Hugo von Hofmannsthal
Drei kleine Betrachtungen

[138] Die Ironie der Dinge

Es war lange vor dem Krieg, daß ich in den »Fragmenten« des Novalis diese Bemerkung fand: »Nach einem unglücklichen Krieg müssen Komödien geschrieben werden.« Diese Aufzeichnung in ihrer sonderbar lakonischen Form war mir ziemlich wunderlich. Heute verstehe ich sie besser. Das Element der Komödie ist die Ironie, und in der Tat ist nichts geeigneter als ein Krieg, der unglücklich ausgeht, uns die Ironie deutlich zu machen, die über allen Dingen dieser Erde waltet. Die Tragödie gibt ihrem Helden, dem Individuum, die künstliche Würde: sie macht ihn zum Halbgott und hebt ihn über die bürgerlichen Verhältnisse hinaus. Wenn sie sich von dieser unbewußten aber notwendigen Tradition nur einen halben Schritt entfernt, so gerät sie in den Bereich der Komödie: wie nahe kommt dieser schon ein Stück wie »Hamlet« – aber Hamlet selbst ist noch ein König und ein Held, wenn auch ein solcher, an dessen Substanz die Ironie der Verhältnisse und die Selbstironie schon zehren, wie die Strahlen der Sonne an einem Schneemann; und ein bürgerliches Trauerspiel ist vollends ein Unding, denn die bürgerliche Welt ist die Welt des sozial Bedingten und die Tragödie entfaltet sich am sozial Unbedingten. Aber die wirkliche Komödie setzt ihre Individuen in ein tausendfach verhäkeltes Verhältnis zur Welt, sie setzt alles in ein Verhältnis zu allem und damit alles in ein Verhältnis der Ironie. Ganz so verfährt der Krieg, der über uns alle gekommen ist, und dem wir bis heute nicht entkommen sind, ja vielleicht noch zwanzig Jahre nicht entkommen werden. Er setzt alles in ein Verhältnis zu allem, das scheinbar Große zum scheinbar Kleinen, das scheinbar Bedingende zu einem Neuen über ihm, von dem es wiederbedingt wird, das Heroische zum Mechanischen, das Pathetische zum Finanziellen, und so fort ohne Ende. Zuerst, als der Krieg anfing, wurde der Held vom Schanzarbeiter ironisiert, der, welcher aufrecht stehen bleiben und angreifen wollte, [138] von dem, der eine Schaufel hatte und sich eingrub; zugleich wurde das Individuum bis zur Vernichtung seines Selbstgefühls ironisiert von der Masse, ja nicht nur das Individuum, auch die organisierte Masse, das Bataillon, das Regiment, das Korps, von der immer größeren und formloseren Masse; dann aber doch auch wieder die ganze kämpfende Masse, dieser furchteinflößende und klägliche Riese, von einem Etwas, von dem sie sich regiert fühlte, weitergestoßen fühlte, und für das es schwer ist, einen Namen zu finden: nennen wir es den Geist der Nationen. Aber es kam der Moment, wo diese selber, die zur Einheit symbolisierten ungeheuren Massen, ironisiert wurden von der momentanen Allmacht einzelner Individuen, welche irgendwie die Hand an den Zügen und Schrauben hatten, mit denen dieses ungefüge Ganze für den Augenblick regiert werden konnte. Im gleichen Augenblick aber standen auch schon diese selber unter sich kreuzenden Strömen der stärksten, zersetzendsten Ironie: Ironie des Kontrastes der großen ideellen Zusammenfassungen, die sie im Mund führten, gegenüber dem Wust von eigensinnigen Realitäten, mit denen sie zu ringen hatten; Ironie des Werkzeuges gegen die Hand, die das Werkzeug zu führen glaubt, Ironie des tausendfachen in der Wirklichkeit begründeten Details gegen die vorschnelle und bewußt unwahre Synthese. Zugleich aber kam der Moment, wo innerhalb dieser riesigen Gesamtheiten der Begriff der Nation ironisiert wurde durch den Begriff der sozialen Klasse. Es kam der Moment der Kohle und des Kohlenarbeiters: dieses ganze Gefüge aus scheinbar Geistigem, hinter dem sich die Materie versteckt, und scheinbar Materiellem, in das der Geist eingekerkert ist, und das wir europäische Zivilisation nennen, wurde ironisiert von einer einzigen Materie, dem in mineralischer Form aufgespeicherten Sonnenlicht, und alle sozialen Klassen und sogar die Arbeiterklasse wieder ironisiert von einer bestimmten Abteilung dieser Klasse: den Kohlenarbeitern, die zu dieser Materie, von der alles abhängt, in einem Verhältnis stehen, dem wiederum eine ungeheure Ironie innewohnt: denn sie werden von eben jener Materie, über die sie die unmittelbare Verfügung haben, in einem Verhältnis gehalten, das einer [139] Sklaverei nicht unähnlich ist. Im Kampf aber um die Seele des Kohlenarbeiters, der auf einmal der Herr der Lage geworden war, ironisierten sich bis zum äußersten die sozialen und die nationalen Schlagworte, ja da er mehr als ein anderer Arbeiter an eine Landschaft gebunden ist, so ironisierten sich in dem Kampf um ihn sogar auch jene größten Übermächte, deren wechselseitige Ironie durch all dies Geschehen hin zeitweise aufblitzt: die Geographie und die Geschichte. Es wurde endlich zu einer unerschöpflichen Quelle der Ironie der Umstand, daß in den besiegten Ländern, das ist nahezu in halb Europa, das Geld seinen Wert verloren hat gegenüber der Ware, auch der bescheidensten Ware, dem Stück Brot oder dem Meter Leinwand; daß man für die dämonische Substanz, für die man blindlings alles herzugeben gewohnt war, weil man mit ihr alles kaufen konnte, jetzt eigentlich nichts mehr kaufen kann; daß man für weite Länderstrecken zum Tauschhandel zurückgekehrt ist, und daß im Zusammenhange dieser Veränderungen das Privilegium der geistigen Arbeit ganz geschwunden ist und ein Gymnasialdirektor ungefähr so bezahlt wird wie ein Markthelfer, ein Staatssekretär etwas niedriger als ein Chauffeur.

Mit alldem befinden wir uns ganz und gar im Element der Komödie – oder vielmehr in einem Element so allseitiger Ironie, wie keine Komödie der Welt es aufweist, es sei denn die Komödie des Aristophanes; und auch diese ist während eines für die Vaterstadt des Dichters höchst unglücklichen, ihr Schicksal besiegelnden Krieges entstanden. Daß es aber die Unterliegenden sind, denen diese ironische Macht des Geschehens aufgeht, ist ja ganz klar. Wer an das bittere Ende einer Sache gelangt ist, dem fällt die Binde von den Augen, er gewinnt einen klaren Geist und kommt hinter die Dinge, beinahe wie ein Gestorbener.

Für alle diese Dinge waren die Dichter empfindlich, die vor hundert Jahren da waren, und ganz natürlich, sie hatten die französische Umwälzung und die napoleonische Zeit durchleben müssen, so wie wir diese jetzigen Krisen durchzuleben haben. Darum machten sie aus der Ironie ein Grundelement ihrer Lebens- und Kunstgesinnung und nannten sie die »romantische [140] Ironie«. Sie hielten es für unrecht, wenn man sich zu tief in den Schmerz versenkte, und sie meinten, daß man um einen Gegenstand ganz zu lieben auch das Lächerliche an diesem Gegenstand zu sehen wissen müsse. Sie verlangten, man solle das ganze Leben wie eine »schöne genialische Täuschung«, wie ein »herrliches Schauspiel« betrachten, und wer anders verfahre, dem fehle der Sinn für das Weltall. Sie erhoben sich, aus einer Epoche, darin, als der große Sturm vorüber war, sich wie in der unseren das Bittere mit dem Schalen mischte, zu einer so großen inneren Freiheit, daß sie uns fast wie Trunkenheit erscheinen könnte. Heute ist uns diese Verfassung begreiflicher, als sie irgendeiner der dazwischenliegenden Generationen sein konnte, und mit nachdenklichem Staunen lesen wir die Worte, die sie mit einem feurigen Federzug an das finstere sternlose Himmelsgewölbe geschrieben haben: Denn der Herr ist der Geist. Wo aber der Geist der Herr ist, da ist die Freiheit.

Der Ersatz für die Träume

Was die Leute im Kino suchen, sagte mein Freund, mit dem ich auf dieses Thema kam, was alle die arbeitenden Leute im Kino suchen, ist der Ersatz für die Träume. Sie wollen ihre Phantasie mit Bildern füllen, starken Bildern, in denen sich Lebensessenz zusammenfaßt; die gleichsam aus dem Innern des Schauenden gebildet sind und ihm an die Nieren gehen. Denn solche Bilder bleibt ihnen das Leben schuldig. – (Ich rede von denen, die in den Städten oder großen zusammenhängenden Industriebezirken wohnen, nicht von den andern, den Bauern, den Schiffern, Waldarbeitern oder Bergbewohnern.) – Ihre Köpfe sind leer, nicht von Natur aus, eher durch das Leben, das die Gesellschaft sie zu führen zwingt. Da sind diese Anhäufungen von kohlengeschwärzten Industrieorten, mit nichts als einem Streifchen von verdorrtem Wiesengras zwischen ihnen, und den Kindern, die da aufwachsen, von denen unter sechstausend nicht eines im Leben eine Eule gesehen hatte oder ein Eichhörnchen oder eine Quelle, da sind [141] unsere Städte, diese endlosen einander durchkreuzenden Häuserzeilen; die Häuser sehen einander ähnlich, sie haben eine kleine Tür und Streifen von gleichförmigen Fenstern, unten sind die Läden; nichts redet zu dem, der vorüberkommt, oder der ein Haus sucht: das einzige, was spricht, ist die Nummer. So ist die Fabrik, der Arbeitssaal, die Maschine, das Amt, wo man Steuer zahlen oder sich melden muß: nichts davon bleibt haften als die Nummer. Da ist der Werktag: die Routine des Fabriklebens oder des Handwerks; die paar Handgriffe, immer die gleichen; das gleiche Hämmern oder Schwingen oder Feilen oder Drehen; und zuhause wieder: der Gaskocher, der eiserne Ofen, die paar Geräte und kleinen Maschinen, von denen man abhängt, auch das durch Übung so zu bewältigen, daß schließlich der, der sie immer wieder bewältigt, selber zur Maschine wird, ein Werkzeug unter Werkzeugen. Davor flüchten sie zu unzähligen Hunderttausenden in den finsteren Saal mit den beweglichen Bildern. Daß diese Bilder stumm sind, ist ein Reiz mehr; sie sind stumm wie Träume. Und im Tiefsten, ohne es zu wissen, fürchten diese Leute die Sprache; sie fürchten in der Sprache das Werkzeug der Gesellschaft. Der Vortragssaal ist neben dem Kino, das Versammlungslokal ist eine Gasse weiter, aber sie haben nicht diese Gewalt. Der Eingang zum Kino zieht mit einer Gewalt die Schritte der Menschen an sich, wie – wie die Branntweinschänke: und doch ist es etwas anderes. Über dem Vortragssaal steht mit goldenen Buchstaben: »Wissen ist Macht«, aber das Kino ruft stärker: es ruft mit Bildern. Die Macht, die ihnen durch das Wissen vermittelt wird – irgend etwas ist ihnen unvertraut an dieser Macht, nicht ganz überzeugend; beinahe verdächtig. Sie fühlen, das führt nur tiefer hinein in die Maschinerie und immer weiter vom eigentlichen Leben weg, von dem, wovon ihre Sinne und ein tieferes Geheimnis, das unter den Sinnen schwingt, ihnen sagt, daß es das eigentliche Leben ist. Das Wissen, die Bildung, die Erkenntnis der Zusammenhänge, all dies lockert vielleicht die Fessel, die sie um ihre Hände geschlungen fühlen, – lockert sie vielleicht – für den Moment – zum Schein – um sie dann vielleicht noch fester zusammenzuziehen. All dies führt vielleicht [142] zuletzt zu neuer Verkettung, noch tieferer Knechtschaft. (Ich sage nicht, daß sie dies sagen; aber eine Stimme sagt es in ihnen ganz leise.) Und ihr Inneres würde bei alledem leer bleiben. (Auch dies sagen sie sich, ohne es sich zu sagen.) Die eigentümliche fade Leere der Realität, die Öde – die, aus der auch der Branntwein herausführt –, die wenigen Vorstellungen, die im Leeren hängen, all dies wird nicht wirklich geheilt durch das, was der Vortragssaal bietet. Auch die Schlagworte der Parteiversammlung, die Spalten der Zeitung, die täglich daliegt – auch hierin ist nichts, was die Öde des Daseins wirklich aufhöbe. Diese Sprache der Gebildeten und Halbgebildeten, ob gesprochen oder geschrieben, sie ist etwas Fremdes. Sie kräuselt die Oberfläche, aber sie weckt nicht, was in der Tiefe schlummert. Es ist zuviel von der Algebra in dieser Sprache, jeder Buchstabe bedeckt wieder eine Ziffer, die Ziffer ist die Verkürzung für eine Wirklichkeit, all dies deutet von fern auf irgend etwas hin, auch auf Macht, auf Macht sogar, an der man irgendwelchen Anteil hat; aber dies alles ist zu indirekt, die Verknüpfungen sind zu unsinnlich, dies hebt den Geist nicht wirklich auf, trägt ihn nicht irgendwo hin. All dies läßt eher eine Verzagtheit zurück, und wieder dies Gefühl, der ohnmächtige Teil einer Maschine zu sein, und sie kennen alle eine andere Macht, eine wirkliche, die einzige wirkliche: die der Träume. Sie waren Kinder und damals waren sie mächtige Wesen. Da waren Träume, nachts, aber sie waren nicht auf die Nacht beschränkt; sie waren auch bei Tag da, waren überall: eine dunkle Ecke, ein Anhauch der Luft, das Gesicht eines Tiers, das Schlürfen eines fremden Schrittes genügte, um ihre fortwährende Gegenwart fühlbar zu machen. Da war der dunkle Raum hinter der Kellerstiege, ein altes Faß im Hof, halbvoll mit Regenwasser, eine Kiste mit Gerümpel; da war die Tür zu einem Magazin, die Bodentür, die Tür zur Nachbarswohnung, durch die jemand herauskam, vor dem man sich ängstlich vorbeiduckte, oder ein schönes Wesen, das den süßen undefinierbaren Schauder der ahnenden Begierde tief in die dunklen bebenden Tiefen des Herzens hineinwarf – und nun ist es wieder eine Kiste mit zauberhaftem Gerümpel, die sich auftut: das Kino. Da liegt alles offen da, was sich sonst[143] hinter den kalten undurchsichtigen Fassaden der endlosen Häuser verbirgt, da gehen alle Türen auf, in die Stuben der Reichen, in das Zimmer des jungen Mädchens, in die Halls der Hotels; in den Schlupfwinkel des Diebes, in die Werkstatt des Alchimisten. Es ist die Fahrt durch die Luft mit dem Teufel Asmodi, der alle Dächer abdeckt, alle Geheimnisse freilegt. Aber es ist nicht bloß die Beschwichtigung der quälenden, so oft enttäuschten Neugier: wie beim Träumenden ist hier einem geheimeren Trieb seine Stillung bereitet: Träume sind Taten, unwillkürlich mischt sich in dies schrankenlose Schauen ein süßer Selbstbetrug, es ist wie ein Schalten und Walten mit diesen stummen, dienstbar vorüberhastenden Bildern, ein Schalten und Walten mit ganzen Existenzen. Die Landschaft, Haus und Park, Wald und Hafen, die hinter den Gestalten vorüberweht, macht nur eine Art von dumpfer Musik dazu – aufrührend weiß Gott was an Sehnsucht und Überhebung, in der dunklen Region, in die kein geschriebenes und gesprochenes Wort hinabdringt – auf dem Film aber fliegt indessen in zerrissenen Fetzen eine ganze Literatur vorbei, nein, ein ganzes Wirrsal von Literaturen, der Gestaltenrest von Tausenden von Dramen, Romanen, Kriminalgeschichten; die historischen Anekdoten, die Halluzinationen der Geisterseher, die Berichte der Abenteurer; aber zugleich schöne Wesen und durchsichtige Gebärden; Mienen und Blicke, aus denen die ganze Seele hervorbricht. Sie leben und leiden, ringen und vergehen vor den Augen des Träumenden; und der Träumende weiß, daß er wach ist; er braucht nichts von sich draußen zu lassen; mit allem, was in ihm ist, bis in die geheimste Falte, starrt er auf dieses flimmernde Lebensrad, das sich ewig dreht. Es ist der ganze Mensch, der sich diesem Schauspiel hingibt; nicht ein einziger Traum aus der zartesten Kindheit, der nicht mit in Schwingung geriete. Denn wir haben unsere Träume nur zum Schein vergessen. Von jedem einzelnen von ihnen, auch von denen, die wir beim Erwachen schon verloren hatten, bleibt ein Etwas in uns, eine leise aber entscheidende Färbung unserer Affekte, es bleiben die Gewohnheiten des Traumes, in denen der ganze Mensch ist, mehr als in den Gewohnheiten des Lebens, all die unterdrückten [144] Besessenheiten, in denen die Stärke und Besonderheit des Individuums sich nach innen zu auslebt. Diese ganze unterirdische Vegetation bebt mit bis in ihren dunkelsten Wurzelgrund, während die Augen von dem flimmernden Film das tausendfältige Bild des Lebens ablesen. Ja dieser dunkle Wurzelgrund des Lebens, er, die Region wo das Individuum aufhört Individuum zu sein, er, den so selten ein Wort erreicht, kaum das Wort des Gebetes oder das Gestammel der Liebe, er bebt mit. Von ihm aber geht das geheimste und tiefste aller Lebensgefühle aus: die Ahnung der Unzerstörbarkeit, der Glaube der Notwendigkeit und die Verachtung des bloß Wirklichen, das nur zufällig da ist. Von ihm, wenn er einmal in Schwingung gerät, geht das aus, was wir die Gewalt der Mythenbildung nennen. Vor diesem dunklen Blick aus der Tiefe des Wesens entsteht blitzartig das Symbol: das sinnliche Bild für geistige Wahrheit, die der ratio unerreichbar ist.

Ich weiß, schloß mein Freund, daß es sehr verschiedene Weisen gibt, diese Dinge zu betrachten. Und ich weiß, es gibt eine Weise, sie zu sehen, die legitim ist von einem anderen Standpunkte aus, und die nichts anderes in alledem sieht als ein klägliches Wirrsal aus industriellen Begehrlichkeiten, der Allmacht der Technik, der Herabwürdigung des Geistigen und der dumpfen, auf jeden Weg zu lockenden Neugierde. Mir aber scheint die Atmosphäre des Kinos die einzige Atmosphäre, in welcher die Menschen unserer Zeit – diejenigen welche die Masse bilden – zu einem ungeheuren, wenn auch sonderbar zugerichteten geistigen Erbe in ein ganz unmittelbares, ganz hemmungsloses Verhältnis treten, Leben zu Leben, und der vollgepfropfte halbdunkle Raum mit den vorbeiflirrenden Bildern ist mir, ich kann es nicht anders sagen, beinahe ehrwürdig, als die Stätte, wo die Seelen in einem dunklen Selbsterhaltungsdrange hinflüchten, von der Ziffer zur Vision.

[145]

Schöne Sprache

»Ich liebe diese Sprache«, schreibt mir jemand, » schon um ihrer formalen Schönheit willen: Dasselbe Wohlgefallen, das mich immer wieder zu diesen Bänden treibt, führt mich auch immer wieder an die lateinische Prosa der deutschen Humanisten heran. Wenn ich wenig Genüsse kenne, die sich mit der Kostbarkeit von Huttens lateinischen Dialogen vergleichen ließen, so denke ich dabei weniger an den Inhalt als an die Form. Nur unter den Deutschen ist das Schlagwort möglich, daß der Gehalt über die Form gehe. Die Sprache, an sich und zwecklos, soll und kann Gegenstand und Ausdruck einer Kunst sein. Es handelt sich hier um ein Formgefühl, das den Griechen und Romanen etwas naiv Selbstverständliches ist.« – Gewiß, das ist ganz richtig, man darf das sagen, es deutet in die Richtung hin, wo die Wahrheit liegt, aber man müßte noch ein wenig in die Tiefe gehen, um auf die wirkliche Wahrheit zu kommen. Denn »schön«, das ist eines von den Worten, mit denen die Leute am geläufigsten operieren, und bei denen sie sich am wenigsten denken, und »schöne Sprache« oder »schön geschrieben« ist ein richtiges Verlegenheitswort, das dem in den Mund kommt, dem ein Buch nichts gegeben und ein Stück Prosa nichts gesagt hat. Und doch gibt es keinen schönen und auch keinen bedeutenden Gehalt ohne eine wahrhaft schöne Darstellung, denn der Gehalt kommt erst durch die Darstellung zur Welt, und es kann ein schönes Buch ohne schöne Sprache ebensowenig geben als ein schönes Bild ohne schöne Malerei; und gerade das ist das Kriterium des schöngeschriebenen Buches, daß es uns viel sagt, des häßlich geschriebenen aber, daß es uns wenig oder nichts sagt, wenngleich es uns immerhin irgend etwas übermitteln, oder zu Verstand bringen, oder Tatbestände vor die Augen führen kann. Der Theolog oder der Anthroposoph, trägt er uns das vor, was ihm als höchste Einsicht oder überirdische Ahnung vorschwebt – und welch höherer Gegenstand wäre denkbar als die Zusammenhänge unserer Natur mit dem Göttlichen –, aber trägt er es in einem Kaufmannston, in einer abgenützten Zeitungssprache, oder in einer [146] flauen, stammelnden Bildersprache vor, so ist es nicht da; aber Boccaccio hat seine Erzählungen so hingeschrieben, daß alles daran für ewig da ist, und ihr Gegenstand sind die Begegnungen von Verliebten, Überlistungen von Ehemännern und andere schlechte Streiche; aber in ihrer Unzerstörbarkeit und geistigen, man kann nicht anders sagen als geistigen Anmut stehen diese frivolen Geschichten neben den Dialogen des Platon, deren Gehalt der erhabenste ist. So käme man fast in die Nähe des Gedankens, es gebe keinen an sich hohen und keinen an sich niedrigen Gegenstand, sondern nur Reflexe des unfaßlichen geistig-sinnlichen Weltelementes in den Personen, und diese Reflexe seien von unendlich verschiedenem Rang und Wert, je nach der Beschaffenheit des spiegelnden Geistes. Von den Gegenständen gleitet unser Blick plötzlich zurück auf den Mund, der zu uns redet. Aber auch das Montaignesche »Tel par la bouche que sur le papier« ist eine subtile Wahrheit, die verstanden sein will; denn zwar ganz sicherlich ist das, was den tiefsten Zauber des schön geschriebenen Buches ausmacht, eine Art von versteckter Mündlichkeit, eine Art von Enthüllung der ganzen Person durch die Sprache; aber diese Mündlichkeit setzt einen Zuhörer voraus; somit ist alles Geschriebene ein Zwiegespräch und keine einfache Äußerung. Von dieser Einsicht aus fällt wie durch ein seitlich aufgehendes Fenster eine Menge Licht auf gewisse Vorzüglichkeiten, an denen wir das gut geschriebene Buch, die gut geschriebene Seite Prosa – denn die Prosa und durchaus nicht die Poesie ist es, welche wir hier betrachten – erkennen und die wir an ihr hervorzuheben gewohnt sind. Eine behagliche Vorstellung oder eine bedeutende körnige Kürze, eine reizende oder eine kühne Art zu verknüpfen und überzugehen, wohltuende Maße, eine angenehme Übereinstimmung zwischen dem Gewicht des Dargestellten und dem Gewicht der Darstellung; die Distanz, welche der Autor zu seinem Thema, die, welche er zur Welt, und die besondere, welche er zu seinem Leser zu nehmen weiß, die Beständigkeit des Kontaktes mit diesem Zuhörer, in der man ihn verharren fühlt, das sind lauter Ausdrücke, die auf ein zartes geselliges Verhältnis zu zweien hindeuten, und sie umschreiben einigermaßen jenes [147] geistig-gesellige leuchtende Element, das der prosaischen Äußerung ihren Astralleib gibt, und es ist keins unter ihnen, das sich nicht auf den Stil des »Robinson Crusoe« ebensogut anwenden ließe als auf den Voltaires, auf Lessings Streitschriften ebenso wie auf Sören Kierkegaards Traktate. Auf Kontakt mit einem idealen Zuhörer läuft es bei ihnen allen hinaus. Dieser Zuhörer ist so zu sprechen der Vertreter der Menschheit, und ihn mitzuschaffen und das Gefühl seiner Gegenwart lebendig zu erhalten, ist vielleicht das Feinste und Stärkste, was die schöpferische Kraft des Prosaikers zu leisten hat. Denn dieser Zuhörer muß so zartfühlend, so schnell in der Auffassung, so unbestechlich im Urteil, so fähig zur Aufmerksamkeit, so Kopf und Herz in eins gedacht werden, daß er fast über dem zu stehen scheint, der zu ihm redet, oder es wäre nicht der Mühe wert, für ihn zu schreiben; und doch muß ihm von dem, der ihn geschaffen hat, eine gewisse Unvollkommenheit zugemutet werden, mindestens eine gewisse Unvollkommenheit der Entwicklung, daß er es notwendig habe, auf vieles erst hingeführt zu werden; eine starke Naivität, daß er mit dem, was das Buch bringt, wirklich zu ergötzen sei und dadurch etwas wesentlich Neues erfahren werde. Vielleicht könnte man eine ganze Rangordnung aller Bücher, und ganz besonders der belehrenden, danach aufrichten, wie zart und wie bedeutend das Verhältnis zu dem Zuhörer in ihnen erfüllt sei; und nichts zieht ein Buch und einen Autor schneller herunter, als wenn man ihm ansieht, er habe von diesem seinem unsichtbaren Klienten eine verworrene, unachtsame und respektlose Vorstellung im Kopf gehabt.

Es sind also immer ihrer zwei: einer, der redet oder schreibt, und einer, der zuhört oder liest, und auf den Kontakt zwischen diesen zweien läufts hinaus; aber dieser Kontakt gibt, je bedeutender er ist, in je höherer Sphäre er wirksam wird, um so mehr das Übergewicht dem Gebenden, während der Empfangende in diesen höheren Sphären immer leichter und dünner wird, ohne daß er freilich je aufhören würde, da zu sein.

Wenn Goethe sagt, ihm sei, so oft er eine Seite Kant aufschlage, als trete er in ein helles Zimmer, so ist uns ein lichtvoller, [148] mit der höchsten Quelle allen Lichtes kommunizierender Geist vorgestellt. Aber ebenso wie diese Eigenschaft, ein Licht zu sein, spüren wir bei anderen großen Autoren andere oberste Qualitäten des Geistes: die Stärke, welche von der inneren Ordnung nicht zu trennen ist; die wahre Selbstachtung, welche zusammengeht mit der Ehrfurcht; die seltene Glut der geistigen Leidenschaft. In der Darstellung eines solchen Geistes meinen wir wahrhaft die Welt zu empfangen, und wir empfangen sie auch, und nicht nur in den Gegenständen, die er erwähnt, sondern alles das, was er unerwähnt läßt, ist irgendwie einbezogen. Gerade die Kraft und die Überlegenheit, von dem ungeheuren Wust der Dinge unzählig viele fortzulassen – nicht ihrer zu vergessen, was die Sache eines schwachen und zerstreuten Geistes wäre, sondern sich mit bewußter Gelassenheit über sie hinwegzusetzen; die unerwarteten Anknüpfungen und Verbindungen hinwiederum, in denen plötzlich eine nach allen Seiten gewandte Aufmerksamkeit und Spannkraft sich offenbart; die scheinbare Zerstreutheit sogar endlich und die Willkürlichkeiten, welche zuweilen reizend sein können, all dies gehört zu dem geistigen Gesicht des Schriftstellers, – dem Gesicht, das wir zugleich mit der Spiegelung der Welt empfangen, während wir seine Prosa lesen. Wie ein Seiltänzer geht er vor unseren Augen auf einem dünnen Seil, das von Kirchturm zu Kirchturm gespannt ist; die Schrecknisse des Abgrundes, in den er jeden Augenblick stürzen könnte, scheinen für ihn nicht da, und die plumpe Schwerkraft, die uns alle niederzieht, scheint an seinem Körper machtlos. Mit Entzücken folgen wir seinem Schritt, mit um so höherem, je mehr es scheint, als ginge er auf bloßer Erde. So wie dieser wandelt, genauso läuft die Feder des guten Schriftstellers. Ihr Gang, der uns entzückt und der so einzigartig ist wie eine menschliche Physiognomie, ist die Balance eines Schreitenden, der seinen Weg verfolgt, unbeirrbar durch die Schrecknisse und Anziehungskräfte einer Welt, und eine schöne Sprache ist die Offenbarung eines unter den erstaunlichsten Umständen, unter einer Vielheit von Drohungen, Verführungen und Anfechtungen aller Art bewahrten inneren Gleichgewichtes.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Hofmannsthal, Hugo von. Essays, Reden, Vorträge. Drei kleine Betrachtungen. Drei kleine Betrachtungen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-797E-E