, wenn er es nicht schon vorher getan hat. Der Grund meiner Ärgernis über diese Narrheit, da sie doch unschädlich ist? Liegt euch denn gar nichts daran, was die Nachbarn von euch denken? Was sollen die Franzosen von uns sagen, wenn sie die Lebensbeschreibungen unsrer berühmten Männer lesen? Erst brachte der steife Pedantismus unsern Verstand und Geschmack bei ihnen in übeln Ruf; soll diese Narrheit den übeln Ruf verbessern? Der Franzose liest es nicht, weil er Gescheiteres zu lesen hat, und der Deutsche schreibt nur für den Deutschen.

Nun, so schreibt denn euer Leben; wir wissen ja doch, daß ihr nicht gelebt, nur geschrieben habt, daß ihr, weil ihr alles aus euch herausgepreßt, was ihr gelernt habt, nun auch um des Honorariums willen euch in einem Buche als einen Leichnam, der auch schon vermodert ist, bei eurem Grabe hinwerft, eh' ihr selbst hineinfallt.

Aber sind es wirklich Lebensbeschreibungen, die sie uns geben? Enthalten sie die Geschichte der Bildung eines nun über sich nachsinnenden Geistes? Ach nein! Es sind Beichtbekenntnisse, daß sie arme Sünder sind, die sich für große, bedeutende Männer halten. So höre dann, deutsches Publikum! Deine bedeutenden großen Männer tun und wirken und lassen den beschreiben, der nichts anders als dies vermag.

300


[476] [113]DIEJENIGEN, welche behaupten, man müsse den Menschen ihre Vorurteile lassen, sie eher unterhalten als zu vertilgen suchen, entscheiden – wenn sonst keine sträflichen Absichten bei ihrer Behauptung zum Grunde liegen – durch einen kühnen, anmaßenden Machtspruch über die schmeichelhafte Hoffnung einer höhern Veredlung und Vervollkommnung des Menschengeschlechts. Ich erinnere mich wenigstens, daß die gutmeinenden und edeldenkenden Weisen die Vorurteile nicht als Mittel dazu aufgestellt haben. Doch vielleicht ist dieser Satz ein Beweis von der Bescheidenheit derer, die ihn in Umlauf bringen und in Ansehn zu erhalten suchen; sie wollen uns vielleicht damit sagen: »Unsre Kenntnis reicht nicht weiter, als das Menschentier zu beherrschen; seinen Verstand aufzuklären und ihn dann zu leiten, ist zu hoch für uns.« So bringt ein ungeschickter Stallmeister durch unnatürliche Mittel ein Pferd um sein zu starkes Vermögen, weil er es nicht anders bändigen kann. Bequem ist übrigens die Methode ganz gewiß, solange nur die Menschentiere die Vorurteile beibehalten, die ihren Treibern nützlich sind; aber [113] wie, wenn sie auf einmal Vorurteile liebgewännen, die sich mit diesem Treiben nicht vertrügen?

Ebendieser Satz »Man muß den Menschen ihre Vorurteile lassen« hat bei ihren Treibern (ich achte, wie man sieht, das wichtige Wort »Regieren«) Vorurteile ganz sonderbarer Art hervorgebracht. Und ebendiese haben wahrscheinlich das Stillstehende, Ungewisse, Schwankende, Zaghafte, Mentorische gewisser Staatsverwaltungen in den Hauptpunkten für das Volk bewirkt. In der Hauptsache der Staatsverwaltung wirken sie freilich ganz anders. Das sieht man täglich an ihrem kühnen, festen, fortschreitenden Gang; denn in dem ersten Fall erinnern sich die Staatstreiber ihrer Vorurteile in Rücksicht der Vorurteile der Menschentiere, in dem zweiten bauen sie mit Mut und Zuversicht darauf.

301


[114] [96]DIE Poesie und die Hoffnung sind die beglückenden Gefährtinnen der Jugend. Den Duft der ersten haucht auch die Einbildungskraft des Unkultivierten über die äußern Gegenstände und umhüllt sie mit einem glänzenden, täuschenden Nebel. Die zweite, ein noch rascherer Gefährte, führt kühn ins Leben ein und reizt das Gefühl der Kraft. Weltkenntnis und Erfahrung versengen die schöne Blüte der Poesie und treiben die Hoffnung so weit hinter uns, daß wir ihren süßlockenden Ruf kaum mehr hören können. Wir wägen dann unsre gemachten Versuche auf der Waage der Klugheit ab, drängen unser noch zu starkes Gefühl und die etwa übrig gebliebene, noch immer nach außen strebende Kraft zurück, wenden nur so viel an, als nötig ist, und sehen auch alsdann noch ängstlich und besorgt vor uns, um ja nicht aus Verblendung des Eifers die Linie der Gefahr zu betreten. Mancher, dem es so glückt, wird endlich gar so stolz auf diese erworbene Klugheit und Weisheit, daß er nicht allein vergißt, mit welchem Verlust er sie erkauft hat, nein, daß er auch aus Eifer für die Sache des Glücks den Jüngling, der noch begeistert in der Mitte dieser Gefährten wandelt, von seinem gefährlichen Irrtum zu heilen sucht; und rettet sich der glückliche Jüngling nicht schnell, so versengt er ihm die noch keimende Blüte auf dem Haupte. Er glaubt gar nicht, daß er ein Verbrechen an ihm begehen wollte, daß jeder von uns diese Klugheit durch eigene Erfahrung erwerben müsse, daß die Leidenschaften desjenigen, der sie so schnell an der Hand eines andern überspringt, etwas ganz anders, gewiß etwas Schlimmers aus ihm machen würden, als Selbsterfahrung in Begleitung jener Gefährten, die sich nur leise und langsam von uns entfernen, aus ihm gemacht haben würden.

302


[96] [61]WENN ein Mann nun gar zu klug durch Erfahrung geworden ist, so zergliedert er den Grund der moralischen Handlungen der Menschen so lange, bis er so bescheiden wird, alles Wirken für unnötig und verdächtig zu halten; er tut alsdann gerade nur das, was er muß, um zu leben und sich bei Ehre zu erhalten. Der Stolz des Verstandes ist der trüglichste von allen, und wenn die Selbstliebe die Mutter des Egoismus ist, so ist er wahrlich sein Vater. Er löst nicht, er zerreißt die schönen Fäden, womit uns jene Gefährten so leicht gefesselt hielten, die sie an unser Herz knüpften, uns daran durch das Leben zu leiten. Um zerrissen zu werden, waren sie nicht gewebt, nur wenn wir sie leise, schonend lösen, schweben sie noch über uns und trennen sich nie ganz von uns.

303


[61] [311]ES gibt Charaktere, die der Freundschaft ganz unfähig zu sein scheinen; zum Beispiel: die Leichtsinnigen und dann die Tiefspürenden – die Forschenden –,welche man die lauernden Spione oder die Delatoren der moralischen Welt nennen möchte, weil sie etwas ganz anders suchen als ihre und anderer Besserung. Die ersten wissen kaum etwas von ihrem Herzen, die andern haben sich mit ihrem ganzen Selbst in die Mitte des ihrigen gelagert, und schleichen sie auch zuzeiten heraus, so geschieht es, um sich in das Herz andrer zu tauchen, um da Rechtfertigung für das zu fischen, was sie in ihrem eignen entdeckt haben.

304


WARUM ich so wenig oder gar nicht von der Freundschaft rede? Weil ich nicht gern von gar zu seltnen Dingen spreche. Die Geschichte erzählt uns wirklich sehr interessante Beispiele solcher seltnen Freundschaften von einigen jungen unverheirateten Leuten; in der Gesellschaft aber hab' ich nichts davon bemerkt, und wahrscheinlich verträgt sie sich auch nicht mit ihr. Die gemeine alltägliche Freundschaft kennt ohnedies jeder. Aber etwas möcht' ich doch über diese alltägliche sagen; Gewisse sehr kultivierte Leute fordern vielleicht darum die Freundschaft in recht hohem Sinne von den Menschen, um einen Vorwand zu haben, die alltägliche nicht zu leisten, und so leugnen sie diese lieber ganz, weil keiner jene für sie haben will und kann. Sie vergessen oder [311] ahnden nicht, daß ebendiese alltägliche Freundschaft die recht wohltätige für die Gesellschaft ist. Sie wissen nicht, daß wir dieser gemeinen Freundschaft noch den einzigen wahrhaften Herzensgenuß in dieser Welt verdanken, daß wir nur noch durch sie mit Wesen unsersgleichen in moralischer Verbindung stehen, daß es ohne sie kaum noch eine solche unter uns gäbe. Sie wissen ferner nicht, daß wir minder kultivierte [n] Leute, wenn uns auch zuzeiten einige Zweifel darüber aufgezwungen werden, doch in dem Augenblick an die Freundschaft glauben, in dem der Mann, mit dem wir immer herzlich gesprochen, vor uns tritt, uns freundlich anredet oder die Hand mit einem Blick der Empfindung darreicht.

305


[312] [122]DASS die Griechen schon den rechten Soldatengeist gekannt haben, beweist ein Vers des Euripides aus den Fragmenten desselben; er lautet: »Das Pferd trägt mich, und der König nährt mich!« Diese wenigen Worte sind so sinnvoll, daß sie den heutigen Stratokratien zum Grundtext dienen und immer dienen können, solange anders benannte Staatsverfassungen auf dieser ruhen. Wer aber das alles nährt, wußte man schon damals auszulassen.

306
[122][148]
DER FÜRST: Sie sind also der Mann, dem ich nichts recht machen kann?
DER PHILOSOPH: Mir, Eure***, mir macht man alles recht.
DER FÜRST: ... der gleichwohl alles tadelt, über alles klagt ...

DER PHILOSOPH: Das einzige, was uns übrig bleibt. Nur die Toten schweigen; die Lebenden, wenn sie fürchten müssen, für das Reden jenen vor der natürlichen Zeit Gesellschaft zu leisten.

DER FÜRST: ... der alles besser weiß ...
DER PHILOSOPH: ... der vieles besser wünscht, als er es sieht.
DER FÜRST: ... der sich einen Philosophen nennt und nennen läßt ...

DER PHILOSOPH: Wenn das den Philosophen macht, über das zu denken, was um uns vorgeht, über die zu denken, die es bewirken und veranlassen, so bin ich freilich einer.

DER FÜRST: ... und gar ein spekulativer!

DER PHILOSOPH: Leider nur ein beobachtender; denn wäre ich, was Eure*** zu sagen belieben, so stände ich gewiß nicht vor Ihnen.

DER FÜRST: Warum nicht?

DER PHILOSOPH: Weil der Herr des Weltalls von den ältesten Zeiten her den Philosophen den tollsten Unsinn, die wildesten Träume, ja selbst die kühnsten Lästerungen hingehen [148] ließ, die sie über seine Schöpfung und Regierung zusammengetragen haben. Ganz anders betragen sich die Fürsten, welche sich als Herren der Erde von ihm uns vorgesetzt glauben: Gern überlassen sie uns Raum, Zeit, Unendlichkeit, alle Höhen und Tiefen des menschlichen Forschens, ja Gott selbst; nur wage es keiner, das zu berühren, was auf sie Bezug hat, was sie Regieren nennen.

DER FÜRST: Und davon will vermutlich der Philosoph den Grund nicht einsehen, weil er gar zu natürlich ist? Was sind vor Gott der Unsinn und die Lästerungen der Philosophen der alten und neuen Zeit? Konnten sie den fest bestimmten, unerschütterlichen Gang seiner allmächtigen Herrschaft stören? Ganz anders ist es mit unsrer künstlich zusammengesetzten, abhängigen Herrschaft. Hier schadet die Vermessenheit; hier kann jeder kühne Angriff, jede scheinbare Vernünftelei, aufs Möglichbessere gegründet, die heilsame Eintracht stören. Und gesetzt auch, die Worte eines solchen Waghalses zerschellten an der festgegründeten Macht, so kann sich doch leicht der Waghals das Haupt daran verwunden. Und darum können wir, denen aufgetragen ist, für alle zu wachen und zu sorgen, selbst den Philosophen nicht aus der Acht lassen. Zwiefach ist er verbunden, sich nach dem Bedürfnis der Gesellschaft einzurichten, damit wir ihn ruhig darin können leben lassen. Und darum tut er ganz wohl daran, wenn er mit den Theologen glaubt, wir seien von Gott zu Herrschern auf Erden eingesetzt. So löst er mit einem Streich der verworrenen Knoten viele auf.

DER PHILOSOPH: Es ist nicht das einzige, vielleicht beiden Teilen schädliche Vorurteil, welches die Theologen ersonnen haben, weil sie mehr Priester als Theologen waren. Man weiß, warum sie es taten.

DER FÜRST: Vorurteil!
DER PHILOSOPH: Wär' es etwa keines?

DER FÜRST: Ein den Menschen nützliches Vorurteil entschuldigt sich durch die Vorteile, die es gewährt ...

[149]

DER PHILOSOPH: ... die es den Herren der Erde zu gewähren scheint oder gewährt, solange man daran glaubt, das sich dann wie jedes Vorurteil dieser Art rächt, wenn es nicht mehr wirkt. Ganz gewiß! Zu weit ausgesponnen könnte oft gar als Lästerung erscheinen. Und wie – der Gedanke? Was soll der Mensch von der Vorsehung denken, die solche Herrscher bestellt, wie sie uns die Geschichte überliefert, wie wir sie noch heute zuzeiten sehen, und was von den Herrschern der Erde selbst, die, von einem so hohen Ruf überzeugt, gleichwohl seit Menschengedenken so handeln, als käme ihr Ruf von einem ganz andern, viel niederern Orte her.

DER FÜRST: Sollte der Philosoph wohl gar da die Quelle des Übels suchen?

DER PHILOSOPH: Es löst der verworrenen Knoten viele. Sie verwiesen auch mich an einen solchen Hauptschlag. Doch glaubte ich in der Tat nicht, daß mich Eure*** um einer so gar wichtigen Sache willen hätten auffordern lassen.

DER FÜRST: »Eure***« in dem Munde eines Philosophen!

DER PHILOSOPH: Warum nicht? Ein Wort fürs andre. Es spricht sich bald wie das gewöhnlichste aus, wenn man es auch dem beilegt, der ihm so wenig entspricht, daß es wie Satire auf ihn klingt.

DER FÜRST: Wäre dies so auch mein Fall?

DER PHILOSOPH: Oh, wahrlich nicht! Ebendie ist es, die Sie uns recht fühlen lassen; und wenn ja einer daran zweifeln sollte, daß Sie nicht die ganze Kraft des Worts auffassen und durch Taten ausdrücken, der komme – sehe – höre! Ich begreife es wohl, daß sich der Oberrichter des Landes in Schrecken hüllen muß, wenn er mehr gebieten als richten will.

DER FÜRST: Gut! Nur zu! Man hat mir nicht zuviel von Ihnen gesagt, aber eins hat man doch vergessen ...

DER PHILOSOPH: Darf ich wagen?
DER FÜRST: ... und dazu das Allerbeste.
[150]

DER PHILOSOPH: Das ist der Fall der Hofleute, der Ankläger überhaupt, wollt' ich sagen. Um so dringender wage ich zu bitten.

DER FÜRST: Sie vergaßen mir zu sagen, daß Sie trotz Ihren kühnen Äußerungen eine sehr gute Meinung von mir haben müssen, daß Sie es durch diese Vermessenheit aufs kräftigste beweisen. Würden Sie dieses wagen, wenn Sie mir nicht zutrauten, was ihr Philosophen uns Fürsten so selten zutraut – Großmut und Geduld?

DER PHILOSOPH: Es kann sein, und vermutlich bin ich darum so rauh und ungestüm vor Sie gefordert worden, um mich in dieser Meinung zu bestärken.

DER FÜRST: So rauh? Wie das?

DER PHILOSOPH: So rauh, daß ich auch nicht die geringste Spur von den Tugenden entdeckte, die ich soeben nennen hörte. Hätt' ich eine Verschwörung angezettelt – die Art wäre, nach dem Erweis, zweckmäßig genug gewesen.

DER FÜRST: Die Dolche der Zunge, Philosoph, verwunden oft tiefer als der geschliffene Stahl. Indessen ist es mir leid, mein Wille war es nicht.

DER PHILOSOPH: Das denke ich und weiß ja wohl, daß dies der Balsam ist, womit die Fürsten die Wunden zu heilen pflegen, die uns ihre Diener schlagen. Bin ich doch nicht der erste, der dies hier erfährt!

DER FÜRST: Gleichwohl ist es etwas und ein Etwas, das man nicht jedem darreicht, nicht jedem darreichen darf. Sehen Sie, so rauh erscheinen wir in unsern Dienern, solche Folgen hat ein Wort von uns.

DER PHILOSOPH: Um so behutsamer müßte der das Wort aussprechen, der seine Folgen kennt.
DER FÜRST: Unser Lispeln wird zum Donner, wenn man es wiederholt, unser mißmutiger Blick zum Blitz.

DER PHILOSOPH: Träfe der Donner nur einmal den, der das Lispeln dazu macht, ich wette, der Überbringer Atem würde sanfter werden.

[151]

DER FÜRST: Giftig genug! Nur was wir selber tun und sprechen, davon sind wir des Maßes und des Tons gewiß. Und doch ist dieses nur eine der kleinsten Schwierigkeiten, die uns drücken, darum sollte der Philosoph behutsamer sein: denn wenn er auch den Herrn nicht fürchtet, so sollte er doch die Diener fürchten, die ihre Macht auf die Macht des Herrn gründen, in denen diese sogar furchtbarer erscheinen muß als in ihm selbst, und das aus guten Gründen.

DER PHILOSOPH: Ich begreife Sie. Wenn ich aber nun nichts fürchtete?
DER FÜRST: Freilich, der Philosoph hat nicht viel zu verlieren, doch ist die Freiheit etwas.
DER PHILOSOPH: Ja, wenn man frei ist.

DER FÜRST: Besonders muß sie für den, der sie so braucht, wie Sie getan haben, vielen Reiz haben. Hätte ich dem Wink gewisser Leute gefolgt, schon längst würde wenigstens der Philosoph das Vergnügen des Mitteilens seiner Lehren und Meinungen verloren haben. Und darin liegt ja der Wert der Sache, wie man sagt.

DER PHILOSOPH: Freilich ist eine mitgeteilte Wahrheit nützlicher als eine, die ich mir allein vorbehalte. Und wenn nun dies geschehen wäre, was mir die guten Leute zudachten ein kleines Gefängnis für ein großes. Warum nicht? So wäre ja die Wahrheit recht bekräftiget, recht erwiesen!

DER FÜRST: Ebendieses wollt' ich nicht. Von Ihnen selbst wollt' ich Ihre Verteidigung oder Rechtfertigung hören.

DER PHILOSOPH: Ich habe keine und bedarf keiner. Solange Sie nicht durch ein Manifest bekanntmachen, daß Wahrheit ein Verbrechen ist, bin ich von allen Verbrechen rein.

DER FÜRST: Wahrheit, abermals Wahrheit! Erinnern Sie sich, daß sogar Philosophen sagten, es sei nicht gut, den Menschen jede Wahrheit zu sagen, daß sogar einer äußerte, wenn er alle Wahrheit in seiner Hand verschlossen hielte, so wollte er sie nicht öffnen.

[152]

DER PHILOSOPH: Ich wette beinah', dieses sagte der Staatsminister aus guten Gründen; und die Philosophen, die etwas Ähnliches sagten, beurteilten die Menschen in diesem, nicht in meinem Sinn; vielleicht hatten sie auch sonstige Ursachen. Muß der Philosoph Wahrheiten verschweigen, so sind es gewiß nicht diejenigen, um derer Bekanntmachung ich das hohe Glück habe, hier vor Ihnen zu stehen. Da nun gewiß nie ein solches Manifest erscheinen wird, so bin ich mir für immer meiner Unschuld und Sicherheit gewiß.

DER FÜRST: Warum sollte es nicht erscheinen können?

DER PHILOSOPH: Natürlich; es sind wohl noch sonderbarere erschienen, beinah' so sonderbare als dieses da; aber dieses erscheint gewiß nicht, denn eine solche Staatsmaxime befolgt man nur im stillen. Zu verteidigen, zu entschuldigen wüßt' ich nun nichts; aber gern will ich mich eines Fehlers anklagen. Ich glaube, daß ich nicht um meinetwillen allein in der Welt, in dem Staate, selbst in Ihrer beschränktern Residenz da bin.

DER FÜRST: Diesen Fehler teilen wir. Wozu die Verbeugung, das zweifelnde Lächeln um den so ernsten Mund?

DER PHILOSOPH: Ich bemerke einen ganz kleinen Unterschied.
DER FÜRST: Geradezu!

DER PHILOSOPH: Gern! So wenig ich glaube, ich sei um meinetwillen allein da, ebensowenig glaube ich, alle andre[n] seien um meinetwillen da; dieses Letzte aber soll von alters her der Fürsten Glaube sein.

DER FÜRST: Und mit Recht; da der Fürst in sich den Staat denkt, da sich in ihm dessen ganze Kraft und Macht sammeln.

DER PHILOSOPH: Ja, wenn er sich als Fürst in diesen eiskalten Kreis gebannt dächte und nicht als Mensch voller Lebenswärme! Der soll wenigstens noch geboren werden, der sich so weit von sich selbst entfernen könnte, daß er als ein politisches, metaphysisches Wesen in des Staates Mitte dasäße, die Fäden der Regierung ohne Rücksicht auf sich in den [153] Händen hielte und sich nur an der Ordnung ergötzte, die von ihm ausgeht. Und wer kann dies fordern? Welcher Mensch an den Menschen?

DER FÜRST: Der Philosoph! Der, welcher durch seine Äußerungen tagtäglich beweiset, daß er der Fürsten Handwerk für das leichteste auf Erden hält.

DER PHILOSOPH: Soll dieses mich treffen, so hat man mich gewiß verleumdet. Ich halte es im Gegenteil für so schwer und undankbar, daß ich gar nicht begreife, wie Ew. *** sich damit belasten mögen. Weil es aber doch geschieht und immer geschah und immer geschehen wird, so glaube ich, daß der Mensch mehr als der Fürst den Staat in sich denkt, daß ihm diese Vereinigung so wohlgefällt, daß er sich gar nicht von sich selbst trennen mag, so nötig es auch zuzeiten wäre.

DER FÜRST: Ich nehme das Beste für die Angeklagten aus Ihren Worten, denn wider Willen machte hier der Philosoph den Fürsten eine Apologie. Freilich, da, wie Sie selbst sagen, der Mensch sich nicht von sich trennen kann und keiner es an den andern fordern mag, fordern darf, setze ich hinzu: So ist es gerade, was es sein muß – Menschenwerk, durch Menschengeist und -kraft getrieben, auf anderer Menschen Kraft und Geist berechnet, aus Not und Bedürfnis, nach Not und Bedürfnis berechnet.

DER PHILOSOPH: O wär' er das; wer würde klagen! Ja dann, dann wären die Philosophen der Fürsten Lobredner, und ich der erste.

DER FÜRST: Was wär' es denn, wenn es dieses nicht ist?
DER PHILOSOPH: Gewöhnlich ein Spiel, ein abgekartetes, auswendig gelerntes, mechanisches Spiel!
DER FÜRST: Und wenn es nicht anders sein könnte?

DER PHILOSOPH: Ein Spiel, wobei Leidenschaft und Gewinnsucht die Karten mischen, manche unterschlagen, die den Spieler hindern, und gar die Farben zu Trumpf machen, womit der Zufall den Spieler vorzüglich versehen hat. Um [154] bei dem einfältigen Gleichnis zu bleiben, so sollten doch die Spieler so billig sein und den Zuschauern oder denen, die den Einsatz dazu liefern, erlauben, ein Wörtchen über das Spiel zu reden. Erlaubt es doch der Gewinner dem trostlosen Verlierer, verweist ihn auf künftiges besseres Glück, zieht den Gewinst mit aller Schonung, oft mit Bedauern ein. Und ließen uns die großen Spieler nur dieses sehen! Wir sind so gute Geschöpfe, daß wir noch gar ihre Kunst bewundern, obgleich unser ganzes Glück bei dem Spiele auf der Waage steht. Aber ernsthaft – weil Ihr jetzt strengerer Blick mir Ernst gebietet! Wenn es nun etwas anders als ein Spiel sein könnte? Wenn es gar zu gewissen seltnen Zeiten etwas anders gewesen wäre, hin und wieder noch heute wäre?

DER FÜRST: Das glaube ich kaum! Gespielt ward immer, wenn auch nicht von dem Herrn, doch von den Dienern. Und ich könnte am Ende gar erweisen, daß, wenn es nur ein Spiel ist, wir wahrlich nicht die Ursache davon sind, ob wir gleich das Spiel zu leiten scheinen. Daß, um bei Ihrem Gleichnis zu bleiben, nicht wir die Karten mischen, daß wir am wenigsten falsch spielen, daß wir meistens nur das falsche Spiel erwidern müssen, das gegen uns gespielt wird.

DER PHILOSOPH: Das könnten Sie?

DER FÜRST: Könnte erweisen, daß ich, den Sie so sehr verlästern, hier ins Angesicht verlästern, nun gerade nicht anders sein und wirken kann, als ich tue.

DER PHILOSOPH: Auch das?

DER FÜRST: Daß die Menschen, durch die ich wirke, auf die ich wirke, gerade eines solchen Spiels bedürfen, ja keines bessern wert sind.

DER PHILOSOPH: In der Tat!

DER FÜRST: Kurz, daß aller Tadel, den Ihren nicht ausgenommen, nicht auf uns, sondern auf die Menschen und ihr Zusammensein überhaupt zurückfällt; daß unser Wirken oder Spielen – warum nicht auch unser Dasein selbst? – die [155] Satire auf die Menschen machen, die Sie so gern nur auf uns anwenden möchten; daß Leute Ihrer Art diese Satire nur recht bitter, nur recht dem Geist der andern faßlich machen.

DER PHILOSOPH: Das könnten Sie?
DER FÜRST: Das könnte ich!

DER PHILOSOPH: Daß Fürsten viel vermögen, das weiß ich, das erfuhr ich; daß sie aber die Menschheit an sich selbst zur – Verbrecherin (warum soll ich das Wort nicht sagen?) machen könnten, dies ist mir wenigstens neu. Schade nur, daß ich zu klein, zu ohnmächtig bin, Sie zu den Beweisen aufzufordern. Wären Sie ein unbedeutendes Ding von einem Philosophen, ich forderte Sie dazu auf.

DER FÜRST: ... und sollten die Beweise so streng erhalten, als führte sie ein Philosoph. Zwar nicht nach der Form, doch nach der Kraft.

DER PHILOSOPH: Wie sie immer lauten möchten!
DER FÜRST: Möchten Sie sie hören – die Satire?

DER PHILOSOPH: Auf das ganze, ganze Menschengeschlecht; den abgetanen, entschiednen Prozeß; über die, die unter Fürsten gelitten haben und noch leiden, künftig leiden werden; über das, was Staub geworden ist, noch werden soll! Der Gedanke – an der Stelle, wo ich stehe, vor dem Manne, vor dem ich stehe, ausgedacht – ist so schauderhaft, daß er schmerzlich meinen Kopf füllt!

DER FÜRST: So ergeht's dem Philosophen, der das Spiel nach der Theorie beurteilt; aber dem gar zu ernsten Manne möcht' ich den Beweis nicht führen. Lassen wir nur das ganze Menschengeschlecht – samt den Toten – immer ruhen; wir schränken uns in die Grenzen unsrer Herrschaft ein.

DER PHILOSOPH: Der Umfang ist beträchtlich genug; es ließe sich schon weiterschließen.

DER FÜRST: Wie kömmt es zum Beispiel, daß ich gegen einen Tadler Ihrer Art hundert Lobredner, gedruckt und [156] ungedruckt, aufweisen kann? Meine Handbibliothek enthält eine merkwürdige Sammlung dieser Art.

DER PHILOSOPH: Also so etwas sammeln Fürsten auf?

DER FÜRST: Fürsten, die wie ich denke[n]? Warum nicht? Unsereiner findet darin Stoff zu mancherlei Betrachtungen; und bei mir, in meiner Bibliothek, schließen sich die Satiren an die Lobschriften. Ihre Werke, wenn Sie je welche schreiben, sollen auch da ihre Stelle finden.

DER PHILOSOPH: Ich schreibe keine Bücher. Ist die Anzahl der Satiren stark?

DER FÜRST: Nicht sehr stark, doch hinreichend, den Wert beider samt ihrer Urheber zu bestimmen. Und gewiß dachten ihre Urheber nicht an die Wirkung, die sie auf einen Fürsten meiner Art machten.

DER PHILOSOPH: Ist dieses auch einer Ihrer Beweise?

DER FÜRST: Auch der kleinste ist von Gewicht, wenn es bei einem verwickelten Prozeß aufs Urteil ankömmt.

DER PHILOSOPH: Ich glaube es wohl – Ihre Verachtung gegen die Nichtlobredner und Ihre Großmut gegen die Lobredner; und befinden sich die Lobredner nicht gut dabei? Geht nicht für sie alles herrlich? Was kümmert sie das übrige? Kenn' ich doch einen deutschen Poeten, der die Vorzüge der ärgsten Sklaverei auf Erden besang, einer Sklaverei, wovon wir wenigstens in unserm lieben Vaterlande nichts wissen.

DER FÜRST: Sie verstärken meinen kleinen Beweis.

DER PHILOSOPH: Nur weil er Sie trifft, nur weil die Fürsten solche Lobredner belohnen. Wenn die übrigen nicht fester halten ...

DER FÜRST: ... so wird die Satire nur um so bittrer! Das wollen Sie doch sagen? Sie stehen betroffen.

DER PHILOSOPH: Nein, dieser giftige Gedanke soll nicht zu meinem Herzen dringen; denn wahrlich, die Wirkung der Gedanken, die sich an ihn ketten, würde keines Ihrer Gesetze, selbst Ihre unbegrenzteste Macht nicht, fesseln.

[157] Erlauben Sie mir, zu den Lobrednern zurückzukehren. Wen trifft der Vorwurf, wenn selbst das Edelste, das Beste des Menschen, die Wissenschaften, dem Geist nicht entfliehen können, der von dem Thron ausgeht?

DER FÜRST: Und beweist dies nicht für die, die auf den Thronen sitzen, daß die Menschen das Edelste und Beste, wie Sie es nennen, zum Gift, zum Spiel des Eigennutzes gemacht haben?

DER PHILOSOPH: Und warum den Beweis für Sie von den Elenden hernehmen, die es zum Spiel gemacht haben?

DER FÜRST: Wie sehen uns die andern an?
DER PHILOSOPH: Befehlen Sie?
DER FÜRST: Sie fürchten ja nichts.

DER PHILOSOPH: Als die Quelle aller politischen, moralischen Übel, die uns drücken; als die Hindernisse der Erfüllung der schönen Träume, die wir zum Besten der Menschheit – schwärmen! Und da sie wenigstens den Fürsten der Erde darin gleichen, daß sie die sie hindernden Individuen um des Ganzen willen aufzuopfern fähig wären, so möchten sie die Urheber aller dieser Übel gern entbehren können.

DER FÜRST: Meine Kälte beweist Ihnen, daß Sie mir nichts Neues sagen; und wie sehr ich dergleichen Feinde fürchte, vermuten Sie doch wohl? Die Mittel übrigens? Und sind auch Sie dergleichen Philosophen einer?

DER PHILOSOPH: Die Schwärmer, die Toren, die Vermessenen werfen wir zur Seite. Auch ich kenne die Menschen und wollte nur durch diesen rauhen Ausfall Ihre Großmut auf die Probe stellen; Sie haben sie bestanden.

DER FÜRST: Es hielt nicht schwer, und ich rühme mich keiner solchen Siege.

DER PHILOSOPH: Es sei! Doch um Männer Ihrer Art ist es uns zu tun. Um dererwillen tadeln, reden und schreiben wir; von ihnen wünschen wir gehört zu werden. Freilich, wenn auch Sie solche Beweise führen können und führen wollen, [158] so möchte der Ausfall doch noch mehr wahr als rauh sein. Aber Sie können diese Beweise nicht führen wollen.

DER FÜRST: Zweifeln Sie nicht daran!
DER PHILOSOPH: Und gegen mich?

DER FÜRST: Und will Ihrer ganzen Schule, allen meinen Tadlern in Ihnen, Rede stehen. Ich bin es müde, die schalen, grundlosen Lästerungen müßiger Träumer anzuhören. Machen Sie sich gefaßt.

DER PHILOSOPH: Bis zu mir wollten Sie sich herablassen, hätten dazu Zeit?

DER FÜRST: Zum Philosophen erhebt man sich; nur er steigt herab, wenn er mit einem Ungeweihten sich einläßt, und wir tun ja des Törichten, Unnützen gar zuviel, wie Sie uns täglich vorwerfen. Gut für euch, wenn wir nichts Schlimmers tun; sagen Sie nicht so? Ich möchte doch einmal hören, was ein Philosoph am Ende sagte, wenn ihm ein Fürst, der es weder an gutem Willen noch an Tätigkeit fehlen läßt, seine Brust so öffnete, daß er klärer darin läse als in den Werken seiner Brüder.

DER PHILOSOPH: Die Lockung ist süß – und die Schlinge glänzend.

DER FÜRST: Dieses muß es wenigstens sein; denn wie könnte auch ein Fürst aufrichtig und gerade verfahren; der Philosoph ist mir gleichwohl nicht wichtig genug, daß ich mich gegen ihn verstellen sollte.

DER PHILOSOPH: Sie nehmen meine Worte in einem ganz andern Sinne, als ich sie dachte.
DER FÜRST: So geht es Ihnen oft bei unsern Taten.

DER PHILOSOPH: Dies soll ich ja erfahren. Ich wollte jetzt nicht mehr sagen, als daß für unsereinen, der den Großen der Erde naht, das unschuldigst Scheinende in einem gewissen Sinne zur Schlinge wird. Und muß mir Ihr Vorsatz nicht so neu als sonderbar vorkommen?

DER FÜRST: Ich glaubte, in Ihnen einen rauhen, steifen Pedanten zu finden, und den gedacht' ich abzuführen; als ich aber [159] den festen, stattlichen Mann erblickte – und reden hörte, da lispelte mir meine Eitelkeit zu, meinen Lobredner aus ihm zu machen.

DER PHILOSOPH: Ein Fürst vermag viel, und ich wünschte, Sie vermöchten dies. Doch hängt es nicht von Ihnen ab?

DER FÜRST: Von mir? Von mir allein? Dann wären Sie es schon längst; machen Sie mich indessen ein wenig mit Ihren Verhältnissen bekannt. Mit Ihrer Denkungsart bin ich es so ziemlich; aber ich möchte von Ihnen hören, wie sie entsprungen ist.

DER PHILOSOPH: Das wollten Sie hören? Was hätte der Unabhängige, der Unbedeutende von sich zu sagen?

DER FÜRST: Bedeutend haben Sie sich genug gemacht; vergessen Sie nur nicht, daß Sie, so unabhängig Sie auch seien, vor mir als Ihrem Richter stehen, daß Leute draußen ungeduldig auf den Ausgang des Verhörs warten.

DER PHILOSOPH: Ebendiese Leute beweisen mir, daß Ihnen meine Verhältnisse bekannt genug sind. Sollten Sie nicht alles erforscht haben?

DER FÜRST: Vielleicht nur dies nicht, was ich eigentlich wissen wollte, was mich reizen konnte, so mit Ihnen zu verfahren, wie ich getan habe und ferner tun will. Zum Beispiel: Jene Leute sagten mir kein Wort davon, daß Sie ein Virtuos wären, und zwar einer der Virtuosen, um die wir uns gar nicht kümmern, für die wir gar nicht regieren, die gar keiner Regierung bedürfen. Beim ersten Blick, beim ersten Laut erkannt' ich diese Virtuosität in Ihnen, ob ich sie gleich seit meinem zehnten Jahre nicht mehr gesehen und bemerkt habe.

DER PHILOSOPH: Ich kenne mir keine Virtuosität.
DER FÜRST: Warum so ernst? Ist die Tugend etwas anders?
DER PHILOSOPH: Die Tugend? Von der Tugend reden Sie?

DER FÜRST: Ich, ein Fürst, zu einem Philosophen, der doch das Ding am besten kennen muß, weil er am meisten davon redet.

[160]

DER PHILOSOPH: Ja so; so reden Sie davon?

DER FÜRST: Nein, nicht so, sondern so ernsthaft, als Plato selbst am Hofe des Dionys davon reden konnte. Sie lächeln! Natürlich ...

DER PHILOSOPH: Ich bin kein Plato! Sie wissen doch, wie es dem Philosophen da erging.

DER FÜRST: Ich bin kein Dionys, bin mit meinem Philosophen hier überhaupt aufs Lernen gar nicht gesteuert.

DER PHILOSOPH: Das denk' ich wohl; die Welt ist seitdem so umgekehrt, daß nicht mehr die Fürsten zu den Philosophen in die Schule gehen ...

DER FÜRST: ... sondern daß die Philosophen zu den Fürsten in die Schule gehen sollten! Vielleicht wäre dieses schon damals heilsamer gewesen; vielleicht täten wir recht gut, das Ding nun einmal am andern Ende anzufassen.

DER PHILOSOPH: Das beste Mittel sicherlich, allem Philosophieren dieser Art ein Ende zu machen!
DER FÜRST: So würde wenigstens Ruhe in der Geisterwelt.

DER PHILOSOPH: Und die Ruhe in der Geisterwelt sicherte die Ruhe in der Körperwelt! Aber um wieder auf die Tugend zu kommen, die Sie beliebten, eine Virtuosität zu nennen ...

DER FÜRST: ... und zwar die Ihrige!
DER PHILOSOPH: ... an die Sie dennoch glaubten?
DER FÜRST: Gerade wie an die Poesie.
DER PHILOSOPH: Wie? An die Poesie? Wie soll ich das verstehen?

DER FÜRST: Ist die Tugend etwa in unserm Alltagsleben etwas anders? Hat sie nicht alle Eigenschaf tender hohen Poesie? Idealischen Sinn? Erhabenheit und Stärke der Seele? Schwebt sie nicht hoch über der Erde und ihren niedrigen Verhältnissen? Beruht nicht sie wie jene auf der innern selbständigen Kraft des Menschen? Ist sie nicht eine Trennung von allem Gemeinen, Prosaischen?

DER PHILOSOPH: Dennoch teilen Sie die Menschen in Dichter und Prosaisten ein.

[161]

DER FÜRST: So meine ich; nur daß der erstern und guten Ursachen wenige sind und sein müssen, daß wir uns um diese gar nicht zu bekümmern haben, sie wegen ihrer Virtuosität weder glücklich noch unglücklich machen können. Was wären sie ohne uns? Sind wir es nicht, die ihre Virtuosität recht sichtbar machen und ihren leichtgläubigen Bewunderern zur Schau ausstellen?

DER PHILOSOPH: Sonderbar!

DER FÜRST: Etwa, daß die Kraft, die diese Virtuosität in ihrer Spannung erhält, auf dem stolzen Bewußtsein eignes Werts beruht und vielleicht an Stärke selbst das Gefühl der Herrschaft übertrifft, auf das sich unser Dasein gründet? Stolz ist eine feste Grundlage, und ich baue viel darauf. Ebendarum nahen uns diese Virtuosen so selten, ebendarum können wir sie so wenig in unserm Kreise vertragen. Sie wissen wohl, wie sich Leute benehmen, die sich einer Virtuosität bewußt sind; wie sie sich auszeichnen durch Blick, Gebärde und Worte, wie sie uns und jedem Höhern (nach irdischem Verhältnis) zu verstehen geben, unsre und aller Herrschaft scheitere an der ihrigen, sei gar nichts gegen die ihrige.

DER PHILOSOPH: Nur darum erscheinen solche Virtuosen nicht in der Fürsten Kreise?

DER FÜRST: Der Stolze bei dem Stolzen?! Der Mann, der auf seiner eignen Stärke und Kraft ruht, bei dem, der keine Kraft ertragen kann, die er nicht leiten, zu seinen Absichten verwenden kann?! Wär' ich kein Fürst, ich würde diese Rolle spielen. Alexander wußte, was er sagte.

DER PHILOSOPH: Rolle! Rolle! Allerdings l Mit dieser Unterlage, mit dieser Folie, die Sie der Tugend – verzeihen Sie! –, nicht der Tugend, Ihrer Virtuosität da geben, was wäre es anders? Soll ich auch darauf antworten?

DER FÜRST: Warum nicht? Wenn Sie können.

DER PHILOSOPH: Wenn Sie es nur hören wollen! So sage ich dann: Ich sehe wohl, daß ein Fürst von Ihrem Verstande einen schönen, feinen und reichhaltigen Gedanken fassen [162] kann; aber damit der schöne Gedanke die wahren Früchte trage, so müßte der, welcher ihn gedacht hat, wenigstens für einige Augenblicke aufhören können, ein Fürst zu sein. Nun erlauben Sie gnädigst, daß ich mich entferne, denn jetzt möchte meine Virtuosität bald in Pedanterei ausarten.

DER FÜRST: Ehe ich Sie näher kenne?

DER PHILOSOPH: Ich kann Ihnen wohl nicht bekannter werden; Sie können wohl schwerlich bei der nähern Bekanntschaft etwas gewinnen.

DER FÜRST: Aber Sie doch durch die meinige!

DER PHILOSOPH: Sie erlauben den Zweifel. Ich spiele keine Rolle! Das, was ich bin, bin ich so ernsthaft, daß Sie mein Ernst empören würde. Auch ist der Unglaube, den Sie mir zeigten und so bilderreich aufstellten, ebendas, was ich an den Großen der Erde am meisten hasse, weil es die Quelle alles dessen ist, was wir Kleinen zu leiden haben und zu tadeln finden.

DER FÜRST: Wie, wenn ich nun mehr Grund zu meinem Unglauben hätte als Sie zu Ihrem Glauben? Wie, wenn die Erfahrung mir streng bewiese, täglich aufdränge, daß Ihr Glaube zwar schöner klingt, aber weniger stichhält?

DER PHILOSOPH: Ich beneide Sie nicht darum und kann nur die bedauern, die dadurch leiden. Meine Erfahrung geht von mir aus, ich traue ihr, weil nichts Äußeres den Menschen in mir verhüllt.

DER FÜRST: Ist dem Fürsten die seinige weniger wert? Sie sollen sie hören; und wenn der Philosoph nicht am Ende eingesteht, er würde an meiner Stelle ebenso denken und handeln, so soll der Philosoph mit allem Rechte laut sagen dürfen, was er bisher aus bloßer Menschenliebe meinen Untertanen vorgetragen hat. Gefällt der Vertrag? Ist er nicht neu?

DER PHILOSOPH: So, daß er mir ein Spiel zu sein scheint, welches der Mächtige zur Abwechslung, zum Zeitvertreib mit [163] dem Philosophen zu spielen denkt. Wir haben in dieser Art noch sonderbarere Dinge.

DER FÜRST: Ist das Leben etwas anders als ein Spiel, und sei es auch das Leben eines Philosophen? Spielt der Fürst mit Ihnen, was hindert Sie, mit dem Fürsten zu spielen? Gar viele spielen mit uns, mit denen wir zu spielen glauben. Sie kennen doch Montaignes Katze? Wir sind gar oft die Katze dieses launigen Philosophen, der der Wahrheit meistens näher kömmt als unsre heutigen Philosophen. Ich werde Sie rufen lassen. Bringen Sie alle Ihre Vorwürfe wohlgeordnet mit. Ich will sie auf einmal hören und keinem ausweichen. Dafür fordre ich biedere Offenheit. Der Richter und Gesetzgeber des Geisterreichs soll als Richter des stolzen Herrschers eines irdischen, bürgerlichen Volks dasitzen, alle Majestät verschwinden und bloß der Mensch,in dieser Lage, erscheinen. Jetzt gehe ich, meine Rolle im Geheimen Rat zu spielen. Dort warten meiner ganz andere Schauspieler. Und wie sind Sie jetzt mit mir zufrieden?

DER PHILOSOPH: Noch weniger als sonst. Vorher glaubt' ich, Ihre Taten entsprängen nur aus denen dem Menschen gewöhnlichen Leidenschaften; jetzt seh' ich eine noch trübere, giftigere Quelle! Ein System, das die Vernunft aus den schwärzesten Farben aufgetragen hat, in das weder Glaube an Tugend noch Menschenliebe einen Lichtstrahl werfen.

DER FÜRST: Leider kommt jeder Fürst, der denkt, endlich dahin.
DER PHILOSOPH: ... der nur als Fürst denkt, wie gesagt. Ich kam glücklicher, als ich gehe.

DER FÜRST: Dies ist nur der Rache Anfang. Kann man sich an dem Philosophen ärger rächen, als wenn man ihm beweist, sein Lieblingsgedanke sei ein Hirngespinst?

DER PHILOSOPH: Nur das – wenn ich wiederkehren soll –: Wie heißt der Lieblingsgedanke?

DER FÜRST: »Wir könnten oft anders, besser sein, als wir sind; und daß es geschehe, hängt nur von den Menschen ab; sie [164] müssen anfangen, anders und besser zu sein!« – Aber wenn Sie sie kennten, wie ich sie kenne!

DER PHILOSOPH: Ich hoffe, Sie sprechen nur von denen, die um Sie sind.

DER FÜRST: Und warum? Wirken wir nicht durch sie – mit ihnen? Kann es anders sein? Können wir sie anders, besser machen? Das ist ja der Philosophen, nicht der Fürsten Werk. Und hören Sie! Noch ein Vertrag – und ein recht feierlicher dazu! Sie oder die Philosophen sind mit den meisten Fürsten unzufrieden, die meisten Fürsten sind es mit den Menschen. Die Fürsten nun grade abzusetzen, wäre ein Wagestück, wobei wahrscheinlich die Menschen mehr gefährdet würden als ihre Fürsten. Zum Belege verweise ich Sie auf die Geschichte der Empörungen alter und neuer Zeit. Wie, wenn die Philosophen nun einmal sich recht verständen und mit der Besserung des Menschentiers anfingen? Aus ihnen lauter solche weise, uninteressierte, leidenschaftlose, kurz, tugendhafte Geschöpfe machten, wie sie selbst zu sein vorgeben? Fangen Sie und die übrigen Philosophen meines Landes dieses große, erhabene Werk an, und gelingt es Ihnen mit meinen Untertanen, so steig ich von meinem Fürstensitz herab und setze die Tugend darauf ein. Bis dahin aber bedürfen sie wahrlich meiner mehr, als ich ihrer bedarf.

307


[165] [463]EIN Dichter verbessert gewöhnlich seine jugendlichen genialischen Werke, wenn sein Genius durch Erfahrung und Kunst schon gedemütigt und die kühne, schaffende Kraft desselben im Sinken ist. Nur dann fängt er an, auf das Publikum und mit dem Publikum zu rechnen. So errötet und ärgert sich oft der Welt–, Staats- und Geschäftsmann über eine schöne, kühne, uneigennützige Tat seiner Jugend, bedauert, damals nicht klüger gewesen zu sein, und würde sie nun gern, wie der Dichter sein genialisches Werk, verbessern, um sie unter anderer, einträglicherer Gestalt herauszugeben.

308


ICH weiß nicht, ob es nötig und vorteilhaft ist, die zu kühngenialischen Produkte der Dichtkunst dem Publikum in einer [463] vernünftigern, das heißt, kältern Gestalt noch einmal zu geben: der Dichter sieht wenigstens immer so dabei aus, als hätte er sich aus Gefälligkeit und Bescheidenheit nun selbst kastriert. Doch er ist ja Herr über seinen Leib. Was soll man aber zu dem sagen, der die Werke anderer verbessert, der sich dem Publikum als Genie-Verschneider aufdringt, ohne dazu aufgefordert zu sein? Und wenn dies nun gar ein Genie dem andern tut? Wenn es gar den Stolz der deutschen Literatur, Lessings »Nathan«, verbessert auf die Bühne bringt?

309


MIT oben genannten Dichterwerken, den kühn-genialischen Produkten der Jugend, steht es vielleicht wie mit dem Beischlaf. Ein Mann, den etwas Erschlaffung zum Künstler in diesem Punkt gemacht hat, fördert vielleicht auch ein recht feingeformtes Kind zur Welt. Vergleicht es aber mit dem, das der gezeugt hat, auf den die volle Kraft der Natur so wirkte, daß er nur ihrem Drang gehorchte und kaum wußte, was er tat!

310


[464] [38]ES ist (nach meiner vielleicht zu runden Art zu reden) zu bedauern, daß die physische Natur des Menschen nicht in einem Hauptpunkte von der Beschaffenheit seines moralischen Seins abhängt. Folgte z.B. der physische Tod sogleich von selbst und notwendig auf den moralischen, innern Tod, welch ein gewaltiger Zuchtmeister würde dann über dem Menschengeschlecht schweben? Die Verbrecher gehen jetzt frisch und gesund vor unsern Augen herum und sind es nur dann mit voller Kühnheit, wenn das in ihnen abgefahren oder abgestorben ist, was sie vorher noch auf Augenblicke beunruhigte. Die Seele kann also in dem Menschen als ein recht stinkender Kadaver liegen und der Leib noch ganz frisch blühen. Da aber nur solche Seelen diese moralische Vermoderung riechen, die noch gesund sind, und diejenigen, welche in gleicher Fäulnis mit ihr liegen, den Pestgeruch gar nicht für stinkend halten, vielmehr von ihm angezogen werden, so muß sich doch der so Tote für lebend halten? Ohne daß mich der Kantianer zurechtweise, begreife ich sehr wohl, daß es um alle Moralität und um das daraus fließende Verdienst für uns getan wäre, wenn uns ein solcher drohender Zuchtmeister zur Erhaltung der Gesundheit unsrer Seele so gewaltiglich zwänge; der empirische Pöbel aber würde sich recht gut dabei befinden.

311


[38] [134]PLATO sagt: Die Menschen würden dann weise und folglich gut regiert werden, wenn Philosophen auf den Thronen säßen. Freilich, er hat ihnen ein Muster dazu hinterlassen. Wenn er aber die heutigen recht abstrakten Systeme unsrer deutschen Schulphilosophen lesen könnte, so würde ich ihn fragen, ob er auch ihre Schöpfer darunter verstanden habe? Mich deucht, ein gutgesinnter, verständiger, gerechter Mann sei Philosophs genug, um über Menschen zu herrschen (ich will sagen: zu regieren); da überdem alles, was diesen heilsam und nützlich ist, gar zu sehr aus ganz alltäglichen empirischen Prinzipien fließt.

312


[134] [271]WARUM ist doch der Deutsche nach dem für ihn verderblichen und schimpflichen Frieden, da man ihn wie eine Herde teilt, aufgebrachter auf die Franzosen als selbst auf die Engländer und [271] einen ihrer größten Bundesgenossen während des Kriegs? Weil der Mensch immer mehr auf die Wirkung, durch die er leidet, als auf die Ursache sieht, die das Leiden veranlaßt hat.

313


[272] [134]ES ist freilich zu bedauern, daß der Gesetzgeber nicht auf das Höhere im Menschen, sondern nur auf das Niedere in ihm Rücksicht nehmen darf; daß er, sozusagen, den erhabenen Schöpfer vergessen und nur an das Geschöpf auf dieser Erde denken muß. Tut er dieses aber in dem rechten Sinn, so dient er wahrscheinlich beiden.

Vollkommenheits- oder Vervollkommnungsträumer nehmen den Menschen zu hoch, Moralisten und Theologen zu einseitig, Philosophen zu systematisch; Kameralisten berechnen ihn bloß nach [134] den Abgaben, Politiker nur nach der Geduld als Werkzeug, Kommerzienräte kaufmännisch, gewisse Leute zu sklavisch, zu niedrig, Juristen zu förmlich. Wer nun also ist der Mann zum Gesetzgeber? Der, welcher den wahren Geist der Sache von allen Genannten hat, ohne eins davon ausschließend zu sein. Man verzeihe mir meine Unbescheidenheit; wenn man sich einmal etwas zu wünschen erlaubt, fängt man nicht mit wenigem an.

314


[135] [312]WENIGE Weiber kennen die Freundschaft, weil sie nur die Liebe kennen; doch einigen gelingt es noch, sie kennenzulernen, wenn sie physisch aufhören, es zu sein. Die Männer können damit zufrieden sein, ob ich gleich darum nicht glaube, daß es die Natur aus Vorliebe für sie so eingerichtet hat. Die erste altkluge Rechenmeisterin hat es wohl nur als ein beförderndes Mittel zu ihrem Zweck berechnet, und wir sehen es hier wie anderwärts, daß sie sich nicht geirrt hat.

315


[312] [6]DER tiefdenkende Mann, der kühne, starke Gedanken und Einfälle über Menschen und die moralische Welt mit Wärme so offen und frei hinwirft, als sie plötzlich in ihm entstehen, trifft gewöhnlich in diesem Augenblick den Gegenstand auf dem rechten Punkt. Faßt der Zuhörer diesen rechten Punkt, so fällt ebenso plötzlich ein starkes Licht in seinen Geist, und er sieht auf einmal den Gegenstand hell erleuchtet, den er bisher nur in ferner Dämmerung erblickte. Der Zuhörer aber, welcher den Gegenstand auf alle Seiten wendet und überall gleiche Beleuchtung sucht, ihn gar an kaltes Licht ohne Wärmestoff hält, dem verschwindet nicht allein der beleuchtete Punkt aus den Augen, der Gegenstand selbst wird noch finsterer für ihn.

316


[6] [398]DAS verwickelte Rätsel ist einmal hingeworfen, damit doch unser Geist bei Muße in hoher Kultur etwas zur Übung vorfinde; jeder zerrt daran nach Sinn und Kraft, wenn er die Zeit dazu hat, sich um etwas Vergebliches zu bemühen. Nur die Philosophen tun es aus Amtspflicht. Die ewige Weisheit aber, die immer billig und gerecht ist und die auch auf das Vergnügen, den Genuß und das Glück derer dachte, die auf uns folgen sollen, hat dafür gesorgt, daß dieser Zeitvertreib den spätesten Nachkommen zur Übung in den Hauptpunkten gerade so unabgenutzt verbleibe, wie ihn uns unsre Vorfahren zur Erbschaft hinterlassen haben. Wenn diese ewige Weisheit zuzeiten lächelt, so tut sie es vielleicht nur, wenn sie auf einen von uns blickt, der das Rätsel gelöst zu haben glaubt. Aber gehörte dies nicht auch dazu, um unsern Geist recht glücklich zu machen? Und hat sie nun das Vergnügen, so zu lächeln, schon oft gehabt, so wird es ihr gewiß auch in Zukunft nicht daran fehlen.

317


[398] [438]WENN man nun endlich durch unermüdete Geistesanstrengung, durch Selbstdenken alles philosophische Wissen der Menschen erschöpft hat und eines jeden großen Mannes System sich vorerzählen kann wie Märchen aus der höhern Welt, so steht man endlich zwischen dem Pantheismus, dem Skeptizismus und seinem Gegner, dem Glauben. Die Vorstellung des ersten zermalmt uns; sie schleudert uns in dem Augenblick an die harten Schalen dieser Gottheit, da wir uns zu ihr erheben; ja, sie verschlingt uns ganz, wenn wir uns durch diese drängen und mit ihr vereinigt fühlen wollen. Die Vorstellung des zweiten treibt wenigstens ein sonderbares Spiel mit uns; ein Spiel, wobei weder der Geist noch die Sinne zu gewinnen scheinen, weil sich keine der Parteien von dem Gewinst der andern überzeugen lassen will; denn wenn auch eine in ehrlich erspieltem Vorteil zu sein glaubt, so beweist ihr die andre gleich, sie habe falsch gespielt und müsse sich erst von diesem Vorwurfe reinigen, bevor sie den Gewinst einstreiche. Was aber den dritten betrifft, so fordert er wirklich gar zuviel Entsagung auf uns und unsre Selbständigkeit, als daß wir ihn so leicht und unbedingt von uns erhalten könnten. Man müßte etwas in sich zerstören, das in der Tat nicht dafür in uns gelegt zu sein scheint – ein so sonderbares Ding, daß es selbst aus dem Zwitterlicht der Dämmerung die schwankenden Strahlen in einen Punkt zu sammeln weiß. Und hellt dieser Punkt auch die Finsternis nicht ganz auf, so leuchtet er doch. Auch weiß leider jeder, daß es zu diesem dritten nur des ersten Schritts[438] bedarf, um erbärmlich und abgeschmackt zu werden. Was soll man also tun? – Seine Pflicht!

318


[439] [420]MAN schreit immer, die Regenten, Großen, Richter usw. sollten nur gerecht und billig sein, so würde alles gut gehen. Die Sache selbst ist klar und richtig; sie sollten es sein, wir sollten es alle sein, und ich selbst wollte noch lauter als alle schreien, wenn[420] Schreien dieses bewirken könnte. Aber ich werde wenigstens nicht lauter als andere schreien, bevor ich nicht zwei Menschen gesehen haben werde – sie sollen sogar Freunde sein –, die immer äußerlich und innerlich gegeneinander in Tat und Urteil gerecht und billig gewesen sind. Vielleicht hat sich dieser Fall noch nie ereignet; vielleicht könnt' ich eher einen Elefanten von einem Floh verschlingen sehen, als daß er sich ereignete. Freilich, jedem scheint das Ding sehr leicht, wenn er es braucht; der andere darf ja nur wollen; aber sobald es der andere fordert, so arbeitet merklich und unmerklich – oft in dem weisesten und schönsten Redner über diesen Punkt – ein gewisser Dämon in dem Innersten, der zwar das Streben in dem Menschen zu der berühmten Perfektibilität nicht hindern kann, aber dadurch, daß er uns immer an unsern liebsten Freund erinnert, Kraft genug hat, uns nicht dahin gelangen zu lassen. Vielleicht wäre aber ohne diesen Dämon das Streben nach Perfektibilität gar nicht in dem Menschen. Also wozu das? Damit man, wenn es möglich ist, etwas bescheidner im Klagen werde, zuzeiten über sich selbst Gericht halte und, ehe man andere verdammt, den Stich des eignen Gewissens nicht vernachlässige.

319


»WAS du willst, daß dir die Leute tun sollen, das tue ihnen auch!« ist ein leichter, schöner, klarer Spruch – das Hauptgebot in der Gesellschaft, ja der Schlüssel zur täglichen nötigen, für sie sogar hinreichenden Moral. Auch richtet er, weil doch die Menschen durch Erfahrung an Wiedervergelten glauben lernen, wirklich mehr aus als die erhabensten Prinzipien der Moral. Er steht, wie bekannt, im Evangelio, und der erhabene Meister selbst hat ihn ausgesprochen. Die Kantianer mögen es mit ihm ausgleichen, daß er hier auf niedrigen, sinnlichen Grund gebaut hat; das ist er doch? Gleichwohl, so allgemein nützlich, so heilsam dem einzelnen, so faßlich er auch für den Beschränktesten ist, so hat ihn doch keiner von den Myriaden Staubgewordener und denen es bevorsteht, Staub zu werden, durchaus befolgt, [421] vielleicht gar nicht befolgen können – selbst der Meister nicht, der ihn ausgesprochen hat; denn als Reformator, der zerstörend zu Werke gehen muß, konnte er es am wenigsten, da seinem höhern Zweck alles andere weichen mußte. Wem könnte es nun unter uns gelingen? Etwa dem Regenten? Die Beziehung gilt bei ihm nur sehr eingeschränkt, und ließe er sich einfallen, den Spruch in seinem ganzen Umfang zu befolgen, so möchte[n] er und seine Untertanen wegen gewisser Nachbarn sich sehr schlecht dabei befinden. Die Philosophen und Moralisten? Fragt die Gegner ihrer Systeme und ihr bürgerliches Leben. Die Religiösen, die Heiligen? Schlagt das Kapitel der Toleranz oder lieber die Kirchengeschichte und die Legende selbst auf. Dem Staatsmann? Die Politik scheint diese Regel ganz auszuschließen: Da heißt es – um nur wieder auf die Nachbarn zu kommen und ihre Amtsgefährten und sonstigen Verhältnisse ganz zu vergessen –: »Uns soviel Gutes und Nützliches als möglich, euch soviel Böses und Nachteiliges als möglich; wir gewinnen, was ihr verliert.« Die Hofleute? Das Wort hat schon entschieden. Die Kaufleute? An der Börse laufen keine Narren herum, es müßte dann ein Laie sein. Die Weiber? Welche Schöne oder auf Schönheit Anspruch machende putzt die andre, wenn es nicht die Mutter oder eine Kupplerin ist, um die Sache grob zu nennen, ob ich gleich weiß, daß so etwas in höherm Stande mit vieler Feinheit getrieben wird. Der Bettler? Wer steht uns dafür, ob ein Bettler dem andern die Wunde nicht darum gegen die Kälte bedeckt oder gar zu heilen sucht, damit er nicht das Mitleiden der Vorübergehenden zu seinem eignen Nachteil zu sehr errege? So möchte es die ganze Leiter herab und herauf gehen, die Edeln und Großmütigen in jedem Stande ausgenommen; doch auch diesen gelingt es nicht, denn der Edelste selbst ist es nicht darum, um als Muster der Vollkommenheit dargestellt zu werden: Er ist es darum, weil er sich so rein hält, als es ihm die Welt zu sein erlaubt.

320


[422] [38]WENN gewisse Staatsleute von einer moralischen Kolik plötzlich überfallen werden oder wenn sie das Gewissen bei einem [38] wichtigen Geschäfte stört und sich nicht will stillen lassen, so bleibt den armen Kranken kein anderes Rettungsmittel übrig, als die Prinzipien der Welt- und Regierungserfahrung, von Leuten ihres Standes (also von Empirikern, wie sie selbst sind) zur Arznei verarbeitet. Schlägt das Mittel wirklich an, gelingt die Kur, so greifen sie, um allen übeln Vorfällen dieser Art vorzubeugen, so oft nach diesem Opiat, daß es am Ende ein wahres Tonikum für sie wird; und dieses soll selbst das physische Opiat nicht sein. Wenn ihr einen Mann kennt, der solche Palliative gebraucht hat oder noch braucht, so hütet euch vor ihm; er ist gefährlicher als der, welcher sein Gewissen nie recht gefühlt hat. Mit der Kunst, es einzuschläfern, hat jener gar viele andere Künste erlernt, worauf doch vielleicht dieser nicht gefallen ist. Vielleicht hat sich sogar der bloß Praktisch-Gewissenlose noch vor dem zu hüten, der durch Theorie zur Praktik emporgestiegen ist.

321


[39] [6]ES ist sehr und mehr als wahrscheinlich, daß gewissen Leuten mißfalle, was ich hier und da über sie und über die Menschen überhaupt sage. Ich habe nur eine und sehr kurze Antwort, deren Kraft sie erwägen mögen, wenn es ihnen gefällig ist: Ich hätte es gar nicht gesagt, noch weniger geschrieben, wenn es mir nicht schon seit so langer Zeit mißfallen hätte. Ich setze noch hinzu:Da ich weder ihre Gunst noch ihr Wohlgefallen suche, mir beides gar nicht wünsche, so scheide ich hier von ihnen, ohne ihnen je anders genaht zu sein, als in diesem einzigen, verlornen Augenblick.

[6] Wie gern sagte ich nicht recht viel Schönes und Vortreffliches von dem Menschen; hätte ich doch auch meinen Teil daran!

322


[7] [455]DER Schriftsteller, der nicht Ich zu sagen wagt, wenn er von sich spricht, kömmt mir vor, als sei er sich keines wahren, kräftigen, selbständigen Ichs bewußt und bitte deswegen im voraus den Leser um Vergebung, daß er ihm keines vorzuführen habe. Derjenige, welcher in der vielfachen Zahl von sich spricht, macht seine Bescheidenheit in obiger Rücksicht verdächtig und scheint sogar auch fremdes Gut geladen zu haben.

323


[455] [416]DIE Schwärmerei, welche dem Leser oder Zuhörer den wenigsten, wohl gar keinen Genuß gewährt, ist die der Vernunft. Wenn nämlich ein recht philosophisches Genie, um als Originaldenker aufzutreten, eine Idee oder den Schatten einer Idee zu einem ihm nagelneu scheinenden System so ins Feine gesponnen hat, daß er nun das ganze Gebäude an diesen Faden hängen zu können glaubt, so wird er von diesem Augenblick an so schwärmerisch verliebt in sein Geistesgeschöpf, daß er, der doch schon allen Glauben in den Prämissen und Prinzipien verworfen hat, nun den derbsten Köhlerglauben hinter sich läßt und ihn sogar von uns fordert. Lachen könnte man wohl, wenn dem Dinge eine lächerliche Seite abzugewinnen wäre; es ist aber zu abgenutzt dazu und gewährt folglich gar keinen Genuß.

324


[416] [260]DER Schleier, welchen asketisch-mystische, heuchlerische, pfäffische, sein wollende Religion in Verbindung mit einer tückischen Politik und der gestalt- und gehaltlosen Schulphilosophie seit Jahrhunderten gewebt, geflickt und dick gefärbt hat, ist endlich zerrissen und fliegt in Lumpen über den größten Teil Europas her. Mögen böse Genien diese Lumpen in der Luft immer zusammenlesen und zu einem Ganzen für gewisse Reiche zusammenflicken; uns sollen sie das Licht nicht mehr verhüllen. Ja es sind seit Jahren alle große[n], wichtige[n] Wahrheiten so laut und öffentlich gesagt worden, daß man sie nun mit Sinn, Kraft und ohne Besorgnis anhört; der menschliche Geist erschrickt nicht mehr vor ihnen. Die Regenten kennen ihre Pflicht, man darf von diesen Pflichten reden, und die Völker wissen nun auch durch Erfahrung, daß sie der Regenten bedürfen. Doch gibt es noch einige Länder, wo man Märtyrer werden könnte.

325


[260] [39]DA das Spiel mit dem Gewissen das älteste Spiel der Welt zu sein scheint, so kann man eben nicht sagen, daß die Jesuiten die Kasuisterei erfunden hätten; sie haben sie nur zur Wissenschaft erhoben und als solche zum Heil der Seele angebaut und rühmlich ausgeführt. Wenn ein Priester den Gläubigen so etwas mit Salbung und kraft seines Berufs zum Heil der Seele ausgearbeitet übergibt, so müssen sie es doch annehmen und befolgen, um nicht für Ketzer angesehen zu werden. So viel ist wenigstens durch den Fall der Jesuiten selbst in katholischen Landen gewonnen, daß das Spiel mit dem Gewissen jetzt nur den alten Gang geht, daß es nicht mehr als Wissenschaft so öffentlich gelehrt wird und nicht mehr den wichtigsten Teil der römisch-katholisch-jesuitischen Theologie ausmacht. In diesem Sinne hätte man sie besser Dämonologie genannt.

326


[39] [62]DER Mensch wird alles müde, nur nicht, sich selbst zu lieben. Auf dieses Gesetz hat die Natur alles gebaut, und wir gehorchen ihr auch nur so lange, als wir es befolgen. Wer da glaubt, daß ich dieses dem Menschen zum Nachteil sage, der nahe sich nur dem, der dieses Gesetz zerrissen hat; dieser wird ihn vielleicht zu seinem Schaden lehren, was ich hier nur andeute. Wer sich nichts ist, ist auch andern nichts, wenn er ihnen nicht noch etwas Schlimmers ist.

327


[62] [439]ES gibt Geisterpöbel, der durch nichts geadelt werden kann. Wie wär' es sonst möglich, daß Leute, die von Jugend auf und ihr Leben durch die Wissenschaften getrieben und das Schönste, Vortrefflichste, was der menschliche Geist hervorgebracht, gelesen haben, gleichwohl so wenig liberale, edle Gesinnungen haben, als hätten sie sich in dem Kot gewälzt und nie die Teppiche betreten, welche Götter für uns gewirkt zu haben scheinen. Ich glaube, sie werden in jenem Leben vor dem Anblick des Großmeisters selbst, vor aller seiner Herrlichkeit – und enthüllten sich ihnen auch alle die großen Geheimnisse, zu welchen die Wissenschaften auf Erden nur Vorbereitung sein könnten – immer noch Geisterpöbel bleiben.

328


MAN sagt und glaubt wahrscheinlich etwas Rechtes zu sagen: »Es ist nichts Abgeschmacktes und Törichtes, das nicht ein oder der andre berühmte Philosoph gesagt und behauptet hätte.« Zugestanden! Es ist aber auch nichts Schönes, Gutes, Vortreffliches, das nicht ein Philosoph gesagt hätte. Das wenige Wahre, soweit wir es erkennen, sind wir ihnen obendrein allein schuldig.

329


[439] [378]EIN Beweis, daß der Mensch die Idee von Gott selbst erschaffen sollte, liegt auch darin: Er fängt mit einem rohen, gestaltlosen Klotz oder Stein an, vervollkommt die grobe Materie bis zum Apollo von Belvedere, dem Jupiter Olympius und endigt mit einem unendlichen, alleserschaffenden und -erhaltenden Geist. Ist er soweit, so räsoniert er darüber, versinnlicht und verunstaltet wohl auch wieder das Erhabenste, was seine Vernunft erreicht hat. Er fühlt dann, daß er für seine Sinne zu weit gegangen ist; und da er nun einmal nicht stehen bleiben kann noch soll, so sucht er das Unmögliche zu bewirken: das Gedachte der Vernunft mit dem Gefühlten der Sinne zu vereinigen. So fängt er auch mit sich als rohem Tier an und arbeitet es bis zu einem Newton aus, um sich zum Räsonieren über sich selbst und sein Geschlecht ein weiteres Feld zu öffnen. Hier liegt die Quelle seiner Größe, seines Geistesglücks: Er steht zwischen zwei Finsternissen, die ihn gänzlich einhüllen, durch seine schaffende Kraft wirft er Licht dazwischen, sein erhabnes Geisteswerk steht umstrahlt da und erhellt selbst die ihn rings umgebende ferne Finsternis so weit, daß sie ihn wie Dämmerung umschwebt.

330


[378] [389]DAS russische gemeine Volk stellt, sobald ein Mensch verschieden ist, ein Glas Wasser neben den Leichnam und legt ein Stückchen Leinwand dazu, damit die Seele des Abgeschiedenen sich von ihrem Unrat reinigen möge. Der Einfall ist naiv, menschlich, sogar moralisch, und das Bad kostet nicht viel. Man sieht, daß die griechischen Geistlichen ihr Handwerk nicht so gut verstehen wie die katholischen. Diese ersannen oder kopierten von den Heiden ein recht großes Seelen-Feuerbad, aus dem vor der bestimmten Zeit nichts erlösen kann als die Messen, die der Priester zur Errettung der Gequälten für bare Münze liest.

331


[389] [21]DAS Lächerliche an uns tut uns darum so viel Schaden, weil es sozusagen vor uns herläuft. Weil wir uns schon gezeigt haben, ehe wir noch die Zeit hatten, uns zu zeigen. Der erste Augenblick bewirkt das Urteil – und meistens, ohne Appellation zu [21] gestatten; es gehört viele Zeit, Geduld, viel Geist, ja Glück dazu, um von diesem so rasch urteilenden und schnell verdammenden Richterstuhl wieder in Ehren eingesetzt zu werden.

332


DAS Lächerliche, das uns anklebt, scheint im Grunde weder eine Sünde noch ein Verbrechen zu sein; da es aber das einzige Verbrechen in der Gesellschaft ist, das, kaum bemerkt, kaum gesehn, schon für immer abgeurteilt und verdammt wird, so muß es beinahe mehr – ich will nicht sagen: als Mord, doch mehr als Bankerutt an Ehre und Habe sein.

333


WER mir nicht glaubt und sich mit eignen Augen und Ohren überzeugen will, was für ein schreckliches Gebrechen oder Verbrechen das Lächerliche in der großen Welt ist, der muß suchen, in einer vornehmen Gesellschaft gegenwärtig zu sein, wenn ein berühmter – oder noch besser: ein allgemein geschätzter, rechtschaffener Mann zum erstenmal darin auftritt und den Versammelten durch etwas Lächerliches an sich die Last der Achtung abnimmt oder wenigstens erleichtert.

334


DIE unterste Klasse, der Pöbel, um »vornehm« zu reden, der in allem Freude findet, weil ihn keine höhern Ansichten daran hindern, ergötzt sich herzlich an dem Lächerlichen seiner Nebenmenschen und gibt ihnen dafür sein eignes Lächerliche gerne preis. Unter der feinen Welt ist es ganz verschrien, und mit vielem Recht; Leute, die so viel Lächerliches, Unanständiges tun, können es nicht besser decken als mit der Grazie des Betragens, dem leichten liebenswürdigen Anstand, der sanft ernsthaften, vornehmen Miene, kurz mit dem, was der Tanzmeister und die Weiber lehren.

335


[22] ERNSTHAFTE, wichtige Ämter vertragen wirklich ein anklebendes oder durch Affektation erworbenes Lächerliche nicht. Es gibt da Augenblicke, wo die rechte Miene zum Amte mehr wirkt als der Geist zum Amte. Auch dies ist sehr natürlich: Die rechte Miene verdeckt die unsichtbaren Lücken unsers Geists, das Lächerliche macht die schlechte Bildung oder Verbildung desselben nur auffallender und unangenehmer.

336


DIE Deutschen haben von allen Völkern das meiste Lächerliche für die große Welt an sich; vielleicht weil sie noch gar zu ehrlich sind und die große Welt noch allzusehr verehren und bewundern. Wer nichts anstaunt, steht mehr auf seinem Gleichgewicht. Der Engländer glaubt, ihn kleide alles, er habe zu allem Recht; er verachtet, was er nicht besitzt und nicht mehr erwerben kann, tritt keck, auch wohl bengelhaft auf. Der gutmütige Deutsche will wenigstens zeigen, daß er sein Möglichstes tue, andern zu gefallen, und in diesem ehrlichen Eifer merkt er kaum, wie schlecht es ihm oft gelingt. Der Franzose und der Russe haben den sichersten, feinsten und für alle Auftretende[n] gefährlichsten Takt, das Lächerliche auf den ersten Blick auszufinden. Wer sich vor ihnen auf seinen Sprach- oder Tanzmeister allein verläßt, der wird von ihnen über seinen Irrtum belehrt werden, vorausgesetzt, er habe Sinn genug, auszufinden, daß das eben sein Lächerliches sei, was man an ihm am meisten bewundert. Wo Leute von Welt einen Genuß finden, sparen sie sich ihn auf, suchen ihn weislich zu vermehren, vielleicht weil sie der wirklichen Genüsse so wenige haben.

337


[23] [135]EXZENTRITÄT und Originalität nützen eigentlich keinem; doch unbedeutenden Leuten läßt man sie so hingehen, wenn sie den Schaden davon tragen wollen; aber das Wesen der Regenten und Staatsleute verträgt sie ganz und gar nicht, und wenn diese dadurch etwa einen zweideutigen Ruhm erwerben, so bezahlen die ihn teuer, auf deren Kosten er erworben wird. Die Völker könnten also immer den Himmel bitten: »Bewahre uns vor exzentrischen und originellen Regenten und Ministern!«, wenn man zur Abwendung eines Übels zum Himmel flehte, das sich, aus besondern Gründen, so selten auf Erden zeigt. Was aber solche Exzentrität bei einem Regenten wirkt, der Anlage zu höhern Tugenden hat, das hat Schweden an seinem berühmten Helden Karl dem Zwölften wohl erfahren, und Europa wird an die Folgen davon durch Rußland immer mehr erinnert werden, wenn es dieselben etwa vergessen sollte. Vielleicht ist Karl der Zwölfte seinen Hofleuten und Hoflehrern gar zu früh entsprungen, denn diese, nebst den Staatsbeamten, arbeiten gewöhnlich und sehr weislich darauf, alles Exzentrische und Originelle in dem Lehrling bis auf den verborgensten Keim dazu auszurotten. Sie und die Welt fahren freilich gut dabei; das Übel ist nur, daß sie oft etwas ganz anders für exzentrisch und originell halten, als ich hier andeuten wollte. So geht nun, um das Gefährlich-Seltne zu vermeiden, das Nötig-Seltne oft zugrunde.

338


[135] [231]WER in vollem Ernste auf die Opinion des Volks baut, der kann auch dem Sumpfe entstiegene, hin und her flatternde Irrwische für Fixsterne halten. In der Beurteilung großer, berühmter Männer (ich meine zugleich: guter und edler), die Einfluß auf die politische und moralische Welt haben, zeigen sich Große und Kleine, Vornehmere und Geringe, gewöhnlich ganz als einverstandner Pöbel. Was sonst nie übereinstimmt, tut es hier. Tadeln ist hier leicht; aber in der Tat: Es gehört mehr als das Mögliche dazu, daß die Meinung einer solchen schwankenden Menge ineinem Punkt richtig zusammentreffe, da nur die Kleinigkeit dazu erfordert wird, daß der Verstand aller so aufgeklärt und hell sei, ihren Vorteil recht zu erkennen und die Lagen, Verhältnisse eines solchen Mannes, der sich mutig und tapfer für sie bemüht, klar einzusehen. Diese Kleinigkeit wird uns denn wohl, weil wir doch nach der Meinung weiser Männer wirklich im Steigen zur Veredlung und Vervollkommnung sind, mit den übrigen Kleinigkeiten auch noch kommen. Bis dahin zieht jeder einen solchen Mann in seine eigne Lage, und weh' [231] ihm, wenn er nicht recht hineinpaßt; es hilft ihm nichts, wenn er auch in tausend und tausend andere Lagen paßt. Die Vornehmen sind hier die allerschlimmsten, denn da sie alle groß und mächtig werden wollen, so soll er nur durch das berühmt werden, was er ausschließend für sie tut. In der Welt bescheidet man sich noch, weil man muß; aber empörend ist es, daß auch so viele Geschichtschreiber in diesem Punkte Pöbel sind.

339


[232] [197]DIE Großen der Erde finden gewöhnlich im Unglück nur mehr Stoff des Mißtrauens und des Mißfallens gegen die Menschen und an den Menschen, weil sie sich selbst die Ursache desselben selten zuschreiben. Dieses ist eine natürliche Folge der Lehren, die ihnen gewisse Leute geben; und diejenigen stärken sie noch mehr in diesem Glauben, die an die Stelle derjenigen zu treten suchen, die man bei dem unglücklichen Ereignis gebraucht hat.

340


AUCH auf den Stärksten kann der Schwächste wirken, wenn er es einmal dahin gebracht, ihm vertraulich nahen zu dürfen. Er [197] braucht den Starken ebendarum nicht bei seinen Schwächen anzugreifen; am sichersten richtet er den Angriff auf seine Stärke selbst durch seine Stärke, und gelingen wird es ihm, wenn er sie nur zu seinen Absichten zu reizen versteht. Der Kräftig-Mutige fühlt das Gewicht seiner Stärke; und da er sich durch sie alles zutraut, verläßt er sich auf sie und ist hier am wenigsten verwahrt; seine Schwächen kennt er und deckt darum die Blößen durch Verteidigung. Ein solcher Mann gebraucht oft seine ganze Kraft und ahndet nicht, daß er das Werkzeug eines Schwächlings oder Elenden ist, und was das Schlimmste ist, er gebraucht sie dann gewöhnlich, wo er sie nicht brauchen sollte, oder tut mehr, als er getan haben würde, wenn er ihr selbst die Richtung gegeben hätte. Als Minerva den edlen Ajax verblendete, erwürgte er die Schafe der Griechen und wähnte, seine Feinde zu erwürgen. Die Listige rettete dadurch ihre Lieblinge nicht allein von seiner gefährlichen Stärke, sie richtete den ihr Verhaßten durch den Mißbrauch derselben selbst zugrunde. Die Anwendung versteht sich: Der Moralisch-Starke hat sich vor niemand mehr zu hüten als vor dem Moralisch-Schwachen, dem er Einfluß und die Leitung seiner Kraft und seines Muts verstattet.

341


[198] [62]WER sich aus bloßem Stolze unabhängig gemacht hat, wozu mancher kömmt, dem es in der Welt nicht nach seinem hohen Sinn gelungen (weil er vielleicht die ihm niedrig scheinenden Abhängigkeiten überspringen wollte, um gleich zu einer recht großen in der Herrschaft über andere zu gelangen), der endigt gewöhnlich mit Abhängigkeit von sich selbst. Er muß sich nun ärger despotisieren, als ihn andre despotisiert hätten, um sich im stolzen, philosophischen Schein der Unabhängigkeit zu erhalten.

342


[62] [216]GEBE der Fürst einem reichen Hofmanne die Freiheit – das heißt, er entlasse ihn, wenn er müde ist, sein Gesicht zu sehen –, und dieser freie Mann wird vielleicht sterben, bevor er gewahr wird, daß das Grün der Bäume auf seinem Landgut frischer ist als das Grün der Bäume in dem Schloßgarten. Von besserer, gesunderer Luft will ich gar nicht reden; seiner Brust ist keine zuträglich als die der fürstlichen Gemächer. Sein eignes Schloß, und wäre es größer als Versailles, wird ihm ein Hundestall scheinen; er denkt nur an die engen Kammern, die er im Untergeschoß oder auch unter dem Dache des fürstlichen Schlosses bewohnte – ach! – und in denen nun ein anderer Glücklicher sich bläht! So mußt' es sein! Wie hätte sonst aus der Gesellschaft [216] von Menschen, die zu Selbsttätigkeit und den daraus fließenden Genüssen geschaffen sind, ein Hofleben entstehen, sich so ausbilden, so vervollkommnen können!

343


[217] [267]DIE Französische Revolution hat unsern Schriftstellern einen reichen Stoff zu Büchern geliefert; ihre Folgen gewähren einen ebenso reichen, wo nicht reichern, denn sie können jetzt sogar Erbauungs-, Trost-und Stärkungsbücher in allen Formen über dieselbe schreiben und den so reichen Stoff asketisch-politisch behandeln. Auch glaube ich beinahe, es wird vor dem Drucke dieses Blattes geschehen sein.

344


[267] [501]EIN Schriftsteller mustert Gott, den Staat, die Natur, das Alte und Neue, schont weder der Toten noch Lebenden, haut alles nieder, um durchzusetzen und zu erheben, was ihm als Wahrheit vorkommt. Läßt nun der Mann seine Scharmützel und Schlachten endlich drucken, so will er gar nicht leiden, daß die Rezensenten das an ihm tun, was er an andern getan hat. Ist dies, auch billig? Wer Krieg führen will, muß vertragen können, was der Krieg mit sich bringt. Und ist nicht jede Schriftstellerei eine Art von Krieg? Wird sie nicht abgeschmackt, wenn sie gar zu friedlich einhergeht? Krieg der Torheit, der Narrheit, den Irrtümern, dem Wahn, den Vorurteilen, der Vermessenheit, dem Laster! Ist dieses nicht das Feldgeschrei in der Geisterwelt, auf Erden wenigstens? Legt ihr nicht die Moralität, worauf sie sich gründet, diese Verpflichtung auf? Freilich sind die Rezensenten nur leichte Truppen auf diesem lärmenden Schlachtfelde, aber um so gefährlicher, wenn ihr Blößen gebt und nicht geschlossen steht; da fallen sie mutig über euch her, und der Sieg ist leicht. Vielleicht ist ebendieses die Ursache, daß man sie nicht leiden kann. Aber sie hauen ein, wo keine Blößen sind! Der Husar ist der Prahler unter den Soldaten, das ist ja weltbekannt; er tut tausend Lufthiebe, bis einer trifft; aber der Husar der literarischen Armee hat euch gewiß getroffen und noch dazu am rechten Fleck verwundet, wenn ihr laut aufschreit und auf ihn schimpft.

345


[501] [240]ALS sich der junge Alkibiades mit andern auf der Straße spielenden Knaben vor einen fahrenden Karren mitten in den Weg legte und dem Fuhrmann trotzig zurief: »Fahre nun zu!«, legte sich doch wohl der Bube eines Optimaten, Aristokraten oder Patriziers hin. Da nun der Fuhrmann ein Bauer oder Sklave war, so wußte jeder von beiden, wieviel und was einer von dem andern zu fürchten hatte. Der Fuhrmann eines Aristokraten, wenn der Herr selbst auf dem Wagen gesessen hätte, würde ihm wahrscheinlich einen Hieb auf den H*** gegeben haben und [240] das vielleicht zu des Buben und Athens Bestem. Ein Hieb zu rechter Zeit könnte wohl für manchen Staaten zerstörenden Mann von wichtigen Folgen gewesen sein; aber solche Leute teilen gewöhnlich schon als Knaben den andern Hiebe aus, und diese sind wohl noch dumm genug, es für Zeichen des Heldenmuts zu nehmen. Wer in die Alkibiade verliebt ist und sich über das, was ich sage, ärgert, der begebe sich nur dahin, wo Leute seiner Art ihr Wesen treiben.

346


[241] [423]PHILOSOPHEN und Dichter haben uns den auf einer wilden Insel jung ausgeworfenen Naturmenschen, der sich da nach ihrer Angabe aus sich selbst ohne alle fremde Hilfe entwickeln soll, sehr anziehend beschrieben; aber ebendarum, weil sie selbst nicht so aufgewachsen sind und sich durch fremde Hilfe entwickelt haben, schreiben sie nur Romane. Selbst derjenige, welcher nach einem solchen Zustande lange genug unter uns lebte, um unsre Sprache und durch sie unsre Begriffe zu erlernen, würde aus sich und seiner Erfahrung diesen Naturmenschen nicht mehr beschreiben können; denn in dem Augenblick, da er wirklich denkt, erinnert er sich auch nicht mehr, was er in seinem Innern gewesen ist, da er noch nicht dachte.

347


DER Mensch fängt nur dann an, unglücklich oder des Unglücks fähig zu werden, wenn ihm die moralische Welt aufgeht. Welch ein Text! Rousseau hat ihn durchgeführt, und er war das Thema seines ganzen denkenden Lebens. Ich wundere mich nicht, daß er hier zu weit ging: Er sah nur sich selbst – den Mann nämlich, der so wie er über den moralischen und politischen Menschen dachte – in dem physischen Naturmenschen. So läßt sich dieser Zustand ganz vortrefflich ertragen; und wenn wir uns recht philosophisch selig träumen wollen, so träumen wir so. Das, was uns ärgert und zu solchen Träumereien reizt, kömmt dann am schlimmsten von unserm Richterstuhl weg; und dies vermindert unser Vergnügen nicht. So fand sich natürlich der edle Rousseau in dem Fall jener philosophischen Dichter; aber der Hauptsatz, von dem ich ausging, bleibt unerschütterlich wahr – für mich nämlich.

348


[423] [406]NACH den wichtigen Entdeckungen, die man in neuern Zeiten in der physischen und politisch-moralischen Welt gemacht hat, sollte man doch hoffen können, endlich hinter die Geheimnisse beider zu kommen und sowohl über die Natur als den Menschen etwas Bestimmtes und Klares zu wissen. Aber diese Entdeckungen scheinen nur das Gegenteil zu bewirken; denn jede neue macht die Auflösung des Rätsels schwerer und es selbst verwickelter. [406] Man muß ja immer auf noch nicht entdeckte Kräfte, auf noch nicht vorgekommene Erscheinungen schließen, die das Angenommene in einem Augenblick wieder umstoßen können. Wir haben die zwei neuesten Entdeckungen dieser Art erlebt: den Galvanismus und die Französische Revolution. Der Physiker ist darum nicht weiter: Er kennt nur die Erscheinung einer ihm verborgenen Kraft mehr. Ist der Mensch durch philosophisch-politisch-moralische Betrachtungen über die Französische Revolution, die an Kraft, Ausdehnung, Sonderbarem, Unerwartetem und an Wirkung alles übertraf, was in dieser Art geschah, der Enthüllung des Rätsels über sich nähergekommen? Er hat nur eine scheußliche Erfahrung mehr aufzuzeichnen. Und diese Erfahrung hat sogar gute Köpfe rückwärts geführt, der Schwachen Begriffe ganz verwirrt. Selbst dem kühnen, starken Selbstdenker bleibt nichts übrig, als es wie einen Versuch anzusehen, wobei der Mensch einmal etwas ernstlicher als gewöhnlich vorzuhaben schien, sich über sich selbst, seine Natur und seinen moralischen Wert recht laut und schreiend zu erklären und das düstere Rätsel der Lösung näherzubringen. Wir wiesen jetzt, wie es ihm gelungen ist; und alles, was wir in diesem Sinn gewonnen haben, ist, daß wir ihm in diesen Versuchen nun noch viel weniger trauen werden.

349


[407] [464]DIE Welt, das menschliche Herz sollen der Spiegel des moralischen Schriftstellers sein, so sagt man; aber er wird darin nichts erblicken als seinen eignen leeren Kopf, wenn er nicht vorher einen sehr hellen Spiegel in seinem eignen tiefen Innern gefunden und sich lange genug darin beschaut hat. Er muß sogar in dieser Beschauung so lange vor sich selbst gesessen haben, bis er ganz genau weiß, wie die Gegenstände der äußern Welt durch das Medium seines Geistes in seinen eignen Spiegel reflektieren. Mischt sich zu viel oder zu wenig von seinem eignen Lichte darunter, sind die Strahlen seines Lichts zu warm oder zu kalt, so wird er freilich noch immer ein Gemälde sehen, nur nicht so ausgeführt, wie's ihm aufgegeben worden. Der Berechnung der Strahlenbrechung muß er sich überdem gar sonderlich befleißen, und weh' ihm, wenn er die Nuancen der Farben nicht rein zu unterscheiden weiß! Hat er es aber nun wirklich so weit gebracht, [464] so sitzt er zwar vor einem sehr sonderbaren Schattenspiel, aber wahrlich vor keinem Schauspiel, das ihm viel Freude macht, und der Optikus, der so etwas aus ganz gemeinen Spiegeln zusammensetzt, bringt ein viel lustigeres und ergötzenderes Spiel hervor, und das darum, weil er sich nur an das Äußere der Gestalten hält und halten muß.

350


[465] [471]HORAZENS Satiren und Briefe sind in dem leichten Tone des Hof- und Weltmanns geschrieben, der unter einer erträglichen Regierung lebt, dem es übrigens ganz gut geht, der nichts zu fürchten hat und die Toren nur leise an den Ohren zupft. Aus dem ernsten, finstern Ton Juvenals und Persius' hört man die schweren Zeiten, worin sie lebten; ihre Satiren sind ein lautes Geschrei des empörten Gefühls, welches ihnen die Tyrannei und die sie begleitenden Laster und Verbrechen abgedrungen haben. Sie kitzeln die Toren nicht mit dem Witz, über den Klügere nur lächeln; sie schinden die Verbrecher so, daß der Schuldlose selbst einen Schauder fühlt. Horaz hätte wenigstens zu solchen gefährlichen Zeiten weislich geschwiegen wie jeder schöne Geist, dem seine Lage behagt. Aber Männer wie Juvenal und Persius schreiben zu allen Zeiten. Wer ihre Satiren für übertrieben hält, der hat nicht zu gewissen Zeiten und nicht in großen Städten gelebt. Wer sich da umsieht, findet immer noch die Leute, die ihnen gesessen haben, die äußere Form bloß ausgenommen. Solche Dichter sind die Geschichtschreiber der Sitten ihrer Zeit.

351


[471] [334]WER den wärmsten Eifer für die Wahrheit und das Gute überhaupt so oft scheitern und noch öfter lächerlich hat werden sehen, der wird endlich – wenn er besonders viel unter den Großen lebt, ein ruhiges Leben liebt und dadurch recht klug für sich zu werden anfängt – gegen die Torheiten, den Wahn und sonstige Gebrechen so tolerant, daß er jene Eiferer wirklich für Ruhestörer ansieht. Die gepriesene Toleranz so vieler liebenswürdigen Welt- und Geschäftsleute fließt aus ebendieser Quelle, und wenn ihr sie einmal intolerant sehen wollt, so stellt ihnen einen Eiferer entgegen, den sie zu fürchten haben; alle andere[n] behandeln sie mit Lieblichkeit und übergeben sie dem Lächerlichen.

352


EIN politisch-neutraler Bürger war nach den Gesetzen eines griechischen Staats nicht mehr wert, es zu sein. Zu was bestimmte nun der Oberherr der Geister die Neutralen in der moralischen Welt? Wenn sie hier nichts waren, was werden sie ihm dort sein? Ja, was können sie ihm sein, da sie ihr Beglaubigungsschreiben zu dieser Bürgerschaft weder vorgezeigt noch benutzt haben?

353


[334] [477]ES gibt gräßliche Träume oder besser Gesichte, die bloß von der Materie erzeugt zu werden scheinen, besonders bei innern Krämpfen, wenn der Geist, die Seele von den innern physischen Leiden so unterjocht wird, daß die leichte Phantasie, die den Traum zur angenehmen Lüge macht, gar nicht wirken kann. Diese Gesichte werden so widrig-gräßlich durch ihre grelle Wahrheit, daß ich sie nicht besser als mit allzuwahr scheußlichen Tragödien vergleichen kann, die auch nur durch die Materie auf uns wirken und ebendarum die widrige Wirkung auf uns machen, weil wir dabei nichts mehr durch den Geist und seine Dienerin, die Phantasie, wahrnehmen. Wenn Gesichte des ersten Leidenden aus Eingeweiden voller Schärfe entspringen, so entspringen sie vielleicht bei solchen tragischen Poeten aus einem kalten Herzen und einem Kopfe voller Dünste, vielleicht gar aus zu leeren Eingeweiden. Wenn die Schreiber der scheußlich-gräßlichen, schalen Ritter-, Geister- und Gespensterromane ihren Anteil an der Vergleichung fordern, so gesteh' ich, daß sie das Recht dazu längst – und mehr, als nötig war – erwiesen haben.

354


[477] [272]SÉGUR, ein sehr guter Kopf, schreibt den Gang, welchen die Französische Revolution genommen, der Furcht aller Parteien zu; ebenso schreibt er ihr alle die politischen und militärischen Sottisen der gegen Frankreich im Kabinett und im Felde Krieg führenden Mächte zu. Wenn sich dieses nun wirklich so verhält, so können die Franzosen jetzt immer nach geendigtem Kriege der Göttin Furcht einen Tempel bauen und weihen; sie hat sie, von außen wie von innen, gut bedient. So bauten die Römer, sagt man, dem Ridiculo (dem Lächerlichen) einen Tempel, nachdem Hannibal von Rom abgezogen war, und zwar auf ebendem Platze, wo seine äußersten Posten gestanden hatten. Die Franzosen werden schon die Stelle in der Champagne finden, wo die Vorposten ihrer Feinde zuletzt gestanden, wenn ihnen so etwas, einfallen sollte.

355


[272] [114]DIE Schwachheit ist die Mutter der Macht; und wenn der wackere Sohn der Mutter nicht bei der Geburt den Leib zerreißt, so geschieht es nicht aus Schonung: Wer sollte ihn sonst säugen und nähren?

356


DAS Lämmergeschlecht zeugt und gebiert sich wenigstens nicht selbst den Wolf zum Wächter; auch darin kann sich der Mensch des Vorzugs über die Tiere der Erde rühmen.

357


[114] [136]EIN Fürst muß nie als Mensch, immer nur als Fürst versprechen und sein Wort von sich geben. Wenn er sich übereilt oder man ihn überlistet hat, wie kann es der Mensch gegen den Fürsten entschuldigen und wie kann der Fürst den wortbrüchigen Menschen entschuldigen? Pflicht muß nicht von Pflicht losbinden; also um diese zarte Kollision zu vermeiden, schließe ich mit dem Satze, mit dem ich angefangen habe.

358


WER, über andre gesetzt, nie vergißt, warum er über sie gesetzt ist, den wird keiner auf seiner Höhe beneiden. Jeder wird vielmehr wünschen, ihn noch höher stehen zu sehen.

359


FÜRSTEN sollten von echten Republikanern auferzogen und unterrichtet werden, nicht um Republikaner im gemeinen Sinn zu werden, sondern um Mann des Gemeinwesens zu werden, um von ihnen zu lernen, was sie dem Menschen schuldig sind:

Wer dieses erfüllt, der ist schon Republikaner, und säß' er auch auf einem unumschränkten Throne.

360


[136] [272]IN England herrschte ehemals ein esprit public et politique; vielleicht poltert er zuzeiten noch dort; vielleicht regt sich nun auch so etwas in Frankreich. In Deutschland herrscht bisher nur ein literarischer Geist, und wahrlich: Dies ist ein Glück für uns, wir müßten ja sonst vor Scham, Gram, Ärger und Wut des Todes sterben, wenn wir das, was man seit dem Kriege mit uns gemacht hat, in einem solchen Sinn betrachteten; welcher Deutsche könnte den Frieden überleben, der uns in Regensburg zugeschnitten wird? Jetzt rührt uns doch wenigstens die Verachtung und Mißhandlung nicht allzusehr. »So weiß die Vorsehung alles zum besten zu lenken«, kann und muß der Optimist sagen. Er gab den Deutschen, was ihnen frommen sollte: Geduld und viele Herren von innen und von außen.

361


[272] [398]WEISHEIT mit Kraft verbunden ist eine seltene Erscheinung, auf diesem Planeten wenigstens. Man setzt gewöhnlich diese zu, indem man nach jener steigt. Vermählt zeugten sie Götterkinder.

362


[398] [465]SONST guten, aber gemein gewordenen Gedanken kann man wieder Nachdruck und Leben durch neue kräftige Darstellung geben, das heißt: Münzen, die sich durch langen Umlauf so abgeschliffen haben, daß keiner sie mehr nach dem Nennwert annehmen will, wiederum vollwichtig mit Rand und Bild ausprägen.

363


[465] [493]WENN Zuhörer oder Leser die hohen Gefühle, edlen Gesinnungen, strengen Grundsätze, starken und kühnen Gedanken eines Redenden oder eines Schriftstellers für übertrieben ausgeben, so irrt man selten, wenn man die Ursache davon nur in dem Zuhörer oder dem Leser sucht.

364


[493] [165]WENN das Denken in einem Staate nicht erlaubt ist, so fühlt man nur, und das endlich so gewaltig, daß man vor lauter düsterm, starkem Fühlen wirklich nicht mehr denkt. Darum müßte man nun auch, um immer auszukommen, das Fühlen in einem solchen Staate verbieten können.

Ich schmeichle mir, den klugen Beamten eines gewissen Staats, worin das Denken für so gefährlich gehalten wird, einen neuen Ausweg zur Sicherheit und Begründung ihrer Macht eröffnet zu haben. In diesen gefährlichen Zeiten ist jeder Biedermann [165] verbunden, für solche wachsame Leute das Mögliche zu tun. Ich tue mein Möglichstes und schlage vor: In allen öffentlichen Blättern dem Wundarzt einen Preis zuzusichern (versteht sich von einer beträchtlichen Summe – die Sache ist es wert!), der eine Operation ersinnt, wodurch man jedem Neugebornen (weil es diesem am wenigsten gefährlich und der Artikel Population nicht außer acht zu lassen ist) die Gefühlsfibern aus dem jungen Herzen schneiden kann. Bei Unmündigen geht so etwas wahrscheinlich an, und die Zeugungskraft wird hier nicht wie bei einer gewissen andern Verschneidung gefährdet. So wäre für alles gesorgt, aller Gefahr vorgearbeitet; denn die Verschneidung des Geistes und der Vernunft nehmen in dem gewissen Lande die Kirchen- und Schullehrer ohnedem schon über sich.

365


[166] [407]WENN wirklich alle Welten in dem Ungeheuern All bewohnt sind (wie man aus der Analogie schließen könnte), die Bewohner dieser Welten in der Enthüllung der Geheimnisse über sich und das, was sie umgibt, nicht weitergekommen sind als wir und sie den nämlichen Forschungstrieb haben, der uns Unwissende plagt, ihre Geister also ebenso von unten aufwärts nach oben springen, um die Enthüllung des Rätsels zu erspringen, so muß wirklich durch das unendliche Universum ein solches Springen von unten nach oben sein, daß man sich verwundern könnte, wie der unaufhörlich und so ungeduldig Befragte die Antwort noch immer zurückhalten kann. Man sollte meinen, Überdruß, [407] Ekel und Ermüdung an einem so lärmenden Schauspiel müßten ihn wahrlich schon lange bewogen haben, sie den rastlosen, schreienden Springern hinzuwerfen. Aber es ist ein so weiser und schonender als mächtiger Geist; er kennt, was er gemacht hat, und wir können ihm nichts weismachen; wäre dieses möglich, es wäre wohl schon längst geschehen.

365 a


[408] [465]EIN Schriftsteller, der kein Individuum ist oder der keinen Charakter hat, sieht uns so nüchtern aus seinem Buche an, daß wir ihn, käme er in Person, so höflich als möglich – vorausgesetzt, daß wir bei der gehörigen Laune dazu wären – nach der Türe führten, ja sie ihm wohl noch selbst öffneten. Doch ist ein solcher Mann seinesgleichen ein willkommner Gast; Nüchternheit vermählt sich gern mit Nüchternheit und zeugt in dieser Ehe ebendie Abgeschmacktheit, die wir so behaglich in der Gesellschaft herumlaufen sehen. Wer daran zweifelt, der betrachte nur zwei Männer von Charakter, wie ernst, trocken, eisern, klug, stark sie zusammen leben, wie leicht sie einander stoßen, wie kühn und gerüstet sie sich bekämpfen! Seht nun auf die Abgeschmackten, sie leben so selig zufrieden miteinander, so vertraut, so genügsam und vermissen so wenig, daß man sie beneiden möchte!

365 b


[465] [408]DIE Masse der möglichen Ideen, derer die Menschen fähig waren, scheint beisammen zu sein, und obgleich der Selbstdenker durch eigne Kraft Schöpfer eines Teils derselben werden kann, so wird er doch schwerlich ganz neue zu dem gesammelten Schatze hinzufügen. Nur durch treffende kühne Ansichten, wichtige neue, überraschende Kombinationen, Erforschungen neuer Verhältnisse und wirkende Darstellung kann er hier Eroberer werden und das Eroberte durch die Kraft seines Geistes zu seinem Eigentum machen.

365 c


[408] [40]TOLERANT gegen alle Schwachheiten des Geistes und Herzens zu sein, das geziemt dem Manne, nur nicht gegen die Schlechtigkeit. Hier muß er als Priester seiner Göttin ganz im Priestergeiste handeln, keine Ketzerei gestatten; sonst hat er sich nur um seines Selbst willen in die moralische Welt geschlichen und ist des Platzes nicht wert, den er sich anmaßt.

365 d


[40] [399]AUCH Wahrheiten, oft die nötigsten, schlafen ein und wollen zuzeiten wieder aufgeweckt sein; hier kommt es aber hauptsächlich darauf an, wer der Mann ist, der sie weckt, wie er sie weckt und zu welcher Zeit, zu welchem Zwecke er sie weckt.

365 e


[399] [50]ICH kenne keinen reinern Genuß, als einen Mann zu sehen von hellem Verstande, von durch Wissenschaften, Welt und Erfahrung ausgebildetem Geiste, der ganz seinen Pflichten lebt und jede derselben so erfüllt, daß man das Gepräge dieses Geistes an jeder erkennt. Hat das Herz seine Wärme dabei nicht verloren, ist sie nun geläutert, ruht der Geist umschwebend auf dem Herzen und doch von ihm getragen, sieht man die Strahlen der Begeistrung in den Augen dieses Mannes ohne allen Anstrich des lodernden, dampfenden Enthusiasmus, den grellen Widerschein des Bluts: so gewährt der Anblick eines solchen Mannes einen erhabenen Genuß; er steht als Rechtfertigung der Menschheit gegen die da, welche sie darum zu erniedrigen streben, weil sie zu feig und schlecht sind, sich zu ihr emporzuheben.

365 f


[50] [321]WER über die zwei Perioden des Lebens, den der Jugend, da der noch reine und kühne Geist durch das Herz stürmt und zu uneigennützigen, gefährlichen Taten gewaltig treibt, und den im reifern Alter, wann die kalte Vernunft, das Pflegekind der Erfahrung und des Egoismus, gleich dem gebietenden Neptun Virgils das »Quos ego!« ausspricht – wer, sage ich, über diese zwei Perioden ganz ruhig nachsinnt, macht gewöhnlich in diesem Augenblick der Menschheit den Prozeß, um von dem Tribunal des eignen Gewissens mit dem Spruch »Es ist doch umsonst!« losgesprochen abzutreten. So endigen die Invaliden der moralischen Welt endlich durch Selbstverstümmlung und gleichen dem Feigen, der sich die rechte Hand abhaut, mit welcher er zur Fahne schwören soll. Auch für die Heroen der Menschheit ist obige Betrachtung traurig und niederschlagend; aber ihr Geist, ihr Herz, ihr Blut, ihre ganze Lebenskraft empörten sich gegen diesen stillegebietenden Ruf; und blicken sie auch düstergrimmig in das schwarze Gewölke, das die Erfahrung vor ihrem Geist zusammengetrieben, so treten sie doch zu neuen Kämpfen in das drohende Gewölke, erleuchten die sie einhüllende Finsternis durch ihren Geist und lösen so die Zweifel an der Möglichkeit einer Welt, für die sie gestritten, noch streiten, für die sie kämpfend sterben.

365 g


[321] [224]WER auf einem wichtigen Posten – an dem Ruder des Staats, an der Spitze der Heere, eines Departements – steht, ist mit hellem Verstande, mit Kenntnissen, guten Gesinnungen, Talenten, selbst Genie doch noch nicht der Mann seines hohen Postens; er ist mit allen diesen Gaben immer nur noch ein Mensch, wie es andere sind und werden können. Zum Mann – dazu muß ihn erst der festbestimmte Charakter und die wahrhafte Energie machen. Ist dieser geistige Stempel der Mannheit auf seiner Stirne, in seinen Worten, Urteilen, Taten und Handlungen sicht-, fühl- und merkbar, so prägt er sich so in den Seelen und Herzen der Menschen, denen er vorsteht, ab, als habe ihn die eherne Faust des unwiderstehlichen Schicksals eingedrückt, und so macht ein solcher Mann aus Menschen – Männer zu Tat und Zweck.

366


[224] [23]ES ist eine traurige, niederschlagende Überzeugung, zu der man aber durch die Erfahrung und die Weltgeschichte gezwungen wird, sosehr sich auch Geist und Herz dagegen empören und von den Beweisen verwundet und gemartert werden:

Die Schlechtigkeit und Bosheit, welcher Art sie seien, haben [23] [= hätten] immer Anführer und Beschützer gefunden, unter denen sich die durch sie Verwandten zu einem allgemeinen Zweck versammeln und einverstanden verbinden konnten; aber noch keiner habe die Erfahrung gemacht oder in der Weltgeschichte gelesen, daß sich etwas Ähnliches mit der Tugend ereignet hätte. Erschiene auch hier oder dort ein solcher Mann, der den Mut dazu hätte und es durch Taten zeigte, der Anführer und Beschützer seiner Geistes-und Herzensverwandten sein und bleiben zu wollen, so stehe er doch bald so einzeln und unbegleitet da, als sähen ihn seines Geistes und Herzens Verwandten für einen Waghals an, mit dem es gefährlich, ja gar unnütz wäre, gemeinschaftliche Sache zu machen. So könnte nun der Bösewicht und Verbrecher zu allen Unternehmungen – zu Mord, Vergiftung, Aufruhr, Staatsumwälzungen – Gesellen und Helfershelfer finden, aber keiner könne auf einen Mann in der Welt oder in der Geschichte zeigen, der zu edlen Unternehmungen für das Beste der Menschheit oder zur Bekämpfung der Bosheit, der moralischen und politischen Schlechtigkeit überhaupt solche tätige Gefährten gefunden hätte oder finden könnte, die es gewagt hätten oder wagen möchten, unter seiner Anführung den Kampf nur zu beginnen; von Ausdauren sei nicht die Rede.

Diese Klage lautet sehr traurig; aber das Traurigste muß ich selbst hinzufügen, sosehr es auch meinen Geist verdunkelt, so tief es auch mein Herz verwundet:

Wäre auch der größte, unumschränkteste Monarch ein Mann in diesem edlen Sinn, so würde eine solche Rolle, laut angekündigt, für ihn gefährlich werden, und er muß sich mit der Politik, das heißt: mit der Gegenpartei, berechnen und so das Größte, Erhabenste für den Menschen im stillen, im dunkeln auszuführen suchen, während die durch die Zahl allgewaltige Gegenpartei im Licht der Sonne so offen wirkt, als sei sie nur darum von der Hand des Allmächtigen angezündet worden, um ein solches Schauspiel von dem Anfang bis zum Untergang dieser Welt zu beleuchten.

367


[24] [129]WENN ein Fürst auch nur den gewöhnlichen Menschenverstand hat, so kann er von denen, die ihn umgeben, leicht lernen, was sie für eine Meinung von ihm haben; er darf nur aufhorchen, wie sie ihn um Gesinnungen, Handlungen und Taten lobpreisen, die man andern Leuten, die keine Fürsten sind, gar nicht anrechnet – als Verdienst anrechnet, wäre zuviel gesagt. Hat er etwas mehr als gewöhnlichen Verstand, so wird er bald bemerken, welche seiner Gesinnungen, Handlungen und Taten denen, die ihn umgeben, am besten gefallen und die nötigen Lehren für sich, sein und seines Volks Bestes herausziehen. Fehlt's ihm aber gar am gewöhnlichen Verstande, so ist jedes Wort verloren.

368


[129] [260]ICH habe alle Hoffnung, daß es nun den Fürsten leichter werden wird, besser, tätiger und aufgeklärter in ihrem und über ihr Amt und über die Pflicht dazu zu werden. Von den vielen wichtigen, großen Ursachen zu dieser schönen Hoffnung will ich jetzt nureine kleine anführen. Kühne und mutige Denker haben endlich den Götzentempel zerschlagen, in welchem Hof- und Staatsleute die Fürsten gefangen hielten und dort den gefesselten Götzen mit Abgötterei und Anbetung speisten, während sie als von ihm bestellte Pfaffen ihr Wesen ohne Furcht und Scheu mit der Gemeinde trieben. So sind die Fürsten nun auch und sogar freie Menschen geworden, die selbst herumwandeln, sehen, hören [260] bemerken dürfen, wohin, wie und was sie wollen. Wahrlich, der müßte doch sehr einfältig oder des Götzendiensts gar zu sehr gewohnt sein, der sich heute noch in eine Blende sperren und da mit elendem Weihrauch von so feilen, verdächtigen Priestern beräuchern ließe. Wer aber eine rechte Schimpf- und Spottrede auf die Popularität der Fürsten hören will, der bringe einen in diesem Götzendienst grau gewordnen Priester auf dieses Kapitel. Sie führt nach seiner Behauptung nichts weniger als den Untergang aller Staaten herbei. Ganz natürlich: Der Fürst muß keinen Menschen sehen, am wenigsten allein; Kluft zwischen ihm und seinem Volke! Da wandelt sich's gemächlich und sicher am Abgrund hin, er verschlingt nur den, der ihn überspringen will! – Mögen sie immer reden, die Zeit hat entschieden; das Vorurteil ist zerrissen, welches diese Vormünder so kräftig unterstützten; die Fürsten wissen, daß sie darum nicht aufhören, Fürsten zu sein, wenn sie den Menschen als Menschen nahen.

369


[261] [25]DIE scheußlichste, empörendste Gotteslästerung ist der Spott derer über den Gerechten, die ihn selbst mit Wunden der Verleumdung bedeckt haben, den sie nun so zugerichtet dem Volke zum Besten auf die Schaubühne der Welt aufstellen, damit auch andere an ihm zu Gotteslästerern werden und die Zungen der Toren, Unwissenden, Verblendeten und Schadenfrohen an ihm den Mord vollenden. Sinkt das Schlachtopfer endlich hin, so ist die Satire auf die Menschheit fertig, die sich in vergangenen Geschichten dieser Art ganz wie Schmähschrift auf dasselbe liest.

370


[25] [114]WENN uns die gutmütige, vertrauende Einfalt des einzelnen naiv und interessant vorkömmt, wie naiv und interessant muß die Einfalt eines ganzen Volks gewissen Fürsten und mehr noch gewissen Staatsleuten vorkommen! Vielleicht gar erhaben, wenn sie dabei denken, diese Einfalt sei das Werk ihres eignen Verstandes, sie hätten dieselbe erschaffen und verständen die Kunst, sie zu benutzen. Sie schmeicheln sich hier, wie in vielen andern Dingen; denn dieses zu bewirken, dazu gehört mehr Schlechtigkeit [114] als Kenntnis. Aber düster-erhaben ist dieses nie allgemein aufhörende Schauspiel wirklich für einen nachsinnenden Beobachter: Millionen fühlender, denkender Menschen zu sehen, die alle mehr oder weniger wissen, wie schlecht man mit ihnen umgeht, wie schlecht man von ihnen denkt, wie man sie so tief verachtet, daß man sie nicht mehr fürchtet, und die doch alle durch ein unsichtbares Band zusammengehalten werden, das nur jene vermessenen Künstler zerreißen können, wenn sie allzu gewaltsam daran zerren. – Nennt es Einfalt, ihr Verblendeten! Die allgewaltige Not, die Eltern, die Kinder, Verwandten, Freunde, die süßen Gewohnheiten, die haben dieses Band an jedes Herz geknüpft; diese sind die treuen Diener eurer Macht, die ihr so schändlich für ihren Dienst belohnt.

371


[115] [267]EINE niederdrückende, schmähliche Frage, deren Antwort aber einen Band erforderte: Warum trat in Deutschland während der ganzen Französischen Revolution, die doch die Toten selbst in den Gräbern bewegte, auch nicht ein einziger starker, großer [267] Mann auf? Warum auch nicht einer, der nur versucht hätte, die Kräfte und den Mut des tapfern und edeln Volks zum Gegenkampf zu vereinigen? Warum traten solcher Männer so viele zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs auf? Glaubt man, der Deutsche habe keine Triebe, kein Gefühl mehr? Oder hielt man es sich, seiner selbst bewußt, keines Versuchs wert?

372


[268] [334]GEHORCHEN ist leichter als Befehlen; beim Gehorchen schieben wir uns selbst fort, beim Befehlen müssen wir andere fortschieben. Wenn man sich selbst fortschiebt, zieht man die Haken des Widerstands ein, um vorwärtszukommen. Wenn man andere fortschieben soll, so drücken die meisten in dem Augenblick ebendiese Haken des Widerstands heraus, da man aufhört, sie selbst fortzustoßen. Wer nun nicht die Kunst versteht oder die Kraft nicht hat, ihnen diese Haken auszurupfen oder sie ganz zurückzudrängen, der geht auf Igeln.

373


[334] [324]ES gibt geistreiche und wahrhaft witzige Leute, denen aber der Witz nicht plötzlich, nicht im rechten Augenblick, nicht zur Stelle zu Gebote steht. Später fallen ihnen die feinsten, giftigsten Repliken ein; sie haben nur die Reue davon, und man könnte sie nicht übel mit gewissen, in einem besonders bedeutenden Augenblick Verunglückten vergleichen. Sind diese Leute darum [324] trägen Geistes? Ich glaube, ihr Herz ist nur noch zu gut für den Witz; der Unwille und der Zorn müssen es erst reizen, die Gutmütigkeit verhüllen, dann blitzt ihr Witz.

374


[325] [480]ICH hasse die kränkliche sogenannte moralische Empfindsamkeit und Empfindlichkeit, jene aus Büchern angelesene Krankheit, womit uns sowohl reine, hohe als gezierte Seelen beschwerlich fallen. Zum Leben gehört Kraft und Mut, man mag auf dem Thron sitzen, in der Hütte wohnen oder an dem Eckstein sein Brot erbetteln. Um etwas zu taugen, um gerechnet zu werden, das heißt: nützlich zu sein, muß man sich und andere verteidigen können. Was soll man nun zu den Lehrern und Büchern sagen, die unsern jungen Leuten den Mut so früh zerknicken, sie so herzens- und seelenkrank machen, daß sie körperlich und geistig zu nichts zu brauchen sind, als uns Ekel zu erwecken? Sie verschneiden sie zu Kapaunen in der Geister- und der wirklichen Welt.

375


[480] [341]ES gibt solche flache Köpfe unter denen, die sich zu Lehrern der Menschen aufwerfen, daß sie in einem Kapitel ihres Buchs gegen allen Despotismus der Fürsten zu Felde ziehen und in dem andern, wenn sie von Erziehung reden, es höchlich beklagen, daß sich die Regierung nicht, wie in dem hochberühmten Sparta, der Erziehung bemächtigt und sie durch strenge Gesetze leitet Arme Wichte! Gibt es wohl einen scheußlichern Despotismus als den, welcher sich bis in das väterliche Haus drängt, durch der Mütter und Väter Herz greift! Was gehört unser durch Geist und Herz, wenn es unsre Kinder nicht sind? Und was wäre das Leben wert, wenn wir nicht nach unserm eignen Sinn und Gefühl mit ihnen verfahren dürften? Nach China mit diesen Philosophen, dem verhaßten Lande der Geistesdespotie!

376


[341] [334]ALLER Anfang ist schwer! – dies fühlt man niemals mehr, als wenn man anfangen will, sich etwas zu versagen. Helfen die physische Unmöglichkeit oder drohende Gefahr nicht aus, so [334] bleiben die meisten beim Anfang stehen, es sei denn, daß sie sich etwas versagten, um sich etwas Wichtigers zuzusagen – zuzusichern – oder daß einer die Kunst versteht, sie dasselbe glauben zu machen.

377


[335] [315]DER große Mann unterscheidet sich durch gar vieles von dem kleinen. Unter andern auch dadurch, daß er aus vielem Kleinen etwas Großes macht und dieser aus dem Großen selbst etwas Kleines.

378


[315] EIN schönes, tugendhaftes Weib ist die Zierde der Schöpfung; ein mutiger, verständiger, edler, schöner Mann ist es auch. Vermählt nun diese beiden Zierden der Schöpfung und seht, was sie für Kinder hervorbringen. Hier eben äfft uns die Natur am sichtbarsten und zeigt sozusagen mit dem Finger darauf, was und wie sie es mit der immer steigenden Veredlung meint. Das wäre doch wenigstens der rechte Weg, um sicher auf das physisch und moralisch Vollkommne zuzusteuern.

379


[316] [136]ZU manchem heutigen Fürstentadler möchte man das ganz Einfältige sagen: »Wir sollten alle besser sein!«

380


[136] [290]ÜBER sich selbst brütend dasitzen, heißt noch nicht über sich denken. Dieses fordert eine klare, aufrichtige Korrespondenz zwischen einem Dinge, das das Verstecken, Verbrämen, Verzieren und das Dunkel überhaupt liebt, und einem andern Dinge, das sich nicht eher betören und betrügen läßt, als bis wir gar nichts mehr wert sind; dann ist ohnedem die Abrechnung geschlossen. Diese zwei Dinge nun sind das Herz und der Geist (oder der Verstand, die Vernunft, jede Benennung kömmt ihm zu). Wenn das Herz sich in dieser gemeldeten Korrespondenz in sein Dunkel nun zurückziehen will, so wirft der Verstand des Mannes, der es ernstlich vorhat, über sich selbst zu denken, und den alsdann das im Herzen sitzende Ich nicht bestechen kann, so viel Licht hinein, daß kein Winkel unbeleuchtet bleibt. Geschieht dieses nun öfter und überzeugt sich das verzagte, interessierte Ding, daß ihm keine List mehr aushilft, so bequemt es sich endlich und bringt sich nach und nach bei dem unbestechlichen Richter selbst so in Kredit, daß der Hauptzweck, das Einverständnis zwischen beiden, eintritt. Aller Prozeß, alle Schikanen, alle Bestechungen hören dann auf; man sitzt über sich als Richter da und urteilt über das Vergangene und Gegenwärtige ab, als habe man einen Dritten vor seinen Stuhl gezogen. Wer dieses nun nicht versucht hat, der weiß noch nicht, woran und was er ist, noch weniger aber weiß er, wie man andre richten muß.

381


[290] EINE gänzliche Aufrichtigkeit mit und gegen sich selbst gehört gewiß zu den seltenen Erscheinungen im innern Menschen. Ich meine eine solche, wobei man es sich nicht genügen läßt, zuweilen zufriedene oder bescheidene, aber flüchtige Blicke auf seine Innern Gedanken, Empfindungen, Wünsche, Begierden, die Quellen derselben und auf wirklich begangene Torheiten, Versehen und moralische Verbrechen überhaupt zu wenden. Das heißt: Nur das Bewußtsein davon über die Oberfläche des Herzens hinwehen lassen, höflich und schonend an sich und seiner eignen Bekanntschaft vorbeischleichen und sich mit Hilfe der Eitelkeit, der Sophismen der Selbstliebe, des Leichtsinns oder des von dem Selbstbetrug zubereiteten Balsams der Hoffnung, künftig weiser und besser zu sein, aus einem schlimmen und lästigen Handel ziehen. Ich rede von der Aufrichtigkeit, wobei man alles oben Gemeldete von allen Seiten betrachtet und erwägt, sich in jedem Vorfall selbst bespiegelt, so genaue Abrechnung mit sich hält, daß das Bewußtsein davon uns ganz durchdringt und sich so in dem Gedächtnis, nebst der neuen Bekanntschaft, die wir dadurch mit uns gemacht haben, in unser Herz und unsern Geist eingräbt, als sei von einem Dritten die Rede, den wir eben nicht sonderlich lieben, der uns überlistet oder sonst einen schlechten, tückischen Streich gespielt hat. Wer nun so aufrichtig mit und gegen sich verfahren ist, auf alles gelauert hat, was in seinem tiefsten Innern liegt, der kann wohl endlich sagen, er kenne einen Menschen.

Diese Bekanntschaft ist aber den meisten so lästig und widerlich, daß man wohl mit Recht von den meisten sagen kann, sie begehen den größten und gröbsten Betrug an sich selbst.

382


[291] [186]DIE Menschen in der Gesellschaft bequemen sich nicht allein zu allem, was ihnen ihre Regenten zuschneiden und zum Geist der Zeit zu machen wissen; sie helfen ihnen auch noch durch Mittel zu ihrem Zweck, welche diese selbst weder ersonnen hätten noch ersinnen konnten. Da nämlich in den modernen Monarchien jedem sein Platz genau bestimmt angewiesen ward und folglich die Tätigkeitstriebe von der besten wie von der gefährlichsten Art einer festgesetzten Regel unterworfen sind, so erfand die innere nach außen strebende Unruhe zur Schadloshaltung die erkünstelte Liebe, wie sie Romane und Schauspiele zur Ergötzung und zum Unterricht malen. Sie setzte mit Hilfe der Eitelkeit, Eigenliebe und Einbildung ein Spiel zusammen, das diese drei tätigen Gehilfen bald zu einem wirklichen Bedürfnis und gar zu der stärksten Leidenschaft zu machen wußten. Von der Natur legten sie ihr unter, was nötig war, um das Schauspiel zu unterhalten und den Nachkommen dasselbe Vergnügen zu verschaffen. So auf das Welttheater produziert, spielt diese erkünstelte Liebe ihre Rolle mit einer Ausbildung und einer Allgemeinheit, daß man versucht werden könnte, zu glauben, der Keim zu diesem Spiele liege ganz natürlich in dem Menschen [186] und er müßte ihn nun mit allen seinen übrigen Trieben und Fähigkeiten unbedingt entwickeln.

383


[187] [97]ES ist eine traurige und niederschlagende Bemerkung, daß von tausend Verbrechen, die von dem Menschen in der Gesellschaft begangen werden, kaum eins aus wahrhafter Not entsteht, daß sie meistens allein aus dem entspringen, was die Menschen Phantasie nennen, was sie sich zu Bedürfnissen erkünstelt haben.

384


[97] [474]MAN sagt, es sei sehr schwer, gute dramatische Werke zu schreiben; ich glaub' es wohl. Der Dichter muß nicht allein ein Stück aus der moralischen Welt ohne allen Überfluß und alles fremde Angehänge herausschneiden; er muß es auch noch so abrunden, daß es der Leser oder Zuschauer in seinem Geist gleich in den Ort, woraus es geschnitten, einpassen kann. Ferner müssen seine Leute zwar die tiefsten Geheimnisse des Herzens beichten, aber weil dieses unter den Menschen ungewöhnlich ist, muß der Dichter es so einzurichten wissen, daß es ihnen nur der Drang der Lage – die Notwendigkeit und die Leidenschaften – abgedrungen zu haben scheinen. Nur in diesem Fall erlauben wir ihm, unsre tief verborgen gehaltenen Geheimnisse zu verraten; geschieht es anders, so sieht alles wie zwecklose Ausschwätzerei aus und gleicht dem Schnickschnack in einer Wochenstube, an den keiner glaubt, der keinen aufmerksam auf sich selbst macht.

385


WER sich anmaßt, über den moralischen Wert anderer zu richten und abzuurteilen, bevor er es über den seinigen als unparteiischer und lange prüfender Richter getan hat, der ist kein Forscher, er ist ein Delator der menschlichen Natur. Wer dieses so wie ich zu sagen wagt, der hat es wenigstens versucht.

386


IN dem Dichter spiegelt sich die moralische Welt nur dann ab, wenn er in seiner eigenen Brust Raum genug hat, sie aufzunehmen, und ihn gewisse Hindernisse nicht abhalten, sich ganz und innig mit ihr zu vermischen. Macht das Talent ebendiese [474] moralische Welt zum bloßen Schauspiel, so beweist es uns, daß es ihren Schauplatz in den Kopf verlegt hat.

387


[475] [40]ES würde mehr rechtschaffne Leute geben, wenn mehrere den Mut hätten, es zu sein; den Willen dazu haben wirklich sehr viele. Wahr ist es: Um in jeder Lage tugendhaft zu sein und gewissenhaft zu handeln, dazu gehört mehr Mut, als Schlachten beizuwohnen. Ich rede von solchen Lagen, wo der Mann sich sagen muß: »Ehre, Glück, Freiheit, Weib, Kinder, Haus und Gut, alles steht auf dem Spiel, wenn du es gegen die Mächtigern wagst! Und Glück, Gut können vermehrt werden, Weib und Kinder gewinnen, wenn du beförderst oder nicht hinderst, was man vorhat, wozu man dich brauchen will. Deine Ehre selbst wird nicht gekränkt, da du es mit deinem Gewissen allein auszugleichen hast.« Wenn aber nach diesen Betrachtungen, die auch der Rechtschaffenste machen darf, der Mann doch den Mut hat, all das Genannte um der innern Tugend willen zu wagen und dabei weder ein Schwärmer noch Enthusiast, sondern ein verständiger Mann ist, der die Mächtigern, mit denen er es vorhat, nicht in seinen hohen Sinn zwingen will, vor ihnen keine Parade davon macht, sondern zufrieden ist, daß sie ihn darnach handeln lassen, so kann es ihm sogar gelingen, tugendhaft zu bleiben und doch Weib, Kind, Glück, Gut, Freiheit und Ehre zu retten. Ja noch mehr: Eine solche Lage, so überstanden, sichert ihn wahrscheinlich vor der zweiten Probe, wenn er auf derselben Stelle und an demselben Ort verbleibt.

388


[40] [129]ES ist ganz natürlich, daß nur von Höflingen erzogene Fürsten immer ihren Willen haben wollen und darauf als das vorzüglichste Fürstenprivilegium halten. Sie kennen ja nichts anders in sich von dem innern Menschen, da man nur dieses gereizt und ausgebildet hat. Die ihn so bildeten, finden ihr Werk so lange herrlich fürstlich, bis der wohlerzogene Schüler auf den Lehrer selber zuschlägt.

389


ES ist nicht wahr, daß der Wille solcher wohlerzogner Fürsten doch der Natur – als dem Sturm, dem Regen, der zu großen Hitze, der zu strengen Kälte, die ihnen eine Jagd, Lustfahrt oder das Exerzieren verderben – weichen müsse; es ist nicht wahr, daß ihr Wille einem nicht folgsamen Pferde sich unterwerfe; wäre es an dem, so müßten nicht die sie Umgebenden und der Stallmeister dafür büßen.

390


[129] [72]DER Arme sagt seufzend: »Der Reiche kann alles!« – Antwort' dem Armen: »Nur nicht glücklich sein, weil er nicht gelernt hat, sich selbst dazu zu brauchen.«

391


[72] [62]WENN man ein so feines Gehör hätte (welches ich aber aus Menschenliebe keinem Sterblichen wünsche), daß man die leisesten Töne des menschlichen Herzens hören könnte, so würde man das Echo des Ausrufs der Natur der stumpfen Küchenmagd in Sternes »Tristram« bei jedem Unglücksfall vernehmen. Wer den »Tristram« gelesen hat, weiß, daß, nachdem der gute Trim mit der ihm eignen herzlichen Beredsamkeit den Tod Bobbys, des Sohns des guten Shandys, in der Küche angekündigt und durch seinen Schmerz aller Herzen bewegt hatte, Obadiah ausrief: »Er ist tot!« Das stumpfe Küchenmensch aber antwortete: »So bin nicht ich! (So am not I!)« Ein ebenso tiefer als wahrer Griff in das menschliche Herz, deren man bei diesem Schriftsteller so viele findet! Wer aber glaubt, daß ich dieses anführe, um dem Menschen einen Vorwurf machen zu können, der irrt [62] sich sehr. Wenn nun alle Nächsten, Verwandten, Hausgenossen, Umstehende und Zuschauer bei jedem sich ereignenden Unglücksfall, von welcher Art er sei, einen allzu starken, allzu tiefen, allzu lange dauernden Anteil nähmen, wenn sie alle so tief und gewaltig davon erschüttert würden, daß sie samt und sonders in Untätigkeit versänken, wie würde die Gesellschaft bestehen und fortgehen, die einmal doch bestehen und fortgehen soll? Wer würde das wieder heilen und herstellen, was der Unglücksfall verletzt und zerstört hat? Wer aus solchen Trieben und Gefühlen gegen den Menschen und seinen moralischen Wert schließt, der weiß nicht, worauf die Natur gebaut hat, um das hervorzubringen, was uns so hoch erhebt und so tief erniedrigt. – Mitleid mit dem Unglücklichen fühlt jeder, weil er sich selbst in dem Mitleid fühlt; und vielleicht ist der der Tätigste bei dem Unglück, welcher sein Selbst am tiefsten in dem Mitleid fühlt. Nur diejenigen, die da vorgeben, das Mitleiden ganz rein, ohne alle Rücksicht auf sich selbst zu fühlen, die lassen es bei dem Lobe ihres edlen Selbsts bewenden, stehen als Zuschauer, Redner da, während die aufrichtigeren, niedrern Seelen tätig helfen. Wer die Hand nach einem Egoisten ausstrecken mag, der greife hier zu; er bemüht sich nicht umsonst

392


[63] [241]DIE nur von Hofleuten erzogenen Fürsten erinnern sich gewöhnlich darum so wenig froher und interessant empfundener Augenblicke aus ihrer Kindheit, woran doch der erwachsene Mann so vieles knüpft, weil man sie nie als Kinder behandelt und nur die einförmige, kalte, erstarrende Vorstellung in ihnen zu entwickeln sucht, daß sie Fürsten sind, es immer sein werden und in allem sein müssen. Erinnert sich aber ein so Erzogener eines Umstands aus jener für uns meistens so glücklichen Zeit, so wird er euch erzählen, wie dieser oder jener sich gegen ihn vergessen habe. – Ihr könnt es dann so übersetzen: Dieser oder jener hat ihm die Wahrheit gesagt, und er war dazu verdorben.

393


[241] [63]ICH kenne gar viele Menschen, die wirklich gern gut und weise wären, wenn sie nur nicht glaubten, sie kauften beides über den Wert, den es in der Welt hat – und das mit solchen Dingen, die höhern Wert in ebendieser Welt haben.

394


[63] [307]WENN es sich ereignen sollte, daß zwei Moralisten zusammenkämen, um über die Prinzipien ihres Systems und den Wert derselben, folglich über ihren und des Menschen Wert und das, was ihm den rechten Wert geben soll, in forma zu disputieren, so gebe ich ihnen den einfältigen Rat, da sie doch ihren und ihrer Systeme Wert auf keine sichtbare Waage legen können: sich einer dem andern aufrichtig und ehrlich vorher ihr Leben und ihre Erfahrung, die Geschichte ihrer Kindheit, ihrer Jugend und höhern Bildung, die Art und Weise, wie sie sich bei allen geraden und krummen Vorfällen des Lebens benommen, was sie getan und unterlassen haben, nebst dem Warum, wie sie Freunde und Weiber geliebt, was ihnen die meiste Freude gemacht, welches ihr angenehmster Genuß gewesen, worauf sie einen vorzüglichen Wert setzen, wonach sie besonders streben – wechselseitig mit den kleinsten Umständen und ohne Schminke frei zu erzählen. Zu dieser wechselseitigen moralischen, sonderbaren Beichte rate ich ihnen überdem, einen besonnenen, ehrlichen Mann einzuladen, der aus Vorsicht für beide das Protokoll über alles Gesagte und Bekannte führe. Sind sie dann soweit und hat ihnen der besonnene Mann die Beichte vorgelesen, so wette ich, die Sache ist für immer zwischen ihnen so abgetan, daß sie an kein weiteres Disputieren denken werden, es sei denn, daß es zwei grundgelehrte Männer wären, denen es nicht um die Sache, sondern um die Ehre zu tun ist.

395


[307] DAS Interessanteste bei einem gedankenvollen Buch würde sein, wenn der Verfasser die Geschichte, Veranlassung und die ganze, auch die entfernteste Verknüpfung, Verbindung seiner Gedanken zugleich mit den Gedanken lieferte. Aber das Ding ist unmöglich, wenn es recht zugeht; denn hier sind Blitz und Schlag beisammen. Wenn ich auch den Materialisten viele Gründe für ihre Behauptung zugeben kann, so kann ich es doch hier nicht, ob sie gleich die Assoziation der Ideen für sich sehr gut zu brauchen wissen. Alles ist langsam gegen diese Wirkung, selbst das schnelle Licht. Bei dem Blitz, der Elektrizität, dem neuen Galvanismus seh' ich Reiben, Stoßen, Vorbereitung; bei dem Pulver den Funken, der die Explosion bewirkt. Aber was stößt, reibt, bewirkt hier? Ein Wort, ein Schall, ein Nichts; denn das ist »Nichts« für uns, dessen wir uns nicht bewußt sind. Hier ist ein Kontakt durch die Welt der Geister oder der Materie, dem nachlaufen mag, wer Zeit zu verlieren hat.

396


[308] [40]DAS Wort »Kraft« ist ein schönes, ausdrucksvolles Wort in der deutschen Sprache. Es schien mir oft wie das Wort »Tugend« [40] in den Schriftstellern der Griechen und besonders der Römer zu lauten. Ich gebrauchte es oft in diesem Werke; jetzt könnte mich die Röte der Scham oder der Bescheidenheit daran hindern.

397


[41] [372]SOVIEL muß doch der Materialist zugeben, daß es die Meinung ist, die Seele komme uns von dem Oberherrn der Geister – also vom Himmel – und kehre wieder zu ihm zurück –, welche die erhabensten Gedanken, Empfindungen und wohl auch Taten hervorgebracht hat. Wenigstens muß er selbst darüber erstaunen und seinen Dogmatismus so lange fallen lassen, bis er ihn bei kälterm Sinne wieder aufnehmen kann.

398


[372] [86]VERLANGEN und Streben nach Wahrheit ist für den Menschen genug; die Wahrheit selbst wäre zuviel für ihn. Das erste bringt alles Treffliche hervor (das Törichte gehört dazu, um das Treffliche bemerkbar zu machen), was wir dem Oberherrn der Geister als selbst erworben vorlegen; was könnten wir ihm alsunser vorzeigen, wenn er uns alles gesagt hätte? Ich glaube kaum, daß wir uns die Mühe geben würden, es auswendig zu lernen, um es uns einander zum Zeitvertreib zu erzählen. Zeitvertreib! – als wenn dann noch die Rede davon sein könnte!

399


ICH möchte eher und leichter aus unserer Beschränktheit als aus unserer Unbeschränktheit auf einen Gott schließen, wenn er uns die letztere erteilt hätte. Beweist es nicht mehr Allmacht, Millionen von Geistern so abzustufen, wie wir einander kennen, als sie alle in eine Form zu werfen und ihnen den Vorhang so aufzuziehen, daß jeder sehe, was der andre sieht? Dann wär' es ein Marionettenspiel, von Marionetten gesehen, und kein Geisterspiel, von Geistern selbst entworfen und aufgeführt.

400


[86] [423]ICH will einmal einige recht verwegene, beleidigende und zugleich unnütze Fragen tun. Ich möchte wohl wissen, was der Mann, dem das Unmögliche gelänge, eine Kunst oder ein Arkanum zu erfinden, wodurch er die Menschen wirklich tugendhaft [423] machen könnte, für eine Belohnung von ebendiesen Menschen zu erwarten hätte? Ob man so geschwind und begierig zu ihm laufen würde, wie man zu den Wundermännern, Scharlatanen: Mesmer, Lavater, Gaßner, Cagliostro lief? Ob seine Bude so besucht werden würde als die Buden der Modehändlerinnen, Schönheitsverkäuferinnen und sonstiger Söhne und Töchter des Luxus, der Torheit und der Eitelkeit? Ob man den seltnen Mann nicht für einen Störer der Ruhe halten würde? Ob die wachsamen Staatsbeamten ihn nicht bei den Fürsten als einen verkappten Jakobiner angeben würden, der sie zu entthronen suchte? (Diese schlössen freilich nicht am dümmsten, da die Tugend keines Zwangs bedarf und sich selbst beherrscht.) Ob andere, die keine Staatsleute sind, nicht laut schreien würden, der gefährliche Mann gehe damit um, uns arme Menschen um alles Vergnügen, allen Genuß zu bringen? Ob auf ihren Witz, ihre Klugheit stolze Männer nicht ebenso laut rufen würden, er wolle uns zu Schafsköpfen machen? Ob – kurz, ob man ihn nicht für einen Narren halten würde, den man, um doch menschlich gegen ihn zu verfahren, zwischen vier Mauern allein einsperren müßte, um ihm Gelegenheit zu geben, seine seltene Kunst in der Stille auszuüben?

401


VON der Freiheit – der metaphysisch-moralischen – habe ich nicht geredet und werde niemals davon reden, weil ich mich keiner Sklaverei und Abhängigkeit des Geistes und des Herzens erinnern mag. Auf diesem Haß gegen solche Sklaverei ruht mein ganzes Dasein. Wie könnt' ich nun von einer solchen zweideutigen Freiheit reden, die man sich nur durch eigne Kraft praktisch erwerben kann!

402


[424] [82]DIE Physiologen, Psychologen, Anthropologen und Anatomiker entziffern, beschreiben, erklären, zerschneiden den Menschen, um uns zu sagen, was der Mensch ist, woraus er besteht. Nur das können sie uns nicht sagen, was ihn zusammenbindet, was ihn zum Menschen macht. So sucht der Wilde die Musik in der Laute des Europäers, indem er sie zerschneidet.

403


HABEN wir eine Seele? Wer beweist es! Aber sonderbar ist es, daß die Menschen so etwas erfinden konnten und, da sie es einmal erfunden hatten, so fein, schön, gewiß und bestimmt davon reden konnten, es immer noch besser und schöner lernen. Diese Dunkelheit, in der sich unsre Seele vor uns selbst verborgen hält, ist vielleicht recht gut und nützlich für den Menschen und seine Seele selbst. Wüßte der Mensch genau, wie seine Seele beschaffen wäre, wo sie sich aufhielte, fühlte er sie an Stelle und Ort, könnte sie sich ihm selbst, und zwar durch sich selbst, anschaulich machen und das übrige Verhältnis zwischen ihr und dem tierischen Körper bliebe, was es nun ist, so glaube ich beinahe, um doch höflich von allen und auch von mir zu reden, der Mensch würde seine Seele noch mehr mißbrauchen, sie noch willkürlicher, tyrannischer behandeln, als er es jetzt tut. Vor etwas Unbekanntem, das sich gar nicht zeigt, das sich so vornehm verhüllt hält und immer auf dem Thron hinter dem Vorhang sitzt, hat man doch noch etwas Furcht und Ehrerbietung. Der Keckste verbeugt sich alsdann doch zuzeiten noch vor seinem unsichtbaren Herrn, wenn er auch nicht dabei dächte, daß er es vor sich selber tut.

404


[82] [378]DIE verbreitetste Idee unter dem Menschengeschlecht, von dem Höchsten durch Kultur bis zum Niedrigsten, ist die Idee des blinden Zufalls. Der Mann von Verstand, der diesen Augenblick drüber lachte, der Gläubige, von dessen Haupt kein Haar ohne die Vorsehung fällt, vergessen beide Verstand und Glauben, wenn sich etwas ereignet, das sie nicht erwarteten, das ihnen zuwider ist, dessen Zusammenhang sie nicht begreifen können. Sie sprechen beide das Wort Zufall aus, ohne daß der eine denkt, er spreche jetzt als ein Tor und der andre als ein Ketzer. [378] So wird der »Zufall« zum Sündenbock in der moralischen Welt; kann man in der Geschwindigkeit den Teufel nicht erreichen, so greift man nach dem blinden Zufall, und der Knoten ist zerhauen. Warum nicht? Wer sich in einem Netze verwickelt fühlt, hilft sich, wie er kann. Kann er es nicht lösen, so zerreißt er's. Mag der Aussteller des Netzes die Maschen wieder stricken, die der Verstrickte zerreißen mußte, um sich zu retten.

405


[379] [412]DA ich hin und wieder wirklich von den spekulativen Philosophen nicht mit der ihnen schuldigen Ehrerbietung gesprochen habe, so könnte mancher glauben, ich achtete ihrer nicht, wie sie es verdienen. Sie selbst werden sich wenig darum bekümmern, weil sie Philosophen sind; aber um ihrer Bewunderer willen sage ich: daß ich, der ich alle Kraftübung des Geistes achte, die ihrige sehr hoch achte. Nur wünscht' ich, daß sie uns den Horizont nicht gar zu hell machten oder daß andere nicht glauben möchten, sie [412] sähen ihn wirklich so hell, wie sie, die Meister des Lichts, versichern. Im Helldunkel spaziert (ich würde sagen wallet, wenn die Poeten dieses Wort nicht gar zu abgeschmackt gemacht hätten) der menschliche Geist gar zu angenehm.

406


[413] [312]GROSSE Männer und große Genies sind darum viel leicht zur wirklichen Freundschaft und dem traulichen Umgang nicht gemacht und gestimmt, weil sie zu wenig Geistesverwandte finden, sich immer herablassen müssen und so selten oder gar nicht mit den Gefährten aufwärtssteigen können. Wer sich nun immer herunterbeugen muß oder den Stolz hat, zu glauben, daß er es immer tue, wird es endlich so müde, daß ihm das vermeinte Opfer gar zu beschwerlich wird. Aber ebendiese großen Genies und großen Männer sollten bedenken, daß die verbundenen Kräfte der Kleinen, die sie so niedrig sehen, doch mehr ausrichten, als sie selbst auszurichten fähig sind; daß sogar ein solcher Wicht in [312] einem oder dem andern Punkt sie in Kenntnissen, Geschick und Fertigkeiten übertreffen und belehren kann, von denen sie gar keine Ahndung haben. Große Männer und große Genies können aber doch Freunde unter sich sein, da sie Verwandte sind? Allerdings – sobald einer den andern für den Größern oder das Größere erkennt und es auch eingesteht!

407


[313] [87]ICH glaubte ehemals, es könnte gar vieles anders, besser gemacht und eingerichtet von oben herabgekommen sein. Erfahrung und Nachdenken machen jeden mäßiger in diesem Punkt; sie haben auch auf mich gewirkt. Da aber ein jeder, der einmal eine gewisse Schelle getragen hat, ihren fernen Klang noch in den Ohren behält, wenn auch die teuer erkaufte Weisheit sie lange zerschlagen hat, so kann ich noch heute nicht alle Wünsche zum Bessern aufgeben. Es deucht mich also noch heute, es wäre gar nicht übel gewesen, wenn der Oberherr und Schöpfer der Geister die Seelen der Menschen, bevor er sie ihnen zum Behuf dieses Lebens zusandte, von Erzengeln oder Genien so hätte behandeln lassen, wie wir das Eisen behandeln, um Stahl daraus zu machen. Wir machen es glühend, tauchen es in kaltes Wasser, hämmern darauf, machen es wieder glühend, tauchen es wieder ins Wasser, hämmern immer darauf und bringen endlich ein Ding heraus, das ebendas Metall als Feile zernagt oder als sonstiges Werkzeug zerschneidet, aus dem es entstanden ist. Machten es nun diese Erzengel und Genien auf Befehl des Großmeisters in der großen Welt- und Schöpfungsschmiede so mit unsern Seelen, so kämen sie uns ganz zugerüstet zu, um dem Hämmern des Schicksals, dessen allezeit fertige Diener unsere Brüder im Fleische sind, zu widerstehen. Wir würden dann die Schläge derselben nicht allein besser vertragen, sondern auch selbst kräftiger zuschlagen können; das Zernagen und Zerschneiden, wenn wir uns nicht anders zu helfen wüßten, bliebe uns noch obendrein übrig. Von der Schwäche, dem Hauptübel der moralischen Welt, wäre dann gar nicht mehr die Rede, da wir alle von festem, stählernem Charakter wären; derjenige, welcher es unternehmen wollte, unsre Grundsätze aufzulösen, zu zertrümmern, müßte wenigstens eine nagendere Feile oder ein schneidenderes Werkzeug sein, und bekannt ist es, daß Stahl sich unter dieser Arbeit selbst abnutzt. Aber nun fühle ich plötzlich, daß es mir hier wie allen Projektmachern und Weltverbesserern ergeht; auch ich habe nur einen kleinen Umstand bei meiner kosmopolitisch-guten Absicht vergessen: das Herz, den fleischigten Hauptmuskel in [87] unserer Brust, der eine so große Rolle über die Seele selbst spielt, daß sie, gestählt, wahrscheinlich an ihm zersplittern und zerspringen würde, da sie doch jetzt als ungestählt im Vorteil ist, sich biegen zu können und, wenn die Kraft, die sie biegt, nachläßt, sich wieder auszustrecken oder auszudehnen.

Ich sehe nun schon, daß es mir trotz dem bestimmtesten Willen nicht gelingen wird, etwas Wesentliches zur Weltverbesserung beizutragen, und überlasse es daher Glücklichern oder denen, die stark genug im Glauben dazu sind. Ich für meinen Teil habe das Geheimnis, meine Seele hier auf dieser Erde zu stählen, da gefunden, wo es jeder finden kann, und zwar so, daß der fleischigte Muskel selbst Fleisch geblieben ist, sonst wäre wahrlich das Geheimnis nichts wert – gelind genannt, wäre es Selbstvergiftung, ob man bei dieser Vergiftung gleichwohl noch leben kann, wie die Erfahrung zeigt.

408


[88] [355]EIN Mann, der sich ohne wahre moralische Kraft, durch Willelei (der Purist vergebe dieses Wort, der Franzose nennt es velléité), durch Anmaßung, Eitelkeit, fremde Anspornung zu etwas Großem im Tun oder Denken ernstlich erheben will, gleicht einem Hypochondristen, dem der Arzt ein Tonikum verschrieben hat. Da ein Tonikum verstopft, so fühlt der Hypochondrist wirklich einige Tage etwas, das neuerregter Stärke gleicht. Es ist aber nur der Reiz auf schwache Nerven, und da die Verstopfung sich bei schwachen Eingeweiden gewöhnlich allzusehr durch das Gegenteil auflöst, so ist der Hypochondrist nach der falschen Stärke auch gewöhnlich noch schwächer. Wer weiß, ob obige Kraftäußerung, wenn der Mann das Wagestück nun wirklich näher betrachtet oder es gar versucht, nicht dieselbe Wirkung hervorbringt.

409


ICH möchte aus dem Obengesagten eine Lehre für diejenigen Pädagogen ziehen, welche aus allen Kindern alles machen wollen. Mich deucht, das Wichtigste für die Zukunft der Kinder ist, daß man sie im Moralischen und Literarischen nicht über ihre verliehene Kraft und Fähigkeit ansporne. Zu oft mißlungene Versuche, das Bewußtsein vergebens auf diesen Zweck hinzuarbeiten, machen ebenso leicht schlechter und träger. Wer für das Herz und den Geist seiner Schüler und Zöglinge das ausfindet, [355] was sie tragen, fassen und wirklich durchsetzen können, der arbeitet nicht allein der Natur und der moralischen Welt gemäß, er arbeitet auch für das wahre Glück der armen ihm Anvertrauten, die in diesen zarten Jahren gar nicht ahnden, in welcher gefährlichen Lage sie sich befinden, wie hier schon das Schicksal den Knäuel, den sie einst abwickeln sollen, entweder in Ordnung aufrollt oder ohne alle Aufmerksamkeit untereinanderzerrt. Weh dem, der hier die zerrissenen Fäden einst heraussuchen muß!

410


[356] [341]SOLANGE in Europa die Kinder noch so weit das Eigentum der Eltern bleiben, daß sie dieselben selbst erziehen dürfen, so fürchte ich die Dauer des Despotismus nicht, mit welcher Kraft und Gewalt er sich auch hier und dort auf den Thron gesetzt haben mag. Wäre es einem oder dem andern großen Fürsten zu Ende des letzten Jahrhunderts eingefallen, die Erziehung der Unmündigen nach einem rechten Staatsplan über sich zu nehmen, sie hätten gewiß in den Pädagogen und den Philosophen, die in Griechenland und den Idealen noch in der Wiege liegen, große [341] Helfer, Verteidiger und Lobredner gefunden. Die Staatsleute hätten vielleicht dazu weislich geschwiegen, da diese Leute, ohne zu wissen, für wen und für was sie arbeiten, klar bewiesen haben würden: der Tag einer neuen moralischen Umschaffung des Menschengeschlechts sei zum Heil der Welt nun endlich gekommen. Jawohl: einer Umschaffung! Aber es ist wirklich zu bewundern, daß dieser glückliche Gedanke keinem großen Fürsten in dem Drang der Not gekommen ist; die Zeit war ganz dazu gemacht, und die große Zahl der Menschen ist ohnedies immer zu der Zeit gemacht. Vielleicht glaubt mancher, die Kosten hätten diese Fürsten doch wohl abgeschreckt. Gutmütige Einfalt! Darauf war eine Finanzspekulation zu bauen, gegen die Staatslotterie, Lotto und andre Spekulationen dieser Art nur Lumpereien sind. Ich gestehe es offenherzig: Gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts hätte ich mich gehütet, mit diesem Satze, besonders wegen des letzten Umstands, laut zu werden; jetzt fürcht' ich es nicht mehr; denn da, wo es zu fürchten wäre, hat man schon allen Gefahren vorgearbeitet.

411


[342] [372]DIE Leute, welche von den Menschen fordern, daß sie immer und bei allem an Gott denken sollen, wissen gar nicht, wie dem Menschen zumute ist, der sich durch Bestimmung, durch Geschick recht im Gedränge der wichtigen Weltgeschäfte befindet; und ihre ausgedehnte Forderung beweist, daß ihnen ein stilles, ruhiges Leben zuteil geworden ist. So läßt es sich nun freilich leicht lehren und predigen. Da aber solche drängende, verworrene Geschäfte den Tätigen keine Zeit lassen, an sich selbst zu denken, wie sollten sie an Gott denken können? Man denkt doch nur an ihn, wenn man sich selbst denkt, das heißt, wenn man sich seiner Seele erinnert oder sie uns durch ein Zeichen einen neuen Beweis von ihrem Dasein gibt. Soll der Kaufmann auf der Börse an ihn denken, wenn er wichtige Geschäfte betreibt, so muß ihm eine schwarze Nachricht von dem Fall eines großen Hauses, der ihn selbst zu stürzen droht, zu Ohren kommen. Soll sich der Staatsmann, der einen großen, weitsehenden Plan zu Krieg, Eroberung oder Teilung eines benachbarten Reichs bearbeitet, seiner erinnern, so muß ihn die Ungnade des Fürsten während der Arbeit überfallen. Genug der Beispiele; vielleicht denkt der Philosoph, der eine Metaphysik schreibt, um uns Gottes Dasein [372] zu beweisen, am wenigsten an ihn; vielleicht denkt der oft ebensowenig an Gott, der jeden Sonn-und Feiertag über ihn predigt.

412


[373] [322]DAS Gefühl, die Empfindungen junger Leute scheinen darum erfahrnen Männern so leer und albern oder wie erkünstelte Gefühlelei und Empfindelei, weil diese jungen Leute noch keine festen Gegenstände für ihr Herz und ihren Geist gefunden haben. Sie laufen mit beiden noch hin und her und suchen, woran sie sich hängen mögen. So gleichen sie jungen Hunden, die die Natur mit Instinkt zur Jagd versah, die aber der Jäger noch nicht in die Schule genommen hat. Auch sie laufen hin und her, belfern und schnauben, schnauben und belfern selbst da, wo gar kein Hase über das Feld gelaufen ist. Abgerichtet, weiß der Hund, wann, wo und wie er jagen soll; erfahrner, weiß der junge Mann, welcher Gegenstand es verdient, daß man dabei denke oder dabei fühle, und wie es derselbe verdient.

Wenn erfahrne Männer aus diesem und andern Gründen so leicht über junge Leute absprechen, so sind sie nicht allein hart und ungerecht, sie sind auch in diesem Augenblick keine weise[n], erfahrungsvolle[n] Männer mehr; wie könnten sie sonst vergessen, wie ihnen vor ihrem Eintritt in die Welt zumute war, was ihnen diese Welt gewesen und was sie überhaupt ist?

413


DIE Erfahrung muß aus vielen Teilen zu einem ganzen runden Stück geworden sein, wenn sie etwas taugen, uns billig und gerecht machen soll. Die Teile selbst sind: die Kindheit, die Knaben- und Jünglingsjahre und das männliche Alter; an der Grenze des wirklichen Alters stoßen sie zusammen, und dieses scheint ihnen da »Halt« zuzurufen. Die meisten überspringen diese Grenze, ohne sich an den Zuruf zu kehren, vielleicht ohne ihn zu vernehmen. Die nachsinnend stehen bleiben, denen naht ein ernster, aber sanfter Geist, vereinigt die so ungleichen Gesellen friedlich in eins, scheidet das Allzugrelle, Allzuabstechende und läßt jedem derselben nicht mehr von seiner eignen Farbe, als zur Erinnerung und dem freundlichen Verein nötig ist. So setzt sich ein moralisches Ganze aus Dingen zusammen, die sonst gar nicht beisammen bestehen können: [322] Unschuld, Zutrauen, Ungezogenheit, Torheit, Wildheit, Fehltritte, Mißgriffe, Irrtümer, Täuschung, Verstand und Weisheit; und das alles ordnet und schickt sich so schön ineinander, daß man es in sich selbst fühlen muß, um die Möglichkeit davon, nebst dem Glück, das es gewährt, recht einzusehen und recht zu fühlen.

414


[323] [408]WER die Welt wie einen Guckkasten ansieht – das sagt mancher von sich und glaubt etwas recht Philosophisches zu sagen –, der sieht sie an, wie der Narr ein Narrenspiel ansieht. Die Welt ist ein sehr ernsthaftes und für unser Fassen zu großes, zu erhabnes Schauspiel – um ein sehr einfältiges Wort zur Bezeichnung zu gebrauchen –, ein Schauspiel, das wahrscheinlich einen Zuschauer erfordert, wie wohl nie einer im Fleische geboren worden ist, wohl nie geboren werden wird. Das, was manchen zu obigem Ausspruch reizt, ist es eben, was mir die letzten Worte abdringt.

– Wer ist der Richter, der sich ein Endurteil über solch ein Stück anmaßen darf? Versuch es nur mit einer Szene und wage dann zu sagen, du habest in keinem Umstande geirrt!

415


[408] [7]WARUM ich diese Gedanken und Empfindungen bei meinem Leben drucken lasse? Da ich ihrentwegen nichts fürchte noch hoffe, so weiß ich eben nicht, warum ich sie nicht sollte drucken lassen. Aber ich habe einen besondern Grund. Ich möchte nicht gern, daß man sie nach meinem Tode in Kapitel oder bestimmte Rubriken einteilte und sie so zum regelmäßigen Buch machte, das sie gar nicht sein sollen. Man würde mir dadurch ebenden Gefallen tun, den man einem Odendichter täte, wenn man seine Oden zerschnitte und unter einem moralischen Inhaltsverzeichnis dem Publikum gäbe. Meine Gedanken sind freilich keine Oden, das beweist ja die schlichte Prosa; aber es läuft doch, wie durch die verworren scheinende, von einem Gegenstand zum andern springende Ode, ein einziger Geist und Sinn hindurch; den soll der Leser nun selbst ausfinden, wenn es ihm der Mühe wert scheint.

416


[7] [91]WIE nah wir bei aller Kultur noch immer dem Stande der Wildheit sind, beweisen wir in unsern Leidenschaften, wenn wir sie so recht ausbrechen lassen. Mancher unter uns würde dann gern ein völliger Wilder sein, wenn er nur bei der Neigung und Kraft dazu auch die nötige Macht hätte. Wenigstens ist es nicht die Kultur, die solchen Leuten das Gebiß und den Kappzaum anlegt; nur die Wiedervergeltung mit ihrem Gefolge von Schreckgespenstern tritt ihm in den Weg. So gut nun die Kultur für die Kühlern und Vernünftigern ist, so ist es doch nicht übel, daß wir[91] uns zuzeiten aus dem Stande der Wildheit etwas rekrutieren oder auffrischen; wir würden sonst gar zu artig, gar zu duldsam werden.

417


[92] [413]ES ist ein ganz artiges Bestreben unsrer Philosophen, das denkbare Nichts zu einem erkennbaren Etwas zu machen. Aber hätten wir wohl dieses Streben in uns erschaffen und aus uns herausziehen können, wenn es nicht wirklich da und nötig wäre? Dem Spötter selbst fährt wohl zuzeiten der Schatten dieses Nichts an der Stirne vorüber.

418


[413] [399]AUF der breiten Heerstraße zur Torheit, wo man mit sechsen, vieren, zweien und einem Pferde Galopp und Trott fahren und reiten kann, führt auch ein schmaler Fußpfad im Zickzack zur Weisheit hin. Der ihn gehen will, muß freilich behutsam wandeln, um nicht überfahren zu werden; auch muß er das Geklatsche, Geschrei, den Staub und Kot, womit die Fahrenden ihn bedecken, nicht scheuen, die Stöße selbst aber nur für Mittel ansehen, die zum Ziele fördern. Wer aber querfeldeinher bequem wandern und der Weisheit von der Seite beikommen will, der kann leicht eine ihrer Repräsentantinnen, die Trägheit, für die Dame, die er sucht, erhaschen und sie vielleicht noch gar für die wirkliche halten.

419


[399] [379]WENN die Dankbarkeit allein den erhabenen Gedanken von Gott erfunden hätte, was für ein Mensch müßte der gewesen sein, welcher ihn zu den andern zum erstenmal so bezeichnete? Was für eine große Idee müßte man sich überhaupt von dem Menschengeschlecht machen? Ich möchte dieses lieber erwiesen sehen als alles, was die Philosophen von Aristoteles bis Kant uns zu erweisen gestrebt haben und noch streben. Der Gedanke ist schön und erhebend. Schade nur, daß die schönen, erhebenden Gedanken darum noch nicht die wahrsten sind. Das letzte bringt uns nur zu oft zum Selbstmord unsers Vergnügens.

420


[379] [291]UM den Schlüssel zu den großen, wichtigen, erbärmlichen und törichten Weltbegebenheiten, die man erlebt hat, und dadurch zu sich selbst nach und nach zu finden, muß man sie von ihrem Ursprung an, mit allen bedeutenden Ereignissen, nebst den großen und kleinen, den schwarzen und zweideutigen Geistern, [291] die sie veranlaßt, bewirkt und durchgesetzt haben, langsam und still vor sich vorüberziehen lassen. Aber da hierbei alles auf den Gesichtspunkt ankommt, so muß man auch die Kunst verstehen, sich davorzusetzen. Ist es damit richtig, so kann man, da jetzt die Sinne kühler sind und die Parteilichkeit schweigt, diese Beschauung als ein Reinigungsbad von seinen Vorurteilen gebrauchen. Man hat noch überdem einen Genuß, den kein Werk des Genies gewährt: Man sitzt als doppelter Mensch davor, einmal als der, welcher man war, als sich die Begebenheiten ereigneten, und nun als der, welcher sich selbst durch sie mustert, indem er sie bei sich vorüberziehen läßt.

421


[292] [373]SOBALD man über die Religion denkt, ist es keine Religion, so sagt der Katholik und scheint mir darin recht zu haben. Das Denken will durch einen dunkeln Weg dahin führen, worauf man die Religion gebaut hat; auf dieser Reise macht man nun so viele Entdeckungen und Erfahrungen, daß man wohl als ein kluger, aber selten als ein religiöser Mann wiederum nach Hause kommt. So geht es uns mit allen Reisen durch diese Welt: Wir segeln mit einem starken Glauben an hohe Tugend aus und sind froh, eine einzige stille gefunden zu haben, noch froher, wenn wir eine solche stille Tugend unversehrt in die Heimat bringen.

422


[373] [292]DER, welcher den Wunsch äußerte: es möchte in der Brust eines jeden ein Glasfenster angebracht sein, damit man klar sehen könnte, was in dem geheimen Kabinett des Menschen vorgehe, hatte wahrscheinlich den Vorhang vor oder hinter das seine schon bestellt oder selbst verfertigt.

423


[292] [224]»DES Brot ich esse, des Lied ich singe« ist eigentlich nur ein Soldatenlied, das Ludwig XIV. mit Louvois und seinem Beichtvater Tellier gedichtet und in Musik gesetzt hat. Aber auch viele unsrer deutschen Staatsleute, Beamten, Gelehrten und Politiker [224] haben es sich zugeeignet, wissen es ganz auswendig und pfeifen es so laut, daß man es in ganz Deutschland hört.

424


[225] [424]ES gibt sehr kluge Männer, die, nachdem sie die Politik, die ganze Staatswissenschaft, die Geschichte in Rücksicht auf selbige studiert und die selbst erlebten Welthändel als ein Studium [424] betrieben haben, sich feste Regeln und Grundsätze aufstellen, nach denen sie nun alles, was sich ferner ereignen mag, beurteilen wollen. Sie gehen gar so weit, daß sie es einem andern als Gebrechen oder Geistesschwäche anrechnen, wenn er nach den unvorgesehenen Ereignissen über eine Begebenheit seine Meinung ändert. Diese Männer gleichen nicht übel den Wetterbeobachtern, die vom ersten Januar bis zum einunddreißigsten Dezember laufenden Jahrs das Wetter aufzeichnen und nun im künftigen immer auf denselben Tag dasselbe Wetter erwarten. So wie es an Tagen regnen, stürmen wird, an denen es im vergangenen Jahr schönes, mildes Wetter war, so können ebendie politischen Begebenheiten oder das politische Ereignis hier jetzt ganz sanft, ruhig, wohl gar zum Vorteil vorübergehen, die zu andrer Zeit, an anderm Ort, unter andern Umständen den Staat erschüttern. Das Bewußtsein hiervon ist wahrscheinlich die Ursache, daß man Staatsleuten, Meteorologen die Mißgriffe und Irrtümer so leicht vergibt, obgleich die Folgen derselben sehr verschieden sind. Darum glaube ich immer, daß die Menschen so lange nur gerecht sind, als sie nicht denken und nachsinnen, weil dann eigentlich keiner auf dem Richterstuhle sitzt, der etwas in die Waage wirft, welche uns die blinde Göttin Gerechtigkeit darreicht.

425


[425] [471]ES gehört ein weiser Mann dazu, um die Schellenkappe wie Rabelais und Sterne zu tragen; ihr glaubt, sie hätten sie noch auf dem Kopfe, während ihr schon lange damit geziert vor ihnen sitzet.

426


[471] [63]DIE sogenannte feinere Erziehung erhebt die natürlichen tierischen Triebe der Selbsterhaltung zur höhern, gelehrtern Selbstliebe; die Welt veredelt dann gewöhnlich diese leicht begriffene und wohlgepflegte Selbstliebe zum Egoismus, und nur der Tod wirft endlich noch einmal den so vollendeten und moralisch Ausgebildeten in die allgemeine Masse der Natur – wie alles [63] ausgefegte Unreine –, wo er nun wider Wissen und Willen und zum erstenmal ohne Berechnung auf das geliebte, einzige Selbst das wieder hergeben und zum weitern Nutzen des Ganzen in Luft, Wasser, Erde usw. zerstreuen lassen muß, was sie ihm körperlich geliehen hat.

427


ES ist doch sonderbar, daß, wenn wir wirklich weiser geworden sind, wir mehr uns als andern durch unsre Weisheit nützen und nützen können. Es scheint, daß sich das Besonnene, Überlegende, nach allen Seiten Hinsehende und überhaupt das Regelmäßige mit der Tätigkeit nicht vertragen kann – vielleicht auch, daß die Handlungen, die man für Menschen und durch Menschen betreiben will, die Beleuchtung der Weisheit nicht immer gestatten können. Rasch tun und denken, ohne die Nebenumstände viel zu erwägen – das lieben die Menschen; und die Weisheit erwirbt sich wirklich so durch eignen und anderer Schaden; sie ist da, wenn man die Nebenumstände recht erwägt, und das ist es auch wahrscheinlich, was die andern weniger brauchbar macht. Dem sei nun, wie ihm wolle, es erheitert die Farbe des menschlichen Lebens nicht

428


[64] [190]WER da glaubt, der Fall ereigne sich nicht oft, daß rechtschaffene Männer ganz ernsthaft wegen ihrer Tugend um Verzeihung bitten müssen, der hat nicht am Hofe gelebt, auch wohl nicht Gelegenheit gehabt, zu beobachten, wie es sich unter großen und wichtigen Staatsbeamten dient. Und es ist noch immer viel, wenn man einem solchen abbittenden Sünder verzeiht.

429


[190] [465]WER interessant schreiben will, vermag es nur über einen Gegenstand, der das Herz und den Verstand in enge, freundliche Verbindung setzen kann. Das Herz muß den Verstand erwärmen [465] und der Verstand über die Glut hauchen, wenn sie in Flammen ausbrechen will. Aus dem Verstande allein läßt sich viel Kluges, aber schwerlich etwas Interessantes schreiben; aus dem Herzen allein läßt sich wohl noch etwas so Interessantes schreiben, daß der Verstand etwas Kluges darin finden kann.

430


[466] [317]EIN Mann mag große, bedeutende, wichtige Augenblicke gelebt haben, aber gewiß keinen so schönen und glücklichen als das tugendhafte Weib, da sie zum erstenmal als unschuldige Jungfrau das Wort Liebe gegen den wirklich Geliebten in Gegenwart der Mutter aussprach, lispelte oder mit etwas leisem Atem hinhauchte. Sie erlebt ihn gar zweimal, wenn ebendieser Augenblick für ihre Tochter kommt.

431


[317] [335]WENN man im Alltagsleben die Erfahrung machen will, wie es in einem Punkte in dem großen Leben hergeht, so darf man nur einigemal Don Quichotte genug sein, sich in einen bürgerlichen Krieg zweier recht feindlich erklärter Gegner zu mischen und für den einen lebhaft und feurig Partei ergreifen: épouser sa cause et ses intérêts. Man ist dann entweder in Gefahr, den Haß der andern Partei ganz auf sich und größtenteils von dem Gegner abzuziehen oder daß die beiden feindlichen Parteien sich vertragen und auf unsre Kosten Frieden machen. So kann man die politische Rolle eines kleinern Fürsten, der sich in die Händel der großen mischt, auf eigne Kosten spielen, sei man auch der kleinste Bürger.

432


[335] [7]ALS ich zum erstenmal in P ... in Garnison lag und die Kniffe, Ränke, die Gewandtheit der falschen Spieler (Grecs) entdeckte, so erstaunte ich nicht so sehr, als ich wohl nach meiner damaligen und jetzigen Denkungsart darüber hätte erstaunen sollen. Mein Geist scheint im voraus geahndet zu haben, daß ihn noch wichtigere Entdeckungen in ganz andern falschen Spielen auf dieser Welt erwarteten. Wäre er nun bei den ersten Entdeckungen gar zu erstaunt gewesen, was wäre ihm für die andern übrig geblieben?

433


[7] [455]ALTE Schriftsteller in Deutschland schlagen wirklich die jungen Leute, die sich in etwas versuchen, oft gar zu sehr nieder. Es kömmt mir manchmal vor, als wollten sie durch dieses Benehmen ihre eignen Jugendsünden dieser Art gut und sie das Publikum vergessen machen. Ich hasse eine solche kluge Reue.

434


[455] [399]MAN ist weniger stolz (in gutem Sinn genommen) auf seine Weisheit als auf seine Kraft, weil die Weisheit sich mit der Kraft berechnet, selten aber die Kraft mit der Weisheit. Obendrein ist man schon dadurch weise, daß man weniger anmaßend ist, und Kraft ist anmaßend, muß es etwas sein. Aber ruht nicht auch die Weisheit auf der Kraft? Wenn man auch die Kälte dafür nehmen will, so ruht sie wirklich immer drauf.

435


[399] [64]ES gibt Leute, in denen der Egoismus so früh aufsteht und gehen lernt oder mannbar wird, daß man sagen sollte, sie hätten selbst ihre Mutter nur für eine Milch gebende Kuh gehalten. Aus diesem Grunde sind mir gar zu weise Jünglinge verdächtig, und ich mag sie nicht nahe um mich haben. Die Mutter dieser Weisheit ist gewöhnlich Feigheit, die den Namen Klugheit mißbrauchen lernt; und ebendieser Bastard Klugheit treibt den Egoismus früh zur Reife. Der weise Knabe baut diesem Götzen schon ein Tempelchen in seinem Herzen, während seine Kameraden Kartenhäuser bauen.

436


[64] [447]VON keinem Volke läßt sich im ganzen mehr Gutes sagen als von den Deutschen, von keinem spricht man weniger, und keinem läßt man weniger Gerechtigkeit widerfahren, wenn man von ihm spricht. So hat z.B. selbst noch kein Deutscher, soviel mir bekannt ist, angeführt: daß die Deutschen das einzige Volk in Europa sind, das sich wirklich philosophisch veredelt hat und ganz weltbürgerlich gesinnt worden ist. Wenn dies kein hoher Grad der Veredlung ist, so zeige man mir auf Erden einen höhern vorderhand. Daß die Deutschen keinen Nationalcharakter haben und haben konnten, folglich auf diese charakterlose Weltbürgerschaft gestoßen werden mußten, beweist nicht, was es beweisen soll; wäre es dies, so wäre es das Werk der Klugheit. Nein, diese Weltbürgerschaft entspringt wirklich aus einem aufrichtigen, treuen, menschenliebenden und -achtenden Herzen, das sich weder von Sprache, Farbe noch Gebräuchen stimmen läßt. Die Deutschen hassen kein Volk der Erde, selbst über die Franzosen, die sie am meisten geplagt haben, lachen sie nur. Sie vertragen sich mit den Europäern, Asiaten, Afrikanern und Amerikanern, finden überall als Weltbürger ihr Vaterland, geben auch wohl ihre Landessitten und ihre Muttersprache nach und nach hin, um denen zu gefallen, bei denen sie Schutz und Sicherheit gefunden haben. Da sie dieses nun alles ohne Lehrmeister gelernt haben, sie der Durst nach Gold und die Ehrsucht nicht außerordentlich zu treiben scheinen und sie überdem nicht sehr biegsam, geschmeidig und politisch sind, so muß der Grund dieser weltbürgerlichen Veredlung vorzüglich in ihrer seltnen Gutmütigkeit liegen.

437


[447] [115]WARUM so wenig Menschen glücklich sind und werden, kommt wohl auch daher, daß jeder an die politische Welt die Forderung macht, ihn besonders nach seinem Sinn und Wunsche glücklich zu machen, und das ebenso, als wenn er mit einem Bestallungsbrief vom Großherrn dieser und aller politischen Welten an sie geboren worden wäre. Dieses ist nun freilich eine sehr beschäftigte, eigensinnige, stolze, hartherzige und harthörige Person, und es gehören außer Zufall und Verdienste um sie noch gar viele Künste dazu, um von ihr bemerkt und gehört zu werden. Schreien und Poltern hilft ohnedem zu nichts bei ihr. Und doch glaubt mancher, er brauche den Brief an sie nur vorzuzeigen und recht laut von seinem Rechte zu reden. Es ist vielleicht nicht übel, an einen solchen Brief zu glauben, nur setze man den Inhalt nicht selbst auf, sonst zerreißt ihn der, welcher ihn unterschreiben soll.

Auch ist es nicht übel, sich zuzeiten eines wirklichern Bestallungsbriefs zu erinnern (dessen an die Natur), während man an der Bekräftigung des erstern arbeitet. Mancher ist dann so glücklich, zu vergessen, daß er den ersten in der Tasche trägt.

438


[115] [181]WAS in den Vorzimmern eines Großen gemein klingt, lautet oft edel und erhaben in seinem Kabinett, wenn er es selbst sagt und das ebenden Leuten, die es den Augenblick vorher als gemein angehört haben. Warum nicht? Wenn ebender Mann aus einem erbärmlichen Wichte einen bedeutenden Mann machen kann, warum soll er nicht einen gemeinen Gedanken adeln können?

439


[181] [433]WELCH ein Geist muß das gewesen sein, der die Mythe der neun Musen erfunden hat? Wäre einem Manne unserer Zeit, einem schönen Geist oder auch einem Philosophen, so etwas in den Sinn gekommen, ich wette, er hätte nur eine Muse, und zwar die seines Fachs, erfunden oder aufgestellt. Welch ein Geist und Sinn, welch eine Zeit, welch ein Volk gehörten also dazu, um diese Dichtung hervorzubringen! Und war es nicht zugleich die erste Enzyklopädie in dem leichtesten Gewande? Ich sehe diese neun Mädchen des griechischen Himmels, die das Göttliche uns so reizend darstellen, nie ohne einen innigen geistigen Genuß, wobei mich immer dünkt, meine Seele habe Fittiche wie die Psyche ebendieses Volks. Das einzige, was mich wieder auf die schwere Erde herunterzieht, ist die Mannsperson Apollo, die unter ihnen sitzt oder ihnen vorsitzt. Da hier alle Erzeugung geistig vorgeht, was soll er da? Mich an das Serail der Morgenländer erinnern? Er ist wirklich überflüssig und verkörpert das Göttliche um sich her, so weibisch zart man ihn auch ausstaffiert. Ich glaube zu meiner Zufriedenheit, der erste Erfinder hat nur die neun, das Himmlische oder Geistige auf Erden vorstellende Göttinnen erschaffen und ein Gelehrterer im modernen Sinn diesen Präsidenten hinzugepfuscht. Brauchten die eines Vorsitzers oder Aufsehers, die selbst aus der göttlichen Quelle schöpften? Brauchten die durch ihn verbunden zu werden, die es schon durch ein Band waren, das in der unsichtbaren Welt für Geister gewebt ward?

440


[433] [241]WIE leicht Fürsten zum Ruhm der Großmut gelangen, beweisen die einfältigen Lobsprüche, die man ihnen über die Errichtung der Invalidenhäuser macht. Ludwig XIV. ließ sich nicht wenig darüber loben; das ist nun ganz natürlich; aber daß er Lobredner dafür fand, ist weniger natürlich. Als wenn viele Menschlichkeit dazu gehörte, für Leute zu sorgen, die mehr für uns getan haben, als sie für Vater und Mutter und für sich selbst getan hätten, nämlich sich krumm, lahm, gliederlos schießen zu lassen und auch ohne dies ein Leben zu führen, das oft zum Vorschmack der Hölle dienen kann! Indessen, wenn das Loben nötig ist und zu etwas Gutem hilft, so lobe man nur immer.

441


[241] [389]WENN ich den Stock des menschlichen Denkens und Wissens betrachte, so deucht mich beinahe, der große Denker über uns hat Ursache, damit zufrieden zu sein, wie wir seine Mitgabe angewandt haben. So wie ich überhaupt zu glauben wage, daß er zufriedener mit dem Menschen ist, als sich gewisse Leute, aus wohl bekannten Ursachen, vielleicht nicht selbst einbilden, sondern uns einbilden machen wollen. Ihm mißfällt es wahrscheinlich am meisten, wenn er sich bis zum Mißfallen herabläßt, daß [389] man in seinem Namen toll, wahnsinnig, verfolgend und gewaltsam ist.

442


[390] [379]OB die Menschen gleich sehr erhabene Ausdrücke zur Bezeichnung des unbegreiflichen Wesens auswendig gelernt haben und sogar glauben, sie zu verstehen und richtig anzuwenden, so lassen sie dieses Wesen doch immer noch so menschlich erbärmlich handeln, als sie selbst handeln; ihre Götter sind und bleiben die homerischen und die jüdischen und sind nur den Namen nach von diesen verschieden.

443


NEHMT aus der Sprache zwei Wörter, die wir beide nicht begreifen, und auch dem Menschen die Erinnerung daran – »Gott« und »Natur« –, so stürzt alles zusammen, was wir begreifen; unser Wachen selbst wird zum Träumen. Die Schöpfer dieser Wörter haben erst die Träumenden zum wirklichen Erwachen[379] gebracht, da sie denselben zwei Laute zuriefen, welche die Seele, ohne sie zu erkennen, zu Wesen schuf, an die sich die Phantasie der Träumenden knüpfen ließ.

444


[380] [335]WER das Gold als Gold liebt, der ist sein Sklave; wer es aber als bloßes Werkzeug zu seinen Absichten gebraucht, der sucht andere zu seinen Sklaven zu machen und macht sie auch wirklich dazu.

445


[335] [116]WENN die Staatsbürger oder, um es deutsch zu nennen, die Untertanen alle vernünftige, gescheite Leute wären, so würden sie alle ehrlich sein, und ihre Ehrlichkeit würde sich gewiß besser für sie selbst verzinsen als etwa ihre Schlechtigkeit. Denn es könnte die große Folge haben, daß die, welche sie in dem Namen eines andern beherrschen, selbst vernünftige, gescheite Leute werden müßten. Ich sage dies nur darum, damit doch auch die Untertanen ihren Anteil für sich herausnehmen, wenn sie mit den Klagen über genannte Leute gar zu laut werden.

446


[116] [170]KEINER ist fertiger im Borgen als der, welcher einem andern die Bezahlung als Erbschaft hinterlassen kann, der also für seine Person keinen Wechsel unterschreibt und das Wechselrecht nicht zu fürchten hat. Das sehen wir an der großen Fertigkeit der Staatsschuldenmacher. Der Debitor ist ein philosophisches Abstraktum; man bürdet ihm alles auf, was die Not erfordert, um seinen Satz zu beweisen. Der Kreditor selbst muß an alle jenem angedichtete Eigenschaften glauben, und wäre er auch von keiner einzigen überzeugt.

447


[170] [166]WENN uns ein Bewunderer der Alten mit ihrer klassischen Literatur demütigen will, so können wir ihn mit etwas Größerm, Wichtigern und Wesentlicherm niederschlagen: mit unserer Staatswissenschaft. Gegen diese sind jene Klassiker nur Kinder, da wir überklassisch darin geworden sind. Sie ist zugleich die Wissenschaft, die wir den europäischen Fürsten ganz allein verdanken, denn ohne sie hätten wir wahrscheinlich ihre gegenwärtige Vollkommenheit nie erreicht. Daraus ist auch zu sehen, was Fürsten und Staatsbeamte für die Wissenschaften tun können, wenn sie sich's ernstlich angelegen sein lassen.

448


[166] [292]WER nur Schlechtes von den Menschen zu sagen weiß, der ist wenigstens insofern ehrlich, daß er uns zeigt, er rede nur nach Beobachtungen an sich selbst.

449


IN der Jugend ruft man sich zuzeiten zu: »Oh, daß du doch vernünftiger wärest!« In reifern Jahren möchte man sich wohl manchmal zurufen: »Oh, daß du doch noch glauben könntest!«

450


[292] [242]»LE bourreau! il m'a fait avaler des couleuvres«, sagte doch der lebhaft fühlende Franzos, wenn ihn sein Fürst mit unverdienten Bitterkeiten kränkte. Ein deutscher Hofkavalier sagt bei solcher Gelegenheit, wenn er noch etwas zu sagen wagt: »Seine Durchlaucht sind heute nicht gut gestimmt« oder: »Seine Durchlaucht geruhen heute nicht, bei guter Laune zu sein.«

451


[242] [323]WENN die Zeit der völligen möglichen Kraft des physischen Lebens auch die des moralischen wäre, das heißt, wenn wir im frischen mutigen Alter auch schon unsre mögliche moralische Ausbildung haben könnten, was würde uns in reifern Jahren das Hinschwinden und den Verlust der erstern ersetzen und uns darüber trösten? Wahr ist es, die Welt würde eine ganz andre Gestalt haben; aber ich zweifle, daß sie gefälliger und ruhiger wäre. Des Lärmens und der verwegnen Wagstücke würden gewiß noch mehr sein.

452


[323] [349]DIE orientalischen Metaphern, Hyperbeln und Bilder, die wir in der frühsten Jugend, als ersten Unterricht, in den Grundbüchern der Religion lesen, sind es, die die Köpfe der meisten so verwirren, exaltieren und verzerren, daß sie späterhin der nordische, kältere Sinn selbst nicht mehr heilen kann. Das heißt doch eine Pflanze aus ihrem vaterländischen Boden reißen, auf einen fremden werfen, ohne sich zu bekümmern, ob sie zu Unkraut ausschlage. Fragt nur einen darüber, in dessen Kopf die klassische Literatur nicht etwas aufgeräumt hat.

453


[349] [335]WENN das Glück einen großen Mann verläßt oder die Menschen durch zu lange Dauer zu sehr ermüdet, so sind seine Bewunderer nicht damit zufrieden, seine Fehler auf allen Straßen auszuschreien; sie dichten ihm auch Gebrechen und Laster an und finden Gläubige in jedem Horchenden.

454


[335] [72]DER Lastträger ruft aufwärts: »Hilf mir!«, das heißt: Trage meine Last! Der Feige ruft: »Steh mir in Gefahr bei!«, das heißt: Fechte für mich! Die Unglückliche, die im Mondschein herumirrt, um ihr täglich Brot zu suchen, sieht auch schüchtern aufwärts, sagt wohl noch: »Du nährst den Sperling!« Der Faule, Untätige sitzt still und hofft, der Himmel werde für ihn tätig sein. Zu diesen sagte schon Demosthenes: »Aber ihr sitzet da still und untätig, ohne daran zu denken, daß der Träge nicht einmal seinen Freunden zumuten darf, etwas für ihn zu tun, geschweige denn den Göttern.«

455


[72] [212]VON einem bedeutenden und kühnen Mann, der seine Gesellschaft aus H***, Spielern, Säufern, Verschwendern, Schuldenmachern, Possenreißern, Tagdieben und Glücksjägern zusammensetzt und den saubern Schweif überall nach sich zieht, könnte man sagen: Er rekrutiert sich seine Armee vor der Hand, auf gewisse Fälle.

456


[212] [481]WENN der Philosoph Plato aus dem guten Sokrates so oft einen Schwätzer machte, ist es denn wohl ein Wunder, daß mancher Geschichtschreiber und die meisten dramatisch-historischen Romanenschreiber aus den großen Männern alter und neuer Zeit erbärmliche Wichte machen? Plato brauchte einen Schwätzer, um ihm seine Grillen aufzuheften, diese Geschicht- und Romanenschreiber einen großen Namen, um uns das Maß ihres eignen Geistes darzureichen. Hat der witzige Aristophanes die Werke Platos gelesen, bevor er sein Lustspiel »Die Wolken« schrieb, so wundre ich mich nicht, daß er es geschrieben hat; ich hätte es bei Lesung des Plato oft selber schreiben mögen. Die Dichter, die soviel vom Plato reden, müßten ihn lesen, um sich für immer von dem Kitzel zu heilen, als philosophische Forscher vor uns gedruckt aufzutreten. Wenn ich mich aber an den Grillen Platos ärgere, die uns sein Sokrates gar katechisieren muß, so bewundere ich um so mehr sein Weises, Großes, Herrliches, Erhabenes, das er uns hinterlassen hat, und weiß recht gut das Echte, Ernst-Philosophische von den sophistischen Spielereien zu unterscheiden.

457


[481] [505]VOR der Erfindung der Buchdruckerei waren die Wissenschaften bloß eine Sache der Optimaten und der Reichen; ihre Bekenner machten folglich einen aristokratischen Staat aus. Nach der Erfindung derselben neigte sich diese Staatsverfassung immer mehr zu einer Republik. Jetzt scheint sie ganz eine Demokratie geworden zu sein, und wenn sie etwas von dem Nachteiligen der Demokratien hat, so hat sie auch all ihr Gutes. Der Letzte im Volke darf hier reden und predigen, wenn er Zuhörer findet, und jeder genießt das Recht seiner Souveränität, weil die Ausübung derselben keinem einzelnen vorzugsweis' verstattet wird. So herrscht Gleichheit in dem Geisterreich – dem Stande nach; was nichts taugt, geht unter; dies ist das herrschende Gesetz. Das Wahre, Nützliche, Große, Erhabene ist wahr, nützlich, groß, erhaben, es sage und dichte es der Bauer oder der Edelmann. Daß nur die wirklichen Optimaten und Aristokraten sich über die Allgemeinheit der Wissenschaften beklagen, begreife ich wohl; es wäre doch angenehm, so ausgezeichnet an Geistesbildung über der Menge hervorzuragen, wie man durch Macht und Reichtum hervorragt – ich übergehe die andern Vorteile. Aber daß Gelehrte selbst diese Allgemeinheit zuzeiten so vornehm beklagen, das könnte einen wundern, wenn man des Törichten bei denen nicht so vieles fände, wo man es am wenigsten suchen sollte. Das Geisterreich ist unermeßlich, unendlich; wir haben alle Platz darin, und – merkt es wohl! –: es drückt auf das politische und zieht es nach!

458


[505] [335]ZWEI Männer, von denen der eine alle Handlungen seines Lebens nach seinen Träumen einrichten wollte, der andere [335] dasselbe nach den Prinzipien der neuen Philosophie täte, würden nach einigen wiederholten Versuchen in einem gewissen Hause zusammentreffen, wo man die Leute einzusperren pflegt, die sich und andern zu beschwerlich sind.

459


[336] [88]WÄREN die Menschen so schlimm, als sie mancher denkt und malt, so ließe sich gar nicht mit ihnen leben; wären sie so gut, als sie mancher haben will, so bliebe das Leben selbst stehen. So segeln oder lavieren wir in der Mitte, wenn auch nicht mit Vertrauen, doch mit dem Schein davon; die andern tun dasselbe gegen uns, und das Leben geht.

460


[88] [232]WENN die Großen einen gemeinen Mann beim Aufruhr unterstützen und ihn dazu reizen, so geschieht es darum, um größer über den einzigen Großen zu werden. Sie lassen dann den Kleinen die Ketten los, verhüllen eine Zeitlang die Schmiede, wo man sie verfertiget, unterhalten aber sorgfältig das Feuer in der Esse; der Hammer und der Amboß ruhen nur aus. So steht der große Adel in der Geschichte, wenn vom Aufruhr und dem Haupt desselben die Rede ist.

461


[232] [353]MAN sagt immer zu jungen und auch zu erwachsenen Leuten, sie sollten sich gute, große, berühmte Männer zum Muster vorstellen. Die Lehre ist gut und leicht gegeben. Wenn sie aber selbst kein Muster in sich gefunden haben und finden können, wohin sollen sie das fremde stellen? Um das Gute, Große sich vorzustellen, muß man es doch fühlen und denken können. Nachäffen kann es wohl mancher Bube, wenn er noch den Cornelius Nepos liest. Wo keine Quelle liegt, mag man immer mit der Wünschelrute den Boden berühren; und wenn das Erinnern an gute, große Männer auch solche Männer hervorbringen könnte, was hätte nicht Plutarch aus der Welt gemacht? Das wahrhaft Gute und wahrhaft Große weckt sich selber auf: Es ist da und steht auf eignem festem Grund. Verkennt sich ein solcher Mann [353] und läuft fremden Mustern nach, so nimmt er Schattierungen an, schiebt sich fremde Bewegungsgründe unter, beurteilt seine Lage falsch, bringt gewöhnlich etwas ganz anders hervor, als er hervorgebracht hätte, vertauscht eignen Wert für fremden und setzt noch obendrein den seinigen Gefahren aus.

Also soll man es ganz unterlassen? Das sage ich nicht. Aber so wie nichts angenehmer für unsern Geist und Herz ist, als auf einen großen und guten Mann zu deuten, so ist auch nichts bedenklicher, besonders wenn man es für einen andern tun, wenn man ihm den rechten Punkt andeuten und die Empfänglichkeit dafür in ihm erwecken will. Die Finger dazu hat jeder an der Hand; aber den Geist, der den Geist des großen und guten Mannes dem Geiste des andern darstellen will! – Gespenster, Zerrbilder großer Männer des Altertums und der neuern Zeit sieht man in allen Schulen – und in den Schulen nicht allein. Man bannt sie auch in den historischen Romanen für das erwachsene Publikum und leiert ihnen noch ein Lied dazu.

462


[354] [390]VON allen großen, außerordentlichen Menschen, um nur menschlich zu reden, die je gelebt haben, ist Christus der verkannteste. Mißkannt und mißverstanden von seinen Feinden, mißkannt und mißverstanden von seinen Schülern, von seinen Freunden, Verehrern, die ihm Macht, Ehre, Glück und den täglichen Unterhalt verdanken: so lebte, starb er, und so ist er's noch. Jeder deutet und zeigt auf ihn hin, von dem Papste bis auf den letzten, ärmsten Dorfpfarrer; aber wer in seinem Geiste? Und haben ihn seine Verehrer nicht in jedem gekreuzigt, den sie aus heiligem Eifer in seinem Namen schlachteten? Tun sie es durch Verfolgung da, wo sie es können, nicht noch täglich?

Nur wenige Weise erkennen ihn und schweigen, weil die Juden, die ihn kreuzigten, nicht mit mehr Blindheit geschlagen waren als die meisten auf seinen Namen getauften Christen.

463


[390] [116]WER den Großen und den Staatsbeamten überhaupt durchaus und in allem Konsequenz wünscht, der spricht den Völkern das politische Todesurteil. Nur die Inkonsequenzen sind es, die jene wieder etwas in die Gewalt des Volks bringen. Freilich muß das Volk die Inkonsequenzen meistens mit Gut und Blut bezahlen; auf der Konsequenz aber stände ein ganz anderer Preis. So gleicht sich das Widersprechendste in dieser Welt aus, und nur der wundert sich darüber, der alles aus einem Grundsatz leitet.

464


[116] [190]WENN man eine Hofintrige neben einer wichtigen Staatssache herlaufen sieht, sie gehe nun auf die Personen, die das Geschäft betreiben sollen, die Sache selbst oder auf beide, so kann man mit Sicherheit voraussagen, daß entweder die Sache ganz fallen oder in einer ganz andern Gestalt erscheinen werde, als man zur Absicht hatte. Die angewiesenen Personen müssen sie nun, um sich zu erhalten, selbst verdächtig machen oder, da sie sich durch die Intriganten zur Intrige getrieben fühlen, die Intrige auf Kosten des Geschäfts zur Hauptsache machen. Man wird hier auf die zwei Prinzipien der moralischen Welt, wo sich nicht das Böse nach dem Guten, sondern das Gute nach dem Bösen zu modifizieren scheint, sozusagen mit der Nase gestoßen. Aber was tut der Fürst dabei? Wie ist ihm zumute? Ist er ein Mann, so zerhaut er den Knoten. Ist er es nicht, so hat ihn die Intrige, ohne daß er es ahndet, zu ihrem Haupte gemacht. Hat er durch lange Erfahrung die Philosophie der Gleichgültigkeit erworben, die den Schwachen, dem es nicht an Verstand fehlt, sehr bald beschleicht, so denkt er: Sie wollen es so, es ist ihre und nicht meine Sache. Ludwig XV. zog sich, wie bekannt, mit diesem Spruch aus jeder Verlegenheit.

465


[190] [116]ES gibt Staaten auf dieser Welt und hat ihrer immer gegeben, wo das Gute wirklich zuzeiten durch Zufall, wohl auch durch Not geschieht. Diese Staaten verdanken also ihre Dauer nur diesem Zufall und dieser Not, doch ohne ihnen zu danken. Das Volk allein glaubt, das Ding sei doch noch da, der Wille dazu habe sich ja gezeigt; und so faßt es im seligen Glauben neue Hoffnung.

466


[116] [190]WENN mancher Staatsmann so viel Geist, Kraft und Zeit zum Besten des Staats anwendete, als er sich gezwungen glaubt, zur Erhaltung auf seinem Posten anwenden zu müssen, so könnte es ihm oft gelingen, einen festen Grund zur Erhaltung seines Postens zu legen. Aber wozu wird es ihm helfen, wenn die Erfahrung [190] ihm gezeigt hat, daß bei dem Fürsten, dem er dient, die Intrigen mehr ausrichten als dem Staate geleistete Dienste? Daß er doch später oder früher fallen muß, machte er auch immer des Staats Beste[s] allein zum Beweggrund seiner Handlungen? Ich würde antworten: Und gleichwohl stößt ihn die Klugheit selbst auf diese politische Regel; denn es wäre doch möglich, daß so etwas ganz Neues auch auf einen solchen Fürsten wirkte, wenn man schonend, gelinde und doch mit Kraft verführe; aber da gewöhnlich die Gegenwart für solche Leute alles ist und sie dieselbe so eilend zu benutzen wissen, als man sie dazu treibt, so würd' ich etwas Vergebliches mehr gesagt haben.

Zur weitern Erläuterung führe ich indessen nur die Antwort eines gewissen Staatsmanns an einen gewissen Fürsten an, der ihn beim Abschied für gewisse allzu starke und allzu kühne Erhaltungskniffe mit Vorwürfen in sehr bittern Ausdrücken beehrte. Der Staatsmann hörte sie gelassen an und sagte dann nach geziemender Verbeugung: »Könnten Ew. Durchlaucht ein Fürst ohne Hof sein oder Ihre Angehörigen, nebst Ihrer Durchlauchtigen Gemahlin, andern gewissen Damen und allen ihren und dieser Angehörigen, so in Ordnung halten, wie ich meine Angehörigen und meine Frau nebst ihren Angehörigen in Ordnung halte, so hätt' auch ich ein rechtschaffener, gerader, ehrlicher Mann sein können. Versuchen Sie es mit einem andern, und wenn er Ihnen nicht in Jahr und Tag dasselbe sagt, so denkt er es doch gewiß.«

467


[191] [242]EIN gewisser Fürst, der gewöhnlich aus Vorliebe, Grille, Gunst oder auf Empfehlung eines Begünstigten seine Staatsbeamten anstellte, antwortete bei jeder Erinnerung, die ihm einer seiner nächsten Verwandten machte, der Mann habe nicht die Fähigkeiten und Kenntnisse zu diesem Platze: »Was er nicht weiß, wird er unter mir lernen.« Er hätte immer hinzusetzen können: »Ich bezahle ja das Lehrgeld nicht.«

468


[242] [171]ZUM Glück der politischen Welt, wenn sie in Ruhe ist, und zu ihrem Unglück in aufrührischer Bewegung hat die Natur sehr wenige Menschen mit den seltenen Fähigkeiten und Geisteskräften ausgestattet, die zum Haupt einer Partei gehören. Die Französische Revolution selbst, die so vieles Außerordentliche hervorgebracht, kann diesen seltenen Charakter nicht zeigen. Um ihn zu beschreiben, muß man die große Liste der menschlichen Schwächen ganz überspringen und das Register aller Haupttugenden und Hauptlaster allein aufzeichnen; so tritt aus dem Gemische der Zerstörer und auch der Retter hervor.

469


DER Superfeine in der Politik liegt oft schon in dem Netze von gröbern Fäden, während er an dem seinigen für andre noch strickt. Der Feine wird von dem Gröbern, Gerade-, Ehrlich-, Treuherzigscheinenden überlistet, weil ebendiese Grobheit und Geradheit dessen Feinheit ist.

470


[171] [296]ICH will, wenn ich über einen Mann urteilen soll, nicht allein wissen, welche Tat er ausgeführt, sondern wie und durch was für Mittel er sie ausgeführt hat. Dadurch kann eine kleine Tat zur großen und eine große zur kleinen werden; auch sind oft bei der ersten mehr Schwierigkeiten als bei der letzten zu überwinden. Also das Wie, Wodurch, Warum, die Tat – und dann den Mann!

471


ES ließe sich eine so artige als erbauliche Unterhaltung zwischen zween Männern dichten, worin der eine dem andern von dem Menschen und den Gefahren des menschlichen Lebens erzählte, ohne daß er je starke Leidenschaften gefühlt hätte. Der andere könnte ihn zur Vergeltung von dem Meere und seinen Gefahren unterhalten, ob er gleich dasselbe nie befahren und gesehen hätte und es bloß aus Reisebeschreibungen kennte.

472


[296] [92]HÄTTE die Natur dem Menschen den Genuß der physischen Liebe nur auf eine gewisse Periode des Jahrs, wie den Tieren, erteilt, wodurch er also nicht Liebe, sondern nur Befriedigung eines gewaltsamen Bedürfnisses geworden wäre, so fehlte uns gewiß einer der stärksten und reizendsten Triebe zur gesellschaftlichen Ausbildung – wenn anders die Gesellschaft dann noch entstanden wäre. Was wäre uns ein Weib, das uns die Natur das Jahr nur einmal reizte? Was wären wir dem Weibe, dem sie uns nur einmal zuführte? Höchstens würden wir die übrige Zeit zusammen grasen. Das Gefühl des Geschlechtstriebes, das, wenn es einmal rege wird, immer rege bleibt und selbst im Alter nicht ganz ausstirbt, hat uns die Welt und die Natur verschönert; ihm danken wir die süße Täuschung, aus ihm entsproß das Gefühl der Liebe und der ihr verwandten Freundschaft. Es mischt sich in alle unsere geselligen Empfindungen auch da, wo wir es nicht ahnden; und wenn es durch die Ehe die Gesellschaft geordnet hat und zusammenhält, so verdanken wir ihm auch den einzigen Reiz, der weder von Macht, Stand, Ansehn noch Reichtum abhängt. Sobald dieser physische Trieb erwacht, entwickeln sich die schlafenden Fähigkeiten; die wahre Einbildungskraft, das wahre Geistige, das moralische Selbst streben auswärts, lösen sich, möchte man sagen, von ihren Banden, knüpfen sich an andre Wesen an, werden, schaffen und genießen. Hätte die Natur diesen Trieb auf einen Zeitpunkt festgesetzt, so folgte Einschlafen aller dieser Kräfte nach Befriedigung derselben, und wir ruhten nur von dem Sturme aus, bis er wiederum das Blut bewegte. Wie der Mensch der Natur für diesen Trieb, auf den sie so viel gegründet hat, dankt, beweist der Wahnsinn, womit ihre ungeratnen Söhne ihn zu verdammen wagten.

473


[92] [97]WER es in der Welt so weit gebracht hat, daß er aus Liebe zum Guten und Gerechten und aus Haß gegen das Schlechte und Gewalttätige gar nicht mehr in Hyperbeln [Übertreibungen] spricht, der wird auch keine Tat mehr wagen, die höher als die gewöhnliche Regel der Klugheit steht. Wenn man einen solchen Mann in der Not zur Hilfe auffordert, so hat er schon durch Ton und Blick gesagt, was man von ihm erwarten muß. Er spricht alsdann die bilderlose, reine Sprache, wodurch sich kalte Schriftsteller den Ruhm der Korrektheit erwerben.

474


[97] [296]BEVOR man im bürgerlichen Leben über die Leute abspricht, die man Überspannte betitelt (deren Zahl – im Sinn, wie ich sie nehme – gar klein ist), sollte man sich genau untersuchen, ob man nicht selbst allzusehr herabgespannt oder allzu klug sei. Wir finden im Juli und August die Sonne oft zu heiß und meinen, es sei auch mit weniger genug; aber ebendiese Hitze treibt die [296] Früchte zur rechten Zeit zur Reife; so bringt eine gewisse Überspannung in der moralischen Welt oft Früchte hervor, die nie erschienen wären, deren Keim wir gar nicht geahndet hätten. Da aber dieses Wort auch einen Narren bezeichnet, so sage ich nur, daß solche Leute wohl Narren in den Augen sehr kluger Männer sein können, daß aber wahrscheinlich die Klugen selbst, wenn solche Narren auf einmal ganz verschwänden, die Narren von Männern werden könnten, die noch etwas mehr als klug sind.

Da man gern über solche Märtyrer zum Besten der Gesellschaft herfällt, so sage ich noch, daß allzu scharfer Tadel gewisser Kraftäußerungen im Menschen das Menschengeschlecht selbst beeinträchtiget und daß die Allzuklugen bei ihrem Tadel ein wenig an sich selbst denken sollten.

475


ES ist ein großes Übel, daß das Streben nach Macht und Reichtum die Menschen auf dem Wege zu ihnen oft so verdirbt, daß man voraussagen kann: Gelangen sie zu ihrem Zweck, so werden sie dieselben gewiß mißbrauchen. Sie geben gewöhnlich ebendas von ihrem eignen Stock im voraus aus, was zum rechten Gebrauch das Nötigste und Beste wäre. Was sie aber dafür gegeben haben, kann man, da der eigene Stock des Menschen aus vielerlei besteht, nur dann erfahren, wenn sie es uns praktisch zeigen. Entweder haben sie die Theorie schon auf dem Wege erlernt, was dann ihr Geheimnis bleibt, oder die Theorie entwickelt sich aus der Praktik selbst.

476


ES ist wenigstens ein gewagter Schluß, den Menschen nach seiner Hauptleidenschaft, die er selten verbirgt oder verbergen kann, beurteilen zu wollen. Die Mittel, welche er zu ihrer Befriedigung anwendet, geben den Schlüssel zu dem Wert seines Herzens und seines Verstandes; aber diese zeigt er nicht, die muß man ihm ablauern, abstehlen, abgraben oder sonst suchen, wie man dazu kommt.

477


[297] [93]DIE Vernunft mag noch so stolz und anmaßend sein – alles, was sie denkt, allen Stoff, den sie verarbeitet, verdankt sie doch dem Herzen, den Sinnen und der Einbildungskraft. Zur Vergeltung hat sie das Spiel a priori ersonnen und sucht sich in das Eroberte als Eigentum zu setzen.

478


DA wir in der Sinnenwelt alles durch Täuschung oder einen wohltätigen, für uns eigentlich gewebten Flor sehen, so scheint uns dadurch die Natur auf die Täuschung in der geistigen oder Verstandeswelt vorbereitet zu haben. Wir sind mit der ersten Täuschung so zufrieden, weil wir den Vorteil davon täglich einsehen, daß man keine Klagen darüber hört. Warum sind wir es nicht mit der zweiten, die uns wohl noch nötiger ist? – Weil die Zufriedenheit hier wahrscheinlich nicht zweckmäßig war, weil das, was sie in ihren Schleier hüllt, die Aufgabe unsers Lebens ist.

479


[93] [413]WARUM treten heute keine Männer wie Mesmer, Gaßner, Lavater auf? Ist dieses Geschlecht ganz ausgestorben? Oder fühlen Männer dieses Geistes, daß Torheit und Schwärmerei nicht an der Tagesordnung sind? Ach nein, sie fühlen, was wir täglich sehen; die Philosophen haben sich ihres Eigentums bemächtigt, schwärmen durch die Vernunft; und um es recht zu können, töteten sie die Einbildungskraft und schufen aus ihrem eiskalten Leichnam die Einbildung.

480


[413] [501]AUF Voltaire schimpfen wir schon lange; Newton ist uns nun auch der Mann nicht mehr; an Buffon und Bailly haben wir gar vieles auszusetzen; mit Locke und Condillac ist es abgetan; Montesquieu ist zu weit zurück; Rousseau ist kein Philosoph; Diderot und Raynal sind Phrasenmacher, Deklamateurs; Gibbon,[501] Robertson, Hume hätten es wohl besser machen können; mit Laplace wird es auch nicht dauern – so sagen und urteilen große und berühmte, kleine und unberühmte Männer im deutschen Vaterlande. Was für große Männer müssen wir also im Vaterlande haben, da man uns über die genannten so belehrt, da diese denen so wenig g[e]nügen, die uns so eines Bessern belehren? – Also dürfte man die Fehler großer Männer nicht aufdecken? In der Art, sie aufzudecken, liegt die Sache; denn wenn man so schulmeisterlich meistert, muß man es besser machen können.

481


[502] [493]MERCIER hat sich nach Frankreich verirrt; nach vielen seiner Werke, alten und neuen Dramen, Moralien und Erzählungen zu urteilen, war er wirklich zum Autor für das große deutsche Publikum bestimmt. Auch hat er in Deutschland ein größeres Publikum als in dem Vaterlande, in das er sich verirrt hat.

482


[493] [250]ICH hatte ehemals wohl den Tacitus in Verdacht, er übertreibe ein wenig aus tiefem Gefühl und Haß gegen gewisse Dinge, was einem Geiste, wie der seinige, leicht widerfahren konnte und auch wohl verzeihlich wäre. Seitdem aber das Schicksal gewollt [250] hat, daß ich die Kommentare zu seinen Werken lebendig aufführen und vor meinem Geist vorübergehen sehen sollte, finde ich seine düstern Farben zuzeiten selbst nicht düster genug. Wohl dem, der nur von solchen Dingen liest und den Römer als Antiquar und Philolog kommentiert.

483


[251] [191]ICH kann es wohl begreifen, wie ein Mann, der von seinen Einkünften lebt, sonst artig oder liebenswürdig ist und weiter keine Ansprüche macht, ohne Feinde leben kann; wie dieses aber einem Staatsbeamten, von welchem Range er sei, der streng auf Pflicht und Gewissen hält, gelingen könnte, das begreif' ich nicht und möcht' es gern erfahren. Bisher schloß ich, wenn ich auch den Mann nicht kannte, aus dem Ton, den Klagen, den Vorwürfen, der Art der Beschuldigungen, den Feinden eines solchen Mannes [191] auf den Mann – auf sein Gegenstück aber aus dem Lobe, der Aufzählung und der Art der seinen Freunden geleisteten Dienste und habe mich noch nicht betrogen. Ich komme mit der einfältigen ersten Regel der Rechenkunst aus: So viele Feinde gewisser Art, so viele strenge Pflichterfüllungen; so viele Freunde gewisser Art, so vieles Vorbeischleichen an denselben. Die Feinde oder Freunde, die der Mensch – und nicht der Beamte – sich macht, diese streicht die Billigkeit.

484


DAS Empfehlen zu Posten und Ämtern, von dessen Beamten an- und untereinander, ist eine immer dauernde, immer wirkende Staatsverschwörung gegen ebenden Staat, dem sie vorstehen; und was das Sonderbarste ist; ohne daß sich die Verschwornen für Verschworne und folglich für Staatsverbrecher halten. Vielleicht wollen sie hiermit zeigen, daß sie doch ineinem Punkt aus gutmütiger Einfalt des Herzens handeln.

485


[192] [129]HAT man lange gelebt und beobachtet, so freut man sich wohl noch herzlich, wenn man erfährt, daß ein Fürst einen guten Gedanken faßt; aber zum Enthusiasmus läßt man es so leicht nicht mehr kommen. Man freut sich nur im stillen und wartet weislich [129] ab, was die Männer aus dem Gedanken machen, durch die er verarbeitet in der Wirklichkeit auftreten soll.

486


[130] [399]ZU allem ist Zeit vorhanden; aber zu nichts mehr als zum Enthusiasmus in dieser politisch-kultivierten, philosophischen Welt. Der Ekel, den öftere Täuschung dieser Art verursacht, teilt sich einem Teil unsers Wesens mit, auf welchen stärkende Magentropfen gar nicht wirken können. Wollt ihr sehen, ob einem [399] dieser Fehler bleiben wird, so beobachtet ihn nur, wenn ihm nach der Begeisterung die kalte, strenge Wahrheit des Ausgangs der Sache, die ihn begeisterte, erscheint. Hängt er die Flügel, tadelt er sich strenge, spricht er von Vorsicht auf die Zukunft, tut ihm die Täuschung um seinet-, nicht um der Sache willen weh, so schließt nur sicher: Der wird bald ein kluger Mann, er hat den Fehler nur im Kopfe. Steht aber der Mann mit strengem, auch wohl finsterm Blick vor ebendieser kalten Wahrheit, sieht er sie entschlossen, auch wohl mit Unwillen an, ärgert er sich wie einer, der an sich nicht denkt, empfiehlt er sich ihr endlich als ein Mann, den so etwas wohl grimmig, aber nicht irremachen kann, so sagt nur immer: Der Fehler wird ihm bleiben, er sitzt ihm tief. Und daraus wird nun endlich der weise Mann, von dem ich oben sprach.

487


[400] [356]DEN Alten verzeiht man vieles, die Natur nimmt ihnen zuviel ab; was ich ihnen aber nicht verzeihen kann, ist, daß sie die jungen Leute gar zu früh altklug machen wollen. Höre ich einen solchen Praktikus mit grauem oder weißem Kopfe mit selbstgefälliger Geschwätzigkeit einem Jüngling die rechten Lehren zum Glückmachen in der Welt erteilen und sich als Beispiel dazu aufstellen, so deucht mich immer, ich höre eine alte Kupplerin, die ein unreifes Mädchen zu etwas Gewissem beschwatzen will, wovon das Mädchen gar nichts weiß, weil die Natur darüber noch kein Wort zu ihm gesprochen hat.

488


[356] [130]FÜRSTEN, die nur gute Nachrichten hören wollen und denen die Diener die schlechten verschweigen müssen, um nicht verhaßt zu werden (bis das Schweigen für beide Teile gar zu gefährlich wird), vergessen wenigstens das Patent, das sie von Gott zu ihrem Fürstentum und Fürstenwesen auf die Welt gebracht haben wollen. Sie sollten doch bedenken, wie viele schlechte Nachrichten ihr Oberherr von uns und auch von ihnen selbst erhält (auch den gemeldeten Umstand könnten sie dazu rechnen), bis eine einzige gute zu ihm gelangt, wie lange das nun schon währt und was er noch an den wenigen seltenen guten Nachrichten auszusetzen finden mag.

489


DIE Geduld, welche gewöhnlich in den Geschäften des Staats einer mit dem andern hat, kann alles sein: Berechnung auf das gleiche Betragen, Bewußtsein eines Fehlers oder Mangels, Anerkennen einer allgemeinen Schwäche des Menschengeschlechts, Verlangen, sich beliebt zu machen, Schwäche des Kopfs und des Herzens unter dem Namen der Güte und Nachsicht, Furcht – alles, was man will; nur Tugend kann sie niemals sein und heißen: denn sie wird immer zum Nachteil des Dienstes und der zu betreibenden Sache ausgeübt. Es gibt sogar der Fälle viele, wo man sie Staatsverbrechen nennen möchte.

490


DER Mann, der zum erstenmal das Wort »Tugend« klar dachte und warm aussprach, hat dem Menschen das Diplom des Adels ausgestellt und das rechte Wort dazu gefunden. Die Roturiers dieser Art mögen nun machen, was sie wollen, das Diplom werden sie wenigstens nicht zerreißen; denn die Bewachung des Archivs, wo es verwahrt liegt, wird ihnen nie vertraut werden, [130] sosehr sie sich auch darum bemühen mögen. Die Fürsten haben dieses Diplom politisch nachgestochen; das konnten und mußten sie als Fürsten, es bewährt sich aber für uns nur durch jenes echte.

491


[131] [505]DIE Sprache konnte wohl dem Menschen in der gesellschaftlichen Verbindung kommen, aber die Rede dem Auge und dem Verstande durch ein Alphabet zu versinnlichen, dieses scheint dem Nachsinnenden Götterwerk. Da es aber gewiß, wie jede andre Entwickelung unserer Geistesfähigkeiten, Menschenwerk ist, so beweist es doch, daß der Mensch wirklich mehr ist, als ihm selbst mancher gute Kopf heute zugestehen will. Der Mensch hat in dieser Art wirklich so viel Göttliches ausgeführt, daß mich [505] die Vergötterung seinesgleichen gar nicht wundert. Damit aber das Göttliche um so schöner aus dem Dunkel herausstrahle, mußte und konnte das Teuflische und das Verteufeln anderer auch nicht fehlen.

492


[506] [477]ALLE wohldenkende[n], um die Menschheit besorgte[n] Schriftsteller sollten die Propheten religiöser und politischer Art zu einem Gegenstande besonderer Aufmerksamkeit machen; denn alles, was sie gegen solche Toren tun, ist eine Wohltat für die gegenwärtigen und künftigen Geschlechter. Der unwissende Weissager Ziehen ist schon lange gestorben, und gleichwohl könnte ich, nur von einigen Jahren her, den authentischen Fall erzählen, daß eine seiner Wahrsagungen, von einem kühnen und gefährlichen Geist zur rechten Zeit, am rechten Ort gebraucht, einen so entscheidenden Einfluß auf eine gewisse Weltbegebenheit gehabt hat, daß dem Leser, wenn ich jetzt deutlich reden [477] möchte, das Herz ächzen würde; und wär' er ein Mann von Humor, so würde ihm das Lächeln gewisser Art, womit man die Götter des Tuns der Menschen wegen höhnt, auch nicht ausbleiben. Die Weissagung reizte nicht allein zur Tat, sie unterstützte auch dabei; die Folge war freilich wie die Folge aller dieser Torheiten; aber die dafür bezahlten? die dadurch litten? So ein Tor begeht Verbrechen an der Menschheit, wenn er schon Staub geworden ist. Darum nieder mit solchen gefährlichen, stolzen Narren, die die Gottheit lästern, indem sie glauben, sie habe ihnen, den elenden Wichten, den Vorhang vor ihren Geheimnissen weggezogen! Ins Narrenhospital mit ihnen und auch dort in eine einsame Kammer, damit sie allein Narren bleiben! Für den Spott sind sie zu schlecht, und er hat noch keinen geheilt.

493


[478] [336]»SEI Freund, als ob du Feind werden könntest, und Feind, als ob du Freund werden könntest!« ist eine von den klugen Vergiftungsregeln, die ebenso abscheulich als durch die Erfahrung praktisch nützlich sind. Wer sie aber abscheulich findet, dem helfen sie zu nichts; die andern befolgen sie, wenn sie dieselbe noch nicht kennen. Sie kennen nur einen Freund; und dieser nahe Freund hat nicht allein mehr Augen als das Ungeheuer der Fabel, welchem Jupiters eifersüchtige Gemahlin die Nebenbuhlerin zur Aufsicht übergab; er ist auch seiner Pflicht so getreu, daß selbst die süßeste Musik der Flöte Merkurs, und käm' noch Apollo mit seiner Laute hinzu, seine hundert und mehr Augen nicht zum Schlummer zu bringen vermöchten.

494


NOCH ein kleiner Vergiftungsspruch: »Schmeicheleien kosten nichts!« Wahr! – wenn man seinen und anderer moralischen Wert für nichts rechnet.

495


[336] [425]WER die Tugend zu sehr als ein Abstraktum oder als ein volles, rundes, schweres Ganze ansieht und mit dieser steifen, strengen Anschauung tätig in der Welt sein will, der setzt sich zweierlei Gefahren aus: entweder daß sie ihm mit ihrem Gewicht so schwer wird, daß er sich darunter nicht bewegen kann und die andern durch den Anblick seiner Last niederdrückt, oder daß er, um sich die Last leichter zu machen, an gedachtem Ganzen so lange vereinzelt, zergliedert und verkleinert, bis sich aus den Trümmern gar nichts mehr zusammensetzen läßt. Um auf seinem Schwerpunkt zu stehen, bedarf man keiner Rüstung; auch die leichte, sanfte Gestalt einer Grazie ruht darauf. Ein tugendhafter Mann kann sich gar so leicht bewegen, daß ihm der [425] Zuschauer nur im Augenblick des Bedürfnisses und der Not ansieht, er sei unter seinem Gewande bewaffnet.

496


[426] [233]NEUE Menschen wirken auf keinen Menschen mehr und über das rechte Maß als auf die Fürsten. Die alten, die sie täglich sehen, kennen sie in Beziehung auf sich schon auswendig, und keiner von diesen kann mehr eine lebhafte Empfindung in ihnen erwecken. Nur ein neuer Ankömmling vermag es noch. Da nun Fürsten doch auch empfinden wollen, weil dem Menschen das Empfinden wirklich einige angenehme Minuten machen kann, so ist für den neuen Ankömmling nichts gefährlicher als diese plötzliche Aufwallung der Freude, des Vergnügens, der Hoffnung, der Versprechungen und Einladungen. Es ist das Wetterleuchten eines Enthusiasten, für den der Enthusiasmus gar nicht gemacht ist, weil der Enthusiasmus es für ihn nicht ist, weil er für ihn weder geboren noch erzogen werden soll. Vergißt dieses nun der neue Ankömmling in der Bezauberung oder hat er noch nicht die Erfahrung gemacht, ahnden oder wissen zu können, wem eigentlich diese Aufwallung zuzuschreiben sei, schreibt er sie wirklich seinem empfehlenden Äußern und dem Anerkennen seines innern Werts zu, so wird er bei der zweiten, dritten Aufwartung in seinem Traum ein wenig irre werden und bei den folgenden vermutlich ganz daraus erwachen. Und dies ist für den Fürsten und den neuen Ankömmling gut. Dem ersten nützt nicht, was man gemeiniglich engouement nennt; und der zweite bezahlt es gewöhnlich über seinen Wert.

497


[233] WER an einem großen und noch mehr an einem kleinen Hofe Glück zu machen sucht, ohne vorher die Situationskarte des Landes mit allen Bergen, Hügeln, Tälern, Ebenen, Gräben, Gebüschen, Morästen usf. aufs sorgfältigste aufzunehmen und sich recht zu vergegenwärtigen, der kommt mir wie ein Feldherr vor, der in einem sehr kupierten Lande den Krieg nach einer Homannschen Karte führen wollte. Die Namen der Städte, Burgen, Schlösser und Dörfer findet er darauf, das übrige wird er mit seinem Schaden näher kennenlernen. Der Lohnlakei, die Klatscher und Windbeutel, das Pöbelvolk des Hofs und der Stadt, dem Geiste nach, werden meinem Glücksjäger auch den Namen der Hauptpersonen nennen und sogar noch mehr als Homann tun: Sie werden jedem die in den Straßen laufenden Anekdoten in Gutem und Bösem anhängen; aber er entwerfe nur seinen Plan darnach!

498


[234] [336]WER da sagt: »Ich traue keinem Menschen«, traut den Menschen schon insoweit, daß er glaubt, man könne ihnen so etwas ins Gesicht sagen. Er wird schon weiter gehen oder weiter geführt werden, als er gehen wollte, da man seinen Leibspruch kennt.

499


[336] [308]WENN es Prediger gibt, die, um ihre Gemeinde von der Sünde des Fleisches zu heilen, immer mit Gottes Wort dagegen donnern, so gibt es auch Ärzte, die immer damit anfangen, daß sie ihren Kranken ein Vomitiv und dann eine Purganz verschreiben. Beide sind Menschenkenner, die der gemeinen Heerstraße folgen, auf welcher der größte Haufen wandelt, solange er es vermag. Auch machen beide Artikel genannten Kunstverständigen das Handwerk leicht: Es ist ein ewig stehender Text und ein ewig laufendes Rezept.

500


[308] [282]IST die Menschenkunde eine Wissenschaft? Kann man sie aus Büchern lernen? Wenn man die Zeit in Anschlag bringt, die zu ihrer Erlernung gehört, und gewisse Kosten berechnet, die sie veranlaßt, so möchte man sie wohl eine Wissenschaft nennen.

[282] Ob man sie aber aus Büchern lernen kann? Warum nicht? So wie die Naturgeschichte aus Linné, Buffon, Réaumur, Lacépède usw., wenn man die Tiere, Insekten, Vögel, Pflanzen usw. in schwarzen Bildern und in Beschreibungen gesehen und gelesen hat; nur daß hier der Irrtum für den so Gelehrten unschädlicher ist. Die Bücher von der sogenannten Menschenkunde beschreiben uns den Menschen wohl innerlich und äußerlich, sagen uns auch ganz deutlich: Der Mensch ist das und das, handelt so und so, aus diesem und jenem Triebe, dieser oder jener Ursache, kann so handeln, muß so handeln – das Wie, Warum allein fehlen nur. Nur der, welcher die Menschen lange handeln gesehen und recht aufgemerkt hat, der kann die Elemente, Regeln, Maximen, Züge, Beschreibungen beim Lesen zu Fällen machen, das heißt, beleben, dramatisieren; und hätte er auch keinen andern Nutzen davon, so genießt er wenigstens das Vergnügen, längst vergangne Szenen geistig zu wiederholen. Es ist hier überhaupt wie mit vielen diesem Punkte verwandten Dingen. Es kommen Seelen oder Geister auf diese Welt, die von Haus aus in einen Flor eingehüllt zu sein scheinen; alle Anstrengung, ganz hell zu sehen, ist für sie verlorne Mühe. Diesem und jenem fliegt eine Seele mit so hellen Augen zu, daß er ohne alle Mühe sieht, und zwar Dinge, wovon jene gar nichts ahnden. Die ganz Blindgebornen sind die Seligen der Welt, und diese helfen sich mit dem Tasten und Fühlen durch das Leben.

501


DIE von sich selbst und ebendadurch von andern am ärgsten Betrogenen sind ebendiejenigen, die von ihrer großen und tiefen Menschenkenntnis so überzeugt sind, daß sie nicht allein damit laut prahlen, sondern fest glauben, sie könnten sich nie in einem Menschen irren. Solche Leute bezahlen täglich das Lehrgeld und nennen sich immer Meister in der Kunst. Ihre Eitelkeit dreht einen dicken Strick zusammen, den jeder darum so leicht ergreifen kann, weil ihr Stolz ihn für einen feinen, gar unsichtbaren Faden hält.

502


[283] IST die Menschenkenntnis auch allen nötig? Hinter dem Pfluge, in der Schmiede kann man sie entbehren, wenn man für den Meister arbeitet, seine Ware nicht selbst verkauft und so gesunden, starken Leibes ist, daß man der Gunst des Meisters entbehren kann, weil der gesunde Arbeiter immer einen findet, der ihn braucht und bezahlt. Dieses läßt sich indessen nicht auf Sklaven anwenden; denn diese sind, soviel ich weiß, die zuverlässigsten Menschenkenner – aber welch eine Menschenkenntnis! Wenn jemand die peinliche Arbeit übernehmen wollte, eine Galerie ihrer Herren und Herrinnen nach ihrer derben Malerei auszumalen, so würde er, wenn er nichts hinzusetzte und ausließe, ein Werk zur Geschichte des moralischen Menschen liefern, gegen das jedes andere dieser Art nur ein Narrenspiel ist.

503


UND wer ist nun der Hauptlehrer der Menschenkunde? Erstlich die Selbstliebe, wenn man sie ehrlich, billig für sich und andere behandeln will, da sie ganz auf wechselseitiges Bedürfnis gegründet ist. Das Verlangen, über seinen und anderer Wert richtig zu urteilen, mischt sich dann wohl auch darunter. Kommt dies Verlangen wirklich hinzu, so ist der Geistesgenuß noch obendrein der Lohn. Zweitens, wenn man es nur ehrlich und billig mit sich selbst meint, der Egoismus, der sich nicht um den Wert, um den Genuß, sondern bloß um die Sache, die man dadurch gewinnt, bekümmert, der das Bedürfnis zu einem hohen Luxus gebracht hat, in dem nur er zu schwelgen denkt. Von dem dritten, dem hohen Zweck, sich und andere dadurch zu bessern, schweige ich, weil ich daran glaube und weil man andern das nicht beweist, woran man glaubt, man müßte denn erst überzeugt sein, daß der auch daran zu glauben fähig sei, dem man es beweisen will.

Von Hof-, Welt-, Staats- und Geschäftsleuten rede ich gar nicht, weil diese gewöhnlich nichts anders von dem Menschen kennen und in ihm achten, als was ihr hohes Interesse an ihm beleuchtet; die übrigen Eigenschaften sind meistens für sie unnütze und folglich[284] dunkle Seiten. Wer recht schiefe Urteile über Leute von der dritten Art – als über gelehrte, gute, rechtschaffene, einfache, ja auch sogar über große, berühmte Männer und Genies – von ihnen hören will, der merke auf, wenn sie vom Verdienst, vom Wert des Menschen oder der Menschen überhaupt in ihren Gesellschaften oder bei Geschäften reden. Aber wer sie selbst kennenlernen will, der merke noch genauer auf, wie sie sich ihren eignen Wert und ihre eignen Verdienste malen; da strahlt ein Licht, daß es den Einfältigen wirklich verblenden könnte. Da nun diese gewöhnlich die Lehrer der Fürsten in der Menschenkunde sind, so sterben auch viele Fürsten dahin, ohne den Menschen gekannt zu haben. Daraus entsteht nun zuzeiten ein ganz sonderbarer Kampf zwischen dem Fürsten, der so gelehrt worden, und dem Fürsten, der doch auch zuzeiten anders fühlt. Er empfindet oft etwas, das den Lehrern widerspricht; da diese aber dafür sorgen, daß er nie zur wahren Kenntnis gelange, so stirbt er in einem unruhigen Traume und das mit einer Seele hin, die ihm ganz unbekannt geblieben ist. Viele Totengespräche weiser Leute beweisen das, und es wäre darum nicht übel, wenn mancher Fürst sie hinter dem Rücken seiner Lehrer läse.

504


WOZU alle die strengen Beobachtungen und Bemerkungen an dem und über den Menschen? Das Leben ist ein Spiel: Je weniger man daran denkt, was man treibt, je unterhaltender ist es, je mehr genießt man! Wahr ist es, das Leben der Kinder ist ein Spiel, und nie spielen sie munterer, eifriger, heiterer und mutiger, als wenn die Alten, Vernünftigen ihnen zuschauen und sich daran ergötzen. Treibt es denn auch so, und wir wollen schweigen, uns ergötzen; nur laßt das nicht weg, was das Spiel der Kinder den Alten so angenehm und erfreulich macht. Dann müßte der ein Tropf sein, der euch daran hinderte. Es ist nur der Einsatz des Spiels, der uns so nah angeht und uns so aufmerksam macht.

505


[285] [380]NACH dem System Epikurs und manches andern kümmern sich die Götter nicht um uns. Aber warum kümmern sich denn die um die Götter, die dieses, lehren und denen es andere nachsagen? Wem sie nichts sind und sein können, der sollte sie wenigstens in Ruhe lassen und, wenn er es kann, sich selbst ein unbescholtner Gott werden. Aber hierin scheint eben die Schwierigkeit für manchen zu liegen.

506


[380] [298]MAN fühlt den hohen Wert der Tugend nie tiefer, als wenn man auf Menschen in dem Augenblick stößt, da sie eine sehr gute Tat vollführt oder ein Verbrechen begangen haben. Es ist aber nicht genug, sie nur physiognomisch oder physiologisch und pathologisch anzustarren; man muß sie in dem Geiste ansehen, den ich hier andeuten will. Hier wirkt ein Blick, eine Betrachtung dieser Art mehr als die wohlgeschriebensten Lehrbücher von der Ethik des Aristoteles bis auf die Tugendlehre Kants. Demnach müßten nun die Richter, da sie die meisten Verbrecher, Schurken und Bösewichter unter allen Farben des geängstigten Gewissens sehen, durch lange Praktik die tugendhaftesten Männer sein und werden. Aber vielleicht fehlt es ihnen am Gegenstück dazu, da man nach guten und edeln Taten vor ihnen nicht zu erscheinen pflegt. Der ärgste Bösewicht muß überdem von Rechts wegen einen Advokaten als Verteidiger haben, und diesem macht es sein Beruf zur Pflicht, für das scheußlichste Verbrechen Entschuldigungen auszusinnen, wenn er es nicht mehr leugnen kann – ein so scheußliches als nötiges Geschäft, das aber auf Advokat und Richter nicht ohne eine gewisse Wirkung bleiben kann.

507


[298] [217]SO nützlich die Klugheit im Leben auch sein mag, so ist es doch am Hofe und unter den Großen nicht genug, klug zu sein; man muß auch noch die Klugheit besitzen, seine Klugheit nicht zu zeigen – oder davon nur soviel zu zeigen, als in dem oder jenem Fall unumgänglich nötig ist, und auch das noch mit der größten Behutsamkeit. Der recht Kluge muß außerdem noch die Kunst verstehen, wenn er vor den Mächtigen und Großen steht, seine eigne Klugheit ganz zu der ihrigen umzubilden; alles, was er sagt, vorträgt und in den Horchenden legt, so einhüllen, daß es nun der Horchende als das Seinige in den vor ihm Stehenden und ihn bewundernd Anhörenden niederlegen kann. Auf diesem Wege kann es sogar einem rechtschaffenen Manne gelingen, etwas Gutes zu wirken. Ebendies ist es nun, was das Leben am Hofe mit den Großen und Staatsleuten für den Kleinern in Geschäften so unsicher und gefährlich macht; und das Opfer, das man von ihm fordert, geht wirklich stark gegen den innern Menschen; er muß nicht allein den Stolz, die Eigenliebe, die Eitelkeit des Mächtigern mit seinem Stolz, seiner Eigenliebe, seiner Eitelkeit, seinen Kenntnissen und dem Bewußtsein davon füttern, er muß auch noch ganz ohne dieselben vor ihm zu stehen scheinen. Wen aber dies zu stark empört, der ist für ein solches Leben nicht gemacht; er weiß noch nicht, daß man den Mächtigen und Großen nur dadurch, daß man ihm alles zu geben scheint, was man besitzt, leiten und beherrschen kann.

508


SO mögen es manche Staatsleute auch wohl leiden, daß in dem Manne mehr stecke, als er ihnen zeigt. Sie haben das Vergnügen des Geistes, ihn zu durchschauen, das noch höhere, ihn durch die von ihm anerkannte Macht über ebendiesen Geist in Schranken [217] zu halten, und noch den Vorteil, ihm den Lohn durch einen Blick zuzeiten zu gewähren, ihm dadurch merken zu lassen, daß sie wirklich so etwas in ihm vermuten; der Blick selbst aber ist solcher Art, daß man darin deutlich lesen kann, der ihn Schenkende habe seinen Lohn schon im voraus abgezogen und gewähre nur den Rest. Nur mit dem, den sie im Kabinett, auf Promenaden, am Tische (wenn die Gesellschaft aus sichern Freunden besteht) aussaugen, den sie also zu nichts anderm gebrauchen wollen, dem gestatten sie nicht allein Stolz, Eigenliebe und Eitelkeit; im Gegenteil: Sie sind so freundlich gut gesinnt, daß sie dieselben noch dazu reizen. Wenn der Topf überlaufen soll, vermehrt man das Feuer, um gemein zu reden. Ist der Mann endlich so übergelaufen, daß all sein Vorrat versprudelt ist, so mag man ihm die Diskretion empfehlen; dadurch sichert er sich wenigstens des Lebens Unterhalt, ein freundliches Gesicht und bei Gelegenheit das Vergnügen, über das gefragt zu werden, was man entweder vergessen hat oder was aus der Schule in den sich ereignenden Umstand nicht passen will.

509


EIN artiges Spiel ereignet sich zuzeiten, wenn plötzlich ein rechtschaffner Mann von Kenntnissen und Fähigkeiten, der von allem Obigen nichts weiß, die Gunst eines Fürsten gewinnt und dieser ihm mit Wärme ein dem Staat nützliches Geschäft überträgt, worüber er sich aber mit dem Minister unterreden soll. Natürlich tritt nun jener vor den Mann mit allem dem Zutrauen, dem Glauben und dem Selbstbewußtsein und auch der Wärme, welche der Fürst, die gute Sache und das Vertrauen ihm einflößen. Er drückt sich also gerade, frei, rund und gewiß dringend aus. Ergrimmt und erstaunt nun anfangs letzterer über diesen Mann, so wird zuletzt der Mann selbst im Erstaunen kein Ende finden und kaum wissen, über wen er eigentlich ergrimmen soll. Er spielt wirklich eine Zeitlang für viele Leute die lustige Person in einem Possenspiel, das er allein für ein ganz ernsthaftes Drama hält. Und da man ihn am Ende abtreten läßt, ohne laut [218] zu lachen, so kann er zu der Rolle der lustigen Person auch wohl zum zweitenmal gelangen. Vielleicht, daß er dann endlich ausfindet, nur er trage die Narrenjacke.

510


[219] [225]DAS, womit es dem Fürsten wirklich ernst ist, wird über Nacht und Tag ein Paradewort an seinem Hofe. Er sei tugendhaft, so bringt er plötzlich die Tugend in der Leute Mund. Hat er sie nun recht im Herzen und hört sie mit dem Herzen allein von den Lippen andrer, so muß er endlich, wenn er die Tugendredner für ihr Bekenntnis doch gar zu sonderbar handeln sieht, durch eine Art ganz neuer Heuchelei das Wort etwas um seinen Kredit und dadurch um den Kredit auf sich selbst zu bringen suchen. Der Fall ist vielleicht weniger selten, als er es auf den ersten Anblick zu sein scheint.

511


[225] [390]ES gibt Leute, die so gutmütig fromm sind, daß sie sich recht herzlich betrüben können, wenn sich die Geistlichen gar zu menschlich aufführen. Ich bin ganz anderer Meinung; und ohne mich eben über ihre allzu menschlichen Schwachheiten, Gebrechen – und was man sonst noch will – zu freuen, so kann ich doch nicht anders, als den Laien ein wenig darüber Glück zu wünschen. Hätten jene, wie die gutmütigen Leute zu wünschen scheinen, immer den ehrwürdigen, leidenschaftlosen, liebevollen, um das Glück, die Ruhe, Zufriedenheit der andern besorgten Geistlichen nur erträglich vorgestellt oder nur um der Herrschaft willen geheuchelt und sich von gar zu menschlichen Schwachheiten und zu groben Gebrechen rein gehalten, sie würden das Menschengeschlecht ohne alle Rettung geistig und körperlich unterjocht haben. So sichert nun jede ihrer Torheiten – und was sonst Arges von ihrer Seite kund wird – die fernere Freiheit des Menschengeschlechts. [390] Führten nicht die Laster der Geistlichen die Reformation herbei und salbten dem wackern Luther den Weg dazu? Hätte Choiseul mit der Pompadour den Jesuiten beikommen können, wenn sie am Ende ihrer Tage nicht den Menschen gar zu stark, zu unklug und zu öffentlich gezeigt hätten? Solange sie bloß Jesuiten waren, gingen sie vorwärts auf dem Wege zu jener Herrschaft; und hätten sie früh die Kunst verstanden, die andern Ordensgeistlichen zu ihrem Zweck so zu bezaubern und zu gewinnen, wie sie die Könige, Gemahlinnen und Mätressen bezauberten und gewannen, wie stände es mit der Menschenfreiheit? Der feine, verachtende Stolz, die studierte List, der zu offne Zweck, ihre Gegner überall zu verdrängen und allein zu herrschen, von ihrer Seite; der gröbere, heftigere Stolz, der offen laut erklärte Krieg, der alte Besitz der Herrschaft und das eingebildete Recht darauf, von seiten ihrer Gegner, retteten die Laien. Wer ohne die äußern Zeichen der Macht und dem, was aus ihr fließt, herrschen will, muß aufhören, Mensch für diese Erde zu sein, wenigstens den Schein davon an sich tragen.

512


[391] [65]WIE sehr bei dem größten Teil der Menschen Eitelkeit und törichter Stolz den Herrn spielen, beweist auch: daß viele in ihrem Innern besser mit denen zufrieden sind, die ihnen eine Bitte höflich, schmeichelnd, mit Anerkennung ihres Werts und ihres Rechts zur Sache abschlagen, als mit denen, die ihren Wunsch ohne alles Wortgepränge, ohne weitere Auszeichnung erfüllt haben. Gegen diese halten sie die Dankbarkeit beinahe für überflüssig; sie taten es ja so grad und kalt, als habe es sie nichts gekostet; jenen glauben sie doch etwas für die besondere Achtung und Auszeichnung schuldig zu sein. Es ist also sehr natürlich, daß die Großen, wenn ihnen etwas an so einem wohlfeilen Ruf liegt, für die Kleinen mehr mit schönen Worten, schmeichelnden Versprechungen und geheuchelter Anerkennung ihrer Verdienste als mit Taten tun.

513


DAS größte Zeichen der Verderbnis in großen Städten sind nicht die Laster, die man wirklich begeht: daß man sich laut und öffentlich derer rühmt, die man nicht begangen, die zu begehen man die Kraft, den Mut nicht hat.

514


SOLANGE die Leidenschaft nur noch in dem Herzen, in dem Blute eines Menschen stürmt und seine Vernunft ganz übertäubt, weiß man noch, wem man ausweichen muß, was man zu vermeiden hat. Hat sie aber einmal die Vernunft so in ihr Interesse gezogen, daß diese ihr Diener wird, indem sie ihr eignes Geschäft zu tun wähnt, so stellt dieser gefährliche Sophist zum Besten des im Hinterhalt lauernden Tiers Fallen aus, vor welchen der Vorsichtigste selbst nicht immer sicher ist.

515


[65] [25]MENSCHENVERACHTUNG fängt immer mit dem Bekenner derselben selbst an, so stolz sie sich auch gebärden mag. Man beweist, daß man ein Gebrechen in sich entdeckt hat, das dazu berechtigt; die üble Laune darüber läßt man an andern aus. So möchte gern der Stolze dieser Art einen Vorhang vor das Geheimnis ziehen, welches sein Gewissen aufgedeckt hat; und wenn's möglich ist, sucht er sich noch als biederer, aufrichtiger Menschenkenner aufzudringen.

516


WER auf dem großen Welttheater glaubt, die erlernte und tief studierte Verstellungskunst sichere ihn vor allem Erkennen, der muß sich auch für den einzigen Schauspieler in der Komödie halten. Wo alles Rollen spielt, hält man auch wohl die Rechtschaffenheit für eine Rolle, und wer hierin für natürlich gehalten werden will, muß starke Proben davon abgelegt haben, wenn er die Mitspielenden davon überzeugen will.

517


WENN der Juwelier, um einen fehlerhaften Edelstein zu heben, die Folie dahinterlegt, so zieht der Weltmann durch sorgfältige Ausbildung seines Körpers die Folie vor den Stein. Beide wollen Fehler durch täuschenden Glanz verhüllen, und beiden gelingt es bei den Nichtkennern.

518


[25] [187]WENN man an einem Hofe die Cour besucht, so sieht man lauter Freunde – liebliche, zuvorkommende Gesichter; die Größten und Mächtigsten erheitern sich da etwas, und es werden Leute von ihnen höflich begrüßt, die gar nicht begreifen können, wie sie zu der Ehre kommen. Ist die Cour vorüber, so fährt alles auseinander; jeder erinnert sich seiner wahren Verhältnisse wieder und um so lebhafter, weil sie während des glänzenden, freundlichen, liebreichen Tumults ein wenig übertüncht oder durch die schöne Harmonie etwas eingewiegt worden sind. Der Fürst weckt freilich schon manchen Großen früher auf, wenn er mit einem andern länger und freundlicher als mit ihm spricht, aber noch mehr, wenn er ernsthaft mit dem andern spricht: Dies deutet auf ein Verständnis, das man schnell ausfinden muß.

519


[187] [317]MICH wundert nicht, daß es unsern Staats- und Geschäftsmännern so schwer fällt, einen festen, ernsten, gehaltnen Charakter aufzustellen, zu behaupten und durchzuführen; sie haben es heutzutage nicht mit den Männern allein zu tun, sondern auch mit den Weibern, die, wo es noch so ziemlich geht, die Herrschaft der politischen und bürgerlichen Welt nur mit uns geteilt haben. Zu den Zeiten, da die Weiber noch ganz auf das häusliche, innere Leben beschränkt waren und es ohne Verlust der Ehre nicht verlassen durften, hatten es solche Männer doch nur mit dem Teil des menschlichen Geschlechts zu tun, der der Kraft achtet, weil er darauf sein Dasein gründet. Der Krieg wurde demnach mit gleichen, allen bekannten Waffen geführt, und gewisse Schwächen bedurften der Verteidigung nicht. Jetzt wäre mancher noch glücklich, wenn er es mit Männern und Weibern zu tun hätte; viele haben es nur mit Weibern zu tun und mit Männern, die die Weiber schon lange im moralischen Sinn entmannt haben.

520


WAHR ist es, die heutige Herrschaft der Weiber in der hochkultivierten Welt hat unsern Lastern eine leichtere, gefälligere, graziösere Gestalt gegeben. Die Laster jener Zeit waren roh, schamlos, empörend frei und unverhüllt, und wenn sie zum Gegengewicht auch ganze, durchgeführte Tugenden vorzeigen können, so setzen wir ihnen eine größere Zahl von Halbtugenden entgegen und stehen als Sieger da. Unsre Weiber werden uns [317] hier nicht widersprechen, da wir diese Halbtugenden in ihrer Schule gelernt haben und uns darin üben müssen, wenn wir sie nicht zur Verschwörung gegen uns reizen wollen.

Gleichwohl gibt es auch heute noch Männer, die so hoch gestimmt sind, daß sie auf Gerichtsbänken, in Geschäften, am Hofe, im Staatsdienst, ohne die Gefahr für sich zu achten und zu fürchten, Eifer, Treue, Kühnheit zeigen, wenn sie im Enthusiasmus ihrer Weiber vergessen und nur an ihre Pflicht und Ehre denken. Müssen sie aber vor der Ausführung der Tat nach Hause gehen und ist nun am folgenden Tag ernstlich die Rede von der Ausführung des Wagstücks, so vernimmt man aus ihrem Tone, was sie für Weiber haben, wie diese sie in die Schule genommen und während des Unterrichts behandelt haben.

521


DIE Weiber wollen immer bei allem das Reelle gewinnen, weil sie am meisten brauchen; gewisse Dinge, die wohl der Mann noch für Gewinn und hohen Gewinn im Leben hält, haben keinen oder wenig Reiz für sie. Die Königin, unter deren Herrschaft sie selber stehen, weiß damit nichts anzufangen. Nur wenn der Mann über andere steigt und sie sich dadurch im Rang über andere Weiber erheben können, rechnen sie es für Gewinn – und sollte es das Reelle selber kosten!

522


DA die Weiber weder Charakter haben, haben sollen noch haben können (denn sie setzen sich nur durch Erkünstelung in gewisse Charaktere und sind dann gefährlicher als wir), so ist er auch ebendas, was sie an den Männern nicht vertragen können. Besteht der Mann darauf, so ist er die Hauptquelle des häuslichen Kriegs, die Gemahlin wirft ihn ihm als Eigensinn, Rechthaberei, Stolz, Despotismus vor, deutet auf Sanftmut und Gefälligkeit, wodurch sich das schöne Geschlecht zum Glück der Menschheit auszeichnet; hat sie ihm aber den Charakter nun endlich ganz ausgezogen, so nimmt sie nicht den Charakter, sondern[318] gewöhnlich alles das gegen ihn an, was sie ihm vorher zum Vorwurf machte. Klagen nun zwei Weiber in schwesterlicher Vertraulichkeit über ihre Männer, so schließt man selten fehl, wenn man denkt: die Klagenden sind noch nicht ganz mit dem Charakter ihrer Männer fertig; der wechselseitige Rat soll und wird aufhelfen. Aber um gerecht zu sein, muß ich hinzusetzen, daß, wenn die Weiber auch den Charakter nicht an ihren Männern lieben, so lieben sie ihn um so mehr an ihren Liebhabern; hier ist der Entschlossenste, Kühnste oft noch nicht kühn und entschlossen genug. Das Gemeine, Alltägliche dem Manne; das Außerordentliche, Heroische dem Liebhaber!

Doch um höflicher und auch bestimmter zu reden, hätt' ich – anstatt Weiber – Damen sagen sollen, man würde es vielleicht erträglicher gefunden haben; und weil ich doch einmal an meiner Apologie bin, so setze ich noch hinzu: Wenn es die Natur bei den Frauen nicht auf den Charakter anlegte, der uns im politischen Leben so nötig ist und auf dem unser männlicher Wert beruht, so hat sie ihnen die schönsten, friedlichsten Eigenschaften und Tugenden gegeben, wodurch sie sich und alle ihre Angehörigen mehr beglücken können, als wir es mit allen Kraftäußerungen zu tun vermögen. Welche unter ihnen dieses nun weder empfinden noch achten will, die erkünstle, erträume sich einen Charakter, pflanze den Mann auf das Weib, handle tätig unter dieser Zwittergestalt; die Natur wird doch ihr Recht behaupten und sich früh oder spät für den an ihr begangnen Mißbrauch rächen.

523


[319] [93]DER niedrigere oder höhere moralische Wert eines Menschen, den ein plötzlicher großer Unglücksfall so niedergeworfen hat, daß er an aller Geisteskraft vernichtet vor uns liegt, ließe sich leicht bestimmen, wenn er sagen könnte und wollte, durch welche Idee oder Empfindung er sich emporgehoben hat. Die nähere oder entferntere Verwandtschaft dieser Idee oder Empfindung (die oft durch ihre plötzliche Wirkung in Erstaunen setzt) mit dem gemein Physischen und seinen Trieben oder dem höhern Geistigen würde zum Maßstab werden, an dem wir den innern Gehalt des so Auferstandnen abmessen könnten. Dieses Vermögen der Selbstheilung und Wiederherstellung, wodurch der Mensch das widrigste Schicksal besiegt, gehört – besonders im moralischen Sinn betrachtet oder durch die feinere Mischung mit dem Physischen, ohne welches jenes nicht wirken kann – zu den Bezeichnungen seiner Natur, die das in ihm aufgegebene Rätsel ebenso anziehend machen, als sie es verwirren.

524


[93] [416]MAN kann ein klarer Denker ohne Gefühl, aber kein starker, kühner Denker ohne dasselbe sein. Der erste übt eine Fähigkeit in völliger Besonnenheit und wirkt nur durch den Kopf. Bei dem [416] letzten denkt der Geist; und in dem Augenblick, da das Feuer des Herzens das Gedachte durchglüht, fühlt er, daß das von ihm Hervorgebrachte wahre Schöpfung geworden ist; und kühlt er mit ätherischem Hauche die Flamme, so geschieht es darum, daß sein so geschaffenes Werk ohne Dampf hervortrete. Wenn der erste die Materie ganz zum kalten Geistigen verfeinern will, so drückt der andere durch Verschmelzung der Materie so viel vom Geiste auf, daß sie beide nur ein Stoff zu sein scheinen.

525


[417] [286]DER wahre Menschenkenner muß für alles Sinn haben, was im Menschen liegt und durch ihn geschieht; er muß kein Vorurteil hegen, es stamme nun aus ihm selbst oder von der Schule her. Selbst das Widersprechendste muß er an das zu knüpfen wissen, woraus es entsprungen ist; so wird er auch durch irgend etwas Männer mit sich verwandt finden, von deren Verwandtschaft ihm so wenig träumte, daß ihn die bloße Ahndung derselben vorher empört haben würde.

526


EIN rechter Mensch, der gelebt, genossen, gedacht, gefühlt und gewirkt hat, ist der Inhalt seines Geschlechts. Durch Lage, Umstände, Schmerz und Freude, Glück und Unglück, Ehrgeiz und Mißlingen, Begierden und Leidenschaften sind nach und nach alle gute[n] und schlechte[n] Triebe seines Herzens, alle edle[n] und gefährliche[ n] Kräfte seines Geistes berührt worden, und wenn sie auch nicht alle in Tätigkeit übergingen, so ließen sie doch so viel Spur nach, daß das Bewußtsein davon in dem Augenblick erwacht, da er etwas an einem seinesgleichen wahrnimmt, das auf das von ihm Gedachte, Gefühlte oder wirklich Begangene Bezug hat; ein Blick, ein Wort sind oft dazu hinreichend. – Darum sieht auch der Geübte das Ziel des Vorbereitetesten schon vor seinem Geiste stehen, wenn dieser es in der weitesten Entfernung hinter seinem eignen Rücken so verhüllt aufgestellt zu haben glaubt, daß es nur von ihm selbst nach und nach herbeigezogen und enthüllt werden könne.

527


[286] [97]MAN sagt als einen Gemeinspruch von höherer Art: kein Mensch habe es noch gewagt oder dürfe es wagen, alle seine Gedanken laut zu sagen. Der Sinn davon ist deutlich, und es kann wohl an dem sein; aber ich glaube, der es täte, würde dem Erprüften und Erfahrungsvollen nicht viel Neues sagen, den andern würde es ganz unnütz sein. Vielleicht hat auch noch kein Mensch seine besten Gedanken in Gesellschaft gesagt und das ebendarum, weil er in Gesellschaft war. Vielleicht hat auch noch kein Mensch seine größten und erhabensten Gedanken so an das Licht der Welt gebracht, wie er sie gedacht und empfunden hat. Denn entweder sind es Blitze, die sich in keine Rahmen fassen lassen, oder sie entspringen so plötzlich und einzeln, daß der Verbindungsfaden gänzlich zerrissen scheint oder so verloren und dünne vor den Sinnen schwebt, daß sie ihn nicht mehr fassen können. Schaltet man ihn nun an Ort und Stelle ein, so steht er als ein Gedanke da, der gefallen kann, aber gewiß erweckt er den wahren Geist und Sinn nicht, aus dem er entsprungen ist. Vielleicht ist dieses [97] auch die Ursache, daß uns viele Gedanken in den Werken der Genies der alten und neuen Zeit so dunkel scheinen. Wer hohen, platonischen Glaubens ist, könnte diese Gedanken Abglanz, Abschattung, Einwirkung aus der Geisterwelt nennen, die uns so an unser wahres Vaterland zuzeiten erinnern will; und ist er stark in diesem Glauben, so kann er auch noch hoffen, den verlornen Faden dazu einst wieder aufzufinden. So leer dieses nun der kalten Vernunft auch scheinen mag und muß, so muß sie sich doch über das sonderbare Spiel einer Einbildungskraft, die so etwas trotz ihr träumen kann, verwundern, sollte sie sich auch nicht daran ergötzen. Und wenn sie nun auch die sich so versteigende Einbildungskraft iin die Schule nimmt und ihr das Törichte ihrer Seherei recht streng verweist und beweist, so kann doch diese noch immer fragen: »Obermeisterin, woher und wie konnte es mir, trotz dir, kommen oder mich anfliegen? Ich tat ja nichts dabei, ich schuf ja nichts, und du selbst warst wach!« Wahrlich, die Poesie der Seele für ein Wesen, das auf dieser Erde so wenig für das Poetische gemacht zu sein scheint, ist ein sonderbares Ding! Ein Rätsel in Morgenrot gehüllt, auf das der mühsam Wandernde oft so starr hinblickt, daß er selbst des kümmerlichen, schmerzvollen Wegs vergißt, ob er gleich weiß, daß er das lockende Rätsel nie enthüllen wird.

528


[98] [447]ICH höre und lese, daß einige unserer vorzüglichsten Schriftsteller der deutschen Sprache den Vorwurf machen, sie sei für [447] ihren Geist und Genie ein zu hartes, schwer zu behandelndes und undankbares Werkzeug; sie möchten dieselbe gern mit einer andern vertauschen oder lieber in einer andern gedichtet und geschrieben haben. Ich gönne ihnen den Gewinn ihrer Äußerung. Wenn ich mich aber beklagen sollte, so würde ich nur darüber klagen, daß ich mehr in Tönen anderer Sprachen reden muß als in der vaterländischen.

529


[448] [198]BEI der Veränderung eines Staatsministers und bei dem Antritt eines neuen hat man am Hofe und in der Residenz den Genuß aller Schauspielarten alter und neuer Zeit. In demselbigen Augenblick laufen nebeneinander her: das ernste Drama und das Possenspiel, das Heldenschauspiel und die Komödie, das weinerliche Schauspiel und das Bockfüßler-Stück der Griechen. Das Lustigste aller dieser Schauspiele zusammen ist, daß sich gewöhnlich alle Schauspieler, die Hauptperson und den Oberdirekteur der sämtlichen Spektakels selbst nicht ausgenommen, in ihrer Meinung über den Knoten der aufgeführten Stücke irren. Was schadet's? Man hat Mitleiden gefühlt, gelacht, gehofft, gekrittelt, räsoniert, geschwatzt, Beifall gegeben und ausgezischt; hat dies eine Zeitlang gedauert, so sieht man dem wirklichen [198] Schauspiel, das nun die Hauptperson in der Tat aufführt, ganz gleichgültig zu und wartet ruhig auf ein neues Stück.

530


[199] [98]DER Mann, welcher die Idee vom Paradiese als ruhigen, seligen, künftigen Aufenthalt für uns erschaffen oder erträumt hat, war entweder ein sehr tief politischer Menschenkenner oder ein sehr glücklicher Phantast. Vielleicht war er auch keins von beiden; denn er traf Gesang und Musik schon erfunden an. Ein Geschöpf nun, das Gesang und Musik aus sich erschaffen, dabei so fühlen, schwärmen, ahnden konnte, konnte leicht auf so etwas verfallen, und für dieses ließe sich noch Höheres erfinden. Wer Musik und Gesang anhört, dessen Geist richtet sich sozusagen auf und hebt sich in sanftem Fluge über der Erde empor. Was soll man von einem Geschöpf sagen, das sich aus Holz und Gedärmen der [98] Tiere eine Geisterleiter von Tönen bilden konnte, die es bis dahin leitet, wo es die Quelle aller Harmonien denkt, träumt oder ahndet? Vielleicht ist gar die Musik die Hauptquelle aller der Gefühle und hohen Ahndungen, welche späterhin die Philosophen zu Begriffen zu machen strebten, vielleicht haben sie gar ihre Metaphysik daraus aufgeführt. Aber dieses alles sind ja Träume, Schwärmereien, die gerade zum Un- und Wahnsinn führen! Für den gewiß, der das Augenblickliche, Sonderbare, Außerordentliche und Wundervolle zu seinem gemeinen, alltäglichen Dasein machen will! In ihren Kreis wollten die Unsterblichen den Sohn des Staubes nicht ziehen; sie gaben ihm nur dieses wunderbare Ahnen und Träumen als Würze zum Leben, als Gegengift gegen alle Übel, die ihre Fähigkeiten zur höhern Kultur nach und nach hervortreiben mußten. Wer sich ihnen nun näherdrängen will oder glaubt, es zu können oder getan zu haben, der bezahlt gewöhnlich die Reisekosten nach jenem Feen- und Dichterlande mit seinem eigenen Verstande.

531


[99] [426]DIE weisen Leute, welche die Bescheidenheit, die nur eine stille, angenehme Begleiterin der Tugend sein sollte, zur Tugend selbst gemacht haben, wußten oder dachten nicht, welchen Dienst sie den Schurken in der Welt geleistet haben. Diese mögen sie recht gern so sehen; und wenn sie die Begleiterin so laut präkonisieren, so geschieht es darum, daß sich die Hauptperson selbst in die Begleiterin verkriechen soll. Es ist ihnen so ziemlich gelungen; denn die Tugend, die eigentlich kräftig tätig sein sollte, geht nun so still, zahm und fromm einher, als fürchte sie, mit jedem Laute ihren neuen aufgedrungenen Ehrennamen zu gefährden, als sei ihr Tun und Wirken selbst Ruhmrednerei. So herrscht eine Stille in der moralischen Welt, die beinahe verabredet zu sein scheint. Der Schurke schweigt, er weiß, warum; der Rechtschaffene, Biedere schweigt auch, weil er muß, weil man ihm Schweigen zur Tugend und Reden zur Prahlerei gemacht hat. Muß er nicht selbst seine Blicke nach dem Tone der Gesellschaft abmessen, wenn er darin gelitten sein will?

532


[426] [455]ES ist nichts Erbärmlichers als ein schales, leeres Buch, worin sich noch überdem der Autor selbst in Person schlecht und schlechter als sein Buch zeigt. Aber noch trauriger ist es anzusehen, wenn sich der Autor eines guten Buchs – es sei in demselben selbst oder im bürgerlichen und literarischen Leben – platt, flach, elend und unter dem Wert seines Buchs zeigt. Tut dieses gar ein großer Autor oder ein Genie, so möchte das ganze hohe Geisterreich in Klage und Jammergeschrei ausbrechen. Da sich Fälle der ersten zwei Arten nun täglich und der dritten wohl auch zuzeiten ereignen, so muß der Charakter in der literarischen Welt ebenso selten als in der politischen und gleich schwer zu erhalten sein. Der Autor, der wie ein Mann wirken will, muß nicht allein hoch von sich denken, seinen Charakter so durchführen, wie er ihn einmal angegeben hat, er muß auch gleich, fest und unverwundbar vor dem Publikum stehen bleiben; tut er dieses, so zieht er es zu sich hinauf; tut er es nicht, so zieht ihn, sei er auch noch so groß, der schlechteste Geselle ebendieses Publikums noch tiefer zu sich herunter, als er sich selbst gestellt hat.

533


[455] [166]IN einem Lande, worin man den Verstand durch überstrenge Zensur für Kontrebande erklärt und den aus gebildeten als gefährlich ausschreit, wird leicht grobe Sinnlichkeit herrschend; die Verbindung mit dem Geisterreich löst sich auf Kosten des Staats selbst auf, und man ersetzt durch verdoppelten Mißbrauch an dem Irdischen, was man an dem Geistigen unterlassen muß. Die Folgen sind noch bedeutender, treten noch schneller ein, wenn höhere Bildung vorher geachtet ward. Setzen gar benachbarte [166] Regenten hohen Wert darauf und finden ihr und ihres Volkes Heil darin, so blasen der beleidigte Stolz, das Bewußtsein der Geringschätzung und Verachtung anderer Völker zur Rache, und man glaubt sich um so mehr berechtigt, den Staat für sein Mißtrauen feindlich zu behandeln. Noch mehr! In einem solchen Lande werden Bücher zu gefährlichen Lehrmeistern, derer Bekanntschaft man sich in andern Ländern schämen würde.

534


[167] [192]DER lustige Kanonikus Franz Beroalde, Herr zu Verville, wirft in seinem kaustischen und nur zu schmutzigen Bankett manchmal sehr närrisch-gescheite Fragen auf. Unter andern: »Woraus setzen die Leute, welche die Geschäfte der Welt betreiben, dieselben zusammen?« »Aus dem Gute der andern.« – »Was sind die Geschäfte der Welt?« »Ein Mittel, fortzukommen.« – Das Mittel, fortzukommen, umfaßt alles, ist selbst aus vier Elementen des Betrugs (piperies) und aus der Quintessenz der Kniffe zusammengesetzt. Die Bezeichnung der vier Elemente und ihrer Quintessenz mag man bei dem Kanonikus selbst aufsuchen: Er trägt die Schellenkappe der Narren seiner Zeit und setzt sie oft lachend denen auf, die sich für kluge Leute halten.

535


WENN die Ehr- und Herrschsucht den Staatsmann durch Intrige, Falschheit, Niederwerfen anderer, kühne Unternehmungen [192] und Wagstücke (von rechtlichen Männern rede ich hier nicht) endlich so weit gebracht haben, daß er auf derjenigen Höhe steht, wohin er strebte, so fällt ihm wohl noch ein, sich durch nützliche und rauschende Taten bei dem Volke beliebt zu machen und sich um dessen Liebe ehrlich und treu zu bewerben. Aber gewöhnlich wirken dann erst in voller Kraft die Mittel, die er vorher angewandt hat, wenden sich gegen ihn, und der hochgeschossene Baum wird in ebendem Augenblick abgehauen, da er Blüten treiben wollte, die Früchte versprachen. Ist es nun wirklich einem solchen Mann ernst gewesen und der Mensch etwas in ihm erwacht, so würde sich auch der Beleidigteste an ihm gerochen glauben, wenn er die Wirkung des Gefühls beobachten könnte, das diesem in die Einsamkeit folgt, um ihn nie mehr zu verlassen.

536


[193] [493]JE älter man wird, das heißt: je mehr man Erfahrungen macht, je größer unser Wirkungskreis im tätigen Leben wird, je mehr überzeugt man sich, daß zum Leben vorzüglich Mut und Kraft gehören. Ich rede von Menschen, die wirklich leben und das entwickeln, ausarbeiten und verarbeiten, was ihnen dazu gegeben ist; ich weiß ja wohl, daß des Lebens im höhern Sinn auf diesem Erdenrunde, in dieser von der Politik (gut und schlecht angewandt) zugeschnittenen und zugemessenen Gesellschaft zuviel wäre, wenn jeder die ihm verliehenen Kräfte ausübte. Aber da keiner lebt – von dem, der auf dem Throne sitzt, bis zu dem, der auf der Straße sein Brot bettelt –, welcher nicht gegen physische und moralische Übel, die ihm die Notwendigkeit der Natur und seine Brüder in der Gesellschaft durch eine gleiche starke Notwendigkeit [493] aufdringen, zu kämpfen und zu streiten hat, so kann auch keiner derselben Mut und Kraft entbehren. Überzeugt hiervon, wie ich es bin, kann man sich einen Begriff von meinem Wohlgefallen an den schwächlichen Werken unsrer sogar berühmten Schriftsteller machen, die jetzt meistens so schreiben, als schrieben sie für Menschen, die nur zum Lesen, Bücherschreiben, Seufzen, in der Einbildungskraft zu schwelgen, sich mit Idealen zu füttern und dadurch endlich zum Dulden und zu einer völligen Resignation in das Schicksal gemacht wären. Das Letztberührte verträgt sich freilich sehr gut mit unsrer politischen leidenden Lage im Vaterlande und scheint besonders mit den letzten Schand- und Schimpfperioden, der in der deutschen Reichsgeschichte höher als unser höchster gotischer Turm hervorragen wird, zu harmonieren. Man könnte darum diesen gutmütigen Lehrern noch danken, daß sie sich in den Geist der Zeit schicken, ihre Schule nach dem Bedürfnis dieser Zeit und der darin lebenden Menschen einrichten; aber so unschuldig sie auch von ihrer Seite hierbei verfahren, so ist doch klar: Diese Schriftsteller beweisen dem Publikum, was das Publikum ihnen beweist, was beide ihre Erziehung und ihre Ansicht der Welt gelehrt haben, kurz: daß die Deutschen kein politisches Volk sind und werden sollen und also recht für die Lehren der Resignation gemacht sind. Das übrige Obenangeführte dient zum Kitzel des Publikums und zum ergiebigen Erwerbungszweig der Autoren. Das ganze Lese- und Schreibewesen ist bloße Unschuld, die nichts bezielt. Jetzt ziehen zu diesem Behuf sogar unsre tragischen Dichter das alte eherne Schicksal aus der Rumpelkammer des griechischen Theaters hervor, unbekümmert, ob es sich mit unsern Sitten, unsrer Denkungsart und Aufklärung vertrage. Auch dies ist im Geiste der Zeit; es soll uns ja nicht zum Kampfe gegen die moralischen und physischen Übel stählen, sondern ihnen wie Schafe unterwerfen. Vielleicht berechnet man auch hier ebenso unschuldig nur die poetische Wirkung, welche das düstre, über der Bühne unsichtbar schwebende Scheusal von altem Schicksal hervorbringen soll. Das Gespenst schreitet dann über die Häupter der zerknirschten Zuschauer [494] einher und wird oder muß sich zu einer schwarzen Volkssage unter uns ausbilden, die wirklich von bedeutenderm Einfluß als der Glaube an andre Gespenster und den Teufel selbst werden kann. Wohl mag dieses dichterisch-dunkel-philosophische Ungeheuer seine Rolle in Deutschland vorzüglich gespielt haben, aber es fand auch die Marionetten zu seinem Spiel; und unsre Poeten, moralische und politische Schriftsteller putzen, schnitzeln und bilden so nürnbergerisch an ebendiesen Marionetten fort, als seien sie von dem Popanz und denen, die durch ihn bestehen, bezahlt. Doch der Meister und die Gesellen bekümmern sich auch darum nicht; die gefälligen Marionetten bezahlen die Leute selbst, die sie so kitzeln, einschrecken und entmannen.

537


[495] [65]NACHDEM die Hauptsache bei der Erschaffung des Menschen geschehen war, so war das übrige – ihn nämlich zu dem Törichten und Großen, Niedrigen und Erhabenen, Schlechten und [65] Guten zur Gesellschaft auszustatten – etwas Leichtes. Ein tiefer Schnitt in das Herz, in den das ganze Ich sich verkriechen und als Selbst- und Eigenliebe polypenartig hervorwachsen konnte, von dem leise schleichenden oder stark wallenden Blut gleich genährt einige glänzende mit Luft gefüllte Blasen der Eitelkeit in das Gehirn; ein kräftiger Stoß an die Nerven zum Nachahmen; ein Blasbalg unter die Seele, um sie zum Stolz und Ehrgeiz aufzuschwellen, den die Gäste im Herzen so gerne als kräftig und rastlos bewegen, bewirkten dieses Wunder. Könnte man diese Dinge, die jetzt so leicht scheinen, weil sie da sind, und deren feine und zweckmäßige Vermischung einen so großen Werkund Rechenmeister voraussetzen, einem Stein mitteilen, auch er würde uns in Erstaunen setzen – und viele so begabte Steine würden wahrscheinlich, weil ein jeder Haupt- und Schlußstein sein wollte, ein so lang dauerndes Erdbeben in unsrer alten Mutter Erde verursachen, daß sie uns mit allen unsern ernsthaften und törichten Spielen verschlingen würde.

538


[66] [413]DASS die Hoffnung das Mächtigste im Menschen ist, beweist auch dieses, daß man noch immer die spekulative Philosophie treibt, neue Systeme aus den alten zusammensetzt und sie an einen noch dünnern Faden hängt.

539


[413] [286]ES ließe sich noch ein sehr sonderbares, auffallendes und ebenso wahres als nützliches moralisches Werk schreiben; aber der Mann, welcher es unternähme, müßte den dichterischen Geist Platos und Shaftesburys, den großen, reinen Verstand Kants und die niedriger gestimmten Geister und Sinne Rochefoucaulds, Helevetius', Mandevilles und dergleichen Leute haben, das heißt also: hohe Poesie im Herzen und kalte, philosophische, selbstgemachte [286] Welterfahrung und Menschenkenntnis im Kopfe. Er müßte außerdem keine Vorliebe für eine oder die andre haben (das kleinste Vorurteil würde alles verderben) und das Hohe, Mittlere und Niedrige so gegeneinander im richtigen Gleichgewichte in ihm stehen, daß weder die Einbildungskraft oder das Idealische überhaupt noch die niedre Sinnlichkeit oder das grob Wirkliche die geringste Herrschaft übereinander ausübten. Dann müßte ein solcher seltner Mann eine Tonleiter verfertigen, wodurch alle hohe[n], mittlere[n], niedre[n] Triebe, Begierden, Neigungen, Eigenschaften, Fähigkeiten, physische und geistige, durch welche die Gesellschaft sich bildet, verbildet, verunreinigt, verwirrt, erfreut, plagt, glücklich, unglücklich macht und doch besteht, genau bestimmt, angegeben und nach ihren Wirkungen gegeneinanderüber gestellt werden. Wäre diese Leiter nun mit der gehörigen scharfen Bestimmtheit und dem kalten Abwägen, ohne alle Vorliebe, entworfen, so würde man erkennen, daß oft aus dem Erhabnen, Großen und Guten Elendes, Kleines, Niedriges, Böses, aus dem Weisen Törichtes, aus dem Klugen Unsinn, aus dem Besten das Schlechteste und so umgekehrt entsteht oder sich doch so untereinander vermischt und durcheinanderläuft, daß man gar nicht begreift, wie Gift zur wohltätigen Arznei und wohltätige Arznei zu Gift wird. Gleichwohl geschieht es, und der Zweck wird befördert, an dem wir alle, Gute und Schlechte, Weise und Toren, mit schlechten und mit guten Trieben arbeiten, arbeiten müssen, auch dann noch arbeiten, wenn wir nicht wollen, und noch dazu zweckmäßig arbeiten, wenn wir glauben und wünschen, das Gegenteil zu tun. Wer da glaubt, daß ich damit auf gut leibnizisch-theologisch dem Optimismus das Wort rede, der irrt sich. Ich sehe nur ein Stück der Notwendigkeit, an dem wir alle weben, ohne zu wissen, wo der Einschlag des Gewebes hängt, wo der Endfaden festgeknüpft werden soll, warum uns das Gewebe mit einer so zweideutigen, hell dunkeln Farbe übergeben ward. Doch dies hat sich der Obermeister vorbehalten und uns dadurch allein zum Weben des Stücks geschickt, unverdrossen und wahrscheinlich nur dadurch [287] des Verdiensts und des Lohns fähig gemacht. Die Tonleiter, von der ich sprach, könnte indessen wenigstens dazu dienen, daß wir ruhiger, bescheidner und gemäßigter im Urteilen würden.

540


[288] [439]EIN Mann von reinem, einfachem Geist und Sinn kann wohl eine Wahrheit denken und aussprechen; damit sie aber die Menge mit Gefallen höre und sie einigen Einfluß auf sie habe, müssen sie Scharlatane einkleiden, ausschmücken und dann predigen; das heißt: Sie müssen ihr das Menschliche anhängen. So tut nun die Wahrheit auch die Wirkung, deren Prediger und Zuhörer wert sind.

542


[439] [136]WEM der schöne Enthusiasmus für die Menschheit anfängt beschwerlich zu sein und wer sich davon heilen will, der begebe sich in einen großen Staat, worin der Regent mit nichts als dem Glück und dem Besten seines Volks im allgemeinen, ohne auf einen einzelnen Stand zu sehen, treu und weise beschäftigt ist. Er wird da so viel von ebenden Menschen hören, für die der Regent so unverdrossen als weise arbeitet, daß er gar leicht zum Fanatiker des Menschenhasses werden könnte. Wenn er aber ebendiesen Regenten trotz aller dieser Undankbarkeit bei seinem edlen Wirken fest und mutig verharren sieht und Sinn hat, so [136] wird er nicht allein den rechten Mittelpunkt zwischen dem glänzenden Enthusiasmus und dem schwarzen Fanatismus, sondern auch eine weise, dem Gutdenkenden nötige Ruhe finden. Der Blick auf das Überirdische, wenn sein Auge durch seinen Geist dazu gebildet ist, wird ihm ohnedem erweitert.

543


MAN sagt: »Regenten sollten ihr Volk in ihrem Herzen tragen.« Es ist zu wünschen; aber sagte man nicht besser und mehr zum Vorteil des Volkes und der Regenten selbst, sie sollten es vorzüglich in ihrem Verstande tragen? Denn, wie ein Fürst ein ganzes Volk – von Menschen zusammengesetzt, wie sie sind und besonders wie er sie sieht und sehen muß – in seinem Herzen auf die Länge tragen kann, ohne unter dieser Last zu erliegen, begreife ich nicht, besonders wenn er ein edler Mann ist. Und ist das Herz nicht der große Hebel unsers Lebens? Will nicht auch der Fürst leben, als Mensch leben? Der Verstand lernt endlich die niedrigsten Erscheinungen, den Unsinn und Unverstand, die Vorurteile und Gebrechen nebst ihren Ursachen begreifen – kurz: er lernt das Wesen der Menschen überblicken; und wenn es ihm auch nicht gelingen kann, dieses so gebildete und in politische Gesellschaft gedrängte Volk anders zu machen, so lernt er es doch ertragen und allenfalls zu dem Zweck der Gesellschaft geschickter zu benutzen. Doch Herz hat ein jeder, und vielleicht trägt sich's auch leichter mit dem Herzen, weil dem Herzen überhaupt mehr Entschuldigungen gestattet werden; auch darf es bei diesem wichtigen Geschäfte wahrlich nicht fehlen, nur muß der Verstand die Oberherrschaft ausüben.

544


[137] [495]ES ist nicht genug, daß der Dichter idealischen Sinn habe; ohne den Geist, die Wirklichkeit, das praktische Leben überhaupt recht innig und wahr zu erkennen und zu durchschauen, ist und verbleibt er mit diesem hohen Sinn allein ein Phantast, der den Verstand des Lesers nur ärgert und das Herz und die Einbildungskraft desselben gerade in die Lage versetzt, worin sie sich während eines lästigen Traums befinden. Die Einbildungskraft treibt er in ein Labyrinth, ohne ihr einen Leitfaden zu reichen, und das Herz kitzelt er bis zum Unmut. Die hohe Einbildungskraft oder der idealische Sinn soll und muß den heterogenen Stoff der Wirklichkeit durchglühen, zerschmelzen, läutern, verarbeiten und mit dem Glanze überziehen, der diese Wirklichkeit des Stoffs den Sinnen täuschend darstellt, ohne den Glauben an sein nur verhülltes Dasein aufzuheben. So macht es die mächtigste aller Zauberinnen, die Natur, mit ihren einfachen Elementen, aus welchen sie die Gegenstände im geheimen Dunkel zusammensetzt, die uns bei ihrer Erscheinung entzücken und erheben, wodurch sie uns durch sanfte Wonne, durch erhabnen Schauder, aus Furcht und Erstaunen entsprungen, bald in die düstre Tiefe zieht, bald in die schwindelnde Höhe, auf unserm Geiste angehauchten Flügeln, emporträgt. Sie verbirgt den Sinnen die innere grobe [495] Zusammensetzung, um vor uns in anlockender, reizender Wirklichkeit zu leben. So macht sie Wasser zum Spiegel für Sonne, Mond, Hügel und Haine, zu murmelnden Bächen, zu einwiegenden Kaskaden, den Wind zum Gesäusel der Geister im dunkeln Walde, Licht, mit weichenden oder nahenden Schatten gemischt, zur Morgen- und Abendröte, Staub zu Gebirgen, Erde, Farbe und Flüssigkeit zu grünen Wiesen und wohlriechenden, zarten Blumen – und so macht der Dichter den Menschen zu einem höhern Wesen, an das man glaubt, weil er seine Gewebe, gesponnen aus der Wirklichkeit und der innern höhern Ahnung in uns, an ebendieselben knüpft. Der Vorsprecher liegt schlummernd in unserm Herzen, der Verstand braucht ihm nur zuzulispeln, um ihn zu erwecken, ihn wach und gläubig zu erhalten. Und sind wir nicht alle bereit, dem süßen Lügner zuzuhören, da die schwere Wirklichkeit uns alle und immer mehr ermüdet und drückt?

545


[496] [408]DA die Philosophen nun schon einige tausend Jahr her den Menschen ohne Unterlaß mündlich und schriftlich zurufen, daß [408] sie Kinder, Toren und Narren seien, so werden sie ihnen höchstwahrscheinlich dasselbe Lied noch viele tausend und tausend Jahre in allerlei Melodien vorsingen. Wahrscheinlich mit demselben Erfolg, und ebenso wahrscheinlich werden die, denen dies Lied gesungen wird, immer dasselbe her vorbringen oder hervorbringen müssen, was sie bisher hervorgebracht haben. Aber auch die Philosophen selbst werden in Zukunft nicht ermangeln, so wenig wie bisher, ihren Anteil zum allgemeinen Stock der von ihnen bescholtnen Sache beizutragen.

546


[409] [137]WARUM klären sich die Begriffe über Fürsten, ihr Amt, über ihre Untertanen und ihre Pflichten vom Anfang des letzten Jahrhunderts bis auf heute immer mehr auf? Warum denkt man jetzt milder, menschlicher, weiser und politisch richtiger von ihnen und ihrem Amt? Weil der Mißbrauch der Bibel und dadurch [137] die Vorstellung des orientalischen Despotismus unter den Aufgeklärten verschwunden ist und selbst bei dem Volke sich gemildert hat. Weil man Gott reiner und erhabner denkt, nicht mehr als bebender Sklave wähnt, er habe eins seiner Geschöpfe, ohne allen Vorbehalt, durch einen von ihm geheiligten Bestallungsbrief zum allgewaltigen Herrn über Seel' und Leib eingesetzt. Weil die tückische Politik der Päpste, die ihre Trutz- und Schutzwaffen in dem Alten Testament, um über die Fürsten selbst zu herrschen, suchte und fand, durch den trugvollen Gebrauch erst verhaßt und dann lächerlich geworden ist. Der wahre Herrscher steht Jetzt vor uns wie ein uns verwandtes Wesen, als ein Gegenstand der Verehrung, Dankbarkeit und nicht des Schreckens. Und hier seh' ich wirklich ein Fortschreiten zur steigenden Veredlung des Menschengeschlechts, wovon gutmütige Weise schon so lange und so schön reden. Laßt uns den Manen der abgeschiedenen Weisen und auch denen, die ein Opfer ihrer menschlichen Lehre wurden, danken; sie haben uns eine Erbschaft hinterlassen, die der Vergänglichkeit trotzt, die weiter an uns nichts fordert, als ihrer würdig zu werden und zu bleiben. Vielleicht aber hätt' ich sie ebendieses kleinen Umstands wegen nicht unvergänglich nennen sollen.

547


[138] [502]WENN ein deutscher Mann von Genie ein wichtiges Werk schreiben sollte, so müßte er nun noch das äußerste anwenden, nach Paris oder London zu reisen, um dasselbe dort unter seiner Aufsicht übersetzen und dann als französisches oder englisches Original drucken zu lassen. Er könnte dadurch so viel gewinnen, daß sein Werk auch in Deutschland geachtet und geschätzt würde; und ließe er nun gar sein Original als Übersetzung drucken, so könnte er noch obendrein die Freude erleben, daß ihm die Rezensenten nur Übersetzungsfehler vorzählten.

548


[502] [336]DER Mann, der ein tätiges Leben führt und wichtige, besonders Staatsgeschäfte zu betreiben hat, tut damit noch nicht genug, wenn er seinen durch Schlaf gestärkten Leib morgens anständig kleidet; er muß auch, bevor er unter die Menschen tritt, mit [336] denen er diese Geschäfte zu betreiben hat, seine Seele und sein Herz durch edle Grundsätze wieder aufwinden oder besser täglich neu erschaffen und so mit Schutz- und Trutzwaffen auftreten.

549


[337] [496]MAN vergißt in Deutschland nichts geschwinder als gute, weise und verständige Bücher. Die schalen Autoren tauchen das Publikum zu ihrem Vorteil in diesen Lethe, der von Leipzig aus sich durch das Vaterland ergießt und von daher aus sehr reicher Quelle fließt. Ich nehme mir daher die Freiheit, Mösern, den Verfasser der patriotischen Träume, meinen lieben Landsleuten in das Gedächtnis zurückzurufen, unbekümmert, was ich dadurch meiner Ehre schade. Möser ist nicht allein ein trefflicher Schriftsteller für das Praktische und das Gemeinwesen, er hat auch Witz – vielen feinen Witz und einen Geist, der ebendiesem praktischen Leben die treffendsten neuen Seiten abzugewinnen weiß. Überdem schreibt er, wie wahrlich mancher jetzt nicht schreibt, dessen Schriften wir als Werke des Genies lesen und der den Geist des Lesers so in das Leere hinaufschraubt, -treibt, -zieht oder -wirft, daß der gutmütige Leser wirklich in Gefahr ist, sein eignes Gewicht oder seinen Anziehungspunkt zu verlieren und ein im Raume schwimmendes Atom zu werden.

550


[496] [138]ES ist ein so seltenes als erhabnes Schauspiel für den Geist des erfahrungsvollen und edeldenkenden Mannes, einen Regenten zu sehen und zu beobachten, der durch Moralität, Bildung, Denkungsart und feste Grundsätze hoch über seinem Volke steht und es zu sich hinaufzuwinden strebt. Alles arbeitet – aus Vorurteilen, Wahn, Gewohnheit, mißverstandnem Interesse, Hab- und Herrschsucht, eingewurzeltem falschem Stolze, eitler Besserwisserei –, ihn von seiner Höhe herabzuziehen; keiner will hinauf: die Kraft, der Wille dazu soll erst durch Anerkennung, durch den Geist und das Herz erschaffen werden. Er arbeitet nicht allein mit dem widerstrebendsten, widersprechendsten und widerspenstigsten Stoffe, der sich mit nichts vereinigen und verschmelzen [138] will, den er, da er nur heilen und nicht verwunden will, nur sanft und schonend berühren darf; er muß auch die Höhe selbst, worauf er steht, verhüllen, seine Absicht kaum fühlbar werden lassen und dem am tiefsten Stehenden so zu nahen scheinen, daß dieser kaum bemerkt, wie und durch was für Mittel er ihn wirklich hebt. Da nun eine solche Schöpfung alle Kraft des Geistes und Herzens, das höchste Maß der Geduld erfordert und doch weder durch strenge Worte noch rasche Taten, sondern nur durch die leisesten Mittel sich entwickeln kann, ob gleich die täglichen empörenden Erscheinungen auf die Notwendigkeit des schnellen Treibens dringen, der Regent also säen muß, wo er in Jahren nur ernten kann, so ist eine solche Schöpfung das Größte und Schwerste, was der Mensch für Menschen unternehmen kann. Sie ist eine Aufgabe der Erziehung, die, weil sie so selten in der Geschichte vorkommt, beinah unmöglich gelöst werden zu können scheint. Und doch wird und kann sie dem gelingen, der den Willen dazu hat, der das Werk in diesem Geist angreift, dessen Geist und Sinn die durchdringt, die ihm nahen, der also eine Zahl harmonierender Geister um sich her versammelt, die wieder ebenso rein ausstrahlen, was sie von ihm empfangen haben oder was er in ihnen auferweckt hat. Ein rechtschaffener, menschlich denkender, kluger Fürst macht das Glück des Weisen; wem aber das Schicksal den Genuß eines solchen Schauspiels geschenkt hat, der hat das höchste Glück in der moralischen Welt erlebt, der genießt wirklich und wachend, wovon die edlen Männer alter und neuer Zeit nur träumten, weil sie es nicht einmal zu hoffen wagten.

551


WENN der Regent aufrecht sterben soll, das heißt, in der Ausübung seines Amts und seiner Pflicht, so muß der Weise mit der Wahrheit leben und sterben: Er ist der Menschheit berufener Priester, so wie jener ihr Verwalter ist. Verdankt er die Freiheit, die Wahrheit zu sagen, dem Regenten, unter dem er lebt, so lebt er schon auf Erden in dem hohen Geisterreich.

552


[139] [292]WER Stoff zur Bewunderung, Verwunderung, Demütigung und Erhebung suchen will, der hat ihn ganz nah bei der Hand; er setze sich nur hin, nehme alle seine Triebe, Leidenschaften, moralische Eigenschaften, geistige Fähigkeiten, wie er sie im gesellschaftlichen Leben und Wirken entwickelt hat, vor, mustere[292] sie, erwäge, schätze eine jede nach ihrem Wert und Unwert und vergesse keine. Dann forsche er ihrem Ursprunge, den Veranlassungen zu ihrem Wirken nach, bemerke genau, wie sie sich gegeneinander verhalten, beherrschen, unterdrücken, verschlingen, reizen, erwecken, wie die nötigsten hervorragen und immer wach sind, wie nötig auch die gefährlichsten sind, wie die gefährlichsten oft die besten, zuträglichsten, die besten die gefährlichsten, unnützesten werden können, wie es keine einzige zur völligen Herrschaft in Ruhe über die andere bringen kann – und er wird Ursache genug finden, über sich und den Menschen zu erstaunen. So kann jeder eine Welt in sich entdecken, die aus zahllosen Teilchen, Strichen, Punkten, Schatten und Wirklichkeit von so widersprechender Art zusammengesetzt ist, daß man gar nicht begreift, was für eine Kraft diese Mischung und Spaltung zu einem harmonischen Ganzen und wie sie es dazu vereinigen kann. Wer diese Betrachtung nun besonnen, ohne Vorurteil, Vorliebe und Wahn anstellt, der findet endlich, daß er wirklich einen Staat in nuce mit sich herumträgt, in dem zwar, nach dem einzelnen zu urteilen, die physischen, politischen und moralischen Revolutionen so an der Tagesordnung sind, daß er mehr zur Anarchie als zu einer zweckmäßigen Verwaltung geschaffen zu sein scheint, den aber gleichwohl die Macht eines Oberherrn, den man nach und nach in sich selbst konstituiert, so in Einigkeit verbinden und zusammensetzen kann, daß das Widersprechendste nicht allein sich ineinanderfügt und ordnet, sondern daß es auch pflichtmäßig und ohne Zwang die Dienste zum Besten des Ganzen leistet, die dieses von ihm fordert, und zwar so, daß jeder Teil des Ganzen gewinnt. Zur Selbstkenntnis gehört ferner, daß man scharf und ehrlich prüfe, welche Triebe und Fähigkeiten man am meisten und zu welchen Zwecken man sie gebraucht habe; hier aber muß das zweideutige Zwitterlicht keinen schreken, wenn er zur Klarheit und Deutlichkeit gelangen will.

553


[293] [50]WENN auch der Mensch die bedingte Möglichkeit zu seinem Glück so weit vergäße, um sich über die Beschränktheit seines [50] Geistes zu beklagen, so kann er es doch nicht über den reichen, unerschöpflichen Vorrat, der ihn zum Genuß und Verarbeitung bei seinem Eintritt in die Welt erwartet, zu dessen Besitzer er als Eroberer geboren wird und dessen er sich durch eigene Kraft so bemächtigen kann, daß er unabhängig damit nach Belieben wirkt. Der üppigste Schwelger und Verschwender findet hier mehr, als er mißbrauchen und verzehren kann, denn der Vorrat wächst ihm unter dem Genuß zu: Er selbst, das ganze Menschengeschlecht, die Gegenwart, die Zukunft, das Vergangene, das Vorher und Nachher, die schwindelnde Höhe und die dunkle Tiefe, sein Wirken und Denken, das Wirken und Denken derer, die ihm Spur und Denkmäler des Geistes hinterlassen haben, die ganze Natur mit ihren Geheimnissen, die intellektuelle Welt mit ihren immer reizenden Rätseln stehen ihm zu Gebot, und alles, was er ihnen durch eigne Kraft abdringt, wird sein Eigentum. Und damit dieser Genuß nie aufhöre, der Reiz dazu nie ersterbe, so sinkt das Ziel, nach dem er strebt, immer mehr in Helldunkel, je mehr er ihm zu nahen glaubt. Wahrlich, der denkende Mann und der Schriftsteller wahrer Art treiben einen Luxus, schwärmen in seinem unzählbaren, immer sich mehrenden Gefolge, gegen den aller Luxus des bloß Sinnlichen leerer Tand ist, den kein Fürst der Erde – und sei er reicher als der Herr aller Indien – bezahlen und erschaffen kann. – Was sind die goldnen Paläste der Großen, alle ihre Genüsse gegen die Feenschlösser mit ihren Zaubergärten, in denen der Dichter lebt? Was die Spekulationen der Staatsleute – und wenn sie auch der glänzendste Erfolg krönen sollte – gegen die Träume des Philosophen oder eine gefundene Wahrheit? Was die feinsten und pfiffigsten Erfindungen des politischen Rechenmeisters gegen den Moralisten, der eine Fackel in die moralische Welt wirft, neue Ansichten erleuchtet, den Menschen von der dunkeln Erde emporhebt und die Kraft in ihm erweckt, das zu ertragen, was die politische Welt aus Not und auch nicht aus Not aufdrängt? Was die studierte Rede des Kanzlers in dem Kabinett, wenn er einen von seinem Handwerk gewinnen oder verwirren [51] will, gegen das, was der Mann voll Geist, Sinn und Rechtschaffenheit ohne List und Trug dem Publikum mitteilt? Und haben alle diese Leute samt und sonders das Recht, die politische Welt zu ordnen, zu erschüttern, zu zerstören, zu leiten und zu beherrschen, so haben jene den Bestallungsbrief von einem Höhern, diese politische und moralische Welt zu mustern, zu verbessern, zu beleuchten, und die erstern, so stolz sie seien, müssen bei ihnen in die Schule gehen, ob sie gleich die Lehrer nicht anerkennen wollen und oft Undank lohnen. Was die Welt Gutes aufzeichnen kann, verdankt sie ihnen doch, und so wird man mich auch verstehen, von welchen Leuten ich hier reden wollte.

554


[52] [140]ICH habe die höchste Stufe des moralischen Glücks in dem Augenblick erreicht, da ich nichts anders mehr für Glück erkenne. Ich will es nur gradezu nennen, und wer dann noch daran zweifelt, der mag nach den*** ziehen. Reif durch Welterfahrung, mit festem Sinn, geprüftem Herzen, mein Dasein in den Jahren, wo uns gewöhnlich alle Hoffnung verlassen will, an die schönste Hoffnung nicht allein fest anzuknüpfen, sondern diese Hoffnung tagtäglich so in Wirklichkeit übergehen zu sehen, daß ich mein seltnes Glück sich immer fester gründen fühle. Der Genius der Menschheit in Norden arbeitet an seinem erhabenen Plane so schonend als weise fort. Sein Herz erzeugt die Taten, und sein heller, milder Geist leitet sie. Diese Taten belegen, was ich von ihm sagte, und geben meinen Worten Kraft. Nun nennt ihr selbst Rußlands Alexander!

555

1802. 1803 [1]

1802. 1803

[140] [88]MICH wundert gar nicht, daß der Mensch so ist, wie er ist. Der, welcher ihn gemacht hat, tat vielleicht zuviel, vielleicht nur ein Geringes zu wenig für ihn. Aber das Geringe oder Versagte scheint dem Menschen so entscheidend – an die Notwendigkeit denkt er dann nicht –, daß er des vielen Verliehenen vergißt und seine Dankbarkeit nur nach dem Versagten abwägt.

556


[88] [52]DER Maler, der es wirklich versteht, eine Madonna, einen Johannes, einen Christus oder irgendeinen Gegenstand der edlen, erhabenen Art dem Geiste darzustellen, läßt ihm keine Flämmchen aus dem Schädel emporsteigen, um dadurch dem Anschauenden zu sagen, was er habe malen wollen. Er haucht einen zarten, kaum merklichen Schimmer über das Haupt auf dunkeln Grund – und dieser sanfte Schimmer ist es, womit er den reinen, göttlichen, geläuterten Enthusiasmus bezeichnet. So gleicht diesem Bilde der edle Mann, der seine Tugend und das reine Gefühl dafür durch die Welt und das tätige Leben gerettet hat; auch um seine Stirne, in seinen Augen schimmert der göttliche Enthusiasmus noch, geläutert durch Erfahrung und Weisheit, aber nicht verkältet.

557


[52] [66]DIE feinste Künstlerin in der Heuchelei ist die des Egoisten; da er wirklich in sich verliebt ist und eine immer dauernde, nie ruhende Leidenschaft fühlt, so gelingt es ihm sogar, in der Begeisterung von seinem Selbst, den Freund, dessen er bedarf, die Gattin oder Geliebte, die ihm recht zu gefallen lebt, und die Diener, die alles nach seinem Sinne ausrichten und ihm folglich alle zusammen durch ihren Dienst unentbehrlich werden, glauben zu machen, er liebe sie. Der Enthusiasmus für das geliebte Selbst drückt sich in seinem Betragen und in seinem Tone, wenn alles zu dessen Zufriedenheit geht, so schonend gefällig, zart und fein aus, daß ein solcher Mann im Kreise gutgesinnter Menschen unerkannt, gar geliebt, verehrt sterben kann, wenn ihn nicht eine plötzliche Beleidigung dieses geliebten Selbsts zu einem unvorsichtigen Ausdruck und Verfahren reizt oder er sich endlich in seinem geheimgehaltnen Testamente verrät.

558


[66] [41]MAN sage und schreibe, was man will, über die moralische Schwäche oder die Charakterlosigkeit überhaupt. Ohne sie gäbe es wahrscheinlich weder Güte, Nachsicht noch Liebe genug in der Welt; des Friedens und der Ruhe wäre gar zu wenig. Der Oberherr der Geister wußte, was er machte, was aus seinem Geschöpfe werden sollte; und damit jeder mehr oder weniger zu der Gattung gehöre und durch ebendies Mehr oder Weniger das beabsichtigte Spiel in der Gesellschaft befördere, so sagte er: »Laßt uns Menschen machen!« und nicht: »Laßt uns Männer machen.« So kann sich nun zwar der Mann moralisch selbst machen; aber das allgemeine Zeichen sollte jedem zu seinem und andrer Glück eingedrückt bleiben; und läge auch die Spur davon in dem Herzen des Stärksten noch so tief verborgen, sie wird ihm und andern gewiß nicht ganz unbekannt bleiben.

559


[41] [426]IST es möglich, mit einem wahren, freien, ganz natürlichen, oft auch kühnen Charakter, ohne irgend jemandem absichtlich die Cour gemacht zu haben, ohne alle Intrige, Furcht vor ihr und Streben gegen sie, selbst im Kampfe mit schlechten Menschen für das Gute, Wahre, Nützliche durch die Welt zu kommen, darin emporzukommen, sich aufrechtzuerhalten – und das wohl auch am Hofe? Die Frage scheint von einem Träumenden aufgeworfen zu sein; und in der Tat der, welcher die Miene des Wachenden dabei annehmen will, muß sie durch sein praktisches Leben schon aufgelöst haben. Hätte sich wirklich jemand vorgesetzt, diese Frage im praktischen Leben zu lösen, so ist es mehr als wahrscheinlich, daß diesem – als Kunstwerk – viel schwerer gelingen würde, was einem an dern – als Werk der Natur, von [426] ihr angefangen und von einem reinen, edlen, mutigen Sinn, ohne tiefes Nachsinnen über das, was er tut, festgehalten – wohl noch gelingen möchte. Die Tugend, die sich allzuviel auf Gründe der Vernunft stützt, ist freilich weniger Gefahren ausgesetzt als die angedeutete, die so nah an das Empirische grenzt; aber da die letzte gewöhnlich die tätige ist, so halte ich mich hier an diese, indem ich die erste ehre, wie sie es verdient. Was muß indessen ein Mann tun, um den oben angedeuteten Zweck zu erreichen? Freilich manches ganz Ungewöhnliche. Erstlich und vorzüglich muß er an das, was die Menschen Glückmachen nennen, gar nicht denken, streng und kräftig, auf geradem, offnem Wege, ohne Furcht und Rücksicht auf sich seine Pflicht erfüllen, also so rein von Sinn und Geist sein, daß auch keine seiner Handlungen mit den schmutzigen Flecken des Eigennutzes bezeichnet sei. Ist von Recht und Gerechtigkeit die Rede, so muß ihm der Große, Bedeutende ebendas sein, was ihm der Kleine, Unbedeutende ist. Er muß zweitens zu seiner Erhaltung und reinen Verhaltung frei von der Sucht, zu glänzen, der schalen Eitelkeit, der unruhigen Ruhm- und Herrschsucht sein, durch deren rastloses Antreiben die Menschen auf dem Theater der Welt die meisten ihrer Torheiten begehen und diejenigen, auf und durch welche sie wirken wollen, empfindlicher und tiefer beleidigen als durch die kräftigste, reinste, ja die kühnste Tugend selbst. Drittens muß ein Mann von solchem Gefühle nur auf dem Theater der Welt erscheinen, wenn und wo es seine Pflicht erfordert, übrigens als ein Eremit, in seiner Familie, mit wenigen Freunden, unter seinen Büchern, im Reiche der Geister leben. So nur vermeidet er das Zusammenstoßen mit den Menschen über Kleinigkeiten, um die sich das Wesen und Tun derselben im ganzen dreht, und nur so mag er Verzeihung für seine Sonderbarkeit finden, da er wirklich keinen Platz einnimmt, die Gesellschaft durch seinen Wert nicht drückt und nichts von ihr fordert, als nach getaner Pflicht ruhig leben zu dürfen. Reizt er dann den Neid, flößt er dann noch Haß ein, so gründen sich beide auf das, was der Ankläger selbst nicht gern ausspricht, worüber er wenigstens nicht wagt, [427] dem von ihm Angeklagten mit Vorwürfen vor die Stirn zu treten. Die Schwätzer und Verleumder um ihn her arbeiten ohnedem an einem Werke, dessen sie sich nicht bewußt sind, an seiner Apologie, auf deren richtige Deutung er bei den Besserdenkenden rechnen kann. Wer es nun dahin gebracht hat, dem gelingt gar vieles in der Welt, dem gelingt sogar, woran er nicht denkt, was er nicht als Zweck beabsichtigt, das endlich zu erhalten, was die Menschen im groben Sinne Glück nennen. Ich könnte das Kapitel verlängern, aber ich setze nur noch das hinzu: Er muß sich vor allem Reformationsgeist und seinen Zeichen hüten; muß nie mit Leuten, die nur Meinungen haben, über Meinungen streiten; von sich selbst, über sich selbst nur im stillen reden und denken, das heißt: in seinem tiefsten Innern – allein in seinem Kabinett. In der Welt, ja selbst in seinem Hause müssen nun seine Handlungen, sein Betragen von ihm sprechen.

Sind dieses nun Bedingungen, die ein Träumender macht, so können sie doch wenigstens denen zur Antwort dienen, die immer klagen: ein Biedermann komme nicht durch die Welt, mache nie Glück und wie dergleichen Klagen lauten. Wer aber diese Klagen wirklich zu seiner Entschuldigung oder zur Beschuldigung der Welt führt, dem liegt es wenigstens ob, genau zu untersuchen, ob er auch den Biedermann wahrhaft dargestellt und gezeigt habe. Ein Zug, eine Handlung, eine Seite sind dazu noch nicht genug, es muß ein ganzer, gehaltener Charakter sein. Zu einer einzigen auffallenden Tat können Empfindungen die Veranlassung sein, deren sich ein so klagender Biedermann vielleicht selbst nicht bewußt ist oder die er sich selbst nicht eingestehen will.

560


DER rechtschaffene Mann, dem der Haß, der Neid und die Verleumdung wirklich Dornen auf das Lager streuen können, ist noch weit vom Ziele, denn er ist noch in der Menschen Gewalt. Wer nah daran ist, der hört seine Apologie in ihrem Geschrei; wer es erreicht hat, vernimmt es gar nicht mehr.

561


[428] »DIE Menschen sind böse!« – Und was ist denn die Herde von Millionen, die mit sich machen, aus sich machen läßt, was einem ihresgleichen gelüstet? Ein solcher, der dieses recht versteht, nennt wohl diejenigen, welche ihm nahen, durch welche er wirken läßt, Schelme und Betrüger, weil sie noch mehr an sich selbst als an ihn denken, aber böse nennt er die Menschen wahrlich nicht! Dazu müßt' er sie fürchten oder für etwas achten.

562


WER ohne die äußerste Not, ohne Gefahr für die Tugend selbst, laut von seiner eignen Tugend spricht, hat sie wenigstens noch zum Teil im Kopfe; sie kann wohl gar Politik und Kalkül sein. Der wahrhaft Tugendhafte schweigt und handelt; schweigt schon als junger Mann, weil er fühlt, er habe die Probe noch nicht bestanden, als erfahrner, vollendeter Mann, weil er sie nun bestanden hat. Er kennt den Wert seines schon errungenen Schatzes, weiß, was er ist, was er andern scheinen kann oder ist, wenn er ihn aufdeckt. Tat bereichert den Schatz, während Worte ihn verringern. »Aber die Griechen und Römer rühmten sich laut ihrer Tugenden!« Sie taten es, wie wir in Griechen und Römern lesen, und auch sie hatten eitle Männer, denen die Tugend mehr im Kopfe als im Herzen saß. Tat es der rechte Mann, so hatte er seine Tugend schon durch Taten erwiesen und sprach nur davon, weil er dazu gezwungen oder das Gute selbst in Gefahr war. Und waren die Griechen und Römer nicht zu ihrer blühenden Zeit, durch ihre Regierungsverfassung Völker, die von sich laut reden durften? Gleichwohl fand gewöhnlich bei ihnen die zu laute Tugend ebenden Lohn, welche die heutige findet, wenn sie lärmend wird. Hier steht das Wort Lohn vorsätzlich um derer willen, die sich die Tugend so als Verdienst anrechnen, daß sie kontraktmäßig Lohn dafür erwarten.

563


[429] [234]WENN rechtschaffene Leute, nicht zufrieden mit der innern, ihnen zugesicherten Achtung des Fürsten, noch verlangen, daß er ihnen ebendiese Achtung immer öffentlich auch jederzeit vor seinem Hofe bezeigen soll, wohl darüber klagen, wenn er an ihnen vorübergeht und sich mit andern, die ihnen nicht gleichen, unterhält, gar murren, wenn er auch etwas für diese tut, das sie nicht zu verdienen scheinen, so möcht' ich ihnen zurufen:


»Ihr vergeßt, daß ihr die kleine Zahl seid, die dem Fürsten zwar durchaus notwendig ist, daß er aber ohne die große Zahl, die euch nicht gleicht, aufhören würde, ein Fürst zu sein, daß ihr euch ebendadurch, weil er es ist, in eurem ganzen Werte zeigen könnt und der großen Zahl, die euch nicht gleicht, dann am meisten nutzt, wenn ihr recht bescheiden seid. Muß er nicht ebendiese Leute, die euch mit Recht mißfallen, bei guter Laune zu erhalten suchen? Würden die Zweideutigen und die entschieden Schlechten nicht euch und dem Ganzen noch gefährlicher werden, wenn er euch vor ihren[234] Augen gar zu sehr erhöbe, ihre verderblichen Leidenschaften durch die Verachtung, die sie verdienen, gar zu offen und schonungslos rügte? Der Rechtschaffenen ist er gewiß; dieser Gedanke muß euch vieles, wenn auch nicht alles wert sein. Und wer ist mehr zu beklagen: Er, der wider sein Gefühl schlechte Menschen politisch schonend behandeln muß, oder der, welcher diesem Spiele zusieht und die Ursache davon weiß? Das Ganze besteht durch das Widersprechendste, vereinigt sich wohl gar dadurch zu diesem Ganzen, das uns die Notwendigkeit so zu bearbeiten zugeworfen hat, so scheußlich dieses auch nach der Reinheit der Moral klingen mag. Ernährt nicht das Brot, und wenn auch der heimliche Verbrecher oder der verstockteste Sünder den Acker gepflügt hat? Steigt nun die Leiter hinauf und herunter!

Und wie, wenn es nun recht nach eurem Wunsche ginge? wenn der Fürst euch immer nur allein auszeichnete? recht laut und auffallend verherrlichte? Würde er nicht durch diese Auszeichnung selbst den andern das Zeichen zu einer verbundenen Jagd auf euch geben? Vergeßt ihr, daß ihr das Wild in der bürgerlichen Gesellschaft seid, in welcher die Jäger nie rasten, in der sie am glücklichsten und sichersten Jagen, weil sie es ohne Hundegebell und ohne Hifthorn tun? Fängt man nicht die gefährlichsten Tiere des Waldes durch Fußangeln, Gruben und Netze, um eigene Gefahr zu vermeiden?«

564


[235] [26]DIE Verleumdung gehört wohl auch – wie so manche artige, bisweilen wirklich befremdende Neigung – zu der Mitgift oder zu der Aussteuer, die das Menschengeschlecht nach und nach in der politisch-moralisch-bürgerlichen Gesellschaft verarbeiten und gebrauchen sollte oder mußte. Wenigstens ist sie so alt wie die Welt oder gar älter als die Welt. Nachdem Satan die erhabnen Geister des Himmels durch Verleumdung zum Aufruhr gegen den Oberherrn gereizt hatte, so bediente er sich derselben mit gleich glücklichem Erfolg zur Verführung des ersten unschuldigen Menschenpaars. So hat sich die Verleumdung – wie vieles ihr Verwandte – natürlich fortgepflanzt. Freilich ist sie ein gar häßliches Gebrechen; aber um nicht da zu sein, müßte der Mensch entweder so vollkommen, wohlzufrieden und glücklich sein oder sich so denken können, daß er im hohen Gefühl seines eigenen Selbsts es unter seiner Würde fände, sich mit einem andern Wesen um ihn her zu vergleichen; kurz, es müßte ihm von dem nichts abgehen, was seinesgleichen besitzen, wenigstens müßte er dieses glauben und sich nur mit sich selbst vergleichen. Auch hätte die unschuldige Beschränktheit der Auster diesem Übel abhelfen können, die sich wahrscheinlich mit nichts vergleicht und ihre Nachbarin, da sie wohl schwerlich etwas von ihr weiß, ebenso wahrscheinlich nicht verleumdet. Regenten, Staatsund Weltleute, welche dergleichen menschliche Gebrechen anders anzusehen gezwungen sind als die Moralisten, und zwar oft zu unserm und selbst der Moralisten Vorteil, sagen vielleicht:»Laßt sie nur immer verleumden, es ist ein Zeitvertreib mehr für sie. Wenn uns die Menschen um unserer guten und vernünftigen Handlungen, im Genuß der Verleumdung, recht schwarz malen, so nehmen sie um so leichter unsre bösen und törichten als natürlich an, finden dann Trost und Zufriedenheit, daß wir dem Gemälde gleichen, welches sie, zum Vergnügen der Zuhörer und im eitlen Gefühl des Selbstgenusses, von uns entworfen haben.«

565


[26] [242]DIE Sprüche Salomos sagen sehr viel von dem Lohne des Gerechten, Weisen und Tugendhaften auf dieser Erde. Hat sie nun Salomo wirklich geschrieben oder abgeschrieben, so muß er noch sehr jung gewesen sein, als er es tat. Überhaupt muß er etwas schwärmerisch gedacht und gefühlt haben; denn an dem Hofe seines königlichen Vaters hätte er ganz artige Erfahrungen von dem Gegenteil machen können. Hat er diese Sprüche aber als gekrönter König geschrieben, so tat er es vielleicht, um seine Untertanen zu den von ihm gepriesenen Tugenden zu ermuntern, weil sie auch zuzeiten einem Könige nutzen können, wenn er sie für nötig hält. Und so könnt' es gar ein politisches Stückchen, eine Art von Antimachiavell, sein. Schrieb er sie aber als Greis, welches man nach der darin gezeigten Weltkenntnis glauben sollte, so hat er sich und den Menschen, für einen König seiner Art und seiner Erfahrungen an sich und andern, als Autor zum Zeitvertreib, im obigen Punkte wenigstens, schönlautende Komplimente gemacht.

566


[242] [27]ERZÄHLT jemand in einer Gesellschaft höhern Tons eine gute, edle Handlung von einem bekannten Manne, so hört man ihn gewöhnlich kalt an, es sei denn, daß einer der Gegenwärtigen, vielleicht um seines eigenen Interesse[s] willen, ein besonderes Interesse an dem Manne hätte, von dem das Schöne erzählt wird. Der Erzähler, wenn er sonst ein gutmütiger Mann ist, mag noch zufrieden sein, wenn man die von ihm erzählte gute, edle Tat nicht ganz bezweifelt, sie nur durch Grundsätze, aus der gewöhnlichen Welterfahrung geschöpft, durch witzige Deutelei ins Lächerliche oder durch Unterschiebung eitler, anmaßender, schwärmerischer, unvernünftiger Bewegungsgründe zu verzerren und so um allen moralischen Wert zu bringen sucht. Die Weisen und Erfahrungsvollen schweigen zu diesen Bemühungen, weil sie das Bekehrungswesen versucht haben; so hört man nun selten einen Widerspruch, es müßten denn feurige junge Leute oder ein Schwärmer in der Gesellschaft sein, denen man es noch zu gut hält, indem man über sie lächelt. Aber tritt einer in ebendiesem Kreise auf, der von einem Manne etwas Boshaftes, Schurkisches, Niedriges, Schlechtes zu erzählen hat, der findet eine so gläubige Versammlung, wie sie nie der beredteste Prediger oder erhabenste Moralist gefunden hat. Hier scheint nun bei jedem solchen Ereignis die Gesellschaft sich und dem Menschengeschlecht ein Urteil zu sprechen, das nur den Neuling empört. Aber beweist dies auch für die überwiegende Bosheit des Menschengeschlechts? Kann man auf diese daraus vorzüglich schließen, weil die Menschen so lau im Glauben an das Gute und so warm, schnell und stark im Glauben an das Böse sind? Wirkt hier inneres Bewußtsein an sich gemachter Erfahrung, daß sie, gleichsam von ihren geheimen Trieben überrascht, ein offenes Bekenntnis ihrer Schlechtigkeit ablegen? So scheint es in der Tat auf den ersten Blick. Einiges ließe sich indessen doch gegen diesen harten Schluß anführen. Das Gute, Schöne, Edle wirkt auf das Herz und setzt zur richtigen Anerkennung einen hellen, aufgeklärten Verstand voraus. Herz und Verstand verbunden bilden das edle Gemüt, das darum seltener ist, weil [27] letzterer dem erstern öfters fehlt. Das Böse wirkt auf die Einbildungskraft, erweckt Furcht, Besorgnis, da es an die unzähligen Fäden des Eigennutzes anschlägt und den innern für sein Interesse immer besorgten Menschen aufregt. Bei dem Edlen fühlen wir stilles Gefallen, und der, welchem der Sinn dafür fehlt, empfindet hier, daß er dem Manne, von dem die Rede ist, nicht gleiche, daß dieser durch seine Tat über ihn hervorrage, und so steht er wider Willen gedemütigt vor dessen Bilde. Aber eine schlechte, niedrige Tat bringt den Mann, von dem die Rede ist, unter ihn, er steigt über ihn hinaus, und mancher glaubt vielleicht wohl noch, durch Übertreibung der schlechten Tat der Gesellschaft seinen Abscheu vor dem Laster recht zu zeigen und ihr eine bessere Meinung von sich beizubringen. Sind dieses Entschuldigungen? Nur Beweise, daß es nicht umsonst, nicht aus bloßem Gefallen an dem Bösen geschieht. Und dann der Genuß der Schwatzhaftigkeit, welcher von der aufgeregten Einbildungskraft mehr befördert wird als von der stillen Bewunderung. Doch weiß ich Fälle, wo sogar solche Menschen, die mehr in der Einbildungskraft und in dem Genuß dieser Schwatzhaftigkeit leben, recht feurige Lobredner guter, edler Taten werden – wenn nämlich diese guten, edler Taten ihnen selbst – und das vorzüglich – nützlich sind. Bezeichnet nun ein solcher Fall eben nichts Außerordentliches, so ist er doch so menschlich als natürlich.

567


[28] [225]DIE sonderbarste unter den vielen sonderbaren Klagen des Menschengeschlechts wäre die eines Despoten, der sich im orientalisch-tückischen Despotismus gefiele, über die moralische Schlechtigkeit seines Volks, über die Untreue, die Hab- und Raubsucht der Staatsbeamten, seiner Hofleute und Favoriten, über die Bestechlichkeit aller, von dem, der in der Hütte wohnt, bis zu dem, der vertraut mit ihm lebt, und der dann über diese Menschen samt und sonders das Verdammungsurteil ausspräche. So sonderbar nun diese Klage wäre, so wenig wäre sie konsequent. Würde er wohl Despot sein und bleiben können, wenn ebendiese Staatsbeamten und ebendieses Volk die Tugenden besäßen, die er an ihnen vermißt? Ein solcher Despotismus findet eben in der Schlechtigkeit der Beamten, in der Feigheit des Volks, die durch den ungestraften Mißbrauch der Gewalt über diese Schlechten unterhalten wird, seine Stütze und verschwindet, sobald Tugenden durch Zufälle aufgeweckt werden, die weder ein solcher Despot noch solche Diener voraussehen. Das noch Sonderbarere wäre, daß sich diese Despoten und ihre Diener über die Schlechtigkeit der Menschen nur dann beklagten, wenn [225] die Untreue oder der Betrug, welcher Art sie seien, an ihnen selbst begangen würden. Das Allersonderbarste aber würde sich ereignen: wenn ein hochgesinnter, edler Mann den Thron eines solchen Despoten bestiege und den Willen zeigte, durch weise Milderung den Despotismus nach und nach aufzulösen, sein Volk durch eine gesetzmäßigere Verfassung einer höhern Moralität zuzuführen, daß alsdann gewiß ebendiese Staatsbedienten diesem edlen Regenten aus allen Kräften entgegenarbeiteten, sein Streben als politische Ketzerei, die den Staat erschüttern könnte, verschreien würden. Wenn ich »Staat« sage, so läge eben in diesem Worte der Grund ihres Schreckens; denn die Herren müßten dann fühlen, daß, wo so etwas anfinge wirklich zu existieren, ihr eignes Dasein samt ihrem Wirken auch nun anfinge, dem Gesetze unterworfen zu sein. Ein Versuch des Sultans Selim würde dieses alles beweisen.

568


[226] [251]MAN spricht immer mit Lob, Wärme, auch wohl Enthusiasmus von dem Altertum, um nur die neuere Zeit verachten und herabsetzen zu können. So klagen ohne Unterlaß selbst die besten Köpfe und sogar billige Männer, welches die ersteren nicht immer sind, daß es der neuern Geschichte ganz an dem Reiz fehle, welcher die Geschichte der Römer und Griechen vor allen auszeichnet. Man geht gar so weit, zu behaupten, sie ründe sich durchaus zu keinem Ganzen, leite zu keinem bestimmten Zwecke, habe keinen Charakter, gewähre keinen Genuß, weil sie weder ästhetischen, philosophischen noch wahrhaft politischen Gehalt hätte, kurz, daß es ihr ganz an der moralischen und politischen Tendenz mangle, die sich eigentlich durch ein die Menschheit ehrendes Wirken, in Handlungen und Verhandlungen zeigen müßte. Was nun den bestimmten Zweck, den wahrhaft politischen Gehalt und die berühmte Tendenz betrifft, so gestehe ich, daß man auch bei Lesung der Geschichte der Griechen und Römer den Glauben im recht hohen Sinn dazu mitbringen und sorgfältig unterhalten muß und dies hauptsächlich wegen der moralischen Tendenz, die, wenn ich es recht begreife, die innere steigende Veredlung des Menschengeschlechts bedeuten soll. Der Gedanke ist schön, dem Menschen rühmlich, wie so viele andere schöne Gedanken, die, wenn sie auch nicht immer Großes und Gutes hervorbringen, doch über das diesem Widersprechende trösten und mit Hoffnung stärken. Was würde aus dem armen Menschengeschlecht ohne die Fähigkeit zu diesen schönen Gedanken geworden sein, mit denen das Tun und Wirken in dieser politischen Gesellschaft im einzelnen selbst so selten übereinstimmt? Von dem Ganzen, welches das Geheimnis des [251] unumfaßlichen Weltstaats in sich zu schließen scheint, rede ich nicht, da ich die Geheimnisse und ihre Ursachen in unsern politischen Staaten, die doch nur Punkte in diesem unendlichen sind, noch nicht begreife und wohl nie begreifen werde. Aber die Vorwürfe, die man unsrer neuern Geschichte macht, will ich, wenn ich es vermag, durch einige lebende Beispiele zu schwächen suchen. Nehmt die französische Geschichte von Clodowich, dem ersten Christen, bis auf den heutigen Tag und seht zu, ob sie sich nicht zu einem Ganzen rundet! Den Zweck werdet ihr auch finden, ob die gleich nicht wußten, was sie taten, die seit Jahrhunderten aus allen Kräften auf ihn arbeiteten. An ästhetischem, philosophischem und politischem Genusse wird es ebensowenig fehlen, wenn ihr die Mittel bemerkt, welche Verstorbene und Lebende angewandt haben, um diesen Zweck oder dieses Ziel vorzubereiten und endlich wie ein über Europa hervorragendes Gebirg aufzustellen. Die berühmte Tendenz überlaß ich eurem Glauben. Wer nicht mit diesem Beispiele zufrieden ist, der nehme unsre deutsche vaterländische Reichsgeschichte bis zu dem letzten Reichstage 1802, und er muß von nichts zu überzeugen sein, wenn er hier keinen Zweck oder kein Ziel findet, ob es gleich nur wie ein Maulwurfshaufen auf der flachen Erde aufgescharrt liegt, der sich schwerlich zum Berg aufschwellen wird, wenn ihn nicht sonst ein politisches Erdbeben dazu aufbläht. Wem dieses noch nicht genug ist, der lese die Geschichte Englands von dem Zeitpunkte der ersten Magna Charta bis zu dem jetzigen Handels- und Kreditsystem, dessen Zweck und Ziel über alle Teile der Erde hervorragt, obgleich nur ein Schatten, der an dem dünnsten Faden schwebt, welcher je durch die Finger der Staatsparzen, seitdem diese Dirnen an dem politischen Schicksalsrade unablässig wirrend und spinnend, spinnend und wirrend sitzen, gelaufen ist. Und ihr sollte es an Charakter fehlen? Wahrhaftig, die neuere Geschichte hat aufs originellste entwickelt, was die Geschichte der Erde so klar beweist. Dieses würdet ihr gewiß erkennen, wenn ihr sie nur ohne poetischen, politischidealischen Sinn betrachten wolltet.

569


[252] [466]NACH der blühenden Jugend, dem kräftigen, männlichen Alter sinken auch wohl sehr gescheite, tiefdenkende Leute, ja gar schöpferische Genies zu wiederholenden, lehrreichen Schwätzern herab. Ihr Geist schafft keine neuen Ideen, um durch sie seine Existenz zu erweitern, der Witz setzt nicht mehr kühn über die unendlichen Räume, die zwischen den Verhältnissen liegen, das Gefühl erwärmt selbst die altaufgefaßten und -verarbeiteten Gedanken und Bilder nicht mehr, und der glückliche Schwätzer wiederkäuet nur mit kindischem Vergnügen die abgestumpften Zeichen der Erinnerung. So läuft er nun ohne Unterlaß von dem über, was in seinem Kopfe schwimmt; denn das Herz, der innere Vesuv, hat ausgebrannt, ist verschüttet, und nichts sinkt mehr in die Tiefe, um lodernd und leuchtend aufzusteigen. Ebenso wird die Dichtkunst nach ihrer Blütenzeit und nach dem kühnen, männlichen Alter beschreibende, lehrreiche, alles malende, verkleinernde und zerlegende Versemacherei, welches uns besonders die didaktischen Poeten der Engländer und die sie darin nachahmenden französischen beweisen. Die deutschen Dichter stehen noch zwischen der Blüte der Jugend oder nahen nur dem männlichen Alter, und es ist auf diesem Felde noch viel von ihnen zu erwarten, wenn ihr hoher Sinn nicht von der mißbrauchten kantischen Philosophie, von der jetzt – nach dieser – aufblühenden Mystik und von der politisch-, statistisch-ökonomischen Rechenkunst in ihrer jetzt lebenden jugendlichen Stärke erwürgt wird.

570


[466] [140]DERJENIGE Regent, welcher Tacitus' Worte: Postquam divus Nerva res olim insociabiles miscuisset, libertatem et Imperium – also die zwei widersprechendsten, ungeselligsten Dinge: Freiheit und Herrschaft-praktisch kommentiert, und so, daß wir der ersten in aller Ruhe, Freude und Sicherheit genießen und die zweite uns diesen Genuß garantiert, der hat das höchste Werk menschlicher Weisheit, Klugheit und Stärke vollführt. Er hat zugleich das schönste und schwerste Problem aufgelöst, das einem Geschöpfe von Geist, Verstand, Sinnlichkeit und Leidenschaften aufgegeben werden konnte, das um so schwerer ist, weil es durch Geschöpfe von Geist, Verstand, Sinnlichkeit und Leidenschaften ausgeführt und von ebensolchen Geschöpfen erkannt und geachtet werden muß oder soll. Indessen ist dieses so einfache Ding ebender Grundstein, auf dem die Gesellschaft ruhen sollte, den das Menschengeschlecht von seiner Entstehung an bis auf den heutigen Tag ahndete, eifrig suchte, für den es mordete und gemordet ward. Auch wäre es wohl endlich Zeit, daß es ihn fände und die Regenten sich darauf setzten. Eines festen, sichern Sitzes können sie dann gewiß sein.

571


[140] [235]WENN man einem Manne von Charakter, kräftigem Willen und Geist, starker Einbildungskraft und gleich starkem Verstande den Vorschlag täte, Minister in einem monarchischen Staate oder leitendes, regierendes Haupt einer Partei in einer Republik zu sein, welches von beiden sollte er wählen? Man kann auch die Frage so setzen: In welcher der gegebnen Lagen wird es ihm leichter sein, ein nützlicher, gerechter, berühmter und großer Mann zu werden? Im ersten Fall, so scheint es mir wenigstens, hat er nicht allein Gelegenheit, seinen Charakter [235] frei, nach seinen Einsichten, seiner Kraft zu entwickeln; er findet auch ein weiteres, unbeschränkteres Feld zur Ausübung seiner Tätigkeit vor sich. Er kann seinen Handlungen seinen eigenen Charakter ohne Mischung mitteilen, gut, gerecht, groß – und sogar in der vollen Bedeutung des Worts – menschlich sein und, wenn er aus festgehaltnen Grundsätzen handelt, auch auf die allgemeine Dankbarkeit und Anerkennung seines Werts rechnen; denn der Dankbarkeit ist schon der gewiß, der das gewöhnliche Böse unterläßt. Das leitende Haupt einer Partei in einer Republik – zu einer Partei muß ein solcher Mann gehören wie jeder Staatsdiener in der Republik, der etwas sein oder bedeuten will – muß seine Hauptkräfte in dem Kampfe mit der Gegenpartei gebrauchen, sich mit dieser selbst für das beste, nützlichste Unternehmen erst herumschlagen, und beim Gelingen, bei der glücklichsten Ausführung vermehrt sich nicht selten die Gefahr für ihn, da alles, was er tut und wirkt, durch den Geist der Eifersucht und der Furcht vor seiner errungenen Größe nicht moralisch, sondern bloß politisch betrachtet wird. Diese politische Deutung läuft durch die ganze Geschichte der alten und wahrhaften Republiken. Menschlich zu sein, im hohen Sinn des Worts, ist hier vor allem das Schwerste, da der Parteigeist dieses ausschließt; denn die Partei, welche von Menschlichkeit spricht oder darauf dringt, hat ihre eigne Schwäche schon anerkannt. Auf allgemeinen Dank hat ein solcher Mann am wenigsten zu rechnen; was ihm seine Partei gibt, nimmt ihm die entgegengesetzte. Groß erlaubt man ihm nur zu Zeiten der allgemeinen Gefahr zu sein und zu scheinen, weil dann der Parteigeist um der Erhaltung des Ganzen willen schweigen muß. Nach überstandener Gefahr ist er immer noch glücklich genug, wenn man ihm verzeiht, das Vaterland gerettet zu haben. Wer darum glaubt, daß ich der Monarchie vor der Republik ganz unbedingt das Wort rede, dem habe ich nichts zu sagen. Man wird leichter unter denjenigen zum Wohltäter, die am wenigsten dauerndes Wohlsein zu erwarten haben, da es immer von einem einzigen abhängt und auf den Weisen, Starken auch kein Weiser, kein [236] Starker folgen kann. Hier wird die klug berechnete Gerechtigkeit selbst zur Wohltat und Billigkeit, menschliche Sorge für andere oft ein unerwartetes Geschenk. In Republiken glaubt und fühlt man sich zum Höchsten berechtigt – und nun befriedige man diejenigen, die mit einem solchen Rechte, mit solchen Ansprüchen geboren zu sein glauben. Was gehört nun nicht dazu, unter solchen Geistern ein großer Mann zu werden? Will er es ganz in dem Sinn des ersten werden, so muß er vorerst die Parteien lähmen oder verschlingen, und wie steht es dann mit der Republik? Die Belege dazu findet wohl ein jeder in der Geschichte.

572


WENN auch die Bedürfnisse der Phantasie den Despotismus nicht geschaffen haben, so unterhalten, ernähren und verstärken sie ihn doch. Auf die natürlichen Bedürfnisse allein gebaut, wäre er von dem Augenblick an zusammengestürzt, da die Menschen erkannt hätten, wie wenig dazu gehöre, zu leben und frei zu sein. Man kann also immer sagen, die sich bildende Gesellschaft arbeitete durch jede neue Erkünstelung und Vernünftlung an der Vollendung des Ungeheuers, über das sich die darin Lebenden beklagen. Der zu gekünstelte Geist, der verfeinerte Verstand, die immer rege Einbildungskraft mit allem, was Schönes und Artiges aus ihnen entspringen, sind die Schöpfer aller Abhängigkeit und nicht die Bedürfnisse des Leibes. Diese Wahrheit ist gemein, aber um so nötiger zu wiederholen, da die Klagenden immer in der Ferne suchen, was ihnen doch so nahe liegt, was sie selbst erzeugen.

573


[237] [116]DER gutmütige Glaube an die steigende Vervollkommnung oder Veredlung des Menschengeschlechts kommt mir, sobald ich ebendieses Menschengeschlecht sich vor den Reichen und Mächtigen beugen, kriechen und zittern sehe, gar zu albern, abgeschmackt, [116] ja zuzeiten ekelhaft vor. Diese tiefe Achtung, Verehrung und Furcht ist dem Menschen so gewiß angeboren wie das Verlangen nach den Dingen, aus welchem sie entspringen; der Kluge, Starke und Kühne selbst, wenn er auch alle Vorurteile besiegt hat, überwindet dieses am schwersten, wenigstens zuletzt und dann nur oft zu spät für seine moralische Vollendung. Empörend ist es gleichwohl für den Mann von Gefühl und Verstand, wenn er die allgemeine, gewaltige Wirkung der Macht und des Reichtums, dieser zwei die moralische und politische Welt beherrschenden Gottheiten, auf ihre Gläubigen wahrnimmt, sobald einer ihrer bedeutenden Priester unter die Menge tritt. Sie neigt sich vor ihnen, fährt zusammen, nimmt eine untertänige Stellung an, wünscht, beneidet, hofft; und selbst der Mann von Geist und höherm Sinn vergißt wohl vor ihnen seinen eignen Wert, auf den er sonst so stolz ist, oder ergrimmt wenigstens doch zuzeiten, daß er in Gegenwart dieser Götzen vor den Augen der bewundernden Menge ganz verschwindet. Die untern Klassen verehren und beten so treuherzig und instinktmäßig an, als walte außer diesem allesvermögenden kein anderes Wesen über ihnen. So war es immer, sollte wohl so sein, um eine so geordnete, moralisch-politische, solche Früchte tragende Gesellschaft hervorzubringen, an deren Anschauen wir uns ergötzen können, wie es uns gefällt – ein Genuß, der uns sogar umsonst verstattet wird, wenn wir klug genug sind, im stillen zu genießen! In Ordnung wird sie gewiß dadurch gehalten; und vielleicht herrscht ebendarum in Deutschland die meiste bürgerliche Ordnung, weil da diese Gottheiten immer die treuherzigsten, ehrlichsten und gläubigsten Verehrer gefunden haben. Da es nun wahrscheinlich mehr oder weniger auf dem ganzen Erdenrund so fortgehen wird und die Armen, Schwachen, Unaufgeklärten, ja selbst die Klügsten und Gescheitesten (sie wissen warum) diese Gottheiten immer verehren und anbeten werden, so sehe ich wenigstens nicht ein, wie das Menschengeschlecht auf diesem breiten Wege zu jener moralischen Veredlung gelangen möge. Die beschwerlichen Nebenwege dahin kenne ich wohl; aber das [117] Menschengeschlecht läuft auf der Landstraße, weil diese gerade zu einem Ziel führt, das jeder kennt und das auch dem Entferntesten in die Augen fällt.

574


MAN trifft an Höfen, in der Welt, unter Geschäftsleuten Männer an, die von Haus aus weder Geist noch Verstand mitbrachten, die aber durch Erfahrung und Interesse so aufgeklärt worden sind, daß sie in diesen beiden Lehrmeister fanden, die ihnen das von Haus aus Versagte so reichlich ersetzten, daß sie die in diesen Punkten reichlich Versehenen überfliegen und sogar überlisten. Spricht man mit einem solchen Mann über Hof, Welt und Geschichte, so erstaunt man über seinen scharfen Blick, sein richtiges Urteil, seine Welt- und Menschenkenntnis; aber man erstaunt noch mehr, wenn er aus seiner Sphäre heraustritt und über Gegenstände spricht, worüber ihn seine Lehrmeister im natürlichen Zustande gelassen haben, wohl lassen mußten, damit der Lehrmeister recht eifrig nur auf ein Wild jage. So kann also in demselben Kopfe Licht und Finsternis herrschen, und die Verbindung in der künstlichen Gesellschaft rächt sich an der Natur dadurch, daß sie ihr es nicht gelingen ließ, ihn ganz zum Dummkopf auszuprägen. Soll der Natur dieses gelingen, so muß sie den Menschen zum Idioten machen; nur bei diesem vermögen jene Lehrmeister nichts. Die andern füttern ihn dann aus Mitleiden, weil Idioten die einzigen sind, die nicht gefürchtet und beneidet werden.

575


OB es gleich der Dinge sehr viele gibt, die den Stolz des Menschen demütigen könnten, so will ich doch jetzt aus Höflichkeit nur eins anführen, das diesen sonder- und wunderbaren Sohn des Himmels und der Erde zu einiger Selbstkenntnis vermögen könnte. Wie kommt es, daß ein einziger dieses Geschlechts auf Jahre lang über Glück und Unglück vieler Millionen entscheiden kann? Daß die Geschichte den letzten Fall hundertmal [118] erzählt, bevor sie den ersten nur einmal in seiner ganzen Wahrheit aufstellt? Um dieses recht fassen zu können, muß man hierin das Vortrefflichste und Schlimmste selbst erfahren und seine Wirkung gesehen und empfunden haben. Aber welch ein Stoff zum düstern Nachsinnen über das Menschengeschlecht und das ihm aufgetragne Schattenspiel für den denkenden und fühlenden Mann ist das letzte? Sagt' ich Schattenspiel? – Ja, wär' es das! Aber es sind Schatten, die einen Leib haben, den man an jedem Punkt verwunden und töten kann, die einen Geist haben, der das Leiden der Gegenwart, der Zukunft, des Nahen und Entfernten durch alle Verhältnisse und Folgen faßt und dessen Denken und Nachsinnen man zu Dolchen machen kann, deren Ziel das Herz, die Quelle des Lebens, ist und vor deren unzähligen Stichen das Grab allein rettet. Was ihn erwartet, wenn er sich in jenem Leben als von einem seinesgleichen gezwungner langsamer Mörder des Gewandes darstellt, das ihm auf der Erde angebildet ward? Wen er anklagt wegen der Qualen, die er gelitten, wegen der durch die schreckliche auf Erden gemachte Erfahrung verfinsterten Gestalt, in der er nun erscheint? Und wie Geister vortreten und erscheinen können, welche Furcht, Sinnlichkeit und augenblickliche Vorteile so tief erniedrigt und verunreinigt haben, daß man nicht begreift, wie ihr Schöpfer sein Werk noch in ihnen erkennen mag? Und endlich: Wie die Gewaltigen selbst, welche die Stärkern und Edlern so abgejagt, die Schwachen so mit Füßen getreten haben, daß in diesen wenigstens das Gepräg' ihres Ursprungs, woran sie doch der Meister wiedererkennen soll, ganz verlosch?

576


[119] [325]WITZ entspringt aus dem Geiste, dem Kopfe; er ist nur dann recht stechend und allzeit fertig, wenn er in der moralischen Gleichgültigkeit gegen das Lächerliche und Schlechte so weit gekommen ist, daß er es nur als Gegenstand des Spotts, als glückliche Veranlassung zu glänzenden Einfällen betrachtet. Der Sarkasm[us] entspringt aus dem Herzen, das starke Gefühl desselben entzündet den Geist, seine Blitze fahren durch die düstern Wolken, die der Unwille, die Verachtung über und gegen das Schlechte, Niederträchtige zusammengetrieben haben. So trifft der Sarkasm[us] des empörten, edlen, geistreichen Mannes den Schuldigen durch Geist und Fleisch; den Einfall des bloß Witzigen schreibt dieser der Bosheit oder dem Kitzel zu und geht ungetroffen vorüber.

577


[325] [337]WER in einer großen volkreichen Stadt und Residenz lebt, sollte sich, wenn ihn Sprüche trösten können, jeden Morgen folgenden aus Cowper vorsagen:


God made the country, and man made the town.
Gott machte das Land, der Mensch die Stadt.

578


[337] [466]ES gibt Dichter, bei denen die Vorstellung von der Kraft der Konzeption ihrer Schöpfungen mehr erfreut als der Genuß des [466] von ihnen nun wirklich Dargestellten. Man kann wohl in seinem Geiste den Schwung der Höhe ihrer Phantasie begreifen und mit ihnen erreichen; sobald man aber das Geschaffene in Vergleichung mit dem Wirklichen betrachtet, dessen man sich nicht ganz erwehren kann (bei gigantisch-moralischen Wesen am wenigsten), so tritt nun die kalte Bewunderung der Kraftäußerung ein, und die wirkt, endlich so viel, weil sie dem Verstande zu freies Spiel läßt, daß man nicht einmal den Wunsch nach der bewunderten Wirklichkeit der dargestellten Ideale fühlt; wenigstens begreift man gar nicht, was man mit solchen Wesen anfangen, wie man mit ihnen leben, wo man sie auf dieser Erde hinstellen soll.

579


[467] [28]BEI der Eudämonie und allen mit ihr verwandten Moralsystemen ist die Frage ganz überflüssig, ob die Tugend gelehrt werden könne; sie entspringt hier von selbst aus der Natur, freilich nicht aus reinen Quellen. Aber nach Kants und der hohen Philosophen System muß die Tugend gelehrt werden, denn nach ihnen ist sie gewiß die schwerste aller Künste und Wissenschaften, auf die der natürliche Sinn allein und von sich selbst nicht stoßen konnte. Dieses erhabene Kunstwerk konnte nur in einer hochkultivierten und moralisch verderbten Gesellschaft erdacht werden, weil ihr [28] ein solches Prinzipium oder glänzendes Merkzeichen wenigstens zur Selbstkenntnis und Richtschnur nötig ist. Der Kontrast springt auch um so besser heraus; und wie es damit im Praktischen gemeint sei, hat Kant selbst in seiner »Anthropologie« gezeigt. Von Nutzen ist dieses erhabene Merkzeichen, nach dem wir unsern Wert messen sollen, gewiß; und so wie sich die politische Gesellschaft an den Begriff, das Abstraktum: Staat anschließt und darauf in Sicherheit ruht, obgleich es die Mitglieder derselben ohne Aufhören beleidigen und verletzen, ebenso ruht die moralische Gesellschaft auf diesem erhabenen Begriffe der Tugend, mit dem man nicht besser und schonender umgeht. Der Staat selbst gibt vor, sich auf ihn zu lehnen. – Aber wenn etwas den Menschen als ein wunderbares Geschöpf bezeichnet, so ist es ebendiese anerkannte Theorie bei einer solchen Praxis;und hier spricht sich der Kläger selbst das Urteil.

580


[29] [342]DIE Erziehung, der Unterricht der Jugend von der Dorfschule bis zur Universität, der Sinn und Geist, worin man diese Jugend die Wissenschaften und ihren praktischen Gebrauch lehrt, richten sich ganz nach der politischen Lage, in welcher sich Eltern und Lehrer befinden, worein sie von der Regierung gedrängt und in der sie von ihr gehalten werden. Man vergleiche nur die Erziehung und den Unterricht der jetzigen Zeit mit der Erziehung und dem Unterrichte der vergangnen Jahrhunderte. Sagt man, dieses sei eine Folge der Kultur, so antworte ich: Die Kultur selbst ist eine Frucht freierer, furchtloserer Gefühle. Klagt man in einem Staate über schlechte Erziehung und zweckwidrigen Unterricht, so ist das ein Beweis, daß sich die Menschenkräfte auf einen höhern Punkt richten, als die Regierung ihnen vorgezeichnet hat; und dann ist es auch hohe Zeit, daß die Regierung ihr System mustere, ehe es von Unberufenen gemustert [342] werde. So kann man also sagen, das Volk erzieht und bildet seine Regierung, welcher Fall gewiß weniger selten als der ihm entgegengesetzte ist. Da nun in keinem Lande auf Erden mehr über Erziehung geschrieben wird als in Deutschland, so möcht' ich wissen, ob dieses auch im Vaterlande der Fall von seiten des Volks, der Lehrer, Schriftsteller und der Regierung sei.

581


[343] [294]EINIGE kurze Regeln in Fragen zur Selbstkenntnis:

Welchen Gebrauch habe ich von meinen physischen Kräften gemacht?

Wie habe ich meine moralischen Anlagen, Fähigkeiten und Kräfte entwickelt und angewandt?

Was hab' ich aus mir gemacht?

Was hätt' ich aus mir machen können?

Was kann ich noch aus mir machen?

Was gehört dazu, daß der Mensch etwas aus sich mache und durch den ihm verliehenen Stoff, mit Geist, Mut und Aufrichtigkeit besorgt und verarbeitet, zum Schöpfer an sich selbst werde?

582


[294] [337]WARUM gelingen selbst verständigen, denkenden Leuten so viele mögliche Dinge im tätigen Geschäftsleben und besonders in Geschäften, die das Beste des Staats betreffen, nicht? Weil die Leute, die es unternehmen, sie durchzusetzen, gewöhnlich ihr Ich vorausschieben, das Geschäft persönlich machen, folglich die Persönlichkeit derer, mit denen und durch welche sie ihr Werk durchsetzen wollen, mit ins Spiel bringen und zum Mißfallen oder Gegenkampf reizen. Wer demnach auf dem Welt- und Staatstheater eine gute, nützliche, vorzügliche, eine edle und glänzende Tat durchsetzen will, muß – bevor er noch die Mittel dazu überlegt – vor allem sein eignes Ich, seinen Vorteil, seine Eitelkeit, seine Ruhmbegierde zum Schweigen bringen, kurz: er muß nur das Geschäft allein denken. Dadurch gewinnt er nicht allein, daß er die Sache rein sieht, sondern daß er sie auch andern rein darstellen und sie bloß auf das vorhabende Geschäft hinleiten kann. Übrigens versteht sich von selbst, daß er vor Staats- und Weltleuten, mit welchen man solche Geschäfte betreibt, so wenig als möglich oder vielmehr gar keinen Enthusiasmus zeigen darf – die Worte »Patriotismus«, »Staatsbürgerschaft« und dergleichen töten gewöhnlich das Werk im ersten Augenblick, weil die, vor denen man sie ausspricht, solche Ausdrücke entweder für nichtsbedeutende Phrasen oder für blendendes [337] Gaukelspiel halten, worunter der warme Redner seinen geheimen, lieben Freund verbergen will. Ist es einem rechtschaffenen Manne auf obengesagte Art gelungen, so rate ich ihm, auch dann nicht viel – und am wenigsten in solchen Ausdrücken – davon zu reden; und das darum, damit es ihm auch zum zweiten- und drittenmal gelinge oder ihm wenigstens bei Höhern nicht schade.

583


[338] [119]EIN Feldherr, der da wünscht, daß alle seine Streiter durchaus tapfer, kühn und verwegen sein sollen, kommt mir vor wie ein Regent, der im Ernste wünscht, alle seine Untertanen möchten kluge, verständige, weise Leute sein. – Wenn die Streiter gleich nach der Schlacht wieder von der nötigen Furcht und Feigheit beschlichen würden und die Untertanen in gewissen unentbehrlivhen [119] Fällen ihre Weisheit und Klugheit vergessen wollten und könnten, so wären beide Wünsche aller Ehren wert. Da aber ebendas Gemische der entgegengesetztesten, der widersprechendsten Eigenschaften und Fähigkeiten das Heer wie den Staat zusammenhalten, so würde wahrscheinlich die Erhörung obiger Wünsche beide Oberhäupter sonderbaren Ereignissen aussetzen.

584


[120] [199]DIE Schmeichelei ist nicht allein das gefährlichste Gift, sondern auch das allerverblendendste gegen eignen Vorteil. Man vergebe mir den allzu gemeinen Spruch. Aber würde sonst ein Regent, den man so oft durch dieselbe um seine besten Eigenschaften bringt, nicht endlich einsehen, daß er sie mit dem besten Erfolg gegen seine Schmeichler selbst und noch mehr gegen seine Untertanen mit vielem Glück gebrauchen könnte? Würde er den letztern, wenn er ihnen mehr abnehmen will, als sie in der Tat leisten können, nicht lieber dieses süße Gift eingeben, als ihnen ein schweres, neues Opfer sultanisch-gebieterisch anbefehlen? Sie könnte so ein Kabinettsgeheimnis werden, das, von klugen Köpfen recht still bearbeitet, von großem Erfolg sein müßte; doch dafür schützt die Untertanen der Herrscher Stolz. Man unterwirft sich wohl den Gewaltigen durch Schmeichelei, aber er läßt sich nie dazu herab, und tut er es gegen einen, der sei auf seiner Hut, wenn er ein rechtschaffener Mann ist; denn was der Gewaltige so zu erzielen sucht, liegt entweder seitwärts der Pflicht oder geht über dieselbige hinaus. Und wenn der, dem er schmeichelt, kein rechtschaffener Mann ist? So droht ihm wenigstens – vergißt auch der Gewaltige, daß er sich so weit herabgelassen hat – der Ausgang.

585


[199] [193]ES gibt weltkluge Leute, auch mißtrauische Regenten, die nach unangenehmen Erfahrungen recht sicher zu gehen glauben, wenn sie verständigen, klugen und erfahrnen Männern, die ihnen am Ende zu listig und zu gefährlich vorkommen, bei Geschäften, wobei es vorzüglich auf Treue ankommt, Männer zur Ausführung vorziehen, die an Geist, Sinn und Mut beschränkt sind. Sie vergessen so, daß ebendiese das rechte Spiel der erfahrnen, klugen Männer sind und daß, wenn einmal das Interesse oder die Neigung zum Schlechten in einem solchen beschränkten Kopfe und von dem Verstande nicht geleiteten Herzen erwacht, er gewöhnlich mit einem rechten Hauptstreich endigt. Was hierin durch Einfalt mißlungen ist oder was er besser hätte machen können, bring' ich nicht in Anschlag. Der verständige Mann berechnet doch, und dieses Berechnen der Gegenwart mit der Zukunft gewährt in den verwickelten Welthändeln durch die Erfahrung eine Art von Sicherheit, auf die man leider gezwungen ist, mehr zu zählen als auf die Tugend selbst – weil diese das seltne und jene das gewöhnliche Unterpfand ist, das sich die Menschen, ohne sichtbares Zeichen dafür, in Geschäften wechselseitig [193] überreichen, wenn von Sicherheit für geliehene Kapitale nicht die Rede ist.

586


MAN hört zuzeiten Welt-, Hof- oder Geschäftsleute sagen: »Der Mann ist mir zu gescheit!«, das heißt: »Er ist kein Werkzeug!«

587


[194] [338]WIE der nur wahrhaft den Wert der Ruhe fühlt, welcher sein Tagwerk im Schweiß seines Angesichts oder in Anstrengung des Geists vollbracht hat, so fühlt auch nur der am Abend seines Lebens die hohe Glückseligkeit, welche die Tugend gewährt, der für sie gestritten und gekämpft hat.

588


[338] [7]ICH habe – wer sein Ich nicht zu übertünchen sucht, darf von sich in der ersten Person reden –, ich habe alles, was Griechen, Römer, Italiener, Engländer, Franzosen und Deutsche Gutes, Wahres, Schönes, Kühnes, Sonderbares, Schwärmerisches und [7] Erhabenes gedacht, gefaselt und gedichtet haben, gelesen, habe wohl mehr dabei getan. Ich habe alle große[n] und kleine[n], törichte[n] und vernünftige[n] Weltbegebenheiten bemerkt, die Menschheit und ihren Geist durch seine Höhe und Tiefe, soweit ich vermochte, soweit mein Blick reichen konnte und mich Lage und Zufall begünstigten, beobachtet und verfolgt. Ich habe, was und wie ich bin, aus mir selbst gemacht, meinen Charakter und mein Inneres nach Kräften und Anlagen entwickelt; und da ich dieses so ernstlich als ehrlich tat, so kam das, was man Glück und Aufkommen in der Welt nennt, von selbst. Mich selbst hab' ich schärfer und schonungsloser beobachtet und behandelt als andre. Durch Geburt und Erziehung lernte ich die niedern und mittlern Stände, ihre Not, ihre Verhältnisse, ihr Glück – durch meine Lage die höhern und die höchsten Stände, ihre Täuschungen, ihre Schuld und ihre Unschuld kennen. Ich habe nie eine Rolle gespielt, nie die Neigung dazu in mir empfunden und immer den erworbenen und festgehaltenen Charakter ohne Furcht dargestellt und so, daß ich die Möglichkeit gar nicht mehr fürchte, anders sein oder handeln zu können. Vor der Versuchung anderer ist man dann nur ganz sicher, wenn man sich selbst zu versuchen nicht mehr wagen darf. Ich habe in einem sehr großen Reiche von der Zeit an gelebt, da ich dem männlichen Alter entgegentrat; viele Geschäfte sind mir aufgetragen worden, die mich mit allen Ständen in Verkehr setzten; aber nach ihrer täglichen Beendigung verbrachte ich die mir gewonnene Zeit in der tiefsten Einsamkeit, der möglichsten Beschränktheit. Ich war Zeitgenosse Friedrichs des Zweiten; die Französische Revolution ist vor meinem Geist vorübergegangen (wäre sie nur an dem Geist allein vorübergegangen!); ich lebe unter Alexander dem Ersten, dem Edelsten der Menschen (Höheres weiß ich nichts zu sagen) – und das zu der Zeit, da meine Tage sich gegen den Abend des Lebens neigen; und diesem, dem glücklichsten Zeitpunkt meines Lebens im moralischen Sinn, verdanke ich den mildern Anstrich, der das düstere Gemälde voriger Erfahrung an der Welt und ihren Bewohnern aufheitert.

[8] Wer es nun der Mühe wert hält, das eben Gesagte und das ich nur aus diesem Grunde sage, mit dieser Schrift und meinen übrigen Schriften zu vergleichen, der wird hierin den Schlüssel zu vielem oder allem finden, es betrübe oder erfreue ihn. Ein Schriftsteller, der sich selber malt, ist eine solche Mitteilung dem Leser schuldig.

589


[9] [104]DIE Zukunft bringt den Kultivierten um den vollen Genuß der Gegenwart – dieses ist eine so alte als gegründete Klage; aber ohne den Blick auf sie hätten sich unsre besten, nützlichsten Kräfte, unsre schönsten, erhabensten Empfindungen gar nicht entwickelt. Die aufrechte Stellung, die Sprache, die zur Kunst geschickten Hände, unser Verstand, ja die Begierden und Leidenschaften insgesamt hätten vielleicht alles aus uns gemacht, nur [104] diesen interessanten, oft so edlen, erhabnen Toren nicht, der um des Nachruhms willen – dessen Schall er nicht hört, dessen Schatten er nicht sieht, den ihm vielleicht Neid, Mißkenntnis und Undank nicht gewähren oder den gänzliches Vergessen durch Zeitumstände verschlingt – alle Genüsse und Glückseligkeit der Gegenwart der Zukunft aufopfert, sich gar durch Aufopferung um alle Vorteile des sogenannten Glücks bringt oder sich durch Anstrengung vor der Zeit in das allgemein gefürchtete und verhaßte Grab stürzt. Ihr werdet vielleicht sagen: »Er genießt mehr als jeder bloß sinnliche Sterbliche in der Gegenwart!« Daß er dieses glaubt und daß ihr dieses glaubt, darin liegt eben der wunderbare Zauber. Freilich wären ohne diesen gewaltigen Sporn auch der Torheiten, der Verrücktheiten, der Schwärmereien, der Laster und Gebrechen weniger; aber woher sollten die hohen und die tätigen Tugenden überhaupt kommen? Des Menschen Stellung ist aufrecht, damit seine Augen in das Leere blicken und sein Geist da etwas für sich hindenke, wo vielleicht gar nichts für ihn ist und sein wird.

Die Gegenwart umfaßt uns mit schweren sinnlichen Armen; wir liegen ermattet nach jedem tierischen Genuß an ihrem einschläfernden Busen, und selbst das Genossene ekelt uns in der Vorstellung solange an, bis ein neuer Trieb erwacht. Mit leichten Schwingen trägt uns die Zukunft im Geist empor; sie weht uns aus unfaßlichen, namenlosen Gegenden – aus der Zeit an, die noch nicht ist, vielleicht nie sein wird. Der träge Sohn der Erde schwingt sich auf, ermüdet nicht und wird zum Göttersohn oder dünkt sich, es zu sein. Dächten wir die Zukunft nicht, so lebten wir nur den Augenblick, den wir wirklich leben, so erobern wir die kommende Zeit, die Ewigkeit selbst und genießen der grenzenlosen Eroberung als unsers Eigentums. Und ist alles dieses Täuschung, so laßt uns dem Oberherrn der Geister dafür danken; nur so konnten wir die grobe, drückende Wirklichkeit im Zustande höherer Kultur besiegen. Deutet Täuschung nicht auf die höhere Verwandtschaft so gebieterisch hin, daß sogar der Zweifler selbst im Augenblick edlen Wirkens von ihr träumt?

590


[105] [439]BUCHSTABENMENSCHEN nennt man die Gelehrten und Schriftsteller; sie betiteln sich wohl auch selbst so, wie unter andern Moses Mendelssohn, der es in seinem »Jerusalem« (obgleich dreifacher Buchstabenmann als Wolffischer Metaphysiker, Buchhalter [439] und Schriftsteller) recht klagend und beredt tat. Man glaubt wahrscheinlich damit viel gesagt, ihnen ihre Unbedeutsamkeit, Unwirksamkeit, Untätigkeit recht auffallend gezeigt zu haben. Aber sind denn diese sogenannten Buchstabenmenschen wirklich so unbedeutend, unwirksam und untätig in der Gesellschaft? Es gibt Männer im Staate, die dieses sehnlich wünschen, aber ihr Benehmen beweist, wie wenig sie daran glauben. Bürgerlich – als Stand, nach Vorteil, Gewinn und Ansehn betrachtet – mögen sie es in der Tat sein, und man sieht hier nur die gewöhnliche Dankbarkeit der Menschen, wie für alles, dessen Vorteil und Nutzen nicht mit Händen zu greifen ist. Und vergißt nicht jeder gern, daß er Schüler gewesen ist, daß er es noch ist? Wer aber ihre Wirksamkeit bezweifelt, der muß nicht denken, nicht gedacht, nicht beobachtet haben. Sie ist so rastlos als durchgreifend; und überall, wo Menschen wirklich regiert werden, erkennt man den Einfluß ihrer Herrschaft. Wem verdankt der Staatsmann, der Feldherr – beide mit ihrem ganzen Gefolge – und der Regent selbst, wenn er sich zum Lernen herabläßt, das, was sie alle praktisch anzuwenden suchen – die Ausbildung ihres Geistes, die ihrem Stande nötigen Kenntnisse –, als ebendiesen Buchstabenmännern, deren Geist durch den toten Buchstaben zu ihnen lebendig übergeht? Ihr Einfluß ist durch alle hohe[n] und niedere[n] Stände sicht-und fühlbar; und der Kleinste, der Ärmste teilt ihn mit dem Größten, dem Mächtigsten. Sind der Prediger, der den geplagten Bauer zur Geduld vermahnt, der Poet, welcher die Kirchenlieder für ihn reimte, woran sich die gute Einfalt erquickt (in denen sie ihren Trost findet und so die meistens unverschuldeten Leiden wenigstens auf Augenblicke vergißt und nun, mit neuer Hoffnung gestärkt, das harte Joch sanfter umwunden fühlt), nicht Buchstabenmänner? Und besteht die Schar der Dichter, die selbst die Aufgeklärtesten der drückenden Wirklichkeit, der eisernen Notwendigkeit durch den Zauber der Täuschung entführen, solange sie auf ihren Gesang horchen, nicht auch aus Buchstabenmännern? Und doch ist ihre Wirkung so mächtig, so bedeutend, daß sie der Staat zu gewissen Zeiten [440] erkaufen sollte, um die empörten, gedrückten Geister zu beruhigen, wenn Begeisterung sich erkaufen und politisch modeln ließe. Soll ich von den ernsten Wissenschaften im Ernste reden, von deren Einwirken alles abhängt, alles geleitet wird, was die Räder des Staats in zweckmäßige Bewegung setzt? Leset die Geschichte der Erfindungen und Entdeckungen! Denkt nach, was die Gesellschaft und der auf sie gebaute Staat war, als Unwissenheit herrschte! Und sind die Staatsleute nicht selbst Buchstabenmänner, von Buchstabenmännern gebildet? Wie oft möchte man ihnen wünschen, daß sie die Lehren ihrer Meister besser befolgten! Die Manuskripte dieser Herren, von dem Fürsten unterzeichnet, dem sie die Unterschrift so oft durch Täuschung ablocken, sind freilich von ganz anderer Wirkung, werfen ein ganz andres Honorarium ab; auch seufzt das Volk nur über diese Schreiberei. Und wer hört noch bei unsrer politischen Verfassung auf die Klagen des Volks über Gewalt und Unterdrückung, wer macht sie durch das Land erschallen als ebendiese Buchstabenmänner? Wer ahndet die Verletzung der Gerechtigkeit, der Menschheit? Wer sagt heutzutage den Fürsten und ihren weit gefährlichern Dienern die Wahrheit als sie? Wer sagt sie euch allen? Selbst der spekulative Philosoph, den ihr verlacht, den ihr für ganz unnütz haltet, zeigt euch wenigstens die Grenze eures Geistes und deutet auf den Punkt hin, über den ihr – zu eurer Ruhe – nicht schreiten sollt. Aber die schalen Köpfe, die Unberufenen, denen die Natur alles versagt hat und die uns unterrichten, unterhalten wollen? Zählt die Gescheiten unter euch und denkt, daß alles, was da schreibt, von dem Gewinn und Vorteil nichts fordert, nach denen ihr strebt. Und die Gefahr, womit kühne, vermessene Geister die gute alte Ordnung bedrohen? Das ist klar, und ich verstehe es. Freilich, wo Geister leben und tätig sind, da bedarf es des Geistes, sie zu leiten. Setze man indessen den Fall, daß alle diese Buchstabenmenschen auf einmal verstummten, alles unterginge, was sie je geschrieben haben. Es gibt Regenten oder Diener derselben, die gern einen Zaubrer zu diesem Endzweck dängen!

[441] Verachtet und hasset immer diese Buchstabenmenschen! Sie sind doch die Propheten des Volks, deren Ruf, deren Weissagung die Großen allein noch fürchten und achten und es dann am stärksten beweisen, wenn sie mit Haß und Verachtung von ihnen sprechen. Nur sie sind die Wächter der bedrohten Menschheit. Wer daran zweifelt, der schlage die Geschichte auf; er wird sehen und entdecken, was ohne diese Männer, ohne diese kühnen Waghälse, ja selbst ohne die Schwärmer und Toren unter ihnen aus der Welt geworden wäre, wie viele derselben Glück und Leben für die Menschheit aufgeopfert haben. Toren waren sie, das ist gewiß; aber dann nur, wenn sie auf den Dank derer rechneten, für die sie sich in Begeisterung aufopferten; und wahrscheinlich gehören auch einige Grane von Torheit dazu, um so etwas zu unternehmen. Denn ich vermute beinahe, die so gar klugen Männer würden Christus selbst nicht viel feiner betitelt haben, wenn sie ihn an das Kreuz hätten schlagen sehen. Wahrscheinlich würden sie bedauernd ausgerufen haben: »Was haben ihm nun seine Predigten, sein Vermahnen und Reden genutzt? Geht nicht sein ganzes vermeintes Wirken mit seinem schmählichen Tode zu Ende?« Die armen Schüler des für seine Lehren sich Opfernden, die sich in diesem Augenblick verbargen, hätten sie schwerlich ihrer Aufmerksamkeit wert gehalten. War etwa Christus in ihrem Sinn nicht ein Buchstabenmann? Zeigte er seine Tätigkeit anders als durch den Geist und die Worte des Geistes? Wenigstens ist in seiner Geschichte weder von Handarbeit noch sonstigem Geschäfte, wobei man gewinnt, die Rede. Und auch sein Geist lebt in einem Buche.

591


[442] [29]WER es noch nicht so weit gebracht hat, in seinem Innersten überzeugt zu sein, daß er in jeder Lage des Lebens – es drücke ihn das Unglück oder es locke ihn das Glück mit verführerischer Stimme – nichts Schlechtes, Niedriges begehen werde (es sei das erste zu vermeiden oder das zweite ohne allen Anschein von Gefahr zu erreichen und festzuhalten), der kann noch nicht von sich sagen, daß er auf seinem Charakter ruhe. Der Mann, der dieses von sich zu denken wagt, muß seinen Willen so fest an die moralische Notwendigkeit geknüpft fühlen, daß er den Einspruch und Aufruhr der besiegten Sklaven der Sinnlichkeit in seinem Innern nicht mehr für möglich hält. Die Welt selbst erträgt einen solchen Mann, wenn sie ihn auch nicht für das erkennt, was er aus sich geschaffen hat, vorausgesetzt, er sei weise genug, an andere nicht die selbe Forderung zu machen oder gegen sie die Macht ausüben zu wollen, die er über sich selbst ausübt.

592


[29] [226]WER von einem Manne auf einem bedeutenden, glänzenden, ehrenvollen Posten Würde oder überhaupt das fordert und erwartet, was dazu gehört, der erkundige sich vorher, durch welche Mittel, auf welchem Wege, in welcher Stellung der Mann dazu gekommen ist. Vermutet er etwa, daß sich die Seele des Mannes, der durch Staub, Kot und Pfützen zu dem Ziel gekrochen ist, nun an dem Ziel wiederum aufrichte oder sich rein und neu erschaffe? Wer bei bedeutenden Leuten was zu suchen hat, dem ist diese Vorkenntnis zu empfehlen.

593


ES gibt Fälle und Lagen, worin der Feigste kühn, keck und tapfer ist: Wenn er nämlich auf einem bedeutenden Platze steht und ein bescheidener, furchtsamer, von ihm ganz abhängiger Mann vor ihn tritt, dem er über etwas – mit Grund oder Ungrund – einen Vorwurf zu machen hat. Der erste Blick auf den Vortretenden ist entscheidend. Je länger und stärker jener den Schall seiner eigenen Stimme hört, je tapferer wird er. Er fängt [226] mit bitterm Vorwurf an und endigt mit Schimpfen; und so glaubt er seinen Mut gezeigt zu haben.

594


DA Regenten, Staatsleute und alle Personen überhaupt, die merklichen Einfluß auf den Gang der Welt haben, durch alle mögliche Bande der Seele und des Leibes gefesselt sind, ihre Freiheit ganz für den Rang und Posten, den sie behaupten oder dem sie vorstehen, hingeben müssen und nur noch durch die Meinung, die man von ihnen hat, glücklich sein können, so sollte das Volk so gescheit und politisch sein, sie, wenn sie nur erträglich gut sind, mit dieser Belohnung recht reichlich und aufrichtig zu befriedigen. Es kann sogar für das Volk von Nutzen sein, wenn es hierin etwas mehr tut, als ihm die Herren zuzeiten zu verdienen scheinen. Vielleicht wird einer oder der andere dadurch bewogen, sich freier, mit weniger Furcht und Rücksicht in seinen Fesseln zu bewegen.

595


[227] [41]OBGLEICH das Gefühl der Reue eines der vermischtesten ist, so ist es doch eins der nützlichsten in der moralischen Welt; es würde sogar ein sehr edles sein, wenn es nicht allzusehr aus geschehener Verletzung unsers gegenwärtigen oder zukünftigen Interesse[s], bis über diese Welt hinüber, entspränge; aber auch nur darum konnte es der moralischen Welt so nützlich und heilsam werden. Die Menschen finden nur in den Bekenntnissen und Klagen der Reuigen eine Rechtfertigung ihres moralischen und religiösen Glaubens; denn sähen sie hier allzu klar, fühlten sie zu deutlich, daß die meisten von dem Gewissen Geschreckten und Geplagten jetzt so egoistisch und leidenschaftlich ihre Taten bereuen, als sie dieselben einst vollzogen, so würde die Reue ohne alle moralische Wirkung auf sie sein. Der Priester zieht einen dunkeln Schleier davor; soll ihn der Menschenkenner [41] zerreißen? Laßt uns dem Oberherrn der Geister für die Stimme danken, die aus der fernen stillen Welt, als Warnung zu den Lebenden, aus den Geplagten zu rufen scheint. Hat er sie nicht durch das Gefühl ihres Selbsts und aus Liebe für dieses Selbst an ein dunkles Interesse geknüpft, welches spät oder früh alle andern Gefühle verfinstert, überlebt und dann am kräftigsten wirkt, wenn sie die Nichtigkeit alles Faßlichen empfinden? Der Zweifler wird sagen: Es ist das Werk der Erziehung und der Furcht. Aber warum mußte der Mensch so erzogen werden? Wer trieb ihn dazu an, sich so zu erziehen? Warum ruft eine Stimme dem Kühnsten aus seinem Innern zu, die er wider seinen Willen hört und hören muß, wenn auch alles um ihn her schweigt? Die Politik, die alle Empfindungen des Menschen benutzt hat, benutzte auch diese. Aber hätte die Politik eine Empfindung im Menschen erschaffen können, die nicht in ihm lag? Mißbrauchen kann sie jeder Mächtige; aber ebendiejenigen, die sie aus Politik mißbrauchen, handeln nur aus Empfindungen, die sie in ihrem eigenen Busen fühlen, deren Wirkung sie nun aus ebendem Grunde auf das Allgemeine, die Menge, berechnen, weil sie dieselbe in sich finden. O der Ohnmacht, die etwas anders aus dem Menschen zu machen glaubt, als er wirklich ist und sein sollte! Der so fest, so wunderbar dunkel bezeichnet auf die Erde geworfen ward, daß an ihm nichts deutlich ist als die Notwendigkeit alles dessen, was er ist!

596


[42] [400]MAN findet tausend Gelehrte oder kenntnisreiche Leute, bis man auf einen weisen Mann stößt. Nichts ist natürlicher: das erste kann man durch Lehrer, durch Bücher werden; aber die Weisheit muß man selbst aus eigner Kraft, durch wirkenden, zeugenden, nicht durch bloß empfangenden Geist erwerben. Darum wird auch nur sie unser wahrhaft rein erworbenes Eigentum, das keiner mit uns teilen kann, auf das wir gleichwohl nicht stolz sein dürfen, weil wir sonst noch nicht weise wären.

597


[400] [380]NACHDEM der Mensch einmal die erhabne Idee eines guten, allesregierenden und -erhaltenden Wesens gedacht hatte, so war in dem Augenblicke, da er mit dieser Idee seine physischen Qualen und moralischen Schwächen verglich, die Erfindung eines bösen Wesens, das in das Machwerk des guten pfuschte, das Natürlichste, Konsequenteste und Zweckmäßigste, worauf er fallen konnte. Sie half vollkommen aus, und der natürliche Sinn hat einen Knoten zerhauen, an dem die tief- und scharfdenkendsten Philosophen wohl ewig vergebens zerren und nagen werden. Ich glaube aber darum nicht, daß dieser natürliche Sinn aus Liebe und Verehrung zu dem Guten und für das gute Wesen auf diese Erfindung gefallen ist; ich denke vielmehr: Da er einmal seine physischen und moralischen Plagen diesem guten Wesen nicht zuschreiben wollte, so mochte er ebensowenig den Vorwurf der Schuld auf sich selber sitzen lassen. Auf diese Art war doch für alles gesorgt, und der Mensch bewies auch hier, daß er nicht umsonst Verstand hat. Nur das schärfere, ernstere Nachdenken über das, was aus dieser so natürlichen Erfindung fließen muß, führt auf sonderbare Schlüsse.

598


[380] [131]NUR Verlangen und Streben regt unsre Kräfte auf, macht uns im Gefühl derselben glücklich, schützt uns vor der Leerheit des Herzens und Geistes und bewahrt uns vor dem moralischen Tode, dem Schrecklichsten, was einem Wesen widerfahren kann, das sich einmal durch den Geist wahrhaft gedacht und empfunden hat. Darum sind die meisten Fürsten, für die alles da ist oder da zu sein scheint, die unglücklichsten Wesen, wenn sie sich nicht durch das wichtige, ihnen aufgetragne Amt und die Erfüllung der daraus fließenden Pflichten vor dieser erstarrenden Leerheit und dem daraus entstehenden moralischen Tode schützen. So leben sie nicht nur, sie fühlen auch das Leben, erwerben sich sogar, was das schwerste für sie zu erwerben und zu erhalten ist: die Freiheit, deren so wenige Herrscher genießen, ob sie sie gleich alle in der Einbildung zu genießen glauben, weil die sie Umgebenden sie mächtige, allesvermögende Herren nennen.

599


[131] [52]AUF die Furcht vor dem Tode ist das Leben gegründet. Wie würde es sonst der Mensch in der bürgerlichen, politischen Welt, auch in der schlimmsten Lage, sogar unter der scheußlichsten Tyrannei ertragen? Aber was für eine hinaufgeschraubte Erkünstelung gehörte auch dazu, um den Stolz, die Eitelkeit, die Ruhmbegierde, das Interesse so zu entwickeln und aufzublasen, [52] daß der Mensch ebendieses Leben zu Markte trägt oder es sich langsam abmartern läßt? Und was für eine hohe Ausbildung des Geistes gehörte wieder dazu, daß der Mensch ebendieses Leben – aus Edelmut für seinesgleichen oder um der Tugend willen – aufopfert und so des stärksten, gewaltigsten Gesetzes der Natur nicht achtet?

600


[53] [30]ICH werde mit den Philosophen von Rousseaus Geistesart alle moralischen Übel und alle Laster, womit sich die Menschen besudeln, der Gesellschaft allein zuschreiben, wenn ich keine Tugend oder den Schein davon nicht mehr sehen werde. Hat sie diese Laster und Erbärmlichkeiten hervorgebracht, worüber die Edeln sich beklagen, so hat sie auch die Tugenden entwickelt, und selbst diese Edeln verdanken ihr die ihrigen, nebst dem Bewußtsein und dem Wert derselben.

601


WENN nach Hobbes das Grundgesetz des Naturrechts offner Krieg gegen alle ist, so ist der heimliche, listige Krieg es nicht weniger in der ausgebildeten bürgerlichen Gesellschaft. Vermutlich macht ebendieser Krieg und die Beute, die man durch ihn macht oder doch zu machen hofft, den Menschen recht fähig und geschickt zu dieser Gesellschaft, und hier ist wenigstens kein ewiger Friede zu erwarten.

602


[30] [42]DER Heuchler freut sich nur der Augen als eines vortrefflichen Geschenks der Natur, wenn er vor einem von ihm Betrogenen und zu seinen Absichten Gewonnenen steht. Sobald er aber vor einen Mann tritt, der klar sieht und ihn durchdringt, fühlt er, daß sie das Lästigste sind, was ihm die Natur gegeben hat. So beweist er nun wider seinen Willen, daß etwas in dem Menschen sitzt, das außer seiner Gewalt, das stärker als er selbst, ja stärker als die Heuchelei ist, das er zwar verfinstern, unterdrücken, aber nicht ermorden kann, das, wenn er auch glaubt, es vertilgt zu [42] haben, aus jeder schlechten Tat lebendig wieder aufersteht. Es ist darum wohl möglich, daß ein rechtschaffener Mann an dem Dasein seiner Seele zweifeln kann, weil sie ihn nicht erschüttert und quält; wie es aber ein Schurke, ein Bösewicht vermag, der sie so gewaltsam zwingt, ihn an ihr Dasein peinlich zu erinnern, das begreife ich nicht.

603


DIE reine Rechtschaffenheit bei einem welterfahrnen Manne (eine seltene Zusammenkunft!) ist eine so starke Waffe gegen List und Betrug, daß ich beinahe sagen möchte: Sie ist noch nicht ganz rein, wenn sie überlistet, betrogen und durch Vorspiegelungen zu zweideutigen Dingen gelockt werden kann. Ich denke, sie stellt einen so hellen Spiegel in unserm Innern auf, daß der rein Rechtschaffene den giftigen Hauch des listigen Verführers auf der Fläche dieses Spiegels in dem Augenblick fühlt, als ihn dieser anatmet, das heißt: seinen Antrag mit Kunst zu seinem tief versteckten Zwecke darlegt.

604


[43] [308]NICHTS ist mir begreiflicher, als daß junge Leute, Schwärmer, Enthusiasten, Neuerer, Welt- und Menschenverbesserer dem welterfahrnen Manne und Menschenkenner lästig sind, daß sie ihm sogar in ihrem Eifer widrig und ekelhaft werden. Sie beleidigen seinen hellen Verstand nicht allein, sie verwunden auch sein Herz, weil sie ihm durch ihre Blüte, ihre Hoffnung, ihren [308] Glauben und ihren Mut zu lebendig und kräftig zeigen, auf wessen Kosten er so kenntnisreich geworden ist. Wenn aber ein Mann dieser Art solche Leute zum Gegenstand seines Zeitvertreibs, Hohns und Spottes macht, so kann man von ihm sagen: Der Menschenkenner und welterfahrne Mann wußte und weiß, zu welchem Zweck er die kostbaren Auslagen gemacht hat, macht und machen wollte.

605


IN der Art, wie man zu Welterfahrung und Menschenkenntnis gekommen ist, liegt ein Unterschied von wichtigem, moralischem Belang. Es gibt Leute, die sich dieses ganz bestimmt zum Hauptstudium machen, alle Gelegenheiten dazu aufsuchen und sich zur Bereicherung ihrer Kenntnisse zweckmäßig auf das Ausspähen legen. Andern wird Welterfahrung und Menschenkenntnis durch Lage und Umstände aufgedrungen, und sie nehmen sie auf als Mittel, das geschickt zu bewirken, was ihnen als Pflicht aufgetragen ist und was sie als Pflicht erkennen. So entstehen die Klugen und die Weisen; zur Bezeichnung der letztern ist nichts hinzuzusetzen, weil der Begriff nichts Zweideutiges mit sich führt.

606


[309] [131]WENN wir auch durch die uns aufgelegte Notwendigkeit zu einem uns nicht ganz klaren Zweck Sklaven des Oberherrn der Geister sind, so hat er doch die Ketten sanft umwunden und sie so hoch befestigt, daß unser Auge sie nicht erreicht. Warum folgen gewisse Männer, welche sich seine von ihm über uns eingesetzte Stellvertreter auf Erden nennen, nicht diesem Beispiel? Nicht zufrieden, ihren Untertanen das schwere Joch unumwunden auf den Nacken zu legen, malen sie es noch dazu den darunter Keuchenden vor die Augen.

607


[131] [141]ES gibt doch einen Fall, wo selbst der weitgetriebenste, der abgezogenste, der sich von allem trennende Egoismus löblich und rühmlich sein kann: wenn nämlich ein Regent oder Minister das Abstraktum Staat so zum Mittelpunkt seines Daseins macht, daß sich all sein Wirken, Denken, Tun und Fühlen ohne alle ändern Rücksichten, ohne Vorliebe nur auf den Staat bezieht und einschränkt. So verschlingt ein edler Egoismus den gemeinen, persönlichen; und selbst dieser fährt gut dabei, da er das Höchste erreicht, was der Mensch erlangen kann. Mag er sich dann mit dem ersten verschmelzen, die Ausbeute wird immer herrlich sein. Aber welch' ein Mann gehört dazu! Und wenn der seltne Mann aufträte, wie würde er beurteilt! Auf Beifall oder eine Lobschrift wenigstens muß ein solcher Mann nicht rechnen. Vermutlich hat uns auch darum die Geschichte nur Versuche dieser Art aufzuweisen.

608


[141] [227]UM den moralischen Wert und Gehalt eines Mannes auf einem bedeutenden Posten oder eines Hofmanns, den der Fürst vorzüglich begünstiget, zu prüfen und ihm zugleich das Horoskop zu stellen, trage man ihm nur, in dem Augenblick, wo er schon fest zu stehen glaubt, die Intrigen, Kabalen zu, die gegen ihn im Werke sind. Man vergesse aber nicht, die Hoffnungen, die Mutmaßungen und Meinungen hinzuzufügen, worauf sich diese Intrigen und Kabalen gründen. Da sie aus dem Glauben fließen, den man von seinem Charakter, seinem Mute, seiner Schwäche, seinem moralischen Werte überhaupt hat, so hält man ihm plötzlich einen Spiegel vor, in den er nun überrascht auch wider Willen blicken muß. Mienen, Gebärden, Entschuldigen, Klagen, Beteuern, Erröten, Erbleichen, Verstummen werden dem Beobachter nicht allein zeigen, wie wahr oder falsch die Mutmaßungen und die Meinungen über den Mann sind; er wird auch seine geheimste Schwäche, das Maß seines Muts ausfinden, [227] noch mehr: Er wird durch die Mittel, womit er seine Feinde zu bekämpfen denkt (von ihm laut angegeben oder ihm abgelauscht), entdecken, wie und ob er sich erhalten wird – kurz: was er moralisch und politisch wert ist. Ich spreche hier nur von den zweideutigen Männern dieser Art – der rechte Mann fällt so schwer in die Waagschale des ihn so Prüfenden, daß das Gewicht diesen niederdrückt, wenn er mit bösen Absichten vor ihn tritt.

609


EIN Menschenkenner und Welterfahrner, der auf einem wichtigen Posten steht, sollte, wenn er auch so unglücklich wäre, nicht an die Tugend der Menschen zu glauben, doch immer so reden und handeln, als glaube er an sie. So wird es ihm sogar gelingen, in ändern Tugenden zu erwecken, die ihm und dem Staate nützlich sind, vielleicht gar den in seinem Herzen erstorbenen Glauben an die Möglichkeit der Tugend wieder zu beleben.

610


WIE viele Staatsleute sind herzlich froh und fühlen sich von einer großen Bürde erleichtert, wenn sie durch Beispiele zeigen können oder von andern, klugen, erfahrnen Leuten laut hören: die Menschen seien, klein und groß, ein niedriges Gesindel, das nur aus Interesse und Egoismus handle, die Tugend selbst sei nur Gleisnerei oder Auszeichnung aus Stolz und besonderem Ehrgeiz usw. Diese Maximen hört man nirgends mehr als in Gesellschaft solcher Herren; und am Hofe ist es jedem bekannt, warum sie dieselben so gern predigen. Man weiß ja, was ein solcher Glaube auf die Fürsten wirkt und was die Lehrer darauf bauen.

611


[228] [30]ALS ich das erstemal einen Luftschiffer sich erheben, dann in den hohen leeren Lüften schweben sah und ihm nun im Geiste nachfolgte, dachte ich plötzlich an die tiefe Stille, die den unruhigen, lärmenden, nun von der Erde getrennten und in diesem ungeheuern, leerscheinenden Luftmeer allein und verloren schwimmenden Erdensohn empfängt. Dieses Schweigen muß so schaudernd, ängstlich und dann freudig erhaben sein, daß ein solcher Mann, wenn er anders gewisser Empfindungen fähig wäre, wirklich das Vorgefühl der Trennung vom Leibe in all der Erhabenheit empfinden muß, die wir in der glücklichsten Begeisterung künftiger Hoffnung träumend ahnden.

612


»GROSSE Stadt – Große Einsamkeit!« – ein Spruch, von dessen Wahrheit jeder Welt- und Menschenkenner am Ende überzeugt wird. Die Erfahrungen an Welt und Menschen lösen nach [30] und nach alle Verbindungen, die das Herz zur Zeit der noch blühenden Hoffnung und des seligen Glaubens gemacht hat, so auf, daß mancher nur noch durch das Band der Pflichten in der allgemeinen Verkettung gehalten wird. Löst er nun auch diese, so kann er sich immer schon im Grabe ansehen, wenn er weiter nichts in die Einsamkeit gebracht hat als diese Welterfahrung, diese Menschenkenntnis. Der Edle und Weise lebt dann in der Rückerinnerung seiner Taten und in dem grenzenlosen, unzerstörbaren, immer blühenden Reiche der Geister. Er tritt nur aus dem düstern, wilden Gewühl des Lebens in die stillen, sanft erleuchteten Gärten der Hesperiden. Laß nun folgen, was da will, das Fortdauern nach diesem Leben hat er schon erobert und genossen.

613


[31] [206]VON dem Wert der Dichtkunst im edlen Sinn weiß ich jetzt nichts Höheres zu sagen, als daß ein Dichter dieses Sinns nie altert, daß seines Lebens Blüte nie verwelkt; ja selbst der welterfahrne Mann verjüngt sich durch sie wieder bei dem Zurückzuge von dem geräuschvollen Schauplatz und findet in ihrem Kreise den verlornen Faden des Lebens wieder, an dem er es betrat, vorausgesetzt, daß er etwas von dem gerettet hat, was uns beim Eintritt in das Leben leitet. Auch kann der Dichter [206] nur dieses Wunder wirken, weil die Gefährten, auf die ich hier deute, ihn allein nie verlassen haben. So starb der edle Klopstock im Alter des Greises als Jüngling. Eine Freundin, Rußlands Alexander waren seine letzten Gedanken. Mir reifen diese Blüten, die er im Geiste sah, zur Frucht; und so sei einst mein letztes Wort und meine Grabschrift: »Ich habe zu Alexanders Zeit gelebt!«

614


[207] [194]WENN dem Listigen, Ränkevollen, dem Intriganten ein rechter politischer Streich gelingt, so setzt er sich im stillen hin und sagt sich und seinem Verstande so viele Schmeicheleien vor, bis der flatternde Schimmer der Eitelkeit seine Augen so verblendet, daß selbst die Schlechtigkeit und Feigheit seines Herzens, aus denen diese Streiche entspringen, davon übertüncht werden. Ganz in sich selbst zurückgezogen, feiert er in Selbstzufriedenheit über seine Klugheit den gelungenen Sieg und ermuntert sich zu neuen. Der Mann, der durch Mut und Wahrheit einen Sieg erfochten, wandelt rasch und ernst von dem Schauplatze weg; sein Herz ist ausgedehnt, vor seinem Geiste schweben erhabne Bilder, mit einem einzigen seelenvollen Blick sendet er der dämmernden Ferne die Tat zu und steht noch fester auf dem Schwerpunkte, den er in seinem tiefen Innern gefunden hat.

615


[194] [391]DER Priester verlangt, man soll den Kultus Religion nennen; der Staatsmann gewisser Art fordert, man soll seine politischen Streiche und Kniffe Regierungskunst betiteln; beiden ist es gelungen. Ihre einzige Klage ist nur: daß es noch Ketzer gibt! Ohne dieses würden sie uns auf das klarste beweisen, daß die geträumte goldne Zeit keine Fabel ist.

616


[391] [380]DIE Philosophen, welche die Religion auf die Vernunft gründen wollen, vergessen nur den kleinen Umstand: daß sie das dann [380] zerstören würden oder müßten, woraus jene eigentlich entspringt: die Einbildungskraft. Vielleicht vergessen sie auch dabei, daß der Mensch sich nur durch den religiösen Sinn von allen geschaffenen Wesen unterscheidet, daß er durch diesen Sinn nur das aus sich entwickeln konnte, was er aus sich entwickelt hat; sie vergessen vielleicht sogar, daß ohne diesen Sinn von der Philosophie selbst nie die Rede unter Menschen gewesen wäre.

617


[381] [484]EINIGE unsrer jetzt lebenden ersten Dichter sind so erhaben groß, daß sie gar keinen Sinn mehr für das Wirkliche und für das wahrhaft Große im Menschen zu haben scheinen. Durch ihre schwülstig-sophistischen Theorien, in welchen sie uns nun schon ihre bloß aus dem Reiche der Phantasie zusammengesetzten Darstellungen als die einzigen wahrhaft dichterischen aufstellen, beweisen sie uns sogar logisch, daß sie gar keine Achtung mehr für die wirklich politische Größe des Menschen haben. Diese Theorien scheinen, wie die Werke dieser Dichter, den Genuß, das Heil und Glück, die einzige Möglichkeit, recht zu existieren, allein in ein mystisches, phantastisches, geheimnisvolles, dunkles Gefühl zu setzen, vor dem der Verstand zum Narren oder Sklaven werden oder doch wenigstens anerkennen soll, er sei das Lästigste und Plagendste, was dem Menschen gegeben worden. Man möchte sagen, diese Dichter strebten vorsätzlich darnach, dem Menschen die wahre Ansicht der Dinge und des Lebens recht zum Ekel zu machen, für immer die Kraft in ihm zu ersticken, womit er seinen politischen Zustand erkennen, veredeln und das diesem Widerstrebende bekämpfen kann. Der Geist Jakob Böhm[e]s und die Geister der Verfasser der Legenden ragen aus den düstern Darstellungen einiger dieser großen Dichter so hervor, daß man gezwungen ist, zu denken, sie hielten die Verfinsterung des Verstandes und den ihr verbrüderten Despotismus für die moralische Seligkeit des Menschen und die wahren Quellen der dichterischen Begeisterung. So möchte dann wohl ein gewisser paradoxer Kopf recht haben, wenn er sagt, der Despotismus, die Unterwerfung unter dunkle, alle Geisteskraft zermalmende Gewalten, die nur der Einbildungskraft Tätigkeit verstatten und nur den Genuß erträumter Größe erlauben, seien die wahren Schöpfer der Dichtkunst. Aber sind wir Deutschen in dieser Lage? Und sind wir es gar nicht wert, daß man auf unsre moralische Kraft, auf unsern politischen Charakter bestimmt hinarbeite? Ist gar keine Hoffnung da, daß dieser sich [484] auch jetzt auf unserm Boden kräftiger entwickle, da er doch auf ebendiesem Boden in dem rohen Zustande unsrer Vorfahren da war? Und sind Gespenster von Schicksal, Zufall, Mystizismus, Aberglauben und Orakel nebst allen den scheußlichen Schrecklarven, durch die man jetzt das Erhabne und Rührende hervorzuzaubern sucht, der Zeit gemäß, in der wir leben? Sind sie wirklich der einzige Stoff der Dichtkunst? Oder ist das Menschenwesen überhaupt einer Art von Auflösung nah, daß unsre Dichter wie finstre Wahrsager unser Elend im voraus beheulen und uns auf das nahe gewaltige Zermalmen des Schicksals vorbereiten? Der Fragen ließen sich noch viele machen; aber entweder sind unsre Dichter des Publikums nicht wert, oder das Publikum ist ihrer nicht wert. Wie es sei, ich bin überzeugt, daß, wenn Sophokles heute erschiene, er würde in dem Geist und Wesen der Menschen dichten, die jetzo leben; denn so erhaben auch seine Dichtungen sind, so fest und kräftig sind sie auch auf den Geist und das Wesen der Menschen seiner Zeit gegründet. Sollte hier, bei einer feurigen Einbildungskraft, nicht Nervenschwäche zum Grunde liegen? Wer für das wirkliche Leben keine Kraft fühlt oder davor erschrickt, der träumt sich zum Helden in dem Lande der Phantasie, um doch auch eine Rolle, und zwar ohne Gefahr, zu spielen. Und damit auch wir ihn für einen Helden halten mögen, sucht er uns die Wirklichkeit erbärmlich zu machen. Haben die uns unbekannten Dichter zu Platos Zeiten so gedichtet, so finde ich wahrlich die Verbannung derselben aus seiner Republik so weise als dem gemeinen Wesen nützlich.

618


[485] [31]WAHRHAFTE Tugend, auf die der Besitzer und andre zählen können, bildet sich allein in dem Herzen und Verstande des Mannes zu einem klaren Ganzen aus, dessen Geist feste, selbstgedachte und selbsterworbene Ideen über Welt, Regierung, Menschenwesen überhaupt hervorgebracht und sich dieselben zur Richtschnur seines Denkens und Lebens gemacht hat. Die Herzen der andern fühlen nur Temperamentstugenden, die sich nur dann zeigen, wenn sie von außen her berührt oder erschüttert werden: Da sie also bloß der Zufall hervorbringt, so haben sie auch den Wert desselben.

619


AUCH im bürgerlichen, politischen, moralischen Leben gibt es Mönche; ich meine diejenigen, welche wegen der Unbequemlichkeiten, Prüfungen und Gefahren, die die Tätigkeit veranlaßt, das tun, was die Mönche aus Furcht vor den Versuchungen des Teufels tun: fliehen. Wenn diese den Leib durch Kasteiungen zu schwächen suchen, so schläfern jene wirklich durch das Opium der Klugheit die tätige Kraft des Geistes ein und glauben ihrem moralischen Beruf genuggetan zu haben. Diese Leute dürfen [31] nun zwar von ihren guten, stillen Eigenschaften reden, von ihrer Bescheidenheit, ihrer Entsagung, Enthaltsamkeit, ihrem Gefallen an der Beschränktheit, ihrer Uneigennützigkeit, Gutmütigkeit, ihrer Verachtung der Herrschsucht und des Ehrgeizes, ja sogar von ihrer Ruhe und dem daraus entspringenden Glück; aber nur nicht von der Tugend – und das ebensowenig als der Soldat, der seine Feigheit damit entschuldigen wollte, daß er gar keine Ruhmbegierde fühlt.

620


[32] [429]AUCH ich habe den Seneca gelesen! Wenn ich aber sagte, zu welcher Zeit, unter welchen Umständen, so würde ich auch [429] gesagt haben, wozu Seneca und seine Philosophie oder die allgesamte stoische Philosophie, der moralische Aszetismus überhaupt, nebst dem mit ihm verwandten religiösen Aszetismus zu gebrauchen sei; ich würde sagen: uns nützt; aber Nützen ist nicht das Wort – eine solche Philosophie und ein solcher Aszetismus rüsten uns ja nur zur Benutzung für andre aus.

621


[430] [485]NUR der Schwache, Feige, der Nichtdenker und der Charakterlose können sich mit den Wörtern Schicksal, Zufall trösten und über die blinde Wirkung dieser unsichtbaren Gespenster seufzen. Der Mann von Kraft, Charakter, der aus selbstgeschaffenen Grundsätzen handelt, verstattet keinem Luftbilde, keiner Macht außer ihm Gewalt über sich. Er handelt aus sich selbst; er weiß, [485] daß er das Schicksal in sich beherrscht, weil er den Keim zu allem, was ihm widerfahren mag, in sich selbst gelegt, entwickelt und durch Tat zum Aufschießen getrieben hat. So sieht er sich als Schöpfer der Ereignisse an, die ihm von andern zugespielt werden, und führt folglich ein jedes gerade auf den wahren Grund zurück, aus dem er selbst vermöge seines Charakters und seiner Kraft handelte und handeln mußte. Was er nun so übersieht, dessen Herr und Meister wird er auch in seinem Innern. Wer sich also im bürgerlichen Leben so zeigt und es kennt, weiß voraus, was ihn erwartet. Braucht's da des Zufalls und des Schicksals, wo Menschen so handgreiflich menschlich handeln? Hier waltet eine Notwendigkeit durch die Bildung des menschlichen Herzens, die Stimmung, Verstimmung und Verkünstlung des menschlichen Geistes, die ebenso gewaltig und unüberwindlich ist als die, welche wir die physische nennen, um sie von der moralisch genannten zu unterscheiden, da wir sie doch einmal – so vermischt sie auch durcheinanderlaufen – voneinander trennen müssen, wenn wir unsern Wert gegen den Wert anderer abwägen wollen.

Der Mann nun von Charakter, welcher nach Pflichten handelt, nur die ernste, strenge Gerechtigkeit als seine einzige Wegweiserin erkennt, beweist wenigstens, wenn er sich noch über das Schicksal beklagt, daß er nicht so konsequent denkt, als er handelt. Dieses ist der Hauptgrund, warum mir die jetzt so dichterisch ausgeschmückten Phantome mißfallen, unter welchem Namen sie uns auch, um Resignation zu befördern und die Leser und Zuhörer zu zerknirschen, vorgeführt werden mögen. Kraft und Tätigkeit erwecken, den Sinn aufhellen, um das Notwendige, was aus der Natur des Menschen entspringt, recht zu erkennen, mutig zu ertragen und, soviel es uns verstattet wird, zum Zweckmäßigen zu leiten, das nur nenn' ich als Mann für Menschen arbeiten.

622


[486] [338]DAS Glück scheint in der Welt nur seine recht getreuen Anhänger zu begünstigen; ich meine hiermit diejenigen, die es als ihre einzige Gottheit aufstellen und verehren, ihm im Diensteifer alles das aufopfern, was andre und höhere Gottheiten von ihnen fordern, die folglich nur in Rücksicht auf seine Gunst nach außen wirken. Männer, die höhere Gottheiten anerkennen, die um edlerer Zwecke willen nach außen wirken, will es nur auf die Probe setzen oder ihre Feinde zu feuriger Jagd gegen sie reizen, wenn es ihnen etwas von seinen trugvollen Gaben zuwirft. Wer von dieser Art nun in dieser Lage die Tücke des Glücks als Anerkennung und Belohnung seines Werts annimmt und ihm traut, den werden die aufgeregten Jäger bald aus seinem Traume aufwecken.

623


[338] [442]WENN die neue Philosophie der Franzosen, wie man ihr nachsagt, das Herz verdarb, so trocknet es die neueste der Deutschen ganz auf. Die Philosophen der Franzosen las die ganze gebildete Welt: was uns Deutsche aber über die Folgen der neuesten Philosophie des Vaterlandes trösten kann, ist, daß sie nur Werk der Schule ist und bleiben wird.

624


[442] [69]EREIGNET sich eine Weltbegebenheit, die gefährlich aussieht, aus welcher bedeutende Folgen für Menschen, Regierungen und besondere Stände entspringen können oder die überhaupt die Ruhe und gegenwärtige Lage bedroht, so kann man, ist in Gesellschaft davon die Rede, ohne viele Anstrengung eine ziemlich sichere Charakteristik oder einen Tarif des Muts und des moralisch-politischen Werts der Anwesenden in seinem Geist entwerfen. Alle, die am Menschenwesen nur in Beziehung auf sich selbst Anteil nehmen, alle, die sich im Stande der Ruhe mit ihrem Selbst und den Geschäften für dasselbe so wohl befinden und diese Geschäfte alsdann am besten treiben, wenn die andern in Ruhe sind oder sich darin glauben, sprechen dann so klug, weise, bedauernd und menschenfreundlich, daß ein Unerfahrner wirklich davon erbaut werden mag. Diejenigen, welche von den schon wirklichen oder nur zu erwartenden Scheußlichkeiten [69] am meisten empört scheinen und recht grimmig gegen die frevelnden, gottlosen, herrschsüchtigen Urheber und Ruhestörer losziehen, beweisen, was sie in ihrem Stande gefunden haben und wozu sie ihn gebrauchen. Von den Ursachen zu solchen Bewegungen ist unter solchen Menschen nie die Rede, mögen sie sich auch noch so klar und stark den Sinnen darstellen. Keiner richtet, jeder verdammt, alles ist nur Partei. Der denkende Mann allein, den jede Weltbegebenheit um des Ganzen willen interessiert, der auch in die verborgnen Ursachen eindringt, die Folgen aller im Geiste berechnet und sich dabei immer sagt: »Auch hieraus wird etwas hervorgehen, was die Menschen nicht erwarten, worauf die gar nicht rechnen, die es betreiben«, wird unter den weisen, stillen, klugen, tugendhaften Leuten als gefährlicher Neuerer, als Schwärmer, Tollkühner, Bösewicht stehen, wenn er so wahr oder unvorsichtig ist, mit seinen Gedanken laut zu werden. Es würde ihm nichts helfen, wenn er noch so klar bewiese, daß, so wünschenswert für die einzelnen eine immer und überall herrschende Ruhe sei, so nachteilig sei die zu lange Dauer derselben für das Allgemeine und für den Zweck, den wir zu bearbeiten haben. Es wird ihm sogar nichts helfen, wenn er auch den tiefsten Kummer darüber ausdrückt, daß die Menschen gewöhnlich nur durch so schlimme und gefahrvolle Mittel zu gewissen ihnen heilsamen Zwecken gelangen; denn man wird immer sagen: »Wer den Zweck will und so bestimmt angibt, der billigt auch die Mittel.« Stellt er nun gar die schwarzen und stupiden Geister (denn jeder schwarze oder schlechte Geist ist stupid, weil nichts stupider macht als beschränkte politische Begriffe, aus Interesse entsprungen) als die Ursachen auf, welche die vorhandne Weltbegebenheit erzwangen und den andern die Möglichkeit, sie hervorzubringen, zuspielten, so kann er noch obendrein eine Apologie der geist- und weltlichen Tyrannei, der allerverkehrtesten und zwecklosesten Politik ebendieser schwarzen und stupiden Geister hören. Handelten sie nicht aus ebendem Bewegungsgrunde, aus welchem die Anwesenden urteilen? Wird zum Beispiel jetzt von dem Aufruhr in Irland gesprochen, [70] so sage man nur: »Der Grund aller dieser scheußlichen Mordszenen ist die gehässige Intoleranz der hohen Kirche, die engste Kaufmanns- und Ämterpolitik; der Irländer will ja nur Bürger in seinem Vaterlande sein, Gott nach seinem Gewissen dienen und der gewöhnlichen Rechte und Vorteile des Bürgers für die Lasten genießen, die er als Bürger, gleich den andern, tragen muß«; horche dann auf die klugen, weisen, tugendhaften Männer und denke dabei, daß wir nach dem prüfungsvollen achtzehnten Jahrhundert leben. Gibt es keine Wahrheit für den Menschen, wahrlich, so nützen ihm auch weder Prüfungen noch Beispiele. Und will man uns trotz allem dem in unserm aufgeklärten Zeitalter die Humanität oder die Menschheit überhaupt in einer Bildsäule zur Beschauung aufstellen, so vergesse man doch ja nicht, sie in Trauerflor einzuhüllen.

625(a)


[71] [120]WER daran zweifelt, daß die unverständige Menge im Grunde in den sogenannten polizierten und kultivierten Staaten wirklich herrscht, der bemerke nur, wie der allesvermögendste, der kühnste, mächtigste, verehrteste, ja der beste und weiseste Regent gezwungen ist, der Opinion ebendieser unverständigen Menge zu huldigen und ihr oft durch Unterlassung des Besten und ihr Nützlichsten Opfer bringen muß, worüber der Genius der Menschheit weinen könnte, wenn er noch Tränen übrig hätte.

Aber ist nicht ebendiese Opinion die Kette, welche die Menschen zu ihrem Vorteil gemeinschaftlich schmieden, um die Übermütigen, die Frechen und Vermessenen zu fesseln? Legen sie nicht auch hier einen Grund zu ihrer Erhaltung und ihrem Zusammenhalten, ohne zu ahnden, welches wichtige Geschäft sie treiben? Was würde aus den Kleinen, den Schwachen werden, wenn die sie Leitenden, Beherrschenden und Richtenden dieses einzige unbestechliche Gericht nicht fürchteten, das nirgends sichtbar ist, ohne Form und Verhör urteilt und dessen Sprüche gleichwohl in allen Straßen erschallen, in die Schlösser, Paläste, Prachtwohnungen, Tribunäle dringen und durch Verstand und Unsinn, Wahrheit und Lüge, kluge Worte und Zungenträtschereien immer an Dinge erinnern, an die man in Schlössern, Palästen, Prachtwohnungen und Tribunälen, durch Gewohnheit und vermeinte Sicherheit eingeschläfert, selten denken würde? So wägt sich immer eins gegen das andre ab. – Versuche man es nur und ziehe einen Stein, den man für ganz überflüssig hält, aus dem wunderbaren künstlichen Gebäude der vor uns lebenden [120] und wirkenden Gesellschaft, und man wird plötzlich überzeugt werden, daß auch er, so wenig er es schien, ein Grundstein war. Und wer hier zürnt, der zürnt der Notwendigkeit, welcher sich nur derjenige entzieht, der sich aus eigner Kraft zum Wesen ausgebildet hat und das Gesetz der Notwendigkeit für das Ganze anerkennt.

625 b


[121] [343]SOLLTE (außer dem wichtigen Umstande, daß nur noch in England die Regierung nicht militärisch ist und so den Geist in eine politische Form drückt und zwängt) nicht auch dieses eine Ursache sein, warum die Engländer ihre Gewohnheiten, Sitten, Gebräuche, Charakter und Sinnesart so festhalten: daß sie an der Erziehung so wenig künsteln oder verkünsteln, daß sie keine Basedows, Campen und wie sie heute alle heißen mögen, haben, die die Kinder zu moralischen Schwätzern machen und ebendie Kraft einschläfern, die den Mann machen und beleben soll.

626


[343] [413]DER gemeinste Mensch wird oft im Fieber, bei Nervenreiz, in Träumen zum größten schaffenden, dichterischen Genie, sieht, denkt, spricht Dinge im Geiste, übt Talente in der Phantasie aus, wovon er im gesunden Zustande nie Ahndung hatte. Er steht dann so hoch über seinem vorigen Sein, daß er das Bewußtsein [413] seines alten Ichs gleichsam ganz verliert und in dem Spiel der Phantasien sich selbst nicht mehr herausfinden kann. Diese Schöpfungskraft verschwindet oft gleich einem wunderbaren Zauber, ohne eine Spur im Geiste zurückzulassen, sobald der sie erregende Reiz gestillt ist. Wenn nun auch alles dieses bloß durch das Physische bewirkt würde, so muß es uns doch wenigstens nachsichtig gegen die schönen platonischen Träume und die Schwärmereien wachender hochgespannter Philosophen machen.

627


[414] [298]WENN man von einem tätigen, kräftig wirkenden Manne eben nichts Böses und Nachteiliges zu sagen weiß und aus Scham den Zweck seines Handelns nicht laut zu tadeln wagt, so sagt man wenigstens: »Der Mann kennt die Menschen nicht!« Könnte man nicht ebensooft von einem solchen Manne sagen: »Er kennt wohl die Menschen, aber er fürchtet sie nicht!« Die Allesausgleichenden und -versöhnenden (esprits conciliateurs), die Ruhe, Stille und Gemächlichkeit Liebenden, die Egoisten, die Menschenverächter und die Feigen in der Moral überhaupt setzen gewöhnlich zu obigem Spruch noch die tröstenden Worte: »Es hilft doch zu nichts! Die Menschen und die Welt werden nie anders, nie besser!« usw. Sie glauben so dem Menschengeschlechte den Prozeß zu machen und die Klage gegen sich von ihrem innern Richterstuhl abzuweisen; aber wenn sie etwas wundern könnte, so[298] müßte es dieses sein: daß es trotz solchen Sprüchen, die wahrscheinlich so alt sind als das Menschengeschlecht in der Gesellschaft, doch noch immer solche sonderbare Männer gibt und geben wird.

628


[299] [32]ES gibt einen gewissen Haß, den nur edle Gemüter verdienen können. Eigennützige, sinnliche und rohe Menschen stoßen einen Mann von solchem Gemüt, den sie mit diesem Haß beehren, gewaltsam in die höhere Geisterwelt und erklären dadurch laut, er sei nicht von ihrem Geschlecht, gehöre nicht unter sie. Von ihrem Haß verblendet, der noch giftiger wird, da er auf einen solchen Mann nicht wirkt, ahnden sie nicht einmal, daß er von dem Augenblick an außer ihrer Macht ist, da sie ihn durch ebendiesen Haß in jene höhere Sphäre noch mehr emporgehoben haben.

629


[32] [53]ALS Sklave seines Geschlechts leben und sterben, ist das Los des Menschen. Wie wenige unter den Millionen entreißen ihren Freiheitsbrief der Welt? Wie wenige denken daran, daß sich so etwas tun oder nur versuchen ließe und, wenn es gelänge, auch von einigem Wert sei? Wie wenige nur denken daran, daß man so etwas suchen müsse? Was nun unter diesem Freiheitsbrief zu verstehen sei, wird der nicht fragen, der ihn sich erworben hat; für die, welche ihn weder achten noch ahnden, ist jede Erklärung überflüssig.

630


[53] [32]MAN wirft gewöhnlich Männern von kräftigem, hohem Charakter Stolz vor und glaubt, zu seinem Trost, in ihnen einen bedeutenden Fehler aufgedeckt zu haben. Solche Männer müssen doch wohl auf ein Fußgestell treten, um nicht durch den Schmutz unrein zu werden, mit dem die um sie Wandelnden besudelt sind.

631


[32] [43]MAN hört und liest hundertmal Ausdrücke der Verwunderung und Bewunderung über den Trieb, die Geschicklichkeit der Tiere und Insekten, bevor man einen über das Maß hört und liest, das der Mensch in sich gefunden hat und in sich aufstellen mußte. Ich rede von dem Maße, nach welchem er seinen Wert, den Wert anderer, seiner Handlungen und ihrer Handlungen in dem innern Gerichtshofe bestimmt. Eine Schätzung, die er sogar ausüben muß, wenn ihm um seines eignen Selbsts willen das Geschäft auch noch so widrig und verhaßt ist.

632


[43] [381]EINEM Philosophen, der einem Religiosen bewies, wie wenig der Mensch auf seine Vernunft stolz sein dürfe, da er sie so wenig und so schlecht im ganzen gebrauche, und dann hinzusetzte: daß man wenigstens von ihr sagen könne, sie herrsche so wenig in der Welt, als sie dieselbe leite, der Mensch sei also wohl ein der Vernunft fähiges, aber kein vernünftiges Wesen, antwortete dieser mit Triumph: »Sie beweisen für mich! Der Mensch sollte kein bloß vernünftiges, sondern ein religioses Geschöpf sein, und darum ist nicht die Vernunft, sondern die Religion auf dem ganzen Erdboden, unter allen Völkern herrschend; darum herrscht sie auch sogar unter jenen Völkern, bei denen die Vernunft noch nicht ausgebildet ist, weil ihnen die Religion das Wichtigste ist und sein soll.« Der Philosoph erwiderte: »Diese Religionen sind dann auch darnach, und eben hierin liegt die tiefste Demütigung des Menschen, daß man solchen Religionen ansieht, was für ihn genug ist, wessen er bedarf, wessen ihn seine Vernunft wert macht: Fetische! Und diese auch da noch, wo die ersten Genies durch die Vernunft das Erhabenste aller Wesen in seiner Würde aufgestellt haben.«

633


WENN die Religion dem Menschen durch Offenbarung vom Himmel kam, so kommt der Kultus von ihm selbst. Er hat sich auch hier ganz als Mensch gezeigt; wenigstens scheint er bei der Bearbeitung desselben so ziemlich vergessen zu haben, daß ihm die Hauptsache von dem Himmel kam. Das kommt nun vielleicht auch daher, daß ihm zwei Aufgaben aufzulösen übertragen [381] worden sind: eine in dieser drangvollen irdischen Welt und eine für die Zukunft nach diesem Leben, wovon immer eine die andre stört. Um nun beide für das Sichtbare etwas zu verständigen, muß der Kultus mit seinen Zeremonien aushelfen. Da nun die Priester von den ältesten Zeiten her dem Menschengeschlecht immer diese Wohltat erwiesen haben, so üben sie natürlich noch bis auf den heutigen Tag dieses in ihrem Sinne wichtige Geschäft aus.

634


[382] [253]WAS Pauw über die Griechen schrieb und das man meistens Paradoxen schalt, hat nun Mitford zur Wahrheit gemacht. Gewiß ist seine »Geschichte der Griechen« ein neuer Beitrag zur wahren Geschichte der Menschheit, aber auch zugleich ein Beweis, daß die Philosophen und Dichter, die in der intellektuellen Welt leben, wenn die Kultur bei einem Volke hoch gestiegen ist, gar nichts für ihr Volk oder das wirkliche politisch-moralische Leben überhaupt beweisen und am Ende nur dartun, wie hoch solche Geister über dem Wirklichen stehen. Man braucht also die Dämonen nicht über unsrer Sphäre zu suchen; sie haben zu allen Zeiten unter den Menschen gelebt, nur daß man sie nicht für das erkannte, was sie waren, folglich mit ihnen weder in Verwandtschaft stand noch ihre Verwandtschaft mit sich anerkannte. Wie passen Aristides, Sokrates, Plato, Xenophon, Sophokles, Euripides, Epaminondas usw. zu den Griechen, die uns Mitford nach dem Leben malt? Und was sind die Griechen diesen Dämonen schuldig, daß man seit Tausenden von Jahren ihren politischen, moralischen und religiösen Wert nach diesen beurteilte? Pedanten, die in einem solchen Volke einen fruchtbaren Gemeinplatz finden und die die Verbannung jedes Vorurteils als Verlust ansehen, Schwärmer, die ein zu Staub gewordenes Volk anbeten, um das gegenwärtige Menschengeschlecht zu verachten und übrigens ein ganz bequemes bürgerliches Leben führen, werden sich nun freilich ärgern, daß Mitford auch diese Täuschung weggeblasen hat. Die an die immer steigende Veredlung und Vervollkommnung des Menschengeschlechts Glaubenden, welche in der Geschichte der Griechen die Haupteinleitung zu diesem wichtigen, wünschenswerten Zweck fanden (wenn sie die Sache nicht schon als einmal geschehen ansehen), werden seufzen; und nur der erfahrne Mann, der unbefangene Geschichtsforscher und Menschenkenner werden in Mitford ihre Gedanken fest gegründet und klassisch dargestellt finden.

635


[253] [434]WÄREN die Deutschen so gerecht gegen ihre großen Männer, als sie es gegen die großen Männer andrer Nationen sind, so würde man schon längst gesagt und in Schriften erwiesen haben: daß kein Philosoph der alten und neuen Zeit erhabnere Gedanken über den Menschen, seine wahre Würde, die Welt und Gott gedacht, in der einfachsten, anspruchlosesten Sprache ausgedrückt hat als Kant; und in solcher Anzahl, daß man erstaunen würde, wenn man sie in einem Auszuge zusammen läse. Man spricht aber in Deutschland noch immer lieber von den erhabnen poetischen Gedanken Platos, die doch mehr durch ästhetische Kunstgriffe hervorgebracht sind als durch die hohe Kraft des Verstandes, welche den Königsberger Weisen nicht allein bezeichnet, sondern von allen spekulativen Philosophen alter und neuer Zeit auszeichnet.

636


[434] [171]NICHT die Bienen allein machen aus blindem Triebe einen Staat, eine Republik aus, ohne zu wissen, was sie tun und vorstellen. Ganze Völker waren und sind in diesem Fall; und wenn es die Philosophen und Politiker einigen derselben nicht sagten, sie stürben samt und sonders dahin, ohne zu wissen oder zu ahnden, was für ein Kunstwerk sie auf Erden vorgestellt haben oder durch sie und mit ihnen ausgeführt worden ist. Auch sogar die sogenannte Königin unter den Bienen hat ihresgleichen unter den Regenten der Menschen.

637


DER Krieg sollte nur aufhören – meinen, träumen und wünschen die menschenfreundlichen Weisen –, so würde alles auf Erden gut gehen. Die Möglichkeit selbst haben sie auf das klärste bewiesen; und ich glaube, von allen verhüllten Dingen, die sie zu enthüllen unternommen haben, ist dieses das leichteste, da es [171] ganz in die Sinne fällt. Ob es aber wirklich mit dem Menschen besser stehen würde, wäre der Probe wenigstens wert; und kann eine Einladung an die Mächtigen der Erde von einiger Wirkung sein, so will auch ich sie hiermit gemacht haben. Sie würden dem Menschengeschlechte in jedem Fall doch Gelegenheit geben, sich von einer neuen Seite zu zeigen; und vielleicht könnte es gar einen dunkeln Artikel des Prozesses plötzlich klar aufhellen, der von den ältesten Zeiten her in Sachen der Regierenden und Regierten vor dem Tribunal der Vernunft durch Wort und Schrift von den Bevollmächtigten beider geführt wird. Unser Krieg gegen die Tiere der Erde und der Krieg der Tiere gegeneinander entspringt, wie bekannt, aus dem gewaltigen Hunger, der allereinfachsten und begreiflichsten physischen Notwendigkeit, die ihre Befriedigung in der Sättigung findet. Der Krieg der Menschen gegen Menschen aber entspringt aus einer Mannigfaltigkeit von Begierden und Leidenschaften, die nirgends hinlängliche Genugtuung finden, die im Gegenteil im Genuß oder in der Erreichung des Gewünschten immer wachsen und sich in dem Grenzenlosen verlieren. Und da man noch obendrein die Befriedigung dieser Begierden und Leidenschaften zu einem politischen, oft gar religiös-moralischen Spiele zu machen weiß, es zugleich als die erhabenste, kühnste Entwicklung unsrer Seelenkräfte ansieht, so scheint mir beinahe, auch der Krieg gehöre zu der sonderbaren Mitgift, womit wir ausgestattet worden sind, um alle die wunderbaren Erscheinungen hervorzubringen, die an uns vorübergehen, an denen und durch die wir vorübergehen, über die wir zwar vernünfteln, ein Besseres wünschen, woran wir aber nichts ändern können. Wer weiß auch, ob uns nicht ein ewiger Friede, durch sybaritische Sinnlichkeit und Wohlbehagen in Ruhe, einen weit scheußlichern Despotismus zuführte, als wir schon kennen; denn die Furcht vor dem Kriege würde uns wahrscheinlich um die Kraft bringen, den Despotismus zu bekämpfen – und haben jetzt nicht selbst die Mächtigsten in dem Kriege und durch den Krieg etwas zu befürchten, das Unglück und Erniedrigung heißt?

638


[172] WENN ein Volk den großen politischen Kreis unter Sklaverei und Freiheit durchlaufen hat und endlich durch die höchste Kultur, folglich die üppigste Verirrung der Sinne und der Vernunft, zum letzten Punkt gekommen ist, so hat es in seinem aufwühlenden Laufe auch gewöhnlich den moralischen Kreis, der jenem zur Grundzeichnung dienen soll, ausgetreten und ist nun gezwungen, wenn es einen neuen Kreislauf beginnen will, diese verschüttete Zeichnung aufzugraben; ob es aber die reinen und kräftigen Züge wieder aus dem Schutt und Staube herausfinden wird und ob es dieselben wieder gebrauchen kann, wenn es sie herausfindet, darüber stellt die Erfahrung nur zweideutige Erläuterungen auf. Hier treibt die Not gewöhnlich zu Hilfsmitteln der Not, und diese benutzt nur das augenblicklich Mögliche. Immer geschieht indessen etwas. Aber ein Individuum in der Gesellschaft, welches sich einen politischen Kreis zu seinem Lauf ausgedacht hat und das der Egoismus der Klugheit auf seinem Wege leitet, tritt die Zeichnung bis auf die Spur aus; und an das Aufgraben derselben wird es nicht einmal durch die Not erinnert, da es als eine parasitische Pflanze an dem Stamm der Gesellschaft saugt, dieser mag in Ruhe oder vom Sturm erschüttert dastehen.

639


[173] [82]MAN hat viel von den Temperamenten gesprochen, allerlei darauf gebaut und daraus geschlossen; aber was hat die Natur oder der Urheber der Natur mit dieser seltnen Mannigfaltigkeit, Mischung und Verschiedenheit, in Ansehung der Laster und Tugenden, der Schwäche und Stärke gewollt? Wahrscheinlich haben[82] auch die Tiere ihre Temperamente, nur ist der Instinkt, welcher sie leitet, ein ganz anderer Meister als die Vernunft, die das Temperament eines jeden von uns leiten und beherrschen soll, und sei es auch der aufrührischste und unbezwinglichste Untertan. Gewöhnlich richtet das Temperament die Vernunft nach sich ein und versteht noch obendrein die Kunst, die Unterjochte glauben zu machen, sie sei die Herrscherin; und so unterscheidet sich doch der Mensch von dem Tier.

640


[83] [486]EIN neuer Widerspruch, wenn es noch irgendeinen neuen gibt! Während unsre Theologen der Vernunft huldigen, kultivieren [486] jetzt unsre Dichter – unsre großen Dichter – die Mystik. Sie scheinen durch Schlüsse von den alten Theologen gelernt zu haben, wozu geheimnisvolles Dunkel nützt. Auch ist es vielleicht nur ein Kunstgriff, ein Versuch, Priester einer andern Art im Volke zu werden, das aber zum Glück so wenig poetisch als politisch gestimmt ist. Vielleicht ist es bei einigen nur Erschöpfung des Genies, bei andern gar Vorspiegelung des Genies.

641


[487] [232]WENN die Großen, Mächtigen und Reichen der Erde schlecht sind, so sind sie es gewöhnlich in vollem Maße. Nichts ist natürlicher; ihr Glück in der Welt ist ja schon von der Geburt her gemacht; sie sind vor aller Gefahr gesichert oder glauben es doch zu sein. Ihre Helfershelfer oder Verderber glauben sich mit ihnen in gleichem Falle. Und was gehört denn nun auch dazu? Ist der Sieg über die Opinion (ein Ding, das nur da ist, wenn man daran glauben will) nicht das leichteste Geschäft von der Welt?

642


[232] [53]DIE Weltkenntnis, die Erfahrung an den Menschen hat in uns schon lange den Geist getötet, bevor der Tod den Leib wegrafft. Wir stehen dann da wie ein Baum, der von der Mitte zu der Krone hinauf abgedorrt ist, weil die lebende Kraft nicht mehr aufwärtstreibt: Was dem Baume der Saft ist, das ist unserm Geiste das Herz. Alles ist zu Ende, wenn die hohe Phantasie verschwunden ist, die durch das Herz in dem Geiste den idealischen Sinn erhält und ihn so vor einem Absterben bewahrt, welches das übrige physische Leben zu dem ekelhaftesten Geschäft macht, das wir auf dieser Erde zu führen haben.

643


[53] [67]EIN jeder kann sich sehr leicht das Maß seiner moralischen Vollkommenheit gradweise aufstellen. Er braucht nur bei seinen Handlungen und den Beweggründen dazu aufzumerken, wieviel und was er um seiner selbst willen und wieviel und was er um edler Zwecke und um anderer willen tut und ob er das, was er für edle Zwecke und andre tut, nicht um seinetwillen tut.

644


[67] [53]AHNDEN sollten wir die intellektuelle, ideale oder Geisterwelt, aber nicht darin wohnen. Vermöge dieser Ahndung – durch die sich der Geist auf eine Höhe schwingt, von welcher er auf Augenblicke ein neues Land, durch einen Schleier von Morgenröte [53] gewebt, über sich entdeckt, das vor ihm wie ein schöner, glücklicher Jugendtraum schwebt, den man fühlt, sieht, ohne ihn beschreiben zu können – wird der Sohn der Erde zum hohen Dichter, Künstler, edlen Staatsbürger und findet da, wo nichts Wirkliches zu sein scheint, den Grund zum Wirklichsten. – Wer aber immer in der Geisterwelt wohnen will oder darin zu wohnen wähnt, ohne auf das bekannte Land, in dem wir leben und auf dem wir wirken sollen, noch fester, sicherer zurückzublicken, der ist in Gefahr, in jenem unermeßlichen, unbegreiflichen, zauberischen Erquickungs- und Erhebungsort für seinen Geist eine eigne, enge Loge eines Narren oder Phantasten aufzubauen. Er glaubt da zu wohnen, wo der Weise nur sekundenlang schwebt und wo dieser in den wenigen Sekunden einen Schwerpunkt für dieses unstete, vergängliche Erdenleben findet, auf dem er durch eigne Kraft so fest steht, daß ihn fremde Gewalt wohl bewegen, aber nicht verrücken kann.

645


IN der Idee, dem Glauben über und an eine Seele und ihre Unsterblichkeit, liegt der Grund der höhern, freiern Geisteskultur und des idealischen Sinns. Dieses beweist die Geschichte aller Völker und die der Juden durch den Gegensatz. Nehmen wir nun auch an, es sei nur eine schöne Lüge, ein angenehmer Traum, so liegt doch darin, daß ein sonst so sinnliches Geschöpf so zu lügen, zu träumen, zu schwärmen, diesem Traum sogar die Wirklichkeit zum Opfer zu bringen vermag, eine so geheimnisvolle, erhabne Kraft oder Magie, daß, wenn sie auch das Wunderbare der Verbindung des Geistigen mit dem Sinnlichen nicht beweist (die Gewißheit würde wahrscheinlich demselben allen Reiz nehmen), sie doch den Lügner, Träumer oder Schwärmer selbst zu einem noch größern Wunder macht.

646


[54] [99]ES geschieht mir wohl, daß ich im Traume mein ganzes Ich oder meine eigene Persönlichkeit verliere, eine ganz andre Person, ein ganz andres Ich nach bürgerlichen Begriffen und Verhältnissen vorstelle und mich selbst nicht eher wiedererkenne, als bis ich etwas sage oder tue, das aus meinem eignen Charakter oder meiner Denkungsart überhaupt entspringt. Dann finde ich mein Ich aus der Verwirrung plötzlich heraus, die Maske, in die mich der Traum gehüllt, verschwindet, und Seel' und Leib oder Phantasie und Leib scheinen sich wieder als alte Bekannte, die nur ein Zufall von Verwirrung trennte, zu umarmen. Ich weiß nicht, ob solche Träume allgemein sind oder ob diese Art zu träumen nur Leuten widerfährt, die gewohnt sind, sich selbst zu beobachten und nach einer bestimmten Denkungsart zu handeln, die folglich mit ihrem innern Selbst so bekannt sind, daß es sich wachend und träumend immer an seinen Hauptzügen wiedererkennt und in jeder Lage, bei jeder Verwirrung herausfindet.

647


[99] [391]DIE zwei größten Genien des vergangenen Jahrhunderts auf Thronen haben – aus Widerspruch oder Laune – die Jesuiten beibehalten, damit doch, wie sie sagten, der Same nicht ganz ausginge. Nun hat dieser Same wieder einigen Grund gefunden, und der Unfehlbare selbst mußte hier seine Vorgänger im Grabe als fehlbar erklären. Sollte aber dieser Widerspruch oder diese Laune einst von Folgen sein, so mögen die künftigen Philosophen [391] über die Folgen dieses Widerspruchs oder dieser Launen jener philosophischen Regenten den Nachkommen ihre Verwunderung bezeigen, wenn sie alsdann so etwas noch zu tun wagen.

648


[392] [456]WER an der Glückseligkeit der Dichter zweifelt (der echten meine ich), der betrachte nur den Abend ihres Lebens und vergleiche ihn mit dem Abend eines Welt–, Staats–, Geschäftsmannes. Wenn das Gerippe der Wirklichkeit ohne alle Täuschung vor den letzten tritt, so kleidet es der Dichter in den Duft der Phantasie und erweckt zu Asche gewordene Gestalten zu lieblichen frischen Bildungen, wenn sie ihm die gegenwärtige Zeit versagt. So verjüngt sich Wieland in Griechenland, wenn sein Zeitalter, dessen Taten oder sein Spiegel ihm zu laut sagen, er sei Greis geworden. Seine Dichtungen sagen es ihm bis jetzt nicht.

649


[456] [32]VIELE klagen über die menschliche Gesellschaft und sterben mit diesen Klagen, ohne zu bedenken oder bedacht zu haben, daß diese Gesellschaft in einem Tage mehr für sie tat, als sie ihr ganzes Leben hindurch für sie getan haben. Die laut, heftig Klagenden sind diejenigen, die ganz auf Kosten derselben gelebt, [32] die Allerlautesten und Allerheftigsten aber die, welche ihr geschadet haben.

650


[33] [9]WAS ich mit allen diesen Betrachtungen und Gedanken, in deutscher Sprache, zu dieser Zeit will? – Kraft erwecken! Gelänge mir dieses, so wirkte ich ein größeres Wunder als Moses, da er Wasser aus dem Felsen schlug; doch die Juden waren durstig. Indessen er halte ich durch diese Gedanken meine Kraft wach und mutig; und so ist hier der Autor selbst Zweck seines Buchs. Ich schreibe also hier nur Bündnisse mit meinem eignen Geiste nieder, und er selbst drückt den Talisman darauf.

651


[9] [100]WER sich rühmt, daß er seine Einbildungskraft durch die Vernunft ganz getötet habe, daß er durch die Stärke dieser Vernunft vor jeder Schwärmerei sicher sei, der hat weder das Wahre der Vernunft noch das hohe Geistige der Einbildungskraft benutzt, sie gewiß nicht im reinen Verhältnis in sich empfunden und gedacht. Er macht vielleicht, ohne es zu wissen, die Vernunft zum Werkzeug eines sinnlichen Wohlbehagens, wenigstens weiß er nicht, daß ebendie Vernunft die Schöpferin der erhabensten Schwärmerei für gewisse Ideen ist. Ich würde sie nennen; aber Kant hat es in diesem Sinne bewiesen. Und sollte auch sein System in der Schule fallen, so wird doch die erhabne Schwärmerei seiner Vernunft alle Systeme der Schule überleben.

652


[100] [430]DER Weg von der Rechtschaffenheit zur Tugend bezeichnet sich durch Taten; um ihn zu finden, muß man sich diese zum Leitungszeichen ausstecken. Nicht die Gesinnungen, nicht das Entsagen führen darauf: Bei der ersten mutig und verständig ausgeführten Tat betritt man erst den Pfad zu ihr. Darum bleibt sie für viele, sonst gute Menschen ein Nebelstern, dessen düsteres Licht man nur durch einen Herschelschen Teleskop erblickt – oder zu erblicken glaubt.

653


[430] [167]WENN ein Mann von Verstand oder gar ein Philosoph (denn diese haben ihre Gründe), der weder eine Rolle in einem despotischen Staate spielt noch zu spielen wünscht, einer solchen Regierung unbedingt das Wort redet und sie als sehr zweckmäßig anpreist, so kann man immer sagen: »Er geht von Menschenverachtung aus« – und der, welcher ihn politisch bekehren will, muß erst versuchen, ihn moralisch zu bekehren, wenn ein solcher Mann zu bekehren oder der Bekehrung wert ist.

654


[167] [121]DER Ehrgeiz, die Herrschsucht täuschen und verblenden die Großen und Mächtigen der Erde; aber was würde aus euch Kleinen werden, aus euch geworden sein, wenn sie immer die rechten Mittel zu ihren oft gefährlichen Zwecken angewandt hätten? Nicht ihrer Weisheit – ihrer Torheit und Verblendung verdankt ihr's noch, daß ihr etwas seid! Wer daran zweifelt, der schlage die Geschichte auf, wenn die Gegenwart für ihn keine Geschichte ist.

655


[121] [33]AN nichts tragen die Menschen schwerer als an der Achtung, der Verehrung, die sie für die guten Eigenschaften und Tugenden anderer fühlen oder fühlen müssen. Wer nicht will, daß ihm die Last vor die Füße geworfen werde oder den so Belasteten nach und nach von den Schultern falle, der muß immer etwas zu dem Gewichte legen und zu legen haben; kurz: er muß sie darunter erdrücken. Aber ich steh' ihm nicht für die Folgen der Verzweiflung der so Leidenden.

656


[33] [173]DES zivilisierten Menschen Stimme ist freilich die Hauptstimme des Klagenden in der ganzen Natur; er scheint auch wohl Ursache dazu zu haben. Der meisten wahrhaft gegründeten Klagen könnte er sich indessen immer rühmen, der Urheber selbst zu sein, wenn er nicht so vorsichtig dabei wäre. Wer aber in einem großen Staate lebt und Klagen über den Luxus der Großen, Reichen, Mächtigen führt und dabei gar nicht ahndet, welche Folgen ihre Sparsamkeit und Besonnenheit auf den Staat, den Regenten und das Volk haben würden, der sieht das Menschenwesen von einer Seite an, wo wenig Trost zu finden ist. Der Luxus und was er mit sich führt und nach sich zieht, das, was er auf den Charakter, den Verstand, die Kraft derer wirkt, die ihn treiben und übertreiben, die Meinung dieser, daß die Kleinern zur Achtung [173] für sie, durch ihre Pracht und Torheit, verblendet würden – setzt alles durch die Verkehrtheit selbst, wenn nicht in ein schönes, doch in ein nötiges Gleichgewicht. Wenigstens würde ohne diesen Luxus und ohne diese Verblendung der Boden jedes Reichs schon längst ebendiesen durch Reichtum und Gewalt Übermächtigen gehören, und die übrigen würden höchstens das Glück haben, als verpachtete Knechte das Feld zu bebauen, das sie doch noch jetzt durch Fleiß und Anstrengung zu ihrem Eigentum erheben können. Das übrige, was daraus noch entspringen könnte, versteht sich von selbst. So gleicht sich alles in dieser politisch-merkantilischen Gesellschaft unter den Menschen aus; und so, wie die Fruchtbarkeit des Ackers durch den Auswurf der Tiere befördert wird, so wird die Blüte dieser Gesellschaft – wenn man das schöne Wort hier will gelten lassen – durch den moralischen Auswurf ihrer Glieder hervorgetrieben. Ist das Gleichnis schmutzig, so mag sich diesmal der zärtliche Geschmack mit demselben versöhnen, wenn es sonst nur wahr ist. Die Schulphilosophie selbst gewinnt noch bei dieser Ausgleichung, da aus ihr eine beträchtliche Anzahl von moralischen Gemeinplätzen hervorspringt, über die sich vortrefflich schreiben, reden und predigen läßt.

657


[174] [228]WER sich darüber wundert, daß Staatsleute, Männer auf bedeutenden Posten nach und nach das Gefühl der Freundschaft so verlieren, daß sie dieses glückliche, beseligende und oft für [228] alles tröstende Verhältnis am Ende für einen Jugendtraum ansehen und so wenig an dasselbe glauben als an die Tugenden und an die Glückseligkeit, die aus ihm fließen, der beobachte nur die Leute etwas genauer und schärfer, welche ihnen nahen, und warum diese Leute jene eigentlich zu ihren Freunden zu machen wünschen. Sie sind noch sehr billig, wenn sie einen solchen Mann in dem Augenblick, in dem sie in ihm einen Freund, Erhalter und Beförderer für sich suchen, nicht zum Feind, Unterdrücker und Würger anderer zu machen streben. Wer mehr als billige, liberale, gerechte Gesinnungen und ihre Ausübung von einem solchen Manne fordert, der fordert nur, er solle des Staates Höchstes – das Gesetz, die Gerechtigkeit – dem einzelnen opfern; kurz, er will ihn zum Werkzeug seines Eigennutzes, seiner Leidenschaften und seines Egoismus machen und ihn so zu seiner Freundschaft und Verehrung einweihen.

658


[229] [33]MAN sagt gewöhnlich von Leuten, die ein irriges, verkehrtes, schlechtes, auch ganz dummes oder dem unbefangenen Menschensinn widersprechendes Urteil über einen Fall oder eine Begebenheit des Lebens aussprechen: Es fehlt ihnen an Verstand. Vielleicht würde man es hundertmal richtiger treffen, wenn man sagte: Ihr Herz, ihre Seele taugt nichts. Zur richtigen Ansicht und Beurteilung der Begebenheiten in der Welt gehört außer einem richtigen, gesunden Verstande auch eine gesunde Seele, ein unverdorbnes Herz; denn nur diese in Verbindung mit dem ersten erzeugen ein reines Urteil, ohne Rücksicht auf sich selbst.

659


ES ist ein allgemeiner Spruch: »Man erlaubt wohl einem Manne, sich seines guten Herzens zu rühmen; aber der wird jedem unerträglich, welcher sich seines Verstandes, seines Geistes rühmt.« Die feinern Moralisten, welche über die Gesellschaft schreiben und das Herz der Menschen malen, geben davon sehr gute und gegründete Ursachen an; mir scheint indessen hier die einfachste ebendarum die hinreichendste, weil sie die einfachste ist. Der Zuhörer denkt bei der Prahlerei des ersten: Laß es ihm! Ein gutes Herz ist ein ganz natürliches Geschenk, das dem Dümmsten [33] oft am ersten zufällt; und ist der Besitzer auch ein Mann von Verstand, so hat er es doch, gleich dem ersten, ohne alle Mühe und Anstrengung von seiner Seite, ohne zu wissen wie, erhalten. Überdem hängt das gute Herz gar zu sehr von physischer Stimmung, Mischung und der politischen, moralischen Lage in der Welt ab, und ein gutes Herz ist ja gewöhnlich auch ein zufriedenes Herz. Der Verstand, der Geist aber ist zugleich etwas Erworbenes, das Aufmerksamkeit, Anstrengung und Ausbildung der natürlichen Fähigkeiten voraussetzt, das zu Ansprüchen und Forderungen berechtigt und folglich Achtung, Bewunderung, sogar Furcht gebietet. Er drängt sich in jeder Lage hervor, will und weiß jede Lage zu benutzen, kann uns in der unsrigen stören; und tut er auch dieses nicht, so verdunkelt er uns doch, indem er glänzt. Aus ebendiesem Grunde ist man auch billig gegen den Mann von bloß natürlichem Verstande, ohne weitere Ausbildung. Man wird ihm sogar gern eingestehen, er besitze ihn, weil man ihm damit zu verstehen geben kann, er berechtige ihn weder zu Ansprüchen noch Forderungen auf Achtung und Bewunderung, da er hier nur einem natürlichen Triebe folge. Ein solcher Mann erfreut sich nicht allein der Duldung der Leute von gutem Herzen, er kann sogar die Gesellschaft ergötzen, welches selten der Fall des guten Herzens ist. Und da die Einfälle solcher Leute gewöhnlich naiv sind, so macht noch obendrein die Gesellschaft auf ihre Rechnung, ohne zu wissen, was sie tut, der Natur durch ihr Zutrauen eine Verbeugung, und so geht auch diesen endlich die durch den wiederholten Beifall erzeugte Bosheit durch. Aber der Mann von ausgebildetem Geiste, Weltkenntnis und beobachtendem Verstande scheint allen ein Werk eigener Kunst; und wenn er der Gesellschaft sein Übergewicht nicht fühlen läßt – das das Höchste des Verstandes ist –, so erregt er doch dadurch, daß er tief und wahr ins Innere der Herzen und das, was sie hervorbringen, blickt, die Furcht derer, aus denen sie besteht.

660


[34] [83]WAS ist der Geist, die Seele im Menschen? Was soll man darunter denken? Diese Frage ist so einfältig als überflüssig, nachdem man in so viel tausend Jahren keine befriedigende Antwort darüber erhalten konnte. Wenn man aber sieht, daß der Körper durch Alter und Schwäche oder seine endliche, notwendige Abnutzung einen Geist wie der, welcher in Kant lebte und wirkte, so herunterbringen und vernichten kann, daß ebendieser gewaltige, tiefdringende, erhabene, die ganze Natur und Verstandeswelt erforschende Geist sich seiner nicht mehr bewußt ist und die Ahndung dessen, was er war, vielleicht ganz verloren hat, so kann die Frage wohl für uns überflüssig, aber wahrlich nicht einfältig sein.

Was! Dieser Funken der Gottheit, diese Flamme, dieses Licht, dieses einfache, unsterbliche, selbständige, namenlose, gewaltig wirkende, die Himmel messende, die Kräfte der Natur berechnende Wesen, das die Erde durch den Ausdruck seiner Gedanken umändern, erschüttern kann, liegt schon hier vor unsern Augen, über der Erde tot, erloschen, sich nicht mehr erkennend in einem noch atmenden, herumwandelnden, sich noch nährenden Grabe, seinem eignen Leibe! – Aber beweist dieses auch etwas dagegen?

661


[83] [497]WENN das Publikum die Produkte der Einbildungskraft der Dichter, Künstler usw. mehr schätzt und bewundert als die ihm nützlichern Werke des Verstandes und der Erfahrung, so kommt dieses (ohne in Anschlag zu bringen, daß für den Menschen die Quelle seines höchsten Genusses in der Einbildungskraft liegt) wohl von dem für Dichter und Künstler glücklichen Vorurteile her, ihre Werke seien immer Produkte ihrer eigenen Schöpfung, die der andern bloß Werke der Anstrengung, des Fleißes und des Studierens, welches jeder von uns wohl auch hätte leisten können; vielleicht auch, daß ein dunkles Gefühl, es liege bei den letztern Interesse zum Grunde, dieses Urteil mitbestimmt. Denn von den Dichtern weiß wohl jedermann, daß ihr Gewinn und Lohn nur in den glänzenden Gefilden des Ruhms und der unsichern Unsterblichkeit liegen, deren Ernte ihnen wenigstens die Leser, welche keine Gedichte schreiben, nicht streitig machen. Wenn nun der Glaube an eigene Schöpfung der Grund zur Schätzung der Werke der Dichter und Künstler im Publikum ist, so finden auch Dichter und Künstler in diesem Glauben oder Vorurteile einen Maßstab, nach dem sie den Wert ihrer Werke ausmessen können.

662


[497] [299]MIR ist es sehr begreiflich, warum viele Menschen die Bescheidenheit in andern so sehr lieben und anpreisen; sie rechnen sich zu, was die andern durch Bescheidenheit sich versagen oder zu versagen scheinen.

In dieser Tugend wahrhaft zu sein, sie in andern richtig zu beurteilen und die äußere Bescheidenheit von der innern zu unterscheiden, dieses setzt ein reines, aufrichtiges Gefühl und einen durch Erfahrung, Selbsterkenntnis und richtige Schätzung der Dinge der Welt geläuterten Verstand voraus.

663


[299] [100]DIE hoher Dichtungsgabe, die edle Liebe, die Tugend selbst – Verwandte durch die Veredlung des Geistes und des Herzens – haben alle drei einen feinen Anstrich von Donquichotismus, der in ebendem Maße an reinem Licht und Glanz zunimmt, als der dunkle Hang nach den sinnlichen Vorteilen abnimmt. Die damit Begabten oder Beglückten tragen alle ein hohes Ideal in ihrem Innern, und dieser feine Donquichotismus muß immer wieder verherrlichen, was die äußere Wirklichkeit verdunkelt. Wer nur rechten Glaubens ist, auf den vermag diese Wirklichkeit mit allen ihren Widersprüchen, Gewalttätigkeiten und Verspottungen ebensowenig, als sie auf jenen Ritter selbst vermochte. Wenn aber der so Begabte und kräftig Ausgerüstete sein Ideal in das bürgerliche Leben übertragen will und von den andern verlangt, sie sollen seine erhabne Göttin mit ihren sinnlichen, auf Glück und Genuß gespannten Augen sehen, erkennen und wie er selbst an ihr Dasein glauben, so ist er in Gefahr, wirklich Ritter von der traurigen Gestalt zu werden und seine wahrhaft lebende Göttin zur Dulcinea der bloßen Einbildungskraft umzubilden.

664


[100] [373]DIE Vernunft mag dem Betenden immer sagen: »Stolzer, eitler, eingebildeter Tor! Glaubst du, Gott werde um deinetwillen den Gang der Welt ändern, die ewigen Gesetze umstoßen, durch die sie besteht? Bete soviel du willst, dir fällt zu, was Zufall, Verhängnis – oder willst du lieber: Vorsehung (alle gleich schwer zu begreifen und denen du wenigstens nicht gebietest) – dir zuspielen, auflegen oder zu Zwecken, die du nicht absiehst, bestimmt haben!« Ist aber der Betende ein Tor, so ist er nur ein armer, geplagter Tor, der Trost, Linderung, Beruhigung, Hilfe bedarf und, indem er den Geber des Lebens darum anfleht, vielleicht ein Pasquill auf sein Geschenk, ohne alle böse Absicht, macht. Wenn übrigens die Vernunft und ihre Tochter, die Philosophie, nebst der Moral eben nicht geradezu beten lehren, so beschäftigen sie sich doch ebenso wie die Religion damit, über die Qualen des Lebens zu trösten, dazu zu stärken, und malen gleich ihr seinen Wert.

665


[373] [67]WER weder einen Freund noch eine Geliebte wahrhaft geliebt hat, dem werden, sei er auch der verständigste, erfahrenste und geistvollste Mann, immer eine Menge Ideen fehlen, und selbst die Mitteilung derer, die der Verstand gedacht hat, werden ebendarum, weil sie nur gedacht sind, die Zuhörer wenig erwärmen. Bei dem größten Geistesreichtum bleibt ihm die wahre, feinere Verbindung und Verknüpfung in der moralischen Welt doch unbekannt; arm bei diesem Reichtum, webt er das Band dazu nur aus den groben Fäden der rohen Selbstliebe und des Eigennutzes, macht in sich das gebildetste Geschöpf zum Tier und stirbt, ohne seine Beschränktheit und das ihm Mangelnde geahndet zu haben.

666


[67] [83]WENN der Materialist – oder ein Klumpen Materie von fünf Fuß und einige Zoll, zu gewissen Zwecken gebildet – einem [83] andern ebenso gebildeten Klumpen von Materie mit den stärksten Gründen der Vernunft, der Erfahrung, mit glänzendem Witze, den zierlichst geründeten Perioden beweist: die in ihnen so geordnete Materie reiche zu diesem, zu mehr, zu allem hin, so kann es wohl für manchen traurig und niederschlagend anzuhören sein. Der Denker im Gleichgewicht aber sagt zu dem talentvollen Manne: »Ihr macht das Wunder um so größer; denn es verlöre doch wohl etwas von dem Wunderbaren, wenn ihr noch ein Wesen hineinsetztet, das das Uhrwerk in Gang erhielte, bis der Tod den Perpendikel faßt und so die Räder auf einmal stehen!« Der Denker im Gleichgewichte sagte dem Bedrängten nun freilich nicht viel zum Troste, da dieser weiß, jener glaube eben wegen dieses Gleichgewichts nicht an Wunder. Vielleicht aber ist ebendarum, weil das Wort Wunder nur ein Schall für ihn ist, sein Ausdruck von Bedeutung und tiefem Sinn.

667


[84] [174]VON allen abstrakten Ideen ist wohl die Idee vom Staate diejenige, die am wenigsten in der Welt Glück macht oder praktisch ausgeübt wird, und das oft am allerwenigsten bei denen und durch die, welche der Regent zum Dienst des Staats gewählt hat und dafür bezahlt. Nur den Philosophen und gutmütigen Schwärmern wird die Theorie und Praktik in ihren Schriften ohne Ahndung verstattet, besonders wenn ihre Systeme Träumen gleichen, wozu der praktische Sinn der Menschenführer auch das Haltbarste, ohne viele Anstrengung, zu machen versteht. Die Masse der Menschen muß natürlich die Schuld tragen, daß so etwas in der Welt nicht auszuführen, nicht zu gebrauchen ist. Der Mann aber, der dem Staate und dadurch dem Regenten kräftig, [174] treu, ohne Nebenabsichten dient, alle Verbindungen gewisser Art, persönliche Rücksichten und Empfehlungen für Verschwörung gegen den Staat hält, der ist noch glücklich genug, wenn er nur die lächerlichste Person in ebendiesem Staate genannt wird. Für alle Frevel, für alle Verbrechen gibt's Entschuldigungen und finden sich Advokaten, nur für einen solchen Mann nicht, auch kann er sie entbehren, wenn er es wahrhaft ist.

668


[175] [430]EIN Mann, der sehr schwärmerisch für die Meinung eingenommen war, daß das Menschengeschlecht immer in Veredlung zunähme und zunehmen müßte, um endlich diesem seinem einzigen Zweck zu entsprechen, antwortete, da man ihn auf die Erfahrung und die Geschichte verwies: »Und was gehört dann Sonderliches dazu? Der Mensch braucht ja nur gerecht gegen sich und andre zu sein, so stehe ich für das übrige.«

669


[430] [506]DIE Erfinder des Ackerbaus wurden von den dankbaren Essern und Trinkern zu Göttern erhoben; seht nun, was aus denen geworden ist, die ihn jetzt in der größten Vollkommenheit treiben, wie sie von denen angesehen werden, welche am meisten von ihren Erzeugnissen verzehren. Der Erfinder des Alphabets genoß derselben Verherrlichung; seht nun, was aus dem Troß von Autoren geworden ist, die in diesem bis zum schnellsten und leichtesten Gebrauch vervollkommten Alphabet ihren Pflug gefunden haben.

670


[506] [456]IN Arabien wünscht man immer noch dem Stamme Glück, der einen Poeten hervorbringt; auch in Deutschland mag man einer Familie zu diesem Ereignisse gratulieren, wenn man keinen Gemeingeist hat.

671


[456] [273]MAN vergleicht von den ältesten Zeiten her das menschliche Leben mit einem Traume. Der Vergleich hat wirklich alles Treffende, was zu einem Vergleich gehört, wenn vom Vergangenen die Rede ist; nur auf die gegenwärtige Zeit angewandt, hinkt er etwas; man zwingt uns doch zuzeiten gar sehr zum Wachsein.

672


[273] [132]JEDER wünscht wohl in der Jugend, ein Fürst zu sein; weise durch Erfahrung möchten es wenige sein. In diesem Wunsche, in diesem Zusatze liegt die Antwort auf gar viele vermeßne Anklagen.

673


[132] [101]ES ist ganz recht, zweckmäßig und der menschlichen Natur gemäß, daß der Dichter, der Künstler, der Philosoph, der Staatsmann, der Soldat usw., jeder von ihnen, das, was er treibt, worin er sich emporgeschwungen, was er durch seine Anstrengung erworben, wozu er sein Genie entwickelt hat, für das Größte und Wichtigste halte. Wer etwas dagegen hat, der ist auch mit dem Mittelmäßigen, dem Gewöhnlichen zufrieden. Das, was die Welt solchen Männern nicht bezahlen und belohnen kann oder will, müssen sie sich doch in der Einbildung selbst abtragen.

674


[101] [487]ES lautet empörend, aber es ist wahr, daß die Tugend, welche man aus Romanen, Dichtungen, idealisierter Moral lernt und so gewöhnlich nur mit der Einbildungskraft faßt, oder die Tugend überhaupt, die ein Maß darreicht, das nicht nach der Kraft und dem Vermögen des Bekenners berechnet ist, einem Welterfahrnen so lästig werden kann, daß man ihm beinahe verzeihen möchte, wenn er endlich vor Unwillen spottend ausruft: »Laßt doch das Laster hereinkommen!« Und um so mehr, wenn solche tugendhafte Männer ihre Tugend nur aus deutschen Romanen und Gedichten neuer mystischer Art geschöpft haben.

675


DEM Dichter ist nur die praktische Philosophie nötig und wahrhaft heilsam; die spekulative, besonders die ganz neue, tötet entweder in ihm den Dichter oder sie führt ihn der Mystik zu, die dann die leeren luftigen Irrgänge des Gehirns mit Schatten und Gespenstern erfüllt, die uns rühren, gar erschrecken sollen. So wie der spekulative Philosoph Ideen aus dem Nichts herzuholen glaubt, so glaubt ein solcher Dichter Gefühle aus ebendiesem Nichts herzuholen. Wir sehen dies an der neuen Ästhetik und an den Produkten, die auf ihre Grundsätze gebaut sind.

676


[487] [219]EIN Mann von wahrhaften Verdiensten, der noch ein Neuling in der Welt ist, findet endlich einen Gönner, der ihn aus der Dunkelheit hervorzieht, seine Verdienste anerkennt, ihn im Kabinett und öffentlich darum preist und ihn mit warmer Teilnahme, beinahe mit Freundschaft behandelt: Ist es zu verwundern, wenn er glaubt, dies alles geschehe um seiner Verdienste, seines anerkannten Werts willen? Doch bald sieht er, daß dieses nur des Gönners Art ist, daß er die freundliche Behandlung mit allen Zweideutigen, selbst mit den Verrufenen teilt, daß sich der Gönner dadurch nur ein sicheres, bequemes Fußgestell zusammenzusetzen sucht, Gold wie Schlacken dazu verarbeitet, wenn es ihn nur trägt oder ihn zu tragen scheint. Sobald nun der Verstand aus dieser widrigen Erfahrung diese Folge gezogen hat, so tritt der genannte Mann von Verdiensten in die wahre Prüfungszeit derselben.

677


[219] [487]WENN der Dichter nur aus der Phantasie und für die Phantasie dichtet und so, daß am Ende für die prosaischen Menschen gar keine hellen Gedanken übrig bleiben, die eigentlich der Dichter dem Geiste des Lesers durch die Bilder der Einbildungskraft recht lebendig und kräftig darstellen soll, so tut die Dichtkunst [487] doch nur die Wirkung, welche Musik, auf einen Text gesetzt, hervorbringt, dessen Sprache und Inhalt der Zuhörer weder versteht noch weiß. Den Beweis kann jeder in vielen neuen und besonders in den jetzigen mystischen Dichtern finden.

678


[488] [481]DIE jetzigen in Jamben so spruchreichen Dichter legen die Weisheit der Alten (auch der Neuern) auf die Tenne, dreschen so gewaltig darauf los, daß sie das Korn selbst zu Brei zerschlagen und wir als Ausbeute der Ernte nur Spreu umherfliegen sehen. So werden Szenen in berühmten Schauspielen zu schönen Chrien; das Thema liegt auf der Tenne, und die spielenden Drescher schlagen wechselweis so fertig darauf los, daß man die Takte zählen und richtig abmessen kann, wenn das Zuschlagen an den andern kömmt.

679


[481] ALLEN kultivierten Völkern Europas hat man bisher in den Schulen die Griechen vergebens zum Muster aufgestellt; nur bei uns Deutschen hat es endlich so gewirkt, daß wir sie überfliegen werden und müssen. Schon haben unsre Dichter ihre Tragödie erobert, und mit Recht haben sie damit angefangen; ahmt nicht jedes Kind vorerst seiner Amme nach? Ihre hohen Tugenden werden wir gewiß erreichen, wenn nur erst das Schicksal, das leider bis jetzt noch allein auf der neuen Bühne herrscht, die Regierung über uns Deutsche mit ebender eisernen, gewaltigen Faust ergreift und ausübt, wie es auf der Bühne tut. Mit einer neuen Moral, einer neuen Götterlehre müssen dann doch die Deutschen endlich Männer wie die Griechen werden, und unsre Nachbaren sollen die politische Umwandlung empfinden. So zeigen uns also die Dichter allein den Weg zur Rache und zum Ruhm.

680


ABER nun im allerstrengsten Ernste! Sahen unsre großen Dichter hier nicht weiter und tiefer als unsre Staatsschriftsteller und Geschichtforscher? Ist Deutschland durch die Menge seiner Staaten, ihre harmonische Verbindung untereinander und durch die Grundzüge seiner Verfassung nicht recht eigentlich politisch zu dem geschaffen, wozu es ebendiese Dichter, mit Hilfe der ehernen Keule des allmächtigen griechischen Schicksals, dem der neue Zeus selbst von nun an gehorchen muß, machen wollen? Griechenland hatte Regenten, Despotien, Republiken – und wir haben alles das teils im Überfluß, teils um etwas sparsamer. Kann Nürnberg nicht Athen, Frankfurt am Main nicht Sparta, Hamburg nicht Korinth sein? Und wer die Philippe, die Alexander noch unter uns vermißt, der hat ihre letzten Eroberungen an Republiken, Erzstiftern und gefürsteten Prälaturen geschwind vergessen.

681


[482] [392]DASS es in der Schweiz vor allen Völkern Europas mit der Sittenverbesserung ernst ist, beweist man doch dem stumpfsten Sinn, da man die Sündentaxe des päpstlichen Stuhls aus den glorreich-christlichen Zeiten Alexanders des Sechsten in Luzern schon angeschlagen hat. Zwar hat man dort indessen nur mit dem ergiebigen Artikel der Unkeuschheit – ohne den Ehebruch zu vergessen – angefangen, die übrigen aber werden schon nachkommen; bei jeder Finanzoperation fängt man am besten mit dem Ergiebigsten an.

682


[392] [482]PLATO verbannte die Dichter aus seiner Republik. Was würde er im neunzehnten Jahrhundert tun, wenn er die neuesten Produkte [482] unsrer Dichter läse, durch welche sie uns dem Schicksal so unterwerfen wollen, daß uns selbst unsre reinste Unschuld, unsre kräftigste, tätigste Tugend zu nichts hülfe, und die uns im erstarrenden Gefühl unsers Unvermögens weiter keinen Trost zu geben wissen, als den wir in ihren schön gesetzten Flüchen gegen die alten Götter finden.

683


WER dem Menschen seine Gebrechen, Fehler, Sünden und Laster zuschreibt und ihn darnach richtet, der wage es nur, ihm das Eigentum und die freie, unabhängige Ausübung seiner Tugenden abzustreiten; er übertreibt die Bescheidenheit, wenn er ihm auch die ersten nur schweigend vor den Richterstuhl hinwirft. Dies fließt natürlich aus dem, was ich im letzten Satz berührte.

684


[483] [488]IN Deutschland macht man die Kinder mit dem Heiligen Nikolaus zu fürchten; das gleiche Schicksal wollen die Dichter nun durch das griechische Schicksal mit den Erwachsenen treiben.

685


[488] [392]ZUM Beweis, daß auch Theologen zur Unterstützung eines Lieblingssatzes selbst das der Gefahr aussetzen, was sie die Gläubigen zum Heil der Seelen lehren, mag Doktor Donne dienen, der einen Traktat zur Verteidigung des Selbstmords schrieb und als Dechant der St.-Pauls-Kirche in London ruhig gestorben ist. Nachdem er Simson und Eleazar aus dem Alten Testament zur Unterstützung seiner Meinung aufgeführt hat, geht er zum Neuen über und findet den kräftigsten Beweis in dem freiwilligen Tode Christi selbst. Die Märtyrer und Heiligen folgen in großer Zahl dann ganz natürlich.

686


[392] [382]DURCH moralische Bekanntschaft mit sich selbst hat der Mensch den Begriff von Gott und Satan – oder einem guten und bösen Wesen – aus sich selbst entwickelt und so die Grundzüge zu seinem eigenen Gemälde in aller Naivität entworfen. Die Porträts der einzelnen unterscheiden sich durch Nuancen, nur daß die Beleuchtung, malerisch verkehrt, von innen oder aus dem Dunkel hervorbricht oder hervorbrechen soll, ein Umstand, der dem Zeichner wichtig ist.

687


[382] [294]DER Weise predigt dem Menschen von der Zeit an, da es Weise und Toren gab: Kenne dich selbst! Bei dem die Weisheit nun vorausgegangen ist, der hat jenen Zuruf schon befolgt, befolgt ihn noch. Die Ursache aber, warum er auf so viele nicht wirkt, möchte wohl die sein: daß sich sogar viele bewußt sind, sie könnten keine schlechtere Bekanntschaft machen als die mit ihrem eignen innern Selbst. Hier fordert nun der Weise wirklich viel, und da noch obendrein der Nutzen dieser Selbstkenntnis von der praktischen Ausübung abhängt, so ist es vielleicht für die Gesellschaft gut, daß manche Menschen eine so gefährliche Bekanntschaft nicht machen. – So wie es nicht jedem zuträglich ist, alle seine Kräfte auszuüben, so ist es auch nicht zu wünschen, daß jeder alle die seinigen kennenlerne.

688


ES ist noch nicht genug, wenn man von einem Manne weiß, er kennt sich selbst; man müßte auch wissen, wie er sich kennt, was er für Grundsätze aus seiner Selbstkenntnis gezogen, wie er sich darnach im Wirken auf das Innere und Äußere eingerichtet; kurz, wie und nach was er den moralischen Maßstab zusammengesetzt hat, nach welchem er sich gemessen. Abfragen läßt sich dieses [294] Geheimnis keinem, aber man entdeckt zuzeiten etwas davon, wenn er sein gefundnes Maß an andre legt und sie darnach beurteilt.

689


LAGE, Tätigkeit, bedeutende Rollen auf dem wechselnden Welttheater, wichtige, gefährliche Verbindungen und Verwicklungen, große Unternehmungen führen freilich zur rechten Selbstkenntnis, zur richtigen Schätzung seines Werts. Wenn man aber die meisten in diesen Lagen – ich sage nicht nach ihrem innern Glück, sondern nach ihrer Zufriedenheit mit sich selbst – beurteilte, so müßte man nur auf entdeckte Schätze schließen. Die Selbstkenntnis dringt sich freilich auf, sie schränkt sich aber nur auf die Beurteilung der Kräfte und des Vermögens ein und verlängert, verkürzt den gefundnen Maßstab nach den Umständen und der Not. Das Allerschlimmste aber für die armen Wichte von Menschen ist, wenn ein Mann dieser Art über den Maßstab ganz wegspringt und ihn nur für andre oder die Werkzeuge, die er braucht und mißbraucht, entwirft.

690


[295] [88]DIE Höhe und Tiefe, zwischen welchen der Mensch durch einen unbegreiflichen Anziehungspunkt und ein sehr begreifliches Gewicht [88] nur schwebt oder flattert, sind so steil, glänzend, täuschend, grenzenlos, dunkel, trugvoll und bodenlos, daß es eine Art von Wunder ist, wenn einer in diesem unermeßlichen Zwischenraume ohne Leiter und Sprosse für sich einen Punkt des ruhigen Gleichgewichts so erdenkt, daß er zum Erstaunen der Zuschauer wirklich darauf steht. Und was das kühne Unternehmen eigentlich recht schwer macht, ist: daß ihn kein fremder Geist darauf stellen kann, daß ihn jeder selbst durch eigne Kraft erobern muß, wenn er sich darauf erhalten will. Wenn dieses wahre Kunststück selten gelingt, so wird es ebenso selten versucht.

691


[89] [132]DER Regent – oder der von ihm den Auftrag dazu hat – legt dem Baumeister einen Plan vor, nach welchem dieser aus Stein, Holz, Metall usw. nach Maß und Richtigkeit einen schönen, bequemen Palast bauen soll. Da sich nun Stein, Holz, Metall behauen, sägen, schmelzen und verarbeiten lassen, so steigt des Baumeisters Werk zur Befriedigung der Kenner auf. Der Klügling fordert nun von dem Regenten, er soll dasselbe Werk selbst oder durch seine Minister mit dieser politisch-moralisch-physischen Gesellschaft ausführen, reicht ihm den Riß dazu hin und vergißt weiter nichts dabei, als daß zwar alle Menschen gern ruhig, bequem, zufrieden (versteht sich nach ihrer Phantasie) wohnen möchten, daß ihnen aber zur Aufführung eines solchen Gebäudes nach einem solchen Riß weiter nichts abgeht als das, was jene Materialien zum Palaste so geschickt macht, daß es ihnen sogar abgehen muß, wenn sie nicht auch ganz Materialien werden sollen.

692


[132] [323]IN der Jugend ziehen sich die Augenbrauen in einen wenig oder sanft gekrümmten Bogen – Sehnen, Wünsche, Hoffnung, Zuversicht locken dann die Seele nach außen. Bei dem erfahrnen, denkenden Manne ziehen diese Bogen in ungleichen Krümmungen die Wölbung zusammen – der Geist hat sich dann in das Innere zurückgezogen, das Suchen nach Schätzen von außen aufgegeben und sammelt allenfalls noch Beobachtungen auf, um sich den Wert seiner Resignation zu beweisen.

693


[323] [54]DER Mensch verachtet das Kleine und Geringe, vor dem Großen fühlt er sich selbst klein, das Erhabne staunt er an, bewundert [54] es und erschrickt davor – so sinkt er zum rechten Maß seiner Natur herab, von ihr selbst und durch sich selbst darauf gestoßen.

694


[55] [488]DER gebildete Teil des Publikums möchte gern die deutsche Literatur achten, weil sie wirklich viel Achtungswürdiges aufzuweisen hat; aber die Genies selbst und ihr Nachhall, die verzerrten Geister, lassen es nicht zu. Wenn uns die ersten dem gewaltigen Gespenste – dem griechischen Schicksal zu unterwerfen streben, um uns für ihre erhabnen Produkte empfänglich zu machen, so wollen uns die andern, um den Sinn für die poetische oder romantische Poesie in uns zu erwecken, in das funfzehnte Jahrhundert zurück treiben. Die Mittel zu dieser Geisteserhebung finden sie nun in der Verdunkelung der Vernunft, in der Vertilgung des Protestantismus, in der Wiederherstellung der Magie, Astrologie, Alchimie usw.; die politische und moralische Welt ist nur um der poetischen, romantischen Poesie willen da – in dieser liegt das Heil der Menschen, und Vernunft, Verstand haben uns allein in unser politisch-moralisches Elend gestoßen, aus denen uns nichts als dieses aufgestellte Prinzip mehr retten kann. Ich weiß nicht, was diese Belehrungen in der Nähe wirken, in der Ferne erregen sie nur das peinliche Lächeln, das uns die wilden Einfälle der Rasenden bei einem Besuch des Tollhauses abzwingen und worüber wir uns schon während des Lächelns Vorwürfe machen.

695


[488] [67]ES gibt einen Egoismus des Instinkts, der Gewohnheit, den weichliche, schlaffe, feige Seelen ausbrüten und der, da er ohne alles Nachsinnen und Vorsatz dieser feigen Seelen da ist und wirkt, mehr ein Fehler der menschlichen Natur zu sein scheint – gefährlich ist er andern ohnedem nicht, weil er sich gewöhnlich ganz offen zeigt. Der wahrhaft gefährliche Egoismus aber – oder der, welcher der menschlichen Natur zu widersprechen und sich mit ihr gar nicht zu vertragen scheint – entspringt aus ebendiesem durch den Verstand an der moralischen Verderbtheit der Gesellschaft zum System bearbeiteten verfeinerten Instinkt. Die Egoisten dieser Art gehen von dem Grundsatz aus: Alle Menschen sind Egoisten; warum soll ich das Werkzeug, der Narr andrer sein, da ich sie für mich dazu machen kann? Ihr System [67] gründet sich auf alle Laster ebendieser Gesellschaft, und nichts rettet sie von der Vertilgung als die Vorsicht, womit sie diese Laster von ihrer Seite ausüben und ihre Ausübung so fertig, fein und richtig berechnen lernen, daß sie allein für ihre Person vor allem Nachteil, aller Gefahr sicher sind. So ist und bleibt nun Feigheit die Quelle dieses Instinkts, selbst wenn er Kunst und Wissenschaft geworden ist.

696


[68] [167]WENN Philosophen und Dichter klagen, daß die Mächtigen, Großen und Reichen sie und ihre Werke nicht achten und schätzen und, wenn sie ihre Werke allenfalls noch achteten und schätzten, sie dieselben doch nicht verständen und empfänden, so vergessen sie nur bei ihrer sonst gegründeten Klage, daß die Mächtigen, Großen und Reichen von den Beziehungen, Verhältnissen und Lagen kaum etwas ahnden, die dazu gehören, Philosophen und Dichter richtig zu verstehen und wahrhaft zu fühlen; daß sie zu ihrem Leben, wie sie es gewöhnlich nehmen, der Philosophie und Dichtkunst gar nicht nötig haben. Nur der Mittelstand befindet sich in den gehörigen Verhältnissen zu beiden, und nur auf ihn können Philosophen und Dichter noch allenfalls die Wirkung hervorbringen, die sie nach unsrer Verfassung etwa hervorzubringen vermögen.

697


[167] [101]WENN ich, der ich von der Musik nichts verstehe, im Traume ein vollständiges, harmonisches Vokal- und Instrumentalkonzert nicht allein sehe, sondern auch höre: Setz' ich, Unwissender in der Musik, aus zerstreuten, einst nur vernommenen Tönen dieses Konzert zusammen? Sind es längst gehörte Töne, die einst an den Gehörnerven angeschlagen haben und die nun die Seele, ohne sich in dieser Kunst geübt zu haben, durch ein Zauberspiel wiederum hervorlockt und künstlich verbindet? Die Spielenden, Singenden, die ganze Versammlung der Zuhörer, Bekannte und Unbekannte, stehen, sitzen vor mir, und doch sitzen und stehen Musikanten nur in meinem Gehirn; Gesang und Saitenspiel scheinen aus demselben allein herauszugehen und kehren doch durch das Gehör wirklich in dasselbe zurück oder scheinen es wenigstens zu tun. – Und wenn ich, der ich die Baukunst nicht verstehe, im Traume einen großen, mächtigen, gigantischen, mit keinem von mir gesehenen Gebäude zu vergleichenden Palast plötzlich vor meinen Augen auf der herrlichsten Anhöhe sehe: Wie setzt sich das nach Ordnung und Regel und noch schöner als nach den gewöhnlichen Verhältnissen zusammen, da ich die gewöhnlichen Verhältnisse nie im Wachen berechnet, nie einen Riß entworfen habe? Und warum, wenn ich im Traume zu einem so vollkommenen Architekten werde, seh' ich dann meine Luftschlösser gewöhnlich einsam und verlassen, in düstern, malerischen, zur Einsamkeit ganz harmonierenden Gegenden? Schafft[101] sie die Seele nach ihrem Gefühle so, um die Wirkung des Erhabenen hervorzubringen? – Und wenn ich im Traume, ohne Maler zu sein, Gemälde auf Leinewand sehe, wie sie wohl kein Künstler hervorzubringen vermag, und wirkliche Naturszenen in der weitesten Ausdehnung, wie das Auge des Wachenden sie nicht, wie man sie in der Wirklichkeit nie vereinigt sieht – rinnende Bäche, rauschende Kaskaden, säuselnde Luft – und das alles so einsam, so düster, still, daß sich die Schöpferin der Gebilde, die Seele, im geistigen Beschauen ihres eignen Werks verliert: Wie setzt sich dieses aus den Stücken, Teilen, Farben zusammen, die ich im Wachen zerstückt und einzeln wahrgenommen? Wie rede und verstehe ich Sprachen im Traume, deren Töne mir fremd sind? Wie schaff' ich, wirk' ich Dinge, wovon mich der Gedanke wachend sogleich vor meinem eigenen Verstande als einen Narren aufstellen würde? – Wenn die Träume den Menschen die erste Idee von einem in ihnen wohnenden Wesen, von einem Lande, in welchem dieses Wesen vorher geschwebt hat und in welches es einst zurückkehren wird, beigebracht haben, so scheinen sie mir auch die Quelle der Magie und vieler, wo nicht der meisten, phantastischen Spiele der Seele zu sein. Die Gelehrten wissen dieses nun freilich alles zu erklären, und für die, welchen die Träume kein Stoff des tiefen Nachdenkens und Nachsinnens sind, genügen auch ihre Erklärungen. Ich kann nur fragen, und die Träume scheinen mir ein wunderbares, großes, unbegreifliches Leben, ein Leben, in dem allein alles unser ist, in dem wir alles hervorbringen, dessen Besitz allein uns niemand streitig macht. Wenn wir dieses unser phantastisches Reich betreten, beschleicht uns kein Zweifel mehr, wir schaffen, genießen, sind reicher, glücklicher, als die Wirklichkeit den Mächtigsten, Reichsten, Glücklichsten, als uns die gesamte Natur, die höchste Kunst machen kann. Sobald wir dieses unser Reich betreten, sind wir Dichter, Schöpfer, Künstler, Genien, Götter. Warum kann dieser selige Zustand nicht dauern? Warum müssen wir erwachen, um in der Wirklichkeit zwar auch einen Traum, aber einen ängstlichen Traum – weil wir die Täuschung fühlen! – [102] fort zu träumen? Und was das Wunder vermehrt: Wenn wir im Wachen nun den Schatten des Glücks erhaschen wollen, muß uns erst der bleierne Schlaf des Glaubens und Zutrauens überfallen, um uns in die Täuschung der Träume einzuwiegen. Und kaum fühlen wir uns in diesem süßen Wahn, so tritt auch schon das Gespenst der Wirklichkeit vor unsre Wiege und schüttelt uns gewaltsam und spottend aus dem Schlummer.

Doch setze ich bei allen obigen Träumen voraus, daß der Magen und die Gedärme des Schlafenden rein und nicht überfüllt seien, sonst kann auch wohl das Leben des Traums noch schlechter als das Leben des Wachens werden; und so mag denn dieses beweisen, daß die grobe Sinnlichkeit beide verdirbt.

698


VIELE Leute, sagt man, träumen gar nicht oder sind sich wenigstens ihrer Träume nicht bewußt, scheinen also wirklich während des Schlafens eine Art von Scheintod zu leiden. Ist dieses nun wahr, so beweiset es vielleicht nur, daß ihre Phantasie keine Schöpferin, sondern selbst beim Wachen ein durch Anstrengung erzeugtes Geschöpf sei; vielleicht auch, daß ihre Nerven so wenig reizbar sind und so wenig flüchtigen Geist haben, daß die Seele sie nicht so stark bewegen kann, um ihr Spiel mit dem Bewußtsein der Maschine zu treiben, auf deren Saiten sie es treibt und übt.

699


ICH hätte oben auch noch des Fliegens im Traume erwähnen können – das herrlichste, leichteste, entzückendste Gefühl, womit der Sterbliche, wachend und schlafend, beglückt wird. Nur der sonderbare Umstand hielt mich ab, daß man (ich rede nach meiner Erfahrung) nie von der Erde aufwärts, sondern immer von der Höhe nach unserm allgemeinen Schwerpunkt, Erde, abwärts fliegt.

700


[103] [261]DA es jetzt nur an den Regenten und ihren Ministern liegt, aus der Französischen Revolution die nötigen und heilsamen Lehren für sich zu ziehen, die Veranlassung dazu ganz aus unserm Gedächtnis zu bringen und uns nur die Erinnerung der schrecklichen Folgen derselben als Spiegel zurückzulassen, so könnten wir wirklich diese Revolution als für uns geendigt ansehen, wenn es gewisse verblendete Leute verstatteten. Aber diese wollen wenigstens den einzigen Vorteil, den sie in der Französischen Revolution gefunden, nicht so leicht aufgeben, und darum deuten sie laut und mit dem fürchterlichen Tone der Weissagung eines biblischen Propheten bei jedem Schritte, den die Fürsten zur praktischen Ausübung der von ihnen aufgefaßten Lehren tun, auf eine Begebenheit oder einen Umstand, der diese Revolution nach ihrer Meinung veranlaßt haben soll. Und da sie immer einen Kernspruch der Politik an diesen Umstand knüpfen (ihr Geist vermag nur den Spruch, nicht den Geist der Sache zu fassen) und wenige Fürsten ihre Lage, ihre Zeit, ihr Volk und [261] sich mit allem dem, auf das man deutet, zu vergleichen imstande sind und dabei vergessen, was die Erfahrung seit vierzehn Jahren die Menschen Böses und Gutes gelehrt hat, so verfehlen diese Leute noch bei vielen ihres Zwecks nicht. Wie sie selbst am Ende dabei fahren werden, mag die Zeit entscheiden. So viel ist gewiß: Sie sorgen dafür, daß wir die Französische Revolution nicht vergessen können, und so werden wir durch ihre Sprüche und Deutungen noch lange dieses schreckliche Gespenst vor unsern Augen sehen, ob es gleich, nach dem schweren Leiden, für alle Fürsten und Völker ein wohltätiges Wesen werden könnte.

701


[262] [448]ICH habe bisher noch immer gehofft, vor meinem Tode ein deutsches Heldengedicht, aus deutschem Stoff, von einem deutschen Dichter gesungen, zu lesen; ich gebe diese Hoffnung nach und nach auf. Wir sind in der Kultur so hoch gestiegen, daß Dichter und Leser den Glauben an moralische und physische Wunder ganz verloren zu haben scheinen. Die Physik, Chemie, Philosophie, Theologie und historische Kritik haben alle Ingredienzien, die zu einem Heldengedicht gehören, zu Vorurteilen gemacht; und gelänge es gar auf dem Wege der Mystik und des Schicksals, auf den uns viele unsrer jetzigen Dichter locken wollen, so erhielten wir ein theosophisches Heldengedicht, worin wir in Hexametern lesen könnten, was Jakob Böhm[e], Lavater, Swedenborg usw. gefaselt haben. Die alten Talmudisten, die Platoniker der alten und der neusten Zeit nicht zu vergessen.

702


[448] [106]WENN die Erfahrung einem jeden von uns sagt, das Vergangne sei nichts für uns, das Gegenwärtige nur Mittel zu dem Künftigen, folglich die Zukunft und die Hoffnung seien für uns alles, das Tier nur scheine in der Gegenwart zu leben, zu genießen und zu leiden, so sagt sie uns auch deutlich: wie wir durch ebendieses Streben und rastlose Vordringen des Geistes von den Tieren getrennt sind. Die Quelle unsers Glücks rauscht oder rieselt in der dunkeln, geheimnisvollen Ferne; wir wähnen, sie nahe zu hören. Die Hoffnung, den heißen Durst zu stillen, spornt uns an, sie zu erreichen. Wir nahen, sie versinkt; das Gefühl, der Genuß des Strebens allein bleibt unser Lohn, um uns zu neuen Täuschungen zu reizen.

703


[106] [89]DIE Menschen beklagen sich über die Schwächen der Natur, über die Beschränktheit der Vernunft. Wenn man aber ihre Tätigkeit beobachtet, so möchte man sagen: Alle die Klagenden haben die Mittel, sich zu trösten, in ihrer Eitelkeit, ihrem Stolz, ihrer Unruhe, ihrer Anmaßung und Überschätzung, folglich in sich selbst gefunden. Und wahrlich, alle diese windigen Triebe, welche ihnen die Moral zum Vorwurf machen muß und die ebenden Stoff zu diesen Klagen hervorbringen, verleihen ihnen eine Elastizität, die weder der Moralist noch der Physiker berechnen können. Aus diesem Grunde muß man in der Gesellschaft immer mehr auf die Handelnden und Wirkenden sehen, als auf den Redenden hören. Der, welcher jetzt wie ein Zwerg spricht, handelt oft wie ein Riese, wenn er in die Lage dazu kommt, hält sich wohl selbst dafür, gelingt ihm das Geschäft. Und was wären auch die Menschen ohne diese Elastizität, durch die sie sich, wenn auch mit Hilfe des Windes der genannten Blasbälge, wiederum herstellen, wenn traurige Betrachtungen über sich selbst oder ihre Lage sie niederbeugen? Wenigstens wird so auf dem gemeinen Markte des menschlichen Lebens der offne und der Schleichhandel getrieben; und wer die Gewerbtreibenden verdammt, der hat entweder den Handel mit ihnen ganz aufgegeben oder er vergißt, was er einst dadurch gewonnen, durch die ihn Umgebenden noch gewinnt.

704


[89] [288]WER wagt zu sagen: »Ich will den Menschen malen! Will zeigen, was er ist, warum er so ist, wie er ist!«? – Nur der vermag es, der ihn so geschaffen und ihm sein Inneres so verhüllt hat, daß er sich als Wunder anstaune und Wunder bewirke. Wie mag der sei nen Bruder ähnlich malen, der seiner eignen Ähnlichkeit kaum auf Augenblicke sicher ist, der ihn mit Farben malt, die er in sich selbst gesammelt hat? Die Zeichnungen der geübtesten Meister sind nur Skizzen, und wenn wir uns auch an einzelnen Zügen darin erkennen, so sind es ebendiese einzelnen wahren Züge, die uns erinnern, das Gemälde des Ganzen sei Täuschungoptischer Betrug.

705


[288] [55]IST es an dem, daß den Söhnen der Erde eine Aufgabe zur Auflösung für dieses, vielleicht auch für das künftige Leben übertragen worden, so war es ganz zweckmäßig, daß sie der Oberherr der Geister zwischen die erhabenste Höhe und die dunkelste Tiefe, zwischen das Edelste und Niedrigste stellte. Hat dieses erhabne Wesen dadurch nicht genug für sie getan, daß auch die, welche am gewaltigsten von ihren niedrigen Begierden und Leidenschaften gegen die dunkle Tiefe gezogen werden, noch im taumelnden Versinken nach der Höhe aufblicken, sei sie ihnen jetzt auch ganz verhüllt?

Was ich hiermit sagen will?

Warum erregen die vor uns kriechenden häßlichsten Raupen so wenig unsern Abscheu und reizen wohl noch gar unsre Aufmerksamkeit? Weil wir uns bei ihrem Anblick erinnern, daß viele Arten dieses Gewürms aus der Puppe, in welche sie sich einspinnen, als glänzende Schmetterlinge herausfliegen. Sollte also nur das vor uns kriechende, in die Tiefe versinkende Menschengewürm das Urteil über unser Geschlecht bestimmen?

706


WENN wir auf eines Menschen Angesicht den grob oder fein aufgelegten Schmutz oder die durch die Tierheit aus dem Innern herausgeworfene Schminke der Sinnlichkeit wahrnehmen und bei diesem Anblick Ekel und Abscheu empfinden, so sehen wir doch nicht bloß mit dem Gesichtssinn?

707


DIE Politiker und Menschenkenner mögen über die Utopien, welche die um die Menschheit besorgten und das Bessere wünschenden Philosophen zuzeiten der Welt mitteilen, lachen und [55] spotten, soviel sie wollen – der Menschenfreund sieht wenigstens in den Wünschen und Bemühungen des einzelnen (ob er gleich weiß, die Mühe sei vergebens) die Ehre der Gattung gerettet. Das Bessere für möglich zu halten, etwas Vollkommneres wünschen, träumen und mit Gründen der Vernunft unterstützen zu können, ist doch wohl ein Merkzeichen höhern Ursprungs, edlerer Bestimmung? Wir legen das, was wir politisch sind oder sein müssen, an dieses Maß und lernen daran erkennen, wie wir sind, woran es uns fehlt, warum es uns fehlt, was die Herrschenden und die Gehorchenden sich wegen des Mangelnden gegenseitig vorzuwerfen haben. Wer nun alle diese Utopien – von Platos Utopia bis auf das letzte unsrer Zeit – in diesem Sinne liest und sich in der Wirklichkeit etwas müde gelebt hat, der wird in diesen Träumen das finden, worauf ich eben deuten wollte.

708


[56] [382]VIELE Philosophen sagen, es sei die Furcht, welche die Götter geschaffen oder wenigstens so schrecklich, furchtbar und rächend gemalt habe. Ich wage beinahe zu glauben, der Mensch ließ sich auch hierin nur aus einem dunkeln Gefühl, Bewußtsein oder Ahndung seines Werts Gerechtigkeit widerfahren, wie er immer tut, wenn die Kultur die Eigenliebe noch nicht allzusehr durch die Vernunft verfeinert hat. Er fühlte wahrscheinlich in sich, daß er eines drohenden, rächenden, immer strafenden Zuchtmeisters bedürfe und verdiene und keines allgütigen, allesverzeihenden Vaters. Ebenso wahrscheinlich lispelte ihm auch sein dunkles Gefühl zu, wie er diese Nachsicht eines allgütigen Vaters benutzen oder mißbrauchen würde. So wäre also auch dieses – Werk der Selbstkenntnis. Da nun der Mensch auf diese Weise über sich gesprochen hat, so dünkt mich, der Theolog zeige in dieser Sache mehr Menschenkenntnis (ob ihn gleich etwas anders leitet) als der Philosoph und handle also dadurch, [382] daß er mehr und immer drohend auf den rächenden und strafenden Zuchtmeister deutet, zweckmäßiger als der Philosoph, der uns nur den allgütigen Vater zeigt. Der Philosoph will aus dem Menschen gar vieles heraustreiben, das ihm als Philosoph fremdartig und zweckwidrig scheint und das ihn (ich will eben nicht sagen, es gehöre durchaus und insgesamt zu seiner Natur) vielleicht allein geschickt und fähig machte, die sonderbare Rolle zu spielen, die wir ihn spielen sehen. Gekommen ist es ihm, er weiß nicht woher; entwickeln mußte er es, er weiß nicht warum. Das Warum aber wird durch ebendie Rolle und ihre Verschiedenheit, da er sie bald freiwillig, bald gezwungen spielt, dem Beobachter noch so ziemlich klar.

709


IM rohen Naturstande flicht der Mensch seinen Göttern, Götzen, Fetischen eine Geißel aus den Plagen der Natur zusammen, die er allein kennt, durch die er allein leidet; in Gesellschaft vereint, mit Laster und Tugend bekannt, verfeinert sich die Idee des Rächers, das Gewissen verlängert die Geißel, sie reicht schon über dieses Leben hinaus; ganz kultiviert, reif, hoch im Laster und in der Tugend überreif – wenn kaum der Tugend Raum verstattet wird –, folgt die Straf' und Rache dem Verbrechen in die Ewigkeit. So beschränkt und zwingt sich der wilde, rohe, der kultivierte, der überfeinerte Mensch selbst in Grenzen zu seinem Besten, zu seiner politischen Erhaltung und mißt sich das nach Graden zu, was er zu verdienen glaubt. Und noch mehr: er muß; sonst hätt' er es wahrscheinlich bleiben lassen.

710


WER sich nicht, mit dem erhabnen Kant zu reden, den Weg zur Vergötterung durch die Höllenfahrt der Selbstkenntnis gebahnt hat, für den habe auch ich die meinige umsonst gemacht – und so umsonst, daß ihm die Beschreibung derselben kaum noch zum Zeitvertreib dienen kann.

711


[383] [400]IM Reiche der Geister soll und sollte weder Stillstand, Untätigkeit noch Einförmigkeit herrschen. Unter Armut, Mangel, Beschränktheit, Finsternis springt hier Licht und Überfluß bis zur Verblendung, bis zum grenzenlosen Luxus durch die Kultur und des Menschen Kraft und deren Mißbrauch hervor. Über beide vermögen Gesetze, Mode, Glaube, Meinung, Zeit und Herrschergewalt nichts. Hier ist die überverfeinerte Vernunft, welche gehaltlose, hohle Spekulationen zu Systemen ausspinnt – der hohe Schwung, der den Menschen zu seinem eignen, innern Gesetzgeber [400] konstituiert – die niedrige tierische Sinnlichkeit, welche die irdischen Genüsse, den Magen, den Zeugungstrieb allein zu Hebeln der moralischen Welt macht – Magie, Mystik, Astrologie, Alchimie, Geisterseherei, alle Schwärmereien und Verzerrungen, die man jetzt unter dem Vorwand ersinnt, es sei ein Band nötig, die durch die Vernunft verstiegenen und verflogenen Geister der Menschen wieder zu fesseln, insgesamt ganz in der Natur des sonderbaren Geschlechts, so, wie die Männer es sind, die in diesen Überspannungen, Verzerrungen nichts anders sehen als Kraftäußerungen der sich der Freiheit bewußten oder sie träumenden Geister, die, ob sie gleich an das Endliche geknüpft zu sein scheinen, doch das Vermögen zu gewaltig und zu bestimmt in sich empfinden, das Unendliche durch die Vernunft zu denken oder durch die Phantasie zu erschwärmen und sich zu versinnlichen. Licht und Finsternis, Helldunkel und Schattenspiel halten sich hier das Gleichgewicht, bekämpfen sich einander und vermischen sich, damit der Weg nicht zu hell und nicht zu finster werde, auf dem wir zur Übung unsrer Kräfte, zur Auflösung des verworrenen Rätsels durch uns selbst geleitet werden. Das Mannigfaltige, Widersprechende, Dunkle und Helle, Quälende und Antreibende dieses Spiels deutet auf die Dauer desselben, auf das Vergnügen, die Bewunderung, die es den Spielenden und den beobachtenden Zuschauern gewähren sollte. Nur vor des Geistes Despotie – dem Schrecklichsten, was ein Geist denken kann –, vor dem Einstimmen in ein System, vor einem blinden Glauben bewahre uns der Oberherr der Geister! Doch hat er nicht darüber entschieden? Entließ er uns nicht frei, damit wir etwas aus uns machen können? Und der so Freigelaßne wollte Geister zu seinen Sklaven, zu Nachbetern machen, über die Torheiten anderer murren, weil sie nicht den seinigen gleichen? Rügen mag der Weise die Torheiten, die zu Verirrungen leiten oder zum Despotismus führen sollen, auch davor warnen; das Urteil selbst aber überläßt er dem Oberherrn des unendlichen Reichs allein, wenn er den schönen Namen des Weisen erwerben will.

712


[401] [187]DIE Formen, Zeremonien, festlichen Zusammenkünfte, Regeln des Betragens, kurz das Äußere sind wichtige Rettungs- und Erhaltungsmittel der bürgerlichen Gesellschaft. Sie legen das innere Gewaltige, Verwegne, Energische der Menge an verborgene Ketten, bewahren sie vor Verwilderung und verhüten durch die Vorurteile, die sie erzeugen, daß die aus zu hoher Kultur entsprungenen Grundsätze nicht auch für die Menge Maximen des Handelns werden. Was würde sonst aus denen werden, die das üppige Spiel der Vernunft und der Sinnlichkeit – theoretisch und praktisch – auf Kosten andrer mit Vorteil treiben? Und engen auch diese Formen oft die Entwicklung der wahren, innerlichen Tugenden ein, so wird doch alles wieder dadurch ausgeglichen, daß sie noch öfter den Ausbruch kühner Laster hindern. Mußte nicht selbst das, was der Mensch für das Heiligste hält, zur bloßen Form herabsinken, um seine alleswagende Vernunft durch grobe Versinnlichung zu bezwingen? Entspringt nicht aus der [187] Beobachtung dieser Formen das, was die Menschen als durch sittliches Betragen erworben, Reputation nennen? Freilich sind dies nur Krücken der Moral, auf denen sich das schwächliche, hinkende, seelenleere Geschöpf stützt, um wenigstens schleichend fortzuschreiten. So geht nun die Menge auf gar vielen Krücken zum Vorteil des Ganzen und zu größerm Vorteil derer umher, die immer noch menschlich handeln, wenn sie der Lahmen nur spotten. Der wahre Menschenkenner, der Mann von echtem Geist, geht nur in seinem Innern vor der Menge ganz aufrecht einher; das Genie, der große Geist aber, der alle Formen überspringt und die Menschen insgesamt davon zu entfesseln strebt, setzt sich der Gefahr aus, in seinem freien, verwegnen Laufe endlich unter die Füße der Hinkenden zu stürzen und von den ihm verhaßten Krücken mit Schimpf und Spott zerschlagen zu werden.

713


[188] [502]SEITDEM nun das Wort »Kunstwerk« so bestimmt auf die Darstellungen der Poesie angewandt wird, kann diese natürlich bei ausgebrannten Genies, die dieses Wort vorzüglich in Kredit zu bringen suchen, bloßes Kopfwerk oder Talent werden. Die Lähmung des moralischen Charakters, auf welche Verkältung und Erstarrung des Herzens durch Egoismus folgen, vertragen sich damit und befinden sich vortrefflich dabei. Wer wird sich aber dann noch wundern, wenn es bei dem poetischen Plebs gar Finger- oder Händewerk wird!

So kann ein von großen ästhetischen Kritikern gestempeltes Wort oft vielen Nachteil bringen und am meisten dann, wenn sie selbst Dichter und Genies sind.

[502] Ich trete in deine herrliche Galerie, funfzigjähriger Thümmel 3, und dein Herz des fünfundzwanzigjährigen Jünglings, dein Geist und Verstand des vollendeten Mannes, dein zarter, kräftiger, glühender Pinsel, dein hoher, moralischer Sinn, dein Gefühl für Wahrheit, Freiheit, Rechtschaffenheit, deine Biederkeit machen mich meine Glosse über alle Werke des Kopfs und des Talents vergessen, und seien sie auch von den ersten Genies geschrieben!

714


[503] [392]DER Gesetzgeber, Priester, politische Kopf, Despot oder was er war, der die armen, eingeschreckten Menschen glauben machte, eine allgemeine Wasserflut habe einst, um der Sünde willen, unser ganzes Geschlecht vertilgt, wußte wohl, daß er zu Leuten sprach, die so etwas zu verdienen glauben konnten.

715


[392] DER Mensch hat sich so vieles zur Sünde gemacht, oder vielmehr: gewisse herrschsüchtige Priester und Politiker haben ihm so vieles dazu gemacht, daß die wahrhaften Sünden und Vergehungen gegen Gott und die Welt beinahe zu Kleinigkeiten geworden sind, deren man kaum erwähnt, die man hie und da fast ganz vergessen hat. Und da solche Priester nun für das, was sie zu Sünden gestempelt haben, Absolution erteilen, und von den Vergehungen, auf die ich deute, nicht sehr die Rede ist, so weiß ich nicht, wie der Oberrichter nach diesem Leben das Urteil fällen wird, da nicht mehr sein Geschöpf, sondern das Machwerk solcher Priester und solcher Politiker vor seinen Richterstuhl tritt. Das Billigste wäre wohl, daß solche Priester und solche Politiker die Schuld für alle bezahlten und daß sie sich durch die Entschuldigung, von der sie dann allein noch Rettung hoffen könnten: auch sie seien seine Geschöpfe! das fürchterlichste Urteil selbst sprächen.

716


[393] [9]AUCH ich würde schon weise geworden sein und ganz als ein weiser Mann geschrieben haben, wenn ich nur nicht zur jetzigen Zeit von so schrecklichen Ungerechtigkeiten, Gewalttätigkeiten, Gewaltsstreichen und Grausamkeiten hörte oder sie mit der Gleichgültigkeit vernehmen könnte, mit welcher man sie begeht. Wahrscheinlich aber macht der Egoismus solche Weisen zum Gott für andre, zum Menschen nur für sich selbst.

717


[9] [273]ES freut mich doch, daß auch wir Deutsche einmal recht in den Geist der Zeit eintreten. Da man in dem Frieden der Reichsritterschaft ihre hergebrachte Souveränität, in den Souveränitäten andrer gelegen, zusicherte (es mochte mit dem Geiste der Zeit harmonieren oder nicht), so wär' ich beinahe versucht zu glauben, man wolle dieses Ehrendenkmal des alten Feudalwesens zur Erinnerung, wie unser hoher und kleiner Adel als Fürsten und Ritter zur Souveränität gekommen sei, stehen lassen. Nun sehen wir aber, daß es bloß darum geschah, um das im Geist der Zeit mit Gewalt zu bewirken, was man durch gesetzliche Übereinkunft ruhig hätte ausführen können. Vielleicht wäre aber von gesetzlicher Entschädigung die Rede gewesen, und so ist und bleibt es eine konsequente Handlung im Geiste der Zeit, die dieser Geist gewiß so wenig wie gewisse andre vergessen wird.

718


[273] [106]ZEIT und Raum sind nun freilich nichts, aber dieses metaphysische Nichts ist mit so schweren und gewaltigen Dingen angefüllt, daß sie das Herz und den Geist des fühlenden und denkenden Menschen gänzlich zerschmettern und erdrücken würden, wenn er jene Worte bloß metaphysisch dächte. Die Versinnlichung beider legte ihm einen Punkt zum Stehen unter und verlieh ihm das nötige Gegengewicht. So hält er nun diese Schatten fest, treibt sich mit ihnen vorwärts, zieht sie aus der Vergangenheit in sich zurück, aus der fernen Zukunft näher, schafft sich aus ihnen das Gegenwärtige, macht Nichts zu Etwas oder ringt diesen Schatten und Formen des Denkens seinem und andrer Wesen Wirklichkeit ab und lernt sie festhalten.

719


SIND nicht Gott, Tugend, Seele, Staat lauter abstrakte, metaphysische Begriffe, wodurch sich das sinnliche Tier zum Menschen, zum geistigen, bis zum selbständigen Wesen ausbildete, es bleibt, geblieben ist und bleiben wird, obgleich Zweifel, Sinnlichkeit diese metaphysischen Begriffe immer zu verdicken und das sich zum Geist ausgebildete Wesen wieder zum Tier zu machen streben?

720


[106] [273]DIE feigen, blödsinnigen, knechtischen und herrschsüchtigen Verfinsterer des Tages glauben, den regen Geist der Zeit gebannt zu haben oder bannen zu können. Die Blinden vergessen in ihrem Eifer nur, daß man diesen Geist allein gewinnt und sich ihn dienstbar macht, wenn man sich an ihn schmiegt; daß man ihn dagegen durch Widersetzlichkeit an ebenden Dingen zum bösen, hämischen, im Finstern lauernden, rachsüchtigen Dämon macht, die man gegen ihn so sehr zu schützen sucht. Nur die ihm schmeicheln, sich in ihn fügen, die Dinge in seinem Sinn umstalten, erhalten sich und die Dinge, die ihnen so naheliegen; und nur so machen sie den Gefährlichen zum freundlichen, helfenden, mit ihnen einverstandenen Retter.

721


[273] WENN aufgeklärte Männer glauben, das, was ich hin und wieder über Vorurteile, Pfafferei und Intoleranz sage, sei außer der Zeit und folglich überflüssig, so denken sie hierbei nur an sich und vergessen, wonach gewisse Leute, auch selbst in den protestantischen Ländern, streben. Gelänge es nur diesen gewissen Leuten, wir würden bald alles Genannte aus den finstern Höhlen hervorbrechen sehen, in welche sie der Geist der Zeit nur verbannt zu haben scheint. Der Kampf für Licht und Recht fordert von ihren Verteidigern beständige Wachsamkeit, und das eben darum, weil der Feind im Finstern schleicht. Stehen nicht mitten unter uns, in unsern sogenannten Philosophen und poetischen Poeten, die Jakob Böhme, Lavater, Gaßner, Swedenborg usw., noch toller auf, als sie in der Wirklichkeit gelebt haben? Der Menschenbeobachter läßt sich nicht von dem Schein des Augenblicks blenden.

722


DIE Schweizer hielten sich so lange für freie, biedre, kräftige, einverstandne, aufgeklärte, weise, durch sich selbst bestehende Männer, für Lykurge, Solone, Catone, bis es zur Probe kam, während welcher sie dieses alles hätten erweisen können und sollen. Wären sie wirklich gewesen, was sie auf das gesagte und gedruckte Wort der in ihrem Lande reisenden Bewunderer zu sein glaubten, sie hätten es uns, trotz der gegen sie ausgeübten Gewalt, bewiesen; ja, die Gewalt selbst hätte wahrscheinlich den hohen, vereinten Sinn in Anschlag gebracht, von dem wir in Reisebeschreibungen so vieles lasen und in der Gefahr so wenig sahen. Ihre schmeichelnden Bewunderer bedauren sie nun, und wer wird sie nicht bedauren? Aber die Wahrheit, zur rechten Zeit gesagt, wäre ihnen nützlicher gewesen.

723


[274] [168]THEOLOGEN, Philosophen, moralisierende Staatsleute beweisen wohl noch den Menschen, daß Gott sie nicht alle nach ihrem Wunsche glücklich machen konnte, rechtfertigen ihn sogar darüber mit haltbaren und mit Scheingründen. Nur mit den Regenten der Erde machen sie es anders; und aus ihrem Schweigen wie aus ihrem Reden sollte man schließen, sie hielten dafür, diesen nur sei möglich, was nach ihren Beweisen Gott unmöglich ist: so von ihm gebildete und ausgestattete Geschöpfe nach ihrem Wunsche glücklich zu machen.

724


[168] [430]MAN fühlt auch auf dem großen Welttheater, rechtschaffene Leute seien nützliche Männer, und man bedürfe ihrer. Das Haupthindernis ihres Gebrauchs ist nur, daß man entweder nicht weiß oder es doch zur rechten Zeit vergißt: man könne nur ein rechtschaffener Mann aus Grundsätzen sein und bleiben. Sobald man nun von solchen Männern etwas fordert, das ihren Grundsätzen zuwider ist und sie dann mit denselben laut werden, so begreift man kaum mehr, woher ihnen der gute Ruf gekommen ist.

725


[430] [72]DER Gott des Reichtums ist nicht allein blind, er teilt seine Blindheit auch seinen Günstlingen mit. Könnte sonst ihr eingebildetes Glück dauern, wenn sie die Genüsse und das Glück des edlen Denkers, des wahren Dichters, des von ihrem Götzen überhaupt vernachlässigten G[e]nügsamen sehen und fühlen könnten?

726


[72] [467]ZU keinem Vater ist man berechtigt zu sagen: »Aus deinen Kindern seh' ich, was du im Innern selbst wert bist!« Aber zu dem Moralisten, dem Dichter kann man es auf ein Haar sagen, wenn man so rein empfindet, daß man Wahrheit und Aufrichtigkeit beim ersten Blick von Affektation und Heuchelei, das heißt den Schriftsteller von dem Menschen unterscheiden kann.

727


[467] [199]ES gibt so unglückliche Menschen, daß ihnen das Böse und Gute, das Ungerechte und Gerechte, welches sie tun oder nur tun lassen, zu gleichem Nachteil gereichen. Dieses ist das gewöhnliche Los schwacher Großen. Doch sie scheinen nur uns so unglücklich; die, von denen sie geleitet und beherrscht werden, sorgen so wachsam für ihr Glück, daß sie, die Unglücklichsten auf Erden, ganz vergnügt und zufrieden mit sich und ihrem Schicksale leben.

728


[199] [68]DER Mann, der in Gesellschaft als liebenswürdig auftreten und dafür gehalten sein will, kommt nicht mit der eignen Eitelkeit allein aus; er muß auch noch die Kunst verstehen, die Eitelkeit der Anwesenden so zu schonen, zu reizen und ins Spiel zu bringen, daß sie den Grund seiner Liebenswürdigkeit ganz vergessen und nur sich selbst genießen.

729


[68] [434]KANT ist tot! Ist die Seele unsterblich, so trat doch einmal wieder ein Geist in jenem Reiche auf, der der Enthüllung der dort vorbehaltenen Geheimnisse ganz wert ist. Dem Zweifler antworte ich: So hätte Kants Seele eine Ausnahme verdient!

730


[434] [431]WER sich in dem Sonderbaren, Originellen gefällt und sich nach dem Ruf eines solchen Charakters sehnt, der strebe nur, ein von Grund aus rechtschaffener und auch für die Rechtschaffenheit mutig und kühn streitender Mann zu werden. So wird er von der Welt gewiß alles das erhalten, womit sie das Sonderbare und Originelle zu beehren und zu belohnen pflegt.

731


[431] [434]WENN ich einen Mann von Geist und Gefühl, der sonst in einer leidlichen Lage ist, über die Wirklichkeit murren und düster aufwärtsblicken sehe, möcht' ich ihm immer zurufen: »Hat er nicht für dich gesorgt, da er Geister wie Plato, Epikur, Bacon, Hobbes, Voltaire, Rousseau, Buffon, Bailly, Kant, Homer, Shakespeare, Milton und Klopstock erschuf, die deinem Geist und Herzen ein Gastmahl auf immer aufgetischt hinterlassen haben, an dem sich Götter selbst ergötzen können?«

732


[434] [121]DER Regent, welcher vorzüglich nach der Liebe seines Volks strebt – der Beweggrund sei nun, welcher er wolle (erwecken seine Hofleute und Staatsdiener dieses Verlangen in ihm und unterhalten es ausschließend, so weiß man ohnedem, was sie damit wollen) –, erwirbt selten, was er sucht. Der Zweck, den er sich als Regent fest aufstellen soll, schwebt dann ohnedem, von trügerischem Schein umleuchtet, vor seinen Augen. Darum muß er vorzüglich nach Achtung streben; und da sich diese nur durch strenge Erfüllung der Pflicht erwirbt, deren Wirkung jeder sieht, fühlt und faßt, so bleibt auch die Liebe gewiß nicht aus. Bei den Hofleuten und Staatsbeamten muß sich noch Furcht in die Achtung mischen; denn ihrer Liebe und Zuneigung muß der Fürst ganz entbehren können, wenn es ihm so ernsthaft, wie ich meine, um die Liebe seines Volks zu tun ist. Vielleicht ist diese Maxime für alle Befehlende[n] von Nutzen.

733


[121] [417]WENN ein energischer, gefühlvoller und geistreicher Mann, der den sogenannten Glauben nicht hat und das Leere des Wissens kennt, durch Begebenheiten gereizt und empört, düster und finster aufwärtsblickt, als wollte er da anfragen, wo keine Antwort zu erwarten ist, so scheint er nur den Unerfahrnen aufwärtszublicken. Sein Blick senkt sich wirklich nur in sein tiefes Inneres oder in den Abgrund des Denkens und Fühlens, den der Geist in dem Herzen aufgewühlt hat. Könnte ein minder starker Nebenstehender den Blick eines solchen Mannes in diese Tiefe begleiten, er würde in dem schaudernden Abgrunde versinken, und doch findet der kühne Waghals selbst auch da festen Boden, schwingt sich sogar, von seinem eignen Geiste verklärt, aus der Tiefe empor und geht noch mutiger unter dem Volke einher.

734


[417] [309]MÄNNER, die mit der Menschenkenntnis Handel und Wucher treiben, also ihre Lehrmeister zu Werkzeugen zu machen streben, alle, die auf diesem Wege zu dieser nötigen und auch wichtigen Kenntnis gelangt sind: Jesuiten, Hofleute, Diplomatiker, Intriganten, die Allesvereinigenden und -versöhnenden (insgesamt sehr kluge Menschenkenner und ebenso stolz auf ihre Kunst als ihrer gewiß), denken und sagen gewöhnlich von dem Menschenkenner in einem edlern Sinn, fällt er auch das richtigste Urteil, und am ersten, wenn er sie selbst damit trifft: »Er kennt doch die Menschen nicht.« Aber er kennt sie, auch euch; und jeder von euch weiß, warum ihr seine Menschenkenntnis verdächtig zu machen sucht. Ihr wollt ja doch nur, daß man die Menschen in dem Sinne beurteile, in dem ihr sie behandelt – [309] das heißt: Der redliche Handelsmann soll die Apologie der Wipper, Kipper und Agioteurs auf der öffentlichen Börse machen und auch ihr niedriges Geschäft, ihren Schleichhandel zum aufrichtigen Gewerbe zählen.

735


[310] [431]WENN die Menschen den Mann, der sie in dem Weinbau unterrichtete, erst dann zum Gott machten, als sie die Wirkung des gegornen Rebensafts durch die Trunkenheit kennenlernten, so beweist auch diese späte Vergötterung, wie lästig ihnen die Vernunft ist, auf die sie sonst so stolz sind. Hielten sie dieselbe für das Nötigste, Köstlichste, wie sie wohl zuzeiten sagen, hätten sie den Erfinder dieser Kunst nicht steinigen müssen? Nein, er ist ein Gott und wird noch heute unter Christen so besungen.

736


[431] [349]SEHR viele tiefdenkende und auch edle Männer haben den Grund alles Intellektuellen und Moralischen in dem Menschen bloß in der Erziehung desselben gefunden und daraus geschlossen: daß nur sie die Sittlichkeit selbst, ihren Wert und den Gesichtspunkt derselben bestimme, aus welchem die moralische Welt, ihre Verhältnisse, unser Verhältnis zu ihr zu betrachten seien. Mancher superfizielle Kopf (vielleicht mit schlechtem Herzen), aber auch mancher geistvolle Skeptiker haben sich dieses Satzes bedient, um die Moralität im Menschen selbst verdächtig oder ganz zweifelhaft zu machen, da nach ihm unsre Laster und Tugenden oder das, was wir dafür halten, bloß von dem Zufalle abhingen, der unsre Begriffe bestimmt und unser Bewußtsein oder die Anerkennung dessen, was Pflicht sei, für immer nach ebendiesen mitgeteilten Begriffen belebt, ausgebildet oder verbildet hätte. Aber könnte man nicht ebensowohl sagen: [349] Beweist dieses nicht, der Mensch sei so sonderbar und ausgezeichnet ausgestattet worden, daß er alles aus sich selbst machen sollte und konnte, was er ist? Wäre dieses nicht, so würde ja die Erziehung aus jedem Individuum auf dem gesamten Erdrund immer nur dasselbe gemacht haben noch machen und er so allen andern Tieren der Erde gleichen, welche die Natur nur einer Notwendigkeit unterworfen hat? Nur allein daraus, daß dieser reiche, unermeßliche Stoff nach Abstufungen, von der rohsten bis zur geistigsten, zur Verarbeitung unter das Menschengeschlecht geworfen ward, konnte ein Schauspiel hervorspringen, das nur den Überkultivierten zu ängstigen und zu verwirren imstande ist, der sich auch durch eine moralisch erwiesene Notwendigkeit gern die Unverantwortlichkeit der Tiere erschleichen, ihr Schicksal auf Erden aber übrigens nicht gern teilen möchte. Des Spotts aber wär' ich selbst wert, wenn ich glaubte, einen Lichtstrahl in dieses undurchdringliche Dunkel werfen zu können; nur seinen Platz kann jeder darin finden, findet ihn sogar, sobald er sich durch das allein Mögliche aus dem Widersprechenden gerettet hat.

737


[350] [315]EBENDARUM, weil ein großer Name eine so schwere Last ist, die in dem Maße an Gewicht zunimmt, als sich der Ruf des Trägers derselben verbreitet, wendet noch mancher seine ganze Kraft an, die drückende Bürde zu tragen und die gefahrvolle Benennung recht zu verdienen. Hat er dieses nun eine Zeitlang im wahren Geiste getan, so fühlt nur er die Last nicht und schreitet zum Erstaunen des Neides selbst ganz leicht einher.

738


[315] [274]DIE deutschen Staatsbürger (ein großes Wort, und ich rede von den Reichslanden) sollten doch endlich dem Beispiel der frühern Christen folgen. Als diese nach dem vollen Siege über ihre [274] Unterdrücker selbst Staatsbürger werden, das heißt: einen Staat, ein Vaterland gründen, dessen Mitglieder, Regierer, Verteidiger und Erhalter heißen und sein wollten, so stieß sie wohl die politische Not darauf, ihre Mönchsmoral ein wenig mit heidnischen Tugenden zu rekruderen. Wir Deutschen haben nun wirklich der Mönchstugenden genug gezeigt, und es ist hohe Zeit, daß wir uns ein wenig nach jenen heidnischen umsehen, wenn wir ein Volk bleiben wollen. Vielleicht ist uns aber dieses gleichgültig, und wir sind zufrieden, daß wir davon schön geschriebene Bücher lesen können, während wir als politische Mönche so ruhig hinträumen, daß unsre Nachbarn noch immer auf die strenge Observanz der Hauptregeln rechnen können.

739


[275] [229]IN dem Sinne, wie der Grieche von den Göttern sagte: »Sie verkaufen uns jedes Glück und Vergnügen«, kann ein Mann echter Art zu den Mächtigen, Großen und Reichen sagen, die ihn sich durch Gefälligkeiten und Wohlwollen erkaufen wollen: »Ich kaufe da nicht ein, wo ich mit meinem Hauptstock bezahlen soll.«

740


[229] [43]DAS Gewaltigste, Stärkste, Unbezwinglichste ist der Schlag der Schuld an das Herz. Die Kraft des Kühnsten, Stärksten, Gesundesten erstarrt in diesem Augenblick, und der von ihm Getroffene sinkt vor dem unbestechlichen Richter nieder, weil er es [43] selbst ist. Dieses sind Blitze aus einer dunkeln, unsichtbaren Welt, gegen die allein keine Ableiter schützen, selbst die nicht, welche Philosophen erfinden, die den Menschen nur tierisch nehmen. Noch unerwarteter, plötzlicher überraschen sie den so Getäuschten und fahren noch glühender aus jener Finsternis, die der Wahn verdickt zu haben glaubt. Und wenn nun der Donner, den wir hören, die Blitze, die wir sehen, die physische Welt reinigen, würde die moralische ohne diese innern Gewitter, die wir nicht sehen, die der nur fühlt, der sie selbst in sich zusammengezogen hat, nicht schon längst ganz verpestet und ausgestorben sein?

741


[44] [319]WENN es wahr ist, daß die Weiber während der blutigen Auftritte der Französischen Revolution grausamer gewesen sind als die Männer, so könnte auch wohl der Grund dazu in dem Durst nach Herrschaft, dessen man dieses Geschlecht beschuldigt, liegen. Die von den Stärkern Unterjochten eilten, das zu mißbrauchen, was ihnen so plötzlich, unvermutet dargeboten ward, wovon ihnen der innere Instinkt oder das Bewußtsein sagte, daß [319] es doch nicht dauern könnte. Und nun noch gegen Männer! gegen die Gewaltigen! Was für dunkle, scheußliche, schreckliche Gefühle mögen in den Herzen dieser Furien gewütet haben! Und da sich wahrscheinlich der Geschlechtstrieb hineinmischte, wie beinah' in alles, was gewöhnliche Weiber Gutes und Böses tun, so ward ihnen hier die Grausamkeit Gefühl der Wollust. Ist es nun an dem, so wußte auch der, welcher die Mythe der Furien ersann und sie weiblich dichtete, was er tat.

742


[320] [254]DER Mensch kann alles aus sich machen, und man kann alles aus ihm machen – dieses scheint mir der Haupttext für den zu sein, der das kühne Werk unternimmt, eine Geschichte der Menschheit zu schreiben. Sein Zweck ist, zu zeigen, was, auf welchem Wege, durch welche Mittel der Mensch durch alle Stufen gewirkt und was er hervorgebracht hat. So schreibt er im Geiste des Universalgeschichtschreibers und reicht dem Leser nur Stoff zum Nachdenken und zu Betrachtungen über das Geschlecht dar, zu dem er gehört. Der Moralist mag zeigen, was der Mensch aus sich machen soll, er will dem wunderbaren Schauspiele eine feste Bestimmung geben, darf und muß es auch. Da nun bisher die sogenannten Geschichtschreiber der Menschheit in diesem Sinne die allerwidersprechendsten Fakta immer zu einem zweckmäßigen Ganzen verbunden und nur schöne, tröstende und schmeichelnde Ideale aufgestellt haben, so muß der ernste Denker noch immer diese Geschichte denen ablauern, die auf dem Erdenrund den unendlichen Stoff dazu hergegeben haben und noch hergeben. Je mehr er da Züge sammelt, desto mehr wird er sich von dem Satze überzeugen, von dem ich ausgegangen bin. Vielleicht auch, daß er einen Faden der Verknüpfung entdeckt; nur das Ende dieses Fadens wird sich immer mehr für ihn im fernen Dunkel verlieren, je eifriger und aufrichtiger er es zu fassen strebt. Aber man kann ihn rückwärts suchen und so den Ausgang durch dieses Labyrinth finden! Und wirklich: Für wen es hier einen Anfang gibt, der findet auch ein Ende, und für den sind eben die Geschichten der Menschheit geschrieben, womit man uns bisher beehrt hat. Der mag auch zu sich sagen: »Es gehörten natürlich Tausende von Jahren dazu, um ein so vortreffliches, hocherleuchtetes Geschöpf hervorzubringen, wie ich nun auf dem Grabe der Myriaden zu Staub gewordner roher Söhne der Erde stehe, die alle unter der Bemühung für mich hineingesunken sind, ohne zu wissen, was sie taten, für wen sie es taten. Aber ich fühle das hohe Bewußtsein und weiß, für wen sie gewirkt haben und warum sie geschaffen worden sind. Hab' ich mir all' das Denken, Erfinden, Wirken [254] der Geister derer, die den Staub unter meinen Füßen belebten, zum Eigentum gemacht, so dachten, erfanden und wirkten sie auch für mich! Bin ich nicht der, welcher ihre Bruchstücke vereinigt und ein schönes, edles, zweckmäßiges Ganzes daraus gebildet hat?« – Ich habe gegen diese Standrede, welche sich die Lebenden auf dem Grabe der vergangnen Geschlechter so gerne halten, nichts einzuwenden. Nur dem, welchen Stolz, Dünkel und eitles Hochgefühl so begeistern, möchte man zurufen: »Eitler Träumer! Auch wir sinken in dieses Grab und arbeiten nur an der Vermehrung des Stoffs zur ähnlichen Prahlerei für die, die auf uns folgen! Auch sie werden auf unsern Staub treten und sich und uns eine Standrede halten, in welcher nicht mehr Sinn liegt als in den Geschichten der Menschheit, mit denen man uns bisher in Schlaf gewiegt hat.«

743


[255] [229]DER Staatsdiener, von welchem Range er sei, auf welchem Posten er stehe, welcher ernsthaft und besorgt anfängt, sich seine Feinde und die Gründe ihrer Feindschaft vorzuzählen, ist auf dem Wege, mit seinen Pflichten abzurechnen und sich klüger einzurichten.

744


EIN Staatsdiener, der auf einem bedeutenden Posten steht und überall und durchaus seine Pflicht streng erfüllt, übt mehr Mut aus als die größten Helden der alten und neuen Zeiten. Diese [229] standen und stehen an der Spitze eines Heers gegen sichtbare Feinde, er kämpft allein gegen eine Armee, die ihn aus der Finsternis durch List und Ränke befehdet. Jeder Sieg, den ein solcher Mann erkämpft, vermehrt die Zahl seiner Feinde, da die Siege jener Helden die ihrigen vermindern. Könnte man nur die Feinde eines solchen Mannes, besonders in großen Reichen, auf einer Ebene beisammen sehen, so weiß ich nicht, ob die Scham, auch zu einem solchen Geschlecht zu gehören, die Bewunderung des Mannes, der allein und so seinen Feinden entgegen steht, verstattete; der erste bittre Augenblick müßte wenigstens durch die Betrachtung überwunden werden. – Hier stellte sich eine Satire von selbst dar, gegen die Swifts bitterste nur Spiel der Laune wäre.

745


[230] [434]UNSRE großen aufgeklärten Theologen – Eichhorn, Henke, Planck, Paulus usw. – sind nicht allein die Zierde, sie sind auch [434] die wahren Philosophen unsrer Zeit, und wenn Deutschland sich solcher Männer mit allem Recht gegen die Völker Europas rühmt, so mag es sich auch immer seiner neuen sogenannten Philosophen schämen, die gar zu gern die Zeiten der Crusiusse usw. wieder herbeiführen möchten. Man könnte beinahe sagen, sie strebten aus der von ihnen gemißbrauchten Wissenschaft das zu machen, was die ägyptischen Priester daraus machten: Geheimniskrämerei. Doch wenn wir uns auch wirklich in dieser Gefahr befänden, so rettet uns ihre eigne Eitelkeit, ihre Ruhm-und Zanksucht, ihr dringendes Bedürfnis, die sie gewaltsam antreiben, das kaum trocken gewordene Geschriebene sogleich in dicken Bänden allgemein bekannt zu machen. Viele von ihnen können schon nicht mehr den sechsmonatlichen Termin der Leipziger Messe abwarten und legen uns darum ihre Geheimnisse in monatlichen Journalen offen dar.

746


[435] [374]MEINEN Landsleuten, die es vergessen haben (Wohltaten muß man den Menschen ins Gedächtnis rufen; unter dem Genuß derselben vergessen sie ihren Urheber, wenn sie sich nicht selbst dazu machen), rufe ich aus weiter Ferne zu: »Was ihr seid, sein dürft oder was man euch zu sein erlauben muß – dankt ihr Luthern!«

747


[374] [483]VIELE und große deutsche Schriftsteller gräzisieren vielleicht nur darum, weil sie selbst nichts zu sein wissen. Was ist und wird man, wenn man sich zu etwas liest oder gelesen zu haben glaubt? Doch es ist nur eine Karikatur deutscher Art und Kunst; wir stellen sie in unschuldigen Gedichten und philosophischen Systemen auf, weil die politischen Karikaturen nicht wie in England freien Lauf haben und bei uns geahndet würden.

748


[483][194]

DER MINISTER: »Nun, was sagen Feind' und Freunde von mir in der Residenz?«

DER HAUSFREUND: »Ihre Freunde werden lässig im Lobe, die Zahl Ihrer Feinde scheint täglich abzunehmen, und die es noch zu sein scheinen, reden jetzt so glimpflich von Ihnen, daß man am Ende gar nichts Böses noch Gutes mehr von Ihnen reden wird.«

DER MINISTER: »Schweigen der Neid und der Haß? Nun, so lassen Sie schnell mein Haus auf dem Lande in Ordnung bringen; ich bin reif geworden!«

749


[194] WENN der Regent Geist und Mut hat, rechtschaffene, biedere, dem Staat und ihm getreue Diener gegen Intrigen und Kabalen zu schützen und auf ihren Posten zu erhalten, so kann es ihm gelingen, nicht allein die Menschen an die Tugenden solcher Männer zu gewöhnen, er kann es am Ende noch gar so weit bringen, daß sie solche Männer und ihre Tugenden ertragen lernen.

750


WARUM mißfallen feste Tugend, strenge Gerechtigkeit und Pflichterfüllung so vielen oder den meisten Menschen an den Staatsbeamten?

Weil es Tugenden für das Allgemeine sind, die keiner fordert, der vor sie mit einer Bitte tritt. Was kümmert den einzelnen das Allgemeine? Das, was ihm nützt, das Besondere, braucht er nur und rechnet es dem zur Tugend an, der es ihm gewährt.

751


[195] [483]EINEM deutschen Gelehrten, der sich noch in der Wiege der griechischen und römischen Ideale schaukelt und uns aus alten und neuen Büchern die politische und moralische Herrlichkeit dieser Völker schwärmerisch vormalt, möchte man antworten: »Wahr ist es, die Menschen sind im allgemeinen und zu jeder Zeit – politisch und moralisch – ein erbärmliches Geschlecht gewesen, und an Schmeichlern, Lobrednern hat es ihnen darum nicht gefehlt, weil sie es sich einander selbst sind.«

752


[483] [68]ES ereignet sich wirklich zuweilen, daß der Egoist eine Tat begeht, die uneigennützig, ja wohl gar heroisch zu sein scheint; er rechnet aber dann mit der Zeit ab, in der er noch zu leben und zu genießen hofft.

753


[68] [195]WIE könnte sich ein Mann rechter Art bei den Mächtigen der Erde in Gunst erhalten, da sie ihn ganz und ohne allen Vorbehalt besitzen wollen! Sein Leib, seine Seele, sein Denken und Tun soll ihr Eigentum werden, er soll durchaus und immer treuer Freund – das heißt: zu allem bereiter, in alles einstimmender, alles vollziehender Diener – sein. Ein Gedanke, ein Grundsatz, rein und laut ausgesprochen – sei er auch noch gestern, vor einer Stunde dem Sinn des Hörers oder den Umständen gemäß gewesen –, macht auf der Stelle, wo nicht seine Treue, doch wenigstens seine warme Anhänglichkeit verdächtig. Man erfährt ja, daß der Mann noch andre Götter ehrt.

754


DER rechtschaffenste Mann, eifrig, stark und, wenn es not tut, auch kühn in Dienst und Pflicht, kann in einem Lande, worin der Regent mit edlem Geist und Mut auf das allgemeine Glück des Volks arbeitet, der also in der Mitwirkung zu diesem schönen Zweck seine höchste Glückseligkeit findet und in seinem [195] Regenten die seltne erhabene Erscheinung eines Genius der Menschheit sieht und verehrt – ein solcher Mann, sage ich, kann in einem solchen Lande von Leuten, die ich nicht zu nennen brauche, da sie sich durch ihr lautes Geschrei selbst ankündigen, als schlechter Bürger – heutzutage gar durch das Parade- und Schreckenswort Jakobiner – verleumdet werden. Wie soll man aber ebendiese Leute nennen, die die edelsten, für ihr und ihrer Kinder Bestes zweckmäßigsten Handlungen eines solchen Regenten hämisch tadeln und seinem Wirken alle möglichen Hindernisse in den Weg legen? Hier ist noch mehr als Hochverrat; doch ein solcher Regent ist gegen Toren und Böse ebendarum nachsichtig, weil er ein solcher Regent ist – und seine Getreuen handeln gegen ebendiese Menschen in dem Sinne des guten Genius, dessen Geist sie durchdrungen hat, durch den sie seiner würdig sind.

755


[196] [56]DIE Frage, ob der moralische Sinn uns angeboren sei, scheint mir mehr sonderbar als verwickelt. Man könnte ebensowohl fragen, ob uns unsre ersten moralischen Lehrmeister – die Selbstliebe und der Erhaltungstrieb – angeboren seien? Entspringen sie nicht mit dem Gefühl und dem Begriff der Gerechtigkeit aus dem ersten Unrecht, das wir leiden? Entsteht nun dieser Begriff aus Wirkungen auf uns, so entdeckt auch die Vernunft durch ihn alle andre[n] Tugenden. Die sinnlichen Eindrücke schließen also die moralische Welt auf, ihre Beziehungen, Verhältnisse legen sich unserm Geiste dar, das Bewußtsein des Entdeckten wird Gewissen, dessen Spur auch der Rohste nicht mehr austilgen kann. Darum leidet, fühlt und rächt auch das Tier die ihm geschehene Beleidigung nur physisch, und die moralische Rache ist des Menschen Vorrecht.

756


[56] [338]IM Unglück klammert sich auch wohl der Schlechteste an Religion und Moral an. Er will uns dann glauben machen, er gehöre ihnen an, habe sein Schicksal nicht so verdient, wie es ihn getroffen. Darum zeigen wir auch nur im Glück recht aufrichtig, wie wir es mit beiden meinen.

757


[338] [175]WENN wir in der alten Geschichte von dem plötzlichen gewaltsamen Falle, der Auflösung ganzer Reiche lesen, so drängt sich uns ebendasjenige düstre Gefühl über Vergangenheit auf, das uns bei schrecklichen, zerstörenden Naturerscheinungen erschüttert. Wenigstens denken wir doch dabei an eine rohe Gewalt, welcher das wohlgeordnete Reich so wenig widerstehen konnte als die bebaute Erde, die blühende Insel dem mächtigen Erdbeben. Auch wir waren Zeugen der Auflösung, des Falls ganzer Reiche, aber unsre heutige Kultur bewahrt uns vor solchen düstern Empfindungen, in denen noch etwas Erhabenes liegt – sie reizen nur zu einem stillen oder bittern Hohnlächeln; wir kennen ja alle die elenden, erbärmlichen Mittel, wodurch das Gewaltsame, das Schreckliche, das Große selbst hervorgebracht und wie ebendas Große durch solche Mittel zerstört worden ist.

758


KEINER empfindet mehr, welchen Einfluß große Staaten auf unsern Geist, unser Herz oder unsre Denkungsart, auf unsern moralischen Charakter haben, als der, welcher in einer wohlgeordneten, weise und verständig regierten kleinen Republik geboren und erzogen worden ist und dann in einem großen Staate lange genug gelebt hat, um das recht zu kennen, was ihm eigen ist, notwendig eigen sein muß. Er bringt eine völlige politische Unschuld dahin, mit der nun alles kontrastiert, was er sieht, hört und erfährt. Aber ist er ein Mann im rechten Sinne, so wird er die Ursachen geschwind entdecken, warum es in einem großen [175] Reiche anders hergeht als in dem beschränkten Kreise, worin er sich bisher bewegt hat, auch wird er sich dann auf dieser größern Weltbühne leicht und geschwind orientieren und in ebendiesem Sinne tätig darauf handeln. Bringt er nicht ein moralisches Maß mit, auf dem weder die Politik noch ihr Gefolge die Grade eingeschnitten haben, so können sich in einem solchen Manne zwei der entgegengesetztesten Dinge vereinigen: ein Kopf voll Welterfahrung, wie er sich in einem großen Staate ausbildet, und ein Herz, das die beschränkten Grenzen, die ihm frühere politische Unschuld durch die Erziehung und erste Erfahrung vorgezeichnet haben, nicht übersprungen hat. Aber gibt es kleine, wohlgeordnete Republiken in unsern aufgeklärten Zeiten, wo noch eine solche politische Unschuld möglich ist? Ich möchte eine nennen, wär' es nicht meine Vaterstadt, wenigstens war bisher der Magistrat derselben immer der Verfassung wert, die ihm die Bürger anvertraut haben. Dieses ist viel gesagt, aber wahr, und das Wunder wird um so begreiflicher, wenn wir jetzt den Regenten eines großen Staats nennen können, der die Geistesgröße, den Mut und die hohen, erhabnen Tugenden besitzt, zum Glück und zur Ehre seines Volks eine Staatsverfassung zu erschaffen, die seiner und dieses Volks würdig sei.

759


[176] [299]MAN beschuldigt offene, kühne, biedre, energische Männer eines gewissen Zynismus im Ausdruck und Betragen, und viele von ihnen haben diesen Fehler. Bedürften sie aber einer Verteidigung, so könnte man etwa sagen: Es sind Männer, die sich eines gegründeten Werts und innern Eigentums bewußt sind, die die Tugend des Mannes eben dahinein setzen, worin sie besteht, die Kleinigkeiten für Kleinigkeiten, Schein für Schein halten und mit keiner Affektation Wucher treiben wollen, da sie die wahre Sache selbst besitzen. Schwächliche, zarte, ängstliche, eitle, furchtsame, auch sogenannte feine und schöne Seelen, die sich eben wegen dieser Zartheit, Feinheit vorzüglich lieben und bewundern und ebensogern von andern so geliebt und bewundert sehen, haben sich, da sie gar nichts Eignes und Wahres besitzen und erwerben können, zur Schadloshaltung in der Delikatesse des Ausdrucks und Betragens in der verfeinerten gesellschaftlichen Sittlichkeit eine Schein- und Paradetugend geschaffen, die sie in ihrer Selbstgefälligkeit beinahe – wohl auch ganz – für die einzige, wahre höhere Veredlung des Menschen halten und durch [299] die man sich nach ihrer Meinung allein über die rohe Menge erhebt. Diese Tugend soll sehr glücklich machen, da der Wind der Eitelkeit, der Selbstgefälligkeit, der Überschätzung ihre Erzeuger und Erhalter sind; aber da sie etwas durch Übereinkunft Gemachtes ist, von dieser vorzüglich unterstützt wird, so hat sie auch alle die Gebrechen (die Intoleranz an der Spitze), die den Dingen anhängen, welche die Menschen durch Meinungen und Vertrag zum Behuf des Glaubens erschaffen haben und was sie so gern vorzugsweise Tugend nennen. Übrigens ist wahrscheinlich die Einbildungskraft jener Zyniker reiner als dieser so zarten, feinen, schönen Seelen, und wenn die letzten die ersten nicht vertragen können, so hat sich doch das fein gebildete und mit ihrer Farbe geschmückte Laster nicht über sie zu beklagen.

760


[300] [219]EIN recht bedeutender, glücklicher oder glücklichscheinender Mann braucht nur unglücklich und unbedeutend zu werden, um das Publikum mit sich, seinen Tugenden und Fehlern, sogar mit seinen Lastern auszusöhnen. Ein Beweis, daß Neid und Haß sich mehr mit dem Manne als mit der Sache, welche ihm vertraut war, beschäftigen. Es ereignet sich sogar, daß ebender Mann von denen, die ihn haßten und verabscheuten, verteidigt wird, wenn der Fürst ihn wegen begangener Verbrechen vor Gericht zieht. Man fürchtet ihn nicht mehr, hält ihn nicht mehr für glücklich – er ist unbedeutend.

761


[219] [475]STEHT ein prächtiges Landschloß in Flammen oder wird der Bewohner desselben nebst seinen Angehörigen von Räubern ermordet, so quaken doch die Frösche im Teiche, die Vögel singen in den Gebüschen, oder die Eulen und Uhus heulen in der Ferne dazu, nachdem es an der Zeit des Tages ist. Dieses ist der griechische Chor in der neuen deutschen Tragödie.

762


[475] [72]DAS Verdauen verursacht meistens dem Reichen ein peinlicheres Gefühl als dem fleißigen Armen die Arbeit, womit er das zum Verdauen Gehörige für sich und seine Familie erwirbt.

763


[72] [288]ZUM Heil der Gesellschaft, die wir nun einmal vorstellen sollen und müssen, ist es wenigstens sehr zweckmäßig, daß wir die Menschen- und Weltkenntnis, die helle richtige Ansicht der moralischen und politischen Erscheinungen und Beziehungen, den festen weiten Blick, das Ganze zu umfassen und den rechten Standpunkt auf der Erde zur Erde zu durchschauen, nicht durch Bücher und auf Schulen wie andre Wissenschaften, sondern durch lange Erfahrung, Beobachtung, Aufmerksamkeit, durch Gewinn und Verlust erwerben können. Auf dem langsamen, beschwerlichen Wege zu diesen späten Kenntnissen verliert sich gar vieles in uns, das ihr und uns selbst gefährlich werden könnte. Das Gute, was der einzelne zusetzt, wuchert für das Ganze. Der Edle lernt sich auf diesem traurigen Wege endlich orientieren, und der zu Kühne, der Verwegne, Vermessene, der Böse selbst muß mit uns und seinen Leidenschaften politisch rechnen lernen, wenn er sich nicht früher an den Grenzen, welche die Gesetze aufgestellt haben, das Haupt zerstößt. Wenigstens läßt [288] er auf seinem gefährlichen Wege, auf dem er zu seiner Erfahrung läuft, Zeichen der Warnung für die Zuschauer zurück.

764


[289] [310]DIE schönste Weisheit selbst wird in dem Munde eines erfahrnen Alten lästig, wenn er bei seinen Sprüchen, Ermahnungen und Urteilen vergißt, wievielen Anteil sein Alter daran hat.

765


[310] [141]NIE hat man mehr Gelegenheit, das ganze Heer von Vorurteilen, die Verblendung, den Blödsinn, die Torheit, den Wahn, die Dummheit und Bosheit, die Selbstsucht, den Hochmut und Stolz, kurz alles Schlechte und das Allerschlechteste in dem Menschen kennenzulernen, als wenn man in einem Staate lebt, den der Regent, sei es auch durch die weisesten, menschlichsten und schonendsten Mittel, durch Erziehung, Bildung, verbesserte Industrie, weise Gesetze zu verjüngen – das heißt: seine moralische und politische Kraft zum Glück des Ganzen zu entwickeln strebt. Ich rede hier nicht vom Volke, das Wohltaten ebenso gut erkennt, als es selbiger bedarf, und ich würde ein zu schwarzes Gemälde entwerfen, wenn ich die Gründe gewisser Leute dagegen aufstellte. In dieser Lage nun tröstet den denkenden und fühlenden Mann nichts als der Blick auf ebendiesen Regenten, der reines Geistes und Herzens, des schwarzen Undanks nicht achtend und nur der Zukunft eingedenk mutig und weise das Erhabenste leistet, was Menschen an einen Menschen fordern können.

766


[141] MÄNNER, die gern die dunkle Leitung der Menschen andern erklären möchten, sagen auch wohl, wenn sie von der Vorsehung reden: sie sehe nur auf das Ganze, kümmere sich nicht um das Kleine, es möge auch dem einzelnen ergehen, wie es wolle, wenn nur der Hauptzweck erreicht würde. So ketzerisch nun dieser Satz manchem im moralischen und religiösen Sinne auch scheinen mag, so könnte er doch, von Regenten und Staatsleuten angenommen und ausgeführt, Wunder tun, vorausgesetzt, sie machten sich nicht selbst als das vorzüglich Einzelne zum Hauptzweck dieser Vorsehung.

767


[142] [94]DAS Widernatürliche und Gewaltsame unsers Zustandes in der bürgerlichen Gesellschaft zeigt sich nirgends stärker als in der Unterjochung des Geschlechtstriebes, die uns religiöse und politische Gesetze auflegen und aus Wahn und noch mehr aus Not zur Tugend machen mußten. Wenn diese Tugend eine besondre, vorzügliche Auszeichnung unsrer Religion ist, so ist sie auch diejenige Gewalt, die wir am stärksten fühlen, der wir uns mit Gefahr der wichtigsten gesellschaftlichen Vorteile entgegensetzen und die so oft schon in den frühsten Jahren in dem Herzen des Kühnen, Kräftigen den Samen zur Feindschaft gegen ebendiese Gesellschaft legt. Ich wage zu sagen, daß aus diesem der Gesellschaft, wie sie ist, so nötigen Zwange der größte Teil der Torheiten, Schwärmereien, Tollheiten, Zerrüttungen in den Familien und selbst der sich besonders auszeichnenden und empörenden Verbrechen entsteht. Und wenn das volle Erwachen dieses Triebes Tugenden, Talente und Genie erzeugt, erhöht und beflügelt, so gibt ihnen auch die gewaltsame Unterdrückung desselben sehr oft eine düstre, falsche, gefährliche Richtung. So rächt sich die Natur an der Gesellschaft durch ihre Opfer, und diese muß hier um ihrer Ruhe und Erhaltung oder des durch Religion und Gesetz einmal angenommenen Geistes willen den Verlust und Schaden tragen oder das abbüßen, was sie an der Natur verschuldet hat oder verschulden mußte. Die Schädlichsten und Gefährlichsten aber für sich selbst und diese Gesellschaft werden meistens diejenigen, die den Mut und die Kraft nicht haben, dieses Joch abzuschütteln, und die Forderung der Natur durch Mittel befriedigen, die das Gehirn vertrocknen, die Nerven schwächen und jene trockne, heiße, krampfhafte Spannung der Schwäche hervorbringen, die man hypochondrischen Zustand nennt. Belege zu diesem kann man in der Liste der fanatischen, schwärmerischen, enthusiastischen Toren und Verbrecher finden, von welcher Art sie auch sein mögen. Hier spielt der unterdrückte oder so befriedigte Geschlechtstrieb immer die Hauptrolle, verschlingt oder umwölkt den Willen.

768


[94] [476]DIE französischen Denkschriften (mémoires) sind eine so reizende als unterhaltende Lektüre, aber der Deutsche muß sich hüten, sie zu seiner eignen und seines Volks Beurteilung für eine Schule der Menschenkenntnis unbedingt zu nehmen. Was sie auch im einzelnen sein mögen, im ganzen, im allgemeinen dienen sie doch nur zum Maßstabe und zur Kenntnis der Franzosen, und der deutsche Leser, der sie für allgemein geltend annimmt, verpfuscht nicht allein seine eigne Moralität, er tut auch seinen Landsleuten unrecht, wenn er sie darnach beurteilt.

769


[476] [289]IN der Jugend sind Feenmärchen, Romane, Dichter unsre Lieblingslektüre; im männlichen Alter liest man Geschichte, Moral, Philosophie, in den Jahren der Reife Reisebeschreibungen. So geht es von dem Idealischen bis zur gröbsten Wirklichkeit herunter. Fügen wir nun die Menschenkenntnis aus den Reisebeschreibungen zu unsrer durch das praktische Leben erworbenen, so läßt sich leicht denken, mit welchen Gedanken und Empfindungen mancher Greis in das Grab wandert.

770


[289] [35]DIE Menschen fürchten sich vor nichts mehr als vor ihresgleichen. So wahr, aufrichtig und naiv nun auch dieses Kompliment ist, das sie hier einander machen, so logisch richtig ist auch der Schluß, den sie zugleich instinktmäßig daraus ziehen. Nach dem Grade dieser Furcht ließe sich wohl auch der moralische Wert gar vieler bestimmen. Wenn ich daher einen wohlgebildeten Knaben sehe, dessen offne Stirne, heller Blick Geist und Mut versprechen, so weiß ich ihm nichts Bessers zu wünschen als: »Gott bewahre dich vor Menschenfurcht!«

771


DER Mensch ist nie natürlich-beredter, als wenn er von sich selbst spricht; nur dann wird seine Beredsamkeit Werk der Kunst, wenn er über sich spricht oder sprechen muß. Nichts ist natürlicher. Im ersten Fall will er nur andre täuschen, im zweiten muß er während des Redens sich selbst oder seinen innern Beobachter täuschen und so bezwingen, daß er ihn durch das Äußere nicht verrate.

772


[35] [295]KÖNNTE man recht aufrichtige Gespräche zwischen Herz und Verstand des Menschen belauern oder, ebenso aufrichtig niedergeschrieben, lesen, so würde man zwar sehen, daß das erste oft ein Tor und Schwächling, der andere aber noch öfter etwas viel Schlimmeres gewesen sei.

773


[295] [142]DAS Volk faßt die abstrakte Idee von Staat nur dann auf, interessiert sich für dessen Heil, Ruhm und Ehre und gründet sein eignes Heil, seinen Ruhm und seine Ehre nur dann darauf, wenn der Regent durch seine Regierung den Staat der Teilnahme recht wert und würdig macht. Da dieses das offenbarste aller Geheimnisse ist, so ist es wirklich zu verwundern, daß man nicht überall und immer Gebrauch davon macht; aber noch mehr ist es zu verwundern, wenn man bei dem Nichtgebrauch dieses Geheimnisses über die Kälte, Gleichgültigkeit oder das unpatriotische Benehmen des Volks klagt. Wer an der Wahrheit dieser Äußerung zweifelt, dem wünsche ich, wenn er das Unglück hat, unter einer trägen, schlechten Regierung zu leben, er möge bald das Glück erleben, daß ein weiser, edler Mann diesem nachfolge; die politische und moralische Auferstehung, von der ich rede, sieht er dann gewiß.

774


WENN die Glücksjäger den Großen und Mächtigen niederträchtig schmeicheln und dienen, so sind die Kleinen, Geringen ihr Zweck. Könnte es ihnen gelingen, wenn die Großen und Mächtigen in ihrer Täuschung daran dächten, daß sie nur Mittel zum Zweck dieser Elenden sind?

775


[142] [488]MAN sieht in reifern Jahren die Romane voll hohen Gefühls, erhabner Gesinnungen, hochedler Charaktere, schwärmerischer Tugend mit Kälte oder gar Verachtung an und findet es [488] unbegreiflich, wie junge Leute solche unwahrscheinliche Träumereien lesen und bewundern können. Noch unbegreiflicher findet es mancher, wie er das selbst einst tun konnte. Aber der reife Mann, der dem Grunde dieser Kälte oder Verachtung ehrlich nachsinnt, wird bei dieser Veranlassung Entdeckungen über sich und die Welt machen, die ihm seine Kälte oder Verachtung bis zu seinem Verdruß erklären werden. Vielleicht entdeckt er gar, daß die Tugend selbst etwas Romantisches ist, und hält er nun dieses für Wahrheit, so untersuche er ernsthaft, wie, auf welchem Wege er um diesen romantischen Sinn gekommen ist; wahrscheinlich wird seine letzte Entdeckung dann mehr zu seinem Nachteil als zum Nachteil des romantischen Sinns ausfallen.

776


AUF dem großen Weltmarkte muß freilich alles Große, Edle, Kühne und Heroische romantisch scheinen; aber man bedenke doch, was für ein scheußliches Schauspiel dieser Markt darstellen würde, wenn es nie aufträte.

777


[489] [90]DER kultivierte Mensch sieht mit Stolz auf die Kluft, die ihn von den Tieren der Erde trennt. Aber mit welchem Gefühl sollte er auf den geistigen, moralischen und politischen, von den Menschen selbst geschaffenen Unterschied sehen, der den Menschen mehr von dem Menschen als die Menschen von den Tieren trennt; der sie so voneinander scheidet und reißt, daß man kaum einen allgemeinen Schöpfer und Vater des gesamten Geschlechts in der kultivierten Gesellschaft erkennen kann; man müßte sich denn wegen der Verwandtschaft oder des allgemeinen Ursprungs mit Hilfe des Glaubens an das künftige Leben halten, eines Glaubens, den man noch so gefällig ist, aufrechtzuerhalten; aber man sollte sich auch desselben mehr in dem Verkehr des Lebens erinnern. Dann würde auch die Notwendigkeit dieser künstlichen Abstufung dem Letzten begreiflicher und erträglicher werden.

778


[90] [143]ES gibt außer den vielen großen Qualen, welche doch den Menschenverderber und Geisterunterdrücker martern, eine der peinlichsten, an die man kaum denkt und an die ich darum hier erinnern will: wenn nämlich ein benachbarter Regent aus hohem moralischem Gefühl und aus Achtung für Menschenwert mit aller Kraft seines Geistes und Herzens strebt, sein Volk zu veredeln und der echten, gesetzlichen, bürgerlichen Freiheit durch Aufklärung und Geistesentwicklung würdig zu machen. Und trieben auch erstere die dicke Finsternis des Mittelalters zusammen, so können sie doch nicht hindern, daß die Menschen, mit denen sie dieses versuchen, nicht nach dem Lichte blickten, nach welchem sie seufzen – und leuchtete es auch im fernen Norden.

779


[143] [90]DER einzelne Mensch kann für seinesgleichen ein erfreulicher, angenehmer, entzückender Gegenstand sein; aber um so etwas Ähnliches beim Überblick des ganzen Geschlechts zu fühlen, müßte man ein Gott sein, es geschaffen haben, den Zweck desselben wissen, die sonderbaren Mittel dazu begreifen und auch ausgleichen können.

780


[90] [489]DAS Herz des Deutschen hebt sich beim Lesen des Buchs von Villers über unsern großen Luther; und aus dem Einfluß Deutschlands auf einen Mann und Denker wie Villers erkennt man des Vaterlandes wahren Geist, den Geist seiner Literatur. Auch aus der Vorrede zu dem Buche zeigt sich der Deutsche zu seiner Ehre. Wie edel haben sich nicht einige unsrer besten Köpfe gegen ihn benommen! Da nun unser Vaterland einen solchen Einfluß auf einen wackern Mann, einen Franzosen, hat, was für erbärmliche Menschen müssen die sogenannten neuen Philosophen und poetischen Poeten unter uns sein, die auf deutschem Boden, in deutscher Sprache ebendiese Reformation verlästern, und das aus dem elenden, niederträchtigen Bewegungsgrunde, weil die Deutschen durch diese Reformation ihrem tollen Unsinn, ihrem düstern Aberglauben, ihren mystischen Schwärmereien (einer scheußlichen Mischung von Katholizismus und Atheismus oder Aberglauben und Unglauben) entgangen sind.

781


[489] [220]WIE kühne, starke Geister größer und mächtiger, als sie es im vollsten Rausch der Ehre und Herrschsucht träumen konnten, durch die Schwäche und Erbärmlichkeit anderer werden, wird wohl heute kein Verständiger fragen, da es sich der Pöbel selbst beantworten kann.

782


[220] [374]ES gibt Leute, welche sich darüber wundern, daß ein so elender Schwärmer wie Doktor Jung in unsern Tagen eine so unsinnige Sekte zusammentollen kann, wie wir sie in der Schweiz und einigen Teilen Deutschlands rasen sehen. Diese Leute bedenken nicht, daß unsere Tage zu solchem Unsinn recht gemacht sind, daß das Volk, gebildet wie es ist durch die Politiker und die Klerisei, eben in unsern Tagen einen Ausweg suchen mußte, um noch an Gott und seine Vorsehung, nach allen Erscheinungen und Erschütterungen, unter denen es gelitten, glauben zu können. Denn entweder mußten sie glauben, der Gott, den sie anbeten, sei nicht, kümmere sich wenigstens nicht um seine Gläubige[n]; oder sie mußten, gedrängt durch die gewaltigen Umwälzungen und Erscheinungen, ihre in den Schulen und Kirchen aufgefaßten Lehren nach diesen Umwälzungen modeln und endlich, um an Gott zu glauben, dafür halten, diejenigen, welchen alles gelang, seien seine Werkzeuge, und ihnen habe seine Vorsehung alles vorbereitet. Welches nun das Bessere für die Welt sei – dieser Unsinn oder völliger Unglaube –, darüber mögen die Menschenführer entscheiden. 4 Ehemals rechtfertigten Regenten, Staatsleute und die Klerisei all ihr Tun und Wirken durch diese Lehren [374] und zeigten gern bei Erscheinungen, die sie in der politischen und religiösen Welt bewirkten, auf diesen Gott und seine Vorsehung. Jetzt sind freilich gewaltigere menschliche Arme sicht – und fühlbar; aber dazu sucht eben das erstaunte Volk einen Leiter, Beweger. Es ist demnach ganz natürlich, daß es ihn da sucht, wohin man es immer hinverwiesen hat; und man wundert sich jetzt, daß es dieses nach seiner Art, nach seiner religiösen Bildung tut? Verfolgung allein könnte diesen Unsinn gefährlich machen; aber was wäre auch heute gefährlich? Wir leben ja in so glücklichen Zeiten, daß weder politische noch religiöse Schwärmerei etwas vermögen.

783


[375] [9]MÄNNER von Geist, Kraft und Herz sterben schon vor ihrem wirklichen Tod der Welt und ihren Bewohnern ab, weil es für sie unmöglich ist, sich über die Welt und ihre Bewohner bis an den wirklichen Tod zu täuschen. Es war wohl immer so; und die Ereignisse, deren Zeugen wir waren und noch sind, scheinen mir nicht geeignet, Leute dieser Art vor einem so frühen Verblühen zu bewahren. Dieses frühere oder spätere Absterben hängt von dem Grade des Enthusiasmus ab, der diese Edlen [9] beseelt; aber endlich verschwindet auch dem Edelsten die Hoffnung und der Glaube; und selbst der, welcher sich selbst am getreusten geblieben, der am längsten ausgehalten und bis ans Ende gekämpft hat, stirbt mit gebrochenem Herzen und verhülltem Geiste. Der Kühne, Starke verläßt gewöhnlich im Gefühl des Unwillens, des Ingrimms eine Welt, die er so lange in seinem Herzen trug. Der, dem es endlich durch seinen Verstand gelungen, das Herz zum Schweigen zu bringen, seinen Kummer durch Witz, Spott und Lachen zu verjagen, lebt und stirbt mit Sarkasmen über sich selbst und über höhere Gegenstände als die Welt und ihre Bewohner. Ist dieses nun wahr, so sterben nur diejenigen ruhig und gleichgültig über das Schicksal ihrer Mitbrüder, die sich selbst gelebt haben.

784

Fußnoten

1 Vgl. Nr. 3

2 Nach Lesung der vortrefflichen Geschichten des Protestantismus und Katholizismus Plancks halt' ich ihn in Deutschland allein für den Mann zu einem solchen Unternehmen. Welches Aufsehen würden seine Geschichten in Europa gemacht haben, wären sie englisch oder französisch geschrieben worden.

3 Als ich die Funfzig niederschrieb, zählte dieser nie alternde, immer blühende Dämon siebenundsechzig, wie ich nachher erfuhr, und da ich also in meinem Irrtum nur nach den gewöhnlichen und schon mehr als gewöhnlichen Zeugungskräften des menschlichen Geistes rechnete, so macht nun mein belehrter Irrtum das Wunder erst recht zum Wunder.

4 Sind die Völker Europas seit sechzehn Jahren durch ihren Glauben an Gott und die Erscheinungen in seiner Welt nicht gewaltig in die Enge getrieben worden? Schien die Vorsehung nicht alle diese Erscheinungen gegen die sich Widersetzenden zu begünstigen? Wenn die Verständigen in den sich Widersetzenden die Ursache finden, konnte das nur in Schulen und Kirchen gebildete Volk mit ihnen das Geheimnis durchblicken? Auch der Rohste wirft eine Frage auf, wenn alles um ihn her zerfällt und erliegt; und da der Verständige sich hütet, ihm zu antworten, so fällt die Antwort nach den Begriffen des Haufens aus. Daß ich mit Obigem dem gefährlichen und törichten Schwärmer Jung nicht das Wort reden will, glaubt man mir wohl.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Klinger, Friedrich Maximilian. Aphorismen. Betrachtungen und Gedanken. Betrachtungen und Gedanken. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-B2AD-9