Karl Immermann
Tulifäntchen
In drei Gesängen

[411] An Michael Beer

Tulifäntchen kommt und spricht:
»Aus dem Stübchen, eng, umgrünet
Von der Linde, der Akazie,
Aus dem Stübchen, das die Malve
Anlacht mit dem runden, roten
Vollgesichte, schickt der Vater
Mich zur großen Stadt Paris.
Daß ich in den langen Gassen
Mir nicht selber komm' abhanden,
Gab er mir an dich Adresse.
Schütze du mit deiner Weisheit
Vor Verführung, Trug und Unstern
Meine unerfahrne Jugend
In dem Sündenlabyrinth!«
Tulifäntchen kommt und spricht:
»Von dem Vater soll ich melden,
Er sei ganz und gar der alte
Grillenfänger, unter strengem
Zauberbanne Wechsel duldend,
Jetzt in trostlos-öde Wüste
Hingeschleudert, und zurücke
Dann mit einem Schlag geschmeichelt
In das jüngste Paradies.
Manch ein Edler will ihn anders,
Er will manchen Edeln anders,
Er bleibt er, sie bleiben sie,
Und so leben Welt und Dichter
In dem wunderbarsten Einklang.«
Tulifäntchen kommt und spricht:
»Ich bin nur ein winz'ger Bursche,
[411]
Ich bin nur ein armes Garnichts,
Mein Verdienst, vom Sonnenstäubchen
Wird es weidlich überwogen.
Doch der Vater sprach, mir solle
Nicht das Herz darob erkranken.
Jeder zeige hierzulande
Sein Gesicht, krumm oder grade,
Wie's gewachsen sei, er frage
Nicht danach, ob seinem Nächsten
Krämpfe vom Aspekt entstünden.
Darum soll' auch meines herzhaft
Ich nur weisen allen Leuten,
Denn mir habe keiner jemals
Was geschenkt, so hab' ich keinem
Deutschen Landsmann was zu danken,
Und wer nicht mich ansehn wolle,
Lass' es bleiben immerhin.«
Tulifäntchen kommt und spricht:
»Noch ein Gleichnis gab beim Scheiden
Mir der Vater auf den Weg mit
'Lieder sind wie junge Vöglein,
Welche flattern flügg' vom Neste;
Nahe lauscht ein dummer Jammer,
Schlägt mit seiner plumpen Keule
Nach den leichten, doch die Schwingen
Tragen unverletzt sie fürder.
Flatternd spähn sie da und dorten,
Bis sie ruhn auf wackern Händen,
Auf dem Knie der schönen Frauen,
An der Brust geliebter Mädchen.
Dann die Kehlen öffnend, gießen
In den Äther sie die Seele,
Daß der Dichter, schleicht er eben
An so guter Statt vorüber,
Wundernd fragt beim feinen Schalle:
Ist das meine Brut, der tausend!
Die dort singt so nett und süß?'«
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Tulifäntchen kommt und spricht:
»Zur Genüg' ist nun geplaudert.
Nimm mich auf die Hand, du Wackrer!
Wollen sehn, ob ich den Schnabel
Auch dann öffne zu dem bißchen
Melodie, das sich im kleinen
Körper einquartieren konnte!
Viel ging freilich nicht hinein.«

[413][415]

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TextGrid Repository (2012). Immermann, Karl. Versepos. Tulifäntchen. An Michael Beer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-89CE-8