Maria Janitschek
Die neue Eva

[3] Der Betrogene

[3] [5]Frau Tavadar trat entrüstet in das Zimmer ihrer Tochter. Die rotseidenen Gardinen waren noch herabgelassen, und Fräulein Elline, wie ein Igel zusammengerollt, lag in ihrem Bette.

»Das finde ich einfach unverschämt!«

Mit zornigem Griff riss die Mutter die Decke herab. Zwei grosse, dunkle Augen öffneten sich mit jenem unbestimmten Ausdruck Erwachender, die plötzlich aus ihren Träumen erweckt werden.

[5] »Was ist denn?«

»Halb vier ist.«

»Weiter nichts?« Das Töchterlein blieb gelassen ohne Decke liegen und blinzelte vor sich hin. »Ich hab gerade so hübsch geträumt. Jeden Abend vergesse ich den Riegel vorzuschieben. Wenn mich nur jemand daran erinnerte! ...«

Diese Gelassenheit brachte die Mama noch mehr in Wut. Sie raffte die Schleppe ihres blauen Hauskleids ärgerlich zusammen und zerknitterte sie zwischen den Fingern.

»Ich bin, weiss Gott, nicht engherzig. Aber das geht zu weit. Drei Besuche habe ich abweisen müssen.« Sie begann zu erzählen, wie sie nach Ausreden gesucht [6] habe, um die Faulheit der Tochter zu entschuldigen.

»Findest du nicht, dass ich eine allerliebste kleine Zehe habe?« Aus den Falten des weissen Nachthemds glitt ein rosiges Füsschen hervor. Die Mutter warf einen geringschätzigen Blick auf die Tochter. »Du wirst alle Tage dümmer.«

Der schöne Fuss verbarg sich wieder in den Schnee des weissen Battists. Elline kreuzte die runden Arme nachdenklich unterm Kopf. »Wenn mir doch jemand meine Decke wiedergäbe, ich friere.«

Frau Tavadar rührte sich nicht. »Du sollst aufstehen.«

»Wozu denn schon? Es ist ja noch nicht Morgen. Morgen, ja! ...«

[7] Die Mutter wandte sich ab. Ein klingendes Lachen ertönte. Elline zeigte ihr tadelloses Gebiss. »Ich versteh nicht. Vorige Woche, am Osterfest hast du ein Kitzchen für uns zubereiten lassen. Was hat das kleine, unschuldige Tierchen verbrochen, dass es am Fest der Liebe als ein blutiger Fleischfetzen auf unserer Tafel prangen musste? Morgen wird ein Raubmörder hingerichtet, dessen Blut nicht unschuldig vergossen wird; weshalb soll ich mir das nicht ansehen?«

Frau Tavadar machte eine Gebärde des Abscheus. »Dieses Schlüsseziehen der heutigen Jugend! Ein Mensch ist kein Tier! ...«

[8] »Gott sei Dank! Was fingen wir an, wenn die Tiere ebenso nichtswürdig wie wir wären! ...«

»Schwätz keinen Unsinn!«

»Das Tier thut, wozu die Natur es drängt, wir aber –«

»Stehen über der tierischen Natur –«

»Meinst du?« Elline richtete sich auf, ein Sphinxlächeln um die Lippen. Das weisse Spitzenhemd klaffte auf ihrer Brust und verriet die geheimen Schönheiten ihres jungen Leibes. Sie regte keinen Finger, um die Knöpfchen zu schliessen; es lag eine Art übergrosser Vertraulichkeit darinnen, jener Vertraulichkeit, die bereits Geringschätzung ist. Die Mutter bückte sich, nahm die seidne Decke vom [9] Teppich auf und warf sie aufs Bett. Ellines Lächeln glitt von den Lippen in die Augen. »Wir stünden über der Natur, Mamachen? Unter ihr stehen wir, wir mit unserm Selbstbewusstsein, unserm Geist, tief unter ihr. Glaubst du, ein Tierweibchen würde sich herablassen, das zu thun, was wir thun, um ›unter die Haube zu kommen‹?«

Die Mutter blickte die Tochter von der Seite an. »Was soll das wieder heissen? Das versteh ich nicht, was thun wir denn?«

»Willst du zu mir in die Schule gehn?«

»Sei nicht so frech! Ich bin nicht neugierig, deine Geheimnisse kennen zu lernen. Behalt sie für dich!«

»Es würde dir auch nichts mehr nützen. Du bist zu – sehr in andern Anschauungen [10] befangen,« setzte das Töchterlein diplomatisch hinzu.

Ein bläuliches Rot glitt über das Gesicht der Mutter. »Wie soll ich das verstehen?«

Elline spitzte die Lippen wie zu einem Kuss. »Du und deine Generation, ihr seid langweilig gewesen. War nicht Euer A und O, dass ein Mädchen am Hochzeitsmorgen ahnungslos sein müsste, dem gegenüber, das der Abend ihm brächte, dass einen Mann nur die Unschuld köderte ...«

»Gewiss, du Närrin, so ist es auch noch heute.«

»Nein, so ist es nicht heute.« Sie liess sich wieder in die Kissen gleiten. »Aber nicht im geringsten ist es so heute. [11] Ein unbescholtenes, in Liebeskünsten unerfahrenes Mädchen ist dem modernen Elegant ein Greuel. Er sucht Überraschungen, noch nicht Dagewesenes beim Weibe. Grossvaters Ideal ist nicht mehr das seine. Sieh dir doch die erkorenen Frauen seines Geschmacks an. Kleine Kinder sind es, oder Frauen, deren Leib schon die herbe Würze der Mutterschaft trägt ...«

Frau Tavadar unterbrach sie mit einer raschen Bewegung. »Du ...« sie wollte ein Schimpfwort ausstossen, beherrschte sich aber. »Woher hast du all diese Kenntnisse?« Und plötzlich hatte sie die Finger in Ellines dunkle Haarflut vergraben. »Woher, frage ich, hast du alle diese Kenntnisse? [12] Hast du sie von einem Mann erhalten, dann weh dir! Ich schlag dich tot. Du weisst, dass du nur ein armes Ding bist. Unsere Wohlhabenheit ist Schein. Wenn du das Eine verloren hast, hast du nichts mehr einzusetzen. Woher, frag ich, du ... du ...«

»Es ist sehr angenehm, wenn einem jemand im Haar kraut ...«

Die Mutter wollte zu einem Backenstreich ausholen, Elline wich geschickt aus. »Keine Abgeschmacktheiten, Mama. Ich weiss, dass ich dich später zu unterstützen haben werde, alles andere lass meine Sorge sein.«

»Unterstützen! Wie liebevoll! So redet mein Kind! ...«

[13] »Ach!« ein leichter Rosenschimmer glitt über Ellines bräunliches Gesicht, »die Pose lass, sie ist lächerlich. Du hast mich ins Leben gesetzt, mich gesund auf erzogen, dafür –«

»Nur das, sonst nichts weiter?«

»Nein, liebe Mutter. Deine herumliegenden Mirbeaus und Louys hätten mich leicht zu einer Dummheit treiben, meine Neugierde reizen können ... denke nur! ...« ihre Augen blitzten auf, »aber ich sagte mir: Geduld! Klug sein! Das übrige kommt dann von selbst.«

»Aber ist denn das Klugheit?« Die Stimme der Mutter klang fast demütig, »ist deine Art, dich zu geben, Klugheit? Du machst auf die Männer den Ein druck [14] des Gegenteils dessen, das du, hoffentlich! bist. Keiner wird den Mut haben, dich zu heiraten.«

»Rede nicht so wunderlich. Deine Bewerber, das heisst die du vor dreissig Jahren hattest, würden allerdings –«

»Das soll die Ehrerbietung sein, die man seinen Eltern schuldig ist!«

»Ehrerbietung!?« Elline warf sich aufkreischend im Bett herum. »Soll das Ehrerbietung herausfordern, wenn ich meiner Mutter keinen Gutenachtkuss geben darf, weil sie »zur Konservierung des Teints« ihr Gesicht mit Kalbfleisch belegt hat? Wenn ich des Morgens nicht in ihr Zimmer darf, weil sie »zur Konservierung des Teints« noch die Guttaperchamaske trägt? [15] Wer hat mich denn zur Siebenschläferin gemacht als du? Deine Thüre war ja stets geheimnisvoll verschlossen für mich. Dein Körperkult grenzt ja ans Wahnsinnige. Wachsmaske, Haarfärberei, Massage und noch anderes –«

Ein leises Aufschluchzen liess sie innehalten.

Frau Tavadar hatte sich vor das Bett geworfen und drückte ihr Gesicht in die Hände.

»Was soll ich denn thun?« stiess sie weinend hervor, »wenn die Männer Jugend, Jugend und nichts als sie fordern. Wenn du dich heute verheiratest, was bleibt mir denn dann übrig, als mich um einen Lebensgefährten umzusehen? Meinen Passionen [16] mich hinzugeben erlauben mir leider meine Vermögensverhältnisse nicht. Ich muss mich versorgen ...«

»Glaubst du, dass die Kalbfleischumschläge und Wachsmasken dir zu einem Manne verhelfen?« Elline blickte mitleidslos auf die Schluchzende, die augenblicklich abschreckend widerwärtig aussah. »Also dann giebst du mir ja zu, dass nicht unsere Tugend die Männer reizt.« Sie sprach das Wort Tugend mit ätzendem Hohn aus. »Weshalb dann dein Komödienspiel mir gegenüber? Nein, zu verteidigen brauchst du dich nicht, ich weiss ja längst, dass alles blosse Spekulation ist. Aber jener wegen, die nur unsere Haut reizt, so viel Umstände machen, [17] hahaha! ...« Sie sprang mit beiden Füssen aus dem Bett und wies herrisch auf die Thür. »Geh, ich will mich ankleiden.« Die Mutter drückte sich wie ein geprügelter Hund hinaus.

Elline machte Toilette. Nach anderthalb Stunden trat sie in einem langen seidnen Hausrock ins Wohnzimmer. Das Mädchen brachte ein Mahl, das ebensogut Mittagessen als Frühstück sein konnte. Es bestand aus Thee und mehreren Fleischgerichten. Während des Essens las Elline ein paar Journale durch, nach der Mutter fragte sie gar nicht. Auch einige angekommene Briefe durchflog sie. Ihr schönes, südländisches Gesicht drückte dabei die verschiedensten Empfindungen [18] aus. Die interessante Kroatin galt bei vielen als orientalische Schönheit. Sie war so klug, die abenteuerlichen Gerüchte, die über sie kursierten, auf jede Weise zu unterstützen. Sie kannte die Schwäche der modernen Menschen, allem, was vom Ausland stammt, seien es nun Schmucksachen oder Frauen, den Vorzug zu geben. Die Tochter des kleinen kroatischen Gutsbeamten wurde zur geheimnisvollen Emigrantin, deren Familie eine Frevelthat des Vaters ins Elend gestürzt hatte. Elline verstand die Schwäche der Menschen auszunützen. Ihre Mama hatte, bevor sie der arme kleine Gutsbeamte geheiratet hatte, eine bunte Vergangenheit durchlebt ...

[19] Fräulein Tavadar warf mit einer heftigen Bewegung das dunkle Haar zurück, das sie daheim gelöst trug. Unter den Briefen hatte sich einer befunden, den sie sofort beantworten wollte. Sie liess sich an ihrem Schreibtisch nieder. Ein sarkastisches Lächeln überflog ihr Gesicht, als sie begann:

Lieber Baron!

Sie brauchen kein Eau de Cologne mitzubringen. (Überhaupt welch schrecklich veraltetes Toilettenmittel!) So starke Nerven, um den Anblick einer Hinrichtung zu ertragen, besitze ich noch. Ich bin sehr gespannt, ob meine Erwartungen erfüllt werden. In diesem Fall kann [20] der Vorgang zur Bereicherung meines Wissens dienen. Wenn nur gehenkt, nicht guillotiniert würde! Das erstere dauert länger, und man kann den Ausdruck im Gesicht des Todeskandidaten besser beobachten. Signora Duse und Madame Bernhardt, die sich der Sympathien unserer Gesellschaft so sehr erfreuen, haben an Sterbelagern im Spital die eingehendsten Studien gemacht. Die Glücklichen! Abgesehen von dem, was sie dabei lernten, das – andere. Aber es erschreckt Sie ja immer, wenn ich so spreche. Ach, Baron! Das Leben ist eine tiefe Purpurwoge. Purpur ist die Farbe des Blutes. Blut muss bei allen Opfern fliessen. Blut lieben die Götter, [21] die heidnischen und – die christlichen. Ohne Blut keine Feier eines Geheimnisses. Sehen Sie, früher, als die Poesie noch nicht das Mädchen für alle war, konnte man manchen Traum verwirklichen, indem man ihm das Scheinleben der Dichtung verlieh. Heute ist es unmöglich, mit den Handwerkerinnen der Feder in eine Reihe zu treten. Es bleibt also nichts übrig, als die brutale Wirklichkeit zur Unterstützung gewisser innerer Erlebnisse heranzuziehen ... Also keine Verwunderung darüber, dass ich mir dasselbe zu erleben wünsche, was Madame Soundso in Paris und Signora Soundso in Turin und Rom studiert haben. Ich will nicht wiederholen, [22] was verschiedene Lebenskenner behauptet haben ...

Wenn Sie die Lippen des Todgeweihten zucken sehen, dann denken Sie, wie es wäre, wenn ich Sie küsste, und dass ein ähnliches Gefühl wie bei Jenem dieselbe Erscheinung bei Ihnen hervorbrächte ... Und doch bin ich kein Henker, lieber Alfred, nur Ihre kleine Freundin

Elline.


N.S. Heute nacht habe ich etwas Tolles geträumt. Wir, ich und Sie, wir weilten in den Gärten des Tiberius auf Capri. Und wir waren sehr zärtlich zu einander. Aber was das Schönste ist, ein Dritter – doch das ein andermal, es war zu drollig ...


[23] In den Lüften wiegen sich jubelnde Lerchen.

Das junge Grün des Frühlings schwillt fast zusehends dem Licht entgegen. Am wolkenlosen Himmel kommt rosig die Sonne herauf und geht ihren Gang, unbekümmert wie ein Kind, das über die Flur schreitet, unwissend, dass es mit jedem Schritte Tausende von Lebewesen vernichtet.

Im Hof des Gefängnisses steht ein dunkles Etwas geheimnisvoll bedeckt. Männer mit Dienstmützen eilen geschäftig hin und her. Dann ertönt ein schrilles, wimmerndes Glöcklein, eine Thüre wird geöffnet, verschiedene Herren im Cylinder treten in den engen Hof und gruppieren [24] sich. Sie halten Notizbuch und Füllfeder bereit. Und nun erscheint der Delinquent, begleitet von einem Priester. Hinter ihm Pickelhauben und einige dunkel gekleidete Männer. Im selben Moment wird hoch oben am Fenster eines Zellengefängnisses eine in Trauer gekleidete Dame sichtbar. Ihr Gesicht ist von einem schwarzen Kreppschleier bis zum Mund verhüllt. Nur der ist sichtbar. Rot brennt er zwischen den schwarzen Hüllen hervor. Sie neigt das Haupt leicht vor einem der Herren, die im Hofe gruppiert sind. Es ist eine hohe aristokratische Gestalt, leicht gebeugt, kahler Schädel, schlaffe, aber nicht unedle Züge. Seine dunkelblauen Augen, die viel Feuer besitzen, blicken fast weltentrückt [25] zu dem Fenster empor, wo sie, der zuliebe er hier ist, ein Opernglas in der schwarzbehandschuhten Hand, herabblickt. Plötzlich ein Winseln. Der leichenblasse Mörder hat sich zur Erde geworfen und fleht die Anwesenden um Mitleid an. Es ist ein abstossender Anblick. Das verzerrte, weisse Gesicht ist von Thränen überströmt. Die Gehilfen des Scharfrichters fassen ihn unter den Armen und versuchen ihn zu dem Gerüst, das nun seine Hüllen fallen gelassen hat, hinaufzuschleppen. Er weigert sich. Der Priester spricht auf ihn ein. Er möge sich nicht fürchten, der Friede Gottes erwarte ihn, er gehe der Vergebung und Gnade entgegen. Die Anwesenden fragen sich unwillkürlich, weshalb er geköpft wird, [26] wenn ihm schon vergeben ist. Man hat den Eindruck, dass hier ein Mord vollbracht wird, abstossender als der, den der Delinquent beging. Die Gerichtsherren und Vertreter des Gesetzes ärgern sich über die Verzögerung, schliesslich wird der arme Sünder von vier handfesten Kerls auf das Gerüst geschleppt, man entblösst seinen Hals und drückt ihm den Kopf gewaltsam nieder. Das Beil saust herab ... die schwarzbehandschuhte Hand der Dame oben drückt das Glas dichter an die Augen. Ihr Freund blickt krampfhaft hinauf, den Vorgängen vor sich mag er nicht folgen. Im Augenblick, als man den warmen Körper des Gerichteten in den bereitstehenden Tannensarg legt und das blutige [27] Haupt zwischen seine Füsse klemmt, verschwindet der Herr als der Erste, der den Gefängnishof verlässt.

Er eilt auf sie zu, die ihm von einer engen Wendeltreppe entgegenkommt. Ihre Lippen tragen die Spuren scharfer Zähne, der übrige Teil des Gesichts bleibt verborgen unterm Schleier.

»Wie fühlen Sie sich, Teuerste?«

»Gut, ich danke Ihnen. Es war ein vorzüglicher Platz. Schade, dass das Ganze so kurz gedauert hat!«

Er flüstert ihr ein Wort zu, das sie lächeln macht.

»Ist der Wagen draussen?«

»Ja. Darf ich Sie begleiten?«

»Nein.«

[28] »Elline, Sie versprachen mir doch diese Gunst als Belohnung, wenn ich das Kunststück, Sie hier hereinzuschmuggeln, zuwege brächte. Es war keine Kleinigkeit, und ohne meinen Freund, den Regierungsassessor, hätte ich es wohl kaum zustande gebracht.«

Sie treten durch ein kleines Pförtchen auf die Strasse hinaus. Ohne ihm Adieu zu sagen, ist sie mit einem Schritt in seinem eleganten Coupé und schlägt das Thürchen hinter sich zu. Alfred blickt dem davonsausenden Gefährt nach, dann schwingt er sich auf den Perron des Strassenbahnwagens, der an der Ecke hält, und fährt der Stadt zu. –

Fünfzehn Minuten später öffnete Elline die Thür ihrer Wohnung. Das ihr entgegeneilende [29] Mädchen wies sie mit einer herrischen Gebärde zurück und begab sich gleich in ihr Zimmer. Die Zofe schlich an die Thür und hörte einen leisen halberstickten Aufschrei, dem ein dumpfer Fall folgte, als ob sich jemand auf den Boden geworfen hätte.

Gegen Mittag klingelte es.

»Ist das gnädige Fräulein zu sprechen?« Baron Dunya trat, ohne die Antwort abzuwarten, in das Entree und warf den Überrock ab. Die Zofe eilte, den Besuch anzumelden, und kam gleich wieder. Das gnädige Fräulein liesse bitten. Den Cylinder in der schlanken, weissen Hand, trat er ins Wohnzimmer. Die herabgelassenen gelben Seidenstores liessen den eleganten [30] Raum in goldiger Dämmerung verschwimmen. Auf einem niedern, breiten Divan, über den ein schwarzes Bärenfell geworfen war, lag Elline. Ein weisses spinnewebfeines Gewand, dessen Ärmel lang herabflossen, schmiegte sich lose um ihren Körper. Ihr Haar war mit einer massiven silbernen Dolchnadel hinaufgesteckt, die bei der ersten lebhafteren Bewegung herabgleiten musste.

»Elline!« Dunya sank hingerissen vor ihr nieder und ergriff eine ihrer herabhängenden Hände.

»Elline, wie ist Ihnen? Ich hab's nicht ausgehalten. Ich musste Sie noch heute morgen sehen.«

Um ihre dunklen Augen lagen Schatten und liessen sie weicher, schmelzender erscheinen, [31] die Stirne war ganz vom Haar bedeckt, die Wangen blass, kühl, hart; nur der Mund brannte. Dunya beugte sich nieder und wollte sie küssen.

Sie wandte sich ab. »Stören Sie nicht meine schöne Stimmung ...«

Er blickte ihr forschend ins Gesicht. »Rätselhafte Frau! Was haben Sie für eine Seele!«

Sie schlug langsam die halbgeschlossenen Augen zu ihm auf und sah ihn an.

»Weshalb haben Sie Ihre Schleppe ein dutzendmal um Ihre Füsse geschlungen? Das sieht sonderbar aus.«

In diesem Augenblick glitt die Nadel aus ihrem Haar und fiel vor ihm nieder. Er hob sie an die Lippen.

[32]

»Sie ist warm und duftig geworden. Elline, lassen Sie mich einmal Ihr gelöstes Haar küssen.«

Sie lächelte, ohne ein Wort zu erwidern. Weshalb behandelte sie ihn so? War sie ihm in irgend etwas überlegen? Er bettelte, dicht an ihr Ohr geneigt, um einen Kuss. Ihre blutrot brennenden Lippen öffneten sich.

»Darf er – weh thun?«

Ein stutzendes Zaudern. Dunya nickte.

»Ich kann nur küssen, wenn ich –«

Er brachte seinen Mund dem ihren nah. Sie fuhr zurück. »Nun haben Sie – Sie haben mir die ganze Stimmung genommen. Wie dumm, o Gott, wie dumm! Glauben Sie denn, ich küsse wie [33] ein kleines Kind? Hahaha, weg, weg,« sie stiess ihn von sich, »jetzt mag ich nicht mehr. Ihre Zumutung ist ja herabwürdigend dumm.« Sie richtete sich auf, die Masse ihres Schwarzhaars rollte über ihre Schultern herab. Er packte es wie einen Lappen und zerrte und zog nervös daran. Da beugte sie sich über seine Hand, im nächsten Augenblick fühlte er einen heftigen Schmerz. Über seine Finger rieselte Blut. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz.

»Schlingen Sie die Schleppe zurück,« ihre Augen richteten sich gebietend auf ihn, »und trocknen Sie die Hand an ihr ab.«

Er zauderte. Sie machte eine Bewegung der Ungeduld, da gehorchte er [34] und fasste die dünne Seide, die mehrfach um ihre Füsse geschlungen war. Er fühlte, dass das Gewand das einzige war, das sie trug, und versenkte seine Finger hinein.

»Genug, für jede neue Wunde ein weiteres Stück.« Sie entwand ihm den rotbefleckten Stoff. Ihre Nüstern waren leicht gebläht.

Er lallte einen Fluch in fremder Sprache und sank halbbetäubt mit dem Gesicht auf ihre Brust. Sie rührte sich nicht. Als er sich aufraffte, war ihr Haar, ihr Kleid, seine Manschetten mit Blut besudelt. Mit einer Gebärde der Verlegenheit, des Ekels und physischen Schmerzes sah er sie hilflos an.

[35] »Armer Junge!« Sie reichte ihm die Hand. »Sie sind todblass. Sehen Sie wohl, wie strenge ich Unarten bestrafe? Nein, ich bin nichts für Sie. Gehen Sie nach Hause, Herz, kommen Sie nie wieder. Ich – nein, ich bin nichts für Sie. Wenn schon der Anfang unserer Bekanntschaft, – noch nicht einmal ein Kuss, was würde ...« sie stockte und schwieg.

Er blickte sie verstört wie ein Betrunkner, wie ein hypnotisiertes Tier an.

»Sie und keine Andere, nur Sie! Ich komme wieder. Für heute leben Sie wohl, ich muss heim, mir ist schlecht.« Ein Schauer durchrieselte ihn. Er presste noch einen Kuss auf ihr zerwühltes Kleid und entfernte sich.

[36]

Da er keine Ahnung gehabt hatte, wie lange er sich bei Elline aufhalten würde, hatte er unterlassen, seinen Kutscher zu bestellen. Ein Mietswagen war auch nicht zu erblicken. Das Taschentuch um die verletzte Hand gewickelt, den Überrock hoch geschlossen, eilte er in das nächste ihm bekannte Restaurant, um sich hier einen Verband geben zu lassen. Er trank öfters eine Flasche Wein da, und man kannte ihn. Im Augenblick, als sich ihm der Oberkellner, gefolgt von den übrigen Ganymeds, diensteifrig näherte, gewahrte er seinen Freund, den Regierungsassessor, der eben sein Frühstück einnahm. Sie begrüssten einander. Dunya machte schnell Toilette, band sich ein frisches[37] Linnentuch um die Wunde und liess sich am Tisch seines Freundes nieder. Von Tieffurts erster Blick fiel auf die verbundene Hand. Oho, was war da geschehen? Er liess einige boshafte Witze los.

»Mein Liebchen hat mich gebissen,« sagte Dunya mit gut gespielter Ruhe.

Der andere fuhr mit einem Fluch zurück. Welches Satansglück der Mensch hatte! »War es die -?«

»Lassen wir das!« Dunya liess sich die Weinkarte geben. Er trank wie ein Verrückter Sekt, Cognak und schweren Burgunder durcheinander, fing an in seiner russischen Heimatsprache zu reden, von der Tieffurt keine Silbe verstand, und gebärdete sich wie ein Mensch, dessen reiche [38] Erbtante gestorben ist. Von Tieffurt flüsterte ihm zwischen Roquefort und Kaffee zu: »Ist's die, für die ich den Platz heute morgen besorgt habe?«

Dunya nickte.

»Das scheint ein Bissen für Krafft-Ebing zu sein. Kann ich sie kennen lernen?«

Dunya furchte die Stirne. »Vielleicht später einmal. Ich selbst habe sie mit ihrer Mutter erst vor vierzehn Tagen am Totalisator kennen gelernt.«

»Mutter auch. Aha!«

Dunya kam auf anderes zu sprechen.

Tieffurt schüttelte den Kopf. »Du kommst mir vor wie ein Primaner, der zum erstenmal Liebe geschmeckt hat.«

[39] Dunya blickte ihn argwöhnisch an. »Kennst du sie etwa?«

»Gott bewahre.« Tieffurt lachte. »Nie ihren Namen gehört. Wie heisst sie übrigens?«

»Elline Tavadar.«

»Ein rassiger Name. Sie ist wohl sehr schön, Ausländerin, verunglückter Adel etc?«

»Schön? Nein. Sie ist vielleicht das Weib, nach dem wir alle uns sehnen ...«

»Sieh, sieh!« Tieffurt schob die geleerte Mokkatasse von sich und betrachtete forschend den Freund. »Du bist ja ganz tragisch geworden; so kenne ich dich gar nicht, dich, den leichtherzigen Femininisten.«

[40]

Dunya zuckte die Schultern und blickte gedankenverloren vor sich. »Du weisst, mir war nichts langweiliger, als Gänseblümchen zu pflücken. Man will doch ein Erlebnis durch die Frau geniessen. Das findet man aber nur im Verkehr mit jener Spezies, die man unter falschem Namen im Mietswagen besucht. Eine, die alle Sensationen schenken kann und dabei doch Dame bleibt, ist eine solche Seltenheit, dass kein Preis für sie zu hoch ist und wäre es auch der äusserste ...«

Tieffurt legte die Hand auf des Freundes Schulter. »Die Gnädige scheint Charakterstudien zu treiben. Hüte dich vor dieser berechnenden Art.«

[41] Dunya lächelte. »Der liegt so viel an mir,« er schnippte mit den Fingern. »Sie sagte mir ins Gesicht, dass ich ihr langweilig und ein guter, unschuldiger Junge sei.«

Tieffurt kreischte vor Vergnügen so laut auf, dass einige Kellner herbeistürzten, im Glauben, dem Herrn Regierungsassessor sei ein Unfall passiert. »Das muss allerdings eine kühne Amazone aus den aphrodisischen Gefilden sein, die in dir einen unschuldigen Jungen erblickt.«

Dunya murmelte etwas vor sich hin, ein Schauer schüttelte ihn, und er stand auf. »Begleiche meine Rechnung, ich muss nach Hause.«

[42] Tieffurt suchte ihn zurückzuhalten. Dunya machte eine abweisende Gebärde.

»Begeh' keine Dummheit!« rief Tieffurt im Flüsterton, »je glatter die Scheitel, desto krauser die Vergangenheit. Die Erfahrensten sind die Zurückhaltendsten. Nur kein Anbeter werden, wo Geniessen am Platz ist. Wahre Madonnen reizen keinen Mann.« Die letzten Worte hatte er zu sich allein gesprochen, denn Dunya war schon fortgeeilt. Tieffurt bekam ihn in der nächsten Zeit nur flüchtig und in Gesellschaft zu sehen, wo er ihn nicht über den Verlauf seines Abenteuers befragen konnte.

Vierzehn Tage später traf ihn die überraschendste Nachricht. Dunya schickte [43] ihm seine Verlobungsanzeige, und zwar sollte die Hochzeit schon in den nächsten Tagen stattfinden. Dunya hatte Tieffurt als Trauzeuge gebeten. Tieffurt war aufs äusserste gespannt, die Dame kennen zu lernen, der das Kunststück gelungen war, seinen jede Fessel verabscheuenden Freund zum Gefangenen zu machen. Als er im Hause der beiden Damen seinen Besuch machte, waren sie nicht anwesend. Er sah Elline erst am Hochzeitstage und lächelte in sich hinein. Eine schöne, üppige Frau, dachte er, die sich bemüht, sittsam zu erscheinen, obgleich die Flammen ihres Temperaments durch alle Poren ihrer Haut schlagen. Tieffurt sah ihr in die Augen, als er ihre Hand an seine [44] Lippen hob. Sie hatten etwas Verwundetes an sich, diese dunklen grossen Augen; ein geheimes Leid sprach aus ihnen, zurückgehaltene Thränen ... Wusste sie es, dass ihn keine Bacchantin gewann, dass er für das spezifisch Weibliche am Weibe, der Weichheit und Hilflosigkeit, am empfänglichsten war? Du bist eine Künstlerin deines Faches, sagte ihr sein Blick ...

Von der Ceremonie in der Kirche fuhren sie gleich nach dem Bahnhof. Sie hatte es so gewünscht, sie, die von heute an befehlen würde. Wehe Dunya, dachte Tieffurt später, dem aus der Halle rollenden Zug nachblickend, wehe, wenn er heute nacht sich das Heft entwinden liess.

Sie würde ihn zu ihrem Knecht erniedrigen, [45] zu ihrem Geschöpf, zu ihrem Instrument. Sie würde die Macht ihrer Liebeskünste an ihm erproben, bis er entnervt zusammenbrach.

Sie, die erfahrene Frau mit dem blutroten Mund, die nur ein in ihr Netz Verstrickter für ein unschuldiges Mädchen halten konnte ...

Armer Narr Dunya! –

Sechs Wochen später erhielt Tieffurt aus einem kalabrischen Nest, wohin sich die Neuvermählten zurückgezogen hatten, folgenden Brief.

Lieber, alter Tieffurt!

O Du Weltweiser, Patriarch und Prophete! Deine Weissagungen von damals haben sich erfüllt. Nur ein[46] Mittel giebt's, um mich zu retten: Scheidung. Tieffurt, Du bist mein Freund, Du bist Rechtsgelehrter, in Deinem Bekanntenkreis findet sich gewiss ein kluger Advokat. Für ihre Zukunft ist reichlich gesorgt, denn ich habe ihr damals in der Zeit meiner Verrücktheit einen grossen Teil meiner Einkünfte verschrieben. Stelle Dir vor, dass ich die Beute des grausamsten Betrugs geworden bin. (Dass das so kommt, habe ich immer geahnt, dachte der Lesende bei sich.) In der Hochzeitsnacht schon wurde ich dessen gewahr. Wir machten um Mitternacht, irgendwo auf einer kleinen Station Halt, und liessen uns im Gasthaus eine Stube geben. O [47] welche Erwartungen hatte ich an diese Stunden geknüpft. Wochenlang gefiebert hatte ich nach ihnen. Und nun? Meine Mänade, ihre ungeheuern Überraschungen für mich wohl verbergend, sitzt zähneklappernd und bleich auf dem Rand des Bettes. Indem ich ihr zu Füssen hocke und ihre Schuhbänder löse, sagt sie mit flehender Kinderstimme: »O lieber Alfred, nur diese Nacht lass mich ruhig schlafen, ich bin so müde.« Dieses Wort habe ich sehr oft von kleinen Mädchen gehört, wenn sie den einen Moment hinausschieben wollten; es befremdet mich an Elline. Aber vielleicht ist es eine neue, geheimnisvolle Ranke in dem [48] schönen Geflecht der Überraschungen, die meiner harren. Ich löse die Schuhbänder meiner Angebeteten, dann das übrige. Als ich an das letzte Stück komme, beginnt sie ein Zetergeschrei, genau wie – na, wie sie alle. Noch bin ich meiner Sache nicht klar. Ist dieses zitternde, abwehrende Weib dasselbe, das mich durch den Ausblick in den purpurnen Irrgarten seiner Verheissungen halb toll gemacht hat? Das sei alles Verstellung gewesen, gesteht sie. Sie habe wohl erkannt, was allein mich locken und reizen konnte. Bist Du dieselbe, die mit verzücktem Blick die letzten Zuckungen des Mörderleichnams verfolgte? Es war Beherrschung, [49] bekennt sie; nach Hause gekehrt, habe sie einen Ohnmachtsanfall bekommen und sich nur durch eine grosse Dosis Morphium beruhigen können. Aber das ist ja schändlicher Betrug, rief ich und misshandelte sie. Sie vertheidigte sich nicht. Ich möchte ihr doch verzeihen, dass sie nicht so sei, wie ich vorausgesetzt hätte; vielleicht käme ich doch darüber hinweg. Tieffurt, ich erwartete mänadische Entzückungen an der Brust einer Bacchantin und hielt eine unberührte Jungfrau im Arm. Das hat Dein armer Freund nicht verdient ...

[50]

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TextGrid Repository (2012). Janitschek, Maria. Erzählungen. Die neue Eva. Der Betrogene. Der Betrogene. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8D37-9